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106006
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https://de.wikipedia.org/wiki/Vulkanoiden
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Vulkanoiden
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Vulkanoiden (auch Vulcanoiden) sind hypothetische Asteroiden, die in einem schwach besetzten „dritten Asteroidengürtel“ innerhalb der Bahn des Planeten Merkur existieren könnten.
Trotz längerer Suchprogramme konnte ihre Existenz bisher nicht bewiesen werden. Sie ergibt sich vorerst allein aus theoretischen Überlegungen zur Stabilität schwach exzentrischer Umlaufbahnen in der Ekliptik zwischen Sonne und Merkur. Als weiteren Hinweis kann man die Tatsache werten, dass Merkur als sonnennächster Planet in der Frühzeit des Sonnensystems einem intensiven Bombardement durch kleinere Himmelskörper ausgesetzt war.
Eigenschaften
Die Vulkanoiden müssen, wenn sie existieren, kleiner als etwa 50 km im Durchmesser sein, denn größere Körper wären sonst mit der Sonnensonde Solar and Heliospheric Observatory (SOHO) bereits entdeckt worden. Bisher fand man in diesem Bereich lediglich einige Asteroiden auf äußerst exzentrischen Bahnellipsen, die nur wenige Prozent ihres Umlaufs innerhalb der Merkurbahn verbringen: (1566) Icarus (1949, 0,19–1,97 AE) und der kometenähnliche, vom IRAS-Raumteleskop 1984 entdeckte (3200) Phaethon (0,14 – 2,40 AE).
Mögliche bevorzugte Bahnbereiche von Vulkanoiden wurden bei 0,18 und 0,15 AE Sonnenabstand errechnet. Wie die Ringe des Saturn oder der Asteroidengürtel müsste auch ein Vulkanoidengürtel Kirkwoodlücken und Konzentrationen aufweisen.
Suche
Schon vor etwa 100 Jahren suchte der damalige „Rekordhalter“ an entdeckten Kleinplaneten, der böhmisch-österreichische Astronom Johann Palisa, während einer Finsternisexpedition in die Südsee nach Vulcanus, einem hypothetischen „Intra-Merkur“. Zwar war seine Suche erfolglos, doch gab man nun den gesuchten Kleinkörpern die analoge Bezeichnung.
Von der Erdoberfläche aus sind Entdeckung und Beobachtung von Vulkanoiden wegen ihrer Sonnennähe besonders schwierig, denn sie wären nur im Dämmerungsbereich der auf- und untergehenden Sonne zu sehen. Alternativ wäre die Umgebung der Sonne bei einer totalen Sonnenfinsternis abzusuchen. Große Teleskope sind für solche Suchprogramme ungeeignet, da die empfindliche Optik nach dem riskanten Ende der Totalitätsphase durch die hohe Lichteinstrahlung zerstört werden würde. Dem Einsatz von Weltraumteleskopen stehen die hohen Kosten entgegen, die eher für die Suche von eventuell kollisionsträchtigen erdnahen Objekten (NEO) zu verantworten wären.
Inzwischen wird die Suche daher vom Höhenflugzeug aus im Infrarotbereich intensiviert, weil damit zu rechnen ist, dass Körper in dieser Sonnennähe sehr heiß sind und merkliche Wärmestrahlung abgeben. Erwartet werden Oberflächentemperaturen von 700 K bis 900 K.
Siehe auch
Asteroidengürtel
Zodiakallicht
Erdnaher Asteroid
Liste der hypothetischen Himmelskörper des Sonnensystems
Vulkan (Planet), ein hypothetischer Himmelskörper, der (bis zur Entwicklung der Allgemeinen Relativitätstheorie durch Einstein) zur Erklärung von Besonderheiten der Merkurbahn postuliert wurde.
Weblinks
Flugzeuggestütztes Vulkanoiden-Infrarot-Suchprogramm
SOHO Suche nach Vulkanoiden (engl.)
Asteroid
Hypothetisches astronomisches Objekt
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Q830162
| 91.818407 |
5123
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https://de.wikipedia.org/wiki/Tiberius
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Tiberius
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Tiberius Iulius Caesar Augustus (vor der Adoption durch Augustus Tiberius Claudius Nero; * 16. November 42 v. Chr. in Rom; † 16. März 37 n. Chr. am Kap Misenum) war römischer Kaiser von 14 bis 37 n. Chr. Nach seinem Stiefvater Augustus war Tiberius der zweite Kaiser des Römischen Reiches und gehörte wie dieser der julisch-claudischen Dynastie an. Er zählt zu den am längsten regierenden römischen Kaisern.
Tiberius konnte besonders vor seinem Herrschaftsantritt bedeutende militärische Erfolge erzielen. Seine militärischen Aktivitäten in den römischen Provinzen Pannonien, Illyrien, Raetien und Germanien legten die nördliche Grenze des römischen Imperiums fest. In der Verwaltung der Provinzen sowie der Finanzen war der Kaiser erfolgreich. Palastintrigen, die Verschwörung des ehrgeizigen Seianus, Hinrichtungen dissidenter römischer Aristokraten und Tiberius’ Rückzug aus der Hauptstadt verursachten das negative Werturteil der späteren antiken Historiographen. Gegen Ende seines Lebens wurde der Interessenkonflikt zwischen dem in seiner politischen Funktion reduzierten Senat und dem nun institutionalisierten Amt des Kaisers erstmals deutlich.
Leben bis zum Herrschaftsantritt
Herkunft und Jugend
Tiberius entstammte dem patrizischen Geschlecht der Claudier. Seine Eltern waren Tiberius Claudius Nero, Prätor 42 v. Chr., und Livia Drusilla, deren claudischer Familienzweig durch Adoption in das plebejische Geschlecht der Livier übergegangen war. Im Jahre 41 v. Chr. flohen seine Eltern mit ihm nach Sizilien und Griechenland, um den Proskriptionen zu entgehen, da sein Vater als überzeugter Republikaner und Anhänger der Caesarmörder den Lucius Antonius unterstützte und sich somit gegen Octavian gestellt hatte. Octavian, der spätere Kaiser Augustus, erzwang nach ihrer Rückkehr im Jahr 39 v. Chr. Livias Scheidung vom älteren Tiberius Claudius Nero, um sie selbst heiraten zu können. Drei Monate nach der Heirat am 17. Januar 38 v. Chr. brachte Livia Tiberius’ Bruder Drusus zur Welt, dessen leiblicher Vater allerdings Tiberius Claudius Nero war. Da Octavian den Neugeborenen dessen Vater überstellte, dürfte auch der junge Tiberius zu dieser Zeit bei seinem Vater gewesen sein und nicht bei seiner Mutter und dem Stiefvater Octavian. Sueton berichtet, dass Tiberius nach der Rückkehr nach Rom durch den Senator Marcus Gallius testamentarisch adoptiert wurde, dessen Namen aber nicht führte, weil Gallius als Gegner Octavians galt. Nach dem Tod seines Vaters, wohl im Jahr 33 v. Chr., hielt der neunjährige Tiberius ihm die Trauerrede, was ihn im öffentlichen Leben der römischen Aristokratie positionierte, und gelangte dann zusammen mit seinem Bruder in die Vormundschaft seines Stiefvaters. Drusus wurde von Octavian gegenüber seinem älteren Bruder bevorzugt.
Bereits in jungen Jahren wurde Tiberius in das politische Leben eingeführt. Vom 13. bis 15. August 29 v. Chr. wurde er in den Triumphzug Octavians für den Sieg bei Actium einbezogen. Bereits 23 v. Chr. wurde ihm als Quästor mit dem Zuständigkeitsbereich der Getreideversorgung das erste politische Amt und damit der Senatorenstatus übertragen, weit vor dem hierfür vorgeschriebenen Mindestalter von 25 Jahren.
Erste militärische Erfahrungen
Tiberius unternahm unter der Herrschaft des Augustus mehrere erfolgreiche Feldzüge. Bereits in den Jahren 26–24 v. Chr. nahm er als Militärtribun an Kämpfen des Augustus in Spanien teil. Im Jahre 20 v. Chr. führte er einen Feldzug gegen das armenische Königreich an, durch den er Tigranes III. auf den armenischen Thron brachte. Er gewann im selben Jahr durch Diplomatie die römischen Feldzeichen zurück, die Marcus Licinius Crassus, Lucius Decidius Saxa und Marcus Antonius in teils verheerenden Niederlagen an die Parther verloren hatten. Im Jahr 16 v. Chr. war er Prätor und bereitete gemeinsam mit Augustus in Gallien die Neuordnung der Provinz vor.
Gemeinsam mit seinem jüngeren Bruder Drusus brachte Tiberius in den Jahren 15–13 v. Chr. Raetien und das im Norden befindliche Vindelicien unter römische Herrschaft. Von 12 bis 9 v. Chr. leitete er die Eroberung Pannoniens. Er überführte 9 v. Chr. den Leichnam seines Bruders Drusus, der infolge eines Reitunfalls verstorben war, von Germanien nach Rom und erhielt als dessen Nachfolger für die folgenden beiden Jahre den Oberbefehl in Germanien. Im Jahr darauf beendete er erfolgreich die von seinem Bruder begonnenen Drusus-Feldzüge. Um den germanischen Druck auf den Mittelrhein zu vermindern, wurden unter seiner Befehlsgewalt etwa 40.000 Sugambrer und Sueben in linksrheinisches Gebiet umgesiedelt.
Nachfolgeproblematik
Tiberius war von 16 bis 12 v. Chr. mit Vipsania Agrippina verheiratet, der Tochter von Octavians engem Vertrauten und Feldherrn Marcus Vipsanius Agrippa. Aus dieser Ehe stammte sein um 15 v. Chr. geborener Sohn Tiberius Drusus Iulius Caesar (auch „der jüngere Drusus“). Im Jahr 12 v. Chr. musste sich Tiberius auf Anordnung seines Stiefvaters von Vipsania Agrippina scheiden lassen und seine Stiefschwester Iulia heiraten, die Tochter des Augustus. Diese Verbindung sollte die Einheit des regierenden Hauses stärken. Iulia dürfte allerdings eher ihren Kindern die Nachfolge gewünscht haben. Auch fühlte sie sich nach drei ihr von Augustus aufgebürdeten Zwangsehen zu einem ausschweifenden Leben hingezogen, so dass die Ehe für den als menschenscheu geltenden Tiberius im Unterschied zu dessen erster Ehe nicht glücklich war. Nachdem Tiberius bereits im Jahr 13 v. Chr. Konsul geworden war, erhielt er 6 v. Chr. die tribunicia potestas auf fünf Jahre; somit konnte er als Nachfolger des Princeps gelten, da er außerdem der Schwiegersohn des Augustus war.
Die schnell zerrüttete Ehe und die auffällige Förderung der von Augustus adoptierten Söhne Iulias, Gaius und Lucius Caesar, brachten Tiberius jedoch dazu, seine Laufbahn zu unterbrechen und sich für sieben Jahre in ein zuerst freiwilliges Exil nach Rhodos zurückzuziehen. Dort hörte er bei dem Rhetoriker Theodoros von Gadara und lebte wie ein Privatmann (). Tiberius selbst soll später erklärt haben, er habe sich zurückgezogen, um den Caesares nicht im Wege zu stehen. Tiberius fühlte sich wohl wegen der Beliebtheit des Gaius Caesar und dessen Bevorzugung in seiner eigenen dignitas zurückgesetzt.
Da die Insel Rhodos auf der römischen Haupthandelslinie lag, dürfte Tiberius jedoch keineswegs vom politischen Leben ausgeschlossen gewesen sein. Während seines Aufenthaltes auf Rhodos schickte Augustus 2 v. Chr. seine Tochter Iulia wegen ihres Lebenswandels und politischer Intrigen in die Verbannung. Tiberius setzte sich zwar in mehreren Briefen vergeblich für seine Gattin ein, ließ sich jedoch auf Betreiben von Augustus schließlich von ihr scheiden. Im Jahr 2 n. Chr. bewilligte Augustus die Rückkehr des Tiberius nach Rom, gestand ihm aber zunächst keine politische Funktion zu.
Erst die kurz aufeinander folgenden Tode der designierten Nachfolger des Augustus, seiner Enkelkinder und Adoptivsöhne Gaius und Lucius Caesar (4 bzw. 2 n. Chr.), brachten Tiberius in die Position des präsumtiven Nachfolgers. Mit der Adoption durch Augustus am 26. Juni 4 n. Chr. wurde Tiberius (mit dem Namen Tiberius Iulius Caesar) in das Geschlecht der Julier aufgenommen. Die nachfolgenden Kaiser bis hin zu Nero gehörten in unterschiedlichen Graden beiden Familien an und waren so Mitglieder einer Doppeldynastie. Neben Tiberius adoptierte Augustus Agrippa Postumus, der allerdings später in die Verbannung geschickt wurde. Tiberius selbst musste Germanicus adoptieren, den Sohn seines Bruders Drusus. Außerdem erhielt er die beiden zur Nachfolge in der Herrschaft berechtigenden Amtsgewalten, das imperium proconsulare maius und die tribunicia potestas.
Heerführer in Germanien und auf dem Balkan
Tiberius übernahm 4 n. Chr. im Zuge des immensum bellum erneut den Oberbefehl in Germanien. In seinem Heer befand sich der praefectus equitum Velleius Paterculus, der die Ereignisse rund 25 Jahre später niederschrieb und damit den einzigen erhalten gebliebenen Augenzeugenbericht liefert. Tiberius überschritt die Weser (Visurgis), kehrte danach jedoch nicht wie üblich zum Rhein zurück, sondern errichtete nahe der Lippe-Quellen (Lupia) erstmals für ein großes Heer ein Winterlager. Mit großer Wahrscheinlichkeit handelt es sich bei dem Winterlager um das Römerlager Anreppen. Im darauffolgenden Jahr unterwarf er unter anderem den Küstenstamm der Chauken an der Nordseeküste zwischen Ems und Elbe. Anschließend besiegte er an der unteren Elbe die Langobarden, die sich auf ihre Stammesgebiete östlich des Stroms zurückzogen. Parallel dazu erkundete eine Flotte die jütländische Halbinsel und stieß möglicherweise bis zum Eingang der Ostsee vor. Die Legionen zogen, versorgt durch ein schwimmendes Proviantmagazin auf der Elbe (Albis), weiter stromaufwärts und gelangten vermutlich bis zu den Semnonen an der mittleren und den Hermunduren an der oberen Elbe. Nach dem Sommer 5 n. Chr. erreichte kein römischer Feldherr noch einmal diese Flusslinie. Auf dem Rückmarsch an den Rhein wurde ein germanischer Angriff abgewehrt. Die kombinierte Kampagne von Heer und Flotte gilt als der „Höhepunkt in der überlieferten militärischen Durchdringung Germaniens“. Velleius Paterculus schreibt: „Nichts blieb mehr in Germanien, das hätte besiegt werden können, außer dem Stamm der Markomannen“.
Im Jahr 6 n. Chr. rüstete Tiberius gegen Marbod, den König der Markomannen. Es wurden insgesamt zwölf Legionen mit Hilfstruppen aufgestellt, was die Hälfte des gesamten Militärpotentials der Römer zu diesem Zeitpunkt darstellte. Kurz nach Beginn des Feldzugs im Frühjahr des Jahres 6 n. Chr. brach Tiberius ihn wieder ab, als er die Nachricht vom Pannonischen Aufstand erhielt. Allerdings schloss Tiberius noch einen Freundschaftsvertrag mit Marbod, um sich vollkommen auf die schwere Aufgabe in Pannonien zu konzentrieren.
Von 6 bis 9 n. Chr. warf er mit größten Anstrengungen, unter Aufbietung einer Armee von 15 Legionen, den Aufstand in Pannonien und Illyrien nieder. Kurz nach dem Sieg erhielt Augustus die Nachricht, dass Varus in Germanien mit drei Legionen und ebenso vielen Reiterabteilungen sowie sechs Kohorten gefallen war. Dieser Verlust war eine der größten Niederlagen, die das Römische Reich je erlitt; ernsthafte Expansionsbestrebungen nach Germanien wurden in den kommenden Jahrhunderten nicht mehr unternommen. In Rom herrschte drei Tage Staatstrauer, und Tiberius, der eben erst siegreich heimgekehrt war, verzichtete auf einen Triumph.
Nach der schmachvollen Niederlage des Varus wurde Tiberius aufgrund seiner großen militärischen Erfahrung in Germanien wieder mit dem imperium proconsulare ausgestattet. Im ersten Jahr seines militärischen Kommandos 10 n. Chr. sah er davon ab, den Rhein zu überqueren. Laut Sueton handelte Tiberius mit äußerster Vorsicht und Zurückhaltung und nur in Absprache mit seinem Beraterkreis, wodurch angedeutet sein mag, dass Tiberius bereits anfänglich nicht eine Rückeroberung des Raumes zwischen Elbe und Rhein plante, sondern sich auf Strafexpeditionen beschränken wollte. Bezüglich anschließender militärischer Erfolge sind die Quellendarstellungen widersprüchlich. Velleius Paterculus, der allgemein die Leistungen des Tiberius verherrlicht, berichtet, dass Tiberius den Rhein überschritt und erfolgreich bis tief in das Landesinnere vordrang, um germanische Siedlungen zu brandschatzen und Felder zu verwüsten. Nach Cassius Dio, der sein Geschichtswerk Anfang des 3. Jahrhunderts abfasste, kam es zu keinen nennenswerten militärischen Auseinandersetzungen. Archäologische Untersuchungen haben bislang keine Spuren von Militärwegen oder Anzeichen von Holzkohleschichten nachweisen können, die man bei einem großflächigen Abbrennen von Siedlungen erwarten würde.
Anfang 13 n. Chr. kehrte Tiberius nach Rom zurück und hielt den verschobenen Triumph für die Niederschlagung des Pannonischen Aufstands ab. Seine Amtsgewalten, die tribunicia potestas und das imperium proconsulare maius, wurden auf weitere zehn Jahre verlängert. Als Augustus am 19. August 14 starb, hatte Tiberius somit alle Rechte inne, auf denen der Prinzipat beruhte.
Der Prinzipat des Tiberius
Regierungsantritt
Mit dem Tod des Augustus war der 55 Jahre alte Tiberius praktisch zum Nachfolger designiert. Auch seine militärischen Erfahrungen ließen ihn konkurrenzlos erscheinen. Am 18. September 14 n. Chr. ließ er den Senat einberufen, um die Leichenfeier und die Divinisierung für Augustus beschließen zu lassen. In dieser Senatssitzung wurde das private Testament des Augustus eröffnet. Tiberius und Livia waren als Haupterben eingesetzt, wobei Tiberius zwei Drittel und Livia ein Drittel der Erbschaft erhielten. Durch das Testament wurde Livia adoptiert und zur Iulia Augusta erhoben. Livia, die bereits unter Augustus öffentlich als Teilhaberin am Prinzipat aufgetreten war und in der offiziellen Propaganda – etwa auf Münzen – als solche dargestellt wurde, konnte somit in ihrer neuen Stellung als Kaisermutter höchsten Einfluss ausüben. Bis zu ihrem Tod im Jahr 29 gelang es ihr in dieser Rolle, die zunehmenden Anfeindungen innerhalb der Kaiserfamilie, besonders angesichts der Nachfolgefrage, zu kontrollieren. Allerdings bestand ein Konkurrenzverhältnis zwischen der herrschsüchtigen Mutter und dem Sohn.
Trotz des eindeutigen Testaments des Augustus wartete Tiberius demonstrativ das ausdrückliche Ersuchen des Senats ab, die Kaiserwürde anzunehmen. Diese zögernde Haltung (recusatio imperii) kann damit erklärt werden, dass Tiberius allgemein als zurückhaltender Mensch galt; wahrscheinlicher ist jedoch, dass er bewusst den Rückhalt und die verbindliche Festlegung des Senats auf seine Person suchte, um als ehemals umstrittener Nachfolgekandidat seine Position zu stärken. Eine solche eher taktisch motivierte Zurückhaltung spiegelt sich auch darin, dass Tiberius in späteren Jahren häufig Rücktrittsgedanken äußerte. Außerdem akzeptierte Tiberius zwar den Ehrenbeinamen Augustus, den an Augustus verliehenen Titel pater patriae lehnte er jedoch ab. Erst ab dem 10. März 15 bekleidete er das Amt des pontifex maximus. Da es sich um die historisch erste Übertragung der an Augustus persönlich verliehenen Amtsgewalten handelte, war es noch nicht endgültig entschieden, dass die Institution des Prinzipats eine dauerhafte werden sollte. Der Senat akzeptierte jedoch widerspruchslos die Amtsstellung des Kaisers und fügte sich zunehmend in dessen Autorität.
Unmittelbar zu Beginn der Kaiserherrschaft des Tiberius wurde Agrippa Postumus ermordet. Bereits in der Antike wurde spekuliert, ob Tiberius für die Ermordung verantwortlich war, ob Augustus angeordnet hatte, Agrippa Postumus nach seinem Tod beseitigen zu lassen, oder ob Livia die Herrschaft für ihren Sohn sichern wollte. Tacitus legt eine Mitschuld des Tiberius nahe. Tiberius bestritt jedoch die Verantwortung für den Mord. Noch 14 n. Chr. machte Tiberius dem kappadokischen König Archelaos, von dem er sich während der schwierigen Zeit in Rhodos nicht genug beachtet fühlte, den Prozess.
Meuterei der Legionen und Marserfeldzug
Unmittelbar nach Tiberius’ Herrschaftsantritt kam es zu einer Meuterei der in Pannonien und Germanien stationierten Legionen. Gründe für den Aufstand waren die Härte des Dienstes, die Länge der Dienstzeit und der geringe Sold. Diese Missstände gingen zurück auf die Politik des verstorbenen Augustus und dessen strenge Reaktionen auf den Pannonischen Aufstand und die Varusniederlage. Während Tiberius’ Sohn Drusus die Lage in Pannonien ohne größere Komplikationen beruhigen konnte, hatte Germanicus zunächst große Mühe, die ihm in Germanien unterstellten Legionen wieder unter Kontrolle zu bringen, die ihn statt Tiberius zum neuen Princeps ausrufen wollten. Die Legio XIV Gemina verweigerte den Treueeid, und in einem Sommerlager schlossen sich die zusammengezogenen vier Legionen des niedergermanischen Heeres dem Beispiel an. Germanicus blieb Tiberius gegenüber loyal und weigerte sich, den auf einen Staatsstreich gerichteten Forderungen nachzukommen. Schließlich beendete er die Meuterei mit zahlreichen Zugeständnissen im Namen des Princeps, ohne sich jedoch zuvor bei Tiberius rückversichert zu haben. So sagte er beschleunigte Dienstentlassungen und Geldgeschenke an die Soldaten zu. Um ein mögliches Wiederaufleben der Meuterei zu verhindern und zugleich eine Strafexpedition für die Varusniederlage durchzuführen, initiierte er im Herbst des Jahres 14 einen Feldzug gegen die Marser. In diesem Feldzug erlitten seine Legionen nur geringe Verluste.
Tiberius reagierte ambivalent. Einerseits betrachtete er den Sieg über die Marser als Erfolg, denn es war Germanicus gelungen, das Heer zu disziplinieren. Andererseits lehnte er das eigenmächtige Vorgehen des Germanicus ab, zumal dessen neu gewonnener Ruhm die Position des Tiberius im Heer schwächte.
Abbruch der Expansion an Rhein und Donau
Unter Augustus und zu Beginn der Herrschaft des Tiberius wollte Rom die clades Variana korrigieren, zumindest aber die aufrührerischen Germanenstämme formell unterwerfen und die Deserteure bestrafen, allein schon zur Abschreckung künftiger Aufrührer. Diese Ziele wurden jedoch nicht erreicht. Die Römer hatten Glück, dass die anderen Fronten während dieser Zeit ruhig blieben, denn das römische Heer war nicht groß genug, um auf Dauer acht Legionen an der Germanenfront bereitzuhalten. Die Katastrophe des Varus, der im Jahr 13 v. Chr. zusammen mit Tiberius das Konsulat innegehabt hatte, und das von Germanicus im Jahre 14 vorgefundene Problem der Militärrevolten ließen Tiberius von der Grenzverschiebung in Richtung Weser und Elbe endgültig Abstand nehmen. Der illusionslose Germanienkenner Tiberius ging im Gegensatz zu Germanicus zu einer defensiven Grenzpolitik über, die die Germanen ihrem inneren Streit überließ und sich auf die Behauptung eines der Grenze vorgelagerten Gebietes beschränkte. Tiberius erkannte, dass Rom die germanische Arminius-Koalition allein schon aufgrund der logistischen und topographischen Gegebenheiten nicht ohne beträchtliche Mittelaufstockung besiegen konnte. Die römischen Truppen konnten sich bei einem Vormarsch nicht aus dem Lande ernähren, und der Landkriegsführung standen durch die weiten Wege und Transporte bei den kurzen Feldzugszeiten nahezu unüberwindbare Schwierigkeiten und Risiken entgegen.
Tiberius gebot den zum Teil verlustreichen Unternehmungen des Germanicus in den Jahren 15 und 16 Einhalt und rief ihn nach Rom zurück. Er berief sich dabei angeblich auf den Rat des Augustus, das Reich in seinen gegenwärtigen Grenzen zu belassen (consilium coercendi intra terminos imperii). Die Historizität des consilium coercendi wird allerdings in der modernen Forschung angezweifelt, unter anderem, weil die offizielle Darstellung des Augustus gegenüber dem Senat in den Res gestae divi Augusti einen derart weiten Entscheidungsspielraum des Kaisers auszuschließen scheint. Auch ist unsicher, ob mit intra terminos die West- oder die Ostgrenze des Reichs gemeint sei und ob es sich im ersteren Fall um die Elbgrenze oder die Rheingrenze handele.
Tiberius bewilligte dem Germanicus einen aufwendigen Triumph über die Germanen, den dieser am 26. Mai 17 in Rom abhielt. Tiberius wollte damit einerseits Germanicus eine feierliche Anerkennung seiner Gesamtleistungen zuteilwerden lassen, andererseits den faktischen Abbruch der Offensive als außenpolitischen Erfolg darstellen. Paradoxerweise erwies gerade die Katastrophe der Varusschlacht die Beständigkeit der römischen Grenze am Rhein, um derentwillen die Eroberung Germaniens begonnen worden war. Durch die Abberufung des Germanicus (16 n. Chr.) setzte sich die neue außenpolitische Linie des Tiberius durch, die in der Tabula Siarensis (19 n. Chr.) ihren Niederschlag finden sollte: Befriedung Galliens, Vergeltung für die Varusniederlage, Rückgewinnung der Feldzeichen, jedoch nicht mehr die Eroberung des rechtsrheinischen Germanien. Diese Politik fand mit dem Tod des Tiberius (37 n. Chr.) ihr Ende, sein Nachfolger Caligula unternahm wieder (erfolglose) Expeditionen in das germanische Kerngebiet.
Orientreise und Tod des Germanicus
Nach seinem Triumph reiste Germanicus im Auftrag des Tiberius in den Osten des Reiches, um die politischen Verhältnisse aus römischer Sicht zu ordnen. Kappadokien wurde zur römischen Provinz. Germanicus erhielt ein spezielles imperium, das zwar über dem aller anderen Prokonsuln stand, aber unter dem des Tiberius. Über Griechenland und Kleinasien gelangte er nach Syrien, von dort nach Ägypten, zum großen Missfallen des Tiberius, da es keinem Senator erlaubt war, die für die Getreideversorgung Roms wichtige Provinz Aegyptus zu betreten, die als persönliches Eigentum des Kaisers betrachtet wurde. Nach der Rückkehr nach Syrien erkrankte Germanicus in Antiochia und starb dort im Jahr 19. Schnell kamen zahlreiche Gerüchte auf, wie es zum Tod des Germanicus gekommen sei.
Aufgrund eines Konkurrenzverhältnisses zu Germanicus wurde insbesondere der Statthalter der Provinz Syria, Gnaeus Calpurnius Piso, beschuldigt, Germanicus vergiftet zu haben. Giftmordanklagen waren im kaiserzeitlichen Rom häufig und wegen der eingeschränkten Untersuchungsmethoden letztlich nicht nachweisbar. Sentius Saturninus beschuldigte Martina, eine Freundin der Gattin des Piso, des Giftmordes an Germanicus. Aufgrund der Entsendung des Germanicus und der Ernennung Pisos vermutete man in Rom ein Komplott, da vor allem Tiberius und Livia daran interessiert gewesen seien, den populären Germanicus zu beseitigen, um Tiberius’ Sohn Drusus die Nachfolge zu sichern. Tiberius verhielt sich zuerst zurückhaltend, worauf seine Kritiker Gerüchte verbreiteten, er habe die Nachricht über den Tod des Germanicus innerlich mit Freude und Genugtuung aufgenommen. Deshalb ließ Tiberius eine Erklärung veröffentlichen, in der er erläuterte, dass viele erlauchte Römer für den Staat gestorben seien; diese seien sterblich, ewig sei nur das Gemeinwesen (principes mortales – rem publicam aeternam). Jedoch ließen die Gerüchte und Forderungen nach Bestrafung des Schuldigen nicht nach, vor allem, weil die als „Giftmischerin“ beschuldigte Martina auf ihrem Weg von Syrien nach Rom in Brundisium selbst an Gift gestorben war und in ihrem Haar verstecktes Gift gefunden wurde.
Angesichts dieser Indizien, auch mit Blick auf die Gerüchte um sein eigenes mutmaßliches Motiv (sein Sohn Drusus war mit Germanicus’ Tod unangefochtener Nachfolger geworden), sah sich Tiberius schließlich veranlasst, Anklage gegen Piso zu erheben. Tiberius forderte in diesem Prozess die Senatoren auf, unparteiisch zu sein. Piso fand jedoch weder vor dem Senat noch bei seinen engsten Freunden Rückhalt und wurde noch vor Prozessende tot aufgefunden. Die Umstände sind unklar. Die früher nur literarisch bekannten Einzelheiten des Prozesses sind durch einen Inschriftenfund um 1990 ergänzt worden. Die in Spanien gefundene Inschriftentafel enthält einen Senatsbeschluss im Anschluss an den Piso-Prozess. Der Giftmordvorwurf ist im Senatsbeschluss angedeutet; der offizielle Vorwurf gegen Piso war allerdings bewaffneter Aufruhr. Die Berufung des Tiberius auf sein Gerechtigkeitsempfinden (aequitas) ist deutlich hervorgehoben. Kopien des Senatsbeschlusses wurden in allen Legionslagern und Provinzhauptstädten des Reiches aufgestellt.
Rom und Italien
Tiberius bemühte sich zu Beginn seiner Regierung um Legitimation und ein gutes Verhältnis zu Senat und Ritterstand, dessen Privilegien (Tragen des Goldringes, bevorzugte Sitze bei Spielen) bewahrt blieben. Er übertrug dem Senat das Wahlrecht von Amtsträgern, das bis dahin nominell von der stadtrömischen Bürgerschaft ausgeübt worden, unter Augustus aber faktisch ein Privileg des Kaisers geworden war. Auch vermied es Tiberius, lediglich den Senatsausschuss zu befassen, mit dem Augustus vorher anstelle des gesamten Gremiums verhandelt hatte. Der Versuch, stattdessen dem Senatsplenum größere Entscheidungsmöglichkeiten einzuräumen, scheiterte jedoch am Ungleichgewicht der Macht und am Kampf der verschiedenen Gruppen um Einfluss, vor allem in der Frage der Nachfolge. Es bildeten sich Parteiungen gegenüber einzelnen Mitgliedern der Kaiserfamilie oder anderen einflussreichen Persönlichkeiten, wie Seianus, heraus, die zu gegenseitigen Unterstellungen und Anfeindungen führten. Bereits im Jahr 16 wurde Libo Drusus, ein Urenkel des Pompeius, einer Verschwörung gegen die Kaiserfamilie verdächtigt und zum Selbstmord gezwungen. Im selben Jahr ließ Tiberius den Sklaven Clemens, der sich für Agrippa Postumus ausgegeben und in Italien eine beachtliche Schar Anhänger um sich gesammelt hatte, beseitigen.
Tiberius setzte den konservativen Kurs des Augustus in der Religionspolitik fort. Magier und Astrologen ließ er im Jahr 16 aus Italien ausweisen, obwohl er selbst Astrologie praktiziert haben soll und bei Entscheidungen häufig den Rat des Philosophen und Astrologen Thrasyllos einholte, mit dem er befreundet war. Des Weiteren ging Tiberius im Jahr 19 scharf gegen den Isiskult und das Judentum vor, nachdem es zu angeblich religionsbedingten Unruhen und Störungen der öffentlichen Ordnung gekommen war. 4.000 jüdische Freigelassene wurden nach Sardinien gebracht, um dort gegen sardische Räuber militärisch eingesetzt zu werden. Die restlichen Juden wurden gezwungen, ihrem Glauben abzuschwören oder Italien zu verlassen. Jedoch gelang es Tiberius nicht, den jüdischen Glauben in Rom und Italien langfristig zu unterbinden.
Provinzen und Klientelstaaten
Tiberius war in der Verwaltung des Reiches erfolgreich. Er setzte den von Augustus am Ende seiner Herrschaft eingeschlagenen konservativen, auf die Bewahrung des Bestehenden ausgerichteten Kurs fort. Tiberius berief sich ebenso wie Augustus auf die Herrschertugenden virtus, clementia, iustitia und pietas („Exzellenz“, „Milde“, „Gerechtigkeit“ und „Ehrerbietung“). Jedoch war die Propaganda in Inschriften und auf Münzen zusätzlich durch Schlagwörter wie salus und moderatio („Wohlergehen“ und „Zurückhaltung“) gekennzeichnet, die als Leitbilder seiner Regierung moderne Verwaltungsziele widerspiegeln, etwa eine ausgewogene, dezentrale Wirtschaftspolitik.
Statthalter wurden weit über die übliche einjährige Amtszeit hinaus auf ihren jeweiligen Posten belassen, wodurch eine größere Kontinuität in der Provinzverwaltung erreicht wurde. So war beispielsweise Lucius Aelius Lamia neun Jahre lang Statthalter von Syrien. Er verwaltete dabei die Provinz von Rom aus.
Neben dem im Jahr 17 annektierten Kappadokien wurde Kommagene vorübergehend zur römischen Provinz, bis sie unter Vespasian endgültig in das Imperium eingegliedert wurde. Außerdem sorgte seit demselben Jahr der Numider Tacfarinas, der aus einer römischen Hilfstruppe desertiert war, für Aufruhr im afrikanischen Teil des römischen Reichs. Er wurde zwar von römischen Truppen im offenen Kampf geschlagen, jedoch erholten sich die Aufständischen wieder und führten fortan verheerende Kleinkriege gegen die römische Besatzungsmacht. Forderungen und Verhandlungen unter der Führung des Tacfarinas nach Land für sich und sein Heer lehnte Tiberius ab. Stattdessen schickte er eine weitere Legion, die Legio IX Hispana, mit dem Befehl nach Afrika, Tacfarinas zu vernichten. Erst sieben Jahre nach ihrem Beginn konnten die von Tacfarinas angeführten Revolten unter Publius Cornelius Dolabella endgültig niedergeschlagen werden. Tacfarinas fiel im Kampf, sein Sohn geriet in Gefangenschaft.
Die Lebensmittelversorgung, die Steuerbelastungen sowie die Arroganz und Grausamkeit der römischen Statthalter sorgten in Gallien für Unruhen, die zum Aufstand des Häduers Iulius Sacrovir und des Treverers Iulius Florus im Jahre 21 führten. Dieser Aufstand wurde jedoch in kürzester Zeit niedergeschlagen. In den Jahren 22 bis 25 wurden rebellische thrakische Stämme mit Erfolg bekämpft. Bemerkenswert ist die militärstrategische Zurückhaltung des Tiberius, denn mit Ausnahme der Feldzüge gegen Aufständische gab es keinerlei große Militäraktionen während seiner Herrschaft.
In Armenien, wo sich römische und parthische Interessen kreuzten, wurde mit Artaxias III. um das Jahr 18 ein neuer König eingesetzt. Rom wollte die Parther in einer ständigen Bedrohungssituation belassen, um ihnen den Anreiz eines Einfalles in Kleinasien, Syrien oder Palästina zu nehmen, was bis zum Tod des Artaxias im Jahre 34 oder 35 gelang. Erst in der sich anschließenden Nachfolgefrage sollte der Partherkönig Artabanos II. seinen Sohn Arsaces auf den armenischen Thron setzen und Gebietsabtretungen der Römer in Kleinasien fordern. Durch das diplomatische Eingreifen des Lucius Vitellius, Statthalter von Syrien, konnte ein Gebietsverlust jedoch abgewendet werden. Lucius Vitellius griff in den Jahren 35/36 auch in die parthischen Thronwirren ein und konnte Tiridates III. vorübergehend als König der Parther einsetzen.
Haushalts- und Finanzpolitik
Die Haushaltspolitik des Tiberius war durch ein rigoroses Sparprogramm geprägt, in dem keine größeren Bauprojekte vorgesehen waren. Einige wenige Ausnahmen waren Tempel, die zur Demonstration der pietas dienten, sowie der Bau von Straßen für militärische Zwecke in Nordafrika, Spanien, Gallien, Dalmatien und Moesien.
Tiberius’ Sparsamkeit und seine Abkehr vom Luxus hatten sich bereits in dem gegen Kleidungsluxus gerichteten Senatsbeschluss des Jahres 16 gezeigt, der das Tragen von durchsichtigen Seidengewändern verbot, sowie in einem Gesetz aus dem Jahre 22, das sich gegen den Tafelluxus richtete. Tiberius sah davon ab, seine Popularität durch aufwändige Spiele zu erhöhen, und zeigte sich allgemein bei Spielen gegenüber der stadtrömischen Bürgerschaft desinteressiert.
Allerdings war er bei großen Notlagen so spendabel wie kaum ein Politiker vor ihm. Bei den Großbränden in der Stadt Rom in den Jahren 27 und 36 und bei einer Tiberüberschwemmung, die ebenfalls im Jahre 36 eintrat, sowie bei Getreideteuerungen spendete Tiberius Millionen von Sesterzen. Seine Großzügigkeit in Notsituationen bekamen auch die Provinzen zu spüren: Als ein Erdbeben 17 n. Chr. zwölf asiatische Städte vernichtete, darunter Sardes, spendete er zehn Millionen Sesterzen und gewährte einen fünfjährigen Steuererlass. Diese Fürsorge des Tiberius wurde in der Münzprägung civitatibus Asiae restitutis („für den Wiederaufbau der Städte Asiens“) proklamiert.
Von seinem Alterssitz auf Capri aus griff Tiberius im Jahr 33 in eine Finanzkrise in Rom ein, die vor dem Hintergrund seiner restriktiven Geldpolitik durch illegale Zinserhöhung der Geldverleiher ausgelöst worden war, die zugleich immer weniger Kredite gewährten. Da der Senat die Finanzkrise nicht mit eigenen Mitteln bewältigen konnte, stellte Tiberius Kreditvermittlern 100 Millionen Sesterzen zur Vergabe von zinslosen Krediten auf drei Jahre zur Verfügung, mit der Bedingung, dass ihre Schuldner dem römischen Staat Grundstücke von doppeltem Wert als Sicherheiten überschreiben mussten. Die Finanzkrise konnte so behoben werden.
Aufgrund des rigorosen Sparkurses von Tiberius fand sein Nachfolger Caligula 2,7 Milliarden Sesterzen in der Staatskasse vor, die dieser allerdings schnell verschwendete. Tiberius konnte auch daraus finanziellen Gewinn ziehen, dass wegen Majestätsverbrechen verurteilte Senatoren ihr Erbe an den Kaiser abtreten mussten.
Majestätsprozesse
Die unter Augustus noch seltenen Anklagen wegen Majestätsbeleidigung nahmen merklich zu. Auf Grundlage der noch von Augustus eingeführten lex Iulia de maiestate konnten nicht nur Lebensbedrohungen, sondern auch Schmähungen der Person des Princeps bestraft werden. In den Jahren 14–20 hatte Tiberius sich zunächst noch entschieden gegen die Verfolgung solcher Schmähungen gewandt.
Die ersten von Tiberius gebilligten Prozesse wurden vermutlich maßgeblich vom Senat initiiert, dem ein Teil des Gerichtswesens institutionell unterlag. Seit dem Jahr 24 wurden Majestätsprozesse häufiger eingeleitet, obwohl Tiberius das Majestätsgesetz nicht verschärfte. Insgesamt gab es unter seiner Herrschaft etwa 60 Majestätsprozesse. Ihre Anzahl hatte deshalb so sprunghaft zugenommen, weil der unbestimmte Rechtsbegriff der laesa maiestas so weit ausgelegt wurde, dass schon das Mitsichführen einer Kaisermünze auf dem sanitären Abtritt oder im Bordell Gegenstand einer Anklage werden konnte. Wahrscheinlich handelte es sich dabei eher um einen von vielen Anklagepunkten in einer Reihe von jeweils zur Last gelegten Vergehen. Besonders dissidente literarische Anspielungen konnten strengstens bestraft werden. So war der Historiker Cremutius Cordus gezwungen, sich durch Nahrungsverweigerung das Leben zu nehmen, da man ihm vorwarf, in seinem Geschichtswerk vorteilhaft auf die Caesarmörder Brutus und Cassius eingegangen zu sein. Brutus hatte er gelobt, Cassius soll er den „letzten Römer“ genannt haben. Die meisten Exemplare des Werks wurden auf Senatsbeschluss verbrannt, später wurde es aber wieder herausgegeben. Nachdem sich Gaius Asinius Gallus, der Ehemann von Tiberius’ erster Frau Vipsania Agrippina, nach dem Sturz von Agrippina der Älteren Seianus zugewandt hatte, wurde er im Jahr 30 inhaftiert und nach drei Jahren ebenfalls durch Nahrungsentzug getötet.
Tacitus beschreibt die Majestätsprozesse als willkürliches Handeln eines Tyrannen, und diese Deutung ist vor allem in der älteren Forschung weitgehend übernommen worden. Die neuere Forschung dagegen hat sie zunehmend relativiert, da die Darstellung des Tacitus einseitig die institutionelle Verantwortung des Princeps betone und mit Rücksicht auf sein senatorisches Publikum das interne Ränkespiel senatorischer Familien herunterspiele. Es bildete sich erstmals das Phänomen senatorischen Denunziantentums heraus, das die Beziehung von Kaiser und Senat bis zum Ende des 1. Jahrhunderts erheblich belasten sollte. Die kurz zuvor von Augustus geschaffene Stellung des Princeps war institutionell noch nicht so weit gefestigt, dass Tiberius eine repressive Politik gänzlich ohne Unterstützung zumindest eines Teils des Senates hätte durchsetzen können. Erst die spätere Unterwürfigkeit des Senats ermöglichte die autokratische Gewaltherrschaft eines Caligula, Nero oder Domitian.
Aufstieg und Fall des Seianus
Anlässlich des frühen Todes des Germanicus, des designierten Nachfolgers von Tiberius, im Jahr 19 stellte sich erneut die Nachfolgefrage. Das Verhältnis zwischen Tiberius und Germanicus’ Witwe Agrippina der Älteren war gespannt, da sie als Enkelin des Augustus ihre Söhne als potenzielle Nachfolger des Tiberius sah.
In dieser Zeit begann der Einfluss des Prätorianerpräfekten Lucius Aelius Seianus zu wachsen. Er baute die von ihm kommandierte Prätorianergarde zu einem persönlichen Machtfaktor aus, indem er sie in einem einzigen Lager, den Castra praetoria, auf dem Viminal vor der Stadtmauer stationierte. Tacitus zufolge vertraute Tiberius Seianus blind, seitdem dieser sich beim Einsturz einer Höhle schützend über Tiberius geworfen hatte. Das Seianus-Bild bei Tacitus ist allerdings, wie bei Sueton, äußerst negativ und steht damit im Gegensatz zu der positiven Charakterisierung des Seianus durch seinen Zeitgenossen Velleius Paterculus, der 30 n. Chr. schrieb.
Seianus plante vermutlich, durch systematische Ausschaltung der natürlichen Erben des Tiberius und Einheirat in dessen Familie selbst Nachfolger des Princeps Tiberius zu werden. Angeblich verleitete er Livilla, die Frau von Tiberius’ Sohn Drusus, zum Ehebruch. Im Jahr 23 starb der Thronfolger Drusus an einer Krankheit, wie man allgemein annahm. Im Jahr 31 sagte Apicata, die verstoßene Ehefrau des Seianus, aus, dass dieser Drusus habe vergiften lassen, indem er sich den Lieblingseunuchen des Drusus, Eudamus, hörig machte und mit der Verabreichung des Giftes beauftragte, wie auch einige zeitgenössische Autoren berichteten. Apicata wurde allerdings bei dieser Aussage stark unter Druck gesetzt, da sie nicht nur um ihr eigenes Leben, sondern auch um das ihrer Kinder fürchten musste. In der Forschung wird die Beteiligung des Seianus am Tod des Drusus sowie gelegentlich auch das Verhältnis zu Livilla bezweifelt.
Seianus versuchte im Jahr 25, Livilla zu heiraten, wodurch er Mitglied der kaiserlichen Familie geworden wäre. Tiberius lehnte die Heirat jedoch mit Rücksicht auf Vorbehalte in der Kaiserfamilie ab, die eine Verschwägerung mit dem aus dem Ritterstand stammenden Seianus als unstandesgemäß empfand.
Nachdem seine Heiratspläne vereitelt worden waren, stellte Seianus Tiberius in öffentlichen Reden die Vorteile des ländlichen Lebens außerhalb der Hauptstadt vor Augen. Dem Princeps war die Anwesenheit in Rom mit ihren Intrigen und Streitereien zwischen seinen Familienangehörigen zuwider, vor allem die problematischen Beziehungen zu seiner Mutter Livia und zu Agrippina, der Witwe des Germanicus. Hinzu kamen Angst um seine persönliche Sicherheit und menschenscheues Verhalten. Bereits seit dem Jahr 22 hatte er sich wiederholt in Kampanien aufgehalten und Drusus die tribunicia potestas verliehen. Seianus hatte ein entschiedenes Interesse am Rückzug des Kaisers, da er dadurch – praktisch in Stellvertreterfunktion – die Übernahme der Macht vorbereiten konnte. Im Jahr 26 zog sich Tiberius tatsächlich auf die abgelegene Insel Capri zurück. Seianus kontrollierte von nun an den Zugang zu Tiberius, da seine Prätorianer verantwortlich für die Übermittlung der kaiserlichen Korrespondenz waren.
Seianus brachte schließlich seinen Anspruch auf die Thronfolge offen zum Ausdruck, indem er seinen Geburtstag zum römischen Feiertag erklären und sich öffentlich durch Aufstellen von Statuen mit seinem Konterfei ehren ließ. Dadurch stellte er den Kult um seine Person dem des Kaisers gleich.
Durchaus in Übereinstimmung mit den Interessen des Tiberius war Seianus wahrscheinlich an Intrigen gegen Agrippina und ihre Parteigänger entscheidend beteiligt. Angeblich ließ er ihren ältesten Sohn und Nachfolgekandidaten Nero Caesar bespitzeln und durch Mittelsmänner zu unbedachten Äußerungen gegen Tiberius verleiten. Als Folge wurden Nero und Agrippina im Jahre 29 auf die Insel Pandataria verbannt, wo beide in den Tod gedrängt wurden. Ihr zweiter Sohn Drusus Caesar verhungerte ein Jahr später im Kerker. Einige Forscher sehen jedoch die Beteiligung des Seianus an den nicht genau bekannten Vorwürfen gegen die Familie des Germanicus als allenfalls gering an.
Antonia die Jüngere, die Witwe von Tiberius’ Bruder Drusus, denunzierte schließlich Seianus bei Tiberius mit dem Vorwurf, dieser wolle Gaius, den späteren Kaiser Caligula, beseitigen lassen, um sich als einzigen Nachfolger zu positionieren. Als Reaktion ließ Tiberius im Jahr 31 von Capri aus einen Brief an den Senat schicken, wobei er Seianus, der unlängst zum Consul ernannt worden war, in den Glauben setzte, dass dieser Brief die Übertragung der Amtsgewalten an dessen Person enthielt. Der in Anwesenheit des Seianus verlesene Brief begann mit dessen Verdiensten, endete aber mit Vorwürfen und der Verurteilung des Seianus. Seianus wurde verhaftet und zusammen mit seinen Kindern durch Strangulierung hingerichtet. Sein Leichnam wurde auf die Gemonische Treppe geworfen, dort vom Mob zerstückelt und anschließend an einem Haken zum Tiber geschleift, da nach altrömischer Jenseitsvorstellung den im Meer treibenden Toten der Zugang zur Unterwelt verwehrt war. Es ist unklar, ob Seianus tatsächlich die Ermordung Caligulas plante oder einer Hofintrige bzw. seinen eigenen Machtansprüchen, die ihm Neid und Missgunst einbrachten, zum Opfer fiel. In den Jahren 31 bis 37 wurden zahlreiche Senatoren und Ritter unter dem Verdacht, die Pläne des Seianus unterstützt zu haben, hingerichtet oder zum Selbstmord gezwungen. Tacitus beschreibt im sechsten Buch der Annalen eine Atmosphäre voller Terror und Intrigen, bei der es unklar gewesen sei, „ob es bejammernswerter sei, der Freundschaft wegen angeklagt zu werden oder den Freund selbst anzuklagen“.
Nachfolger des Seianus als Prätorianerpräfekt wurde Quintus Naevius Sutorius Macro.
Die letzten Jahre
Alterssitz auf Capri
Die antiken Historiographen (Cassius Dio, Sueton und Tacitus) stellten den Kaiser in seinen letzten Lebensjahren als unansehnlichen, durch Hautgeschwüre entstellten Lustgreis dar, der sich auf Capri pädophilen und sadistischen Neigungen hingebe und die Öffentlichkeit scheue. Insbesondere der Kaiserbiograph Sueton charakterisierte Tiberius in dieser Hinsicht sehr ausführlich, bediente allerdings damit die Erwartung eines senatorischen Publikums im frühen 2. Jahrhundert. So soll Tiberius männliche Minderjährige in den kaiserlichen Thermalbecken zu homosexueller Unterwasser-Fellatio missbraucht und in diesem Zusammenhang seine „Fischlein“ genannt haben. Angeblich wurde auch der spätere Kaiser Vitellius von Tiberius hierzu sexuell missbraucht.
Die moderne Forschung löst sich von diesen tendenziell stereotypen Überlieferungsformen, die sich dadurch begründen lassen, dass zum Ende der Regierungszeit des Tiberius erstmals die politische Ohnmacht und der Autoritätsverlust des Senats vor Augen traten. Dies äußerte sich in den andauernden Majestätsprozessen und in der mangelnden Möglichkeit, auf Entscheidungen im fernen Capri Einfluss zu nehmen. Nach antikem Verständnis war es üblich, in biographischen Abhandlungen die allgemeine politische Richtung eines Kaisers mit dessen charakterlichen Anlagen und Privatinteressen in engen, teils fiktiven Zusammenhang zu bringen. Die Residenz des Tiberius auf Capri, die Villa Jovis, ist als Ruine erhalten. Sie war grundsätzlich darauf ausgelegt, Regierungsgeschäfte zu erledigen, wurde aber von keinem späteren Kaiser mehr bewohnt.
Tod in Misenum, Beisetzung in Rom
Als Tiberius am 16. März 37 in Misenum am Golf von Neapel im Alter von 77 Jahren starb, hatte er sich nicht nur beim Senat unbeliebt gemacht, sondern auch bei der stadtrömischen Bürgerschaft, die seinen Leichnam wie den eines Verbrechers in den Tiber werfen (Tiberium in Tiberim) oder im Theater von Atella anrösten wollte. Die Anfeindungen in der Bevölkerung resultierten aus den zahlreichen Hinrichtungen der letzten Regierungsjahre, denen jährlich mehrere hundert Bürger der Hauptstadt zum Opfer fielen. Ihre Leichname wurden zur Abschreckung auf den Gemonischen Treppen ausgestellt. In der öffentlichen Darstellung wurde diese Politik mit notwendiger Verbrechensbekämpfung und erforderlicher Eindämmung unsittlichen Verhaltens begründet.
Tiberius’ Leichnam wurde nach Rom eskortiert und öffentlich verbrannt. Seine Asche wurde im Augustusmausoleum beigesetzt. Eine Divinisierung erfolgte zunächst nicht. Allerdings wurde Tiberius in der Lex de imperio Vespasiani des Jahres 69 zu den Kaisern gezählt, deren Regierungsbeschlüsse noch gültig waren. Der vollständige Name des Tiberius zum Zeitpunkt seines Todes lautete gewöhnlich Tiberius Caesar Divi Augusti filius Augustus, Pontifex maximus, Tribunicia potestate XXXVIII, Imperator VIII, Consul V („Tiberius Caesar Augustus, Sohn des vergöttlichten Augustus, höchster Priester, im 38. Jahr Inhaber der tribunizischen Vollmacht, achtmal zum Imperator ausgerufen, fünfmaliger Konsul“).
Gerüchte um den Nachfolger
Nach dem Tod des Germanicus, den bereits Augustus als Nachfolger des Tiberius designiert hatte, soll Tiberius in der Nachfolgeregelung unschlüssig gewesen sein. Einen Nachfolger außerhalb seiner Familie zu suchen, wagte Tiberius nicht, um das mit der Autorität des Augustus verbundene dynastische Prinzip nicht zu verletzen. Der Bruder des Germanicus, Claudius, galt als aussichtsloser Kandidat, da er gemäß den Überlieferungen an diversen physischen Gebrechen litt. Es blieben daher nur Germanicus’ Sohn Gaius, der spätere Kaiser Caligula, oder Tiberius Gemellus, Enkel des Tiberius, als Kandidaten übrig. Im Jahr 31 ließ Tiberius Gaius zu sich nach Capri kommen. Dort gelang es Gaius offenbar, das Vertrauen des Kaisers zu gewinnen. Sueton gibt an, dass dieses Vertrauensverhältnis auf dem gemeinsamen Interesse an Folterungen und sexuellen Ausschweifungen beruht habe. Tiberius soll zu Gaius gesagt haben: „Du wirst diesen [Gemellus] ermorden, dich ein anderer.“ Tatsächlich ließ Caligula, kurz nachdem er Kaiser geworden war, Tiberius Gemellus Ende des Jahres 37 oder Anfang des Jahres 38 töten, weil dieser verdächtigt wurde, eine schwere Krankheit Caligulas ausgenutzt zu haben, um sich gegen ihn zu verschwören. Möglicherweise wurde Tiberius selbst auch von Gaius umgebracht, wobei die Quellenaussagen nicht eindeutig sind und ungeklärte Todesfälle von Herrschern oft unbestätigte Mordgerüchte nach sich zogen. Es wurde auch spekuliert, dass der Prätorianerpräfekt Macro den Tod des Tiberius herbeigeführt habe.
Wirkung
Kreuzigungsgeschehen
Zu Ehren des Kaisers erhielt die Stadt Tiberias an der Westküste des See Genezareth damals vom Tetrarchen Herodes Antipas ihren Namen. Während Tiberius’ Regierungszeit wirkte in der Region Jesus von Nazaret. In dessen Predigten und Gleichnissen gibt es mehrfach Bezüge zu Caesar (bzw. dem Kaiser in einigen Übersetzungen), ohne jedoch den Namen Tiberius zu erwähnen, wie wahrscheinlich im Falle der Steuermünze in den Evangelien nach Matthäus und nach Markus . Im Neuen Testament wird Tiberius nur einmal namentlich erwähnt, im Evangelium nach Lukas im Rahmen des sogenannten lukanischen Datums, das auf das Jahr 28 hinweist und als einziges eine sichere Datierung der neutestamentlichen Ereignisse erlaubt:
In der Ära des Tiberius löste die Kreuzigung Jesu (wahrscheinlich im Jahr 30), der von Pontius Pilatus als Aufrührer hingerichtet wurde, weder besondere Aufmerksamkeit in Rom noch irgendeinen größeren Aufstand aus. Judäa galt damals als relativ ruhige Region. Der christliche Historiker Eusebius von Caesarea behauptete dreihundert Jahre später, dass der Senat die Anerkennung des Christengottes seitens des römischen Staates formal abgelehnt, Tiberius selbst allerdings keine Verfolgungen gegen Christen in Erwägung gezogen habe, was die Verbreitung des Frühchristentums begünstigt habe. Diese Aussage ist jedoch zweifellos anachronistisch, da das Christentum zur Zeit von Tiberius noch eine Sekte innerhalb des Judentums war und der jüdische Gott von Rom damals bereits anerkannt wurde.
Auch Tacitus erwähnt in seiner Schilderung von Tiberius’ Herrschaft in den ersten sechs, zum großen Teil erhaltenen Büchern der Annalen Jesus mit keinem Wort. Die Kreuzigung wird bei ihm nur nebenbei erwähnt, als er sich zur Hinrichtung von Christen in Rom unter Kaiser Nero äußert:
Rezeption
Tiberius war – verglichen etwa mit den Herrschern Caesar oder Nero – nur relativ selten Gegenstand künstlerischer Bearbeitung. Gerhart Hauptmann schrieb 1884 in Rom das Drama Das Erbe des Tiberius, Julius Grosse verfasste 1876 ein Drama namens Tiberius. Zahlreiche historische Romane befassen sich seit Franz Horn mit dem zweiten Kaiser, wenn auch in vielen Fällen nur als Nebenfigur wie im Roman Ich, Claudius, Kaiser und Gott (1934) von Robert von Ranke-Graves, der auch als TV-Serie verfilmt wurde.
Da das Kreuzigungsgeschehen in seine Regierungszeit fällt, wird Tiberius vor allem in belletristischen Werken und Monumentalfilmen mit neutestamentlichen Bezügen wie etwa Das Gewand oder Ben Hur (Triumphszene, Begnadigung von Ben Hur) beiläufig dargestellt. In Tinto Brass’ berüchtigtem Caligula (1979) nach einem Drehbuch von Gore Vidal wurde Tiberius von Peter O’Toole als grausamer Lustgreis dargestellt. Ähnlich zeichnete Anthony Burgess den Kaiser in seinem Roman The Kingdom of the Wicked, der als TV-Mini-Serie unter dem Titel Anno Domini (1984) verfilmt wurde.
Unter den literarischen Bearbeitungen nach dem Zweiten Weltkrieg sind die Romane von Josef Toman (1963) und Hubertus Prinz zu Löwenstein-Wertheim-Freudenberg aus dem Jahr 1977 zu nennen. Einen belletristischen Rehabilitierungsversuch unternahm Gerhard Prause (1966).
Der spanische Psychologe Gregorio Marañón beschäftigte sich 1939 mit der Erforschung der Persönlichkeit des Tiberius und analysierte eine mögliche Geisteskrankheit, das sogenannte Ressentiment-Syndrom, bei dem die Selbstwahrnehmung und der Eindruck, den die Personen tatsächlich in ihrer Umgebung hinterlassen, gestört seien. Eine solche gestörte Eigenwahrnehmung resultiere oft aus Misserfolgen.
Tiberius in der Forschung
Die antiken Historiographen Sueton, Cassius Dio und besonders Tacitus stellen Tiberius als lethargisch und tyrannisch dar. Die negative Charakterisierung des Tiberius war aber bereits in früheren, heute verlorenen Geschichtswerken erfolgt, auf die sich die genannten Autoren stützten. In der Forschung konnte durch Quellenanalysen bewiesen werden, dass Dio und Tacitus teils eine gemeinsame Quelle herangezogen haben, wenngleich keiner immer nur einer Quelle folgte. Jedoch findet Velleius Paterculus, der im Gegensatz zu den anderen Historiographen ein Zeitgenosse des Tiberius war, lobende Worte, die allerdings als panegyrische Verherrlichung des Tiberius ausgelegt werden müssen.
Radikale moderne Rehabilitierungsversuche bis hin zu der Vorstellung, in Tiberius eine starke Führungsperson zu sehen, sind den politischen Projektionen des 19. Jahrhunderts zuzuschreiben. Die 1960 postum veröffentlichte Tiberius-Biographie von Ernst Kornemann gehört ebenfalls den energischen Rehabilitierungsversuchen an und stellt den Tod des Kaisers in einen weltgeschichtlichen Zusammenhang zum Kreuzigungsgeschehen.
Die moderne Forschung bemüht sich um ein ausgewogeneres Urteil. Nach Zvi Yavetz sprechen gegen die Deutung des Tiberius als Tyrannen, dass er kein Usurpator war (denn die Legitimität seiner Herrschaft war durch die Adoption des Augustus unbestritten), keine göttliche Verehrung anstrebte und keine Eroberungskriege führte, um von innenpolitischen Schwierigkeiten abzulenken. Yavetz nannte seine Tiberiusbiographie Der traurige Kaiser und deutete damit Tiberius auch psychologisch, indem er den Tiberius verliehenen inoffiziellen Beinamen tristissimus hominum („der Traurigste unter den Menschen“) sowie seine düstere und menschenscheue Persönlichkeit auf die problematischen Ereignisse in der Jugend des Tiberius zurückführte. Auch Michael Grant sah Tiberius für das Erbe des Prinzipats als charakterlich nicht hinreichend geeignet an.
Barbara Levick begründet das ungünstige Urteil der antiken Historiographie aus der Institutionalisierung des Prinzipats nach dem Tod des Augustus, den materiellen Interessen der Senatsaristokratie und der damit kontrastierenden Amtsmüdigkeit des Kaisers, der darin versagte, den Hofintrigen anders als durch Gewalt Einhalt zu gebieten, jedoch in der Provinzverwaltung eine glückliche Hand besaß. Robin Seager erklärt in ähnlicher Weise das Geschichtsbild aus einem gemeinsamen Versagen von Kaiser und Senat sowie aufgrund von Erzählmustern der antiken Historiographie, die eine in Phasen verlaufende Wandlung des Kaisers zum Scheusal beschreiben. David C. A. Shotter erkennt Schwächen in der Amtsführung des Tiberius, vor allem im Umgang mit dem Senat, weist ihm jedoch das Verdienst zu, nach Augustus das Reich dauerhaft in eine dynastische Monarchie umgeformt zu haben.
Quellen
Antike Quellen
Cassius Dio: Römische Geschichte. Übersetzt von Otto Veh, Band 3 (= Bücher 44–50) und 4 (= Bücher 51–60), Artemis-Verlag, Zürich 1986, ISBN 3-7608-3672-0 und ISBN 3-7608-3673-9, (englische Übersetzung bei LacusCurtius; für Tiberius sind insbesondere die Bücher 57–58 relevant).
Velleius Paterculus: Römische Geschichte. Historia Romana. Übersetzt und lateinisch/deutsch herausgegeben von Marion Giebel, Reclam, Stuttgart 2014, ISBN 978-3-15-008566-0 (lateinischer Text mit englischer Übersetzung).
Sueton: Tiberius. Ausführlichste antike Biographie aus der Sammlung der Kaiserbiographien von Caesar bis Domitian. Zahlreiche Ausgaben, beispielsweise mit deutscher Übersetzung in: Gaius Suetonius Tranquillus: Sämtliche erhaltene Werke. Magnus, Essen 2004, ISBN 3-88400-071-3, (lateinischer Text, englische Übersetzung).
Tacitus: Annalen. Lateinisch/deutsch herausgegeben von Erich Heller, 5. Aufl., Artemis & Winkler, München/Zürich 2005, ISBN 3-7608-1645-2, (lateinischer Text; die Bücher 1–6 behandeln die Zeit des Tiberius).
Quellensammlungen
Hans-Werner Goetz, Karl-Wilhelm Welwei: Altes Germanien. Auszüge aus antiken Quellen über die Germanen und ihre Beziehungen zum Römischen Reich. 2 Teile, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1995, ISBN 3-534-05958-1.
Joachim Herrmann (Hrsg.): Griechische und lateinische Quellen zur Frühgeschichte Mitteleuropas bis zur Mitte des 1. Jahrtausends u. Z. Teil 1: Von Homer bis Plutarch (8. Jahrhundert v. u. Z. bis 1. Jahrhundert u. Z.). Berlin 1988, ISBN 3-05-000348-0; Teil 3: Von Tacitus bis Ausonius (2. bis 4 Jh. u. Z.). Berlin 1991, ISBN 3-05-000571-8.
Literatur
Biographien
Michael Grant: Roms Caesaren. Von Julius Caesar bis Domitian. Beck, München 1978, ISBN 3-406-04501-4.
Raban von Haehling: Tiberius. In: Manfred Clauss (Hrsg.): Die römischen Kaiser. 55 historische Portraits von Caesar bis Iustinian. 4. aktualisierte Auflage. Beck, München 2010, ISBN 978-3-406-60911-4, S. 50–63.
Barbara Levick: Tiberius the Politician. Routledge, London 1999, ISBN 0-415-21753-9 (zuerst 1976).
Gregorio Marañón: Tiberius. Geschichte eines Ressentiments. München 1952. (englische Originalausgabe: Tiberius. A Study in Resentment, London 1956)
Robin Seager: Tiberius. 2. Auflage. Blackwell, Malden/Massachusetts 2005, ISBN 1-4051-1529-7.
David C. A. Shotter: Tiberius Caesar. 2. Auflage. Routledge, London 2004, ISBN 0-415-31946-3 (Lancaster pamphlets in ancient history).
Holger Sonnabend: Tiberius. Kaiser ohne Volk. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2021, ISBN 3-8053-5258-1.
Zvi Yavetz: Tiberius. Der traurige Kaiser. dtv, München 2002, ISBN 3-423-30833-8.
Über die Herrschaft des Tiberius
Manfred Baar: Das Bild des Kaisers Tiberius bei Tacitus, Sueton und Cassius Dio (= Beiträge zur Altertumskunde. Bd. 7). Teubner, Stuttgart 1990, ISBN 3-519-07456-7.
Maria H. Dettenhofer: Herrschaft und Widerstand im augusteischen Principat. Die Konkurrenz zwischen Res publica und domus Augusta (= Historia. Einzelschriften. Bd. 140). Steiner, Stuttgart 2000, ISBN 3-515-07639-5.
Glanville Downey: Tiberiana. In: Aufstieg und Niedergang der römischen Welt II 2. De Gruyter, Berlin/New York 1975, ISBN 3-11-004971-6, S. 95–130.
Claudia Kuntze: Zur Darstellung des Kaisers Tiberius und seiner Zeit bei Velleius Paterculus (= Europäische Hochschulschriften. Reihe 3, Bd. 247). Lang, Frankfurt am Main 1985, ISBN 3-8204-7489-7.
Mehran A. Nickbakht: Tiberius’ Adoption durch Augustus: rei publicae causa?. In: Göttinger Forum für Altertumswissenschaft 1, 1998, S. 112–116 (PDF, 46 KB).
Ulrich Schmitzer: Velleius Paterculus und das Interesse an der Geschichte im Zeitalter des Tiberius (= Bibliothek der klassischen Altertumswissenschaften, Reihe 2, Neue Folge, Bd. 107). Winter, Heidelberg 2000, ISBN 3-8253-1033-7.
Paul Schrömbges: Tiberius und die Res Publica Romana. Untersuchungen zur Institutionalisierung des frühen römischen Principats. Habelt, Bonn 1986, ISBN 3-7749-2207-1.
Ronald Syme: History or Biography. The Case of Tiberius Caesar. In: Historia 23, 1974, S. 481–496.
Weblinks
Marfa Heimbach: 16. März 37 – Todestag des römischen Kaisers Tiberius WDR ZeitZeichen vom 16. März 2022, mit Werner Eck. (Podcast)
Anmerkungen
Kaiser (Rom)
Militärperson (Römische Kaiserzeit)
Augur
Claudier
Julier
Olympiasieger (Antike)
Geboren 42 v. Chr.
Gestorben 37
Mann
Augustus
Statthalter (Germania inferior)
Herrscher (1. Jahrhundert)
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Q1407
| 164.680088 |
42331
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https://de.wikipedia.org/wiki/Bedecktsamer
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Bedecktsamer
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Die Bedecktsamigen Pflanzen (Magnoliophyta), kurz: Bedecktsamer, auch Angiospermen, manchmal auch im engeren Sinne als „Blütenpflanzen“ bezeichnet, bilden die größte Klasse der Samenpflanzen. Sie unterscheiden sich von den Nacktsamern darin, dass in ihren Blüten die Samenanlagen von einem Fruchtblatt bzw. Fruchtknoten umschlossen und darin geschützt („bedeckt“) liegen.
Merkmale
Der Bau der bedecktsamigen Blüten ist abgeleitet von den Blütenständen der nacktsamigen Pflanzen, die ihre Samenanlagen offen auf den Fruchtblättern tragen. Die ursprünglich spiralige Anordnung der Fruchtblätter auf der Blütenachse zeigt sich unter anderem an den Blüten der Magnolien. Wegen dieser Gemeinsamkeit der Magnoliidae mit den viel älteren Verwandtschaftsgruppen, wobei sie sich aber hinsichtlich der Fruchtblätter von jenen deutlich unterscheiden, bezeichnet man die gesamte systematische Einheit der bedecktsamigen Pflanzen auch als Magnoliophyta.
Bei der Entstehung der Samenpflanzen, zu denen auch die Bedecktsamer gehören, wurde der Generationswechsel, der bei den Farnen durch abwechselnde Ausbildung eines im Boden befindlichen Gametophyten und eines daraus hervorwachsenden Sporophyten stattfand, in die vom Sporophyten gebildete Blüte verlagert, in der der weibliche Gametophyt (Embryosack) verbleibt, während die männlichen Gametophyten (Pollenkörner) nach der Bildung in den Staubblättern freigesetzt werden. Bei den bedecktsamigen Blütenpflanzen sind die Samenanlagen und darin dasjenige Gewebe, das ursprünglich den weiblichen Gametophyten bildete, in ein geschlossenes Fruchtblatt eingehüllt, daher der Name Bedecktsamer. Der männliche Gametophyt der bedecktsamigen Blütenpflanzen besteht nur aus drei Zellen. Die Wände der Megasporen besitzen kein Sporopollenin. Es gibt eine doppelte Befruchtung und damit zusammenhängend ein sekundäres Endosperm.
Die Bedecktsamer zeichnen sich unter anderem durch folgende abgeleitete Merkmale (Synapomorphien) aus, die sie von den anderen Samenpflanzen abgrenzen: Im Phloem gehen Siebröhren und Geleitzellen aus einer gemeinsamen Mutterzelle hervor. Im Xylem findet man im Unterschied zu Nacktsamigen Pflanzen neben den Tracheiden auch Tracheen. Die Staubblätter besitzen zwei seitlich sitzende Pollensack-Paare. Die Staubbeutel haben ein hypodermales Endothecium. Die Pollenkörner haben meist keine laminierte Endexine.
Systematik
Die Bedecktsamer sind mit etwa 300.000 bekannten Arten die Pflanzengruppe mit den meisten Arten. Während ihre systematische Stellung innerhalb der Samenpflanzen und ihre Herkunft nach wie vor Gegenstand wissenschaftlicher Debatten ist, hat sich ihre innere Systematik nicht zuletzt durch die Arbeit der Angiosperm Phylogeny Group (APG) seit den 1990er Jahren stabilisiert. Die hier vorgestellte Systematik beruht auf der im März 2016 vorgestellten vierten Version der APG.
Neben den großen Gruppen der Monokotyledonen und Eudikotyledonen gibt es noch einige basal stehende Ordnungen. Ihre Verwandtschaft wird durch folgendes Kladogramm verdeutlicht:
Basale Ordnungen
Unter dem Begriff der basalen Ordnungen werden mehrere Ordnungen zusammengefasst, die phylogenetisch an der Basis der Bedecktsamer stehen. Sie stellen keine natürliche Verwandtschaftsgruppe (Monophylum) dar und werden daher nicht mehr als eigenes Taxon geführt wie in der Vergangenheit (etwa als Einfurchenpollen-Zweikeimblättrige). Die basalen Ordnungen umfassen etwa 8600 Arten. Sie haben etliche gemeinsame Merkmale.
Es sind vorwiegend verholzte Pflanzen, die ätherische Öle bilden (Phenylpropanoide und Terpene). Diese befinden sich in kugeligen Idioblasten. Die Blätter sind einfach und besitzen keine Nebenblätter. Die Blüten sind sehr mannigfaltig gestaltet. Die Anordnung der Blütenorgane ist schraubig oder auch oft in dreizähligen Kreisen. Der Pollen ist vorwiegend monosulcat. Die Fruchtblätter sind meist nicht verwachsen. Häufige Pflanzeninhaltsstoffe sind Benzylisochinolinalkaloide und Neolignane.
Zu den basalen Ordnungen zählen folgende Taxa:
Familie Archaefructaceae (ausgestorben)
Ordnung Amborellales
Familie Amborellaceae
Ordnung Nymphaeales (Seerosenartige)
Familie Hydatellaceae
Familie Cabombaceae (Haarnixengewächse)
Familie Nymphaeaceae (Seerosengewächse)
Ordnung Austrobaileyales
Familie Austrobaileyaceae
Familie Trimeniaceae
Familie Schisandraceae (Sternanisgewächse)
Mesangiospermen
An die Basalen Ordnungen schließen sich die Mesangiospermen (englisch Mesangiosperms) an, die alle übrigen Bedecktsamer beinhalten. Sie bestehen aus folgenden Gruppen:
Magnoliiden
Chloranthales
Monokotyledonen (Einkeimblättrige)
Ceratophyllales (Hornblattartige)
Eudikotyledonen
Für eine detaillierte Übersicht über die Systematik siehe Systematik der Bedecktsamer.
Ursprung der Blütenpflanzen
Als Fossilien sind Bedecktsamer seit dem Übergang von Oberjura zur Unterkreide bekannt, das heißt seit 160 bis 140 Millionen Jahren. Im Jahr 2013 wurden fossile Pollen in Bohrkernen wissenschaftlich beschrieben, deren Alter auf 252 bis 247 Millionen Jahren datiert wurde; das heißt, dass die Entwicklung der Blütenpflanzen wahrscheinlich in der mittleren Trias einsetzte. Eine der ältesten, wissenschaftlich beschriebenen Blütenpflanzen ist Montsechia vidalii, die in rund 130 Mio. Jahre alten kalkigen Sedimenten ehemaliger Süßwasserseen in den Pyrenäen und andernorts in Spanien gefunden wurde.
Die Ursprünge der Blütenpflanzen, ihrer Vorfahren sowie ihrer nächsten lebenden Verwandten sind bis heute umstritten. Im Wesentlichen gibt es drei Gruppen von Hypothesen:
Die erste ist die Anthophyten-Hypothese, die besagt, dass das äußere Samen-Integument und das Fruchtblatt sich von fertilen Strukturen ableiten, die bereits zuvor in einer blütenähnlichen Struktur vereint waren. Als nahe Verwandte und mögliche Vorläufer werden demnach die Gnetales und Bennettitales betrachtet. Allerdings sind die von einigen als homolog betrachteten ähnlichen Strukturen bei diesen beiden Gruppen und den Bedecktsamern vielfach recht unterschiedlich. Es fehlen zudem Fossilien, die eine Transformationsserie zwischen diesen Gruppen darstellen. In molekulargenetischen Untersuchungen bilden die Bedecktsamer und die Gnetales selten eine gemeinsame Klade.
Die zweite Gruppe von Hypothesen nimmt an, dass sich das äußere Samenanlagen-Integument und das Fruchtblatt aus einem Samenfarn-Megasporophyll entwickelt haben. Diese fertilen Strukturen wurden erst zu einem späteren Zeitpunkt zu einer Blüte vereint. Ein häufig genannter Kandidat dabei ist Caytonia. Einige wichtige strukturelle Merkmale sind allerdings nicht hinreichend genau bekannt, so die Struktur der Cupula von Caytonia und die sie tragende Rhachis. In etlichen kladistischen Analysen steht zudem Caytonia recht weit entfernt von den Samenpflanzen.
Nach der dritten Gruppe von Hypothesen bildeten sich das Fruchtblatt und das äußere Samenanlagen-Integument, indem Samenanlagen an zuvor pollenbildenden Strukturen entstanden. Sie ähneln damit Iltis’ -Theorie zur Entstehung des Mais. Sie umfasst auch die Gamoheterotopie-Theorie von Meyen, die die Umwandlung von synangialen Mikrosporophyllen zu samentragenden Megasporophyllen an der Spitze von Bennettitales-Zapfen zu erklären versucht. Die ebenfalls hierher gehörende -Theorie von Fröhlich und Parker erklärt das Fruchtblatt als Umwandlung von apikal stehenden Mikrosporophyllen an indeterminierten Blütenständen zu Megasporophyllen an Fruktifikationen mit determiniertem Wachstum. Für sie sind die Corystospermales die wahrscheinlichste Schwestergruppe der Bedecktsamer.
Ökonomische Bedeutung
Die Landwirtschaft ist, direkt oder indirekt (durch Tierfuttererzeugung), fast vollständig von Bedecktsamern abhängig; von allen Familien dieser Abteilung sind die Süßgräser bei weitem am wichtigsten. Sie beinhalten den Großteil aller pflanzlichen Rohstoffe (Reis, Mais, Weizen, Gerste, Roggen, Hafer, Hirse und Perlhirse sowie Rohrzucker).
Die Hülsenfrüchtler wie Bohnen und Erbsen folgen an zweiter Stelle. Des Weiteren sind Nachtschattengewächse wie Kartoffeln, Tabak und Tomaten, Kürbisgewächse wie Kürbis und Melone, Kreuzblütengewächse wie Raps und Kohl sowie Doldenblütler wie Petersilie von Bedeutung.
Viele unserer Früchte kommen aus den Rautengewächs- (z. B. Zitrusfrüchte) und Rosengewächs-Familien, so zum Beispiel Erdbeeren, Äpfel, Birnen, Pflaumen, Aprikosen und Kirschen.
In einigen Regionen der Erde nehmen nur bestimmte einzelne Spezies wegen ihrer vielfältigen Verwendungsmöglichkeiten eine überragende Rolle ein, so zum Beispiel die Kokosnuss auf den Pazifikatollen.
Blütenpflanzen haben außer als Nahrungspflanzen noch weitere wirtschaftliche Bedeutung, so zum Beispiel in Form von Holz, Papier, Fasern (Baumwolle, Flachs, Hanf u. a.), Medikamenten (Fingerhüte, Campher) oder zur Dekoration und Landschaftsgestaltung. Von anderen Pflanzen werden sie aber auf dem Gebiet der Holzproduktion übertroffen.
Weblinks
APWebsite = Angiosperm Phylogeny Website
Übersicht über die verschiedenen Klassifikationssysteme (englisch)
Einzelnachweise
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Q25314
| 3,240.749065 |
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https://de.wikipedia.org/wiki/1900er
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1900er
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Ereignisse
1900: Im Deutschen Reich tritt das Bürgerliche Gesetzbuch (BGB) in Kraft.
1900: König Umberto I. von Italien wird bei einem Attentat des Anarchisten Gaetano Bresci in Monza getötet, ihm folgt Viktor Emanuel III. auf dem Thron.
1900: Boxeraufstand in China.
1901: Der Anarchist Leon Czolgosz verübt auf der Panamerikanischen Ausstellung in Buffalo ein Attentat auf den US-Präsidenten William McKinley, der den Schussverletzungen 8 Tage später erliegt. An diesem Tag wird Theodore Roosevelt zum neuen Präsidenten vereidigt.
1901: Die einst voneinander unabhängigen Kolonien – New South Wales, Queensland, South Australia, Tasmanien, Victoria und Western Australia – formierten sich zum Commonwealth of Australia. Erste Hauptstadt Australiens wurde Melbourne.
1902: Die erste Strecke der Berliner U-Bahn zwischen Warschauer Brücke und Nollendorfplatz wird eröffnet. Es ist die erste U-Bahn-Strecke Deutschlands.
1902: Kuba erlangt mit dem Amtsantritt des am 31. Dezember auf Druck der USA ohne Gegenkandidaten gewählten Tomás Estrada Palma die formale Unabhängigkeit von den USA. Die Souveränität des Landes ist bis 1934 durch das Platt Amendment eingeschränkt.
1903: In Kischinew/Russland kommt es zu dreitägigen Massenpogromen von russischen Christen gegen Juden, bei denen die Polizeikräfte nicht eingreifen. Nach internationalen Protesten erklärt das russische Innenministerium die Judenverfolgung mit deren sozialistischen Aufruhr gegen Zar Nikolaus II. Journalisten vermuten eher eine Sündenbock-Politik angesichts der Wirtschaftsmisere, der weitverbreiteten Armut und wachsenden Arbeiterunruhen.
1903: Der serbische König Alexander I. und seine Gattin Draga werden von serbischen Offizieren im Königspalast ermordet. Peter I. wird neuer König von Serbien.
1903: Sechs Frauen um Emmeline und Christabel Pankhurst gründen in Manchester die Women’s Social and Political Union, eine Frauenstimmrechtsvereinigung. Sie sind die ersten, die den Beinamen Suffragetten bekommen werden.
1903: Die USA pachten von Kuba für 99 Jahre die Bucht von Guantánamo als Marinestützpunkt. Die jährliche Pacht beträgt 2000 US-Dollar.
1903/1904: Britischer Tibetfeldzug.
1904/1905: Mit einem Überraschungsangriff Japans auf Port Arthur beginnt der als Russisch-Japanischer Krieg bezeichnete Konflikt, der nach einer Reihe verlustreicher Schlachten im Herbst 1905 mit der Niederlage der russischen Seite endete.
1904 bis 1908: In Deutsch-Südwestafrika kommt es zum Aufstand der Herero und Nama. Im Verlauf des Kolonialkriegs erlässt der deutsche General von Trotha seinen berüchtigten Schießbefehl „Aufruf an das Volk der Herero“.
1904: Bildung der Entente cordiale zwischen Großbritannien und Frankreich. 1907 lehnt das Vereinigte Königreich Vorschläge zu einem Tunnelbau unter dem Ärmelkanal ab, da es trotz der Entente cordiale eine französische Invasion fürchtet.
1904: Das Kinderschutzgesetz tritt in Deutschland in Kraft. Es verbietet die Arbeit von Kindern unter 12 Jahren in allen gewerblichen Betrieben. 1906 wird allerdings die Arbeit von Kindern unter 10 Jahren in Familienbetrieben erlaubt.
1904: Präsidentschaftswahl in den Vereinigten Staaten 1904: Wiederwahl von Theodore Roosevelt zum Präsidenten der USA (und 1905 vereidigt). Kurz danach legt er mit seiner Rede vor dem Kongress mit der Roosevelt-Corollary, seinem Zusatz zur Monroe-Doktrin, den Grundstein für eine expansionistischere Außenpolitik der Vereinigten Staaten.
1905: Der Petersburger Blutsonntag führt zur Russischen Revolution 1905 und zur Einberufung der ersten Duma.
1905 bis 1906: Erste Marokkokrise.
1906: Persische Revolution.
1906: Das Erdbeben von 1906 und das daran anschließende Feuer machen die Stadt San Francisco dem Erdboden gleich.
1906: Wilhelm Voigt besetzt das Rathaus von Köpenick.
1906: Maximilian Harden löst mit einem Zeitungsartikel, in dem er andeutungsweise mehrere Personen im Umfeld des Kaisers der Homosexualität bezichtigt, die Eulenburg-Affäre aus.
1906: In Frankreich tritt das am 8. Dezember 1905 verabschiedete Gesetz über die Trennung von Kirche und Staat in Kraft.
1907: Erstmals allgemeines Männerwahlrecht bei der Reichsratswahl in Österreich-Ungarn.
1907: Bei der Hottentottenwahl zum 12. Deutschen Reichstag verliert die SPD fast die Hälfte ihrer Mandate.
1907: Das Gesetz betreffend das Urheberrecht an Werken der bildenden Künste und der Photographie wird im Deutschen Kaiserreich erlassen. Seine heutige Bedeutung liegt vorwiegend in seinen Regelungen über das Recht am eigenen Bild.
1907: In London demonstrieren 3.000 britische Suffragetten für die Einführung des Stimmrechts für Frauen, an ihrer Spitze Lady Frances Balfour und Lady Millicent Garrett Fawcett.
1907: Bauernaufstand in Rumänien 1907.
1907: Thronwechsel in Schweden. Auf Oskar II. folgt sein Sohn Gustav V.
1907: Die Entente cordiale wird durch Russland zur Triple Entente erweitert.
1907: Im Vertrag von Sankt Petersburg stimmen das Vereinigte Königreich und Russland ihre Interessensphären in Zentralasien ab. Persien wird in drei Zonen aufgeteilt. Afghanistan wird zur britischen Einflusszone. Tibet wird in der Anglo-Russischen Konvention (1907) zur neutralen Zone erklärt. Die Ansprüche Chinas werden anerkannt.
1908: Jungtürkische Revolution.
1908: Bosnische Annexionskrise: Österreich-Ungarn annektiert Bosnien und Herzegowina, was zu einer europäischen Krise führt.
1908: In Sibirien kommt es zum Tunguska-Ereignis.
1908: Der zweijährige Puyi wird in Peking zum chinesischen Kaiser gekrönt.
1908: Der portugiesische König Karl I. und sein Sohn, Kronprinz Ludwig Philipp, werden in Lissabon erschossen. Neuer König wird Ludwig Philipps jüngerer Bruder Manuel II.
1908: Tweedmouth-Affäre.
1908: Ein Interview mit Kaiser Wilhelm II. löst die Daily-Telegraph-Affäre aus.
1909: Gründung von Tel Aviv (Grundsteinlegung 11. April), der ersten modernen jüdischen Stadt auf dem Gebiet des späteren Staates Israel.
1909: Die Jungtürken stürzen im Osmanischen Reich Sultan Abdülhamid II., der im Amt von seinem Bruder Mehmed V. abgelöst wird.
1909: William Howard Taft wird als 27. US-Präsident in sein Amt eingeführt. Er löst Theodore Roosevelt ab.
Kulturgeschichte
Wissenschaft und Technik
1900: Wilhelm Maybach konstruiert auf Anregung des österreichischen Kaufmanns und Generalkonsuls Emil Jellinek den Mercedes-Simplex, einen Rennwagen mit einem 35-PS-Vierzylindermotor und zwei Vergasern. Das Fahrzeug, ausgestattet mit Maybachs Erfindungen, dem Bienenwabenkühler und dem Zahnradgetriebe, stellte für damalige Verhältnisse das Auto der Zukunft dar. Jellinek nannte das Modell nach seiner Tochter Mercédès.
1900: Plancksches Strahlungsgesetz von Max Planck.
1900: Das Bakterium Pseudomonas aeruginosa wird vom deutschen Botaniker Walter Migula erstmals beschrieben. Es ist auch in der heutigen Zeit klinisch bedeutsam, da es Resistenzen gegenüber Antibiotika aufweist.
1900: Per Erlass werden im Großherzogtum Baden als erstem deutschen Land Frauen uneingeschränkt zum Hochschulstudium zugelassen.
1900: Reginald Fessenden führt die erste drahtlose Sprachübertragung durch.
1901: Guglielmo Marconi gelang der erste transatlantische Funkempfang eines Signals (Buchstabe S als Morsezeichen) aus Poldhu auf der Halbinsel The Lizard in Cornwall auf dem Signal Hill bei St. John’s in Neufundland.
1901: Sigmund Freud publiziert seine Arbeit Zur Psychopathologie des Alltagslebens, auf die sich die Redewendung Freudscher Versprecher zurückführen lässt.
1901: Der britische Gouverneur Henry Hamilton Johnston präsentiert Wissenschaftlern Schädelknochen und das Fell eines Okapis. Das in Zentralafrika neu entdeckte Tier gilt als wissenschaftliche Sensation und war bis dahin nur den Pygmäen bekannt.
1902: Im Roten Rathaus in Berlin entsteht die erste Volkshochschule im Deutschen Reich.
1902: Patentierung des Tachometers durch Otto Schulze beim Deutschen Patentamt
1902: Willis Haviland Carrier entwickelt die erste moderne Klimaanlage.
1902: Mit der Blickensderfer Electric erscheint die erste elektrische Schreibmaschine, eine Konstruktion des gebürtigen Deutschen George Blickensderfer. Diese konnte sich jedoch nicht auf dem Markt durchsetzen, obwohl die Technik der Konkurrenz um Jahrzehnte voraus war.
1903: In Frankfurt am Main wird der Bund Deutscher Architekten (BDA) gegründet.
1903: Die Brüder Wright heben mit dem Wright Flyer zum ersten gesteuerten Motorflug ab.
1903: Konstantin Ziolkowski, der Vater der modernen Raumfahrttheorie, veröffentlicht in dem russischen Wissenschaftsmagazin Wissenschaftliche Rundschau unter dem Titel: Erforschung des Weltraums mittels Reaktionsapparaten erstmals die theoretischen Effekte eines Raketenantriebes als Raketengrundgleichung zur Grundlage der heutigen Raumfahrttechnik.
1903: Joseph John Thomson entwickelt das nach ihm benannte Thomsonsche Atommodell (Rosinenkuchen-Modell).
1904: Argentinien erhält auf Laurie Island ein im Vorjahr von einer britischen Antarktisexpedition erbautes Gebäude. Das Land richtet die seither ständig bewohnte Orcadas-Station ein, die erste der Forschungsstationen in der Antarktis.
1904: Erstes Farbfoto auf der Titelseite der Zeitung Daily Illustrated Mirror.
1904: Ein niederländischer Torfstecher entdeckt im Bourtanger Moor zwei Moorleichen, die Männer von Weerdinge, aus der Zeit um Christi Geburt.
1904: Die Gebrüdern Auguste und Louis Lumière entwickeln in Lyon das Autochromverfahren.
1904: Henri Poincaré formuliert die Poincaré-Vermutung.
1905: Fritz Schaudinn entdeckt zusammen mit Erich Hoffmann bei Forschungen am Berliner Klinikum Charité den Syphilis-Erreger Spirochaeta pallida.
1905: Henry Fairfield Osborn beschreibt und benennt den Dinosaurier Tyrannosaurus rex.
1905: Albert Einstein veröffentlicht vier bedeutende Arbeiten: eine Erklärung des Photoeffekts (17. März eingereicht), zwei grundlegende Artikel zur Speziellen Relativitätstheorie und über die Brownsche Molekularbewegung, deshalb wird 1905 auch Einsteins annus mirabilis genannt.
1905: Egon Schweidler entdeckt den ersten nicht-kausalen physikalischen Prozess und erklärt die statistische Natur der Radioaktivität.
1905: Auf der Baleareninsel Mallorca wird das Tropfsteinhöhlensystem Coves dels Hams entdeckt.
1905: In Boulogne-sur-Mer (Frankreich) beginnt der 1. Esperanto-Weltkongress.
1906: In der Kieler Krupp Germaniawerft läuft mit U 1 das erste deutsche U-Boot vom Stapel.
1906: Die Nordwestpassage ist durchfahren. Roald Amundsen trifft mit seiner Crew von sechs Leuten in Nome (Alaska) nach dreijähriger Forschungsfahrt mit dem Schiff Gjøa ein.
1906: Auf der Internationalen Funkkonferenz in Berlin wird das SOS an Stelle des bisherigen CQD zum internationalen Notrufsignal erklärt.
1906: Erste Radio-Übertragung durch den Kanadier Reginald Fessenden.
1906: Der Arzt Alois Alzheimer diagnostiziert erstmals an der Patientin Auguste D. die Alzheimer-Krankheit.
1906: Der britische Wetterdienst startet die Version einer Skala zur Klassifikation von Winden nach ihrer Geschwindigkeit mit 13 Stufen (inkl. 0), die als Beaufortskala bekannt wird.
1907: In Frankreich kommen erstmals Farbfotos der Brüder Louis Jean und Auguste Lumière an die Öffentlichkeit.
1907: Dem Franzosen Paul Cornu glückt mit seinem „fliegenden Fahrrad“ der weltweit erste Flug eines Hubschraubers in einer Höhe von 30 cm über dem Boden und 20 Sekunden Flugdauer.
1908 Melitta Bentz meldet das Patent für Rundfilter mit vorgefertigtem Filterpapier zur Zubereitung von Kaffee an.
1908: Für seinen erfundenen handbetriebenen Scheibenwischer für vordere Autoscheiben erhält Prinz Heinrich von Preußen, der Bruder Kaiser Wilhelms II., ein deutsches Patent. Seine Erfindung findet allerdings wenig Verbreitung.
1908: Chemieprofessor Fritz Haber beantragt ein Patent auf sein entwickeltes Verfahren zur synthetischen Darstellung von Ammoniak aus den Elementen, das er kurz danach der BASF zur wirtschaftlichen Verwertung überlässt. Es führt nach Entdeckung des Haber-Bosch-Verfahrens zur Produktion von Kunstdünger.
1908: Der US-amerikanische Erfinder Frank W. Wood beantragt Patentschutz für eine elektrische Segmentanzeige.
1908: Der Mathematiker Hermann Minkowski hält in Köln einen Aufsehen erregenden Vortrag über Raum und Zeit. Die Raumzeit gewinnt Konturen.
1908: Beim Bau der Donauuferbahn wird in Willendorf (Niederösterreich) die Kalksteinfigur Venus von Willendorf ausgegraben. Die Statuette wird auf die Zeit um 25.000 v. Chr. ins Jungpaläolithikum datiert.
1909: Der US-Amerikaner Robert Edwin Peary erreicht nach eigenen Angaben als erster Mensch den Nordpol, Angaben, die bis heute immer wieder angezweifelt werden.
1909: Der US-amerikanische Paläontologe Charles Walcott entdeckt im kanadischen British Columbia Fossilien im Burgess-Schiefer. Diese Fossillagerstätte gewährt Einblicke in die Zeit des Kambriums vor etwa 505 Millionen Jahren.
1909: Andrija Mohorovičić entdeckt, dass der Erdmantel eine größere Dichte hat als die Erdkruste. Die Grenze zwischen beiden wird nach ihm Mohorovičić-Diskontinuität genannt.
1909: Ernest Rutherford charakterisiert die Alpha-, Beta- und Gammastrahlung.
1909: Der Deutsche Paul Ehrlich wendet die Chemotherapie zum ersten Mal an.
1909: Der Franzose Louis Blériot überquert den Ärmelkanal mit seinem Eindecker Blériot XI als erster Mensch in einem Flugzeug.
1909: Nach dem Erstflug am 17. August gewinnt Hans Grade mit seinem Eindecker Libelle, dem ersten wirklich flugfähigen deutschen Motorflugzeug, den Lanz-Preis der Lüfte.
1909: Im Rahmen der Nimrod-Expedition unter der Leitung von Ernest Shackleton wurde der Pol durch Edgeworth David, Douglas Mawson und Alistair Mackay am 16. Januar 1909 erstmals erreicht (siehe Marsch zum antarktischen magnetischen Pol)
Sport
II. Olympische Sommerspiele in Paris 1900; 14. Mai 1900 bis 28. Oktober 1900.
III. Olympische Sommerspiele in St. Louis 1904; 1. Juli 1904 bis 23. November 1904.
IV. Olympische Sommerspiele in London 1908; 27. April 1908 bis 31. Oktober 1908.
Gründung mehrerer bedeutender Sport- und Fußballvereine. Darunter Lazio Rom, FC Bayern München, Ajax Amsterdam, Borussia Mönchengladbach, River Plate, Real Madrid, Atlético Madrid, FC Carl Zeiss Jena, Westfalia Schalke (späterer Name: FC Schalke 04), Bayer 04 Leverkusen, Botafogo FR, IFK Göteborg, CA Independiente, FC Chelsea, Galatasaray Istanbul, FC Sevilla, Sporting Lissabon, Fenerbahçe Istanbul, Panathinaikos Athen, Inter Mailand, RSC Anderlecht, Feyenoord Rotterdam, SC Internacional und Borussia Dortmund. Der Fußballclub Manchester United entsteht durch Umbenennung, nachdem einige Geschäftsleute um den neuen Clubpräsidenten John Henry Davies durch eine Finanzspritze den Bankrott des bestehenden Newton Heath F. C. abwenden.
1900: In Leipzig wird der Deutsche Fußball-Bund gegründet.
1900: Der 20-jährige US-amerikanische Tennisspieler Dwight Filley Davis stiftet den nach ihm benannten Davis Cup. Erster Gewinner des Davis Cups werden die USA mit einem 3:0-Sieg über Großbritannien.
1900: Die Radsportverbände von Belgien, Frankreich, Italien, der Schweiz und der USA gründen in Paris den Weltverband Union Cycliste Internationale (UCI).
1900: In Kassel wird der Deutsche Rugby-Verband gegründet.
Am 1. Juli 1903 um 15:16 Uhr begann die erste Tour de France an der ehemaligen „Auberge Reveil-Matin“ in Montgeron bei Paris. Es war das erste echte Etappenrennen in der Geschichte des Radsports.
1902: Der Deutsche Tennisbund wird in Berlin gegründet.
1902: Das erste offizielle Länderspiel zweier nicht-britischer Auswahlmannschaften und zugleich das erste Länderspiel außerhalb Europas: In Montevideo trafen Uruguay und Argentinien aufeinander. Die besondere Lage in Südamerika mit wenigen Gegnern führte in der Folge dazu, dass dies die häufigste Begegnung auf Länderebene ist. Im selben Jahr folgte dann das erste offizielle Länderspiel zweier nicht-britischer europäischer Auswahlmannschaften: Das Spiel zwischen einem österreichischen und einem ungarischen Team in Wien endete 5:0, Jan Studnicka steuerte drei Tore bei – die Begegnung zwischen einer österreichischen und einer Schweizer Auswahl vom 8. April 1901 gilt als nicht-offiziell.
1903: Auf der Exerzierweide in Altona findet das erste Endspiel um die deutsche Fußballmeisterschaft statt. Der VfB Leipzig besiegt den DFC Prag mit 7:2 und erhält den Victoria-Pokal
1903: Start der ersten modernen Baseball-World Series.
1904: In Paris wird der Weltfußballverband FIFA von den Fußballverbänden folgender Länder gegründet: Belgien, Dänemark, Frankreich, Niederlande, Schweden, Schweiz und Spanien.
1904: In Paris wird der Motorradweltverband, die Fédération Internationale de Motocyclisme, gegründet.
1905: Der internationale Luftsportverband Fédération Aéronautique Internationale (FAI) wird in Paris gegründet.
1905: Die Gründung des Deutschen Skiverbands wird in München beschlossen.
1905: In Mill Valley, Kalifornien, wird das erste Dipsea Race durchgeführt.
1906: Die Grand-Prix-Saison 1906 war mit dem ersten Grand Prix von Frankreich der Beginn der Geschichte der Großen Preise.
1907: In Peking starten fünf Wagen zum längsten Automobilrennen aller Zeiten, der Fahrt von Peking nach Paris. Die 12.000 km lange Route führt durch die Wüste Gobi, vorbei am Baikalsee, durch Sibirien, über den Ural und über Moskau nach Paris. Das italienische Team um Prinz Scipione Borghese wird als Sieger gefeiert. Das zweite, vom Holländer Charles Goddard gesteuerte, Kraftfahrzeug trifft am 30. August ein, die anderen kommen nicht ans Ziel.
1908: Erstes Länderspiel der deutschen Fußballnationalmannschaft.
1908: Gründung der Internationalen Ice Hockey Federation (IIHF).
1908: In London wird von acht nationalen Verbänden der internationale Schwimmverband Fédération Internationale de Natation Amateur (FINA) gegründet.
1909: In Mailand wird der erste Giro d’Italia gestartet, den später nach acht zurückgelegten Etappen Luigi Ganna gewinnt.
1909: Das erste Sechstagerennen des Radsports in Europa findet in den Berliner Ausstellungshallen am Zoo statt.
1909: Gründung der Sportlichen Vereinigung OSRAM e. V. in Berlin, gilt als erste Betriebssportgruppe Deutschlands.
1909: Bei der durch den Sturz des Schrittmachers Werner Krüger ausgelösten Rennbahnkatastrophe von Berlin auf der Berliner Radrennbahn „Botanischer Garten“ kommen neun Zuschauer ums Leben und über 40 Menschen werden schwer verletzt. Damit ist dieses Unglück das schlimmste, das in Deutschland jemals im Radsport geschehen ist.
1909: In der französischen Hauptstadt wird das Stade de Paris eröffnet.
1909: Die weltweit erste Freiluftkunsteisbahn wird in Österreich als Eislaufplatz Engelmann im Wiener Stadtteil Hernals eröffnet. Das Eishockey in Wien erhält damit einen starken Aufschwung. Die Anlage hat der sportlich aktive Ingenieur Eduard Engelmann junior konstruiert. Sie wird später Spielstätte des EK Engelmann Wien.
1909: Gründung des Deutschen Hockey-Bundes (DHB).
1909: Erster Bundespokal, damals noch Kronprinzenpokal: Der Verband Mitteldeutscher Ballspiel-Vereine gewinnt gegen den Verband Berliner Ballspielvereine mit 3:1.
Bildende Kunst
Der spanische Maler Pablo Picasso malt 1901 die ersten Bilder der Blauen Periode.
Aus einer Bewegung innerhalb der französischen Avantgarde entsteht eine Stilrichtung der Malerei: Fauvismus.
1905: Gründung des Künstlerbundes Die Brücke, von dem die Entwicklung des Expressionismus ausgeht. Ein Jahr später veranstaltet die expressionistische Künstlervereinigung ihre erste Ausstellung in Dresden. Sie findet beim heimischen Publikum wenig Anklang.
In der bildenden Kunst entsteht ab etwa 1907 der Kubismus.
1907: Gustav Klimt porträtiert die Unternehmersgattin Adele Bloch-Bauer in dem Werk Adele Bloch-Bauer I.
1908: Der österreichische Architekt Adolf Loos veröffentlicht seinen Aufsatz Ornament und Verbrechen, in dem eine klare Forderung nach dem Ende des Jugendstils zum Ausdruck kommt.
1908: Róbert Berény, Dezső Czigány, Béla Czóbel, Károly Kernstok, Ödön Márffy, Dezső Orbán, Bertalan Pór und Lajos Tihanyi gründen die ungarische Avantgardekünstlergruppe Nyolcak (Die Acht).
1909: Gründung der Neuen Künstlervereinigung München.
Literatur
1900: Die ersten gebundenen Exemplare des Kinderbuchs The Wonderful Wizard of Oz (Der Zauberer von Oz) von Lyman Frank Baum mit Illustrationen von William Wallace Denslow erscheinen.
1900: Der Roman Im Schlaraffenland. Ein Roman unter feinen Leuten von Heinrich Mann erscheint. Er bildet den Auftakt einer Reihe von Romanen, die sich kritisch mit dem Wilhelminismus auseinandersetzen.
Thomas Manns Gesellschaftsroman Buddenbrooks wird 1901 in zwei Bänden vom S. Fischer Verlag veröffentlicht.
1901: Der russische Schriftsteller Lew Nikolajewitsch Tolstoi wird wegen blasphemischer Äußerungen in seinem Roman Auferstehung aus der russisch-orthodoxen Kirche ausgeschlossen. Es kommt zu Menschenaufläufen und Demonstrationen für Tolstoi in Moskau und Sankt Petersburg.
1903: Der Prix Goncourt, Frankreichs bedeutendster Literaturpreis, wird erstmals vergeben.
1904: Hermann Hesses erster Roman Peter Camenzind erscheint in Berlin.
1904: Der teils autobiographische Abenteuerroman The Sea-Wolf (Der Seewolf), in New York verlegt, wird Jack Londons größter Erfolg.
1905: The House of Mirth (Das Haus der Freude) von Edith Wharton wird veröffentlicht. 2001 wird das Buch von der American Modern Library als eines der 100 besten englischsprachigen Novellen des 20. Jahrhunderts bezeichnet.
1908: Lucy Maud Montgomerys erster Roman Anne of Green Gables erscheint. Aufgrund des großen Erfolges des Kinderbuchs schreibt die Kanadierin bald mehrere Fortsetzungen.
1908: Caspar Hauser oder Die Trägheit des Herzens von Jakob Wassermann erscheint in Berlin.
1909: Der erste Teil des Fortsetzungsromans Le Fantôme de l'Opéra (Das Phantom der Oper) des französischen Journalisten und Schriftstellers Gaston Leroux wird in der Zeitung Le Gaulois veröffentlicht. Der letzte Teil erscheint am 8. Januar 1910.
1909: Der italienische Schriftsteller Filippo Tommaso Marinetti publiziert in der Pariser Zeitung Le Figaro sein futuristisches Manifest und gründet damit den Futurismus.
Theater
1904: Die Uraufführung der Oper Madama Butterfly von Giacomo Puccini am Teatro alla Scala in Mailand ist ein Misserfolg und wird ausgepfiffen.
1905: Die von Siegfried Jacobsohn gegründete Theaterzeitschrift Die Schaubühne (später Die Weltbühne) erscheint zum ersten Mal.
1905: Die lustige Witwe von Franz Lehár, eine Operette in drei Akten mit dem Libretto von Victor Léon und Leo Stein nach Henri Meilhacs Lustspiel L'attaché d'ambassade, wird mit Mizzi Günther und Louis Treumann in den Hauptrollen am Theater an der Wien in Wien uraufgeführt. Das Stück, das als Hauptvertreter der sogenannten „Silbernen Operettenära“ gilt, wird Lehárs erfolgreichste und bekannteste Operette.
1907: Uraufführung des Balletts Der sterbende Schwan von Michel Fokine in Sankt Petersburg mit Anna Pawlowa als Primaballerina.
Musik
1903: Die AFMA (Anstalt für musikalische Aufführungsrechte) entsteht, eine Vorgängerorganisation der GEMA.
1904: Die Uraufführung der 5. Sinfonie von Gustav Mahler bedeutet die Premiere für neue musikalische Techniken (Polyphonie, Polyrhythmik, Themenschichtung).
Film
1901: Der Film Die Geschichte eines Verbrechens von Ferdinand Zecca gilt als erster Kriminalfilm.
1902: Der französische Filmpionier Georges Méliès ebnet mit seinem Film Die Reise zum Mond das Genre Science-Fiction-Film.
Edwin S. Porter dreht den ersten Western der Filmgeschichte: Der große Eisenbahnraub hat eine Länge von zwölf Minuten. Die Uraufführung erfolgt am 1. Dezember.
1907: Das Korsør Biograf Teater in der dänischen Stadt Korsør wird eröffnet. Es ist inzwischen das weltweit älteste noch bespielte Kino.
1907: Die Ben-Hur-Verfilmung von Sidney Olcott löst wegen ungeklärter Urheberrechte am Bestseller von Lewis Wallace den ersten Plagiatsprozess der Filmgeschichte aus.
1908: Der erste bekannte Zeichentrickfilm Fantasmagorie, geschaffen von Émile Cohl, wird im Théâtre du Gymnase in Paris uraufgeführt.
1908: Der Stummfilm Die Ermordung des Herzogs von Guise hat seine Uraufführung. Er wird als Meilenstein der Filmgeschichte betrachtet, weil erkennbar wird, dass ein Film an Inszenierung und Schauspiel neue Anforderungen stellt und weil er als erster Film mit einer Originalmusik aufwartet.
1908: Monumentalfilm Die letzten Tage von Pompeji von Luigi Maggi und Arturo Ambrosio.
1909: Die einsame Villa von David W. Griffith führt die Parallelmontage ein.
Wirtschaft
1900: Die Briefzustellung in Deutschland wird als Monopol der Reichspost anvertraut, die private Beförderung örtlicher Sendungen verboten.
1901: Eine riesige Erdölfontäne schießt bei einer Bohrung am Spindletop Hill bei Beaumont in Texas in die Höhe, verdreifacht die US-Erdölförderung über Nacht und lässt die texanischen Mineralölunternehmen (unter anderem Texaco) entstehen.
1902: Das deutsche Urheberrechtsgesetz tritt in Kraft.
1902: August Thyssen und Hugo Stinnes erwerben mittels eines von ihnen geführten Konsortiums unter Beteiligung der Deutschen Bank, der Dresdner Bank und der Disconto-Gesellschaft die Mehrheit an der RWE.
1903: Die US-amerikanischen Automobilfirmen Buick Motor Company und die Ford Motor Company werden gegründet.
1903: Das Unternehmen Harley-Davidson wird 1903 in Milwaukee, im Bundesstaat Wisconsin, gegründet.
1903: Das Unternehmen Kraft bzw. Kraft Foods wird in Chicago von James Lewis Kraft gegründet.
1903: Die Werther'sche Zuckerwarenfabrik wird von August Storck gegründet.
1903: In Berlin gründet Emil Rathenau die Allgemeine Electricitäts-Gesellschaft (AEG).
1904: Das Bayer-Kreuz wird als deutsches Warenzeichen mit der Nummer 65.777 vermerkt.
1904: Der Drogist Max Riese meldet die von ihm erfundene Penaten-Creme beim Reichspatentamt in Berlin an.
1904: Der Kapitän Peter Mærsk Møller und sein Sohn Arnold Peter Møller gründen in Svendborg eine Dampfschiffgesellschaft, die A/S Dampskibsselskabet Svendborg, die sich mit der Zeit zum größten dänischen Unternehmen A. P. Møller-Mærsk und einem Global Player im Logistikbereich entwickeln wird.
1904: Henry Royce und Charles Rolls treffen in einem Hotel in Manchester zusammen, um per Handschlag den gemeinsamen Automobilvertrieb zu vereinbaren. Der Autohersteller Rolls-Royce Motor Cars entwickelt sich im weiteren Verlauf.
1905: Der Bergarbeiterstreik von 1905 war der zweite große Streik der Bergarbeiter im Ruhrbergbau.
1905: In der Premier-Mine bei Pretoria wird der bislang größte Rohdiamant gefunden. Er wiegt 3.106 Karat und erhält als Cullinan den Namen des Minenbesitzers.
1905: Der Schausteller Carl Krone benennt seine Menagerie als Circus Charles, woraus später der Circus Krone wird.
1906: Vincenzo Lancia und sein Freund Claudio Fogolin gründen in Turin den Autohersteller Lancia.
1907: An der New York Stock Exchange kommt es zu Aktienverkäufen, die sich im Dow-Jones-Index mit einem Minus von 8,29 Prozent niederschlagen. Die Verunsicherung der Anleger mündet im Herbst in die Panik von 1907.
1907: Das Luxus-Warenhaus Kaufhaus des Westens (KaDeWe) wird in Berlin-Schöneberg eröffnet. Im selben Jahr eröffnen in Berlin auch das Hotel Adlon und das Strandbad Wannsee.
1907: Das Unternehmen Shell entsteht aus einem Zusammenschluss der N.V. Koninklijke Nederlandse Petroleum Maatschappij (Royal Dutch Petroleum Company), Den Haag, und The „Shell“ Transport and Trading Company p.l.c., London.
1907: Henkel bringt das Waschmittel Persil in Deutschland auf den Markt.
1908: Das Unternehmen Maggi bringt den Brühwürfel auf den Markt.
1908: Toblerone wird erfunden.
1908: Die Marke Kaffee Hag wird ins deutsche Markenregister eingetragen.
1909: Mit der Gründung der Anglo-Persian Oil Company beginnt die Geschichte der modernen Mineralölindustrie im Nahen Osten.
1909: Eugène Schueller gründet die Société française de teinture inoffensives pour cheveux, aus der der Kosmetik-Konzern L’Oréal entsteht.
1909: Mit staatlicher Unterstützung gründen Alfred Colsman, Hugo Eckener, Franz Adickes, Wilhelm Marx und andere die erste Fluggesellschaft der Welt: Die Deutsche Luftschiffahrts-Aktiengesellschaft (DELAG) betreibt die von der Luftschiffbau Zeppelin gebauten Verkehrsluftschiffe.
1909: In Berlin wird der Hansabund zur Vertretung der Interessen von Handel, Gewerbe und Industrie gegründet.
Gesellschaft
Weltausstellungen in Paris, St. Louis, Lüttich und Mailand. Auf der Pariser Weltausstellung werden viele technische Errungenschaften vorgestellt, die das 20. Jahrhundert prägen werden, darunter der Dieselmotor, der Tonfilm und die Rolltreppe. Zur Ausstellung wird auch die Pariser Metro eröffnet. Zahlreiche neue Lebensmittel sollen während der Weltausstellung in St. Louis erfunden worden sein. Gesichert scheint, dass hier erstmals Speiseeis-Waffeln der Öffentlichkeit präsentiert wurden. Hamburger, Eistee, Zuckerwatte und Erdnussbutter wurden während der Ausstellung einer breiten Öffentlichkeit vorgestellt und dadurch populär. Dr Pepper begann hier den landesweiten Vertrieb seines koffeinhaltigen, kohlensäurehaltigen Erfrischungsgetränks. Als Neuheiten wurden bei der Weltausstellung in Lüttich u. a. ein Kinematograph aus französischer Produktion und eine Schau über die Bedeutung von Fingerabdrücken in der Kriminologie vorgeführt.
1900: In den staatlichen Schulen Preußens wird ein neues Schulfach zum Thema „Sexuelle Aufklärung“ eingeführt.
1901: In Stockholm und Oslo werden erstmals die Nobelpreise verliehen.
1901: Auf Madagaskar wird die erste Autostraße der Welt (Länge: 200 km) eingeweiht.
1901: Ernst von Wolzogen gründet in Berlin mit dem Überbrettl das erste deutsche Kabarett
1901: Der Museumsneubau, der erste Bau des heutigen Pergamonmuseums, wird in Berlin eröffnet.
1902: Der Reichstagsabgeordnete Otto Antrick hält mit insgesamt 8 Stunden Dauer die bis heute längste Rede in einem deutschen Parlament. Er verzögert damit die Abstimmung über die Änderung eines Zolltarifgesetzes.
1903: Der ADAC wird gegründet.
1903: Der Verleger Gerhard Lang hat die Idee für eine erste Vorform eines Adventskalenders. Zeichnerisch umgesetzt wird diese von Richard Ernst Kepler.
1903: Die Polizeidirektion Dresden führt in Deutschland die Daktyloskopie zur Verbrechensaufklärung ein. Im selben Jahr wird Henriette Arendt als erste Polizistin Deutschlands beim Stadtpolizeiamt Stuttgart eingestellt.
1904: In New York wird nach vier Jahren Bauzeit die U-Bahn offiziell eröffnet.
1904: Errichtung der Küstenfunkstelle Elbe-Weser Radio.
1904: Der New Yorker Times Square wird erstmals zur Feier des neuen Jahres 1905 verwendet.
1905: In der Tageszeitung New York Herald beginnt die Comicreihe Little Nemo, erfunden und gezeichnet von Winsor McCay.
1906: Der US-amerikanische Architekt Stanford White wird in einem Eifersuchtsanfall vom Millionär Harry Thaw auf dem Dach des zweiten Madison Square Gardens in New York City erschossen.
1907: Maria Montessori, Schöpferin der Montessoripädagogik, eröffnet im römischen Arbeiterviertel San Lorenzo ihr erstes Kinderhaus, die Casa dei Bambini.
1907: Diebstahl der im Schloss Dublin Castle verwahrten irischen Kronjuwelen.
1907/1908: Josef Friedrich Schmidt entwickelt das auf dem indischen Spiel Pachisi beruhende Gesellschaftsspiel Mensch ärgere Dich nicht.
1908: Erste Festnahme eines Straftäters mittels Bildtelegrafie: ein französischer Juwelendieb wird in England dingfest gemacht, nachdem der Daily Mirror ein Fahndungsfoto abgedruckt hat.
1908: Die französische Bildhauerin Thérèse Peltier fliegt in Turin als erste Frau in einem Flugzeug mit.
1909: Die Queensboro Bridge zwischen Queens und Manhattan wird eröffnet.
1909: Das Passagierschiff Republic gerät nach einer Kollision im Nebel mit einem anderen Schiff in Seenot und setzt den ersten ferntelegraphischen Notruf ab.
1909: Eröffnung der weltweit ersten Jugendherberge in Altena.
1909: Vor dem Landgericht Trier wird der Mordfall Friedrich Ferdinand Mattonet verhandelt.
Persönlichkeiten
Franz Joseph I., Kaiser in Österreich-Ungarn
Eduard VII., britischer König
Kaiser Wilhelm II., deutscher Kaiser
Bernhard von Bülow, deutscher Reichskanzler
Meiji, Kaiser in Japan
Cixi, Kaiserinwitwe von China
Guangxu, Kaiser von China
Émile Loubet, Präsident in Frankreich
Carl Barks, Comicautor und -zeichner
H. P. Lovecraft, Schriftsteller
Enrico Caruso, Opernsänger
Mata Hari, Tänzerin
Friedrich Alfred Krupp, Industrieller und Politiker
Wilhelm Liebknecht, Revolutionär
William McKinley, Politiker und 25. Präsident der Vereinigten Staaten
Max Reinhardt, Theater- und Filmregisseur, Intendant, Theaterproduzent und Theatergründer
Cecil Rhodes, Unternehmer und Politiker
Weblinks
Wikipedia:Artikel mit Video
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https://de.wikipedia.org/wiki/Bodybuilding
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Bodybuilding
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Bodybuilding ist ein Sport mit dem Ziel der aktiven Körpergestaltung. Zentrales Element ist starkes Wachstum der Muskelmasse, das durch Krafttraining unter Zuhilfenahme von Fitnessgeräten erreicht wird. Jemand, der sich dieser Aktivität widmet, wird Bodybuilder genannt. Bodybuilding wird zur Schwerathletik gezählt, unterscheidet sich jedoch von anderen Kraftsportarten dadurch, dass es beim Bodybuilding primär um das ästhetische Aussehen des Körpers und nur sekundär um die Kraft geht. Bodybuilding wird sowohl von Männern als auch von Frauen betrieben.
Im Bodybuilding werden Wettkämpfe durchgeführt, in denen die Teilnehmer ihren Körper in vorgeschriebenen Posen und einer Kür präsentieren. Die gezeigten Leistungen werden von einer Jury verglichen und bewertet. Auf diese Wettkämpfe bereiten sich Bodybuilder durch eine Kombination aus Training für den Muskelaufbau und spezieller Ernährung vor, die den Körperfettanteil senken soll.
Wortherkunft und Verwendung
Bodybuilding wurde in der ehemaligen DDR offiziell Kulturistik oder Körperkulturistik genannt, womit man sprachlich an die sogenannten Bruderstaaten anknüpfen wollte, in denen Bodybuilding (auch weiterhin) Kulturystyka (polnisch), Kulturistika (tschechisch) oder Культуризм (russisch) genannt wird. Diese Bezeichnungen wurden von den aktiven Athleten jedoch kaum verwendet und der englischsprachige Begriff bevorzugt.
Der Begriff „body building“ wurde 1881 von Robert J. Roberts geprägt, der Mitarbeiter im Bostoner YMCA war. Er entwickelte Turnunterricht, der dem heutigen Fitnesstraining ähnelt. Übernommen und populär gemacht hat den Begriff zwei Jahrzehnte später schließlich Eugen Sandow, der ihn vor allem für seine Produktwerbung und zahlreiche Veranstaltungen nutzte.
Training
Das Bodybuildingtraining ist ein Krafttraining, dessen Hauptziel die erwünschte Umformung des Körpers ist. Der damit verbundene Kraftzuwachs ist für die meisten Bodybuilder nur ein willkommener Nebeneffekt. Das Training kann mit Hanteln oder speziellen Trainingsmaschinen (wie z. B. der Hantelbank) durchgeführt werden.
Beim Bodybuilding wird meist mit Wiederholungszahlen von acht bis zwölf Wiederholungen pro Satz trainiert, während beim Maximalkrafttraining mit höherer Belastung, aber weniger Wiederholungen (eine bis fünf) trainiert wird. Bei 15 bis 25 Wiederholungen bewegt man sich im Kraftausdauerbereich, der für die Kapillarisierung der Muskulatur zuständig ist. Gewöhnlich wird konzentrisch trainiert. Dabei wird der Muskel über einen Großteil seines Bewegungsspielraumes mit möglichst konstanter Kraft belastet. Bei manchen Trainingsmaschinen wird dazu der Kraftverlauf am Angriffspunkt über ein Kurvenrad oder einen Exzenter so gesteuert, dass der Muskel in jeder Phase der Bewegung gleich stark belastet wird. Weitere Trainingsformen ergeben sich aus einer extremen Minderung oder Erhöhung der Wiederholungszahlen (z. B. dem einmaligen Maximalversuch oder dem sogenannten „100er-Satz“), der Verringerung des Ausführungstempos oder einer exzentrischen Belastung (z. B. einem kontrollierten Absenken beim Bankdrücken). Wichtig ist, dass der Muskel nach dem Training genügend Zeit hat, sich zu regenerieren. Aus diesem Grund wird beim Bodybuilding häufig ein Splittraining durchgeführt, welches meist wöchentlich wiederholt wird und bei dem während jeder Trainingseinheit andere Muskelgruppen trainiert werden.
Ernährung
Eine dem Bodybuilding förderliche Ernährung unterteilt man in die Masse- und die Definitionsphase. In beiden Phasen werden verschiedene Nährstoffe, über den Tag verteilt, gezielt eingenommen; durchschnittlich in vier bis zehn Mahlzeiten pro Tag. Dadurch wird gewährleistet, dass dem Körper ein kontinuierlicher Strom an Nährstoffen zugeführt wird, die er zum Aufbau und Erhalt der Muskulatur benötigt. Der Körper wird somit in einem sog. „anabolen“ (aufbauenden) Umfeld gehalten. Besonderer Wert wird dabei auf eine ausreichende Eiweißzufuhr gelegt. Als Faustregel gilt, dass der Bodybuilder täglich 1,5 bis 2 g Protein pro Kilogramm aktiver Körpermasse zuführen sollte. Die Menge an Proteinen kann bei verschiedenen Trainingskonzepten abweichen. Die Menge an Kohlenhydraten und Fetten ist größtenteils abhängig vom Stoffwechseltyp jedes einzelnen Sportlers. Um einen anabolen Zustand auch nachts aufrechtzuerhalten, essen die meisten Bodybuilder vor dem Zubettgehen noch etwas, das ein langsam verdauliches Protein wie bspw. Casein enthält. Das soll den Zustrom wichtiger Aminosäuren auch während der Nacht gewährleisten. Um eine große Menge an Nahrung zu bewältigen, greifen Sportler oft auf Nahrungsergänzungen zurück, die entweder selbst Nährstoffe liefern oder helfen, diese besser zu verwerten bzw. zu verdauen. Sie liegen meist als Pulver, Kapseln oder in Tablettenform vor. Diese Ergänzungen sind legal zu erwerben, abhängig von den jeweiligen Länderbeschränkungen. Aus sportmedizinischer Sicht sind die meisten Nahrungsergänzungsmittel nur für bestimmte Hochleistungssportler sinnvoll. Weiterhin wird in beiden Phasen auch zu illegalen Mitteln gegriffen, die vorwiegend aus dem pharmazeutischen Bereich kommen und zweckentfremdet werden (siehe Abschnitt Doping).
Die Massephase beinhaltet das Ziel, durch einen Kalorienüberschuss (gepaart mit gezieltem Training) bei gleichzeitig möglichst geringem Körperfettaufbau dem Körper genügend Aufbaumaterial für den Muskelaufbau zu liefern.
Die Definitionsphase (meistens vor Wettkämpfen) hat zum Ziel, durch eine negative Kalorienbilanz das Körperfett zu senken, um die Muskeln besser zum Vorschein treten zu lassen. Dabei wird versucht, die vorher aufgebaute Muskelmasse weitestgehend zu erhalten.
Erreicht werden beide Ziele durch die Anpassung der Gewichtung von Eiweiß, Kohlenhydraten und Fetten in der Diät untereinander, wie z. B. in der sog. „anabolen Diät“, bei der Fett, gefolgt von Eiweiß, den größten Teil der Nährstoffzufuhr ausmacht und die Kohlenhydratzufuhr gesenkt wird. Ziel ist das Erreichen der Ketose. Diese Form der Diät wird von vielen Sportlern zur gezielten Gewichtsreduktion durchgeführt.
Entgegen einem weitverbreiteten Gerücht, wonach tierisches Eiweiß gegenüber pflanzlichem Eiweiß besser für das Bodybuilding geeignet sei, konnten Wissenschaftler keinerlei Belege dafür finden. Vielmehr spielt für den Muskelaufbau die Wertigkeit des Eiweißes eine entscheidende Rolle und diese ist bei entsprechender Kombination im Falle von Pflanzeneiweiß sogar höher als die von Tiereiweiß aus Muskelfleisch oder Eiern.
Geschichte
Das moderne Bodybuilding geht auf Eugen Sandow, der 1901 in London den ersten Bodybuildingwettbewerb veranstaltete, zurück. In Deutschland machte insbesondere Harry Gelbfarb das Bodybuilding populär. Lange Zeit war der Sport eine Männerdomäne. Seit den 1970er-Jahren begannen auch Frauen, ausgehend von den USA, mit dem Bodybuilding. Während Bodybuilding vor allem als eine besondere Form der Verbesserung von Schönheit, Gesundheit und Körperkraft angesehen wurde, überwiegen mit der Verwendung von hormonellen Substanzen auch weniger gesunde Aspekte.
Siehe: Frauenbodybuilding
Bodybuilding als Leistungssport
Obwohl der Bekanntheitsgrad in den letzten Jahrzehnten infolge der Fitnessbewegung deutlich zugenommen hat, wird es in der breiten Öffentlichkeit eher als Attraktion denn als Leistungssport wahrgenommen (siehe Abschnitt Bodybuilding als Lebensstil). Das könnte daran liegen, dass der Begriff des Sports allgemein eher auf dem Vergleich von Kraft, Ausdauer und Koordination basiert, als auf der Präsentation von trainierten Körpern, die eher mit Schönheitswettbewerben in Verbindung gebracht wird.
Die begrenzte Breitenwirkung geht mit vergleichsweise geringen Verdienstmöglichkeiten einher. Auf den 17 weltweit wichtigsten Turnieren wurde 2011 ein Gesamtpreisgeld von lediglich umgerechnet 1,3 Millionen Euro ausgeschüttet. Viele Bodybuilder schließen deshalb Sponsorenverträge ab oder eröffnen Fitnessstudios und Geschäfte für Nahrungsergänzungsmittel, um ihren Lebensunterhalt zu sichern.
Ablauf der Wettbewerbe
Bodybuilder präsentieren ihre Körper im Rahmen von Wettbewerben. Dazu treten sie in unterschiedlichen Gewichts- bzw. Größenklassen, getrennt nach Geschlecht und Alter, als Amateure und Profis an, bekleidet mit einem Posingslip bzw. einem Bikini.
Klasseneinteilung
Die Klasseneinteilung erfolgt nach Regularien des IFBB und des DBFV nach dem jeweiligen Körpergewicht des Bodybuilders:
Männer 1: bis 70 Kilogramm
Männer 2: bis 80 Kilogramm
Männer 3: bis 90 Kilogramm
Männer 4: bis 100 Kilogramm
Männer 5: über 100 Kilogramm
Bodybuildingverbände, die eine Größeneinteilung bei Männern praktizieren, sind keine anerkannten Sportverbände und gehören nicht dem Weltverband IFBB an. Nur über diesen kann sich ein Bodybuilder z. B. für den internationalen Bodybuildingwettkampf Mr. Olympia qualifizieren, der als höchste Auszeichnung im professionellen Bodybuilding gilt.
Wertungskriterien
In allen Kategorien bewertet eine Jury vor allem die Muskulosität, die Symmetrie und die Proportionen der Wettkampfteilnehmer.
Muskulosität
Die Masse und Dichte sowie die Härte und Teilung der Muskeln. Angestrebt wird die Verbindung von möglichst viel Muskelmasse mit einer Definition, die eine Muskelgruppe von der anderen abgrenzt und die Details innerhalb einer Muskelgruppe deutlich werden lässt. Die Sichtbarkeit von Venen (Vaskularität) ist kein Wertungskriterium, kann die Kampfrichter aber auf eine gute Härte, also einen geringen Körperfettanteil und kaum Wasser unter der Haut, aufmerksam machen.
Symmetrie
Die gleichmäßige Entwicklung beider Körperhälften.
Proportionen
Eine möglichst gleichmäßige Entwicklung aller Muskelgruppen.
Präsentation
Die Art, wie ein Athlet seinen Körper auf der Bühne präsentiert ist kein Wertungskriterium. Dennoch kann ein Athlet mit geschicktem Stellen der Posen von Schwächen ablenken und auf Stärken aufmerksam machen und somit eine bessere Wertung erreichen. Die Kür (60 bis 90 Sekunden auf Amateurebene) wird gewertet, spielt jedoch nur bei Punktegleichstand zwischen zwei Athleten eine Rolle. Das so genannte „Posedown“ (freies Posing), in dem jeder der fünf bis sechs Finalisten einer Klasse gegen jeden antritt, wird nicht mehr in die Wertung einbezogen. Höhepunkt jedes Wettkampfs ist ein Posedown, in dem alle Klassensieger nach dem Vergleichen in den Pflichtposen miteinander um den Gesamtsieg kämpfen.
Ästhetik
Diese stellt kein eigenes Wertungskriterium dar, doch haben Athleten mit schönen Muskelformen, einer vorteilhaften Knochenstruktur (breite Schultern in Kombination mit einer schmalen Hüfte/Taille und schmalen Gelenken) und fließenden Übergängen zwischen den Muskeln (Linie) oftmals Vorteile gegenüber „blockigen“ Athleten, selbst wenn diese massiger und/oder härter sind. Diese Punkte sind von der Genetik abhängig und können durch nichts beeinflusst werden.
Classic Bodybuilding
Um Männern mit Mischfiguren auch eine Chance zu geben, an Wettbewerben teilnehmen zu können, wurden in den 1990er Jahren neue Fitnesskategorien eingeführt, nachdem die Teilnehmerzahlen im „klassischen Bodybuilding“ drastisch zurückgingen. Sie gingen aus den sog. „Männerfigurklassen“ der NABBA hervor. Der erste Auftritt von Männerfigurklassen fand im Rahmen einer „Night of the Champions“ der NABBA 1995 in Köln statt, die erste Deutsche Meisterschaft im Figurbodybuilding der Männer wurde durch die NABBA im Herbst 1996 in Gotha ausgetragen.
Während die Einordnung in den verschiedenen Kategorien der Figurklassen (Fitness, Leistung usw.) bei der NABBA auf Grundlage einer im Vorfeld ausgetragenen „Sichtung“ vorgenommen wird, legt der DBFV für die so genannte „Classic-Bodybuilding-Klasse“ ein bestimmtes Verhältnis von Körpergröße zu Körpergewicht fest.
Einteilung
Bei regionalen und nationalen Meisterschaften erfolgt die Klasseneinteilung nach einer Körperindexformel:
Körpergröße minus 100 = Wettkampfgewicht:
bis 170,0 cm: (Körpergröße − 100)
170,1 cm bis 178,0 cm: (Körpergröße − 100) + 2 kg
178,1 cm bis 186,0 cm: (Körpergröße − 100) + 4 kg
über 186,0 cm: (Körpergröße − 100) + 6 kg
Beispiel: Körpergröße 174 cm = (174 − 100) + 2 kg = Maximum 76 kg
Ein Athlet mit einer Körpergröße von 174 cm darf demnach nicht mehr als 76 kg wiegen.
Mit diesem Größe-Gewicht-Wettkampf werden den Athleten neue Perspektiven geboten. In dieser Klasse steht die Masse als Wertungskriterium nicht mehr im Vordergrund und bietet eine größere Chancengleichheit, als in den traditionellen Bodybuildingklassen.
Mr. Olympia
Bodybuilding war zeitweilig im Programm der World Games enthalten, wurde aber vom Internationalen Olympischen Komitee (IOC) nie als olympische Sportart anerkannt. Als prestigeträchtigster Wettkampf im Bodybuilding gilt der seit 1965 ausgetragene Mr. Olympia. Rekordtitelträger sind die beiden US-amerikanischen Athleten Lee Haney (1984–1991) und Ronnie Coleman (1998–2005) mit je acht Siegen. Aktueller Mr. Olympia ist der Ägypter Mamdouh Elssbiay (2020). Die erfolgreichsten deutschen Athleten sind Jusup Wilkosz (1984) und Dennis Wolf (2013), die jeweils einmal den dritten Platz belegten. Weitere bekannte Deutsche mit Top-10-Platzierungen sind Peter Hensel, Günter Schlierkamp, Dennis James, Markus Rühl und Ronny Rockel.
Bekannte Bodybuilder
Der gebürtige Österreicher Arnold Schwarzenegger erlangte als siebenfacher Mr. Olympia und durch weitere Erfolge auch außerhalb der Bodybuildingszene eine große Bekanntheit. Nach einer Karriere im Filmgeschäft wechselte er in die Politik und wurde zum Gouverneur von Kalifornien gewählt. Auch weitere Szenegrößen wie Steve Reeves, Lou Ferrigno oder Ralf Möller verdanken ihre Hollywoodkarrieren letztendlich dem Bodybuilding.
Bodybuilding und Gesundheit
Das Verletzungsrisiko beim Krafttraining ist gering. Die Sportart steht jedoch aufgrund von verbreitetem Dopingmissbrauch, auch im Amateurbereich, immer wieder im Blickpunkt der Medien.
Doping
Allgemein
Der Missbrauch von leistungsfördernden, insbesondere muskelaufbauenden Medikamenten ist vor allem im Profi-, aber auch im Amateurbereich, weit verbreitet. Am gebräuchlichsten sind dabei verschreibungspflichtige Medikamente wie anabole Steroide und Hormonpräparate (vor allem Testosteron und dessen Derivate) sowie Diuretika (Entwässerungsmittel). Diese werden auf dem Schwarzmarkt erworben und zumeist ohne ärztliche Kontrolle häufig über Monate in höchsten Dosierungen und in unterschiedlichsten Kombinationen konsumiert, wobei sich die jeweiligen Nebenwirkungen der Einzelstoffe multiplizieren können. Besonders die Steroid- und Hormonpräparate bedeuten drastische Eingriffe in das Gleichgewicht der Körperchemie, mit teils gravierenden Nebenwirkungen. Insbesondere die zum Dopingstandard zählenden Steroide, „Roids“ genannt, verursachen nach Stand der Forschung häufig gravierende, dauerhafte Schäden an inneren Organen, wobei die krankhaften Veränderungen – weil von außen nicht sichtbar und zunächst auch meist nicht fühlbar – typischerweise bei den meisten Konsumenten sehr lange unentdeckt bleiben, bis scheinbar „aus dem Nichts“ massive Krankheitssymptome wie etwa ein Herzinfarkt auftreten (siehe unten). Sowohl im Profi- als auch im Amateurbereich sind zahlreiche durch Doping verursachte Todesfälle bei jüngeren Athleten wissenschaftlich dokumentiert. Wissenschaftliche Studien haben ergeben, dass Anabolika-konsumierende Wettkampf-Bodybuilder ein vier- bis fünffach höheres Risiko als die Normalbevölkerung haben, bereits in jungem Alter zu sterben.
Natural Bodybuilding
Infolge der Dopingproblematik ist in den späten 1990ern die Bewegung „Natural Bodybuilding“ entstanden, deren Anhänger bewusst auf den Einsatz leistungssteigernder chemischer Substanzen verzichten und sich auf Faktoren wie Training, Ernährung und Genetik beschränken. Ein bekannter Vertreter der Bewegung ist der Bodybuilder und Buchautor Berend Breitenstein, der 2003 die German Natural Bodybuilding & Fitness Federation (GNBF) gründete. Die GNBF kooperiert seitdem als einzige deutsche Institution mit dem internationalen Dachverband Drug Free Athletes Coalition (DFAC). Europaweit agierende Verbände mit Bezug zum „Natural Bodybuilding“ sind darüber hinaus die International Natural Bodybuilding Association (INBA), die International Natural Bodybuilding Fitness Federation (INBF) und die Union Internationale de Bodybuilding Naturel (UIBBN).
Im Jahr 2022 gab der nach vorherigen Angaben „natürliche“ Bodybuilder und Fitness-Influencer Brian Johnson (bekannt unter dem Pseudonym Liver King) in einer Stellungnahme zu, sich in Wahrheit mit anabolen Steroiden gedopt zu haben. Dem Eingeständnis ging ein einstündiges Video auf YouTube voraus, das einen entsprechenden Vorwurf erhebt und dafür Belege anführt. Zuvor erklärte Johnson seine massive Muskulatur mit dem Verzehr von rohen Innereien und einem primitivistischen Lebensstil.
Häufigkeit
Im professionellen Bodybuilding liegt die Dopingrate nach Schätzungen bei 100 Prozent, weil das dort gezeigte Niveau ohne Steroideinsatz nicht möglich sei. Laut dem Doping-Forscher Luitpold Kistler geben Hochleistungs-Bodybuilder bis zu 5000 Euro pro Monat für Mittel aus, die den Muskelaufbau unterstützen. Andere sprechen von deutlich höheren Beträgen.
Dennoch wird häufig der Eindruck erweckt, das Profibodybuilding sei dopingfrei. So wurde der an massivem Dopingmissbrauch gestorbene Profi Andreas Münzer als „Saubermann“ vermarktet.
In einer Studie von 1998 wurden in 24 deutschen Fitnessstudios Amateursportler befragt. Dabei gaben von den 255 befragten Personen (204 Männer und 51 Frauen) 24 Prozent der Männer und 8 Prozent der Frauen an, regelmäßig anabole Steroide einzunehmen.
Laut Kistler (2007) konsumierten im deutschen Amateurbodybuilding etwa 30 Prozent der Männer und fünf Prozent der Frauen regelmäßig Steroide.
Beweggründe für Doping
Dem Muskelwachstum sind bei jedem Menschen durch eigene genetische Anlagen Grenzen gesetzt. Selbst bei intensivem Training und perfekt abgestimmter Ernährung stößt der Athlet nach gewisser Zeit an eine natürliche Grenze („naturales Limit“ oder auch „genetisches Limit“ genannt), ab der kein Zuwachs an Muskelmasse mehr erfolgt. Das erzielte Erscheinungsbild des Körpers ist dann in der Regel noch weit von dem Aussehen von Profibodybuildern entfernt. Durch Doping mit Hilfe von Steroiden kann diese natürliche Grenze überwunden und bei gleichzeitigem intensiven Training ein weiteres Wachstum an Muskelmasse erzielt werden.
Diese Substanzen sind relativ einfach verfügbar. Sie werden in vielen Fitnessstudios „unter der Hand“ verkauft und sind im Internet bestellbar. Die latente Bereitschaft zum Doping wird zudem durch die vor allem unter Jugendlichen verbreitete Ansicht gefördert, dass es „jeder tut“.
Durch das Doping werden große Zuwächse an Muskelmasse innerhalb von relativ kurzer Zeit (häufig wenigen Monaten) möglich, wobei sich in der Regel das gesamte Körperbild ändert. Nach Absetzen der Substanzen bilden sich diese Muskelzuwächse jedoch meist wieder auf ein natürliches Maß zurück. Das führt häufig zu negativem Feedback der Umwelt („Du bist aber wieder dünn geworden“) und zur Enttäuschung des Sportlers. Dadurch kann der Wunsch entstehen, durch erneutes Doping das Erfolgserlebnis zu wiederholen und zu verstetigen, was den Einstieg in eine Abhängigkeit bedeuten kann. Besonders psychisch weniger gefestigte Personen und Jugendliche sind sehr anfällig für eine solche Entwicklung. Amerikanische Wissenschaftler stellten bei Anabolikakonsumenten in einer Studie ähnliche Suchtsymptome fest wie bei Konsumenten von „harten“ Drogen wie Opiaten. Zusätzlich zu Veränderungen im Körperbild treten häufig auch Verhaltensänderungen aufgrund des Hormonkonsums ein, etwa übermäßige Aggressivität.
Doping als gesellschaftliches Phänomen
Jörg Scheller wies darauf hin, dass die in den Medien oft sensationsheischend geführte Debatte um Bodybuilding und Doping einseitig sei und das Thema nicht isoliert betrachtet werden könne. Vielmehr müsse man sich fragen, ob nicht die heutige Gesellschaft systematisch Doping in allen Lebensbereichen fördern würde, und ob die Auswüchse im Bodybuilding nicht nur ein drastisches und sichtbares Symptom dieser Entwicklung wären:
Vor diesem Hintergrund könne es eben nicht darum gehen, auch im Bodybuilding zu einem „abstrusen Ideal“ aufzuschließen, das „unendliches Wachstum und ewige Perfektion“ verspreche. Es nütze nichts, die „kapitalistische Utopie“ durch Dopingeinsatz auch noch auf den eigenen Körper zu übertragen. Wer sich mit dubiosen Substanzen behelfe, gleich ob im Finanz-, Agrar-, Politik- oder Körper-Sektor, mache sich psychisch, physisch und finanziell abhängig, und könne „auf sein Werk nicht stolz sein“.
Häufige Nebenwirkungen
Beispiele häufiger Nebenwirkungen bei Männern sind:
Hodenatrophie (Schrumpfung der Hoden)
Gynäkomastie (Wachstum weiblicher Brüste, im engl. Szenejargon „bitch tits“, dt. „tittis“ genannt)
Erektile Dysfunktion (Impotenz)
Organschäden, vor allem Nieren- und Leberschäden (besonders Lebertumore), bis hin zu Organ- oder Multiorganversagen mit Todesfolge
Herzprobleme (v. a. unnatürliche Verdickung der Herzwände oder häufig unbemerkte Herzinfarkte) und dauerhafte Schädigungen des Herzmuskels mit Folge einer Schwerbehinderung und/oder Tod
Negative psychische Veränderungen (vor allem übersteigerte Aggressivität)
Veränderung der LDL- und HDL-Cholesterinspiegel im Blut
Schlaganfälle
Haarausfall
Tödliche Risiken
Ausgelöst durch Doping mit Steroiden, Hormonpräparaten und/oder Entwässerungsmitteln (Diuretika) treten bei Bodybuildern regelmäßig schwere Nebenwirkungen auf. Je nach Wirkstoffkombination, Dosierung und Veranlagung des Sportlers können dabei bereits etwa sechs Monate nach dem Erstkonsum irreparable Schäden auftreten. Dazu gehören vor allem massive, lebensbedrohliche Probleme des Organ- und Herz-Kreislauf-Systems, wie eine Vergrößerung des Herzens, eine Verkalkung der Gefäße, Schlaganfälle sowie Leber- oder Nierenversagen. Nach einer längeren Zeit der Anwendung ist das Auftreten solcher Schäden fast zwangsläufig. Gesunde, körperlich unbeeinträchtigte Langzeitkonsumenten ohne Organschäden sind eine Ausnahme. Viele der Schäden sind nur durch gründliche ärztliche Untersuchungen feststellbar und verursachen über längere Zeit kaum körperliche Beschwerden oder Schmerzen, bis schließlich – scheinbar plötzlich – ein gravierender Schaden, wie ein Herzinfarkt, eintritt. Daher besteht die Gefahr, dass Langzeitkonsumenten ihren Gesundheitszustand fälschlicherweise zu positiv einschätzen.
Im Rahmen einer Doktorarbeit an der Universität München wurden zehn männliche Verstorbene von 28 bis 45 Jahren, die nachgewiesenermaßen als Amateure anabole Steroide verwendet hatten, obduziert und die Organe auf Schäden untersucht. Es zeigte sich, dass die Anabolika in allen Fällen zu weitreichenden Organschädigungen, insbesondere des Herz-Kreislauf-Systems, der Leber und der Geschlechtsorgane geführt hatten.
Vier- bis fünffach höhere Sterblichkeitsrate bei Anabolika-Konsumenten
Eine finnische Studie untersuchte 62 männliche Kraftsportler, die von 1977 bis 1982 in Finnland jeweils zu den fünf landesweit Besten in den Klassen zwischen 82,5 und 125 kg gehörten. Alle Testpersonen wurden verdächtigt, Anabolika zu missbrauchen. In den folgenden 12 Jahren hatten die Testpersonen eine etwa vier- bis fünfmal höhere Sterblichkeit als männliche Vergleichspersonen des gleichen Alters in der Normalbevölkerung. Im beobachteten Zeitraum von 12 Jahren nach Studienbeginn starben 12,9 % der Bodybuilder, aber nur 3,1 % der Vergleichspersonen aus der Normalbevölkerung.
Bereits 1996 waren insgesamt 46 dopingbedingte Todesfälle im Bodybuilding wissenschaftlich ausführlich dokumentiert. So starb am 14. März 1996 der Profibodybuilder Andreas Münzer mit nur 31 Jahren an multifunktionalem Organversagen infolge jahrelangen Dopings. Der Dopingexperte Werner Franke schätzte im gleichen Jahr die Gesamtzahl der Dopingtoten auf über 600, die zum größten Teil als Anabolikaopfer unerkannt blieben, da viele Tote nicht gründlich genug untersucht würden.
Kontrollen
Bei deutschen Wettbewerben werden Dopingkontrollen nach Richtlinien des Internationalen Olympischen Komitees (IOC), des Deutschen Sportbundes (DSB) und der International Federation of Bodybuilding & Fitness (IFBB) durchgeführt. Die Dopingkontrollen der German Natural Bodybuilding Federation (GNBF) werden auch zwischen den Wettkämpfen durchgeführt, wobei teilweise Lügendetektoren eingesetzt werden. Die Wirksamkeit vieler Dopingkontrollen ist jedoch umstritten.
Einstellung im Amateurbereich
Der Missbrauch von Medikamenten, insbesondere das Steroiddoping, wird unter Aktiven überwiegend verharmlosend als „Kur“, bzw. in Verbform als „kuren“ bezeichnet. In zahlreichen Internetforen sind Dosierungstipps, Berichte zur Bekämpfung von Nebenwirkungen durch die Gabe weiterer Medikamente sowie Richtlinien für das richtige Setzen der Injektionen abrufbar. Aufsehenerregende Todesfälle wie der von Andreas Münzer sowie Berichte über schwerste Nebenwirkungen und dauerhafte körperliche Schäden sowie Todesfälle auch im Amateurbereich haben bisher kaum zu einer kritischeren Haltung geführt. In Internetforen berichten Betroffene von regelrechtem Suchtverhalten und psychischer Abhängigkeit. Laut Luitpold Kistler wirken Steroide auch als Einstiegsdroge. Es sei zu beobachten, dass die Athleten während oder nach deren Einnahme teilweise auch andere Substanzen, wie Antidepressiva, Amphetamine oder härtere Drogen zu sich nähmen.
Doping bei Jugendlichen
Besonders kritisch ist der Dopingmissbrauch durch Heranwachsende, unter anderem weil die meisten gebräuchlichen Steroide ein eventuell noch vorhandenes Größenwachstum des Körpers durch vorzeitigen Verschluss der Epiphysenfugen in den Knochen unwiderruflich beenden können. Selbst Bodybuilder, die dem Doping trotz der oben genannten schweren Risiken eher positiv gegenüberstehen, raten von einer Anwendung von Steroiden durch Personen bis zu einem Alter von etwa 21 Jahren „dringend ab“. Die Zahl der Missbrauchsfälle hat in dieser Altersgruppe in den letzten Jahren zugenommen. Der Arzt und Dopingforscher Luitpold Kistler erwartet eine weitere Zunahme:
Gefahr einseitigen Trainings
Des Weiteren kann das übermäßige Trainieren einzelner Muskelgruppen auf Dauer zu Haltungsschäden führen. Häufig sieht man Sportler mit nach vorn verdrehten Schultern und Armen, verursacht durch ein gegenüber der Rückenmuskulatur erhöhtes Training der Brust- und Bauchmuskulatur. Derartige Haltungsschäden sind bei richtigem Training allerdings ausgeschlossen.
Wichtig ist daher eine ausgewogene Übungszusammenstellung (dazu gehört das Training der Antagonisten) und eine saubere Ausführung der einzelnen Übungen.
Kreislauf
Viele Bodybuilder leiden auch unter Bluthochdruck. Da beim reinen Bodybuilding meist nur Muskeltraining betrieben wird und kaum Ausdauertraining, steht die so aufgebaute Muskelmasse bzw. Körpermasse nicht in Relation zum Herz-Kreislauf-System. Das relativ wenig trainierte Herz muss stärker pumpen und hypertrophiert, um die unverhältnismäßig große Körpermasse mit ausreichend Blut zu versorgen.
Das kann allerdings hinreichend vermieden werden, wenn gemäß moderner Trainingsmethodik auch regelmäßig Trainingszyklen eingelegt werden, die sich vor allem auf den Kraftausdauerbereich konzentrieren. Zwei- bis dreimal pro Jahr – etwa vier Wochen lang – gelten als anerkannt, um einen Abbau von Kraft und Muskelmasse zu vermeiden und gleichzeitig das Herz zu kräftigen, vorausgesetzt, es findet wenigstens einmal pro Woche ein Ausdauertraining von 20 bis 30 Minuten statt. Joggen, aber auch Schwimmen oder Radfahren haben sich sehr bewährt.
Ein solides Kraftausdauertraining setzt sich aus sogenannten Multigelenksgrundübungen zusammen: zwei Trainingseinheiten pro Woche, drei bis fünf Übungen (z. B. Kniebeugen, Bankdrücken, Klimmzüge, Kreuzheben mit gestreckten Beinen, eine Bauchübung) pro Trainingseinheit, zwei Sätze von je 20–30 Wiederholungen bei max. einer Minute Pause. Es geht dabei weniger um das Muskel- als um das Atemversagen. Wer Muskeln in Jahren harten Trainings aufgebaut hat, wird sie in diesen Wochen nicht verlieren.
Krafttraining selbst fordert das Herz, entwickelt aber meist nur die linke Herzkammer. Ausgleichendes Ausdauertraining verschafft eine gleichmäßige Entwicklung.
Weitere verbotene Hilfsmittel
Vereinzelt wird Synthol von Bodybuildern verwendet. Das ist ein Öl, das direkt in den Muskel gespritzt wird und sich dort einkapselt, was den Muskel scheinbar vergrößert. Muskelpartien, die durch Syntholinjektionen vergrößert wurden, sehen in der Regel jedoch unnatürlich glatt aus, bzw. lassen eine natürliche Teilung und Definition vermissen. Wird versehentlich in ein größeres Blutgefäß injiziert, kann das zu schweren Gesundheitsschäden führen. Zudem kann die Anwendung zu sehr unnatürlichen und unästhetischen Ausbeulungen der Muskeln führen. Das Injizieren von Synthol ist – wie auch das Einsetzen von Silikonimplantaten – eine im Wettkampfbodybuilding streng verbotene Maßnahme, die zum Ausschluss des Athleten von Verbandswettkämpfen führt. Silikonimplantate in den Brüsten weiblicher Bodybuilder werden allerdings geduldet und sind sehr weit verbreitet.
Krankhaftes bzw. fehlerhaftes Selbstbild: Dysmorphophobie
Kistler hat darauf hingewiesen, dass viele engagierte Bodybuilder – insbesondere professionelle Bodybuilder – „in einer ganz eigenen Welt“, in einer Art Wahn leben würden, aus dem sie nicht mehr herauskämen. Im Profi-Bodybuilding würden gerade eine Handvoll Athleten gut verdienen, was meist bedeute, dass sie gerade einmal ihren Lebensunterhalt verdienen könnten. Andere würden knapp an der Armutsgrenze leben und teilweise Eigentum versetzen, um mit ihrem Sport weitermachen zu können. Das hinge auch mit den enormen Ausgaben für Medikamente und Dopingmittel zusammen, bis zu mehreren tausend Euro im Monat. Im medizinischen Sinn würde das teilweise mit als krankhaft geltendem Verhalten einhergehen, das durch ein gestörtes Selbst- bzw. Körperbild definiert sei, der so genannten Dysmorphophobie:
Bodybuilding als Lebensstil und Bodybuildingkultur
Innerhalb der Fitnessszene, die durch den Fitnessboom in den 1980er und 1990er Jahren immer mehr Milieus und immer vielfältigere Bevölkerungsgruppen ergriffen hat, nimmt die Bodybuildingszene im engeren Sinne nach wie vor eine besondere Stellung ein. Sie hat sich eine gewisse eigenständige Kultur bewahrt. Im Gegensatz zu anderen Richtungen der Fitnessszene, bei denen Körperertüchtigung, Gesundheit, Spaß und „Sich-fit-Fühlen“ oft die Hauptziele sind, stehen bei vielen Bodybuildern Aspekte eines zelebrierten Körperkultes im Vordergrund: Das „Selbst-Schaffen“ eines perfekten Körpers, stark ausgeprägtes ästhetisches Bewusstsein, das Posing (demonstratives „Sich-zur-Schau-Stellen“ oder „Imponieren-Wollen“) mit einem extrem geformten Körper im Alltag.
Körperkult
Dieser Körperkult, der fetischhafte Züge annehmen kann, wird für viele Bodybuilder zu einem bestimmenden, zeitintensiven und identitätsstiftenden Element ihres Lebensstils. Dabei geht das Zelebrieren dieses Kultes oft weit über das eigentliche Bodybuilding hinaus. Man spricht daher auch von Bodystyling. Der Begriff bezeichnet ein offensives Gestalten der gesamten äußeren Erscheinung und impliziert zugleich eine besondere Wertschätzung einer imposanten ästhetischen Wirkung. Dabei wird die Gestaltung des Äußeren mittels Bodybuilding meist unterstützt durch die Nutzung von Solarien und Kosmetika. Oft verändern Tätowierungen oder Piercings das Aussehen des Körpers zusätzlich.
Das ist umso bemerkenswerter, als Bodybuilding eine männerdominierte Szene ist (bei Frauen weiter verbreitet ist dagegen Bodyshaping). Seit der französischen Revolution und dem Ende der höfischen Kultur des Rokoko war es den Frauen vorbehalten, sich intensiv um ihre Schönheit zu kümmern. Männer interessierten sich, dem neuen bürgerlichen Leitbild entsprechend, dafür weniger, sondern eher für Technik und Wirtschaft.
Was lange Zeit im westlichen Kulturkreis für Männer sehr ungewöhnlich war, wurde und wird hier auch gerade von den männlichen Bodybuildern exzessiv ausgelebt und kultiviert: Gestaltung und Pflege des eigenen Körpers sowie das Achten auf die äußere Erscheinung. Einschränkend ist festzustellen, dass heute auch gesamtgesellschaftlich die Tendenz bei Männern zunimmt, der Gestaltung des Körpers und des Aussehens (zum Zwecke der Steigerung der Attraktivität aus eigener Sicht) mehr Gewicht zu geben, wenn auch oft nicht in dem Maße und der Art, wie es in der Bodybuildingszene Usus geworden ist.
Gleichzeitig jedoch mündet diese neue männliche Haltung zum Körper im Bodybuildingkontext in einen Stil, der der bürgerlich-europäischen Tradition verhaftet bleibt, denn der neue Körperkult dient dem Zelebrieren eines extremen Männlichkeitskultes. Die Neuerung besteht lediglich in der Ästhetisierung etablierter Männlichkeitsbilder (dem „starken Mann“).
Galerie
Bodybuilder auf einer Meisterschaft in der Germeringer Stadthalle, 1995
Körperkunst
Zahlreiche Autorinnen und Autoren, aber auch Bodybuilder selbst betonen, dass Bodybuilding Kunstschaffen am eigenen Körper sei. So sagt etwa der frühere IFBB-Profi Ed Corney: „I look at myself as a piece of art. I have taken 20 years to develop my physical body into the shape it’s in right now, and if that isn’t art, I don’t know what art is.“ David L. Chapman, Biograph des ersten Bodybuilders Eugen Sandow (1867–1925), schreibt über Sandows Posingkür um 1900: „The athlete had long since made his poses plastiques the center of his act, rather than his weightlifting or feats of strength“. Diesem Paradigmenwechsel ist die 1946 gegründete IFBB bis heute verpflichtet. Im Regelwerk des Verbands sind ausschließlich formalästhetische Bewertungskriterien ausschlaggebend. Vor diesem Hintergrund charakterisiert Charles Gaines, Autor des Buchs und Films Pumping Iron, Bodybuilding 1974 als „aesthetic rather than athletic“ und definiert es als „athletic training of the body for artistic competition“. Der Kunstwissenschaftler Jörg Scheller rückt das heutige Bodybuilding in die Nähe der formalistischen Kunst- und Kunsttheorie unter popkulturellen Vorzeichen, da es sich nicht länger an mythologischen Vorbildern orientiere, anstelle des kulturkonservativen Ideals der Schönheit auf eine extreme, irritierende, selbstbezügliche Ästhetik setze und das Medium – den Körper – zur Botschaft erkläre. Scheller grenzt deshalb Bodybuilding streng vom Sport ab. Der Bodybuilder sei „eine Person, die sportliche Methoden für autoplastische Zwecke nutzt. Die anvisierte Ästhetik ist dabei puristischer, extremer und erhabener Natur“. Allgemein lasse sich Bodybuilding im Vergleich zum Sport wie folgt definieren:
Sport = Vergleich der Qualität der Funktionen des Körpers in einer Wettkampfsituation
Bodybuilding = Vergleich der Qualität der Formen des Körpers in einer Wettkampfsituation
Die Sammlung „Schäfer“ des Niedersächsischen Institut für Sportgeschichte in Hannover ist die umfangreichste Sammlung zur Geschichte des Bodybuildings, Catchens, Wrestlings, Kraftsports in Europa und steht Nutzern offen.
Posing und Pimping
Posing ist das bewusste Inszenesetzen der Muskulatur vor Preisrichtern bei einem Wettkampf. Dieses Posen wird von professionellen Bodybuildern geübt, wie der Tanz eines Tänzers vor dem Auftritt. Begleitet wird dieses Posing durch Musik. Posing und Musik sollen eine harmonische Einheit bilden und wird unter anderem neben den Proportionen stark bei einem Wettkampf gewertet. Bodybuilder trainieren immer wieder vor dem Spiegel um ihr Posing zu perfektionieren.
Der in jüngster Zeit auch im deutschen Sprachraum sich etablierende Begriff „Pimping“ bedeutet das Stylen, Aufmotzen und Aufrüsten, um eine beeindruckende Wirkung beim Posing zu erzielen. Im Bezug auf die äußere Gestalt des menschlichen Körpers im Kontext der Bodybuildingszene ist Pimping („Pimp My Body“) nahezu identisch mit sog. „Bodystyling“ mit dem Ziel einer auffälligen, attraktiven und beeindruckenden Gestalt. Neben einem muskelstrotzenden Körper und braungebrannter Haut wird viel Wert auf prestigeträchtige Kleidung und Accessoires gelegt.
Als Substantiv bezeichnet „Pimp“ (nicht zu verwechseln mit dem englischen Begriff für Zuhälter) einen Menschen, der auf Posing und Pimping Wert legt und es aktiv betreibt. In dieser Mentalität gibt es Berührungspunkte und Schnittmengen mit anderen Szenen, z. B. der Auto-Tuning-Szene („Pimp My Car“, „Pimp My Ride“).
Es gibt auch Bodybuilder, die sich von dieser Kultur des Posings und Pimpings jenseits des Bodybuildingwettkampfes deutlich distanzieren und Bodybuilding und -styling eher mit dem Ziel betreiben, sich im eigenen Körper wohler zu fühlen und ihn den eigenen ästhetischen Vorstellungen anzupassen.
Kleidung
Seit dem Beginn des Fitnesstrends Anfang der 1980er Jahre haben die verschiedenen Fitnesssportarten immer wieder eigene Kleidungsstile und -moden hervorgebracht. Zu erwähnen ist insbesondere die Aerobicmode der 1980er Jahre.
Anfang der 1990er Jahre entstand eine charakteristische Bodybuildingmode, die sich als bequeme, weite Sportbekleidung zunächst in Fitnessstudios verbreitete. Sie bestand in der Regel aus sog. „Bodyhosen“ und „Muskelshirts“ unterschiedlichen Schnitts.
Bodyhosen sind leichte Jerseysporthosen, die mit einem breiten hochsitzenden Gummizugbund etwa auf Taillenhöhe sitzen. Dieser Bund hat optische Ähnlichkeit mit dem Bund von Boxershorts. Von diesem Bund fällt die Hose locker in Falten und hat im Bereich der Oberschenkel bis unter die Knie eine enorme Weite, um sich von da an konisch zu verjüngen und dann bis unterhalb der Knöchel in einem engen Beinabschluss zu enden. Bodyhosen bestehen in der Regel aus Baumwolljersey, seltener aus Nylon. Anfangs waren sie üppig gemustert, später eher einfarbig mit leichter reliefartiger Struktur. Da Bodyhosen nur von einem Gummizugbund gehalten werden, sind sie besonders leicht an- und auszuziehen.
Muskelshirts waren von Anfang an vielfältiger im Schnitt. Einerseits gibt es enganliegende Varianten als Achselshirts (Tank-Tops) mit Trägern, die viel Haut zeigten, daneben gab es extremweite kastenartige Shirts aus schwerem Sweatshirtjersey oder Frottee, die aussahen wie Sweatshirts, denen die Ärmel abgeschnitten wurden, jedoch ohne jegliche Bündchen (so genannte Rag-Tops). Sie wurden in verschiedenen Längen getragen, gerne auch bauchfrei. Mit Ärmeln wurden sie auch gern in pobedeckender Form getragen, als sog. „Sleeveshirts“. Als dritte Form des Muscleshirts etablierten sich die aus der Technoszene entlehnten eng anliegenden Kurzarm-T-Shirts aus dünnem Nylon, die die Muskelstruktur optimal abzeichneten und zum Teil noch einen gewissen Push-Up-Effekt hatten.
Mitte der 1990er Jahre wurde dieser Stil („American Sportswear“) vermehrt von Anhängern der Bodybuildingszene auch außerhalb der Studios als Streetwear getragen. Die Kleidung wandelte sich zur prestigeträchtigen Lifestylebekleidung der Bodybuildingszene. Die mittlerweile etablierten Bodybuildingmarken, wie „Uncle Sam“, „Platinum“ und „Gorilla Wear“ erlangten Kultstatus. Sie hatten nach und nach diese Szenebasics durch prestigeträchtige aber legere Freizeitkleidung ergänzt. Besonders die Marke „Uncle Sam“ feierte mit ihren extrem teuren, wuchtigen Lederblousons große Erfolge. Diese Jacken wurden zum prestigeträchtigen Statussymbol in der Szene und teils auch darüber hinaus. Sie eigneten sich auch hervorragend für das Bedürfnis nach Pimping und Posing. Dazu wurden anstelle der Bodyhosen vermehrt auch andere Hosen mit ähnlichem Schnitt von prestigeträchtigen Marken getragen, wie z. B. „Diesel Jeans“ (Modell „Saddle“), „Phoenix“ oder Bundfaltenhosen von „Il Padrino Moda“. Seit 2000 sind es zunehmend die weiten Cargohosen von „Molecule“ oder „Jet Lag“. Heute sind Kleidungsstücke von Hip-Hop-Marken stark auf dem Vormarsch, wie Jeans oder Lederjacken von z. B. „Pelle Pelle“. Ferner werden Hemden mit Bodybuilderpassform von Herstellern wie „Hot Bodz“ und „Rouven Permesang“ angeboten. Die Bodyhosen sieht man dagegen auf der Straße kaum mehr.
Weit verbreitet sind bei jugendlichen Amateurbodybuildern auch Spruch-T-Shirts mit Sprüchen, wie z. B. „Shut up and squat“, was so viel heißt wie „Halt’s Maul und mach Kniebeugen“, aber auch parodierende Shirts wie z. B. „Trenzformer“, eine Persiflage der Transformers unter Verwendung des Nachnamens des bekannten Bodybuilders Peter Trenz.
Filme
Muscle Beach Party, Regie: William Asher, USA 1964
Stay Hungry, Regie: Bob Rafelson, USA 1976
Pumping Iron, Regie: George Butler, Robert Fiore, USA 1977
Pumping Iron II: The Women, Regie: George Butler, USA 1985
No Pain, No Gain, Regie: Samuel Turcotte, USA 2005
The Man Whose Arms Exploded, Regie: Bruce Hepton, USA, 2006 (TV)
Bigger Stronger Faster, Regie: Chris Bell, USA 2008
Generation Iron, Regie: Vlad Yudin, USA 2013
Pain & Gain, Regie: Michael Bay, USA 2013
Generation Iron 2, Regie: Vlad Yudin, USA 2017
Literatur
Allgemeine Nachschlagewerke
Joe Weider: Joe Weider’s Bodybuilding Trainingsmethoden und Ernährungsprinzipien (OT: Joe Weider’s Ultimate Bodybuilding). 2. Auflage, Heyne, München 1991, ISBN 3-453-04383-9
Arnold Schwarzenegger, Bill Dobbins: Das große Bodybuilding-Buch (OT: Encyclopedia of Modern Bodybuilding). (4. Auflage) Heyne, München 1989, ISBN 3-453-37102-X
Peter Sisco (Hrsg.): Ironman’s Ultimate Bodybuilding Encyclopedia. McGraw-Hill Companies 1999, ISBN 0-8092-2811-4
Gerard Thorne, Phil Embleton, John Butler: Encyclopedia of Bodybuilding. The Ultimate A–Z Book on Muscle Building! Musclemag International 2006, ISBN 1-55210-001-4
Göddeke, Bernd: Bodybuilding, Kraft- und Fitnesstraining: Ernährung – Muskelaufbau – Übungen, ISBN 3-9806839-0-7
Karsten Pfützenreuter: PITT-Force Professional Intensity Training Techniques: Professionelles Intensitätstraining von Karsten Pfützenreuter [Taschenbuch], ISBN 978-3-8391-1103-1
Training
Berend Breitenstein, Horst Lichte: Die Bodybuilding-Bibel. Natürlich, erfolgreich, gesund; mit 200 Übungen und Trainingsprogrammen. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 2006, ISBN 3-499-61078-7
Andreas Müller: Natural Bodybuilding. Training, Ernährung, Wettkampf. Novagenics, Arnsberg 2004, ISBN 3-929002-39-6
Arnold Schwarzenegger: Bodybuilding für Männer. Das perfekte Programm für Körper- und Muskeltraining (OT: Arnold's Bodybuilding for Men). (28. Auflage/Neuauflage.) Heyne, München 2004, ISBN 3-453-87991-0
Steve Holman: Ironman’s Heimtraining. Professionelles Training zuhaus. Novagenics, Arnsberg 1998, ISBN 3-929002-02-7
Dieter Zittlau: Body Training. Das erfolgreiche Workout für Muskelaufbau und Ausdauer, München 2001, ISBN 3-517-06396-7 (Übersetzungen ins Französische und ins Niederländische)
Dr. Viecelli und Dr. Aguayo: May the Force and Mass Be With You—Evidence-Based Contribution of Mechano-Biological Descriptors of Resistance Exercise, Zürich, 2022, Frontiers in Physiology
Ernährung
Klaus Arndt (Hrsg.): Handbuch Nahrungsergänzungen. Beurteilung und Anwendung leistungssteigernder Substanzen für Bodybuilding & Kraftsport. Novagenics, Arnsberg 2001, ISBN 3-929002-29-9
Sabine Froschauer: Stahlhart. Sabine Froschauers Rezepte für Fettabbau. (3. Auflage.) Novagenics, Arnsberg 1997, ISBN 3-929002-14-0
Andreas Scholz, Michael Hamm: Musclefood. Optimale Performance und effektiver Muskelaufbau durch den richtigen Einsatz von Sportlernahrung. Knaur, München 2003, ISBN 3-426-66831-9
Klaus Arndt, Stephan Korte: Die anabole Diät. Ketogene Ernährung für Bodybuilder. Der neue Weg zu rasantem Muskelaufbau und beschleunigter Fettverbrennung. Novagenics, Arnsberg 1997, ISBN 3-929002-19-1
Kulturgeschichte, Bildbände
David Chapman: Sandow the Magnificent: Eugen Sandow and the Beginnings of Bodybuilding (Champaign, IL: University of Illinois Press, 1994), Reprint 2006, ISBN 0-252-07306-1.
Charles Gaines, George Butler: Bodybuilding der Meisterklasse. Technik und Training der berühmten Champions. „Pumping Iron“. Heyne, München 1984, ISBN 3-453-41580-9.
George L. Hersey: Von Herkules zu Schwarzenegger. In: Verführung nach Maß. Ideal und Tyrannei des perfekten Körpers (OT: The Evolution of Allure). Siedler, Berlin 1998, ISBN 3-88680-622-7.
Angelika Muthesius (Hrsg.), F. Valentine Hooven: Beefcake. The Muscle Magazines of America 1950–1970. Taschen, Köln 1995, ISBN 3-8228-8939-3.
Andreas Müller: Körperkulturistik. Bodybuilding in der DDR. Novagenics, Arnsberg 2007, ISBN 978-3-929002-43-0.
Jannis Plastargias: Bodybuilding zur Stärkung des jugendlichen Selbstwertgefühls. Kubayamashi-Do Studien- und Fachbuchverlag, Frankfurt am Main 2009, ISBN 978-3-9808375-9-0 (zugleich Diplomarbeit, Pädagogische Hochschule Karlsruhe 2004).
Jörg Scheller: No Sports! Zur Ästhetik des Bodybuildings. Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2010, ISBN 978-3-515-09713-0.
Jörg Scheller: Arnold Schwarzenegger oder Die Kunst, ein Leben zu stemmen. Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2012, ISBN 978-3-515-10106-6
Bernd Wedemeyer: Starke Männer, starke Frauen. Eine Kulturgeschichte des Bodybuildings. C. H. Beck, München 1996, ISBN 3-406-39246-6.
Gerd Würzberg: Muskelmänner. In den Maschinenhallen der neuen Körperkultur. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 1987, ISBN 3-499-18208-4.
Jugendbuch
Florian Buschendorff: Ich will mehr Muskeln – egal wie! Verlag an der Ruhr, Mülheim an der Ruhr 2008, ISBN 978-3-8346-0405-7 (Jugendroman).
Fachzeitschriften
Deutschsprachiger Raum:
Sportrevue
Muscle & Fitness
Flex
International (englisch):
Ironman
MuscleMag International
Muscle & Fitness
Muscular Development
Flex
Weblinks
Verbände
Deutscher Bodybuilding- und Fitness-Verband (DBFV)
German Natural Bodybuilding and Fitness Federation (GNBF)
National Athletic Committee Germany (NAC Germany)
National Amateur Body-Builders’ Association International (NABBA International)
Schweizerischer Bodybuilding- und Fitnessverband (SBFV)
Swiss Natural Bodybuilding and Fitness Federation (SNBF)
World Amateur Body Building Association International (WABBA International)
World Fitness Federation (WFF)
Informationen zu Dopingrisiken
Nebenwirkungen von Anabolika Institut für Biochemie der Deutschen Sporthochschule Köln
Interview mit dem Dopingforscher Luitpold Kistler spiegel.de, 20. Januar 2007
Einzelnachweise
Englische Phrase
Menschlicher Körper in der Kultur
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Q124100
| 89.453153 |
17054
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https://de.wikipedia.org/wiki/Intranet
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Intranet
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Ein Intranet (, „innerhalb“‘ und ‚ „Netz“; ) ist ein Rechnernetz, das im Gegensatz zum Internet unabhängig vom öffentlichen Netz benutzt werden kann, nicht öffentlich zugänglich ist und andere, zusätzliche oder eingeschränkte Funktionen bietet.
Allgemeines
Insbesondere Unternehmen und Behörden implementieren in ihre Informationstechnik ein Intranet, um einen schnelleren Datenzugriff zu ermöglichen. Es ist aufgebaut wie das Internet, von dem sein Name entlehnt ist.
Ziele
Anders als beim Internet definiert der Netzbetreiber die Ziele des Benutzens, beispielsweise:
innerbetriebliche Informationsströme möglichst beschleunigen,
sichere Datenbank, die innerbetriebliche Informationen bündelt,
schneller Zugriff und Erreichbarkeit aller Mitarbeiter,
beschränkte bzw. kontrollierte Nutzung des Internets,
Arbeit vereinfachen, indem alle Abteilungen auf eine gemeinsame Datenbank zugreifen können (Local Area Network),
betriebliche Abläufe organisieren und optimieren,
eine Fülle von Auswertungsmöglichkeiten zur Verfügung stellen,
unternehmerische Datensicherheit und gesetzlicher Datenschutz.
Netzaufbau
Räumlich getrennte Netzwerksegmente von Intranets wurden herkömmlich durch Standleitungen verbunden. Da in allen modernen privaten oder öffentlichen Telekommunikationsnetzen von allen Anbietern die Standleitungen nur noch virtuell bereitgestellt werden, gleicht sich das Intranet bei mehreren Niederlassungen eines Unternehmens dem Virtual Private Network (VPN) an. Das Intranet eines Unternehmens, das an mehreren Standorten arbeitet, nutzt tatsächlich die allgemein und öffentlich zugänglichen Übertragungsnetzwerke, bei denen alle virtuellen Leitungsverbindungen paketvermittelt durch ein Vermittlungssystem oder einen öffentlichen Carrier bereitgestellt werden, ohne dass ein ungeregelter Übergang in öffentliche Zweige möglich gemacht wird.
Im Unterschied zu Begriffen wie Local Area Network und Global Area Network bezeichnet dieser Begriff nicht die räumliche Ausdehnung eines Rechnernetzes, sondern die (begrenzte) Ausdehnung seines Benutzerkreises. Für die IT-Infrastruktur bedeutet das den Einsatz von TCP/IP als Netzwerkprotokoll, Internetdiensten als Anwendungsbasis und Webbrowsern als universelle Benutzerschnittstelle.
Verbreitung
Intranets sind überall dort verbreitet, wo sich Mitarbeiter über neueste Meldungen sowie Regeln und Absprachen informieren können. Außerdem finden sie im Intranet wichtige Dokumente und Formulare, die sie sich für ihre Arbeit herunterladen, ausdrucken oder bearbeiten können. Das Intranet wird sowohl in Unternehmen als auch in vielen Behörden eingesetzt. Besonders große Firmen setzen dabei speziell modifizierte Browservarianten als Benutzerschnittstelle ein.
Auch manche Staaten verfügen über ein eigenes Intranet, ein extremes Beispiel ist Nordkorea. Dort haben die meisten Menschen keinen Zugang zum Internet, sondern können nur im landeseigenen Intranet (welches zensiert ist) surfen.
Mit einem Intranet verfolgen Unternehmen das Ziel, die Informationsversorgung für die Mitarbeiter zu sichern und zu verbessern. Hierzu wird der komplette Prozess, von der qualitätsgesicherten Bereitstellung von Informationen, der zielgruppenorientierten (personalisierten) Verteilung von Informationen und dem schnellen Finden und der einfachen Nutzung von Informationen im Rahmen von Geschäftsprozessen optimiert. Ein weiterer Nebeneffekt der vereinheitlichten Benutzeroberflächen ist ein stärkeres betriebsinternes Zugehörigkeitsgefühl bei den Anwendern (Corporate Design, Corporate Identity).
Bei zielführendem Technikeinsatz (Content-Management, Workflow-Management) lässt sich mit Intranets die Effektivität von Wissensarbeitern und damit die Wettbewerbsfähigkeit von Unternehmen steigern.
Sicherung
Einzelne logische Schnittstellen zum Internet werden von Firewalls kontrolliert. Der Betreiber des Intranet bildet sich über diese paketvermittelte Übertragung eines Providers praktisch sein privates Netz auch mit mehreren Standorten. Mit Protokollen wie IPsec können dazu Tunnel durch das Internet geschaffen werden, die nicht nur Netzwerksegmente mit zahlreichen verkabelten LAN-Clients verbinden, sondern auch einzelne mobile Geräte wie Smartphones drahtlos über WLAN-Router anbinden.
Der Zugang zum Intranet wird durch Verriegeln gesichert. In der Regel müssen sich die Teilnehmer eines Intranets über einfache Authentisierungsverfahren wie über eine „Login“-Maske anmelden, die aus einem Benutzernamen und dem dazugehörigen Passwort besteht oder über komplexe Authentisierungsverfahren mit mehreren Faktoren, wie U2F. Somit kann die Vergabe der Zugriffsrechte einzelner Teilnehmer über die Benutzerverwaltung des jeweiligen Betriebssystems zuverlässig und sicher gesteuert werden.
Ein Extranet ist ein Teil eines Intranets, zu dem ein weiterer, privilegierter Benutzerkreis einen gesicherten Zugang von außerhalb der eigenen Standorte liegenden Orten hat.
Protokolle
In einem organisations- und unternehmensinternen Rechnernetz, das auf den gleichen Techniken (TCP/IP, HTTP) und Anwendungen wie das Internet basiert, können die gleichen Verzeichnisdienste zur Verfügung gestellt werden. Daneben kann die Verwendung von Protokollen beschränkt, erweitert oder geändert werden.
Anwendungen
Das Unterstützen und Automatisieren von verketteten Prozessabläufen wird nicht durch das Netz besorgt, sondern durch entsprechende Anwendungen, die im Intranet bereitgestellt werden.
Der Begriff Intranet wird oft unabhängig von seiner technischen Definition für die Zusammenfassung der betriebs- oder gemeinschaftsinternen Web-Kommunikation genutzt. Dazu können Dateiserver, Websites, Chats oder Foren gehören. Typische Inhalte sind betriebsinterne öffentliche Informationen wie Regeln, Absprachen, Verfahrens- und Arbeitsablaufanweisungen, Mitarbeiterzeitschriften, Dokumente und Formulare. Der Zugriff der Mitarbeiter erfolgt häufig über ein Intranetportal.
Synonym für Intranetportal
Im Sprachgebrauch in Internet- und Onlineagenturen und ähnlichen Dienstleistern wird mitunter der verkürzte Begriff „Intranet“ als Synonym für Intranetportale auf Basis von Webtechnologien verwendet. Gemeint ist in diesen Zusammenhängen oft eine spezifische Installation von Websoftware, die auf einem Host im Intranet läuft und für die Intranetnutzer bereitgestellt wird, und nicht das Intranet selbst.
Siehe auch
Extranet
Mitarbeiterplattform
Literatur
Thomas Lux: Intranet Engineering – Einsatzpotenziale und phasenorientierte Gestaltung eines sicheren Intranet in der Unternehmung. Gabler, Wiesbaden 2005, ISBN 3-8350-0095-0
Claus Hoffmann/Beatrix Lang: Das Intranet. Erfolgreiche Mitarbeiterkommunikation. UVK, 2006, ISBN 3-89669-491-X: Claus Hoffmann: Das Intranet. Ein Medium der Mitarbeiterkommunikation. UVK, 2001, ISBN 3-89669-335-2
Torsten Horn: Internet, Intranet, Extranet: Potentiale in Unternehmen. Oldenbourg Wissenschaftsverlag GmbH, München, 1999
Othmar Kyas: Corporate Intranets. Strategie – Planung – Aufbau. International Thomson Publishing, Bonn 1997, ISBN 3-8266-4007-1
Julia Arendt, Nicole Gatz, Theresa Schulz: "Social Intranet 2012 – Studienergebnisse, Fachbeiträge und Experteninterviews", Lars Dörfel, scm/ Lutz Hirsch, HIRSCHTEC (Hrsg.), Berlin, 2012 ISBN 978-3-940543-23-3
Stefanie Meier, Daniel Lütolf, Stephan Schillerwein: Herausforderung Intranet. Zwischen Informationsvermittlung, Diskussionskultur und Wissensmanagement. Springer Gabler, Wiesbaden, 2015 ISBN 978-3-658-05439-7
Theresa Schulz (Hrsg.), Lars Dörfel: Social Media in der Internen Kommunikation, Berlin, 2012 ISBN 978-3-940543-13-4
Internetanwendung
Rechnernetze
Wirtschaftsinformatik
Netzwerktyp
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Q483426
| 116.04799 |
1123569
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https://de.wikipedia.org/wiki/Expressionismus
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Expressionismus
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Der Expressionismus (von ) ist eine Stilrichtung in der Kunst. Ihre Anfänge und Vorläufer finden sich im ausgehenden 19. Jahrhundert. Wie der Impressionismus, der Symbolismus und der Fauvismus ist der Expressionismus eine Bewegung gegen die Tendenzen des Naturalismus. Im Expressionismus überwiegt die expressive Ebene gegenüber der ästhetischen, appellativen und sachlichen Ebene. Der Künstler möchte sein Erlebnis für den Betrachter darstellen.
Als Ausdrucksmittel dienten den bildenden Künstlern wie auch den Literaten und Musikern des Expressionismus u. a.
die Wendung zur breiten Öffentlichkeit, die durch das plakative, superlativische, erregt-exklamatorische Element und den Pamphletstil der Literatur unterstrichen wurde;
die „aggressive Deformation“ von Formen, Figuren, Wörtern, Harmonien und Tempi, das Unkultivierte, Archaische und „Wilde“;
die Travestie, die Parodie des „Erhabenen“ bei gleichzeitiger Heroisierung des Banalen;
eine forcierte Simultaneität, die z. B. durch extreme Zeitraffung in der Literatur oder durch Wiedergabe zeitlich oder räumlich nicht übereinstimmender Ereignisse auf demselben Bild erreicht wird;
der Hang zum Konstruierten, zur Typisierung, Metaphorisierung, Entindividualisierung und Depersonalisierung, der sich der einfühlenden Identifikation versperrt.
Darin wird ein Destruktionswille erkennbar, der sich gegen ein dekadent-erschlafftes und wohlanständiges Bürgertum der Wilhelminischen Epoche wie auch gegen die Genussästhetik des Impressionismus und Jugendstils wendet, wobei das Ziel der Stimulation oft unklar bleibt.
Expressionismus in der Malerei und Grafik
Charakterisierung
Der Expressionismus ist eine Stilrichtung der bildenden Kunst, die als künstlerische Bewegung im frühen 20. Jahrhundert innerhalb des deutschsprachigen Raumes erstmals in der Malerei und der Grafik durch jene explizite Namensgebung hervortrat. Wie bereits zuvor im Fauvismus in Frankreich stellte sich der Expressionismus den bildnerischen Gestaltungsweisen des Impressionismus entgegen.
In den expressionistischen Bildwerken treten ein freier Umgang mit Farbe und Form in häufiger Verwendung ungemischter Farben und im deutschsprachigen Raum des Weiteren die Verwendung holzschnittartiger Formen hervor. Weitere Charakteristika sind eine Motivreduzierung auf markante Formelemente der Bildobjekte und eine Auflösung der traditionellen Perspektive.
Den Künstlern dieser Epoche waren nicht die wirklichkeitsgetreue Wiedergabe von Eindrücken und schöne Formen wichtig; im Gegensatz zu den impressionistischen Malern drückten die Expressionisten ihre subjektiven Regungen aus. Sie gaben direkt und spontan ein „durchfühlt“ interpretiertes Motiv weiter.
Sehr bald nach dem Ersten Weltkrieg und unter dessen Einfluss auf die Künstler wurde der Expressionismus von neuen Stilrichtungen teils überlagert und teils abgelöst (z. B. Konstruktivismus, Neue Sachlichkeit, Informel, in der Postmoderne durch die Neuen Wilden und den Fotorealismus) und durch den Dadaismus teils in Frage gestellt.
Vorläufer
Eine erste expressionistische, mit symbolischen und Jugendstilelementen vermischte Welle erschien bereits zwischen 1885 und 1900 als Reaktion auf den Impressionismus und den objektiven Ordnungswillen Paul Cézannes und Georges Seurats sowie den deutschen Impressionismus. Ihre Vertreter waren Vincent van Gogh, Paul Gauguin, Henri de Toulouse-Lautrec, James Ensor, Edvard Munch und Ferdinand Hodler.
Außerdem kamen erste Andeutungen auf den ästhetizistischen Charakter der bevorstehenden Stilrichtung des Expressionismus von Hermann Bahr, der ein Gemälde von Ludwig von Hofmann in einer Ausstellung im Künstlerhaus Wien 1895 unter dem Titel Rote Bäume besprach.
Eine zweite expressionistische Welle, weit wichtiger als die erste, zeigte sich in Frankreich bereits durch die Beiträge Georges Rouaults, im Frühwerk Pablo Picassos, im Schaffen des Fauvismus und in Deutschland mit der Gründung der Dresdner Brücke.
Künstlervereinigungen
Künstlervereinigungen führten die expressionistischen Bildwerke weiter bis zur Abstraktion. Hauptvertreter der Brücke in Dresden (1905–1913) waren Ernst Ludwig Kirchner, Erich Heckel, Karl Schmidt-Rottluff, Otto Mueller und Max Pechstein, die auch gemeinsam in der Neuen Secession 1910/1911 in Berlin ausstellten. Eine andere maßgebliche Gruppe war die Neue Künstlervereinigung München (N.K.V.M.), der unter anderen Wassily Kandinsky, Alexej Jawlensky, Franz Marc, Gabriele Münter und Marianne von Werefkin angehörten. Aus der N.K.V.M. ging die Redaktion des Blauen Reiters hervor. Daneben gab es auch einen ostpreußischen Expressionismus in Königsberg, ab 1918 mit der Künstlergruppe „Der Ring“ und einen Rheinischen Expressionismus. Der letztere Begriff wurde 1911 von Herwarth Walden geprägt, er bezeichnet weniger eine Kunstrichtung, sondern eher das Lebensgefühl einer jungen Generation. Die Anfänge gehen auf Vincent van Gogh und Edvard Munch zurück.
Der Expressionismus richtete sich als Protest gegen die damals bestehende Ordnung und somit vielfach gegen das Bürgertum. Seine Entstehung muss in engem Zusammenhang mit der Lebensreformbewegung gesehen werden. Expressionistische Künstler beriefen sich auf Friedrich Nietzsche als Vordenker. Die Zeitschrift Der Sturm (herausgegeben von Herwarth Walden) und andere neu gegründete künstlerisch-literarische Zeitschriften dienten den Protagonisten als Diskussionsforum. Überkommene künstlerische Formen wurden aufgegeben („Formzertrümmerung“). Der Expressionismus stand so in Opposition zum Naturalismus.
Da das Programm des deutschen Expressionismus weitgehend negativ definiert war (nicht naturgetreu, nicht bürgerlich, nicht konventionell), ergab sich daraus im Gegensatz zum Impressionismus nicht eine Kunst, die ohne weiteres an Stilmerkmalen zu erkennen ist. Es war die geistige Haltung, die den Expressionismus ausmachte. So formulierte Ernst Ludwig Kirchner 1906 das „Programm der Brücke“ in dem gleich betitelten Holzschnitt wie folgt:
Wichtige Vertreter des deutschen Expressionismus wehrten sich vehement, als Expressionisten bezeichnet zu werden, so Ernst Ludwig Kirchner und Otto Mueller. Sie hoben hervor, dass diese Bezeichnung ihrem Stil und ihrer Originalität nicht gerecht werde.
Die gemeinsame Reise von Paul Klee, August Macke und Louis Moilliet nach Tunesien ist als Tunisreise in die Kunstgeschichte eingegangen.
Liste der Maler des Expressionismus
Künstler, die dem Expressionismus zugeordnet werden oder ihm nahestanden, finden sich unter Kategorie: Maler des Expressionismus.
Einfluss außereuropäischer Kunst
Wie die kubistischen Werke beispielsweise von Pablo Picasso oder Georges Braque wurden auch die Werke der Expressionisten, insbesondere die der Künstler der Brücke, später auch die Werke des US-Amerikaners Jean-Michel Basquiat im Bereich des Neoexpressionismus, von den Objekten ozeanischer und afrikanischer Kunst angeregt.
Anfang des 20. Jahrhunderts füllten sich Europas Völkerkundemuseen mit Objekten aus Afrika und Ozeanien. Die schlichte und ausdrucksstarke Gestaltung der Masken und Figuren, allesamt mystische Sinnbilder fremder Kulturen, erfüllten die Sehnsucht der Künstler nach einer „neuen Natürlichkeit“.
Museen
Das 1967 eröffnete Brücke-Museum Berlin hat die weltweit größte zusammenhängende Sammlung von Werken der expressionistischen Brücke-Künstler. Die Städtische Galerie im Lenbachhaus in München verfügt über die weltweit größte Sammlung der Künstler des Blauen Reiters.
Expressiver Realismus
Eine zweite expressionistische Generation von Malern und Bildhauern entwickelte sich aus oft bereits lokal bedeutsamen Künstlern, die schon in der Weimarer Zeit hervorgetreten waren oder ihre Ausbildung beendet hatten. Durch Krieg und die Vorgaben zur Kunst im Nationalsozialismus waren sie aber häufig an ihrer Wirkung gehindert und konnten so nicht die ihnen eigentlich zukommende Bedeutung erlangen. Der Kunsthistoriker Rainer Zimmermann (1920–2009) hat in seinem 1980 erschienenen Buch auf die betroffene Generation dieser überwiegend expressionistisch arbeitenden Künstler aufmerksam gemacht und prägte mit dem Titel Die Kunst der verschollenen Generation. Deutsche Malerei des expressiven Realismus von 1925–1975 den Begriff Verschollene Generation.
Expressionismus in der Literatur
Ähnlich dem Expressionismus in der bildenden Kunst befasste sich der Expressionismus in der Literatur in erster Linie mit den Themen Krieg, Großstadt, Zerfall, Angst, Ich-Verlust und Weltuntergang (Apokalypse), des Weiteren auch mit Wahnsinn, Liebe und Rausch sowie der Natur. Die bürgerliche Ästhetik wird durch eine ‚Ästhetik des Hässlichen‘ zurückgewiesen; wie keine andere literarische Bewegung zuvor machen die Expressionisten das Hässliche, Kranke, Wahnsinnige zum Gegenstand ihrer Darstellungen.
Die junge Generation der Autoren drückte sich vor allem durch Lyrik und in Lyrik aus wie bei Lasker-Schüler, van Hoddis, Stramm, Benn und Heym. Werkbeispiele sind die Gedichte Weltende von van Hoddis und Umbra Vitae von Heym. Deutlich wird hier die Abwendung von formalen Vorgaben.
Die Idee des Konstruktivismus wird in der Negierung der vorgegebenen Strukturen vorweggenommen. Obwohl auch diese Epoche – wie jede andere – fließende Übergänge besitzt und ihre Eingrenzung natürlich stark definitionsabhängig ist, hat sich in der Literaturwissenschaft das Schlagwort des ‚Expressionistischen Jahrzehnts‘ für die Blütezeit des Expressionismus zwischen 1910 und 1920 eingebürgert. Hierbei stellt der Beginn des Ersten Weltkriegs eine starke Zäsur für die Begriffe Tenor und Topos insbesondere der Expressionistischen Lyrik dar; während viele Autoren zunächst noch den Krieg als eine die überkommene bürgerliche Gesellschaft hinwegfegende, erneuernde Kraft herbeigesehnt und verherrlicht hatten (vgl. auch Futurismus), ändert sich das Kriegsbild bald durch die Schreckenseindrücke vieler Dichter, die selbst das Ausmaß der Vernichtung und des Elends als Soldaten an der Front erleben müssen.
Expressionismus in weiteren Künsten
Siehe dazu
Expressionismus (Architektur)
Expressionistische Kirchenmalerei
Expressionismus (Musik)
Expressionismus (Film)
Expressionistischer Tanz
Kunstgeschichtliche Rezeption
Die Neubewertung der romanischen Skulptur und der gotischen Architektur sowie El Grecos und die Diskussion der Farbigkeit spielten in den Forschungen einiger Kunsthistoriker Anfang des 20. Jahrhunderts eine zentrale Rolle. Einige von ihnen wie Fritz Burger hatten engen Kontakt zu zeitgenössischen Künstlern.
Im Bereich der Kunstgeschichte sind die wichtigsten Vertreter:
Fritz Burger
Manuel Cossio
Max Dvořák
Richard Hamann
Jost Hermand
Hans Jantzen (in seinem Frühwerk)
Julius Meier-Graefe
Karl Scheffler
Wilhelm Worringer
Siehe auch
Abstrakter Expressionismus
Literatur
Zum Expressionismus in der Literatur
Kurt Pinthus (Hrsg.): Menschheitsdämmerung. Symphonie jüngster Dichtung. Rowohlt, Berlin 1920. (die wichtigste Anthologie expressionistischer Lyrik); revidierte Ausgabe: Menschheitsdämmerung – Ein Dokument des Expressionismus, mit wesentlich erweitertem bio-bibliographischen Anhang, Rowohlt, Reinbek 1959 ff, ISBN 3-499-45055-0.
Heinrich Eduard Jacob (Hrsg.): Verse der Lebenden. Deutsche Lyrik seit 1910. Propyläen Verlag, Berlin 1924; 2., ergänzte Aufl. 1927; 3., ergänzte Aufl. 1932. (Dieser nach der von Kurt Pinthus herausgegebenen Menschheitsdämmerung wichtigsten expressionistischen Anthologie hat Jacob eine umfangreiche Einleitung vorangestellt)
Paul Raabe, H. L. Greve: Expressionismus. Literatur und Kunst 1910 (Eine Ausstellung des Deutschen Literaturarchivs im Schiller-Nationalmuseum Marbach a. N., vom 8. Mai bis 31. Oktober 1960. Katalog Nr. 7). Marbach a. N. 1960. (wird im DLA laufend neu aufgelegt)
Kasimir Edschmid: Lebendiger Expressionismus. Auseinandersetzungen, Gestalten, Erinnerungen (mit 31 Dichterportraits von Künstlern der Zeit). Verlag Kurt Desch, Wien & München 1961.
Heinrich Eduard Jacob: Berlin, Vorkriegsdichtung und Lebensgefühl. In: Imprimatur – Jahrbuch für Bücherfreunde Band III. Gesellschaft der Bibliophilen, Frankfurt am Main 1961/62, S. 186–189. (erneut abgedruckt in: Paul Raabe (Hrsg.): Expressionismus. Aufzeichnungen und Erinnerungen der Zeitgenossen. Walter-Verlag, Olten 1965, S. 15–19)
Theodor Sapper: Alle Glocken dieser Erde. Expressionistische Dichtung aus dem Donauraum. Europaverlag Wissenschaft, Wien 1974, ISBN 3-203-50494-4.
Silvio Vietta, Hans-Georg Kemper: Expressionismus (= UTB 362). Wilhelm Fink Verlag, München 1975 (6. Aufl. 1994), ISBN 3-8252-0362-X.
Ernst Fischer, Wilhelm Haefs (Hrsg.): Hirnwelten Funkeln. Literatur des Expressionismus in Wien. Otto Müller Verlag, Salzburg 1988, ISBN 3-7013-0745-8.
Peter Bekes: Arbeitstexte für den Unterricht. Gedichte des Expressionismus. Reclam, Stuttgart 1991, ISBN 3-15-015024-8.
Paul Raabe: Die Autoren und Bücher des literarischen Expressionismus. Ein bibliographisches Handbuch in Zusammenarbeit mit Ingrid Hannich-Bode. J. B. Metzler, Stuttgart 1992, ISBN 3-476-00756-1.
Walter Fähnders (Hrsg.): Expressionistische Prosa. Ein Studienbuch. Aisthesis, Bielefeld 2001, ISBN 3-89528-283-9.
Thomas Anz: Literatur des Expressionismus. Sammlung Metzler, Stuttgart 2002, ISBN 3-476-10329-3.
Nicole Leonhardt: Die Farbmetaphorik in der Lyrik des Expressionismus. Eine Untersuchung an Benn, Trakl und Heym. Ubooks Verlag, Augsburg 2004, ISBN 3-937536-17-5.
Ralf Georg Bogner: Einführung in die Literatur des Expressionismus. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2005, ISBN 3-534-16901-8.
Frank Krause: Literarischer Expressionismus (= UTB 2999). Wilhelm Fink Verlag, Paderborn 2008, ISBN 978-3-7705-4317-5; erweiterte Neuauflage: V&R unipress, Göttingen 2015, ISBN 978-3-8471-0363-9
Zum Expressionismus in Malerei und Grafik
Brigitte Lühl-Wiese: Georg Trakl – der Blaue Reiter: Form- und Farbstruktur in Dichtung und Malerei des Expressionismus. Münster 1963 (Dissertation Westfälische Wilhelms-Universität, Philosophische Fakultät, 19. Juli 1963, 192 Seiten).
Richard Hamann, Jost Hermand: Expressionismus. Akademie-Verlag, Berlin 1975, ISBN 0-7601-0485-9.
Ursula Peters (in Zusammenarbeit mit Andrea Legde): Moderne Zeiten. Die Sammlung zum 20. Jahrhundert (Kulturgeschichtliche Spaziergänge im Germanischen Nationalmuseum, Bd. 3). Verlag des Germanischen Nationalmuseums, Nürnberg 2000, ISBN 3-926982-61-6. (insb. S. 11–120)
Kai Buchholz u. a. (Hrsg.), Die Lebensreform, Entwürfe zur Neugestaltung von Leben und Kunst um 1900. haeusser-media, Darmstadt 2001, ISBN 3-89552-077-2.
Karl-Heinz Morscheck: Expressionismus. Stil und Umsetzung. Englisch Verlag, Wiesbaden 2005, ISBN 978-3-8241-1334-7.
Magdalena M. Moeller (Hrsg.): Expressionismus. Die große Künstlerbewegung der Moderne. DuMont, Köln 2005, ISBN 3-8321-7527-X.
Peter Stepan u. a.: Die expressive Geste. Deutsche Expressionisten und afrikanische Kunst. Hatje Cantz, Ostfildern 2007, ISBN 978-3-7757-1918-6.
Ralf Beil, Claudia Dillmann (Hrsg.): Gesamtkunstwerk Expressionismus. Kunst, Film, Literatur, Theater, Tanz und Architektur 1905 bis 1925. Hatje Cantz, Ostfildern 2010, ISBN 978-3-7757-2712-9.
Antje Birthälmer (Hrsg.): Der Sturm (Band 1: Zentrum der Avantgarde, Band 2: Aufsätze). Von der Heydt-Museum, Wuppertal 2012, ISBN 978-3-89202-081-3. (Katalog zur Ausstellung Der Sturm – Zentrum der Avantgarde, Von der Heydt-Museum, Wuppertal, 13. März bis 10. Juni 2012)
Timothy O. Benson u. a.: Expressionismus in Deutschland und Frankreich. Von Matisse zum Blauen Reiter. Prestel, München 2014, ISBN 978-3-7913-5339-5.
Tayfun Belgin, Otto Letze: Radikal subjektiv: Identitätssuche im deutschen Expressionismus. Hirmer, München 2015, ISBN 978-3-7774-2489-7.
Jutta Hülsewig-Johnen, Henrike Mund (Hrsg.): Der böse Expressionismus: Trauma und Tabu. Wienand, Köln 2017, ISBN 978-3-86832-413-6. (Katalog zur Ausstellung Der böse Expressionismus. Trauma und Tabu, Kunsthalle Bielefeld, 11. November 2017 bis 11. März 2018)
Weblinks
Einführung in den Expressionismus unter schulrelevanten Aspekten
Erklärung und Werke des Expressionismus
Sammlung charakteristischer Werke des Expressionismus
Werke von Expressionisten im Museumsportal Schleswig-Holstein
Auswahl expressionistischer Werke aus der Stiftung Sammlung Ziegler
Astrid Buerhle: Expressionistische Malerei und Gesellschaft Vorstellung der Hauptthemen der expressionistischen Malerei (Natursehnsucht und Großstadt, Krieg und Gewalt).
Auswahl von Künstlern des Expressiven Realismus
Einzelnachweise
Kunststil
Stilrichtung in der Malerei
Epoche (Literatur)
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https://de.wikipedia.org/wiki/Gilbertinseln
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Gilbertinseln
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Die Gilbertinseln (auch kurz als Gilberts bezeichnet; kiribatisch: Tungaru; früher bekannt als Kingsmill Islands) sind eine Kette von 16 Atollen im Pazifik, die zum Inselstaat Kiribati gehören. Das bevölkerungsreichste und bedeutendste Atoll ist Tarawa, auf dem Kiribatis Hauptstadt South Tarawa mit der Insel Bairiki liegt.
Der Name Gilbertinseln ist sowohl geschichtlich in Gebrauch für das heutige Kiribati, den Teil der Gilberts des ehemaligen Protektorats der Gilbert- und Elliceinseln, heute für den Verwaltungsbereich, den Unit, der Gilbertinseln, der sich aus den Distrikten Nördliche Gilbertinseln (Northern Gilberts) und Tarawa, Zentrale Gilbertinseln (Central Gilberts) und Südliche Gilbertinseln (Southern Gilberts) zusammensetzt.
Zum Zeitpunkt der Volkszählung 2020 betrug die Bevölkerung der Gilbertinseln 107.812 Einwohner.
Für hier nicht behandelte, andere Teile Kiribatis:
Geographie
Die Atolle der Gilbertinseln sind in Nord-Süd-Richtung angeordnet:
Geschichte
Die Gilbertinseln waren bereits mehrere Jahrhunderte von Mikronesiern bewohnt, bevor sie erstmals von Europäern entdeckt wurden.
1606 sichtete Pedro Fernández de Quirós die Makin/Butaritari-Gruppe. Der Engländer John Byron sichtete 1764 auf der Dolphin auf seiner Weltumseglung weitere der Gilbertinseln. Als eigentliche Entdecker gelten allgemein die Kapitäne Thomas Gilbert von der Charlotte und John Marshall von der Scarborough, die am 17. Juni 1788 die Atolle Aranuka, Kuria, Abaiang und am 20. Juni 1788 Tarawa, das Kingsmill genannt wurde, sichteten, ohne jedoch zu landen. Den Namen Gilbertinseln erhielten sie Thomas Gilbert zu Ehren gegen 1820 von Admiral Adam Johann von Krusenstern. Der französische Kapitän Louis Isidore Duperrey, der 1822 bis 1825 auf der Astrolabe die Welt umsegelte, war der erste, der den Archipel kartografierte. Charles Wilkes von der United States Exploring Expedition (1832 bis 1842) vermaß die Inseln, Riffe und Ankerplätze und übertrug den Namen einer der Inseln, Kingsmill, heute Tarawa, auf die gesamte Inselgruppe, veröffentlicht in seinem 1851 erschienenen Expeditionsbericht. Es dauerte lange, bis sich der Begriff Gilbertinseln für die Inselgruppe als einziger Begriff durchsetzte. Später wurde der Name Kingsmill auf den Teil der Atolle südlich von Tarawa beschränkt.
1892 wurden die Inseln ein Teil des britischen Protektorats der Gilbert- und Elliceinseln. Die Proklamation erfolgte durch Kapitän Davis vom Schiff Royalist am 27. Mai 1892 auf der Insel Abemama. 1916 wurde das Protektorat zur britischen Kolonie Gilbert and Ellice Islands Colony. Während des Zweiten Weltkriegs waren die Gilbertinseln von 1941 bis 1943 (siehe Schlacht um die Gilbertinseln) von Japan besetzt. 1971 erlangten sie die Autonomie.
1978 wurden die einstigen Elliceinseln unter der neuen Bezeichnung Tuvalu ein unabhängiger Staat, die Gilbertinseln folgten ein Jahr später und wurden 1979 im Zusammenschluss mit weiteren Inseln zum unabhängigen Inselstaat Kiribati.
Literatur
Entdeckungsgeschichte
Henry Evans Maude: The Gilbert Islands observed. A source book of European contacts with, and observations of, the Gilbert Islands and the Gilbertese, from 1537 to 1873. Compiled by H. E. Maude. Homa Press, Adelaide 2006.
Politische Geschichte
Harald Werber: Kiribati. Politischer und ökonomischer Wandel während der Protektionszeit 1892–1916. LIT, Wien 2011, ISBN 978-3-643-50299-5.
Barrie Macdonald: Cinderellas of the Empire: Towards a history of Kiribati and Tuvalu. Institute of Pacific Studies (University of the South Pacific), Suva 2001, ISBN 982-02-0335-X. (Anmerkung: Standardwerk).
Kiribati. Aspects of history. Tarawa 1979.
Peter McQuarrie: Conflict in Kiribati: A History of the Second World War. Macmillan Brown Centre for Pacific Studies (University of Canterbury), Christchurch 2000, ISBN 1-877175-21-8.
Howard Van Trease (Hrsg.): Atoll Politics: The Republic of Kiribati. Macmillan Brown Centre for Pacific Studies (University of Canterbury) Christchurch, Institute of Pacific Studies (University of the South Pacific), Suva 1993, ISBN 982-02-0081-4.
Kulturgeschichte
Henry Evans Maude: The evolution of the Gilbertese boti. An ethnohistorical interpretation. Institute of Pacific Studies and Gilbert Islands Extension Centre of the University of the South Pacific, Suva, 1977 (Neuausgabe von: Polynesian Society, Wellington 1963).
Henry Evans Maude: The Gilbertese maneaba. The Institute of Pacific Studies and the Kiribati Extension Centre of the University of the South Pacific, (Suva) 1980.
Henry Evans Maude: Of islands and men. Studies in Pacific history. Oxford University Press, Melbourne/New York 1968 (Bibliografie: S. 373–397).
Arthur Francis Grimble: Tungaru traditions. Writings on the atoll culture of the Gilbert Islands. Edited by H. E. Maude. Melbourne University Press, Carlton, Victoria 1989 (Bibliografie S. 357–375), ISBN 0-522-84386-7. (Anmerkung: Standardwerk).
Arthur Francis Grimble: An anthology of Gilbertese oral tradition. From the Grimble papers and other collections. Translated by A. F. Grimble and Reid Cowell. Edited by H. C. and H. E. Maude. Institute of Pacific Studies, University of the South Pacific, Suva 1994, ISBN 0-646-17265-4.
Arthur Francis Grimble: A Pattern of Islands. Neuausgabe. Eland, London 2011, ISBN 978-1-906011-45-1. (Erstausgabe: Murray, London 1952; US-Titel: We chose the Islands).
Gerd Koch: Die materielle Kultur der Gilbert-Inseln. Nonouti, Tabiteuea, Onotoa. Museum für Völkerkunde, Berlin 1965. (Anmerkung: Standardwerk).
Ethnobotanik
Katharine Luomala: Ethnobotany of the Gilbert Islands. Bernice Pauahi Bishop Museum, Honolulu 1953. (Bernice P. Bishop Museum bulletin. 213).
Sprache
Ernest Sabatier: Dictionnaire Gilbertin-Français. Catholic Mission Press, Tabuiroa, Gilbert Islands 1952.
Englische Ausgabe: Gilbertese-English dictionary. Te tekitinari n taetae ni Kiribati ma n Ingiriti. Translated by Sister Mary Oliva. South Pacific Commission Publications Bureau, Sydney 1971.
A Combined Kiribati-English Dictionary based on the works of Hiram Bingham, D.D. and Father Ernest Sabatier, M.S.C. (translated by Sr. M. Oliva). Compiled by Stephen Trussel and Gordon W. Groves, University of Hawaii, 1978.
Sheldon P. Harrison: Linguistic evidence for Polynesian influence in the Gilbert Islands. In: Language contact and change in the Austronesian world. Ed. by Tom Dutton, Darrell T. Tryon. Mouton de Gruyter, Berlin, New York 1994, ISBN 3-11-012786-5, S. 321–350 (Trends in linguistics. Studies and monographs. 77). Lückenhafte Online-Vorschau.
Weblinks
Einzelnachweise
Inselgruppe (Kiribati)
Inselgruppe (Australien und Ozeanien)
Inselgruppe (Pazifischer Ozean)
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https://de.wikipedia.org/wiki/Open-Source-Hardware
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Open-Source-Hardware
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Open-Source-Hardware (OSH, auch Open Hardware, OH) oder Freie Hardware () ist eine Hardware, die nach freien Bauplänen hergestellt wird. Die Bewegung und Idee steht der Freie-Software-, Open-Source- und DIY-Bewegung nahe bzw. geht auf diese zurück.
Konzept und Wirkungsfeld
Grundlagen
Open Hardware beschreibt „Hardware, deren Baupläne öffentlich zugänglich gemacht wurden, so dass alle sie studieren, verändern, weiterverbreiten und darauf basierende Hardware herstellen und verkaufen können.“ Dies soll auch für die Quelldateien der Hardware gelten, die in einem leicht zu verändernden Format mit veröffentlicht werden. Wünschenswert ist dabei, dass Open Hardware auf leicht erhältliche Komponenten und Werkstoffe sowie etablierte Fertigungsverfahren zurückgreift, oder gar solche, die bereits ebenfalls unter freien Lizenzen zur Verfügung stehen.
Das Open-o-meter beschreibt acht (bzw. zehn) Kriterien auf Produkt- und Prozessebene, die zur Deklaration als Open-Source-Hardware erfüllt sein sollen und „Open-Washing“, bspw. in Form von lediglich offen spezifizierter aber nicht frei verwendbarer Hardware, vorbeugen. Sind ein bis sieben davon erfüllt, gilt das Produkt als teil-offen. Bei Erfüllung keines Kriteriums ist das Produkt vollständig proprietär. Die Kriterien lauten:
Verwendung einer Open-Source-kompatiblen Lizenz einschließlich der Freigabe kommerzieller Nutzung
Veröffentlichung aller Design-Dateien
Veröffentlichung einer Stückliste
Veröffentlichung einer Montageanleitung
Veröffentlichung aller Dateien im (bearbeitbaren) Originalformat
Verwendung eines Versionierungssystems
Veröffentlichung eines Beitragsleitfadens, der Wege zur kollaborativen Weiterentwicklung erörtert
Verwendung eines Issue-Management-Systems
Besonderheiten im methodischen Entwicklungsprozess
Im Unterschied zu herkömmlichen Produktentwicklungsprozessen des Maschinenbaus und der Mechatronik finden im Idealfall bereits alle Phasen der Produktentwicklung offen dokumentiert statt, was den Rückgriff auf Plattformen der nicht-linearen Software-Entwicklung empfehlenswert macht, die Forks und Traceability für die parallele Weiterentwicklung durch unterschiedliche Stakeholder und dennoch deren spätere Zusammenführung sowie die Reproduzierbarkeit (Replikation) von Erzeugnissen (Produkte, Versuchsergebnisse) ermöglichen.
Im wissenschaftlichen Bereich wird für die Veröffentlichung von Open-Hardware-Artefakten als FAIR-Data (auffindbar, dauerhaft zugänglich, interoperabel, wiederverwendbar) im Sinne gängiger Open-Science- und -Access-Standards plädiert.
Wirtschaftlichkeit und Rahmenbedingungen
Open-Source-Hardware weist starke Überschneidungen zum Wertschöpfungsparadigma der Commons-based peer production auf. Neben den oben genannten Beiträgen zu Nachvollziehbarkeit, Verbraucherschutz und Kreislaufwirtschaft deuten verschiedene Untersuchungen auf deutliche Kostenersparnis durch Open-Source-Hardware hin. In den Bereichen der Microcontroller-Entwicklerboards und der additiven Fertigung habe die durchschnittliche Kostenersparnis durch offene Hardware gegenüber proprietären Lösungen bei 94 Prozent gelegen. Auch wenn für Hobbybastelnde und bisher niedrig-digitalisierte Unternehmen mitunter „hohe[n] Anforderungen an die Dokumentation“ bestehen, attestiert eine Studie der EU-Kommission ein Kosten-Nutzen-Verhältnis von über 1 zu 4. Die fallspezifische Studie eines Open-Source-MRT-Gerätes bezifferte die langfristige Ersparnis inklusive Maintenance durch Open Hardware für das Gesundheitssystem auf 1,8 bis 222 Millionen US-Dollar pro Jahr. Dabei kann Forschenden, die Open Hardware im Rahmen ihrer Open-Science-Bestrebungen schaffen, der Schritt von Prototyp zur Fertigung schwer fallen. Sie können von Kooperationen mit etablierten Unternehmen oder offenen Werkstätten profitieren. Chancen werden auch im Potential von Open-Source-Hardware für generatives Design mittels „künstlicher Intelligenz“ gesehen.
Es existieren verschiedene Geschäftsmodelle, um offene technische Dokumentationen wirtschaftlich zu machen (vgl. auch Open-Source-Software-Geschäftsmodelle). Gängig wird zwischen entwicklungszentrierten (Arduino), fertigungszentrierten (Sparkfun, Adafruit Industries) und dienstleistungszentrierten Modellen unterschieden. Unterstützende Erwerbsquellen können durch implementierende und fallspezifische Beratungsleistungen und Standardisierung erschlossen werden. Das REMODEL-Toolkit enthält Designsprints zur unternehmens- und produktspezifischen Anpassung von Geschäftsmodellen. Aus Perspektive des Marketings scheinen insbesondere Community-Building, Crowdsourcing, Ko-Kreation, Authentizität und aufrichtige Kommunikation von Produkteigenschaften und -unzulänglichkeiten entscheidende Prinzipien darzustellen. Deren Professionalisierung kann zudem zur gezielten Weiterentwicklung der Produkte beitragen. Daneben existieren qualitative Metriken zur Abschätzung der industriellen Adaption von Open Hardware. Außerdem gibt es Überlegungen zur Gewinnverteilung in Communities und bei Fremdfinanzierung.
Joshua M. Pearce merkte 2022 an, dass die strategische Förderung von Open Hardware durch Ersatz von Lieferketten, Technologiesouveränität und Weiteres einen Beitrag zur nationalen Sicherheit leisten könne. Ähnliches legte 2018 eine Studie des KIT-ITAS nahe. Allerdings ist es aufgrund der physischen Eigenschaften von Hardware schwieriger als bei Open-Source Software, nachhaltige Geschäftsmodelle zu etablieren, was für eine intensivere Förderung von OSH spricht, sei es durch öffentliche Finanzierung oder durch Crowdsourcing auf Plattformen wie Indiegogo, oder Kickstarter. Zudem wird vermutet, dass Open Hardware zur Beschleunigung der Technologieentwicklung und Kompetenzaufwuchs im Globalen Süden beitragen kann, indem dortigen Sachkundigen Zugang zu technologischen Grundlagen bietet, sowie eigene Entwicklungstätigkeit und Geschäftsaktivität ermöglicht. In den Ingenieur- und Naturwissenschaften eignet sich Open Hardware als neues Paradigma für Wertschöpfung und Technologietransfer, das „gerade auch Studierende und junge Wissenschaftler“ in den Prozess zum allseitigen Vorteil einbinde. Außerdem besteht die Möglichkeit der Gründung hochschulischer oder studentischer Unternehmen, die Open-Source-Hardware als lehrpraktische Übung entwickeln und vertreiben.
Rechtliche Grundlagen
Da Hardware häufig, anders als Software, nicht dem Copyright unterliegt, sind Open-Source-Hardware-Lizenzen mehr auf das Patentrecht als Wirkmechanismus fokussiert, anders als FOSS-Lizenzen, die auf dem Copyright fußen.
Freie Hardware kann je nach Projekt unterschiedlich weit freigegeben werden. Viele Hersteller geben oft nur Teile ihrer Implementierungen für eigene Projekte der Benutzer weiter. Beispielsweise wurde nur die Firmware des WLAN-Routers WRT54GL von Linksys (gezwungenermaßen) unter GPL gestellt; vom Roboterstaubsauger Roomba wurde nur die Programmierschnittstelle veröffentlicht.
Zudem können voneinander unabhängige Teile eines Projekts anderen Lizenzen unterstehen. Dies bedeutet, dass etwa Schnittstellen, Software und Hardware unterschiedliche Lizenzen haben können.
Open-Hardware-Lizenzen
Eine geeignete Lizenzierung wird als unabdingbar für den Erfolg und positiven Einfluss von Open Hardware erachtet. Bekannte und in Verwendung befindliche Open-Source-Hardware-Lizenzen sind:
Die „TAPR Open Hardware License“: geschrieben von Anwalt John Ackermann und von OSS-Größen Bruce Perens und Eric S. Raymond, abgesegnet nach Diskussionen mit Hunderten aus der Community
„Balloon Open Hardware License“: geschrieben und verwendet vom „Balloon Project“
obwohl ursprüngliche eine eigene Lizenz, verwendet OpenCores nun die LGPL
Hardware Design Public License: geschrieben von Graham Seaman, Administrator von Opencollector.org
CERNs CERN Open Hardware License (CERN OHL) ursprünglich für die Verwendung mit dem Open Hardware Repository
Solderpad License, eine Variante der Apache License version 2.0, erweitert von Anwalt Andrew Katz um passender für Hardware zu sein.
Chumby-SDK- und HDK-Lizenz.
BSD-Lizenz, MIT-Lizenz, und andere permissive FOSS-Lizenzen.
Die Open Source Hardware Association empfiehlt sieben Lizenzen, die zur Open-source Hardware Definition kompatibel sind. Von den allgemeinen Copyleft-Lizenzen die GNU General Public License (GPL) und Creative Commons Attribution-ShareAlike, von den Hardware-spezifischen Copyleft-Lizenzen die CERN Open Hardware License (CERN OHL) und TAPR Open Hardware License (TAPR OHL) und von den allgemeinen freizügigen Lizenzen die Free-BSD-Lizenz, die MIT-Lizenz und die Creative-Commons-Attribution-Lizenz. Openhardware.org empfahl 2012 die TAPR Open Hardware License, die Creative Commons BY-SA 3.0 und die GPL-3.0-Lizenz.
Richard Stallman (GNU und FSF) empfiehlt für freie Hardware verschiedene Lizenzen für verschiedene Anwendungsfälle. Für allgemeine Baupläne die GNU GPL v3 (oder später), die Apache-Lizenz v2.0 und die CC-0 (eine Public-Domain-ähnliche Lizenz). Für funktionale 3D-Baupläne die GNU GPL v3 (oder später), die Apache-Lizenz v2.0 und die Lizenzen CC-BY-SA, CC-BY oder CC-0. Für dekorative Designs die GNU GPL v3 (oder später), die Apache-Lizenz v2.0, die CC-0 oder jede andere Creative-Commons-Lizenz (auch die proprietären).
Ein Gutachten der Europäischen Kommission erachtete Open-Hardware-Lizenzen als Wege zur Zusammenführung der Community-Ziele und der Offenlegung des sozioökonomischen Potentials von Open Hardware. Also solche stünden sie nicht im Widerspruch zu kommerziellen Anwendungen. Neben eines Lizenz-Frameworks sollten auch Dokumentationsstandards und Zertifizierungsprogramme breitenwirksamer gefördert werden.
Haftung
Die gängigsten Open-Hardware-Lizenzen geben einen vollständigen Haftungsausschluss für veröffentlichte technische Dokumentationen an. Auch wenn länderspezifische Sonderregelungen auftreten können, nutzen anwendende Entitäten resultierende Produkte damit auf Vertrauensbasis, wie sich dies auch bei anderen Gemeingütern vollzieht (Commoning). Begutachtungs- und Lizenzierungsverfahren für einzelne Produkte können das Nutzungsrisiko verringern. Werden materielle Open-Hardware-Erzeugnisse in Umlauf gebracht, gelten in der Regel die lokal üblichen Gesetzgebungen zur Produkthaftung.
Branchenkundige der Bucerius Law School und Open Knowledge Foundation Germany weisen darauf hin, dass eine Anfechtung der Haftungsausschlüsse besonders bei Körperschäden nie ausschließbar ist, auch wenn Designern ein Verstoß der Sorgfaltspflicht nachgewiesen werden muss. Sie empfehlen die Einhaltung gängiger Normen, CE-Zertifizierung und eine dokumentierte FMEA (Auswirkungsanalyse) zur maximalen rechtlichen Absicherung.
Normung und Zertifizierung
DIN SPEC 3105 soll künftig als Handreichung und industrieller Entwicklungsstandard für Open-Source-Hardware dienen. Die am 18. Juni 2020 erschienene, zweiteilige Spezifikation ist die erste DIN-Kernveröffentlichung unter Creative-Commons-Lizenz. Sie sieht zudem eine community-basiertes Review-Verfahren vor. Die Spezifikation soll in EN- und ISO-Normen übertragen werden.
Über die Open Source Hardware Association (OSHWA) können Produkte und deren technische Dokumentation als Open Hardware zertifiziert werden. Die Halbautomatisierung, beispielsweise auf Basis von MediaWiki-Artikeln, befindet sich in Erprobung (Stand: Ende 2022).
Geschichte
Erste Hardware-orientierte „Open-Source“-Aktivitäten wurden 1997 von Bruce Perens gestartet, dem Autor der Open Source Definition, Mitbegründer der Open Source Initiative und Funkamateur. Er startete das Open Hardware Certification Program mit dem Ziel, Hardwareherstellern die Selbstzertifizierung ihrer Produkte als „offen“ zu ermöglichen. Kurz nach dem Start von Perens’ Programm startete David Freeman das Open Hardware Specification Project (OHSpec) als weiteren Versuch eine freie Computing-Plattform als Alternative zu proprietären Plattformen zu etablieren. 1999 versuchten drei weitere Enthusiasten, die Open-Source-Philosophie auf Maschinendesign zu übertragen, gründeten die Open Design Foundation (ODF) als gemeinnützige Organisation und entwickelten die „Open Design“-Definition. Jedoch verliefen diese Aktivitäten alle nach einiger Zeit im Sande.
Mitte der 2000er wurde Open-Source-Hardware jedoch wiederbelebt durch das Auftauchen einiger hochprofiliger und erfolgreicher Projekte und Firmen wie OpenCores (bekannt für OpenRISC), RepRap (3D-Drucker), Arduino, Adafruit und SparkFun. Darauf reagierend, reaktivierte Perens seine Website openhardware.org 2007.
Die 2006 erschiene Maker's Bill of Rights, ein Ethikkodex der Maker-Bewegung, hielt die Motivation zur freien Veröffentlichung der technischen Dokumentationen der DIY-Produkte schriftlich fest. Das Open Graphics Project, ein Versuch einen freien und offenen 3D-Graphikchip und eine 3D-Referenzkarte zu entwickeln, führte 2007 zur Gründung der Open Hardware Foundation (OHF).
Die Tucson Amateur Packet Radio Corporation (TAPR), eine 1982 gegründete Amateurradio-Organisation, welche die Weiterentwicklung der digitalen Amateurradiotechnologie vorantreiben will, erschuf 2007 die erste Open-Hardware-Lizenz, die TAPR Open Hardware License. Die OSI mit Eric S. Raymond äußerte Bedenken zu der neuen Lizenz und entschied, sie nicht zu reviewen.
2010 im Umfeld des Freedom Defined-Projekts wurde die Open Hardware Definition als kollaborative Arbeit vieler erstellt, und erzielte breite Akzeptanz dutzender Organisationen und Firmen (Stand 2016).
Im Juli 2011 veröffentlichte das CERN (European Organization for Nuclear Research) eine eigene Open-Source-Hardware-Lizenz, die CERN Open Hardware License. Javier Serrano, ein Ingenieur bei CERNs Beams Department und Gründer des Open Hardware Repository, ließ dazu verlauten: “By sharing designs openly, CERN expects to improve the quality of designs through peer review and to guarantee their users – including commercial companies – the freedom to study, modify and manufacture them, leading to better hardware and less duplication of efforts”. Obwohl ursprünglich entwickelt um CERN-spezifische Ansprüche zu erfüllen, wie die Verfolgung der Auswirkung der Forschung des CERNs, kann sie in ihrer mehrfach angepassten Form nun von jedermann gut für beliebige Open-Source-Hardware verwendet werden.
Auf dem Open Hardware Summit 2011 kam es zu erhitzten Diskussionen über Lizenzen und über das, was Open Source Hardware ausmacht, als Folge sagte sich Bruce Perens von den bisherigen gemeinsamen Bemühungen und Ergebnissen wie der OSHW-Definition los. Bruce Perens reaktivierte Openhardware.org mit einer gleichnamigen Organisation welche „Open Hardware“ vertritt, trotz inhaltlicher Übereinstimmung mit der Open Source Hardware Definition, auf Basis der Open Source Definition und den „Vier Freiheiten“ der Free Software Foundation. Jedoch ist seit 2014 Perens openhardware.org nicht mehr online und die Organisation scheint alle Aktivitäten eingestellt zu haben.
Die Open Source Hardware Association (OSHWA) auf oshwa.org vertritt „Open Source Hardware“, agiert als Zentrum für Open-Source-Hardware-Aktivitäten aller Art und Genres und kooperiert intensiv mit Entitäten wie TAPR, CERN und OSI. Die OSHWA wurde im Juni 2012 als Organisation in Delaware, USA etabliert und wurde im Juli 2013 gemeinnützig. Nach Querelen über Trademark-Überschneidungen zwischen der OSHWA und der OSI, unterzeichneten beide Organisationen 2012 eine Koexistenzvereinbarung.
2012, nach Jahren skeptischer Distanz zu der Idee der Relevanz von freien Hardwaredesigns, begann die Free Software Foundation ein „Respects Your Freedom“- Zertifizierungsprogramm (RYF). Es soll die Entwicklung und die Verbreitung von freier Hardware ermutigen, die ein Augenmerk auf die Rechte und Privatsphäre des Endnutzers haben soll. Die Kampagne hat bis jetzt einen nur begrenzten Erfolg mit sechs Geräten erzielt, auch wurde die Kampagne für das Vermengen politischer Aktivitäten mit einem Hardwarezertifikat kritisiert; die FSF fordert für das Zertifikat die Akzeptanz und Verwendung der im FOSS-Umfeld umstrittenen FSF-Terminologie. Das FSF-Projekt Replicant schlug 2016 auch eine „freie Hardware“-Definition (anstelle der OSHWA-„Open Source Hardware“-Definition), abgeleitet von den „Vier Freiheiten“ der FSF, vor.
Seit 2015 richtet Xilinx die Xilinx Open Hardware Design Challenge aus. Teilnehmende sind angehalten, ihre technische Dokumentation auf GitHub zu veröffentlichen oder anderweitig die Wiederverwendbarkeit sicherzustellen.
Die Alfred P. Sloan Foundation finanziert den 2020 gegründeten THING Tank [sic!] des Wilson Centers. 2021 schlugen Forschende der TU Berlin und des IÖW zur Förderung von Open Hardware und Nachhaltigkeit die Einrichtung eines europäischen Open Technology Funds nach US-Vorbild vor. Ab Frühjahr 2022 schreibt die Open Knowledge Foundation Deutschland über den Prototype Fund Hardware Projektförderung für Open-Source-Hardware aus. In Deutschland betreiben insbesondere die Technische Universität Berlin und die Berlin University Alliance (BUA), sowie Helmut-Schmidt-Universität Hamburg und die Hochschule für angewandte Wissenschaften Hamburg dezidierte Open-Hardware-Forschung (Stand: Anfang 2022).
Gemeinsam mit SkyWater Technology entwickelt Google eigene Open-Hardware-Chips und stellt das aus OpenRoad-EDA (DARPA) und anderen Software-Tools zusammengesetzte Process Design Kit (PDK) bereit. Personen können über das Programm eigene Chip-Designs einreichen, die bei Erfolg mit Globalfoundries gefertigt werden. Etwa seit 2021 entwickelt Apple auf RISC-V beruhende Hardware, die ARM-Architekturen ablösen soll.
Anwendungsbeispiele
Grundlagen, Mobilität und Energie
Auch wenn Open-Source-Hardware häufig viel mit Open-Source-Software gemein hat, kann „Open Hardware“ jedoch auch weit entfernt von Softwaretechnik stattfinden: Beispielsweise versucht das Projekt „OpenSource Car“ (OScar) freie Baupläne für ein Auto zu entwickeln, also ein frei verfügbares „Rezept“ zum Selberbauen. Sono Motors will zumindest die Dokumentation nicht sicherheitsrelevanter Ersatzteile des Modells Sono Sion lizenzfrei zur Verfügung stellen (reSono). Noch weitergehend erfolgt dies bei Thingiverse, hier werden Objekte als 3D-druckbare CAD-Dateien zur Verfügung gestellt. Das Projekt „Solar“ versucht, in Entwicklungsländern günstige Selbstbau-Solarsysteme zu verbreiten, auch um kochen und heizen ohne Feuerholz zu ermöglichen. Die indische Regierung möchte die Entwicklung eines offenen Batteriemanagementsystems für Elektro-Kleinfahrzeuge fördern (Stand: Mitte 2022).
Neben dem RepRap (FDM-Verfahren), der als Grundlage für weitere kommerzielle Geräte von Prusa und anderen diente, existieren mit BeamMaker (DLP) und anderen zahlreiche weitere, offen dokumentierte 3D-Drucker verschiedenster Fertigungsverfahren.
Informationstechnik, Haushalts- und Unterhaltungselektronik
Die Projekte Libreboot (enthält im Gegensatz zu coreboot keine proprietären Bestandteile mehr) und coreboot (ehemals LinuxBIOS) mit dem Ziel, proprietäre BIOSe zu ersetzen, werden manchmal auch der freien Hardware zugeordnet, da das BIOS aus historischer Perspektive der Hardware zugeordnet war. Während zu den Anfängen der Computer das BIOS vollständig in einem OTP-ROM gespeichert und somit untrennbar in der Hardware verankert war, ist dieses inzwischen, analog zu jeder anderen Software, vollständig austauschbar.
Um 2002 stellte John Hey das freie Heyphone, ein auf die Höhlenrettung optimiertes Funkgerät, vor. Als einer der ersten Computer in Serienproduktion will das gemeinnützige Projekt 100-Dollar-Laptop alle seine Computer mit coreboot ausstatten. Bei einer geplanten Produktionsmenge von 100 bis 200 Millionen Stück soll das BIOS wohl insbesondere in den Entwicklungs- und Schwellenländern große Verbreitung finden und damit einen Beitrag zur Entwicklungshilfe leisten. Am 14. Februar 2006 hat die Firma Sun Microsystems überraschenderweise das Design ihrer bekannten SPARC-Prozessorarchitektur unter dem Namen OpenSPARC gänzlich offengelegt und unter der Freie-Software-Lizenz GNU General Public License der Allgemeinheit zugänglich gemacht. Unter dem Namen „Open Compute Project“ hat Facebook sowohl die Architektur seiner Server als auch eines Rechenzentrums freigegeben. Aufmerksamkeit erregt auch die Entwicklung des offenen Befehlssatzes RISC-V, einer Grundlagentechnologie für Prozessordesign. Um 2020 wurde in Berlin der MNT Reform als einer der offensten Laptops überhaupt vorgestellt. PINE64 entwickelt, vertreibt und veröffentlicht Teile der Dokumentation der eigenen Laptops, Smartphones, Tablets, Smartwatches und Wearables. Zoybar ist ein modulares Musikinstrument, das als Gitarre, Kontrabass oder Synthesizer konfiguriert werden kann. Monome ist ein Open-Hardware-MIDI-Controller. Manyone beabsichtigt die offene Entwicklung einer Handheld-AR-Spielekonsole. Es existieren diverse Open-Hardware-Staubsauger und -roboter.
Wissenschaft, Industrie und Raumfahrt
Im Zusammenhang mit den FabCity-Bestrebungen Hamburgs wird das Open Lab Starter Kit entwickelt, das auf Basis bestehender Projekte großräumige CNC-Fräsen, 3D-Drucker, 3D-Scanner, Schneideplotter und Lasercutter entwickeln und offen dokumentieren möchte. Mit dem Global Village Construction Set (GVCS) hat Open Source Ecology fünfzig verschiedene, auf Modularität optimierte Geräte und technische Anlagen entwickelt und offen dokumentiert, die zum Aufbau nachhaltiger, kleiner Siedlungen genügen sollen. Aus dem Bereich der Textilverarbeitung kommt das AYAB-Projekt (“All yarns are beautiful”, englisch für „Alle Garne sind schön“), welches die verbreiteten Strickmaschinen Brother KH-9xx mit einer modernen und offenen Arduino-basierten Ansteuerung versieht. In der Forschungslandschaft findet Open-Source-Hardware für verschiedenste bildgebende Verfahren, Mikroskopie, Mikrofluidik, sowie Messtechnik, Sensorik und Elektronik sowie ein diverserer Zugang zu wissenschaftlicher Tätigkeit vermehrte Beachtung. Dokumentiert ohne eindeutige Lizenz findet das Soft Robotics Toolkit für Kontinuumsrobotik im Bildungssektor Verwendung. Das ab 2008 am CERN in einem offenen Prozess entwickelte White Rabbit, ein „System für hochsynchrone Datenübertragung“ in verteilten Systemen, findet Anwendung „in Bereichen wie dem Finanzsektor [u.a. Deutsche Börse], der Telekommunikation, der Energiewirtschaft, dem IoT-Bereich, der Luftverkehrskontrolle“. Mit WikiHouse und anderen Initiativen findet der Ansatz zudem Eingang ins Bauwesen.
Im Bereich der Luft- und Raumfahrttechnik existieren diverse Open-Hardware-Satelliten nach dem Vorbild von Cubesat-Kleinsatelliten. 2016 war der erste von ihnen Teil einer ISS-Mission. Entsprechende Projekte wie UPSat (Universität Patras) und LibreCube organisieren sich beispielsweise über das Open Source Satellite Programme und die Libre Space Foundation. Zudem existieren Open-Hardware-Entwürfe einer Bodenstation. Die Vorhaben werden ein relevanter Schritt zur Professionalisierung des Multistakeholder-Feldes und der Raumfahrtprogramme kleinerer Staaten erachtet.
Kreislaufwirtschaft und Krisenresilienz
Das Projekt Precious Plastic stellt seit 2013 Anlagen für Kunststoffrecycling bereit. Freiwillige und Kleinunternehmende erhalten so die Möglichkeit, durch den Verkauf neuer Produkte eigene Arbeitsplätze zu schaffen, Einkünfte zu erzielen und Problembewusstsein für Umweltfragen zu schaffen. Das komplementäre Projekt Plastic Scanner entwickelt mobile Open-Hardware-Geräte zur Identifikation spezifischer Kunststoffe (Stand: 2022), beispielsweise zur Anwendung im Globalen Süden.
Im Zuge der der COVID-19-Pandemie entstanden seit dem Frühjahr 2020 mehrere Projekte zur Herstellung von einfachen Beatmungsgeräten und persönlicher Schutzausrüstung (PSA/PPE); Project Carola zur Herstellung einer Open-Source-Produktionslinie für Mund-Nasen-Schutzmasken im 20-Fuß-Container wurde eingestellt. Das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen (UNDP) stufte die Relevanz von Open Hardware bei der weltweiten Bereitstellung technischer Geräte als „signifikant“ ein.
Branchenveranstaltungen und Community
Es gibt mehrere Branchenveranstaltungen, die sich Open Hardware widmen: Die Open Source Hardware Association (OSHWA) richtet jährlich den Open Hardware Summit (OHS) aus und erklärte den Oktober zum jährlichen Open-Hardware-Monat (Open Hardware Month). Mit Unterstützung von FOSSASIA wird an verschiedenen Orten in Europa und Asien der Open Tech Summit ausgerichtet. Das Gathering for Open Science Hardware (GOSH) veranstaltete bisher das gleichnamige Zusammentreffen in Genf, Santiago de Chile, Shenzhen und Panama-Stadt. Weitere Community-Treffen erfolgen nach Aufruf im aktiver Unternehmen oder inhaltlich benachbarten Events (DEFCON, Chaos Communication Congress, Bits & Bäume, FIfFKon).
Siehe auch
FabLab, Freie Software, Freie Inhalte
Open Source Ecology
Die Kathedrale und der Basar
Zwerge auf den Schultern von Riesen
Literatur
Fachzeitschriften
Englischsprachige Open-Access-Journals mit Peer-Review sind beispielsweise:
Journal of Open Hardware
Journal of Open Engineering
HardwareX
Monografien
Alicia Gibb et al. (Hrsg.): Building Open Source Hardware. DIY Manufacturing for Hackers and Makers. Addison-Wesley Educational, 2014, ISBN 978-0-321-90604-5.
Joshua Pearce: Open-Source Lab. How to Build Your Own Hardware and Reduce Research Costs. Elsevier, Amsterdam 2013. ISBN 978-0-12-410462-4.
Sammelbände
A. Baier et al. (Hrsg.): Die Welt reparieren. Open Source und Selbermachen als postkapitalistische Praxis. Transcript, Bielefeld 2016. ISBN 978-3-8394-3377-5.
Weblinks
Sammlungen
OHO ist eine Suchmaschine für Open Source Hardware und Do It Yourself Projekte, die von der Technischen Universität Berlin und dem gemeinnützigen Verein Open Source Ecology Germany e. V. mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) und der französischen Agence Nationale de la Recherche (ANR) entwickelt wurde.
OSHdata erstellt Marktanalysen und sammelt Übersichtsdaten zum Open-Hardware-Sektor und bereitet sie grafisch auf.
Akteure
Deutschsprachige Open-Hardware-Allianz (OHA) mit Mailingliste
Gathering of Open Science Hardware (GOSH) versammelt Forschende aus Ingenieurwesen und Naturwissenschaften zur Förderung von Open-Source-Laborgeräten und -Versuchsaufbauten
Open Hardware Diversity Alliance ist eine aus dem RISC-V-Umfeld stammende Plattform für Gleichstellung und Diversität in der Open-Hardware-Branche
Sonstiges
Open Hardware Design Guide (Anleitung) für Einsteiger
Auflistung geeigneter Software für die Entwicklung und Fertigung von Open Hardware der Open Toolchain Foundation
Einzelnachweise
Hacken (Hardwareszene)
Hardware-Lizenz
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Q159172
| 139.283572 |
203004
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https://de.wikipedia.org/wiki/S%C3%BC%C3%9Fkartoffel
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Süßkartoffel
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Die Süßkartoffel (Ipomoea batatas, auch Batate, Weiße Kartoffel oder Knollenwinde genannt) ist eine Nutzpflanze, die zur Familie der Windengewächse (Convolvulaceae) in der Ordnung der Nachtschattenartigen (Solanales) gehört. Vor allem die unterirdischen Speicherwurzeln, teilweise die Laubblätter, werden als Nahrungsmittel genutzt. Ursprünglich stammt sie aus den tropischen Gebieten Südamerikas. Mit einer Jahresernte von etwa 92 Millionen Tonnen (Stand: 2018) befindet sie sich – nach Kartoffeln (Solanum tuberosum) und Maniok (Manihot esculenta) – auf dem dritten Platz der Weltproduktion von Wurzel- und Knollennahrungspflanzen. Der größte Produzent der Süßkartoffel ist die Volksrepublik China.
Mit der Kartoffel, die zur Familie der Nachtschattengewächse zählt, ist die Süßkartoffel nur entfernt verwandt.
Beschreibung
Oberirdische vegetative Teile
Die Süßkartoffel ist eine mehrjährige krautige Kletterpflanze, deren Stängel meist leicht sukkulent, selten schlank und krautig sind. Die Stängel liegen meist kriechend auf dem Boden auf und bilden an den Knoten Adventivwurzeln aus. Je nach Sorte kann die Gesamtlänge eines Stängels zwischen 0,5 und 4 Meter betragen, einige Kultivare bilden auch „Sprossen“ (botanisch exakter: neue junge Triebe) von bis zu 16 Meter Länge. Diese bilden jedoch keine unterirdischen Speicherorgane.
Die Laubblätter stehen schraubig entlang der Stängel. Der Blattstiel ist 5 bis 20 Zentimeter lang. Die Blattspreiten sind sehr variabel, 5 bis 13 Zentimeter lang, die Form ist herz-, nieren- bis eiförmig, rundlich oder dreieckig und spießförmig, der Rand kann ganzrandig, gezähnt oder oftmals auch 3- bis 7-fach gelappt, geschnitten bis geteilt sein. Meist sind die Blattflächen kahl, nur selten flaumig behaart, die Spitze ist abgerundet bis spitz. Die Blätter sind meistens grün gefärbt, jedoch können sie durch Einlagerung von Anthocyaninen besonders entlang der Blattadern violett gefärbt sein.
Wurzelsystem
Ausgehend von verschiedenen Typen von Wurzeln (den Speicherwurzeln, Faserwurzeln oder den Bleistiftwurzeln) bildet das Wurzelsystem der Süßkartoffel Seitenwurzeln aus. Die Faserwurzeln (dünne Adventivwurzeln) entstehen vor allem in internodialen Bereichen und weisen eine typische vierteilige Struktur auf, in der je vier Xylem- und Phloem-Stränge das Leitgewebe bilden. Die dickeren Wurzeln (Bleistiftwurzeln) hingegen weisen eine fünf- oder sechsteilige Struktur auf; sie entspringen in den Knoten der unterirdischen Teile der Sprossachse. In Abhängigkeit von den Lebensbedingungen ober- oder unterhalb der Erdoberfläche können die Bleistiftwurzeln zu Speicherwurzeln werden. Ist jedoch beispielsweise der Stickstoffgehalt der Erde zu hoch oder der Sauerstoffgehalt zu niedrig, können aus Bleistiftwurzeln auch wieder Faserwurzeln werden.
Fertig ausgebildete Speicherwurzeln können in ihrer Form zwischen nahezu kugelförmig bis hin zu lang spindelförmig variieren, ihre Länge liegt zwischen wenigen Zentimetern bis hin zu 30 cm. Auch das Gewicht schwankt entsprechend zwischen nur etwa 100 g und mehreren Kilogramm. Die Schale der Speicherwurzeln wird vom Periderm gebildet, unter dem sich ein Ring aus sekundären Leitgewebefasern befindet. Das Periderm wird von einer dünnen Korkschicht abgeschlossen, welche glatt oder unregelmäßig gerippt sein kann. Das in der Mitte der Speicherwurzel befindliche Speichergewebe wird unregelmäßig von Tracheiden, Siebröhren und Milchröhren durchzogen. Die Milchröhren beinhalten einen weißen, klebrigen Milchsaft. Sowohl in der Schale als auch im Inneren der Speicherwurzel werden verschiedene Carotinoide und Anthocyanine abgelagert, sodass die Färbung jeweils zwischen weiß, gelb, orange, rosa oder violett variieren kann.
Blütenstände und Blüten
Die zwittrigen, fünfzähligen und kurz gestielten Blüten stehen einzeln oder zu wenigen in gestielten, zymösen Blütenständen, die aus den Blattachseln entspringen und aufrecht stehen. Einige Sorten bilden nur selten oder nie Blüten aus. Die kleinen Kelchblätter sind länglich und spitz zulaufend und stachelspitzig sowie (selten nur 7) 10 bis 15 mm lang, meist fein behaart oder bewimpert. Die inneren drei sind etwas länger. Die 4 bis 7 cm lange, verwachsene und trichterförmige, gefaltete Krone, mit kürzerem Saum, kann lavendel bis violett-lavendel gefärbt sein, der Schlund ist meistens dunkler gefärbt, jedoch können auch weiße Kronen auftreten. Die eingeschlossenen Staubblätter sind ungleich lang mit drüsenhaarigen Staubfäden. Der zweikammerige Fruchtknoten ist oberständig mit einem relativ kurzen Griffel und zweilappiger, breiter Narbe. Es ist ein Diskus vorhanden.
Die Blüten öffnen sich vor Sonnenaufgang und bleiben für einige Stunden geöffnet. Noch am Vormittag schließen sie sich wieder und beginnen zu verwelken.
Früchte und Samen
Früchte werden nur selten ausgebildet, es sind eiförmige bis rundliche, kahle bis behaarte, bräunliche Kapselfrüchte, die eine Größe von 5 bis 8 Millimeter erreichen. Sie enthalten ein oder zwei (bis vier), einseitig abgeflachte Samen, die schwarz oder rotbraun gefärbt, etwa rundlich und kahl sind und eine Länge von etwa 3 bis 4 Millimeter erreichen. Die Samenschale ist sehr hart und wird nur schwer von Wasser und Sauerstoff durchdrungen, so dass die Samen schwer keimen.
Natürliche Transgenität
Eine genetische Untersuchung kultivierter Süßkartoffeln ergab, dass die Süßkartoffel eine natürliche transgene Nahrungspflanze ist. Die Chromosomenzahl beträgt 2n = 90.
Krankheiten und Schädlinge
Auslöser für Krankheiten von Süßkartoffeln sind vor allem Pilze und Viren. Eine spezialisierte Form des Fusarium oxysporum (f. sp. batatas) löst Stängelfäule aus und ist in den USA eine Bedrohung der kultivierten Süßkartoffel. In tropischen Gebieten ist eine nicht auf die Süßkartoffel spezialisierte Form des gleichen Pilzes Ursache für Fäule an gelagerten Süßkartoffelknollen. Auch Fusarium solani verursacht ein ähnliches Schadbild. Ceratocystis fimbriata verursacht Krankheiten im Bereich der Wurzeln und unterirdischen Sprossteile, kann jedoch die Knollen bei der Lagerung angreifen. Eine weiche Fäule bei gelagerten Knollen wird von verschiedenen Rhizopus-Arten ausgelöst. Unter den Viren, die die Süßkartoffeln befallen, befinden sich verschiedene Mosaikviren und der Internal Cork Virus.
Zu den Fadenwürmern (Nematoda), die am häufigsten Süßkartoffeln befallen, gehören verschiedene Meloidogyne-Arten und Rotylenchulus reniformis. Diese befallen die Faserwurzeln, was zu einer geringen Ausbildung von Speicherwurzeln führt. Unter den Insekten, die die Süßkartoffel schädigen, ist Cylas formicarius das wirtschaftlich bedeutendste. Sowohl Larven als auch adulte Tiere fressen an den Wurzeln und auch an gelagerten Süßkartoffeln. Vor allem in trockeneren Regionen Südamerikas, der Karibik und im pazifischen Raum ist Euscepes postfasciatus als Schädling bedeutend, seine Larven und adulten Tiere ernähren sich von Wurzeln und Sprossteilen. Durch die Larven beider Insekten wird in den Knollen die Produktion von bitteren und giftigen Terpenoiden (Ipomeamaron, Ipomeamaronol, Ipomeanin, 4-Ipomeanol) ausgelöst, wodurch die Süßkartoffeln für den Menschen ungenießbar werden. In Indien, Malaysia und China ist zudem Omphisa anastomosalis verbreitet und richtet dort ähnlich großen Schaden an wie Cylas formicarius.
Mäuse können durch Fraßtätigkeit große Schäden anrichten.
Verbreitung
Neuere Forschungen legen nahe, dass die Gattung Ipomoea im Paläozän in Asien entstanden ist. Laut Alexander von Humboldt ist die Wildform von Ipomoea batatas in Mittelamerika beheimatet. Sie wurde als Kulturpflanze von allen lateinamerikanischen Hochkulturen verwendet. Nach Südostasien wurde sie nach heutigen Erkenntnissen von den Spaniern im 16. Jh. gebracht, die sie in ihrer Kolonie auf den Philippinen eingeführt haben.
Freigelassene afrikanische Sklaven brachten die Süßkartoffel von Amerika nach Afrika. Sie wird heute in fast allen wärmeren Ländern der Tropen, Subtropen und gemäßigten Zonen der Erde angebaut.
In Deutschland ist der Bekanntheitsgrad der Süßkartoffel in den letzten Jahren gestiegen. Die bedeutendsten Lieferanten für den deutschen Markt sind die Niederlande und Spanien.
In Neuseeland, den anderen pazifischen Inseln und in Peru ist die Süßkartoffel als Camote oder auch als Kumara bekannt. Besonders schmackhaft sind sie als Pommes frites (Camote frito).
Systematik
Es können mehrere Varietäten unterschieden werden:
Ipomoea batatas var. apiculata : Sie kommt nur im mexikanischen Bundesstaat Veracruz vor.
Ipomoea batatas var. batatas: Die Heimat ist Mexiko.
Kultivierung
Vermehrung
Die Vermehrung der Süßkartoffel kann auf drei Wegen vorgenommen werden: durch Samen, durch Sprossstecklinge und durch die Speicherwurzeln. Da nur wenige Samen gebildet werden und diese schlechte Keimfähigkeiten besitzen, ist die sexuelle Vermehrung wirtschaftlich nicht von Bedeutung. Meist werden die Pflanzen durch etwa 30 bis 45 mm lange Sprossstecklinge vermehrt. Bei den Stecklingen werden die untersten Blätter entfernt und sie werden auf etwa 2/3 der Länge schräg in das Substrat gesteckt, so dass sich neue Wurzeln bilden können.
Um aus den Speicherwurzeln neue Pflanzen zu ziehen, werden meist mehrere Süßkartoffeln eng nebeneinander in Substrat gelegt. Aus den Wurzeln entstehen neue Sprosse, die, sobald sie eine Länge von 22 bis 30 cm erreicht haben, von den Speicherwurzeln abgeschnitten werden können, um sie auszupflanzen.
Anbau
2018 wurden weltweit 91.945.356 Tonnen Süßkartoffeln von einer Anbaufläche von 8.062.737 Hektar geerntet. Der durchschnittliche Hektarertrag lag bei 114,04 Dezitonnen. Größter Produzent von Süßkartoffeln war die Volksrepublik China mit einer Jahresernte von 53 Millionen Tonnen, gefolgt von Malawi mit etwa 5,7 Millionen Tonnen und Nigeria mit 4,0 Millionen Tonnen. Die Jahresernte in Europa betrug zum Vergleich 93.432 Tonnen.
Die Hauptanbaugebiete der Süßkartoffel liegen zwischen 40° Nördlicher Breite und 32° Südlicher Breite. Am Äquator liegen die Anbaugebiete in Höhenlagen zwischen 0 und 3000 Metern. Optimale Wachstumsbedingungen herrschen bei einer Temperatur von 24 °C oder darüber, bei Temperaturen unter 10 °C ist das Wachstum stark eingeschränkt, bei Frost sterben die Pflanzen ab.
Die Pflanzen werden auf Erdhügeln oder in Erdwällen gepflanzt, um eine gute Durchlässigkeit des Bodens für Wasser zu gewährleisten. Erdhügel sollten dabei einen Durchmesser von etwa 60 cm haben und 90 bis 120 cm auseinander stehen, Erdwälle werden vor allem bei maschineller Bewirtschaftung genutzt, diese sind dann etwa 45 cm hoch und stehen in einem Abstand von 90 bis 120 cm, wobei die Pflanzen etwa alle 30 cm gesetzt werden können.
Innerhalb Europas wird die Batate hauptsächlich in Spanien, Portugal und Italien kultiviert. Der Anbau in Deutschland spielte aufgrund des hohen Wärmeanspruches traditionell keine Rolle. 2013 gab es eine erfolgreiche Studie zum Freilandanbau an der Hochschule für angewandte Wissenschaften Weihenstephan-Triesdorf. Im Jahr 2020 betrug die Anbaufläche etwa 200 Hektar, und der Ertrag zwischen 3.000 und 5.000 Tonnen.
Wirtschaftliche Bedeutung
Im Jahr 2021 wurden laut Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation (FAO) der Vereinten Nationen weltweit 88.867.913 Tonnen Süßkartoffeln geerntet. Die zehn größten Produzenten ernteten zusammen 82,2 % der Welternte.
Inhaltsstoffe
Der süßliche Geschmack der Bataten oder Süßkartoffeln beruht auf ihrem hohen Gehalt an Zucker. Darüber hinaus enthält die Knolle vor allem die Bataten- oder Süßkartoffelstärke. Bei einigen Sorten findet sich Blausäure in nachweisbarer, aber nach richtiger Zubereitung (Erhitzen) in für den Erwachsenen unbedenklicher Menge.
Studien zufolge können Wirkstoffe aus der Süßkartoffel die Insulinsensitivität verbessern. In Patienten mit Diabetes Typ 2 wurde eine Verbesserung der HbA1c-Werte nachgewiesen; für eine evidenzbasierte Empfehlung zum Einsatz der Süßkartoffel bei Diabetes Typ 2 reichen die Ergebnisse bisher (Stand: 2013) nicht aus.
Verwendung
Küche
Die Knollen werden ähnlich wie Kartoffeln in gewaschenem und gegebenenfalls geschältem Zustand gekocht, gebacken, frittiert, überbacken oder gebraten. Die ungeschälte Zubereitung im Ofen ist ebenso möglich. Der Geschmack bleibt dabei gut erhalten. Auch im Mikrowellenherd kann sie mit Schale gegart werden. Gebackene Süßkartoffeln gehören zum traditionellen Truthahn-Menü, das in den USA zu Thanksgiving gegessen wird. In der asiatischen, vor allem in der koreanischen Küche, werden Süßkartoffeln vielfach verwendet und damit auch Nudeln hergestellt, die dort zum beliebten Japchae zubereitet werden. In Japan werden Süßkartoffeln für Süßspeisen wie den Yōkan verwendet, oder als geröstete Süßkartoffel als Zwischenmahlzeit gegessen. Ein typisches alkoholisches Getränk, das daraus gewonnen wird, ist Imojōchū in Japan und Soju in Korea. Das Kraut der Süßkartoffel wird in Afrika ähnlich wie Spinat zubereitet und oft als Beilage zu den Bataten serviert.
Rohverzehr ist auch möglich (wenn man sich vorher vergewissert, dass man Exemplare mit geringem Blausäuregehalt verwendet).
Weltraumexpedition
Da die Süßkartoffel hohe Mengen an Energie pro Fläche und Anbauzeit und Nährstoffen speichert und sich gut an äußere Umstände anpassen kann, wurde sie von der NASA als mögliche Nutzpflanze für längere Weltraumexpeditionen, beispielsweise zum Mars, ausgewählt.
Zierpflanze
Die Schlingpflanze kann auch zur Begrünung von kahlen Stellen eingesetzt werden und zur Verschönerung von Hausfassaden.
Trivialnamen
Für die Süßkartoffel bestehen die weiteren deutschsprachigen Trivialnamen Bataton, Pataten, Patatos und Potaten.
Literatur
Franz Joseph Märter: Naturgeschichte der Bataten, süßen oder spanischen Kartoffeln. Nebst Bemerkungen und Versuchen über die Cultur derselben. Carl Schaumburg, Wien 1797 ().
Jennifer A. Woolfe: Sweet Potato: An Untapped Food Resource. Cambridge University Press, 1992. ISBN 978-0-521-40295-8.
Daniel F. Austin: Flora of Panama, Part IX: Family 164. Convolvulaceae. In: Annals of the Missouri Botanical Garden. Band 62, S. 157–224.
Weblinks
Ipomoea batatas bei Useful Tropical Plants.
Sweet potato bei Website von Prof. Francesco Fiume, Roma, Italy.
Süßkartoffel bei Lebensmittellexikon.
Wenn Süßkartoffeln eine Reise tun auf wissenschaft.de, 22. Mai 2007.
Einzelnachweise
Prunkwinden
Nutzpflanze
Wurzelgemüse
Blattgemüse
Kletterpflanze
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Q37937
| 161.037173 |
6042
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https://de.wikipedia.org/wiki/1948
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1948
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Im Jahr 1948 steht vor allem die Zuspitzung der alliierten Gegensätze in der deutschen Frage im Mittelpunkt des Weltinteresses, die einen dramatischen Höhepunkt mit der Währungsreform und der sich unmittelbar daran anschließenden Berlin-Blockade erlebt, der die Westmächte mit der Errichtung der Berliner Luftbrücke begegnen. Einen weiteren Krisenherd bildet der Nahe Osten, wo der UN-Teilungsplan für Palästina vom Vorjahr die jüdisch-arabischen Spannungen nicht beilegen konnte; sie entladen sich stattdessen im Palästinakrieg, als das britische Mandat endet und Israel seine Unabhängigkeit ausruft.
Überblick
Deutschland
In der Deutschlandfrage treten die unterschiedlichen Interessen zwischen den westlichen Alliierten und der Sowjetunion immer deutlicher zutage. Nachdem im Februar in der Tschechoslowakei die Kommunisten unter Klement Gottwald die Macht übernommen hatten, befürchtet man im Westen, dass eine ähnliche Entwicklung auch für Berlin und Deutschland drohen könnte. Auf der Londoner Sechsmächtekonferenz erfolgt daher eine erste bedeutende Weichenstellung in Richtung auf die geplante Etablierung eines westdeutschen Staates, was von der sowjetischen Seite als Verstoß gegen das Potsdamer Abkommen gewertet wird und zum Auszug des sowjetischen Militärgouverneurs Sokolowski aus dem Kontrollrat führt. Umgekehrt behindert die sowjetische Seite zunehmend den freien Zugang nach West-Berlin und greift auch direkt in die Autorität des Berliner Magistrats unter Louise Schroeder ein, indem der Polizeiapparat gezielt kommunistisch ausgerichtet wird.
Die Ereignisse eskalieren, nachdem in den drei Westzonen mit der D-Mark eine neue Währung eingeführt wird, was dort zwar das Ende der Rationierungswirtschaft beschleunigt, zugleich aber die sowjetische Zone, wo zunächst weiterhin die Reichsmark im Umlauf ist, mit einer Inflation bedroht. Trotz der sowjetischen Warnungen wird die D-Mark wenige Tage später auch in West-Berlin eingeführt. Im Osten reagiert man darauf mit der Schließung der Land- und Wasserwege zwischen den Westzonen und West-Berlin; auch die Stromzufuhr für die drei Westsektoren wird gekappt. Der dramatische Hilfsappell Ernst Reuters an die Völker der Welt trägt dazu bei, dass die Westmächte alle Anstrengungen unternehmen, West-Berlin über die Luft zu versorgen.
Unterdessen werden konkrete Schritte für eine Verfassungsgebung für die drei Westzonen unternommen. Die Rahmenbedingungen dafür werden von den Westmächten in den Frankfurter Dokumenten vorgegeben; nach ersten vorbereitenden Konsultationen in der Rittersturz-Konferenz und dem Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee nimmt der Parlamentarische Rat in Bonn seine Arbeit auf, die schließlich in der Ausarbeitung des Grundgesetzes – die Bezeichnung wurde gewählt, um den provisorischen Charakter der Staatsgründung zu betonen, deren Endziel die staatliche Einheit Deutschlands sein sollte – gipfelt.
Palästina
Im zweiten großen Krisenherd des Jahres, Palästina, herrschte bereits faktisch seit langem ein latenter Bürgerkrieg zwischen der arabischen und der durch die Einwanderung aus Europa zahlenmäßig rasch zunehmenden jüdischen Bevölkerung. Zum einen war die britische Mandatsmacht häufig Ziel von Anschlägen, zum anderen waren Angriffe zwischen Juden und Arabern an der Tagesordnung. Das offizielle Ende des britischen Mandates am 15. Mai ließ die Situation weiter eskalieren und die israelische Seite versuchte, durch die Ausrufung eines eigenen Staates am 14. Mai (der 15. war ein Sabbat) dem arabischen Angriff zu begegnen. Zunächst befand sich die israelische Seite, trotz der unmittelbar erfolgten Anerkennung des neuen Staates durch die Supermächte, in der Defensive; von Norden drangen die Armeen Libanons und Syriens nach Galiläa vor, irakische und jordanische Verbände eroberten das Westjordanland und vom Sinai aus stießen ägyptische Truppen Richtung Tel Aviv vor. Nach einiger Zeit gelang es den Israelis jedoch, nicht zuletzt durch den Aufbau einer eigenen Luftstreitmacht aus tschechischen Beständen, Boden gut zu machen, die Straße zwischen Tel Aviv und Jerusalem zu sichern und in Galiläa den Gegner zurückzudrängen. Internationale Vermittlungsversuche fruchteten zunächst wenig, im Gegenteil, der UN-Kommissar für Palästina, Graf Bernadotte, fiel wegen seines Engagements für die palästinensischen Flüchtlinge einem Anschlag jüdischer Extremisten zum Opfer.
Griechenland
Im Griechischen Bürgerkrieg konnten die Regierungstruppen Fortschritte gegen die kommunistischen Aufständischen erzielen.
China
In China erobert die Volksbefreiungsarmee Maos die Mandschurei und bedroht Peking, das zunächst noch von nationalchinesischen Truppen unter dem zunehmend autokratisch regierenden Chiang Kai-shek gehalten wurde.
Korea
In Korea festigte sich die staatliche Teilung durch die Gründung der Volksrepublik im Norden und der Republik unter Rhee Syng-man im Süden; der Abzug der US-amerikanischen bzw. sowjetischen Truppen ließ hier aber zunächst die Hoffnung aufkommen, dass ein bewaffneter Konflikt nicht zum Ausbruch kommen würde. Beginn des Jeju-Massakers.
Indien
Auf dem indischen Subkontinent dauerten die Auseinandersetzungen zwischen den beiden jungen Staaten Indien und Pakistan um Kaschmir an. Die Ermordung Mahatma Gandhis, der für den Ausgleich zwischen beiden Staaten eingetreten war, durch einen radikalen Hindu-Nationalisten ist symptomatisch für die Spannungen der Region. Der Nizam von Hyderabad, der wegen des hohen muslimischen Bevölkerungsanteils in seinem Land der Indischen Union zunächst noch ferngeblieben war, wird in einem einwöchigen Feldzug von indischen Truppen unterworfen.
Vereinigte Staaten
In den USA ist auf politischer Ebene das Verschärfen des Kalten Krieges deutlich spürbar. Für die anstehende Präsidentschaftswahl im November rechnen Umfragen mit einer klaren Niederlage für Amtsinhaber Harry S. Truman. Diesem gelingt es jedoch überraschend, seinen republikanischen Herausforderer Thomas E. Dewey zu besiegen. Im Juli sorgt Trumans präsidiale Verfügung zur Aufhebung der Rassentrennung in den Streitkräften für Aufsehen.
Ereignisse
Politik und Weltgeschehen
Januar
1. Januar: Enrico Celio wird erneut Bundespräsident der Schweiz.
1. Januar: Enrico De Nicola wird erster italienischer Staatspräsident.
1. Januar: Das GATT (General Agreement on Tariffs and Trade) tritt in Kraft.
1. Januar: Die republikanische Verfassung tritt in Kraft und macht Italien zur Republik.
1. Januar: In Großbritannien werden die Eisenbahngesellschaften verstaatlicht.
3. Januar: Einführung des Francs im Saarland.
4. Januar: Birma (seit 1989 Myanmar) erlangt seine Unabhängigkeit von Großbritannien.
27. Januar: Italien wird Mitglied in der UNESCO.
30. Januar: Mahatma Gandhi wird von dem nationalistischen Hindu Nathuram Godse erschossen.
30. Januar: Die Regierung Italiens erlässt ein Autonomiestatut für Südtirol.
31. Januar: Hunderttausende von Menschen finden sich zur Verbrennung des Leichnams von Mahatma Gandhi und der anschließenden Versenkung der Asche im Ganges ein.
Februar
2. Februar: Paul Ruegger wird Präsident des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK); er tritt die Nachfolge von Carl Jacob Burckhardt an.
2. Februar: Der zweite Wirtschaftsrat der Bizone tritt in Frankfurt am Main zusammen. Von den 104 Vertretern gehören je 40 der SPD bzw. der CDU/CSU an.
4. Februar: Ceylon wird unabhängig.
13. Februar: Aus dem Zusammenschluss der beiden Fußballvereine Kölner BC 01 und SpVgg Sülz 07 entsteht der 1. FC Köln.
14. Februar: In den Westzonen Deutschlands wird die bislang verbotene Produktion von Aluminium wieder zugelassen.
18. Februar: Éamon de Valera tritt nach 16 Jahren als irischer Ministerpräsident (Taoiseach) zurück, nachdem seine Partei Fianna Fáil die parlamentarische Mehrheit verliert. Sein Nachfolger wird John A. Costello.
19. Februar: In Nürnberg ergehen im Prozess gegen die so genannten Süd-Ost-Generale wegen Kriegsverbrechen auf dem Balkan während des Zweiten Weltkriegs hohe Haftstrafen gegen die Angeklagten.
22. Februar: Die Sowjetische Militäradministration schränkt den LKW-Verkehr zwischen den Westzonen und Berlin ein.
25. Februar: Februarumsturz: Der kommunistische Ministerpräsident der Tschechoslowakei, Klement Gottwald, ersetzt die zwölf zurückgetretenen bürgerlichen Minister seiner Regierung durch linientreue Funktionäre (Regierung Klement Gottwald II). Damit hat die kommunistische Partei die alleinige Macht im Land; sie errichtet eine stalinistische Diktatur.
26. Februar: In Göttingen wird die Max-Planck-Gesellschaft gegründet. Sie tritt die Nachfolge der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft an.
März
1. März: In Frankfurt am Main nimmt die Bank deutscher Länder ihre Arbeit auf. Sie ist zunächst für die Bizone, ab dem 25. März auch für die französische Zone zuständig.
7. März: Die Peronisten gewinnen die Wahlen in Argentinien.
10. März: Beim dritten Prager Fenstersturz stirbt zwei Wochen nach dem kommunistischen Februarumsturz der nichtkommunistische Außenminister Jan Masaryk. Ob er Suizid begangen hat, so die offizielle Version, oder gewaltsam aus einem Fenster des Palais Czernin gestoßen wurde, bleibt ungeklärt.
13. März: In Nicaragua wird wegen Unruhen der Ausnahmezustand ausgerufen.
17. März: Der Brüsseler Pakt wird unterzeichnet. Großbritannien, Belgien, die Niederlande, Luxemburg und Frankreich vereinbaren eine zunächst auf 50 Jahre angelegte Wirtschafts- und Verteidigungsgemeinschaft.
17. März: Der Volkskongress der Sowjetischen Besatzungszone beschließt die Bildung eines Volkskongresses als gesamtdeutsche Volksvertretung. Der Brüsseler Pakt wird kritisiert, zugleich die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze gefordert.
20. März: Der regierende Alliierte Kontrollrat kommt das letzte Mal zusammen. Sowjet-Marschall Sokolowski verlässt den Kontrollrat aus Protest darüber, dass die sowjetische Seite ungenügend über die Londoner Sechsmächtekonferenz informiert worden sei, die zudem die Vereinbarungen von Potsdam konterkariere.
20. März: In Singapur finden Parlamentswahlen statt.
26. März: Frankreich und Italien vereinbaren eine Zollunion.
28. März: Bei den Parlamentswahlen in Rumänien erreicht die Volksdemokratische Einheitsfront 93,2 Prozent der Stimmen
31. März: Das Gesetz über die Autonomie der Färöer wird vom dänischen König Frederik IX. unterzeichnet. Die Färöer erhalten am Folgetag eine weitgehende Autonomie innerhalb des Dänischen Königreichs.
April
3. April: US-Präsident Harry S. Truman unterzeichnet den Marshallplan. 5,3 Milliarden Dollar werden für Europa freigegeben, die westlichen Zonen Deutschlands erhalten davon rund 550 Mio.
3. April: Auf der südkoreanischen Insel Jeju kommt es zu einem Aufstand, der durch die Polizei und Armee niedergeschlagen wird. Bis Mai 1949 sterben bis zu 30.000 Menschen in diesem Konflikt.
6. April: In Nairobi findet die erste Tagung des Zentralparlaments von Britisch-Ostafrika statt.
7. April: Die Weltgesundheitsorganisation WHO wird gegründet.
9. April: In Deir Yassin werden über 100 palästinensische Araber von extremistischen Israelis ermordet.
10. April: Im Einsatzgruppen-Prozess werden von 24 Angeklagten 14 zum Tode verurteilt; vier dieser Todesurteile werden 1951 tatsächlich vollstreckt.
13. April: Rumänien gibt sich eine Verfassung nach sowjetischem Vorbild.
16. April: Gründung der Organisation für europäische wirtschaftliche Zusammenarbeit (OEEC).
19. April: Birma wird Mitglied bei den Vereinten Nationen.
20. April: Wiederaufnahme der Londoner Sechsmächtekonferenz über die Deutschlandpolitik.
23. April: Berliner Studenten fordern eine Freie Universität Berlin.
23. April: In der Sowjetischen Besatzungszone wird die Vereinigung Volkseigener Betriebe (VEB) gegründet.
28. April: El Salvador wird Mitglied in der UNESCO.
29. April: In der Sowjetischen Besatzungszone wird die Demokratische Bauernpartei Deutschlands gegründet.
30. April: In Bogotá wird der Amerikanische Vertrag über die friedliche Streitschlichtung unterzeichnet und die Organisation Amerikanischer Staaten gegründet, ihr gehören die 21 Nationen Amerikas an.
Mai
1. Mai: Nach einem Attentat auf den griechischen Justizminister Christos Ladas lässt die Regierung das Kriegsrecht verhängen und 213 Kommunisten hinrichten.
7. Mai: In der Tschechoslowakei tritt eine am sowjetischen Vorbild angelehnte Verfassung in Kraft.
7. Mai: In Den Haag versammeln sich 750 Delegierte aus 30 Staaten zu einem Europa-Kongress. Winston Churchill plädiert für die Einigung Europas, um als dritter Kraft neben den beiden Supermächten bestehen zu können.
10. Mai: In Südkorea finden Wahlen unter UN-Aufsicht statt.
11. Mai: Luigi Einaudi wird zum Staatspräsidenten Italiens gewählt.
14. Mai: Gründung des Staates Israel. Erster Ministerpräsident ist David Ben-Gurion. Der neue Staat wird rasch u. a. von den USA und der Sowjetunion anerkannt. Ägypten, Saudi-Arabien, Jordanien, Libanon, Irak und Syrien erklären dagegen Israel den Krieg (siehe Palästinakrieg).
18. Mai: In Nanjing kommt die Legislativversammlung der Republik China zusammen.
19. Mai: Der Deutsche Schriftstellerkongress zur 100-Jahr-Feier der Revolution von 1848 findet in der Frankfurter Paulskirche statt.
23. Mai: Auf Initiative der SED wird in der Sowjetischen Besatzungszone die Unterschriftenaktion Volksbegehren für Einheit und gerechten Frieden gestartet.
25. Mai: In der Sowjetischen Besatzungszone entsteht auf Betreiben der SED die National-Demokratische Partei Deutschlands (NDPD). Sie zählt zu den Blockparteien.
26. Mai: In Südafrika wird die Apartheidspartei, die Nationale Partei, bei der Parlamentswahl stärkste Kraft.
30. Mai: Bei den Parlamentswahlen in der Tschechoslowakei mit Einheitslisten wird die KP die stärkste Kraft.
31. Mai: Die israelischen Streitkräfte werden gebildet.
Juni
2. Juni: Einige Ärzte der NS-Zeit werden nach dem Urteil des Nürnberger Ärzteprozesses hingerichtet.
3. Juni: In einem ersten Referendum über die politische Zukunft Neufundlands gewinnt keine der zur Auswahl stehenden Alternativen die absolute Mehrheit. Daraufhin wird ein zweites Referendum für den 22. Juli 1948 angesetzt.
7. Juni: Als Ergebnis der Londoner Sechsmächtekonferenz werden die Londoner Empfehlungen beschlossen, in denen den Regierungen Großbritanniens, der USA, Frankreichs und der Beneluxstaaten die Rahmenbedingungen für einen zu gründenden westdeutschen Staat vorgelegt werden. Als Frankfurter Dokumente werden diese Bedingungen den westdeutschen Ministerpräsidenten Anfang Juli präsentiert. Die Konferenz beschließt außerdem, dass die drei Westzonen dem ERP-Programm beitreten.
8. Juni: Die Sowjetunion halbiert die Reparationsleistungen Ungarns und Rumäniens.
18. Juni: In Italien finden die ersten demokratischen Parlamentswahlen nach dem Zweiten Weltkrieg statt.
18. Juni: Wegen kommunistischer Unruhen verhängt die britische Kolonialmacht über Malaya das Notstandsrecht.
21. Juni: In den westlichen Besatzungszonen wird mit der Währungsreform die D-Mark eingeführt, die die Reichsmark ablöst.
22. Juni: Mit der Versenkung der Altalena gerät Israel an den Rand eines Bürgerkrieges.
23. Juni: Um der durch die Währungsreform der Westzonen ausgelösten Inflation zu begegnen, ordnet die Sowjetische Militäradministration einen Notenumtausch in ihrer Zone an; Marschall Sokolowski warnt vor der Ausdehnung der West-Reform auf die westlichen Sektoren Berlins.
23. Juni: Tumulte vor dem Berliner Stadthaus im Sowjetischen Sektor Berlins
24. Juni: Einführung der Westmark mit Aufdruck „B“ in den drei Westsektoren von Berlin
24. Juni: Beginn der Berliner Blockade
24. Juni: Die Außenminister des Ostblocks fordern die Viermächtekontrolle des Ruhrgebiets, die Einsetzung einer gesamtdeutschen Regierung und die Erfüllung der deutschen Reparationsverpflichtungen.
25. Juni: General Lucius D. Clay befiehlt die Errichtung der Berliner Luftbrücke zur Versorgung von West-Berlin. Über die geteilte Stadt hat die Siegermacht Sowjetunion eine Blockade verhängt.
26. Juni: Die erste Maschine der Berliner Luftbrücke, eine DC-4, landet in Berlin (Pilot: Jack O. Bennett).
27. Juni: Jugoslawien wird von der Mitgliedschaft im Kominform ausgeschlossen; dessen Sitz wird von Belgrad nach Bukarest verlegt.
28. Juni: Die britische Luftbrücke startet unter dem Namen „Plain Fare“.
Juli
1. Juli: Die Militärgouverneure der drei West-Alliierten übergeben den westdeutschen Ministerpräsidenten die Frankfurter Dokumente, in denen die Bedingungen für das zu schaffende Grundgesetz festgelegt sind.
3. Juli: Bildung der Kasernierten Volkspolizei in der Sowjetischen Besatzungszone.
5. Juli: In Großbritannien wird das Gesundheitswesen als National Health Service verstaatlicht.
8. Juli: Die Reparationsleistungen aus dem Westen Deutschlands in die Sowjetunion werden eingestellt.
8.–10. Juli: Auf der Rittersturz-Konferenz in Koblenz wird der Zusammenschluss der drei westlichen Besatzungszonen zur Bundesrepublik Deutschland beschlossen.
Seit Mitte Juli: Bau des neuen Flughafens Tegel in nur 85 Tagen.
15. Juli: Nach einem versuchten Attentat auf Palmiro Togliatti, den Chef der italienischen KP, kommt es landesweit zu Streiks.
16. Juli: Israelische Truppen erobern Nazareth; in Jerusalem kommt es zu heftigen Kämpfen. Die Straße von Tel Aviv nach Jerusalem mit den Städten Lydda und Ramla wird von den Israelis gesichert.
18. Juli: Im Israelisch-Arabischen Krieg wird ein Waffenstillstand vereinbart; er hält bis Mitte Oktober.
19. Juli: In Frankreich tritt das erste Kabinett Robert Schumans zurück; am 26. Juli übernimmt André Marie das Amt des Regierungschefs, bleibt aber nur sechs Wochen im Amt.
20. Juli: Rhee Syng-man wird Präsident Südkoreas.
22. Juli: In einem zweiten Referendum über die politische Zukunft Neufundlands stimmen 52,3 % der Abstimmenden für den Anschluss an Kanada.
25. Juli: In Großbritannien wird die Brotrationierung aufgehoben.
26. Juli: Mit der Unterzeichnung des Executive Order 9981 beendet US-Präsident Harry S. Truman die Rassentrennung in den US-amerikanischen Streitkräften.
29. Juli: Nach dem Ausscheren der jugoslawischen Kommunisten unter Josip Broz Tito aus der sowjetischen Hegemonie beschließt die moskautreue SED eine Politische Säuberung von entarteten und feindlichen Elementen aus der Partei.
31. Juli: Alfried Krupp von Bohlen und Halbach wird in Nürnberg zu zwölf Jahren Haft verurteilt, sein Vermögen wird eingezogen.
August
1. August: Die ersten Ausgaben der Zeitschriften Stern und Welt am Sonntag erscheinen.
10. August: Im Alten Schloss Herrenchiemsee tritt ein von den westdeutschen Ländern berufener Verfassungskonvent zusammen, der wichtige Vorarbeiten für die Arbeit des Parlamentarischen Rates leistet und der bis zum 23. August tagt.
13. August: Österreich wird Mitglied in der UNESCO.
15. August: Proklamation der Republik (Süd-)Korea.
20. August: Aufhebung der Personenkontrollen zwischen der französischen Besatzungszone und der Bizone.
23. August: In Amsterdam wird der Ökumenische Rat der Kirchen gegründet.
26. August: Die Berliner Oberbürgermeisterin Louise Schroeder (SPD) entlässt den Polizeipräsidenten Paul Markgraf (SED), woraufhin es zu Protesten der Sowjetischen Militäradministration und zu kommunistischen Demonstrationen kommt; die Einrichtung einer Bannmeile zum Schutz der Parlamentsarbeit lehnt die sowjetische Seite ab.
30. August: Der rumänische Geheimdienst Securitate wird gegründet.
30. August: Costa Rica erlangt die endgültige Unabhängigkeit.
September
1. September: Der Parlamentarische Rat wählt Konrad Adenauer zum Vorsitzenden.
4. September: Juliana wird nach der Abdankung ihrer Mutter Wilhelmina faktisch Königin der Niederlande; am 6. September leistet sie den Eid auf die Verfassung.
5. September: Robert Schuman wird erneut Premierminister Frankreichs. Er löst den am 27. August zurückgetretenen André Marie ab, bleibt selbst jedoch nur zwei Tage im Amt.
6. September: Nach Behinderung der Berliner Stadtverordneten durch den Sturm kommunistischer Demonstranten auf das Stadthaus ziehen die nichtkommunistischen Abgeordneten in den westlichen Teil Berlins um. Dies bedeutet das faktische Ende der einheitlichen Stadtregierung und -verwaltung für Berlin.
6. September: Iran wird Mitglied in der UNESCO.
6. September: Mit ihrer Inthronisation wird Königin Juliana Staatsoberhaupt in den Niederlanden. Sie folgt ihrer Mutter Wilhelmina nach, die zu ihren Gunsten abgedankt hatte.
9. September: Die Berliner Bevölkerung demonstriert zu Hunderttausenden vor dem Reichstag in Berlin für die Freiheit. Ernst Reuter appelliert an die Westmächte: „Schaut auf diese Stadt!“
9. September: Ausrufung der Demokratischen Volksrepublik Korea (Nordkorea), die den Anspruch erhebt, ganz Korea zu vertreten.
11. September: Die SPD hält in Düsseldorf ihren Parteitag für die Westzonen ab; Kurt Schumacher wird am 15. September zum Vorsitzenden gewählt.
11. September: Tod des pakistanischen Staatsgründers Muhammad Ali Jinnah, der in einem Mausoleum in Karatschi beigesetzt wird; neuer Staatschef wird am 14. September Khawaja Nazimuddin.
11. September: Nach dem Rücktritt von Robert Schuman als französischer Regierungschef am 7. September bildet Henri Queuille ein neues Kabinett.
12. September: Beginn der indischen „Operation Polo“ gegen den Staat Hyderabad. Der Nizam von Hyderabad, das vollständig innerhalb des indischen Territoriums liegt, hatte zunächst seine Unabhängigkeit bewahrt. Nach Übergriffen gegen Hindus greift die indische Zentralregierung ein und marschiert in Hyderabad ein, das nach acht Tagen militärisch unterworfen wird.
12. September: Beginn des Liaoshen-Feldzugs im Chinesischen Bürgerkrieg; kommunistischen Truppen gelingt binnen zwei Monaten die Eroberung der gesamten Mandschurei.
14. September: Ungarn wird Mitglied in der UNESCO.
15. September: Argentinien wird Mitglied in der UNESCO.
17. September: Der UN-Vermittler Folke Bernadotte wird von Mitgliedern der jüdischen Terror-Gruppe Lechi erschossen, nachdem er sich für das Rückkehrrecht der palästinensischen Flüchtlinge ausgesprochen hatte. Die Drahtzieher des Anschlags werden von der Regierung Israels amnestiert.
18. September: Mit 897 Flügen wird an diesem Tag der Rekord während der Berliner Luftbrücke erzielt.
18. September: Otto Nuschke wird zum Vorsitzenden der Ost-CDU gewählt.
Oktober
1. Oktober: Neugründung des Deutschen Patentamts in München.
2. Oktober: Die Sowjetunion beginnt in Sibirien mit dem Bau von Atomwaffen. Zugleich schlägt sie vor, alle Atomwaffen zu vernichten und eine internationale Kontrollbehörde einzurichten.
4. Oktober: Die Benelux-Staaten, Großbritannien und Frankreich bilden eine gemeinsame Verteidigungskommission. Die Generalstäbe tagen in London unter dem Vorsitz von Bernard Montgomery.
13. Oktober: Der Bergmann Adolf Hennecke fördert in einer Schicht 24,4 m³ Kohle und überbietet damit das Tagessoll um 387 %. Er wird dadurch zum Auslöser der so genannten Hennecke-Bewegung in der DDR.
13. Oktober: In Durban in Südafrika kommt es zu Auseinandersetzungen zwischen Schwarzen und Indern.
19. Oktober: Der Wirtschaftsrat der Bizone nimmt gegen die Stimmen der KPD das Gesetz zum Notopfer Berlin an.
21. Oktober: Irak wird Mitglied in der UNESCO.
22. Oktober: Walter Ulbricht erklärt die Oder-Neiße-Grenze zwischen Deutschland und Polen für endgültig.
24. Oktober: Die israelische Armee geht in Galiläa mit der Operation Hiram in die Offensive gegen syrische und libanesische Verbände.
November
2. November: Bei der US-Präsidentschaftswahl wird Amtsinhaber Harry S. Truman bestätigt; gegen ihn war der Republikaner Thomas E. Dewey angetreten. Bei den gleichzeitig stattfinden Kongresswahlen können die Demokraten wieder eine Mehrheit in beiden Kammern erringen.
2. November: Kommunistische Truppen erobern Shenyang in der Mandschurei.
9. November: Die Sowjetische Militäradministration droht damit, alle westalliierten Flugzeuge, die die Luftkorridore nach Berlin nicht einhalten, zur Landung zu zwingen.
12. November: Mit einem Generalstreik in der deutschen Bizone demonstrieren nach der Währungsreform Millionen Arbeitnehmer für Lohnerhöhungen und Preiskontrollen, da bestimmte Konsumgüterpreise stark gestiegen sind.
12. November: Der frühere japanische Ministerpräsident Tōjō Hideki wird im Rahmen der Tokioter Prozesse wegen Kriegsverbrechen zum Tode verurteilt und am 23. Dezember hingerichtet.
15. November: Louis Saint-Laurent wird Premierminister von Kanada.
15. November: In der Sowjetischen Besatzungszone werden die ersten HO-Läden eingerichtet.
19. November: Das Internationale Übereinkommen zur Regelung des Walfangs tritt in Kraft
24. November: Der Staatspräsident von Venezuela, Rómulo Betancourt, wird vom Militär gestürzt.
26. November: Das Parlament Irlands beschließt die völlige Loslösung des Landes vom Vereinigten Königreich.
27. November: Der UN-Sicherheitsrat fordert Albanien, Bulgarien und Jugoslawien auf, die Hilfe für die kommunistischen Aufständischen im Griechischen Bürgerkrieg einzustellen.
29. November: Kommunistische Truppen beginnen eine Offensive gegen Zhangjiakou nordwestlich von Peking.
30. November: Friedrich Ebert junior (SED) wird zum Oberbürgermeister Ost-Berlins gewählt und bildet einen Magistrat, in dem die SED vier von 14 Sitzen innehat. Um Kommunisten von vornherein eine Mehrheit zu verschaffen, dürfen auch der FDGB, die FDJ und die Vereinigung der Verfolgten des Nationalsozialismus einige Abgeordnete stellen. Diese „Volksvertreter“ werden einfach ernannt.
Dezember
4. Dezember: Gründung der Freien Universität Berlin in West-Berlin als Antwort auf die stalinistische Einflussnahme auf die Wissenschaft in der SBZ.
5. Dezember: In West-Berlin finden Abgeordnetenhauswahlen statt; die SPD erhält fast zwei Drittel der Stimmen (76 Mandate), vor der CDU (26 Mandate) und der LDP (17). Der SED, die zum Wahlboykott aufgerufen hatte, werden die 11 Mandate der Wahl von 1946 zugesprochen. Die 64,5 Prozent der SPD stellen das höchste Ergebnis für eine Partei auf Landesebene bei demokratischen Parteien seit Kriegsende dar.
7. Dezember: Im Westteil Berlins wird Ernst Reuter von den Stadtverordneten zum Regierenden Bürgermeister gewählt.
8. Dezember: Als Reaktion auf die anti-jüdischen Pogrome von Kairo und Terroranschläge verbietet die ägyptische Regierung unter Mahmud an-Nukraschi Pascha die islamistische Muslimbruderschaft und verstaatlicht deren Besitz.
10. Dezember: Die Generalversammlung der Vereinten Nationen beschließt die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte.
11. Dezember: Gründung der FDP in Heppenheim. Zum ersten Vorsitzender wird Theodor Heuss gewählt.
13. Dezember: Gründung der Jungen Pioniere in der Sowjetischen Besatzungszone.
16. Dezember: Der Holzsendeturm des Rundfunksenders Berlin-Tegel wird gesprengt, da er den Flugverkehr auf dem im Bau befindlichen Flughafen Berlin-Tegel gefährden würde.
16. Dezember: Kambodscha wird im Rahmen der Union française unabhängig.
17. Dezember: Der Antrag Israels auf Aufnahme in die UNO wird abgelehnt.
22. Dezember: Beginn der „Operation Horev“: Israel greift ägyptische Truppen im westlichen Negev an, um den Zugang zum Roten Meer zu gewinnen.
26. Dezember: Die letzten sowjetischen Truppen ziehen sich aus Nordkorea zurück.
26. Dezember: In Ungarn werden Kardinal József Mindszenty und andere Kirchenvertreter verhaftet.
28. Dezember: Mitglieder der verbotenen Muslimbruderschaft töten Ministerpräsident Mahmud an-Nukraschi Pascha.
31. Dezember: Die 100.000. Flugzeuglandung in Berlin seit Errichtung der Luftbrücke.
Wirtschaft
1. Januar: Neuer Generaldirektor bei VW (Wolfsburger Volkswagenwerk) wird Heinrich Nordhoff
1. Januar: Verstaatlichung der Eisenbahnen in Großbritannien
1. Januar: Das Zollabkommen zwischen den Benelux-Staaten Belgien, Niederlande und Luxemburg tritt in Kraft.
15. Januar: Im Saarland wird der Saar-Franken alleiniges gesetzliches Zahlungsmittel. Er löst die wenige Monate alte Saar-Mark ab und ist an den französischen Franc gekoppelt.
1. März: Die Bank deutscher Länder wird durch Gesetz Nr. 60 der Militärregierung in Deutschland in Frankfurt am Main gegründet. Sie ist als Zentralbank die Vorläuferin der Deutschen Bundesbank.
23. April: Der Interzonenzugverkehr zwischen Berlin und den Westzonen wird auf sowjetische Weisung wegen angeblich „technischer Schwierigkeiten“ lahmgelegt. Er ist durch die später verhängte Berlin-Blockade mehr als ein Jahr lang unterbrochen.
25. April: Die erste Ausgabe der deutschen Illustrierten Quick erscheint.
14. Mai: Die Denkfabrik RAND Corporation entsteht als Non-Profit-Organisation nach einem Beratungsprojekt für die US-Streitkräfte.
15. Juni: Aus einem regionalen Parteiblatt der Kommunistischen Partei Chinas, dessen Erstausgabe erscheint, entwickelt sich in der Folge die Renmin Ribao zum offiziellen Sprachrohr der Partei und zu einer der beiden größten Tageszeitungen in der Volksrepublik China.
20. Juni: Währungsreform in den drei deutschen Westzonen. Gegen Vorlage von Kenn- und Lebensmittelkarten werden 40 Deutsche Mark pro Person ausgezahlt.
21. Juni: Die Firma Columbia Broadcasting System stellt die Langspielplatte mit 33 1/3 Umdrehungen pro Minute vor. Diese von ihrem Mitarbeiter Peter Carl Goldmark erfundene Vinyl-Schallplatte verdrängt alsbald die Schellackplatte.
23. Juni: Einführung einer eigenen Währung in der SBZ
28. Juni: In Lausanne wird von Delegationen aus 27 Ländern die Union Internationale des Architectes gegründet.
1. August: Die Erstausgabe der deutschen Sonntagszeitung Welt am Sonntag erscheint. Zeitgleich wird auch das illustrierte Nachrichtenmagazin stern erstmals herausgegeben.
1. Dezember: Auf Briefen in der Bizone werden die Zuschlagsmarken Notopfer Berlin Pflicht. In Berlin bricht deswegen mit dem Ostteil der Stadt ab Januar 1949 ein Postkrieg aus, der das gesamte geteilte Deutschland erfasst.
16. Dezember: Die staatliche Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) wird gegründet. Sie soll den Wiederaufbau der deutschen Wirtschaft finanzieren.
18. Dezember: Der zur dänischen Insel Röm führende Damm wird eingeweiht.
20. Dezember: Richard und Maurice McDonald eröffnen ihr umgestaltetes Schnell-Restaurant in San Bernardino, Kalifornien.
Wissenschaft und Technik
11. Februar: Gründung der Max-Planck-Gesellschaft durch Otto Hahn, der auch zum ersten Präsidenten gewählt wird (bis 1960, danach Ehrenpräsident).
16. Februar: Der Astronom Gerard Peter Kuiper entdeckt den um den Planeten Uranus kreisenden Mond Miranda.
14. April: Auf dem Eniwetok-Atoll beginnt mit der Operation Sandstone die dritte Kernwaffentest-Serie der Vereinigten Staaten.
3. Juni: Das 400 Tonnen schwere Hale-Teleskop im Palomar-Observatorium wird eingeweiht. Mit seinen fünf Metern Durchmesser ist es zu diesem Zeitpunkt das größte Fernrohr auf Erden. Es dient astronomischen Zwecken, insbesondere der Erforschung der Galaxien jenseits der Milchstraße.
14. Oktober: Der Greyerzersee, längster Speichersee in der Schweiz, wird offiziell eingeweiht.
Die ersten Schallplatten aus Polyvinylchlorid kommen auf den Markt
Beginn der Ausgrabungsarbeiten bei Eridu durch irakische Archäologen
Anfang Juni erhält der Porsche 356 Nr. 1 Roadster, das erste Fahrzeug, das auf den Namen „Porsche“ hört, seine Einzelgenehmigung und startet zu seiner Jungfernfahrt.
Die Fernbedienung wird erfunden.
Kultur
22. Februar: Uraufführung des musikalischen Dramas Die Nachtschwalbe von Boris Blacher in Leipzig
22. März: Die Dänische Rechtschreibreform von 1948 schafft die Großschreibung von Substantiven ab und führt den Buchstaben Å ein.
15. August: Szenische Uraufführung der Oper Le vin herbé von Frank Martin bei den Salzburger Festspielen
24. August: Bei Ausgrabungen in den Weinberghöhlen im bayerischen Mauern wird die Venus von Mauern gefunden, eine Venusfigurine aus der jüngeren Altsteinzeit.
14. Oktober: Erstmals wird in Deutschland eine sorbischsprachige Sendung im Rundfunk ausgestrahlt.
28. Oktober: Uraufführung der Oper Drei Haare des Väterchens Allwissend von Rudolf Karel am Nationaltheater in Prag
3. Dezember: Uraufführung der Oper Die Geschichte vom wahren Menschen von Mira Mendelson (Libretto)/Sergei Prokofjew (Musik)
18. Dezember: Uraufführung der Oper Circe von Werner Egk in Berlin
Gründung der Bayerischen Akademie der Schönen Künste
Gründung der Amato Opera, der „kleinsten Oper der Welt“, in New York City
Die Vorgänger der berühmten Filmhochschule Łódź, die Wyższą Szkołą Filmową und die Wyższa Szkoła Aktorska werden gegründet.
Erstmalige Vergabe des Bambis
Religion
27. September: Die Marianische Kongregation steht im Blickpunkt der Apostolischen Konstitution des Papstes Pius XII. Das Kirchenoberhaupt fordert darin mehr Spiritualität im Sinne des Exerzitienbuches Ignatius von Loyolas ein.
24. Oktober: In der Enzyklika In multiplicibus curis ruft Papst Pius XII. zum Gebet für den Frieden in Palästina auf. Er fordert weiter internationale Garantien für den freien Zugang zu den Heiligen Stätten in Jerusalem.
12. Dezember: Mit einer Messe für die katholische St. Nicolai-Gemeinde zieht in die Aegidienkirche in Braunschweig wieder kirchliches Leben ein. Seit 1811 diente das Gotteshaus anderen Zwecken und war davor seit 1528 eine protestantische Kirche.
Achte Lambeth-Konferenz der Anglikanischen Kirche
Sport
30. Januar bis 8. Februar: V. Olympische Winterspiele in St. Moritz
13. Februar: Der Kölner BC und die SpVgg Sülz 07 fusionieren zum 1. FC Köln
21. Februar: Der Bayenthaler SV, SV Victoria Köln und der SV 1927 Köln fusionieren zum SC Fortuna Köln
13. April: Der FC Oberneuland wird gegründet
16. Mai: Der Sieg Michail Botwinniks bei der Schachweltmeisterschaft 1948 beendet das schachliche Interregnum
29. Juli bis 14. August: XIV. Olympische Sommerspiele in London
8. August: 1. Deutsche Fußballmeisterschaft nach dem Krieg. Meister: 1. FC Nürnberg
18. September: Stirling Moss siegt beim ersten Rennen auf dem britischen Goodwood Circuit auf einem Motorrad der 500-cm³-Klasse.
Gründung des kosovarischen Fußballverbandes
Katastrophen
28. Juni: Erdbeben der Stärke 7,3 in Fukui, Japan, 5.390 Tote
28. Juli: Eine Kesselwagenexplosion in der BASF Ludwigshafen fordert 207 Tote und rund 3.800 Verletzte
6. Oktober: Das Erdbeben von Aşgabat fordert 110.000 Tote
Geboren
Januar
1. Januar: Alain Afflelou, französischer Optiker und Geschäftsmann
1. Januar: Javier Aguirresarobe, spanischer Kameramann
1. Januar: Antonello Aglioti, italienischer Theater- und Filmregisseur, Kostüm- und Szenenbildner († 2013)
1. Januar: İhsan Arslan, türkischer Politiker
1. Januar: Heinz Blasey, deutscher Fußballspieler
1. Januar: Jane Getz, US-amerikanische Jazzpianistin und Studiomusikerin
1. Januar: Pawel Gratschow, russischer Offizier und Politiker († 2012)
2. Januar: Tony Judt, britischer Historiker und Essayist († 2010)
2. Januar: Kerry Minnear, englischer Musiker
2. Januar: Karen Swassjan, armenischer Philosoph, Literaturwissenschaftler, Kulturhistoriker und Anthroposoph
3. Januar: Angelo Marcello Anile, italienischer Physiker und Mathematiker († 2007)
3. Januar: Manfred Kokot, deutscher Leichtathlet
5. Januar: Giuseppe Impastato, italienischer Politiker und Anti-Mafia-Kämpfer († 1978)
5. Januar: František Lobkowicz, tschechischer Weihbischof († 2022)
5. Januar: Gloria Simonetti, chilenische Sängerin
5. Januar: Mehtab Singh, indischer Boxer († 2021)
6. Januar: Michail Ryklin, russischer Philosoph und Essayist
7. Januar: Ghazi Abdel-Qadir, deutscher Jugendbuchautor
7. Januar: Shobhaa De, indische Autorin
7. Januar: Kenny Loggins, US-amerikanischer Sänger, Gitarrist und Songwriter
7. Januar: Bernd Scheelen, deutscher Politiker
8. Januar: Thurman Barker, US-amerikanischer Jazz-Schlagzeuger, Perkussionist und Komponist
8. Januar: Frits Boterman, niederländischer Historiker
9. Januar: William Cowsill, US-amerikanischer Musiker († 2006)
9. Januar: Tim Hart, britischer Folksänger, -gitarrist und Dulcimer-Spieler († 2009)
10. Januar: Donald Fagen, US-amerikanischer Sänger und Keyboarder
10. Januar: Mischa Maisky, lettischer Cellist
10. Januar: Krista Posch, italienische Schauspielerin, Sängerin, Moderatorin und Sprecherin
10. Januar: Bernard Thévenet, französischer Radrennfahrer
11. Januar: Helga Anders, österreichische Schauspielerin und Synchronsprecherin († 1986)
11. Januar: Wajima Hiroshi, japanischer Sumo-Ringer und 54. Yokozuna († 2018)
11. Januar: Madeline Manning, US-amerikanische Leichtathletin und Olympiasiegerin
12. Januar: Anthony Corin Gerald Andrews, britischer Schauspieler und Filmproduzent
12. Januar: Gordon Campbell, kanadischer Politiker
12. Januar: Carme Riera, katalanische Schriftstellerin und Literaturwissenschaftlerin
13. Januar: Jürgen Angelbeck, deutscher Politiker
13. Januar: Bruno Hollnagel, deutscher Politiker
13. Januar: Günter-Peter Ploog, deutscher Sportjournalist und TV-Produzent († 2016)
14. Januar: T-Bone Burnett, US-amerikanischer Rock-Sänger, -Gitarrist und -Produzent
14. Januar: Waleri Charlamow, russischer Eishockeyspieler († 1981)
14. Januar: Jean-Paul Rostagni, französischer Fußballspieler
14. Januar: Gian Piero Ventura, italienischer Fußballspieler und -trainer
14. Januar: Carl Weathers, US-amerikanischer Schauspieler und Footballspieler
15. Januar: Diego Martel, spanischer Schwimmer († 2021)
15. Januar: Ronald Wayne Van Zant, US-amerikanischer Musiker († 1977)
16. Januar: John Carpenter, US-amerikanischer Regisseur, Schauspieler und Filmmusikkomponist
16. Januar: Gregor Gysi, deutscher Politiker
16. Januar: Cliff Thorburn, kanadischer Snooker-Spieler
16. Januar: Ulrich Tilgner, deutscher Journalist
17. Januar: Davíð Oddsson, isländischer Ministerpräsident
18. Januar: Bodo Abel, deutscher Wirtschaftswissenschaftler
18. Januar: Changuito, kubanischer Perkussionist
18. Januar: Loránd Milassin, ungarischer Leichtathlet († 2021)
18. Januar: Sergio Vitier, kubanischer Komponist und Gitarrist († 2016)
19. Januar: Hermann Adam, deutscher Wirtschafts- und Politikwissenschaftler
19. Januar: Erica Goodman, kanadische Harfenistin
20. Januar: Mel Pritchard, britischer Musiker († 2004)
21. Januar: Pete Kircher, britischer Schlagzeuger
22. Januar: Marianne Birthler, deutsche Politikerin
22. Januar: Mick Grabham, britischer Rock- und Blues-Gitarrist
22. Januar: Fabio Mussi, italienischer Politiker
24. Januar: Miklós Németh, ungarischer Politiker und Wirtschaftswissenschaftler, Ministerpräsident von 1988 bis 1990
25. Januar: Göran Åberg, schwedischer Fußballspieler und -trainer († 2001)
26. Januar: Boris Belkin, russischer Violinist
27. Januar: Mikhail Baryshnikov, US-amerikanischer Balletttänzer, Choreograf und Schauspieler
28. Januar: Antonio Autiero, italienischer Theologe und Philosoph
28. Januar: Heinz Flohe, deutscher Fußballspieler († 2013)
29. Januar: Delia Boccardo, italienische Schauspielerin
29. Januar: Halina Golanko, polnische Schauspielerin
29. Januar: Guido Knopp, deutscher Historiker, Publizist und Moderator
29. Januar: Gwyn Pritchard, britischer Cellist und Komponist
29. Januar: Espen Rud, norwegischer Jazzschlagzeuger
30. Januar: Edzard Ernst, erster Professor für Alternativmedizin in Großbritannien
30. Januar: Manfred Hofmann, deutscher Handballtorwart
Februar
1. Februar: Rick James, US-amerikanischer Funk-Musiker († 2004)
1. Februar: Waltraud Kretzschmar, deutsche Handballspielerin († 2018)
1. Februar: Barry Sonshine, kanadischer Vielseitigkeitsreiter († 2020)
2. Februar: Remi Adefarasin, britischer Kameramann
2. Februar: Al McKay, US-amerikanischer Musiker
2. Februar: Roger Williamson, britischer Formel-1-Rennfahrer († 1973)
3. Februar: Carlos Filipe Ximenes Belo, römisch-katholischer Bischof, Friedensnobelpreisträger
3. Februar: János Drapál, ungarischer Motorradrennfahrer († 1985)
3. Februar: Henning Mankell, schwedischer Schriftsteller und Theaterregisseur († 2015)
3. Februar: Gennadi Moissejew, sowjetischer Motocrossfahrer († 2017)
4. Februar: Alice Cooper, US-amerikanischer Rockmusiker
4. Februar: Martin Hohmann, deutscher Politiker
4. Februar: Leane Suniar, indonesische Bogenschützin († 2021)
4. Februar: Ram Baran Yadav, erster Präsident von Nepal
5. Februar: Christopher Guest, angloamerikanischer Schauspieler, Autor, Regisseur, Komponist und Musiker
5. Februar: Sven-Göran Eriksson, schwedischer Fußballtrainer
5. Februar: Barbara Hershey, US-amerikanische Schauspielerin
5. Februar: Heikki Toivanen, finnischer Opernsänger († 2006)
6. Februar: Stefan Baron, Chefredakteur der WirtschaftsWoche
6. Februar: Seppo Nikkari, finnischer Leichtathlet († 2022)
6. Februar: Felix Mitterer, österreichischer Schauspieler und Dramatiker
6. Februar: Renate Roland, deutsche Schauspielerin
7. Februar: Friedrich Ach, deutscher Autor
7. Februar: Josef Ackermann, Schweizer Bankmanager
8. Februar: Waldo Karpenkiel, deutscher Schlagzeuger
8. Februar: Dan Seals, US-amerikanischer Sänger, Musiker und Songwriter († 2009)
10. Februar: Luis Armando Collazuol, brasilianischer Bischof
11. Februar: Hannelore Conradsen, deutsche Film- und Fernsehregisseurin
11. Februar: Fritz Raff, Intendant des Saarländischen Rundfunks († 2011)
11. Februar: Gerhard Wucherer, deutscher Leichtathlet
12. Februar: Clemens Bollen, deutscher Politiker
12. Februar: Bernd Franke, deutscher Fußballspieler
12. Februar: Detlev Meyer, deutscher Schriftsteller und Dichter († 1999)
13. Februar: Jim Crawford, britischer Automobilrennfahrer († 2002)
13. Februar: Martin Morgner, deutscher Schriftsteller und Historiker
13. Februar: Kitten Natividad, mexikanisches Model und Schauspielerin († 2022)
13. Februar: Laura Pollán, kubanische Lehrerin und Menschenrechtsaktivistin (Damen in Weiß) († 2011)
13. Februar: Hansjörg Schellenberger, deutscher Oboist und Dirigent
15. Februar: Holger Ellerbrock, deutscher Politiker
15. Februar: Laurenz Meyer, deutscher Politiker
15. Februar: Bernd Pischetsrieder, deutscher Manager
15. Februar: Art Spiegelman, US-amerikanischer Cartoonist und Comic-Autor
15. Februar: Not Vital, schweizerisch-US-amerikanischer Künstler
16. Februar: Heinz-Uwe Küenle, deutscher Mathematiker
16. Februar: Uwe Reimer, deutscher Autor († 2004)
16. Februar: Eckhard Uhlenberg, deutscher Politiker und MdB
17. Februar: Anne Lonnberg, US-amerikanische Schauspielerin
18. Februar: Georg Brunnhuber, deutscher Politiker
18. Februar: Keith Knudsen, US-amerikanischer Schlagzeuger († 2005)
19. Februar: Pim Fortuyn, niederländischer Politiker und Publizist († 2002)
19. Februar: Tony Iommi, britischer Gitarrist
19. Februar: Hartmut Schulze-Gerlach, deutscher Sänger und Moderator
21. Februar: Detthold Aden, deutscher Manager
21. Februar: Elmar Müller, deutscher Fußballtrainer
22. Februar: John David Ashton, US-amerikanischer Schauspieler
22. Februar: Angelika Bender, deutsche Schauspielerin und Sprecherin
22. Februar: Felix Gutzwiller, Schweizer Politiker
23. Februar: Steve Priest, englischer Bassist († 2020)
23. Februar: Waltraud Roick, deutsche Ruderin
24. Februar: Thomas Anz, deutscher Professor
24. Februar: Bernhard R. Kroener, deutscher Militärhistoriker
24. Februar: Walter Smith, schottischer Fußballspieler und -trainer († 2021)
24. Februar: Tim Staffell, britischer Sänger und Bassist
25. Februar: Friedrich Koncilia, österreichischer Fußballspieler
25. Februar: Annette Leo, deutsche Historikerin, Biografin und Herausgeberin
25. Februar: Erwin Staudt, deutscher Fußballfunktionär
26. Februar: Boutros Marayati, syrischer Erzbischof
26. Februar: Mike Richmond, US-amerikanischer Jazzbassist
27. Februar: Féodor Atkine, französischer Schauspieler
27. Februar: Helmut Nerlinger, deutscher Fußballspieler
27. Februar: Reinhard Tramontana, österreichischer Journalist († 2005)
27. Februar: Albert Wendt, deutscher Schriftsteller
28. Februar: Steven Chu, US-amerikanischer Physiker
28. Februar: Daniel Gómez, mexikanischer Wasserballspieler († 2022)
28. Februar: Mercedes Ruehl, US-amerikanische Schauspielerin
28. Februar: François Trisconi, Schweizer Autorennfahrer
29. Februar: Jirō Akagawa, japanischer Schriftsteller
29. Februar: Andreas Auer, schweizerischer Staatsrechtler († 2018)
29. Februar: Karen Lafferty, US-amerikanische Sängerin und Musiklehrerin
29. Februar: Patricia A. McKillip, US-amerikanische Schriftstellerin († 2022)
29. Februar: Rainder Steenblock, deutscher Politiker
29. Februar: Martin Suter, Schweizer Krimi-Schriftsteller
Februar: Lilian Atterer, deutsche Schönheitskönigin und Fotomodell
Februar: Marion Kazemi, deutsche Archivarin und Wissenschaftshistorikerin
März
1. März: Herwig Ahrendsen, deutscher Handballspieler
2. März: Larry Carlton, US-amerikanischer Jazz/Blues/Fusion-Gitarrist, Sänger und Musikproduzent
2. März: Rory Gallagher, irischer Gitarrist († 1995)
2. März: Andrei Linde, russischer Kosmologe
2. März: Achim Vandreike, deutscher Politiker
2. März: Dan Welcher, US-amerikanischer Musiker und Komponist
3. März: Snowy White, britischer Blues-Gitarrist
4. März: James Ellroy, US-amerikanischer Schriftsteller
4. März: Naohiro Fujita, japanischer Autorennfahrer
4. März: Thomas Kossendey, deutscher Politiker und MdB
4. März: Chris Squire, englischer Musiker († 2015)
4. März: Shakin’ Stevens, britischer Rock-’n’-Roll-Sänger
5. März: Eddy Grant, Popmusiker, Sänger, Songwriter und Gitarrist
5. März: Elaine Paige, britische Sängerin und Schauspielerin
5. März: Leslie Marmon Silko, US-amerikanische Schriftstellerin
6. März: Zbigniew Górny, polnischer Komponist und Dirigent
7. März: Karl Schlögel, deutscher Schriftsteller
7. März: Schamil Anwarowitsch Tarpischew, sowjetisch-russischer Tennisspieler und Sportfunktionär
8. März: Peggy March, US-amerikanische Schlagersängerin und ‑texterin
9. März: Majid Entezami, iranischer Filmkomponist
10. März: Gerhard Friedrich, deutscher Politiker
10. März: Waldemar Hartmann, deutscher Journalist und Moderator
11. März: Roy Barnes, US-amerikanischer Politiker
11. März: Franz Lambert, deutscher Komponist und Organist
12. März: William M. Anderson, nordirischer Filmeditor
12. März: Les Holroyd, britischer Sänger, Komponist und Musiker
12. März: James Taylor, US-amerikanischer Gitarrist, Sänger, Komponist und Texter
12. März: Ole Thestrup, dänischer Schauspieler († 2018)
14. März: Billy Crystal, US-amerikanischer Schauspieler
14. März: Hans Georg Faust, deutscher Politiker
14. März: Jochen Schimmang, deutscher Schriftsteller
14. März: Bernd Stange, deutscher Fußballtrainer
15. März: David Albahari, serbischer Schriftsteller († 2023)
15. März: Gerhard Seyfried, deutscher Schriftsteller und Karikaturist
15. März: Sérgio Vieira de Mello, brasilianischer UN-Politiker († 2003)
16. März: Margaret Weis, US-amerikanische Autorin von Fantasy-Literatur
17. März: William Gibson, US-amerikanischer Science-Fiction-Autor
17. März: Martin Mönikes, deutscher Journalist und Politiker
20. März: Josef Aussermair, österreichischer Theologe
20. März: John de Lancie, US-amerikanischer Schauspieler
20. März: Bobby Orr, kanadischer Eishockeyspieler
21. März: Scott E. Fahlman, US-amerikanischer Informatiker, „Erfinder“ der Emoticons
21. März: Fariborz Sahba, iranisch-kanadischer Architekt
22. März: Wolf Blitzer, US-amerikanischer Journalist
22. März: Bernard Dietz, deutscher Fußballspieler
22. März: Andrew Lloyd Webber, englischer Komponist
22. März: Per Stureson, schwedischer Rennfahrer
23. März: Peter C. B. Phillips, neuseeländischer Wirtschaftswissenschaftler
24. März: Günter Bentele, Professor für Öffentlichkeitsarbeit und Public Relations
24. März: Reinhard Borchert, deutscher Sprinter
24. März: Volker Finke, deutscher Fußballtrainer
24. März: Jerzy Kukuczka, polnischer Bergsteiger († 1989)
24. März: Delio Onnis, argentinischer Fußballspieler
25. März: Bonnie Bedelia, US-amerikanische Schauspielerin
25. März: Rob Goorhuis, niederländischer Komponist
26. März: David Anear, australischer Bogenschütze
26. März: Peter Neumann, deutscher Motorradrennfahrer
26. März: Steven Tyler, US-amerikanischer Rocksänger (Aerosmith)
27. März: Edgar Selge, deutscher Schauspieler
28. März: John Evan, britischer Musiker
28. März: Trina Hosmer, US-amerikanische Skilangläuferin
28. März: Leo Maasburg, österreichischer Geistlicher
28. März: Dianne Wiest, US-amerikanische Film- und Theaterschauspielerin
29. März: Anne-Karin, deutsche Schlagersängerin
29. März: Bud Cort, US-amerikanischer Schauspieler
29. März: Johnny Dowd, US-amerikanischer Alternative-Country-Musiker
29. März: Joachim Stünker, deutscher Politiker und MdB
31. März: Gary Doer, kanadischer Politiker
31. März: Al Gore, US-amerikanischer Politiker, 45. Vizepräsident der USA
31. März: Thijs van Leer, niederländischer Musiker und Sänger
31. März: Enrique Vila-Matas, katalanisch-spanischer Schriftsteller
April
1. April: Urs Allemann, Schweizer Schriftsteller
1. April: Gudo Hoegel, deutscher Schauspieler und Synchronsprecher
1. April: J. J. Williams, walisischer Rugbyspieler († 2020)
2. April: Michael Gerhardt, Richter am Bundesverfassungsgericht
2. April: Hendrik Snoek, deutscher Springreiter
3. April: René Bardet, Schweizer Pressesprecher des Schweizer Fernsehens (SF DRS) († 2005)
3. April: Boris Berman, russischer Pianist, Cembalist und Musikpädagoge
3. April: Jaap de Hoop Scheffer, niederländischer Politiker
3. April: Oliver Grimm, deutscher Schauspieler († 2017)
3. April: Miguel Herz-Kestranek, österreichischer Schauspieler und Buchautor
3. April: Carlos Salinas de Gortari, mexikanischer Politiker und Präsident
3. April: Georg Schwarzenbeck, deutscher Fußballspieler
4. April: Frank Winfield Anderson, US-amerikanischer Mörder
4. April: Towje Kleiner, deutscher Schauspieler und Drehbuchautor († 2012)
4. April: Dan Simmons, US-amerikanischer Schriftsteller
4. April: Jacques Voigtländer, deutscher Politiker
5. April: Klaus Bös, deutscher Sportwissenschaftler
5. April: Karin Gündisch, deutsche Schriftstellerin
5. April: Krystian Martinek, deutscher Schauspieler, Regisseur und Autor
5. April: Hans Theessink, niederländischer Blues-Gitarrist, Sänger und Songschreiber
6. April: Jean-Jacques Avenel, französischer Jazzbassist († 2014)
6. April: Hubert Bognermayr, österreichischer Musiker († 1999)
6. April: Philippe Garrel, französischer Schauspieler, Drehbuchautor, Regisseur
6. April: Petra Kusch-Lück, deutsche Moderatorin, Tänzerin und Sängerin
6. April: Jo Leinen, deutscher Politiker
6. April: Eric Robertson, kanadischer Komponist, Organist und Pianist
6. April: Friederike Roth, deutsche Schriftstellerin
6. April: Bengt-Arne Wickström, schwedischer Finanzwissenschaftler
7. April: Pietro Anastasi, italienischer Fußballspieler († 2020)
7. April: Ecaterina Andronescu, rumänische Politikerin
7. April: Rudolf Hartung, deutscher Politiker († 2020)
8. April: Eva Heller, deutsche Schriftstellerin († 2008)
8. April: Dagmar Schmidt, deutsche Politikerin († 2005)
8. April: Danuta Hübner, polnische Politikerin und EU-Kommissarin
9. April: Claudio Ambrosini, italienischer Komponist
9. April: Jaya Bachchan, indische Schauspielerin
9. April: Bernard-Marie Koltès, französischer Dramatiker und Theaterregisseur († 1989)
9. April: Patty Pravo, italienische Popsängerin
10. April: Mel Blount, US-amerikanischer Footballspieler
10. April: Bernd Clüver, deutscher Schlagersänger († 2011)
11. April: Anke Maggauer-Kirsche, deutsche Lyrikerin und Aphoristikerin
12. April: Joschka Fischer, deutscher Politiker
12. April: Marcello Lippi, italienischer Fußballtrainer
13. April: Miloslav Gajdoš, tschechischer Kontrabassist, Musikpädagoge und Komponist
13. April: Michael Hammer, US-amerikanischer Wirtschaftswissenschaftler († 2008)
13. April: Drago Jančar, slowenischer Schriftsteller
14. April: Chester Greenough Atkins, US-amerikanischer Politiker
14. April: Jan Michalik, polnischer Ringer († 2022)
14. April: Claude Vivier, kanadischer Komponist († 1983)
15. April: Michael Kamen, US-amerikanischer Komponist († 2003)
16. April: John Fitzgerald, US-amerikanischer American-Football-Spieler
17. April: Jan Hammer, tschechisch-US-amerikanischer Jazz-Pianist und -Keyboarder
17. April: Wilfriedt Wedmann, kanadischer Leichtathlet († 2021)
18. April: Rainer René Graf Adelmann von Adelmannsfelden, deutscher Rechtsanwalt
18. April: Wolfgang A. Herrmann, Präsident der TU München
18. April: Ina Lenke, deutsche Politikerin
18. April: Catherine Malfitano, US-amerikanische Sopranistin
18. April: Richard Peterkin, lucianischer Sportfunktionär
18. April: Georges M. Saad Abi Younes, maronitischer Bischof in Mexiko
19. April: Chester Biscardi, US-amerikanischer Komponist und Musikpädagoge
21. April: Paul Davis, US-amerikanischer Singer-Songwriter, Musiker und Produzent († 2008)
21. April: Josef Flammer, Schweizer Augenarzt
22. April: Ġorġ Abela, maltesischer Politiker
22. April: Jewgeni Alexandrowitsch Arschanow, sowjetischer Mittelstreckenläufer
22. April: Carol Drinkwater, britische Schauspielerin und Autorin
23. April: Ilario Antoniazzi, italienischer Erzbischof
24. April: Tomoko Abe, japanische Politikerin
24. April: Wilderich von Droste zu Hülshoff, Deutscher Jurist, Autor und Stiftungsvorstand
24. April: Paul Sahli, Schweizer Artist und Rekordhalter
24. April: Kōhei Tsuka, koreanisch-japanischer Dramatiker, Regisseur und Theaterleiter († 2010)
26. April: Josef Bierbichler, deutscher Schauspieler
26. April: Herbert Landau, Richter am Bundesverfassungsgericht
26. April: Klaus Minkel, deutscher Politiker und MdB
26. April: Ronaldo Miranda, brasilianischer Komponist
27. April: Frank W. Abagnale, US-amerikanischer Hochstapler und Scheckbetrüger
27. April: Yves Courage, französischer Automobilrennfahrer und Rennstallbesitzer
27. April: Josef Hickersberger, Fußballspieler, Fußballtrainer
27. April: Kate Pierson, US-amerikanische Musikerin
28. April: Terry Pratchett, britischer Fantasy-Schriftsteller († 2015)
29. April: John Christensen, neuseeländischer Hockeyspieler
29. April: Andrzej Kowalczyk, polnischer Physiker
30. April: John Cooper, britischer Automobilrennfahrer
30. April: Robert Tarjan, amerikanischer Informatiker
Mai
1. Mai: Pantaleón Astiazarán, uruguayischer Fotograf
1. Mai: Karl Friedrich Frey, Schweizer Künstler, Musiker, Autor, Astrologe und Okkultist, bekannt als Akron († 2017)
1. Mai: Carl Morten Iversen, norwegischer Jazzbassist
2. Mai: Monika Haas, Mitglied der RAF
2. Mai: Christian Hartenhauer, deutscher Politiker
2. Mai: Werner Schulze-Erdel, deutscher Moderator und Schauspieler
3. Mai: Hirotaka Akamatsu, japanischer Politiker
4. Mai: Richard B. Hays, US-amerikanischer Theologe
4. Mai: Hurley Haywood, US-amerikanischer Automobilrennfahrer
4. Mai: Rolf Verres, deutscher Arzt und Musiker
5. Mai: John Atcherley Kardinal Dew, Erzbischof von Wellington
5. Mai: Richard Pacheco, US-amerikanischer Pornodarsteller und Filmregisseur
5. Mai: Bill Ward, britischer Schlagzeuger
6. Mai: Jochen Arlt, deutscher Schriftsteller
6. Mai: Caspar Einem, österreichischer Politiker († 2021)
6. Mai: Servilio de Oliveira, brasilianischer Boxer
7. Mai: Holger Astrup, deutscher Politiker († 2021)
7. Mai: Michel Dubois, französischer Automobilrennfahrer († 2006)
7. Mai: Ingrid Pieper-von Heiden, deutsche Politikerin
7. Mai: Pete Wingfield, britischer Musikproduzent, Keyboardspieler und Journalist
8. Mai: Petra Articus, deutsche Äbtissin
8. Mai: Norbert Nigbur, deutscher Fußballspieler
8. Mai: Pierre-François Rousselot, französischer Automobilrennfahrer
9. Mai: Astrid Höfs, deutsche Politikerin
10. Mai: Meg Foster, US-amerikanische Schauspielerin
10. Mai: Carla Galle, belgische Schwimmerin und Politikerin († 2022)
10. Mai: Thury Horath, schweizerischer Ländlermusikant
11. Mai: Pam Ferris, US-amerikanische Schauspielerin
12. Mai: Aqmaral Chaidarqysy Arystanbekowa, kasachische Diplomatin und Politikerin
12. Mai: Lindsay Crouse, US-amerikanische Schauspielerin
12. Mai: Steve Winwood, britischer Musiker
13. Mai: Zain-ud-Din bin Abdul Wahab, malaysischer Leichtathlet († 2022)
13. Mai: Guillermo Echevarría, mexikanischer Schwimmer († 2021)
13. Mai: Ivan Klánský, tschechischer Pianist und Musikpädagoge
15. Mai: Yaakov Amidror, israelischer Generalmajor
15. Mai: Renato Casarotto, italienischer Bergsteiger († 1986)
15. Mai: Brian Eno, britischer Musiker
15. Mai: Peter Hussing, deutscher Schwergewichtsboxer († 2012)
15. Mai: Irmingard Schewe-Gerigk, deutsche Politikerin und MdB
15. Mai: Kathleen Sebelius, US-amerikanische Politikerin
16. Mai: Rainer Stephan, deutscher Autor, Journalist und Regisseur
17. Mai: Klaus Addicks, deutscher Anatom und Hochschullehrer
17. Mai: Dick Gaughan, schottischer Folksänger
17. Mai: Joseph Hatton, puerto-ricanischer Basketballspieler († 2022)
17. Mai: Horst Köppel, deutscher Fußballspieler und -trainer
17. Mai: Winfried Kretschmann, deutscher Politiker und Ministerpräsident von Baden-Württemberg
17. Mai: Thérèse Meyer-Kaelin, Schweizer Politikerin
17. Mai: Pat Toomay, US-amerikanischer American-Football-Spieler und Schriftsteller
18. Mai: Tom Udall, US-amerikanischer Politiker
18. Mai: Yi Mun-yol, südkoreanischer Schriftsteller
19. Mai: Grace Jones, jamaikanische Sängerin, Fotomodell und Schauspielerin
20. Mai: Jon Amiel, britisch-amerikanischer Regisseur und Filmproduzent
20. Mai: Gerd Rubenbauer, deutscher Sportreporter und Fernsehmoderator
21. Mai: Ingrid Huhn-Wagener, deutsche Steuerfrau im Rudern
21. Mai: Leo Sayer, britischer Sänger
21. Mai: Günter Zöller, deutscher Eiskunstläufer
24. Mai: Lorna Crozier, kanadische Schriftstellerin, Dichterin und Hochschullehrerin
24. Mai: Richard Dembo, französischer Filmregisseur, Drehbuchautor und Produzent († 2004)
24. Mai: Harald Ossberger, österreichischer Pianist und Musikpädagoge († 2021)
25. Mai: Bülent Arınç, türkischer Politiker
25. Mai: Angelika Hartung, deutsche Schauspielerin
25. Mai: Klaus Meine, deutscher Sänger und Komponist (Scorpions)
25. Mai: Johannes Willms, deutscher Historiker, Essayist und Biograf († 2022)
26. Mai: Leon Kieres, polnischer Jurist, Präsident des Institutes für Nationales Gedenken (IPN)
26. Mai: Pentti Kirstilä, finnischer Schriftsteller († 2021)
26. Mai: Stevie Nicks, US-amerikanische Sängerin
27. Mai: Thomas Ahrens, deutscher Steuermann im Rudersport
27. Mai: Frédéric Dor, französischer Automobilrennfahrer
27. Mai: Christina Emmrich, deutsche Politikerin
27. Mai: Jocelyne Saucier, kanadische Schriftstellerin
28. Mai: Wil Hartog, niederländischer Motorradrennfahrer und Unternehmer
28. Mai: Pierre Rapsat, belgischer Sänger († 2002)
29. Mai: Peter Paziorek, deutscher Politiker und MdB
29. Mai: Günter Sebert, deutscher Fußballspieler und -trainer
30. Mai: Chosrow Melikowitsch Arutjunjan, armenischer Politiker
30. Mai: Johan De Muynck, belgischer Radrennfahrer
30. Mai: Dieter Kosslick, deutscher Leiter der Internationalen Filmfestspiele Berlin
30. Mai: Michael Krone, deutscher Schauspieler
30. Mai: Bernd Wagner, deutscher Schriftsteller
31. Mai: Swetlana Alexijewitsch, weißrussische Schriftstellerin und Nobelpreisträgerin
31. Mai: Otto Altenbach, deutscher Automobilrennfahrer
31. Mai: John Bonham, britischer Schlagzeuger († 1980)
31. Mai: Paulinho da Costa, brasilianischer Perkussionist
31. Mai: Martin Hannett, britischer Musikproduzent († 1991)
31. Mai: Jürgen Stark, deutscher Ökonom, Vizepräsident der Deutschen Bundesbank
Juni
2. Juni: Roni Bar-On, israelischer Politiker
2. Juni: Thomas Neumaier, deutscher Konzeptkünstler
3. Juni: Rolf Heißler, deutscher Terrorist († 2023)
3. Juni: Margret Mönig-Raane, Vorstandsmitglied von ver.di
3. Juni: Wolfgang Nešković, deutscher Politiker und Richter am Bundesgerichtshof
4. Juni: Ernst Abbé, deutscher Fußballspieler
4. Juni: Paquito D’Rivera, kubanischer Jazzmusiker
4. Juni: Margaret Gibson, kanadische Schriftstellerin († 2006)
4. Juni: Jürgen Sparwasser, deutscher Fußballspieler und -trainer
4. Juni: Jim Wallis, US-amerikanischer Prediger, christlicher Geistlicher und Buchautor
5. Juni: Sérgio Abreu, brasilianischer Gitarrist († 2023)
5. Juni: Gail Davies, US-amerikanische Country-Sängerin und Songschreiberin
6. Juni: Rocco Buttiglione, italienischer Politiker
6. Juni: Jürgen Marcus, deutscher Schlagersänger († 2018)
7. Juni: Nydia Caro, puerto-ricanische Schauspielerin und Sängerin
7. Juni: Diethelm Sack, Vorstandsmitglied der Deutschen Bahn AG
7. Juni: Raimond Sele, liechtensteinischer Sportschütze
8. Juni: Hans-Josef Becker, Erzbischof von Paderborn
8. Juni: Karl-Michael Krummacher, deutscher Bratschist
8. Juni: Jürgen von der Lippe, deutscher Fernsehmoderator und Komiker
8. Juni: Erwin Reichert, deutscher Politiker († 2013)
9. Juni: Gudrun Schyman, schwedische Politikerin und Feministin
10. Juni: Brian Adam, schottischer Politiker († 2013)
11. Juni: Lynsey de Paul, britische Sängerin und Songschreiberin († 2014)
11. Juni: Sumaya Farhat-Naser, palästinensische Friedensvermittlerin im Westjordanland
12. Juni: Jossi Beilin, israelischer pazifistischer Staatsmann
12. Juni: Hans Binder, österreichischer Automobilrennfahrer
12. Juni: Lyn Collins, US-amerikanische Soulsängerin († 2005)
12. Juni: Alex Skovron, australischer Lyriker
13. Juni: Claudia Storz, Schweizer Schriftstellerin
15. Juni: Doris Papperitz, deutsche Sportjournalistin
16. Juni: Hans-Werner Kammer, deutscher Politiker und MdB
16. Juni: Klaus Kater, deutscher Handballtorwart
17. Juni: Joaquín Almunia, spanischer Politiker und EU-Kommissar
17. Juni: Hrafn Gunnlaugsson, isländischer Filmemacher
17. Juni: Alpo Suhonen, finnischer Eishockeytrainer und Theaterdirektor
18. Juni: Reinhard Michl, deutscher Zeichner, Illustrator und Autor
19. Juni: Nick Drake, britischer Gitarrist und Liedermacher († 1974)
19. Juni: Erik Schinegger, österreichische(r) Skirennläufer(in)
20. Juni: Anne-Marie Barat, französische Organistin († 1990)
20. Juni: Johannes Friedrich, Landesbischof der evangelisch-lutherischen Kirche in Bayern
20. Juni: Alan Longmuir, britischer Musiker († 2018)
20. Juni: Ludwig Scotty, Präsident der Republik Nauru
20. Juni: Gerhard Strube, Direktor des Center for Cognitive Science an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg
21. Juni: Jovan Aćimović, jugoslawischer Fußballspieler
21. Juni: Don Airey, britischer Rockmusiker
21. Juni: Ian McEwan, britischer Schriftsteller
21. Juni: Andrzej Sapkowski, polnischer Schriftsteller
21. Juni: Wolfgang Seel, deutscher Fußballspieler
21. Juni: Chiqui Vicioso, dominikanische Schriftstellerin und Soziologin
22. Juni: Todd Rundgren, US-amerikanischer Musiker, Texter und Produzent
24. Juni: John M. Armleder, Schweizer Konzeptkünstler
24. Juni: Georg Boomgaarden, deutscher Diplomat
24. Juni: Armando Calderón Sol, salvadorianischer Präsident († 2017)
24. Juni: Annemarie Lütkes, deutsche Politikerin
24. Juni: Patrick Moraz, Schweizer Musiker
24. Juni: Gerulf Pannach, deutscher Liedermacher und Texter vieler DDR-Rockbands († 1998)
24. Juni: Werner Roth, deutscher Fußballspieler
26. Juni: Sergei Bodrow, russischer Filmregisseur, Drehbuchautor und Produzent
27. Juni: Lothar Fischer, deutscher Jurist, Richter am Bundesfinanzhof
27. Juni: Hubert Kramar, österreichischer Schauspieler
28. Juni: Kathy Bates, US-amerikanische Schauspielerin
28. Juni: Ellen Wellmann, deutsche Leichtathletin († 2023)
29. Juni: Sean Bergin, südafrikanischer Jazzmusiker († 2012)
29. Juni: Günther Geis, deutscher katholischer Geistlicher
29. Juni: Ian Paice, Schlagzeuger von Deep Purple
30. Juni: Raymond Leo Burke, US-amerikanischer Erzbischof und Kurienkardinal
Juli
2. Juli: Jürgen Klimke, deutscher Politiker und MdB
3. Juli: Paul Barrère, US-amerikanischer Rockgitarrist und -sänger († 2019)
3. Juli: Peter Ruzicka, deutscher Komponist, Intendant
4. Juli: René Arnoux, französischer Automobilrennfahrer
4. Juli: Andreas von Schoeler, deutscher Politiker
6. Juli: Nathalie Baye, französische Schauspielerin
6. Juli: Bodo Kirchhoff, deutscher Schriftsteller
7. Juli: Kathy Reichs, US-amerikanische Anthropologin und Schriftstellerin
8. Juli: Raffi, ägyptischer Sänger und Komponist für Kinderlieder
8. Juli: Eckhard Wehage, deutscher Republikflüchtiger († 1970)
9. Juli: Robert Gratzer, österreichischer Schriftsteller, Journalist, Dramaturg und Verleger († 2004)
10. Juli: Heinz Fromm, Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz
10. Juli: Michael Müller, deutscher Politiker
11. Juli: Juan García Rodríguez, kubanischer Erzbischof von Havanna, Kardinal
11. Juli: Gytta Schubert, österreichische Schauspielerin
12. Juli: Ben Burtt, US-amerikanischer Sounddesigner und Tontechniker
12. Juli: Richard Dewes, deutscher Politiker
12. Juli: Georgi Gogow, deutscher Rockmusiker
12. Juli: Günter Freiherr von Gravenreuth, deutscher Rechtsanwalt und Verleger († 2010)
12. Juli: Elias Khoury, libanesischer Schriftsteller
12. Juli: Dušan Kovačević, serbischer Dramatiker, Drehbuchautor, Regisseur und Diplomat
13. Juli: Catherine Breillat, französische Filmregisseurin
14. Juli: Malte Dönselmann, deutscher Personal- und Unternehmensberater, Politiker (CDU)
14. Juli: Berhaneyesus Demerew Kardinal Souraphiel, äthiopischer Erzbischof
14. Juli: Goodwill Zwelithini kaBhekuzulu, König der Zulu in Südafrika († 2021)
15. Juli: Richard Franklin, australischer Filmregisseur († 2007)
16. Juli: Manuel Kardinal Clemente, Patriarch von Lissabon
16. Juli: Lars Lagerbäck, schwedischer Fußballtrainer
16. Juli: Max Midinet, deutscher Balletttänzer († 2000)
16. Juli: Angelica Schwall-Düren, deutsche Politikerin und MdB
16. Juli: Pinchas Zukerman, israelischer Geiger und Dirigent
17. Juli: Irene Andres-Suárez, spanische Hispanistin
17. Juli: Ron Asheton, US-amerikanischer Musiker († 2009)
17. Juli: Luc Bondy, Schweizer Theaterregisseur († 2015)
18. Juli: Hans Kreis, deutscher Autor von Büchern zur Lebenshilfe und Unternehmensberater
19. Juli: Atilio Ancheta, uruguayischer Fußballspieler
19. Juli: Beverly Archer, US-amerikanische Schauspielerin und Drehbuchautorin
19. Juli: Keith Godchaux, US-amerikanischer Musiker († 1980)
19. Juli: Jobst Hirscht, deutscher Leichtathlet
19. Juli: Jürgen Kerth, deutscher Blues-Gitarrist
20. Juli: Bernd Konrad, deutscher Jazzsaxophonist und Komponist
21. Juli: Alberto Acosta, ecuadorianischer Wirtschaftswissenschaftler, Politiker und Intellektueller
21. Juli: Brad Frisselle, US-amerikanischer Automobilrennfahrer
21. Juli: Yusuf Islam, britischer Sänger und Songwriter
21. Juli: Litto Nebbia, argentinischer Rock- und Tangomusiker
21. Juli: Christine Perthen, deutsche Schriftstellerin († 2004)
22. Juli: Frieder Andrich, deutscher Fußballspieler
22. Juli: George W. Casey junior, US-amerikanischer General der US Army
22. Juli: Susan E. Hinton, US-amerikanische Schriftstellerin
22. Juli: Ana de Palacio, spanische Politikerin
22. Juli: Otto Waalkes, deutscher Komiker, Cartoonist und Schauspieler
23. Juli: Wilhelm Dietzel, deutscher Politiker
23. Juli: John Hall, US-amerikanischer Politiker
23. Juli: Thomas Schäuble, deutscher Politiker († 2013)
23. Juli: Ludger Stratmann, deutscher Kabarettist († 2021)
24. Juli: Jürgen Hildebrandt, deutscher Handballtrainer und Handballspieler
24. Juli: Anne Just, dänische Gärtnerin, Künstlerin sowie Gastronomie- und Hotelbetreiberin († 2009)
27. Juli: Peggy Fleming, US-amerikanische Eiskunstläuferin und Olympiasiegerin 1968
27. Juli: Brunhilde Irber, deutsche Politikerin und MdB
27. Juli: Fred Popovici, rumänischer Komponist
28. Juli: Herbert Henck, deutscher Pianist
29. Juli: Jürgen Haug, deutscher Schauspieler
29. Juli: Paul Morgan, englischer Ingenieur († 2001)
30. Juli: James H. Burnley, US-amerikanischer Politiker
30. Juli: Michael Linden, deutscher Facharzt und Psychotherapeut
30. Juli: Jean Reno, französischer Schauspieler
30. Juli: Gerd Sonnleitner, Präsident des Deutschen Bauernverbandes
30. Juli: Julia Tsenova, bulgarische Komponistin und Pianistin († 2010)
31. Juli: Astrid Andreasen, färöische Künstlerin und wissenschaftliche Illustratorin
31. Juli: Gerhard Weinberger, deutscher Organist und Professor
August
1. August: Christopher Crowe, US-amerikanischer Drehbuchautor, Regisseur, Produzent und Schauspieler
1. August: Hermann Urbanek, österreichischer Redakteur, Sachbuchautor und Science-Fiction-Experte
2. August: Borivoje Đorđević, jugoslawischer Fußballspieler
2. August: Adam Kopczyński, polnischer Eishockeyspieler († 2021)
3. August: Regine Albrecht, deutsche Schauspielerin und Synchronsprecherin († 2013)
3. August: Mirko Kovats, österreichischer Investor
3. August: Ivan Monighetti, russischer Cellist und Dirigent
3. August: Jean-Pierre Raffarin, französischer Politiker, Premierminister
4. August: Klaus Aktories, deutscher Mediziner und Pharmakologe
5. August: Ray Clemence, englischer Fußballspieler († 2020)
5. August: David Hungate, US-amerikanischer Bassgitarrist
6. August: Mykola Awilow, ukrainisch-sowjetischer Mehrkämpfer und Olympiasieger
6. August: Lars Larsen, dänischer Kaufmann und Unternehmer († 2019)
6. August: Franz Terdenge, deutscher Jurist und Richter am Bundessozialgericht
7. August: Nick Adams, britischer Automobilrennfahrer
7. August: Hans-Jürg Fehr, Schweizer Politiker
7. August: Wolfgang Haas, liechtensteinischer Erzbischof
7. August: Walter Schmidt, deutscher Leichtathlet
8. August: Swetlana Sawizkaja, russische Kosmonautin
9. August: William M. Daley, US-amerikanischer Geschäftsmann und Politiker
11. August: Jan Palach, tschechoslowakischer Student († 1969)
12. August: Peter Aufgebauer, deutscher Historiker
12. August: Sam Neely, US-amerikanischer Country-Sänger († 2006)
13. August: Kathleen Battle, US-amerikanische Sopranistin
14. August: Everhardus Johannes Maria Arnolds, niederländischer Mykologe
15. August: Tom Johnston, US-amerikanischer Rocksänger und -gitarrist
16. August: Gisela Hilbrecht, deutsche Politikerin
16. August: Annemarie Huber-Hotz, Schweizer Bundeskanzlerin († 2019)
18. August: Alejandro Abal Oliú, uruguayischer Rechtswissenschaftler
18. August: Carsten Bohn, deutscher Musiker
18. August: Heiner Pudelko, deutscher Rocksänger († 1995)
19. August: Hans-Peter Brause, deutscher Jurist
19. August: Robert Hughes, australischer Schauspieler
20. August: Hartwig Bertrams, deutscher Automobilrennfahrer
20. August: John Noble, australischer Schauspieler und Theaterdirektor
20. August: Robert Plant, britischer Rockmusiker
20. August: Barbara Allen Rainey, US-amerikanische Pilotin und erste Pilotin der US-Streitkräfte († 1982)
20. August: Bernhard Russi, Schweizer Schirennläufer, Olympiasieger
21. August: Ezzat Abou Aouf, ägyptischer Schauspieler, Musiker und Fernsehmoderator († 2019)
22. August: Jozef Machálek, schwedisch-slowakischer Mittel- und Langstreckenläufer
23. August: Jurij Jechanurow, ukrainischer Politiker
24. August: Spiros Argiris, griechischer Dirigent († 1996)
24. August: Burghardt Arndorfer, deutscher Politiker († 2021)
24. August: Rüdiger Döhler, deutscher Chirurg († 2022)
24. August: Nana Dschordschadse, georgische Filmregisseurin
24. August: Jean Michel Jarre, französischer Vertreter der Elektronischen Musik
24. August: Boris Pergamenschtschikow, russischer Cellist († 2004)
25. August: Jean-Luc Chéreau, französischer Unternehmer und Automobilrennfahrer
25. August: Helga Zepp-LaRouche, deutsche Journalistin und Politikerin
26. August: Gertrud Gabl, österreichische Skirennläuferin († 1976)
26. August: Ottilie Scholz, deutsche Politikerin, Oberbürgermeisterin in Bochum
27. August: Michael Goetze, deutscher Comiczeichner
27. August: Bernhard Hüttenegger, österreichischer Schriftsteller
27. August: Ralf Reinders, deutsch-niederländischer Terrorist
28. August: Leo G. Linder, deutscher Autor, Regisseur und Produzent
28. August: Jacques Ogg, niederländischer Cembalist und Hammerklavierspieler
29. August: Jan Graubner, tschechischer Erzbischof von Olmütz und Metropolit der Kirchenprovinz Mähren
29. August: Wilfried Loth, deutscher Historiker und Politikwissenschaftler
30. August: Lewis Black, US-amerikanischer Komiker, Schauspieler und Autor
30. August: Wiktor Skumin, sowjetischer Wissenschaftler, Philosoph und Schriftsteller.
30. August: Dragoslav Stepanović, serbischer Fußballtrainer
31. August: Jakob Auer, österreichischer Politiker
31. August: Harald Ertl, österreichisch-deutscher Formel-1-Rennfahrer († 1982)
31. August: Holger Osieck, deutscher Fußballtrainer und -funktionär
31. August: Rudolf Schenker, deutscher Gitarrist, Songschreiber (Scorpions)
September
1. September: Bernard Ardura, französischer Ordensgeistlicher und Kirchenhistoriker
1. September: Hans Engel, deutscher Handballspieler
1. September: Jürgen Fitschen, deutscher Bankmanager
1. September: Andrzej Rapacz, polnischer Biathlet († 2022)
1. September: James Rebhorn, US-amerikanischer Schauspieler († 2014)
2. September: Nate Archibald, US-amerikanischer Basketballspieler
2. September: Manfred Böckl, deutscher Schriftsteller
2. September: Helge Loytved, deutscher Jurist
2. September: Christa McAuliffe, US-amerikanische Lehrerin und Astronautin († 1986)
2. September: David J. Stevenson, neuseeländischer Planetologe
3. September: Heiner Möller, deutscher Handballspieler
3. September: Levy Mwanawasa, sambischer Staatspräsident 2002–2008 († 2008)
4. September: José Tomás Arita Valle, honduranischer Jurist
4. September: Heribert Bruchhagen, Vorstandsvorsitzender der Eintracht Frankfurt Fußball AG
4. September: Antonio Gasperi, italienischer Komponist und Musikpädagoge
4. September: Hans Koch, schweizerischer Holzbläser
5. September: İsmail Arca, türkischer Fußballspieler und -trainer
5. September: Benita Ferrero-Waldner, österreichische Politikerin, EU-Kommissarin
5. September: Daniela Ziegler, deutsche Schauspielerin, Sängerin und Musicaldarstellerin
6. September: Irena Andrukaitienė, litauische Politikerin
6. September: Karlos Arguiñano, spanischer Koch und Unternehmer
6. September: Pedro María Artola Urrutia, spanischer Fußballspieler
6. September: Werner Schwärzel, deutscher Motorradrennfahrer
6. September: Claydes Charles Smith, US-amerikanischer Gitarrist
7. September: Friedmar Apel, deutscher Literaturwissenschaftler und Germanist († 2018)
8. September: Rudolf Kowalski, deutscher Schauspieler
8. September: Jean-Pierre Monseré, belgischer Radrennfahrer († 1971)
9. September: Roel H. Augusteijn, niederländischer Politiker
10. September: Bob Lanier, US-amerikanischer Basketballspieler († 2022)
10. September: Charles Simonyi, US-amerikanischer Informatiker
10. September: Charlie Waters, US-amerikanischer American-Football-Spieler
10. September: Francisco Zapata Bello, venezolanischer Komponist
11. September: Maria Eichhorn, deutsche Politikerin und MdB
11. September: Flemming Hansen, dänischer Handballspieler († 2013)
11. September: John Martyn OBE, britischer Musiker († 2009)
11. September: Frauke Tengler, deutsche Politikerin
12. September: Enikő Buzási, ungarische Kunsthistorikerin
12. September: Richard Down, britischer Autorennfahrer
12. September: Ulrich Leykam, deutscher Musiker
12. September: Willi Maier, deutscher Hindernis- und Langstreckenläufer
12. September: Jean-Louis Schlesser, französischer Automobilrennfahrer
12. September: Steve Turre, US-amerikanischer Musiker
13. September: Francis Connesson, französischer Karambolagespieler und mehrfacher Welt- und Europameister
13. September: Todd Scully, US-amerikanischer Geher († 2021)
14. September: Vincenzo Aita, italienischer Politiker
14. September: Wulf Bernotat, deutscher Manager († 2017)
14. September: Robert Taylor, US-amerikanischer Sprinter und Olympiasieger († 2007)
16. September: Kenney Jones, britischer Musiker
16. September: Takashi Suzuki, japanischer Automobilrennfahrer
17. September: John Ritter, US-amerikanischer Film-Schauspieler († 2003)
17. September: Jürgen Schön, deutscher Politiker
18. September: Anneli Aejmelaeus, finnische Theologin
19. September: Serge Adda, Präsident des französischen Fernsehsenders TV5 († 2004)
19. September: Jeremy Irons, britischer Schauspieler
19. September: Gerhard Köpf, deutscher Schriftsteller
19. September: Julius Sang, kenianischer Leichtathlet und Olympiasieger († 2004)
20. September: George R. R. Martin, US-amerikanischer Schriftsteller
20. September: Adrian Piper, US-amerikanische Konzeptkünstlerin
21. September: Herbert Wagner, deutscher Kommunalpolitiker
23. September: Ramón José Aponte Fernández, venezolanischer Priester und Bischof
23. September: Vera Nikolić, serbische Leichtathletin († 2021)
24. September: Wolfgang von Eichborn, deutscher Jurist
25. September: Peter Apathy, österreichischer Jurist und Professor
25. September: Colleen Atwood, US-amerikanische Kostümbildnerin
25. September: Carl Axel Aurelius, schwedischer Bischof
25. September: Ștefan Birtalan, rumänischer Handballspieler und -trainer
25. September: Alfred Cordes, deutscher Schriftsteller und Lehrer
25. September: Bill Pierce, US-amerikanischer Jazz-Saxophonist
26. September: Mitchell G. Ash, US-amerikanischer Historiker
26. September: Patrick J. Geary, US-amerikanischer Historiker
26. September: Hans-Heinrich Jordan, deutscher Politiker und MdB († 2019)
26. September: Olivia Newton-John, US-amerikanische Sängerin und Schauspielerin († 2022)
26. September: Tiran Porter, US-amerikanischer Sänger und Bassist
26. September: Vladimír Remek, tschechischer Astronaut und Politiker
26. September: Erwin Waldschütz, österreichischer Philosoph († 1995)
26. September: Arnie Zane, US-amerikanischer Photograph, Tänzer und Choreograph († 1988)
27. September: Tom Braidwood, kanadischer Schauspieler, Regisseur und Filmproduzent
28. September: Franz-Karl Effenberg, österreichischer Politiker († 2005)
29. September: Mark Farner, US-amerikanischer Gitarrist und Songschreiber
29. September: Theo Jörgensmann, deutscher Jazz-Klarinettist
Oktober
1. Oktober: Lynn Ahrens, US-amerikanische Musical-Theater-Dichterin
2. Oktober: Gerd-Axel Ahrens, deutscher Bauingenieur und Verkehrsplaner
2. Oktober: Avery Brooks, US-amerikanischer Schauspieler und Regisseur
2. Oktober: Siim Kallas, Vizepräsident der Europäischen Kommission
2. Oktober: Persis Khambatta, indisches Model und Schauspielerin († 1998)
2. Oktober: Chris LeDoux, US-amerikanischer Country-Sänger und professioneller Rodeo-Reiter († 2005)
2. Oktober: Ramesh Mishra, indischer Sarangispieler († 2017)
2. Oktober: Anna Mitgutsch, österreichische Literaturwissenschaftlerin und Schriftstellerin
2. Oktober: Jochen Sachse, deutscher Leichtathlet
3. Oktober: Johnny Legend, US-amerikanischer Rockabilly-Musiker, Filmproduzent, Filmschauspieler und Wrestling-Promotor
3. Oktober: Gisela Schneeberger, deutsche Kabarettistin und Schauspielerin
4. Oktober: Linda Bergen, deutsche Schlagersängerin
4. Oktober: Duke Robillard, US-amerikanischer Bluessänger und -gitarrist
5. Oktober: Bianca, deutsche Sängerin und Komponistin
6. Oktober: Gerry Adams, nordirischer Politiker
6. Oktober: Glenn Branca, US-amerikanischer Avantgarde-Komponist († 2018)
6. Oktober: Dorothea Parton, österreichische Schauspielerin
7. Oktober: Diane Ackerman, US-amerikanische Schriftstellerin und Lyrikerin
8. Oktober: Wilfried Ahnefeld, deutscher Fußballspieler
8. Oktober: Jon Ekerold, südafrikanischer Motorradrennfahrer
8. Oktober: Gottfried Helnwein, österreichisch-irischer Künstler
8. Oktober: Claude Jade, französische Schauspielerin († 2006)
8. Oktober: Johnny Ramone, US-amerikanischer Gitarrist und Gründungsmitglied der Ramones († 2004)
8. Oktober: Winston Baldwin Spencer, antiguanischer Politiker
8. Oktober: Bernhard Uhde, katholischer Theologe und Universitätsprofessor
9. Oktober: Elisabeth Bleyleben-Koren, österreichische Bankdirektorin
9. Oktober: Jackson Browne, US-amerikanischer Rockmusiker
9. Oktober: Ciaran Carson, nordirischer Dichter, Schriftsteller und Übersetzer († 2019)
9. Oktober: Heinz Kuhn-Weiss, deutscher Autorennfahrer
10. Oktober: Wolfgang Baumgratz, deutscher Organist und Musikpädagoge
10. Oktober: John Bundrick, britischer Keyboarder, Pianist und Organist
10. Oktober: Juan Falú, argentinischer Gitarrist
10. Oktober: Séverine, französische Schlagersängerin
10. Oktober: Roger B. Wilson, US-amerikanischer Politiker
11. Oktober: Darrell Castle, US-amerikanischer Politiker (Constitution Party)
11. Oktober: Dietrich Murswiek, deutscher Rechtswissenschaftler
11. Oktober: Peter Turkson, Erzbischof von Cape Coast und Kardinal der römisch-katholischen Kirche
12. Oktober: Fritz Behrens, deutscher Politiker, Innenminister von Nordrhein-Westfalen
12. Oktober: Jack Dolbin, US-amerikanischer Footballspieler († 2019)
12. Oktober: Rick Parfitt, Sänger und Gitarrist († 2016)
13. Oktober: John Ford Coley, US-amerikanischer Sänger (England Dan & John Ford Coley)
13. Oktober: Nusrat Fateh Ali Khan, pakistanischer Musiker († 1997)
13. Oktober: Nina Rotschewa, sowjetische Skilangläuferin († 2022)
14. Oktober: Engin Arık, türkische Physikerin († 2007)
15. Oktober: Andreas Angerstorfer, deutscher Theologe und Judaist († 2012)
15. Oktober: Chris de Burgh, irischer Sänger
15. Oktober: Konrad Sabrautzky, deutscher Regisseur und Drehbuchautor
16. Oktober: Jack Dalrymple, US-amerikanischer Politiker
16. Oktober: Hema Malini, indische Filmschauspielerin
16. Oktober: Günther Rüther, deutscher Politikwissenschaftler
16. Oktober: Karen Wetterhahn, US-amerikanische Chemikerin († 1997)
17. Oktober: Lutz Dammbeck, deutscher Maler, Grafiker und Filmemacher
17. Oktober: Robert Jordan, US-amerikanischer Schriftsteller († 2007)
17. Oktober: Margot Kidder, kanadische Schauspielerin († 2018)
18. Oktober: Michael Weisser, deutschsprachiger Medienkünstler und Science-Fiction-Autor
19. Oktober: Patrick Simmons, US-amerikanischer Rocksänger und -gitarrist
19. Oktober: Pit Weyrich, deutscher Fernsehmoderator und Fernsehregisseur
20. Oktober: Helmut Achatz, deutscher Fußballspieler
20. Oktober: Ed Allen, US-amerikanischer Autor
21. Oktober: Daniel Akerson, US-amerikanischer Manager
22. Oktober: Håkon Austbø, norwegischer Pianist und Hochschullehrer
22. Oktober: Joachim Günther, deutscher Politiker
22. Oktober: Andy Holden, britischer Hindernis- und Crossläufer († 2014)
22. Oktober: Bo Holten, dänischer Komponist und Dirigent
23. Oktober: Karl Aiginger, österreichischer Wirtschaftsforscher
23. Oktober: Gordon Gottlieb, US-amerikanischer Perkussionist
23. Oktober: Jay Gottlieb, US-amerikanischer Pianist
23. Oktober: Winfried Hübner, deutscher Schauspieler
23. Oktober: Gerd Niebaum, deutscher Fußballfunktionär
23. Oktober: Feisal Abdul Rauf, ägyptisch-amerikanischer Imam
24. Oktober: Kurt Aeschbacher, Schweizer Fernsehmoderator
24. Oktober: Barry Ryan, britischer Sänger († 2021)
24. Oktober: Paul Ryan, britischer Sänger und Songwriter († 1992)
25. Oktober: César Amaro, uruguayischer Gitarrist († 2012)
25. Oktober: Dave Cowens, US-amerikanischer Basketballspieler
25. Oktober: Werner Fuchs, deutscher Fußballspieler und -trainer († 1999)
26. Oktober: John Morrison, britischer Automobilrennfahrer
28. Oktober: Telma Hopkins, US-amerikanische Sängerin und Schauspielerin
28. Oktober: Ingrid Pankraz, deutsche Politikerin
28. Oktober: Joe Sachse, deutscher Jazzgitarrist
29. Oktober: Charles Maung Kardinal Bo, Erzbischof von Yangon
29. Oktober: Kate Jackson, US-amerikanische Schauspielerin
29. Oktober: Felix Kulow, kirgisischer Politiker
29. Oktober: Rita Pawelski, deutsche Politikerin
30. Oktober: Günter Schweikardt, deutscher Handballspieler, -trainer und -manager
31. Oktober: Asfa-Wossen Asserate, äthiopischer Unternehmensberater und Autor
31. Oktober: Angelika Kallwass, deutsche Psychoanalytikerin und Fernsehmoderatorin
November
1. November: Hans Aabech, dänischer Fußballspieler († 2018)
1. November: Werner Holz, deutscher Maler († 1991)
1. November: Valentina Leskaj, albanische Politikerin
1. November: Calvin Russell, US-amerikanischer Musiker, Vertreter des Roots Rock († 2011)
1. November: Eddy Stibbe, niederländischer Vielseitigkeitsreiter
1. November: Nicholas Thomas Wright, anglikanischer Bischof von Durham
2. November: Leonid Levin, US-amerikanischer Informatiker
3. November: Malcolm Dedman, englischer Komponist
3. November: Helmut Koinigg, österreichischer Rennfahrer († 1974)
3. November: Lulu, schottische Popsängerin
4. November: Mir Tamim Ansary, afghanisch-US-amerikanischer Schriftsteller und Historiker
4. November: Erich Wolfgang Skwara, österreichischer Literaturwissenschaftler und Schriftsteller
4. November: Birgit Steinegger, Schweizer Schauspielerin, Parodistin und Unterhaltungskünstlerin
4. November: Amadou Toumani Touré, Präsident von Mali († 2020)
5. November: Ulla Berkéwicz, deutsche Schriftstellerin und Verlegerin
5. November: Peter Hammill, britischer Komponist, Songwriter und Musiker
5. November: William Daniel Phillips, US-amerikanischer Physiker
5. November: Heide Rühle, deutsche Politikerin und MdEP
6. November: Christoph Bayer, deutscher Politiker und MdL
6. November: Glenn Frey, US-amerikanischer Rockmusiker († 2016)
6. November: Robert Hübner, deutscher Schachspieler
9. November: Bille August, dänischer Film- und Fernsehregisseur
9. November: Luiz Felipe Scolari, brasilianischer Fußballtrainer
9. November: Sharon Stouder, US-amerikanische Schwimmerin († 2013)
10. November: Hugh Moffatt, US-amerikanischer Country-Sänger und Songwriter
11. November: Bernhard Lehmann, deutscher Bobfahrer und Handballspieler
11. November: Vincent Schiavelli, US-amerikanischer Schauspieler († 2005)
11. November: Wolfgang Schmid, deutscher Bassgitarrist, Komponist und Produzent
12. November: Hassan Rohani, iranischer Geistlicher und Politiker
12. November: Egon Schmitt, deutscher Fußballspieler
13. November: Mizuko Masuda, japanische Schriftstellerin
14. November: Charles III., britischer König
14. November: Hartwig Fischer, deutscher Politiker
14. November: Eva Paskuy, deutsche Handballspielerin
14. November: Jimmy Young, US-amerikanischer Boxer († 2005)
15. November: Maria Bill, schweizerisch-österreichische Schauspielerin
15. November: Andrzej Mysiński, polnischer Kontrabassist, Dirigent und Musikpädagoge
15. November: Georg Ringsgwandl, deutscher Kardiologe, Kabarettist und Liedermacher
15. November: Alois Schindler, deutscher Fußballspieler und -trainer
16. November: Anne André-Léonard, belgische Politikerin
16. November: Birgitta Arens, deutsche Schriftstellerin
16. November: Walter van Hauwe, niederländischer Blockflötist und Musikpädagoge
16. November: Norbert Lammert, deutscher Politiker, Bundestagspräsident
16. November: Robert Lange, britischer Musikproduzent
16. November: Oliver Shanti, deutscher Musiker († 2016)
17. November: Eliseo Antonio Ariotti, italienischer Diplomat
17. November: Howard Dean, US-amerikanischer Politiker
17. November: Tom Wolf, US-amerikanischer Politiker
18. November: Ana Mendieta, US-amerikanische Performancekünstlerin († 1985)
18. November: Manfred Morgan, deutscher Schlagersänger, Komponist, Texter und Gitarrist († 2015)
19. November: Eduard Stöllinger, österreichischer Motorradrennfahrer († 2006)
20. November: John R. Bolton, US-amerikanischer Politiker und Diplomat
20. November: Barbara Hendricks, schwedische Sopranistin
20. November: Gunnar Nilsson, schwedischer Formel-1-Rennfahrer († 1978)
20. November: Kenjirō Shinozuka, japanischer Rallyefahrer
21. November: Werner Lorant, deutscher Fußballspieler und -trainer
21. November: Alphonse Mouzon, US-amerikanischer Schlagzeuger, Komponist und Produzent († 2016)
22. November: Adalberto Álvarez, kubanischer Pianist, Arrangeur und Bandleiter († 2021)
22. November: Radomir Antić, jugoslawischer Fußballspieler und serbischer Fußballtrainer († 2020)
22. November: Raymond Boutinaud, französischer Unternehmer und Automobilrennfahrer
22. November: Claude Ponti, französischer Kinderbuch-Illustrator und Schriftsteller
23. November: Reiner Calmund, deutscher Fußballfunktionär
23. November: Gabriele Seyfert, deutsche Eiskunstläuferin, Weltmeisterin
24. November: Christoph Bergner, deutscher Politiker
24. November: Spider Robinson, US-amerikanischer Science-Fiction-Autor
25. November: Catana Pérez de Cuello, dominikanische Pianistin und Musikpädagogin
26. November: Elizabeth Blackburn, australisch-US-amerikanische Molekularbiologin
26. November: Krešimir Ćosić, kroatischer Basketballspieler († 1995)
26. November: Egon Müller, deutscher Speedway-Fahrer
26. November: Dennis Ross, US-amerikanischer Diplomat
27. November: Heide Schmidt, österreichische Politikerin
28. November: Agnieszka Holland, polnische Filmregisseurin
28. November: Mariana Nicolesco, rumänische Sopranistin († 2022)
29. November: Achille Amerio, italienischer Diplomat
29. November: Ulrich Maurer, deutscher Politiker
29. November: Jörg Wontorra, deutscher Fernsehmoderator und Fernsehproduzent
30. November: Gerhard Heinze, deutscher Fußballtorwart
30. November: Alain Peltier, belgischer Automobilrennfahrer († 2005)
Dezember
1. Dezember: Birgitta Ashoff, deutsche Filmregisseurin, Drehbuchautorin und Journalistin
1. Dezember: Luciano Re Cecconi, italienischer Fußballspieler († 1977)
1. Dezember: Reinhart Rüsken, deutscher Jurist
1. Dezember: Guy Tunmer, südafrikanischer Automobilrennfahrer († 1999)
2. Dezember: Haukur Angantýsson, isländischer Schachspieler († 2012)
2. Dezember: T. C. Boyle, US-amerikanischer Schriftsteller
2. Dezember: Gebhard Fürst, deutscher katholischer Bischof
2. Dezember: Reinhard Höppner, deutscher Politiker († 2014)
2. Dezember: Antonín Panenka, tschechoslowakischer Fußballspieler
2. Dezember: Gabriele Weingartner, deutsche Schriftstellerin
2. Dezember: Christine Westermann, deutsche Fernseh- und Radiomoderatorin
3. Dezember: Ari Trausti Guðmundsson, isländischer Philosoph, Geologe und Schriftsteller
3. Dezember: Ozzy Osbourne, britischer Rockmusiker
4. Dezember: Udo Arndt, deutscher Musiker, Tonmeister und Produzent
4. Dezember: Jim Hiscott, kanadischer Komponist und Akkordeonist
5. Dezember: Ernst Kausen, deutscher Mathematiker und Sprachwissenschaftler
5. Dezember: Ernst Schwanhold, deutscher Politiker
6. Dezember: Marius Müller-Westernhagen, deutscher Musiker und Schauspieler
6. Dezember: Harvie Swartz, US-amerikanischer Jazzbassist
6. Dezember: Guido de Werd, niederländischer Kunsthistoriker und Museumsleiter
7. Dezember: Gertrud Leutenegger, Schweizer Schriftstellerin
8. Dezember: Sofronio Aguirre Bancud, philippinischer Bischof
9. Dezember: Gioconda Belli, lateinamerikanische Schriftstellerin
10. Dezember: Abu Abbas, Gründer und Führer der Palästinensischen Befreiungsfront (PLF) († 2004)
10. Dezember: Hannelore Faulstich-Wieland, deutsche Erziehungswissenschaftlerin
10. Dezember: Richard Francis-Bruce, australischer Filmeditor
11. Dezember: Chester Thompson, US-amerikanischer Schlagzeuger
11. Dezember: Víctor Víctor, dominikanischer Merenguesänger und Komponist († 2020)
12. Dezember: Marcelo Rebelo de Sousa, portugiesischer Staatspräsident
12. Dezember: Roelof Wunderink, niederländischer Automobilrennfahrer
13. Dezember: Jeff Baxter, US-amerikanischer Rockgitarrist und Dobrospieler
13. Dezember: Lillian Board, britische Sportlerin († 1970)
13. Dezember: Ted Nugent, US-amerikanischer Rockmusiker
14. Dezember: Michel Abrass, syrischer Erzbischof
14. Dezember: Kim Beazley, australischer Politiker
14. Dezember: Boudewijn Büch, niederländischer Schriftsteller und Publizist († 2002)
14. Dezember: Marianne Fritz, österreichische Schriftstellerin († 2007)
15. Dezember: Melanie Chartoff, US-amerikanische Schauspielerin und Synchronsprecherin
15. Dezember: Patricia Cowings, amerikanische Raumfahrt-Psychophysiologin
15. Dezember: Cassandra Harris, australische Filmschauspielerin († 1991)
15. Dezember: Ammante Jalmaani, philippinischer Schwimmer († 2021)
16. Dezember: Pat Quinn, US-amerikanischer Politiker
17. Dezember: René C. Jäggi, Schweizer Unternehmer und Sportmanager
18. Dezember: Edmund Emil Kemper, US-amerikanischer Serienmörder
18. Dezember: Liliane Saint-Pierre, belgische Sängerin
18. Dezember: Angela Sommer-Bodenburg, deutsche Kinderbuchautorin
19. Dezember: Peter Welnhofer, deutscher Politiker
20. Dezember: George Dyer, US-amerikanischer Automobilrennfahrer
20. Dezember: Abdulrazak Gurnah, tansanischer Schriftsteller
20. Dezember: Ronald M. Hahn, deutscher Autor und Übersetzer
20. Dezember: Piet Klocke, deutscher Komödiant
20. Dezember: Beatrice Richter, deutsche Schauspielerin
20. Dezember: Giuliana Sgrena, italienische Journalistin
20. Dezember: Onno Tunç, türkischer Musiker, Komponist und Arrangeur († 1996)
20. Dezember: Mitsuko Uchida, japanische Pianistin
21. Dezember: Samuel L. Jackson, US-amerikanischer Schauspieler
21. Dezember: Werner Klatt, deutscher Ruderer († 2022)
21. Dezember: Willi Resetarits, österreichischer Kabarettist und Menschenrechtsaktivist († 2022)
21. Dezember: Raymond Singer, US-amerikanischer Schauspieler und Drehbuchautor
22. Dezember: Lana Walter, US-amerikanische Musikpädagogin und Komponistin
23. Dezember: Víctor Selvino Arenhart, argentinischer Geistlicher und Bischof († 2010)
23. Dezember: Stefan Dörflinger, Schweizer Motorradrennfahrer
23. Dezember: Jack Ham, US-amerikanischer Footballspieler
24. Dezember: Edwige Fenech, italienische Filmschauspielerin
24. Dezember: Frank Jürgen „Eff Jott“ Krüger, deutscher Rockmusiker († 2007)
24. Dezember: Menghisteab Tesfamariam, eritreischer Bischof
25. Dezember: Noël Mamère, französischer Politiker
25. Dezember: Barbara Mandrell, US-amerikanische Country-Sängerin
26. Dezember: Carlos Álvarez, argentinischer Politiker
26. Dezember: Lolita de la Colina, mexikanische Singer-Songwriterin
26. Dezember: Heinz Werner Kraehkamp, deutscher Schauspieler († 2012)
27. Dezember: Gérard Depardieu, französischer Schauspieler
27. Dezember: Meja Mwangi, kenianischer Schriftsteller
27. Dezember: Joachim Poß, deutscher Politiker und MdB
29. Dezember: Michael White, australischer Psychotherapeut († 2008)
30. Dezember: Horace Engdahl, schwedischer Literaturwissenschaftler
31. Dezember: Wiktor Afanassjew, sowjetischer Kosmonaut
31. Dezember: Joe Dallesandro, US-amerikanischer Schauspieler
31. Dezember: Daniel Díaz Torres, kubanischer Filmregisseur († 2013)
31. Dezember: Donna Summer, US-amerikanische Sängerin († 2012)
Tag unbekannt
József Ács, ungarischer Komponist, Pianist und Organist
Peter Adamski, deutscher Pädagoge und Geschichtsdidaktiker
Azzam al-Ahmad, palästinensischer Politiker
Muhlis Akarsu, türkischer Bağlama-Spieler und Sänger († 1993)
Omar Akbar, deutscher Professor für Architekturtheorie
Vyacheslav Akhunov, usbekischer Künstler
Shlomo Amar, israelischer Großrabbiner
Claudia Amm, deutsche Schauspielerin
Manfred App, deutscher Musikverleger
Walter Appel, deutscher Schriftsteller
Detlev Arens, deutscher Autor und Journalist
Dan Armon, israelischer Dichter
Jeannette Christine Armstrong, kanadische Literatin und Lyrikerin
María Elena Arpón, spanische Schauspielerin
Adnān Ibn Muḥammad al-ʿArʿūr, syrischer Religionsgelehrter
Gharib Askalany, palästinensischer Schriftsteller und Pädagoge
Rodney Eric Bainbridge Atkinson, englischer Wirtschaftswissenschaftler, Publizist und Politiker
Klaus Bötig, deutscher Reiseschriftsteller
Misha Bolourie, deutsch-aserbaidschanischer Aktionskünstler, Maler und Lyriker
Alan Charlton, britischer Künstler
Claudia Maria Cornwall, kanadische Journalistin und Schriftstellerin
Françoise Gerbaulet, französische Schriftstellerin
Manfred Günther, deutscher Schulpsychologe und Sozialarbeitswissenschaftler
Izabella Gustowska, polnische Multimediakünstlerin
Sue Hettmansperger, US-amerikanische Malerin und Hochschullehrerin
Maureen Hunter, kanadische Schriftstellerin
Jiang Jufeng, chinesischer Politiker
Eduard Kaeser, Schweizer Physiker, Gymnasiallehrer, Philosoph, Publizist und Jazzmusiker
Yitzhak Laor, israelischer Schriftsteller
Sam Llewellyn, britischer Schriftsteller
Ali Asghar Maassoumi, iranischer Botaniker
Colin Metters, britischer Dirigent und Musikpädagoge
Fritz-Gerd Mittelstädt, deutscher Hochschullehrer
Eva Polak, deutsche Hörspiel-, Drehbuch- und Kinderbuchautorin
Cäcilia Rentmeister, deutsche Geschlechterforscherin
Frank Retzel, US-amerikanischer Komponist
Bodo Ritscher, deutscher Historiker
Bernd Schuh, Physiker, Dozent und Hörfunkredakteur
Fred Sherry, US-amerikanischer Cellist und Musikpädagoge
Carole Terry, US-amerikanische Organistin, Cembalistin und Musikpädagogin
Frank Weymann, deutscher Schriftsteller († 1997)
Anton Viktor Wyrobisch, deutsch-polnischer Theologe
Gestorben
Januar
1. Januar: Hermann Zilcher, deutscher Komponist (* 1881)
2. Januar: Vicente Huidobro, chilenischer Lyriker (* 1893)
6. Januar: Raoul Auernheimer, österreichischer Jurist, Journalist und Schriftsteller (* 1876)
8. Januar: Kurt Schwitters, deutscher Maler (* 1887)
8. Januar: Richard Tauber, österreichischer Opernsänger (* 1891)
14. Januar: Isaac Schreyer, österreichischer Schriftsteller und Übersetzer (* 1890)
15. Januar: Henri-Alexandre Deslandres, französischer Astronom (* 1853)
21. Januar: Ernst Herzfeld, vorderasiatischer Archäologe (* 1879)
21. Januar: Ermanno Wolf-Ferrari, italienischer Komponist (* 1876)
24. Januar: Hans Aumeier, deutscher Kriegsverbrecher (* 1906)
24. Januar: Arthur Liebehenschel, deutscher Nationalsozialist (* 1901)
24. Januar: Maria Mandl, Wächterin im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau (* 1912)
26. Januar: Thomas Theodor Heine, Maler, Zeichner und Satiriker (* 1867)
26. Januar: Heinrich Sohnrey, deutscher Volksschriftsteller und Publizist (* 1859)
28. Januar: Ludwig Schaschek, österreichischer Kameramann (* 1888)
29. Januar: Aimone Herzog von Spoleto, 4. Herzog von Aosta und Herzog von Spoleto (* 1900)
30. Januar: Mahatma Gandhi, indischer Politiker (* 1869)
30. Januar: Orville Wright, US-amerikanischer Flugpionier und Flugzeugbauer (* 1871)
Februar
2. Februar: Bevil Rudd, südafrikanischer Leichtathlet und Olympiasieger (* 1894)
3. Februar: Franz Xaver Müller, österreichischer Geistlicher und Musiker (* 1870)
5. Februar: Johannes Blaskowitz, deutscher Generaloberst (* 1883)
6. Februar: Sidney Arodin, US-amerikanischer Jazz-Klarinettist und Komponist (* 1901)
8. Februar: Heinrich Anwender, rumänischer Journalist, Politiker und Buchdrucker (* 1882)
8. Februar: Samuel Prescott Bush, US-amerikanischer Industrieller (* 1863)
9. Februar: Karl Valentin, bayerischer Komiker, Kabarettist, Autor und Filmproduzent (* 1882)
10. Februar: Stephen Morehouse Avery, US-amerikanischer Drehbuchautor (* 1893)
11. Februar: Sergei Eisenstein, sowjetischer Regisseur (* 1898)
12. Februar: Egon Schweidler, österreichischer Physiker (* 1873)
14. Februar: Conrad Gröber, deutscher Bischof (* 1872)
16. Februar: Irmfried Eberl, medizinischer Leiter mehrerer „Euthanasie“-Anstalten (* 1910)
16. Februar: Gennaro Granito Pignatelli di Belmonte, Kardinal der römisch-katholischen Kirche (* 1851)
17. Februar: John M. Robsion, US-amerikanischer Politiker (* 1873)
18. Februar: Renato Balestrero, italienischer Automobilrennfahrer (* 1898)
20. Februar: Bertha Eckstein-Diener (Pseudonym: Sir Galahad), österreichische Schriftstellerin (* 1874)
20. Februar: Robert P. Lamont, US-amerikanischer Politiker (* 1867)
23. Februar: Arthur Grimm, deutscher Maler (* 1883)
23. Februar: Hermann Weber, deutscher Konstrukteur und Motorradrennfahrer (* 1896)
24. Februar: Franz Stock, deutscher katholischer Priester (* 1904)
25. Februar: Juan Esteban Montero Rodríguez, chilenischer Politiker (* 1879)
26. Februar: Marion Ashmore, US-amerikanischer Footballspieler (* 1899)
26. Februar: Elise Kosegarten, deutsche Malerin (* 1877)
27. Februar: Traugott Bachmann, deutscher Landwirt, evangelischer Missionar und Prediger der Herrnhuter Brüdergemeine (* 1865)
28. Februar: August Arteldt, deutscher Politiker (* 1870)
März
2. März: Adam Scharrer, deutscher Schriftsteller (* 1889)
4. März: Elsa Brändström, schwedische Philanthropin (* 1888)
4. März: Antonin Artaud, französischer Schauspieler, Dramatiker, Regisseur, Dichter und Theater-Theoretiker (* 1896)
4. März: Frank Sandford, US-amerikanischer Prediger, Prophet und Gemeinschaftsgründer (* 1862)
8. März: Gustav Gamper, Schweizer Musiker, Maler und Schriftsteller (* 1873)
10. März: Jan Masaryk, tschechischer Politiker (* 1886)
11. März: Felix Linnemann, 4. Präsident des DFB (* 1882)
16. März: Clara Mannes, deutsch-amerikanische Pianistin und Musikpädagogin (* 1869)
19. März: Essek William Kenyon, US-amerikanischer evangelikaler Pastor und Autor (* 1867)
20. März: Avedis Aharonian, armenischer Politiker, Revolutionär und Schriftsteller (* 1866)
23. März: Nikolai Berdjajew, russischer Philosoph (* 1874)
23. März: George Milne, 1. Baron Milne, britischer Feldmarschall und Chef des Imperialen Generalstabes (* 1866)
24. März: Jewgeni Abalakow, sowjetischer Bergsteiger (* 1907)
24. März: Konstantin Igumnow, russischer Komponist und Klaviervirtuose (* 1873)
25. März: Warren Hymer, US-amerikanischer Schauspieler (* 1906)
28. März: John Duncan MacLean, kanadischer Politiker (* 1873)
30. März: John H. Bieling, US-amerikanischer Sänger (* 1869)
31. März: Egon Erwin Kisch, Prager Journalist (* 1885)
April
2. April: Sabahattin Ali, türkischer Schriftsteller und Lehrer (* 1907)
3. April: Jakob Haringer, deutscher Schriftsteller (* 1898)
4. April: George Dorrington Cunningham, englischer Organist und Musikpädagoge (* 1878)
5. April: Abby Aldrich Rockefeller, US-amerikanische Mäzenin und Mitbegründerin des Museum of Modern Art (* 1874)
8. April: Abd al-Qadir al-Husaini, palästinensischer Nationalist (* 1907)
10. April: Wilhelm Külz, deutscher Politiker (* 1875)
10. April: Robert L. Williams, US-amerikanischer Politiker (* 1868)
14. April: Gerhard Anschütz, deutscher Staatsrechtler (* 1867)
16. April: Juozas Gruodis, litauischer Komponist und Musikpädagoge (* 1884)
17. April: Johan Paul van Limburg Stirum, Generalgouverneur von Niederländisch-Indien (* 1873)
17. April: John Madden, schottischer Fußballspieler und -trainer (* 1865)
18. April: Erich Metzeltin, deutscher Eisenbahn-Ingenieur (* 1871)
21. April: Aldo Leopold, US-amerikanischer Forstwissenschaftler und Ökologe (* 1887)
21. April: Carlos López Buchardo, argentinischer Komponist, Pianist und Musikpädagoge (* 1881)
22. April: Ili Kronstein, österreichische Malerin (* 1897)
22. April: Alfredo de Oro (oder am 23. April), kubanischer Billardspieler und Weltmeister
24. April: Manuel María Ponce, mexikanischer Komponist (* 1882)
28. April: Walter Krause, deutscher Fußballnationalspieler (* 1896)
29. April: Bernardus Dirks Eerdmans, niederländischer evangelischer Theologe und Politiker (* 1868)
30. April: Hubert Knackfuß, deutscher Bauforscher und Archäologe (* 1866)
Mai
1. Mai: Marceli Popławski, polnischer Komponist, Geiger, Dirigent und Musikpädagoge (* 1882)
8. Mai: Joseph E. Atkinson, kanadischer Zeitungsverleger und Aktivist (* 1865)
9. Mai: Paul Hunder, deutscher Fußballspieler (* 1884)
12. Mai: Francisco Alonso, spanischer Komponist (* 1887)
14. Mai: John H. Overton, US-amerikanischer Politiker (* 1875)
20. Mai: Bogumił Šwjela, sorbischer Geistlicher, Sprachforscher und Publizist (* 1873)
16. Mai: Ralph Hepburn, US-amerikanischer Motorrad- und Automobilrennfahrer (* 1896)
16. Mai: Jacques Ledure, belgischer Automobilrennfahrer (* 1948)
21. Mai: Artur Dinter, deutscher Schriftsteller und NS-Politiker (* 1876)
24. Mai: Jacques Feyder, französisch-belgischer Filmregisseur (* 1885)
25. Mai: Sidney Preston Osborn, US-amerikanischer Politiker (* 1884)
26. Mai: Theo Morell, deutscher NS-Arzt (* 1886)
28. Mai: Hubert Eisdell, englischer Sänger (* 1882)
29. Mai: Dame May Whitty, britische Schauspielerin (* 1865)
Juni
1. Juni: Sonny Boy Williamson I., US-amerikanischer Bluesmusiker und Mundharmonikaspieler (* 1914)
2. Juni: Viktor Brack, deutscher Kriegsverbrecher (* 1904)
2. Juni: Karl Brandt, Mediziner und Leibarzt von Adolf Hitler (* 1904)
2. Juni: Georges Casse, französischer Automobilrennfahrer (* 1890)
2. Juni: Wolfram Sievers, Reichsgeschäftsführer (* 1905)
4. Juni: Albrecht Graf zu Stolberg-Wernigerode, deutscher Politiker und Reichstagsabgeordneter (* 1886)
5. Juni: Glen Edwards, US-amerikanischer Testpilot (* 1918)
6. Juni: Aron Freimann, deutsch-jüdischer Historiker (* 1871)
6. Juni: Louis Jean Lumière, französischer Fototechnikpionier (* 1864)
8. Juni: Ferdinand Bronner, deutscher Schriftsteller und Dramatiker (* 1867)
9. Juni: Maria Belpaire, flämische Schriftstellerin (* 1853)
11. Juni: Hugh M. Dorsey, US-amerikanischer Politiker (* 1871)
13. Juni: Dazai Osamu, japanischer Schriftsteller (* 1909)
14. Juni: Gertrude Franklin Atherton, US-amerikanische Schriftstellerin (* 1857)
14. Juni: Ernst Henrik Ellberg, schwedischer Komponist (* 1868)
16. Juni: Marcel Brillouin, französischer Physiker (* 1854)
16. Juni: Rufus Jones, amerikanischer Autor, College-Professor, Mystiker, Philosoph und Quäker (* 1863)
20. Juni: George Frederick Boyle, australischer Komponist (* 1886)
21. Juni: Hans Aull, deutscher Richter (* 1869)
23. Juni: Hans Adam, deutscher Marineoffizier (* 1883)
27. Juni: Wilhelm Sauter, deutscher Maler (* 1896)
30. Juni: Adrien Alin, französischer Autorennfahrer (* 1905)
30. Juni: Morris Fuller Benton, US-amerikanischer Ingenieur und Schriftentwerfer (* 1872)
Juli
1. Juli: Omobono Tenni, italienischer Motorradrennfahrer (* 1905)
1. Juli: Achille Varzi, italienischer Rennfahrer (* 1904)
1. Juli: Paolo Salman, syrischer Erzbischof in Jordanien (* 1886)
4. Juli: Christian Kautz, Schweizer Automobilrennfahrer (* 1913)
5. Juli: Georges Bernanos, französischer Schriftsteller (* 1888)
6. Juli: Luigi Arrigoni, italienischer Erzbischof (* 1890)
8. Juli: Bruno H. Bürgel, deutscher Astronom, Schriftsteller und Wissenschaftspublizist (* 1875)
11. Juli: John Anderson, US-amerikanischer Diskuswerfer (* 1907)
11. Juli: Gerhard Kittel, deutscher evangelischer Theologe (* 1888)
15. Juli: John J. Pershing, US-amerikanischer Soldat und General (* 1860)
16. Juli: Arthur Traube, deutscher Chemiker (* 1878)
18. Juli: Eduard „Ede“ Telcs, ungarischer Bildhauer und Medailleur (* 1872)
21. Juli: Arshile Gorky, US-amerikanischer Maler (* 1904)
23. Juli: D. W. Griffith, US-amerikanischer Schauspieler, Regisseur und Filmproduzent (* 1875)
24. Juli: Bruno Ahrends, deutscher Architekt (* 1878)
27. Juli: Woolf Barnato, britischer Finanzier-, Automobilrennfahrer- und Cricketspieler (* 1895)
29. Juli: Ruth Neudeck, deutsche Aufseherin der SS im Konzentrationslager Ravensbrück (* 1920)
31. Juli: George Adee, US-amerikanischer Footballspieler und Tennisfunktionär (* 1874)
August
4. August: Lorenz Bock, deutscher Jurist und Politiker (* 1883)
4. August: Mileva Marić, serbische Mathematikerin (* 1875)
9. August: Hugo Ferdinand Boss, deutscher Textilunternehmer (* 1885)
10. August: Emmy Hennings, deutsche Schriftstellerin und Kabarettistin (* 1885)
15. August: George Tallis, australischer Theaterunternehmer (* 1869)
16. August: Edward Hill Amet, US-amerikanischer Erfinder (* 1860)
16. August: Babe Ruth, amerikanischer Baseballspieler (* 1895)
19. August: Frederick Philip Grove, deutscher und kanadischer Schriftsteller und Übersetzer (* 1879)
21. August: Richard Atwater, US-amerikanischer Journalist, Universitätsdozent und Kinderbuchautor (* 1892)
22. August: Adolf Behne, deutscher Architekt, Kunstpolitiker und Wissenschaftler (* 1885)
25. August: Hermann Gieseler, deutscher Gewerkschaftsfunktionär (* 1889)
27. August: Oscar Lorenzo Fernández, brasilianischer Komponist (* 1897)
27. August: Charles Evans Hughes, US-amerikanischer Politiker und Jurist (* 1862)
28. August: James M. Slattery, US-amerikanischer Politiker (* 1878)
30. August: Alice Salomon, deutsche Frauenrechtlerin (* 1872)
31. August: Janus Djurhuus, färöischer Dichter (* 1881)
31. August: Andrei Schdanow, sowjetischer Politiker (* 1896)
September
1. September: Feng Yuxiang, chinesischer Kriegsherr (* 1882)
1. September: Thomas Parnell, Professor für Physik an der Universität Queensland (* 1881)
3. September: Edvard Beneš, tschechischer Politiker (* 1884)
4. September: Alice Barbi, italienische Violinistin, Sängerin und Komponistin (* 1858)
5. September: Hans Schrader, deutscher Archäologe (* 1869)
5. September: Richard C. Tolman, US-amerikanischer Physiker (* 1881)
8. September: Georg Schmückle, deutscher Schriftsteller (* 1880)
10. September: Ferdinand I., Zar von Bulgarien (* 1861)
11. September: Muhammad Ali Jinnah, Politiker in Britisch-Indien, gilt als Gründer des Staates Pakistan (* 1876)
13. September: Paul Wegener, deutscher Schauspieler und Regisseur (* 1874)
14. September: Vernon Dalhart, US-amerikanischer Sänger und Country-Musiker (* 1883)
16. September: Manuel Arce y Ochotorena, Erzbischof von Tarragona und Kardinal (* 1879)
17. September: Édouard Brisson, französischer Automobilrennfahrer (* 1882)
17. September: Folke Bernadotte, schwedischer Offizier (* 1895)
17. September: Emil Ludwig, deutscher Schriftsteller (* 1881)
23. September: Gustav Ricker, Wissenschaftler und Arzt (* 1870)
25. September: Oskar von Niedermayer, deutscher Offizier, Professor und Abenteurer (* 1885)
28. September: Gregg Toland, US-amerikanischer Kameramann (* 1904)
28. September: Emma Zimmer, SS-Oberaufseherin im Konzentrationslager Ravensbrück (* 1888)
30. September: Edith Roosevelt, zweite Gattin des US-Präsidenten Theodore Roosevelt (* 1861)
Oktober
3. Oktober: Alois Wolfmüller, deutscher Erfinder, Ingenieur und Flugtechniker (* 1864)
8. Oktober: Sydney Anderson, US-amerikanischer Politiker (* 1881)
9. Oktober: Alfred Roth, deutscher Politiker, MdR (* 1879)
10. Oktober: Siegmund von Hausegger, österreichischer Komponist und Dirigent (* 1872)
10. Oktober: Mary Eaton, US-amerikanische Schauspielerin (* 1901)
12. Oktober: Alfred Kerr, deutscher Theaterkritiker (* 1867)
18. Oktober: Walther von Brauchitsch, Oberbefehlshaber des Heeres im Dritten Reich (* 1881)
21. Oktober: Koene Dirk Parmentier, niederländischer Luftfahrtpionier (* 1904)
22. Oktober: Ernst von Aster, deutscher Philosoph und Philosophiehistoriker (* 1880)
22. Oktober: August Hlond, Erzbischof von Gnesen und Posen und Erzbischof von Warschau und Primas in Polen (* 1881)
23. Oktober: Eugeniusz Morawski-Dąbrowa, polnischer Komponist (* 1876)
24. Oktober: Franz Lehár, österreichischer Komponist (* 1870)
25. Oktober: Walter Bock, deutscher Chemiker (* 1895)
27. Oktober: Charles Levadé, französischer Komponist (* 1869)
29. Oktober: Antonio Létourneau, kanadischer Organist und Musikpädagoge (* 1885)
31. Oktober: Milly Steger, deutsche Künstlerin (* 1881)
November
4. November: Helena Zboińska-Ruszkowska, polnische Sängerin und Gesangspädagogin (* 1877)
14. November: Gustav Beckmann, deutscher Musikwissenschaftler, Dirigent und Komponist (* 1883)
15. November: Clarence Morley, US-amerikanischer Politiker (* 1869)
19. November: Adam Ankenbrand, deutscher SS-Unterscharführer (* 1887)
19. November: Mannes Francken, niederländischer Fußballspieler (* 1888)
20. November: Alfred Götze, deutscher Prähistoriker (* 1865)
23. November: Üzeyir Hacıbəyov, aserbaidschanischer Komponist (* 1885)
24. November: Hans Watzlik, sudetendeutscher Schriftsteller (* 1879)
25. November: Bjarnat Krawc, sorbischer Komponist und Musikpädagoge (* 1861)
Dezember
1. Dezember: Somerton-Mann, mysteriöses Mordopfer (* um 1903)
2. Dezember: Chano Pozo, kubanischer Perkussionist (* 1915)
4. Dezember: Karl Bonhoeffer, Psychiater, Neurologe und Medizinischer Gutachter (* 1868)
4. Dezember: Hermann Behrends, Generalleutnant der Polizei und SS-Gruppenführer der Waffen-SS (* 1907)
8. Dezember: Richard Illge, deutscher Politiker (* 1868)
8. Dezember: Carl Watzinger, deutscher Archäologe (* 1877)
9. Dezember: Theodore Christianson, US-amerikanischer Politiker (* 1883)
10. Dezember: Friedrich Altrichter, deutscher Offizier und Militärschriftsteller (* 1890)
10. Dezember: Enrique Mario Casella, argentinischer Komponist (* 1891)
12. Dezember: Johann Anetseder, deutscher Politiker (* 1898)
12. Dezember: Franjo Dugan, kroatischer Komponist (* 1874)
13. Dezember: Frans Drion, niederländischer Lehrer, Politiker und Anarchist (* 1874)
14. Dezember: R. O. Morris, englischer Komponist und Musikpädagoge (* 1886)
15. Dezember: João Tamagnini de Sousa Barbosa, portugiesischer Militär und Politiker, Ministerpräsident von Portugal (* 1883)
16. Dezember: Rudolf Löw, Schweizer Maler und Schriftsteller (* 1878)
18. Dezember: Charles Bennett, britischer Leichtathlet und Olympiasieger (* 1870)
18. Dezember: William Arms Fisher, US-amerikanischer Komponist, Musikhistoriker und -verleger (* 1861)
20. Dezember: Christopher Rawdon Briggs, englischer Geiger und Musikpädagoge (* 1869)
20. Dezember: C. Aubrey Smith, britischer Schauspieler (* 1863)
21. Dezember: Otto Adler, deutscher Gewerkschaftsfunktionär (* 1876)
23. Dezember: Tōjō Hideki, 40. japanischer Premierminister und General (* 1884)
23. Dezember: Doihara Kenji, japanischer Meisterspion (* 1883)
25. Dezember: Carl Abrahamsson, schwedischer Eishockeyspieler (* 1896)
27. Dezember: Arrigo Serato, italienischer Geiger und Musikpädagoge (* 1877)
28. Dezember: Hans Bogner, deutscher Altphilologe (* 1895)
29. Dezember: Harry Farjeon, englischer Komponist (* 1878)
30. Dezember: Denton Welch, britischer Schriftsteller (* 1915)
31. Dezember: Malcolm Campbell, englischer Rennsportler und Journalist (* 1885)
31. Dezember: Otto Vitense, deutscher Pädagoge und Landeshistoriker (* 1880)
Datum unbekannt
Wilhelm Auberlen, deutscher Maler und Bildhauer (* 1860)
Stefan Ochaba, österreichischer Komponist, Kirchenmusiker und Chorleiter (* 1904)
Nobelpreise
Physik: Patrick Maynard Stuart Blackett
Chemie: Arne Tiselius
Medizin: Paul Hermann Müller
Literatur: T. S. Eliot
Ein Friedensnobelpreis wurde nicht verliehen.
Weblinks
Jahreschronik vom Haus der Geschichte der BRD
Zeitzeugnisse zur Alltagskultur des Jahres 1948 im Wirtschaftswundermuseum
Einzelnachweise
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Q5165
| 2,256.500653 |
3543
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https://de.wikipedia.org/wiki/Norrk%C3%B6ping
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Norrköping
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Norrköping (, []) ist eine Stadt in der schwedischen Provinz Östergötlands län und der historischen Provinz Östergötland. Die Stadt ist Hauptort der gleichnamigen Gemeinde und hat knapp 94.000 Einwohner (Stand 2015).
Geographie
Norrköping liegt an der Ostseeküste, unweit der Bucht Bråviken. Die Stadt wird vom Motala ström, dem wasserreichen Abfluss des Vättern, durchflossen, der hier nur Strömmen genannt wird. In der Stadt selbst bildet der Fluss, über den mehrere Brücken führen, bedeutende Wasserfälle und Stromschnellen, da er im Stadtgebiet einen Höhenunterschied von 22 Metern bewältigt. Die Stadt liegt auf Sedimenten, die sich über dem alten skandinavischen Felssockel des Baltischen Schildes gebildet haben. Im Norden, Osten und Westen der Siedlung breiten sich landwirtschaftliche Nutzflächen aus, während im Süden noch größere Waldflächen vorhanden sind.
Geschichte
Ur- und frühgeschichtliche Spuren finden sich im westlich gelegenen Herrebro.
Der Name des Ortes bezieht sich sehr wahrscheinlich auf seine Lage nördlich (norr) in Bezug auf einen Platz, der heute jedoch nicht mehr identifiziert werden kann. Analog dazu erhielt Söderköping seinen Namen durch die südlichere (söder) Lage. Es wird vermutet, dass es sich um einen Gerichtsplatz handelte. Köping ist die schwedische Bezeichnung für eine Minderstadt. Norrköping wurde erstmals zu Ende des 12. Jahrhunderts erwähnt, erhielt aber erst Anfang des 17. Jahrhunderts einige Bedeutung durch die Fabriken des aus Belgien eingewanderten Louis De Geer. So verdoppelte sich die Einwohnerzahl zwischen 1730 und 1770.
In der Stadt wurden mehrere schwedische Reichstage abgehalten. Bedeutend waren der von 1604, als Karl IX. die Königskrone empfing und der von 1800, als Gustav IV. Adolf nebst seiner Gemahlin gekrönt wurde.
Mittelalter
Es ist nicht genau datierbar, wann Norrköping gegründet wurde, doch erscheint eine Gründung im frühen Mittelalter als wahrscheinlich. Die Menschen begannen am breiten Fluss zu siedeln, der östlich in den Bråviken mündet, und nutzten das Wasser und die Wasserkraft für Mühlen und Fischfang. Wikingerzeitliche Spuren finden sich im Runenstein von Styrstad.
Die erste Brücke, die über den Motala ström gebaut wurde, entstand an der Stelle, wo der Fluss eine tiefe und schmale Furche durchfloss. Hier liegt heute die Brücke Gamlabro und es wird angenommen, dass sich an gleicher Stelle auch eine Wikingerburg, Knäppingsborg, befand. In der Nähe der Brücke entstand ein Marktplatz, heute Gamla torget („Alter Markt“), und etwas oberhalb eine einfache Holzkirche, die Johannes dem Täufer geweiht war. Später errichtete man eine weitere Kirche, die dem Heiligen Olav geweiht war. Sie soll in einer Bulle des Papstes aus dem 12. Jahrhundert erwähnt worden sein, in der sie als dem Kloster Askeby zugehörig erwähnt wurde, das bereits die Rechte zum Fischfang in Norrköping besessen haben soll. Wie die anderen Kirchen im Stadtgebiet, die dem Heiligen Olav geweiht waren, wurde sie in späterer Zeit durch die Sankt-Olai-Kirche (Sankt Olai kyrka) ersetzt. Als Königin Sofia ihre Lachsfangrechte 1283 an das Kloster St. Martin in Skänninge schenkte, wurde Norrköping als Norkøponge in der Urkunde erwähnt.
Über Jahrhunderte war der Lachsfang im Motala ström von Bedeutung, doch hatte sich der König bereits die besten Angelplätze sichern lassen. Diese lagen auf den ehemaligen Inseln Laxholmen und Kvarnholmen. Auch mehrere Klöster der Umgebung besaßen Fischfangrechte. Neben den bereits genannten waren dies u. a. noch die Klöster Vadstena, Varnhem und Vreta. Es wird angenommen, dass Norrköping die Stadtrechte zum ersten Mal zu Beginn des 14. Jahrhunderts erhielt. Unklar ist jedoch, wer die Stadtrechte verlieh. Dagegen existiert ein Dokument vom 7. April 1384, in dem Albrecht von Mecklenburg diese Rechte bekräftigt.
1404 reiste Königin Margrete I. nach Norrköping, um das Erbe von Schwedens größtem damaligen Grundbesitzer Bo Jonsson Grip aufzuteilen. Eine der Burgen in Jonssons Besitz, auf die sie es abgesehen hatte, war Ringstaholm auf einer Insel im Motala ström westlich der Stadt. Margrete konnte sich durchsetzen und die Burg fiel an die Krone. Während des Engelbrekt-Aufstandes wurde die Burg 1434 von Bauern belagert. Auf der Burg befand sich der von den Aufständischen gehasste Vogt Henrik Styke, der gezwungen wurde, die Burg aufzugeben. Nachdem die Burg zurückerobert wurde, belagerten aufständische Bauern sie erneut im November 1469. Auch diesmal ergab sich der Befehlshaber Bård Munk und noch im selben Jahr wurde Ringstaholm niedergebrannt.
Wie von der Burg existiert vom mittelalterlichen Norrköping oberirdisch heute nichts mehr, da alles Bränden zum Opfer fiel.
16. Jahrhundert
König Gustav I. Wasa reiste oft durch Norrköping im Zusammenhang mit Besuchen auf Schloss Stegeborg nahe der Bucht Slätbaken. Er ließ in der Stadt ein königliches Vorratsmagazin anlegen, wo heute die Hedvigskirche steht. Außerdem zog er alle kirchlichen Fischereirechte im Motala ström ein. Die Rolle des Ortes als Exporthafen wuchs in dieser Zeit mit der Bedeutung der Bergbaugebiete in Östergötland.
1567 tobte der Dreikronenkrieg rund um Norrköping und die Stadt wurde zum Schauplatz einer Schlacht zwischen Schweden und Dänen. Die Dänen, angeführt von Daniel Rantzau, drangen von Schonen und Småland kommend immer weiter nach Norden vor. Nach ihrem Einfall in Östergötland konnte die schwedische Armee südlich von Norrköping ein Lager errichten und beschloss, die Dänen an der Brücke Gamlabro zu stoppen. Am 3. Dezember erreichte die dänische Armee Norrköping. Die schwedische Armee hatte bereits die südlich des Strömmen gelegenen Häuser niedergebrannt und erwartete das dänische Heer. Auf der anderen Seite des Ufers hatte man ein Haus errichtet, das von Schützen und Kanonen verteidigt wurde. Nach einigen kleinen Gefechten und einem Überraschungsangriff des schwedischen Heeres, der allerdings entdeckt und zurückgeschlagen wurde, zog sich das dänische Heer zurück.
Einige Zeit später zettelten die Brüder Johann und Karl einen Aufstand gegen König Erik XIV. an und erklärten den König für abgesetzt. Johann wurde als Johann III. der Nachfolger von Erik XIV. Er bot allen Bewohnern von Norrköping, die ein neues Haus aus Stein errichten, zwölf Jahre ohne Steuern an. Sein Ziel war ein Stadtplan mit geraden Straßen und rechteckigen Quartieren. Im Jahre 1581 errichtete Johann III. ein Schloss in der Stadt, Norrköpingshus, von dem es allerdings keine Bilder gibt. Überlieferungen zufolge soll es sich um einen plumpen Bau mit etwa 300 Fenstern, zwei Türmen samt Portal und einem Wallgraben gehandelt haben. Das Schloss lag dort, wo heute Tyska torget (der „deutsche Markt“) liegt; der dazugehörige Garten (Trädgården) erstreckte sich entlang der heutigen Trädgårdsgatan.
Ab 1594 wurde das Schloss von Elisabet Wasa, einer von Gustav Wasas Töchtern, bewohnt. Sie war die Witwe von Christoph von Mecklenburg und zog in die Stadt mit einem Gefolge von etwa 1000 Menschen ein. Durch den Zuzug wuchs die Bevölkerung schlagartig. Das Leben am Hof war glanzvoll und lebhaft, nicht zuletzt, da die königlichen Verwandten in der näheren Umgebung wohnten. Herzog Karl wohnte in Nyköping, Johanns Gemahlin Gunilla Bielke auf Bråborg und weitere Verwandte in Vadstena und Stegeborg. Das Schloss in Stockholm stand zu dieser Zeit leer, da König Johan III. verstorben war und sein Nachfolger Sigismund III. Wasa es vorzog, in Polen zu residieren.
Im Herbst 1598 ging Sigismund mit einer polnischen Armee bei Stegeborg an Land und es dauerte nicht lange, bis er auf Herzog Karls Truppen stieß. Die Truppen des Herzogs landeten in der Klemme und einige hundert Verletzte wurden in Norrköpingshus, das jetzt als Lazarett verwendet wurde, behandelt. Die entscheidende Schlacht bei Stångebro fand etwas außerhalb von Linköping statt und wurde vom Heer des Herzogs Karl gewonnen, aus dem später König Karl IX. wurde.
17. Jahrhundert
Herzog Johann und Johannisborg
Im Jahre 1604 sollte ein Reichstag in Norrköping abgehalten werden, wo die Erbschaftsfrage geklärt wurde. Dies bedeutete, dass Herzog Karl König wurde und Sigismund abgesetzt wurde. Karls Neffe Johann wurde zum Herzog von Östergötland ernannt, doch war dieser erst 14 Jahre alt. Außerdem brannte Norrköpingshus, wo der Reichstag abgehalten werden sollte, wenige Tage vor der Zusammenkunft nieder.
Fünf Jahre später, 1609, war Johann erwachsen genug und nahm die Rolle eines unabhängigen Fürsten ein. Er hatte großes mit der Stadt vor, wollte sie ausbauen und einen komplett neuen Stadtteil nördlich des Flusses anlegen. Johann versuchte die Leute mit zwölf Jahren Steuerfreiheit und weiteren Vorteilen in seine Stadt zu locken. Er rief deutsche Handwerker nach Norrköping, um eine Waffenfabrik auf Kvarnholmen zu bauen, und legte damit den Grundstein für die spätere Holmens Bruk, die erste Industrie in der Stadt.
Am 3. Mai 1613 begann man mit dem Bau eines neuen Schlosses nördlich des Flusses. Es bekam den Namen Schloss Johannisborg und zeitweise waren über 700 Knechte mit dem Bau beschäftigt. Architekt war Hans Fleming und 1618 war der Bau soweit fertiggestellt, dass die Hofverwaltung einziehen konnte. Kurze Zeit später verstarb Herzog Johann im März 1618 und sechs Monate später auch seine Frau Maria Elisabeth. Somit war die Zeit Östergötlands als Herzogtum erloschen. Bald wurde deutlich, dass der Herzog über seine Verhältnisse gelebt hatte und bei Kaufleuten und am Hof große Schulden angehäuft hatte.
Der Tod des Herzogs zog negative Auswirkung für Norrköping nach sich. Die Hofverwaltung mit allen Angestellten wurde abgewickelt und die Lieferanten und Handwerker hatten keine Aufträge mehr. Norrköping hatte mittlerweile 2.000 Einwohner. Die Arbeiten am Schloss gingen trotz des Todes weiter, und 1639 konnte das Dach fertiggestellt werden. Richtig abgeschlossen wurden die Arbeiten allerdings nie, da sich das Fundament als nicht stabil genug erwies und ständige Reparaturen nötig waren.
Louis De Geer und die ersten Industrien
Im Gegensatz dazu wuchs die Bedeutung des produzierenden Gewerbes. Immer mehr Fuhrwerke steuerten die Stadt an, um die verschiedenen Produkte aus der Grube in Finspång und deren Umgebung zu laden. Auch König Gustav II. Adolf erkannte die Bedeutung einer eigenen Waffenproduktion und kam 1618 nach Finspång, um einen Vertrag über die Produktion von Kanonen bei Wellam de Besche zu unterschreiben.
Wellam De Besche leitete zwar die Arbeit in der Grube Finspång, aber in Wirklichkeit unterschrieb der König den Vertrag mit dessen Teilhaber Louis De Geer. Auf Kvarnholmen begann man nun mit der Herstellung von Waffen. Außerdem baute man eine Hammerschmiede, eine Gewehrfabrik und eine Messinghütte. Die ebenfalls neu errichtete Brauerei hatte das Alleinrecht auf die Belieferung der schwedischen Flotte mit Bier.
De Geer war 1627 nach Norrköping gekommen, obwohl der nächste Mann des Königs, Axel Oxenstierna, De Geer zum Umzug nach Stockholm überreden wollte. De Geer hatte sich jedoch schon für Norrköping entschieden. Er war sehr geschäftig und immer neue Betriebe, so u. a. eine Schiffswerft, eine Seilerei, eine Papiermühle und eine Kleiderfabrik, kamen hinzu. Die Messingfabrik entwickelte sich zur größten in Schweden. De Geer ließ auch im Ausland Arbeitskräfte anwerben. So kamen z. B. Wallonen aus den Ardennen im heutigen Belgien nach Norrköping. Die internationale Ausrichtung der Stadt prägte die Charakter Norrköpings in den 1630ern. Um 1650 war Norrköping nach Stockholm die zweitgrößte Stadt Schwedens mit etwa 6000 Einwohnern.
1627 kaufte Petter Speet die Mühle Drags, Drags kvarn und ließ auf dem Gelände eine Kleiderfabrik anlegen. Diese hatte schon von Anfang an große Aufträge für Stoffe für Uniformen der schwedischen Flotte erhalten. Über 300 Jahre sollte die Fabrik eine wichtige Rolle als die größte Industrie der Stadt spielen.
Am 29. Juli 1655 brannte die Stadt und fast alles südlich des Flusses wurde zerstört. Die Entwicklung der Stadt stagnierte, doch konnten sich die größten Industrien vom Brand erholen. Die Textilindustrie war jetzt diejenige, die am meisten wuchs. Das größte Unternehmen war zu dieser Zeit Drags, auch wenn sich Petter Speet zurückgezogen hatte. Sein Nachfolger, Abel Becker, war ein Deutscher aus Lübeck, der in der Stadt bereits 16 Mühlen besaß.
Als Königin Christina 1654 auf den Thron verzichtete, erhielt sie Norrköping als Länderei, die sie unterstützen sollte. Bei einem Besuch in Schweden im Zusammenhang mit dem Tod Karl X. Gustavs 1660, kam sie 1661 mit großem Gefolge in die Stadt an und forderte mehr Geld und Unterstützung von der Regierung in Stockholm. Sie ließ sich im ehemaligen Haus Louis De Geers nieder, zog sich aber anderthalb Jahre später wieder nach Rom zurück. Nach ihr wurden die beiden Straßen Drottninggatan und Kristinagatan sowie der Platz Kristinaplatsen benannt.
Nach dem Tod De Geers im Jahre 1652 hatten seine Werkstätten verschiedene Eigner, bis sie schließlich 1666 vom niederländischen Geschäftsmann Jakob Reenstierna d. Ä. übernommen wurde. Reenstierna erweiterte die Betriebe um eine Gewandfabrik und eine Scherenschleiferei. Die Produkte wurden in Europas größten Handelsstädten durch Handelsvertreter vertrieben, überwiegend durch das Handelshaus Jean & David in Amsterdam. Der Export von Messing wurde jedoch durch den Ausbruch des Französisch-Niederländischen Krieges im Jahre 1672 gebremst und eine Überflutung im Frühling 1677 zerstörte Dämme, Wasserräder und Gebäude auf Kvarnholmen. Der Tod Reenstiernas 1678 bedeutete das vorläufige Ende der großen Zeit der Stadt.
18. Jahrhundert
Jakob Reenstierna hinterließ einen großen Schuldenberg. Sein Sohn Abel konnte die Anlagen erst 1689 mit Hilfe einer größeren Anleihe bei der Reichsbank übernehmen. Mit Hilfe weiterer Anleihen wollte er eine Monopolstellung in der europäischen Messingproduktion erzielen, doch dieses Unternehmen schlug fehl und so führte die Bank ab 1704 den Betrieb der Werkstätten weiter. Der Abgang Reenstiernas war der Beginn einer 36-jährigen Periode von Schwierigkeiten für Holmens Bruk.
1719 befand sich Schweden im Krieg mit Russland. Die Flotte des Zaren bereitete einen Angriff auf Stockholm vor, wo sich der Hauptteil der schwedischen Armee befand, doch dann teilten sich die russischen Verbände und die südlichen Einheiten brandschatzten in Södertälje, Trosa und Nyköping. Am 30. Juli liefen 394 russische Schiffe in den Motala ström ein. Die wenigen schwedischen Soldaten, die in Norrköping stationiert waren, konnten die russischen Truppen nicht daran hindern, die Stadt bis zum 3. August niederzubrennen. Außerdem nahmen die Angreifer aus den Metallwerkstätten 100 Schiffspfund (etwa 17 Tonnen) Messing und 282 Schiffspfund Kupfer mit.
1720 beschloss die schwedische Regierung eine zwanzigjährige Steuerfreiheit für die Stadt, deren Wiederaufbau langsam begann, so dass sie bald 2.600 Einwohner hatte. Treibende Wirtschaftszweige waren jetzt die Tabak- und Zuckerverarbeitung. Vor allem die Herstellung von Snus erlebte ab den 1750er-Jahren einen bedeutenden Aufschwung. 1751 kam Petter Swartz (aus Svartsången, Kroppa, Provinz Värmland) in die Stadt, der eine riesige Snusfabrik an der heutigen Gamla Rådstugugatan errichten ließ. Der Tabak wurde überwiegend direkt in Norrköping angebaut, zum Beispiel auf den Feldern um die Sankt-Johannes-Kirche, wo sich drei Tabakscheunen befanden. Das Snus wurde in ganz Schweden verkauft und es gab sieben verschiedene Sorten.
1739 verkaufte die Reichsbank die Messingwerkstätten an die Kaufleute Georg Spalding und Johan Forsberg. Nachdem die Anlagen zwischenzeitlich in Besitz von Johan Henrik Lefebure aus Stockholm waren, der die Herstellung von Fingerhüten einführte, gingen sie zu Beginn des Jahres 1778 an den nur 27-jährigen Elias Pasch. Anfänglich konnten alle Besitzer wirtschaftliche Erfolge erzielen, doch mit der französischen Revolution wurde es schwer, das notwendige Smithsonit zu importieren. Als auch noch die Exportrate von Messing sank, ging das Unternehmen 1793 in Konkurs. Die Konkursverwalter hatten es in diesen unruhigen Zeiten schwer, die Werkstätten zu verkaufen und wurden sie erst 1802 los.
Der Reichstag von 1769
Im April 1769 war es wieder Zeit für einen Reichstag in Norrköping, obwohl der König Adolf Friedrich seinen Unwillen darüber zum Ausdruck gebracht hatte. Wahrscheinlich fürchtete er, dass es für ihn und seine Familie eng und unbequem in der Stadt werde, da unter 7.500 Einwohnern 3.000 Gäste untergebracht werden sollten. Der König wurde an der Drottninggatan gegenüber dem Rathaus einquartiert und allein für den Hofstaat waren 179 Räume reserviert.
Die Priestergilde hatte ihr Domizil in der Sankt-Olai-Kirche, der Bauernstand im städtischen Hörsaal und der Bürgerstand im Rathaus. Als Plenarsaal diente die Hedvigskirche. Viele ausländische Gesandte waren anwesend und die russischen, englischen und dänischen Beamten verteilten große Summen an Bestechungsgeldern um der Partei der Mützen den Wahlsieg zu ermöglichen. Aber es half nichts, die Hutpartei gewann die Wahl.
19. Jahrhundert
Die jüdische Gemeinde
Die staatliche Behörde für Außenhandel (Kommerskollegium) erlaubte 1782 in einem Judengesetz (Judereglementet) in drei schwedischen Städten die Ansiedlung von Juden, und zwar in Stockholm, Göteborg und Norrköping. Schon wenige Tage nach Inkrafttreten des Regelwerks beantragte der Händler Jacob Marcus einen Schutzbrief beim Magistrat der Stadt und etablierte ein Großhandelsunternehmen. Ab 1790 befasste er sich mit dem Bedrucken von Baumwollstoffen. Ein weiterer früher Einwanderer war Philip Jeremias, der sich daran versuchte, Öl aus Raps- und Hanfsamen zu pressen. Seine Nachkommen gehörten unter dem Namen Philipsson zu den bekannten Wirtschaftsgrößen von Norrköping. Die dritte bedeutende jüdische Person dieser Zeit war Jacob Wahren, der um 1810 eine Kleidungsfabrik gründete.
Im Vergleich zu den anderen beiden Städten hatte die jüdische Bevölkerung in Norrköping immer eine geringe Anzahl. Die erste Synagoge war ein einfaches Gebäude, das 1796 errichtet wurde. Die heutige Synagoge entstand 1858 an der Bråddgatan. Ein jüdischer Friedhof wurde schon um 1780 angelegt. Nach dem Zweiten Weltkrieg nahm die Zahl der jüdischen Bürger in Norrköping ab und zum Ende der 1970er Jahre gab es hier weniger als zehn jüdische Männer im Alter über 13 Jahre für einen Minjan, wie er für einen jüdischen Gottesdienst notwendig ist.
Der Reichstag von 1800
Am 10. März 1800 begann ein Reichstag in Norrköping, zu dem Gustav IV. Adolf aufgerufen hatte. Die schwierige finanzielle Lage des Landes sollte diskutiert und der neue König gekrönt werden. Die Verhandlungen liefen kompliziert, da der Adel in vielen Punkten nicht mit dem König übereinstimmte. Ungeachtet dessen fand am 3. April 1800 die Krönungszeremonie statt. Die Wetterverhältnisse bei der Prozession durch die Stadt waren, mit böigem Wind und Regen, der später in Schnee überging, nicht gerade einladend. Die eigentliche Krönung erfolgte in der Sankt-Olai-Kirche.
Die Textilindustrie wächst
Zu Beginn des 19. Jahrhunderts starteten die Industriellen Lars Johan Söderberg und Janne Arosenius die Kleidungsfabrik Gryt, welche sich zur größten Anlage dieser Art in Schweden entwickelte. Beide Unternehmer waren technisch interessiert und rüsteten ihre Anlagen schon 1809 mit Spinnmaschinen aus, was die Produktion enorm steigerte. 1810 deckte Norrköping mit 15 größeren Textilunternehmen die Hälfte der schwedischen Kleidungsherstellung ab. Diese Entwicklung setzte sich fort, so dass 1840 2.800 Personen in 153 Fabriken arbeiteten, von denen 75 zur Textilbranche gehörten. Norrköpings wirtschaftliche Bedeutung für Schweden zu dieser Zeit zeigt sich auch darin, dass die Stadt 1870 mit 15 Prozent an der landesweiten Industrieproduktion noch vor Göteborg (10 %) lag.
1802 wurde bei Holmens Bruk mit der Herstellung von Papier aus Lumpen begonnen. Nach anfänglich mäßigem Erfolg konnte die Papierproduktion zwischen 1835 und 1840 verzehnfacht werden. Zwischenzeitlich war an gleicher Stelle eine Baumwollspinnerei entstanden und um die Produktion beider Industrien weiter zu steigern, bildete man 1854 die Aktiengesellschaft Holmen. Zur Demonstration ihrer Dominanz ließ die Aktiengesellschaft 1856 vom Architekten Carl Theodor Malm ein fünfgeschossiges Fabrikgebäude mit Gasbeleuchtung und Aufzügen errichten, was in jener Zeit neuartig war. Heute wird das Haus von der philosophischen Fakultät der Universität Linköping genutzt.
1822 gab es in Norrköping einen Großbrand, bei dem die südlichen und östlichen Stadtteile niederbrannten. 358 Häuser bzw. Gehöfte verschwanden und circa 3.500 Menschen wurden wohnungslos. Die Situation verdüsterte sich weiter, als 1826 der nächste Brand ausbrach, bei dem 17 Quartiere in der Umgebung der heutigen Kungsgatan den Flammen zum Opfer fielen und etwa 2.000 Personen obdachlos wurden. Daraufhin erfolgte ein Verbot von Holzhäusern in der Stadt.
Industriebetriebe die nicht mit der Textilbranche in Verbindung standen gab es nur sehr spärlich in der Stadt. Eine der wenigen Ausnahmen war das Druckereigewerbe. Von den zwei lithografischen Anstalten Schwedens dieser Zeit hatte die in Norrköping gelegene 160 Angestellte und jene in Malmö nur zwei. 1841 wurde an der Südseite des Motala ström mit dem Aufbau der Werft begonnen. Hier stellte man Schwedens erstes Dampfboot mit Propellerantrieb her und lieferte es an den russischen Zaren. Das Schiff erreichte eine Geschwindigkeit von zehn Knoten, was die lokale Presse als Weltrekord bezeichnete. Ab 1850 hatte die Werft 600 Angestellte, womit sie Schwedens größte Werftindustrie darstellte.
In den 1860er-Jahren ging die Nachfrage nach Kleidungsstücken zurück, so dass ein Drittel der Fabriken verschwand. Zehn Jahre später ging es dann schon wieder aufwärts, was vor allem auf eine verstärkte Mechanisierung und Rationalisierung zurückzuführen war. Da man viele Handwebstühle durch mechanische Webstühle ersetzte, stieg die Anzahl der Beschäftigten nur um 25 Prozent, während die Industrieproduktion um 50 Prozent zunahm. Im Vergleich mit anderen schwedischen Städten erfolgte der Boom in Norrköping jedoch weniger deutlich. Der landesweite Ausbau des Eisenbahnnetzes verlagerte den Export von Produkten in andere Häfen und die Nachfrage nach Textilien stieg nicht so stark wie die Nachfrage nach anderen Erzeugnissen.
Soziale Probleme
Der industrielle Aufschwung führte zum Auftreten vorher nicht gekannter sozialer Probleme, wie z. B. das Wohnungsproblem. Die Wellen der starken Einwanderung dauerten aber immer nur wenige Jahre und diese Schwankungen machten das Baugeschäft riskant. Ein Bau der während der Hochkonjunktur begonnen wurde, konnte unter schlechten Bedingungen bei Niedrigkonjunktur fertig sein, so dass der Bauherr keine Abnehmer fand. Zwischen 1870 und 1904 gab es vier Perioden mit Hochkonjunktur. Aus dem Wohnungsproblem resultierte eine Überfüllung vieler Häuser, so dass einige Stadtteile den Charakter von Slums erhielten. Zu dieser Zeit bestanden 95 Prozent der Wohnungen Norrköpings aus einem Raum, mit oder ohne Küche.
Die Grenze zu den Vororten Östra Eneby und Borg war bald so undeutlich, dass man von einem zusammenhängenden Stadtgebiet sprechen konnte. Trotzdem fühlten sich die Amtsträger Norrköpings nicht verantwortlich für diese Gebiete und es wurde auch behauptet, dass diese Verantwortlichen nichts gegen die sozialen Missstände im Zentrum unternahmen, da sie hofften, dass die Menschen sich genötigt fühlen, vor die Stadtgrenze zu ziehen. Der Schulinspektor Norrköpings verglich die Häuser in den Arbeitervierteln Östra Enebys mit „elendigen Kojen“. Vier Fünftel der Bevölkerung Östra Enebys arbeiteten in Norrköping.
Die harten Arbeitsbedingungen zeigten sich zum Beispiel darin, dass die Arbeitszeit bei der Trikotagenfabrik Wiechel von 6 Uhr morgens bis 19 Uhr ging (sonnabends bis 18 Uhr). Kinderarbeit war üblich, der Anteil der Angestellten unter 18 Jahren in der Textilindustrie Norrköpings lag bis 1912 bei 15 bis 20 Prozent. Die Arbeit in der Textilbranche galt als ausgesprochene Frauenarbeit und so lagen die Löhne niedrig. Die weiblichen Angestellten der Trikotagenfabrik verdienten ungefähr 3 Kronen und 50 Öre pro Woche. Es wird geschätzt, dass der Jahreslohn bei den Baumwollwebereien zwischen 275 und 320 Kronen lag. Bei dem Unternehmen Holmens verdiente im Jahr 1889 eine Weberin etwa 5 Kronen und ein männlicher Arbeiter circa neun Kronen pro Woche.
20. Jahrhundert bis heute
Ab 1904 erhielt Norrköping ein eigenes Straßenbahnnetz, wobei die erste Linie 4 km lang war. Die Hochkonjunktur der Jahrhundertwende machte sich in Norrköping weniger stark bemerkbar. So sank der Anteil der Stadt an der landesweiten Wollproduktion von 40 Prozent im Jahre 1896 auf 30 Prozent im Jahre 1912. Der Rückgang beruhte vor allem auf der zunehmenden Konkurrenz aus Borås, Malmö und Kristianstad. 1913 vereinigten sich vier Wollfabriken Norrköpings zu AB Förenade Yllefabrikerna (YFA) mit zusammen 1.500 Angestellten. Die Baumwollspinnereien des Ortes konnten dagegen ihre Position verteidigen. So gab es 1908 zwei dominierende Unternehmen mit je etwa 1000 Angestellten.
In der Zeit zwischen den Weltkriegen expandierte die schwedische Textilindustrie stark, wovon Norrköping profitierte. Im Zweiten Weltkrieg sanken die Verkaufszahlen für zivile Kleidungsstücke wieder, doch die schwedische Armee hatte einen um das Zehnfache gesteigerten Verbrauch. Nach dem Krieg etablierten sich wieder ein paar kleinere Textilbetriebe mit nur wenigen Webstühlen.
Die Krise der Textilindustrie
In den 1950er-Jahren änderten sich die Kaufgewohnheiten der Bürger. An die Stelle von Produkten aus Wolle wie Mänteln, Kostümen und Überröcken traten leichtere Kleidungsstücke wie Hosen, Jacken und Kleider. Diese Produkte wurden im Ausland billiger produziert. Auch der Wechsel zu synthetischen Materialien ließ die Produktion von Baumwollhemden sinken.
Die Löhne der Textilarbeiter gehörten zu den niedrigsten im Lande, doch die Löhne italienischer Arbeiter entsprachen nur 40 % und die der japanischen Angestellten sogar nur 10 % der schwedischen Löhne. Zuerst traf die Krise nur kleinere Betriebe, doch ab 1954 begannen auch große Unternehmen ihre Tore zu schließen. Aufgrund des Rückgangs begann die Gemeindeverwaltung ab den 1960er-Jahren intensiv für den Standort zu werben. Einige Betriebe aus anderen Wirtschaftszweigen zogen in die leerstehenden Werkshallen.
Es gab auch Versuche, die Baumwollverarbeitung zu retten, indem die Produktion in die Vororte der Stadt verlegt wurde, doch diese Einrichtungen wurden letztendlich nur noch als Lagerräume genutzt. Am deutlichsten machte sich die Schließung des Unternehmens YFA bemerkbar, wo 1970 schlagartig 862 Angestellte arbeitslos wurden. Trotz staatlicher Unterstützung betrachtete die Unternehmensleitung die Weiterführung der Produktion als uneffektiv. Diese Schließung markierte das Ende einer 350-jährigen Textilproduktion im zentralen Norrköping.
Andere Entwicklungen
In den 1930er-Jahren schloss die Snusfabrik von Carl Swartz, doch noch bis 1947 wurde im Ort Tabak angebaut und 1951 riss man die letzte Tabakscheune ab.
Da die Stadt vor 1971 eine eigene Verwaltungseinheit darstellte, erhielt sie keine Steuern von Arbeitern, die außerhalb der Stadtgrenze wohnten. Der schwedische Reichstag beschloss deshalb eine Zusammenlegung der Gemeinden Skärblacka, Kvillinge und Kolmården mit Norrköping im Zuge der allgemeinen Gemeindereform. 1974 wurde auch die Gemeinde Vikbolandet mit aufgenommen.
Um den Verlust der Textilproduktion zu kompensieren, beschloss die schwedische Regierung 1971 den Umzug mehrerer staatlicher Behörden aus Stockholm nach Norrköping.
Bevölkerungsentwicklung
Während nach der Gründung der Stadt die Bevölkerung erst langsam wuchs, erhöhte sie sich kräftig durch die Ansiedlung von Industriebetrieben und die Industrialisierung im 18. und 19. Jahrhundert. So zählte Norrköping 1850 mit etwa 17.000 Einwohnern neben Stockholm (93.000), Göteborg (26.000) Karlskrona (14.000) und Malmö (13.000) zu den fünf Städten mit mehr als 10.000 Einwohnern. Nach den Stilllegungen, vor allem im Industriesektor, sind viele Bewohner ab den 1970ern weggezogen. Norrköping hatte zwischen den Jahren 1995 und 2000 in ganz Schweden den höchsten Wegzug mit 1.659 Personen, was etwa zwei Prozent der Bevölkerung entsprach. In den 2000er-Jahren stieg die Einwohnerzahl wieder an.
Stadtbild
Das Zentrum der Stadt liegt beim Platz Gamla torget. Dieser ist heute mit Häusern aus dem 18. und 19. Jahrhundert umgeben. Auf dem Platz befindet sich eine Statue von Carl Milles, die Louis De Geer zeigt. Die Drottninggatan ist Norrköpings Hauptstraße und erstreckt sich vom 1866 erbauten Bahnhof bis zum Kunstmuseum. Hinter dem Bahnhof liegen die Parks Järnvägsparken und Karl Johans-parken. Hier gibt es auch eine international bedeutende Kakteenrabatte, die in den 1920er-Jahren angelegt wurde. An der Westseite des Karl-Johan-Parks liegen das „Alte Stadthaus“ von 1801, das ehemalige „Große Hotel“ von 1854 und der Stall von 1857. Etwas weiter entfernt befindet sich das „Große Theater“ (Stora teatern), das 1908 vom Architekten Axel Anderberg im Jugendstil errichtet wurde.
Auf der anderen Seite des Flusses Motala ström liegt der „deutsche Platz“ (Tyska torget) mit dem Rathaus von 1910, der Hedvigs kyrka, dem Grand Hotel und dem ehemaligen Bankpalast. Am südlichen Ende der Drottninggatan liegt das kommerzielle Zentrum Norrköpings mit mehreren Warenhäusern. Wie in vielen anderen Städten, gab es auch in Norrköping in den 1960er-Jahren eine Abrisswelle, bei der viele ältere Gebäude durch Häuser im modernen Stil ersetzt wurden.
Entlang des Motala ström liegt die so genannte „Industrielandschaft“, die hauptsächlich aus alten Fabrikgebäuden aus der Zeit zwischen 1850 und 1917 besteht. In den 1970er Jahren war ein Großteil der Gebäude verfallen, doch heute sind die ursprünglichen Industriebauten anderweitig genutzt. So zog das Symphonieorchester von Norrköping in ein Gebäude, das früher eine Papiermühle war. Im siebeneckigen Gebäude Strykjärnet, das 1917 als Weberei gebaut wurde, befindet sich nun das „Museum der Arbeit“ (Architekt Folke Bensow). Auch eine Außenstelle der Universität Linköping nutzt eine ehemalige Wollfabrik.
Der Stadtkern wird von der nördlichen, östlichen und südlichen Promenade und vom Volkspark umschlossen. Als die Promenaden in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts angelegt wurden, gab es einen großen Bedarf an Schulen, so dass es hier eine Häufung dieser Einrichtungen gibt. Für die Promenaden zeichnete der 26-jährige Gartenarchitekt Knut Forsberg verantwortlich, der auch einen preisbelohnten Entwurf für den Park Bois de Boulogne in Paris geliefert und den Berzeliipark in Stockholm entworfen hatte. Ab 1858 entstand die 3,5 Kilometer lange nördliche Promenade mit Linden in vier Reihen und Fahrbahn in der Mitte. 1896 waren auch die östliche und südliche Promenade fertig und insgesamt hatte man 2.025 Bäume gepflanzt. Von den Gebieten mit Einfamilienhäusern ist die so genannte „rote Stadt“ interessant, wo zwischen 1917 und 1918 Holzhäuser für Arbeiter gebaut wurden, die einheitlich im typisch schwedischen Falunrot angestrichen sind.
Der Stadtteil Kneippen entstand um 1900 als Villastadt für die gehobene Mittelklasse. Das Zentrum des Stadtteils war zwischen 1898 und 1918 eine viel besuchte Kuranlage mit Kurhotel, Gästehaus und Restaurants, die nach dem Vorbild des Kneippkurortes Bad Wörishofen in Bayern errichtet worden war. Viele der älteren Gebäude wurden nach dem Zweiten Weltkrieg abgerissen, doch das Flair der Jahrhundertwende ist immer noch erkennbar.
Am südlichen Stadtrand, im Wald Vrinneviskogen gelegen, befindet sich mit dem Vrinnevisjukhus das nach dem Universitätskrankenhaus in Linköping zweitgrößte Krankenhaus in Östergötlands län. Das dritte, vom Landsting betriebene Krankenhaus ist Lasarettet in Motala. Vrinnevisjukhuset hat etwa 410 Behandlungsplätze und zirka 2.200 Angestellte. Im Einzugsbereich im östlichen Östergötland leben 170.000 Menschen. Außerdem wird das Krankenhaus als Ausstellungsfläche für Moderne Kunst genutzt.
Stadtbezirke
Stadtwappen
Das Wappen von Norrköping zeigt Olav den Heiligen von Norwegen, welcher als Schutzheiliger Norrköpings fungiert, mit seinen Attributen Streitaxt und Reichsapfel auf einem roten Thron. Im frühen 20. Jahrhundert wurde zeitweilig ein anderes Wappen verwendet, das ein gekröntes „N“ sowie eine Axt und ein Zepter zeigte. Das Stadtwappen ist gleichzeitig das Wappen der Gemeinde.
Politik
Hauptartikel: Gemeinde Norrköping#Politik
Die politische Exekutive für Norrköping ist die Gemeindeverwaltung (Kommunstyrelse) der Gemeinde Norrköping. Sie ist neben dem Stadtgebiet des Zentralortes auch für andere Ortschaften (tätorter) und ländliche Zonen im Gemeindegebiet verantwortlich.
Wirtschaft
Wirtschaft
Die Textilindustrie war über 400 Jahre der dominierende Wirtschaftszweig, der zur Blüte der Stadt führte, doch in den 1960er Jahren schlossen die meisten Fabriken aufgrund der starken ausländischen Konkurrenz. Heute existiert nur noch eine einzige Textilfabrik in Norrköping, die von einer Tochtergesellschaft von Borås Wäfveri AB betrieben wird. Ericsson produzierte hier längere Zeit Leiterplatten, doch auch dieses Werk ist heute stillgelegt.
Gegenwärtig gibt es die meisten Unternehmen in den Branchen Papier- und Verpackungsindustrie, Logistik/Transport, Elektronik, IT/Media sowie Handel. Mehrere große Unternehmen (z. B. Philips, Bosch, Goodyear Tire & Rubber Company) haben ihre Zentrallager in Norrköping und steuern von hier aus die Belieferung ihrer Standorte in Schweden.
Eine Außenstelle der Universität Linköping betreibt intensive Forschung in Norrköping, was zur Ansiedlung von mehreren Kleinbetrieben im Umfeld des Campus führte.
In Norrköping haben die staatlichen Einrichtungen Ausländerbehörde (Migrationsverket), Integrationsverket, Zentralamt für Luftfahrt (Luftfartsstyrelsen), Koordinierung für Gefangenenbetreuung (Kriminalvårdsstyrelsen), Seefahrtsbehörde (Sjöfartsverket) und das Schwedische Meteorologische Institut (Sveriges meteorologiska och hydrologiska institut) ihren Hauptsitz.
Einige bedeutende Unternehmen der Stadt sind in der folgenden Tabelle aufgeführt.
Bildung
Norrköping bietet ein Schulangebot, das Kindergärten (förskolor), Grundschulen (grundskolor) und vier kommunale sowie ein dem Länsting unterstehendes Gymnasien (gymnasieskolor) umfasst. Außerdem gibt es acht Gymnasien in freier Trägerschaft (friskolor). Daneben gibt es Sonderschulen für verhaltensgestörte Kinder auf Grundschulniveau (särskolor, träningsskolor) sowie nach Ende der Schulpflicht auch auf Gymnasialniveau (gymnasiesärskola). Einige komplette Sonderschulklassen (särskoleklasser) sind in andere Schulen integriert, sofern die Kinder nicht durch Individualbetreuung in Grundschulklassen integriert werden können.
In einem ehemaligen Produktionsgebäude von Ericsson und weiteren alten Gebäuden in der Industrilandskapet entlang des Motala Ström befindet sich der Campus Norrköping als Außenstelle der Universität Linköping. Etwa 6000 Studenten studieren hier in den Bereichen Gesellschaftswissenschaften, Geisteswissenschaften oder auf Lehramt.
Medien
In Norrköping erscheinen mit Norrköpings Tidningar und Folkbladet zwei überwiegend regional ausgerichtete Tageszeitungen. Norrköpings Tidningar (NT) ist die älteste, heute noch erscheinende Zeitung in Schweden und einer der zehn ältesten Zeitungen der Welt. Gegründet wurde sie 1758 von Johan Edman als Norrköpings weko-tidningar. 1787 wurde die Zeitung in den heutigen Namen umbenannt, erschien aber nur zweimal wöchentlich. Seit 1875 ist der die Zeitung herausgebende Verlag eine Aktiebolag und die Zeitung erscheint heute täglich. Aus dem Verlag hat sich mit der Zeit ein Medienhaus entwickelt, das heute weitere Zeitungen besitzt. Seit 1947 sind die Anteile im Besitz der Stiftung Erik & Asta Sundin.
Folkbladet wurde 1905 als Östergötlands Folkblad von Arbeitern als Gegengewicht zur eher bürgerlich ausgerichteten Norrköpings Tidningar gegründet. In den 1960ern wurde sie mit dem Östgöten aus Linköping fusioniert und erschien als Folkbladet Östgöten. Seit 1998 hat die Zeitung wieder ihren alten Namen und gehört seit 2000 über den Verlag Nya Folkbladet i Östergötland AB zum Medienhaus Norrköpings Tidningar. Zusammen mit dem Verlag des Östgöta Correspondenten verteilt Norrköpings Tidningar darüber hinaus die Gratiszeitung Extra in Östergötland. Als weitere Gratiszeitung ist die Landesausgabe (riks) der metro erhältlich.
Neben Printmedien befinden sich in Norrköping auch Regionalstudios und -redaktionen des öffentlich-rechtlichen Fernsehens Sveriges Television und Radios Sveriges Radio. Produziert werden Östnytt bzw. P4 Östergötland. Außerdem ist eine von 16 Regionalstationen des privaten Fernsehsenders TV 4, TV 4 Öst, in Norrköping ansässig und produziert ein regionales Nachrichtenprogramm.
Kultur
Theater
Das erste Theater der Stadt war Egges teater, welches im Garten des Schankwirtes Johan Ulric Egge gelegen war. Am 5. August 1776 erlebte hier Romeo und Julia von Shakespeare seine schwedische Uraufführung. Die Bewohner Norrköpings waren so vernarrt in die Vorstellungen, dass sich die Theaterleitung gezwungen sah auch am Sonntag zu spielen, was für den Regisseur eine Klage wegen Nichteinhaltung des Sabbats zur Folge hatte. Er wurde aber freigesprochen und später erließ Gustav III. ein Dekret, welches den Theatern in Stockholm, Göteborg, Åbo und Norrköping Vorstellungen am Sonntag erlaubte. 1791 entstand das Dahlbergs teater in einem ehemaligen Tabaklager. 1798 gesellte sich die Einrichtung Saltängsteater dazu, welches bis 1850 bestand. In dieser Zeit waren romantische Stücke beliebt und so wurden hier Werke von Schiller, Oehlenschläger und Grillparzer erstmals in Schweden aufgeführt.
1850 ließ der Geschäftsmann Gustav Adolf Eklund das Eklunds teater auf einem Grundstück hinter dem Grand Hotel errichten. Hier wurden vor allem Werke von Dramatikern wie Ibsen, Bjørnson und Strindberg gezeigt. 1866 begann die Arbeitervereinigung der Stadt mit Darbietungen ihres Amateurtheaters. Einige bekannte Filmschauspieler des Landes erhielten hier ihre Ausbildung.
1908 ersetzte man Eklunds teater mit dem Großen Theater (Stora teatern) an gleicher Stelle. Anfänglich kamen verschiedene Theatergesellschaften zu Gast und in den 1920er und 1930er Jahren zeigten Ernst Rolf und Karl Gerhard ihre Revuen. Das Theater ist heute Heimstätte der Gesellschaft Östgötateater.
Museen und Skulpturen
Der Premierminister und Snusfabrikant Carl Swartz spendete 1903 sein Heim, die Villa Swartz, der Stadt. Zusammen mit einer früheren Kunstspende entstand daraus das Kunstmuseum von Norrköping. Es zeigte sich aber, dass die Räumlichkeiten zu klein sind, da man auch die Stadtbibliothek und das Heimatmuseum an gleicher Stelle unterbringen wollte. Der Neubau wurde 1941 begonnen doch aufgrund des Zweiten Weltkrieges entstand nur ein eingeschossiger Bau, so dass die Bibliothek nicht mit untergebracht werden konnte. Diese zog 1973 in ein eigenes Gebäude.
1961 schuf der Bildhauer Arne Jones die Skulptur Spiral åtbörd, die vor dem Kunstmuseum aufgestellt wurde und anfänglich zwiespältige Reaktionen hervorrief. Später entwickelte sich die Skulptur zu einer Art Symbol für die Stadt, was sich unter anderem in dem Erscheinen der kommunalen Zeitung „Norrköping Spiralen“ und der Benennung eines Kaufhauses nach ihr zeigte.
Im Park vor dem Gemeindehaus steht die Skulptur Prisma, die bei ihrer Errichtung 1967, das größte Glaskunstwerk der Welt war.
Musik
1912 entstand die Orchestervereinigung von Norrköping als Zusammenschluss von Amateur- und Militärmusikern. Sie bezog ein Jahr später ihr neues Domizil in einem Konzert- und Vorlesungssaal, der in einer ehemaligen Kirche gebaut wurde. Da der Verein staatliche Fördermittel erhielt, konnten zwei Mal pro Woche Vorstellungen gegeben werden. Nachdem das Orchester auf 87 Mitglieder angewachsen war und seinen Namen in Norrköpings Sinfonieorchester änderte, wurde die alte Spielstätte zu klein. Das neue Konzerthaus wurde 1994 eingeweiht und trägt den Namen Louis De Geer.
Verkehr
Eisenbahn
Die erste Eisenbahnlinie von Norrköping nach Katrineholm wurde am 3. Juli 1866 eingeweiht. Am 16. Oktober 1872 kam ein Anschluss nach Linköping hinzu. Bei den Bürgern der Stadt wurde es populär mit der Bahn, die eine „unglaubliche“ Geschwindigkeit von 50 km/h erreichte, sonntägliche Ausflüge in die Umgebung Norrköpings zu unternehmen. Ab den 1870er Jahren erfolgte eine gewaltige Expansion des Gütertransportes. Zum Beispiel stieg der Transport von Steinkohle ab 1870 mit etwa 400 Tonnen auf etwa 37.000 Tonnen um das Jahr 1900. Norrköping wurde mit seiner Umgebung auch durch Schmalspurbahnen verbunden. Das Netz dieser Bahnen war hier weit verzweigt und mit den Einrichtungen anderer Provinzen verbunden. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts hatte Norrköping noch drei Bahnhöfe: Centralstationen, Västra station und Östra station. In den folgenden Jahren entwickelte sich die Stadt zum Eisenbahnknotenpunkt.
Heute dauert eine Fahrt nach Stockholm mit dem InterCity knapp zwei Stunden und mit dem Schnellzug X2000 etwa 78 Minuten. Nach Malmö beträgt die Reisezeit mit dem X2000 etwas weniger als drei Stunden. Ein geplanter vierspuriger Ausbau der Strecke nach Stockholm (Ostlänken) soll die Reisezeit auf 45 Minuten verkürzen.
Flugverkehr
Der bis zum 1. Juli 2006 vom Luftfartsverket geführte Flugplatz Kungsängens flygplats östlich von Norrköping hat nach einem Rückgang der Passagierzahlen in den letzten Jahren keine positive Bilanz vorzuweisen. Um einer Schließung vorzubeugen, wurde er von der Gemeinde Norrköping übernommen. Die Passagierzahlen gehen seitdem wieder nach oben. Der Flugplatz wurde 1934 eingeweiht und zwei Jahre später der reguläre Passagierflugverkehr aufgenommen. Er ist Schwedens ältester noch in Betrieb befindlicher Flugplatz. Täglicher Flugverkehr besteht (2013) nach Kopenhagen und Helsinki. Zusätzlich bestehen besonders im Sommer einige Charter-Verbindungen zu Zielen am Mittelmeer.
Der Flugplatz wird auch für Frachttransporte genutzt. Icelandair betreibt eine feste Frachtlinie von Norrköping nach New York via Reykjavík. Die Fluggesellschaft bmi Regional bediente bis Anfang 2019 die Strecke von und nach München (MUC) mit einer Embraer ERJ145.
Straße
Einige große Straßenverbindungen kreuzen sich in Norrköping. Die Autobahn E 4 geht westlich an der Stadt entlang, während die E 22 hier beginnt und über Kalmar nach Malmö führt. Die Hauptstraßen (riksväg) 51, 55 und 56 verbinden die Stadt mit Örebro, Uppsala und Gävle.
Straßenbahn
Hauptartikel: Straßenbahn Norrköping
Neben Göteborg und Stockholm ist Norrköping die einzige Stadt in Schweden, die an der Straßenbahn als innerörtlichem Nahverkehrsmittel festgehalten hat. Es wurden einige Straßenbahnwagen angekauft, die vorher in Duisburg verkehrten und noch immer Namen deutscher Städte tragen (wie z. B. Braunschweig).
Der Bau der Straßenbahnlinien begann 1902 mit einem Vertrag zwischen der Stadtverwaltung und AEG. Zwei Jahre später konnten sich die Wagen auf den einspurigen Strecken in Bewegung setzen und zwischen 1913 und 1914 erfolgte ein Ausbau zur Doppelspur. Die Wagen hatten schon von Beginn an eine Färbung zwischen Gelb und Orange, welche die Bezeichnung Norrköpingsgult erhielt. Als die Verkehrsverwaltung Östergötlands in den 1990er Jahren ihre Wagen vereinheitlichen wollten, was für den hinteren Wagenteil eine rote Farbe bedeutet hätte, gab es einen lauten Bürgerprotest und somit keine Veränderungen.
Hafen
Norrköping besitzt mehrere Hafenanlagen. Im stadtnahen Inneren Hafen können Schiffe bis neun Meter Tiefgang anlegen, während im Tiefhafen Pampushamnen auf der Halbinsel Händelö die mittlere Wassertiefe bis 12,4 Meter beträgt und er somit auch für große Frachtschiffe ausgelegt ist. Betrieben wird der Hafen von Norrköpings Hamn och Stuveri AB und jedes Jahr landen hier etwa 1.300 Schiffe an. 2005 wurden 4.100.000 Tonnen Güter im Hafen umgeschlagen, gemäß einer 2005 durchgeführten Untersuchung ist der Hafen damit der zehntgrößte Schwedens.
Früher war es für Schiffe schwierig in den Hafen, Peter Rehder aus Lübeck hatte 1902 deren Hafen- und Fahrwasserpläne entworfen, von Norrköping zu gelangen, da der Motala ström kurz vor seiner Mündung in den Bråviken einen kräftigen Schwung um Händelö machte. Mit der Einweihung des Lindö-Kanals am 18. Juni 1962 unter Anwesenheit des Königs Gustav VI. Adolf war dieses Problem gelöst. Gleichzeitig entstand auf Händelö ein Ölhafen mit drei Pieren. Bis Herbst 2008 soll die wichtigste Fahrrinne von 60 auf 100 Meter verbreitert und auf mehr als 13,5 Meter vertieft werden.
Während im Inneren Hafen überwiegend Produkte für die Holzverarbeitung und -produktion sowie Kohle und Koks umgeschlagen werden, sind die äußeren Kaianlagen für den Containerumschlag und Erdölprodukte ausgelegt.
Sport
Der Fußballverein IFK Norrköping zählt mit 13 nationalen Meisterschaften und sechs Siegen im schwedischen Pokalwettbewerb zu den erfolgreichsten Mannschaften des Landes. Diese Erfolge wurden überwiegend um das Jahr 1960 erzielt. Heute spielt der Verein in der ersten Liga, der Allsvenskan, und trägt seine Heimspiele in Norrköpings Idrottspark aus, der auch während der Fußball-Europameisterschaft 1992 als Spielstätte für drei Vorrundenspiele diente. Neben IFK Norrköping sind noch die Vereine IF Sylvia und IK Sleipner bekannte Fußballvereine.
Gegenwärtig ist nur ein weiterer Sportverein der Stadt erstklassig. Dies ist der Basketballclub Norrköping Dolphins, von dem sowohl die Herrenmannschaft als auch die Damenmannschaft in der jeweiligen ersten Ligen spielen.
Andere bekannte Vereine sind der Speedwayclub Vargarna und der Eishockeyclub IK Vita Hästen (beide 2. Liga).
Söhne und Töchter der Stadt
Städtepartnerschaften
Die Zusammenarbeit mit den zwei norwegischen Ortschaften besteht seit den 1940er Jahren. Alle hier genannten nordischen Orte arbeiten auf der Basis einer „Nordischen Plattform“ verstärkt zusammen.
Literatur
Sten Andersson u. a., Textilen som försvann. En studie av strukturomvandlingen, arbetarrörelsen och det nya Norrköpings framväxt. Gemeinde Norrköping, Norrköping 1986.
Björn Helmfrid, Holmens bruk i Norrköping. Stockholm 1955.
Martin Ivarsson, Svensk-judiska pionjärer och stamfäder. En person-, släkt- och kulturhistorisk krönika med Norrköping som blickcentrum. Seelig, Stockholm 1956.
Jörn Svensson, Sven Godlund und Kerstin Godlund, Norrköpings historia. Avsnitt 10: Norrköpings ekonomiska och sociala historia 1870–1914. Stadtarchiv Norrköping, Norrköping 1972.
Weblinks
Offizielle Webpräsenz der Gemeinde (englisch, schwedisch)
Foto der Skulptur „Spiral åtbörd“
Foto der Skulptur „Prisma“
Einzelnachweise
Geographie (Gemeinde Norrköping)
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Q25724
| 102.908555 |
22558
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https://de.wikipedia.org/wiki/Nanjing
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Nanjing
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Nanjing () ist eine bezirksfreie Stadt im Osten der Volksrepublik China und hat die Kurzbezeichnung Ning (). Neben der heutzutage üblichen Schreibung nach der offiziellen Pinyin-Umschrift „Nanjing“ ist die ältere deutsche Schreibweise nach Stange Nanking heute vielfach noch zu sehen. Nanjing ist Hauptstadt und Metropole der heutigen Provinz Jiangsu.
Nanjing hat im Laufe der Zeit eine Vielzahl von Namen erhalten. Eine der vielen alten Bezeichnungen Nanjings lautet beispielsweise Jinling () oder Shicheng (). Die Stadt war am Ende des 14. und Anfang des 15. Jahrhunderts historische Hauptstadt der Ming-Dynastie sowie von 1927 bis 1949 Hauptstadt der Republik China. Sie gehört damit zu den vier großen historischen Hauptstädten Chinas. Während der Taiping-Rebellion war sie zudem Hauptstadt des ausgerufenen Himmlischen Königreiches, nachdem die Rebellen die Stadt belagert und erobert hatten.
Nanjing ist ein politisch kulturelles Zentrum Chinas mit einer langen Geschichte. Daher hat Nanjing im Chinesischen auch die Bezeichnung „Antikes Kapitol der sechs Dynastien“ () bzw. „Metropole der zehn Dynastien“ (). Nanjing zählt 6.500.000 Einwohner im urbanen Stadtgebiet (Stand: Ende 2018) und 9.314.685 in der Agglomeration (Stand: Zensus 2020).
Geographie und administrative Gliederung
Nanjing liegt im Osten der Volksrepublik am Beginn des Jangtsekiang-Deltas. Die Stadt erstreckt sich beiderseits des hier nach Osten abknickenden Stroms, wobei das Zentrum vollständig auf dem rechten Flussufer liegt. Wegen der enormen Breite des Jangtsekiang befand sich auf dem gesamten Stadtgebiet vor 2000 nur eine einzige Brücke, die aber immer noch zu den strategisch wichtigsten Verkehrswegen des Landes zählt. Bis 2010 wurden weitere drei neue Brücken fertig gebaut. Im Zusammenhang mit den Baumaßnahmen zu den Olympischen Jugend-Sommerspielen 2014 kam es zusätzlich zum Ausbau einer U-Bahn-Strecke am Jangtsekiang. In zahlreichen Windungen mäandriert der schmale Qinhuai-Fluss durch die Stadt. Daneben gibt es zahlreiche natürliche und künstliche Seen unterschiedlicher Größe. Im Osten erstreckt sich das Landschaftsschutzgebiet der vergleichsweise niedrigen Purpurberge.
Nanjing setzt sich aus elf Stadtbezirken zusammen:
Stadtbezirk Xuanwu (), 75,17 km², 651.957 Einwohner (2010);
Stadtbezirk Qinhuai (), 49,15 km², 1.007.916 Einwohner (2010);
Stadtbezirk Jianye (), 82,66 km², 427.089 Einwohner (2010);
Stadtbezirk Gulou (), 53,07 km², 1.271.191 Einwohner (2010);
Stadtbezirk Pukou (), 912,3 km², 710.298 Einwohner (2010);
Stadtbezirk Luhe (), 1.467 km², 915.625 Einwohner (2010);
Stadtbezirk Qixia (), 376,1 km², 644.295 Einwohner (2010);
Stadtbezirk Yuhuatai (), 134,6 km², 391.293 Einwohner (2010);
Stadtbezirk Jiangning (), 1.573 km², 1.145.628 Einwohner (2010);
Stadtbezirk Lishui (), 1.067 km², 421.323 Einwohner (2010);
Stadtbezirk Gaochun (), 792 km², 417.129 Einwohner (2010),Hauptort: Großgemeinde Chunxi ().
Klima
Nanjing hat ein subtropisches Monsunklima mit vier ausgeprägten Jahreszeiten und gehört neben den Städten Wuhan und Chongqing zu den drei sogenannten „Hochöfen am Jangtsekiang“. Die Sommer sind heiß und feucht bei Monatsdurchschnittstemperaturen bis zu 28 °C (Tagestemperaturen bis maximal 43 °C) und Luftfeuchtigkeit bis zu 81 %; die Winter sind kalt mit Monatsdurchschnittstemperaturen von 2 °C. Alle 12 Monate sind humid. Die beste Reisezeit ist der Herbst (September bis November).
Bevölkerung
Nach der fünften chinesischen Volkszählung erreichte die Gesamtbevölkerung der Stadt Nanjing im Jahr 2000 den Wert von 6,24 Millionen. Die Geburtenrate lag bei 7,73 %, die Mortalitätsrate bei 5,44 %. 2004 heirateten 47.429 Paare, während sich 7.036 scheiden ließen. Unter den Heiratenden befanden sich 10.473 Personen, die bereits einmal verheiratet waren.
Wie in den meisten Städten Ostchinas besteht auch die Bevölkerung Nanjings zu einem sehr hohen Anteil (98,56 %) aus Han. 77.394 Einwohner Nanjings gehören einer der 50 in der Stadt vertretenen Minderheiten an; die größten Anteile davon entfallen auf die Hui (64.832), die Mandschure (2.311) sowie die Zhuang (533). Die meisten Minderheitsangehörigen leben im Stadtbezirk Jianye und stellen dort 9,13 % der Bevölkerung.
2003 betrug der Geschlechterproporz in der Stadt 106,49 Männer auf 100 Frauen.
2004 betrug das Bruttosozialprodukt der Stadt 191 Mio. Yuan und lag damit in der Provinz Jiangsu auf dem dritten Platz. Pro Kopf betrug es 33.050 Yuan, was gegenüber 2003 eine Steigerung von 15 % darstellt. Die Arbeitslosenquote lag mit 4,03 % leicht unter dem nationalen Durchschnitt von 4,2 %.
Geschichte
Die Region um Nanjing war bereits vor mehreren hunderttausend Jahren von Individuen des Homo erectus besiedelt, wovon die fossilen Schädel aus der Fundstätte Huludong Zeugnis ablegen.
Bis 1368
Nanjing gehört zu den ältesten Städten Südchinas. Der Legende nach hat Fu Chai (), der Herrscher von Wu, auf dem Gebiet des heutigen Nanjing bereits 495 v. Chr. eine Stadt namens Yecheng () erbaut. 473 v. Chr. soll aber der Staat Yue Wu erobert und in der Nähe des heutigen Zhonghua-Tors () die Stadt Yuecheng () errichtet haben. 333 v. Chr. schließlich, nach dem Untergang des Yue-Staats, baute der Staat Chu im Nordwesten des heutigen Nanjing die Stadt Jinling Yi (). Seit damals hat die Stadt zahlreiche Zerstörungen und Wiederaufbaumaßnahmen erlebt.
Erstmals Hauptstadt wurde Nanjing 229 n. Chr., als Sun Quan von Wu während der Zeit der Drei Reiche seine Residenz nach Jianye () verlegte, eine Stadt am Fuße von Jinling Yi. Nach der Invasion der Fünf Hu floh der Adel der Jin-Dynastie über den Yangzi und machte Nanjing unter dem Namen Jiankang () erneut zur Hauptstadt. Sie verlor diesen Status erst wieder unter der China vereinigenden Sui-Dynastie.
Einen Aufschwung erlebten Nanjing und insbesondere seine Industrie dann wieder unter den Tang und Song. Zur Zeit der Yuan-Dynastie (Mongolenherrschaft) wurde die Stadt zu einem Zentrum der Textilfertigung.
Ming-Dynastie
Der erste Ming-Kaiser Hongwu erhob Nanjing 1368 erneut zur Hauptstadt Chinas und gab ihr den Namen Yingtian (, genauer: ). In 21 Jahren bauten ca. 200.000 Arbeiter Nanjing zur größten Stadt der damaligen Welt mit einer geschätzten Einwohnerzahl von einer Million aus. Aus dieser Zeit datiert die heute noch weitgehend erhaltene Stadtmauer sowie die Überreste des Kaiserpalastes der Ming, die Verbotene Stadt von Nanjing. Die Stadt erreichte damals erheblichen Wohlstand. Neben der traditionellen Textilindustrie konnten sich nunmehr auch Druckereiwesen und Schiffbau etablieren; Nanjing war damals Werftstadt für die größten Segelschiffe des Mittelalters und Heimathafen der Schatzflotte des Admirals Zheng He. Von hier aus gingen seine Reisen nach Indien, Arabien und Afrika. Nachdem Kaiser Yongle die Hauptstadt 1421 nach Peking („Nördliche Hauptstadt“) verlegt hatte, gab er Yingtian erstmals ihren heutigen Namen Nanjing, was mit „Südliche Hauptstadt“ übersetzt werden kann.
Qing-Dynastie
Während der Qing-Dynastie trug die Stadt den Namen Jiangning () und diente als Regierungssitz des Vizekönigs von Liangjiang.
Nanjing ist der historische Schauplatz der (erzwungenen) Öffnung des „Reiches der Mitte“ zum Westen mit dem Vertrag von Nanjing (1842), der den Niedergang Chinas einläutete. Unter dem Namen Tianjing () war sie Mitte des 19. Jahrhunderts Zentrum des Taiping-Aufstands. Nach der Rückeroberung durch Qing-General Zeng Guofan 1864 kamen durch Massaker bzw. Selbstmord 100.000 Bewohner ums Leben.
Erste Republik
1912 stieg Nanjing unter der Führung von Sun Yat-sens ein weiteres Mal zur chinesischen Hauptstadt auf. Noch heute befindet sich sein Mausoleum in den Purpurbergen im Osten der Stadt. 1915 verlegte Yuan Shikai den Regierungssitz zurück nach Peking. Im Zuge der Chinesischen Wiedervereinigung gründete die Kuomintang 1928 eine neue Nationalregierung in Nanjing. Der Zeitraum 1928–1937 wird auch als Nanjing-Dekade bezeichnet.
Der damit verbundene Zuzug wohlhabender Schichten sorgte für eine Belebung der Konjunktur und des Konsums. Es entstand eine ganze Reihe von Kaufhäusern wie etwa das Zhongyang Shangchang. 1933 überflügelte die Wertschöpfung der Lebensmittel- und Unterhaltungsbranche erstmals die der traditionellen Industrie und der Landwirtschaft. Ein Drittel der Stadtbevölkerung arbeitete bereits im Dienstleistungssektor.
Während des Zweiten Japanisch-Chinesischen Krieges wurde Nanjing vom 9. Dezember 1937 an belagert. Die chinesischen Truppen verweigerten sich der geforderten Kapitulation. Daraufhin eröffnete die japanische Armee eine massive Offensive und drängte bis zum 12. Dezember die chinesischen Truppen aus der Stadt auf die andere Uferseite des Jangtsekiang. Bei der Belagerung der Stadt kam es zum Panay-Vorfall, bei dem das Schiff USS Panay, mit dem in Nanjing lebende US-Bürger flussaufwärts evakuiert werden sollten, von japanischen Fliegern versenkt wurde. Der Vorfall brachte diplomatische Spannungen zwischen Japan und den USA und führte zu einer nachhaltigen Veränderung des Japanbildes in den Vereinigten Staaten, obwohl sich Japan offiziell für die Versenkung entschuldigte.
Am 13. Dezember 1937 besetzten japanische Divisionen die Stadt und verübten an der Zivilbevölkerung das Massaker von Nanjing. Über das Ausmaß des Massakers wird bis heute gestritten; laut den Tokioter Prozessen wurden mindestens 200.000 Zivilisten und Kriegsgefangene ermordet und rund 20.000 Mädchen und Frauen vergewaltigt. Die von Japan 1940 installierte Neuorganisierte Regierung der Republik China hatte ihren Sitz in Nanjing.
Volksrepublik
Nach dem von den chinesischen Kommunisten (KPCh) gewonnenen Bürgerkrieg verlor Nanjing 1949 erneut seinen Status als Hauptstadt an Peking. Gleichwohl betrachtete zeitweise die Republik China (Taiwan) die Yangzi-Metropole weiterhin als offizielle Hauptstadt Chinas, während Taipei nur als provisorische Hauptstadt galt.
Im Zuge der forcierten Industrialisierung in den 1950er Jahren breitete sich systematisch die staatliche Schwerindustrie aus. Die Ansiedlung von Elektro-, Chemie-, Stahl- und Maschinenbetrieben sollte nachhaltig das Gesicht der Stadt verändern. Die übertriebene Begeisterung für den Aufbau einer „Weltklasse-Industrie“ führte aber auch zu gravierenden Fehlentscheidungen, die in starkem Maße zur wirtschaftlichen Rezession Ende der 1960er Jahre beitrugen. Ein Beispiel hierfür ist etwa die Investition von hunderten von Millionen Yuan in die Förderung nicht-existenter Kohlevorkommen.
Politik
Der vollständige Name der Regierung von Nanjing ist „Volksregierung der Stadt Nanjing“. Die Stadt wird unter der Einparteienherrschaft der KPCh regiert, mit dem kommunistischen Sekretär von Nanjing als De-facto-Gouverneur der Stadt und Bürgermeister.
Wirtschaft
Laut einer Studie aus dem Jahr 2014 erwirtschafte der Großraum Nanjing ein Bruttoinlandsprodukt von 202,7 Milliarden US-Dollar (KKB). In der Rangliste der wirtschaftsstärksten Metropolregionen weltweit belegte er damit den 55. Platz. Das BIP pro Kopf lag bei 31.434 US-Dollar (Kaufkraftparität), womit Nanjing zu den wohlhabendsten Städten des Landes gehört.
Die Industrielandschaft Nanjings ist weiterhin von den fünf Schlüsselindustrien Elektro, Fahrzeugbau, Petrochemie, Eisen/Stahl und Energie geprägt. Zu den bedeutendsten Staatsbetrieben zählen Panda Electronics, Jincheng Motors und Nanjing Steel. Gleichwohl gewann der Tertiärsektor erheblich an Bedeutung zurück; heute trägt er 44 % zum Bruttosozialprodukt der Stadt bei.
Mit den anderen Städten des Jangtsekiang-Deltas konkurriert Nanjing um ausländische Investoren. Bisher haben sich etliche transnationale Unternehmen niedergelassen, zu nennen sind unter anderen
Volkswagen
Fiat
Iveco
BASF, über die BASF-YPC, ein seit 2005 aktives Joint Venture mit Sinopec
Sharp
BSH Hausgeräte GmbH, über die 1997 gegründete Tochtergesellschaft BSH Electrical Appliances (Jiangsu) Co., LTD.
Bosch, über die Nanjing Huade Spark Plug Co., Ltd., ein Joint Venture mit der LD Group Nanjing zur Produktion von Zündkerzen.
Phoenix Contact
Coperion
Lenzing
Seit dem Beitritt Chinas zur Welthandelsorganisation (WTO) zieht Nanjing verstärktes Interesse auf sich. Im Schnitt gründen ausländische Firmen täglich zwei neue Niederlassungen in der Yangzi-Metropole.
Die Stadtverwaltung arbeitet weiterhin an einer Verbesserung der Attraktivität Nanjings für Investoren, unter anderem durch die Gründung von mittlerweile vier Industrieparks: Gaoxin, Xingang, Huagong und Jiangning. Trotz dieser Bemühungen fällt Nanjing aber weiter hinter Nachbarstädte wie Wuxi, Suzhou und Hangzhou zurück. Die traditionellen Staatsbetriebe indes sehen sich dem Wettbewerb mit den transnationalen Unternehmen nicht mehr gewachsen und versinken entweder in Überschuldung, gehen bankrott oder werden privatisiert.
In Nanjing befindet sich auch die Zentrale der Jiangsu Power Co.L.T.D. und Suning Home Appliances, dem zweitgrößten Elektroeinzelhändler Chinas.
Verkehr
Nanjing gilt als die zentrale Verkehrsdrehscheibe des Jangtsekiang-Deltas und integriert alle gebräuchlichen Verkehrsmittel. Wie in allen chinesischen Städten spielt für den Großteil der Bevölkerung der Öffentliche Verkehr eine dominante Rolle.
Straße
Als Regionaldrehscheibe wird Nanjing von mehr als 60 Staats- und Provinzautobahnen erschlossen, die in alle Teile Chinas führen. Express Highways wie Hu-Ning, Ning-He, Ning-Hang bringen Pendler nach Shanghai, Hefei, Hangzhou und andere bedeutende Städte. Innerhalb der Stadt verlaufen 230 km Autobahnen, was einer Dichte von 3,38 km pro 100 km² entspricht. Bezogen auf alle Straßen liegt die Dichte bei 112,56 km pro 100 km².
Eisenbahn
Bereits seit 1908 ist die Stadt durch die Shanghai-Nanking Railway mit Shanghai verbunden. Heute ist Nanjing ein wichtiger Eisenbahnknoten. Die wichtigsten Stammstrecken führen in Richtung Shanghai, Suzhou und Wuxi; über sie bestehen Direktverbindungen in zahlreiche Großstädte des Landes. Der Hauptbahnhof befindet sich nördlich des Xuanwu-Sees. Daneben gibt es am Yangzi-Ufer nahe der Brücke den Bahnhof Nanjing West und in der Nähe der Blumenregenterrasse den Bahnhof Nanjing Süd, welcher immer mehr an Bedeutung gewinnt und von dem die meisten Hochgeschwindigkeitszüge Richtung Shanghai, Wuhan und Peking abfahren. Etwas außerhalb der Stadt liegt der Ostbahnhof Nanjings. Seit dem Jahr 2005 kann man mit einer U-Bahn vom Hauptbahnhof bis zur Olympiaanlage fahren. Es sind viele weitere Strecken geplant bzw. in Bau.
Öffentlicher Personennahverkehr
Bus
Der öffentliche Busverkehr der Stadt wird von den Gesellschaften Nanjing Gongjiao, Zhongbei, Argos und Xincheng betrieben, die auf 170 Strecken alle Teile der Stadt inklusive der Vororte erschließen.
U-Bahn
Die erste Linie der U-Bahn Nanjing nahm ihren Betrieb am 15. Mai 2005 auf, Linie 2, 3 und 4 existieren bereits. Bis zum Jahr 2050 soll ein 433 km langes U-Bahn-System entstehen.
Straßenbahn
Seit 2014 sind zwei Linien der Straßenbahn Nanjing in Betrieb. Die Straßenbahnzüge sind mit Primove Lithium-Ionen-Batterien von Bombardier ausgestattet, was es erlaubte, auf 90 % der Strecke auf die Oberleitung zu verzichten. Jeder Zug besitzt 2 solcher Batterien mit einer Speicherkapazität von 49 kWh.
Luftverkehr
Nanjings Flughafen, der Flughafen Nanjing-Lukou, liegt dem Passagieraufkommen nach auf Platz 15 unter den 126 chinesischen Zivilflughäfen, beim Frachtaufkommen auf Platz 10. Derzeit bestehen 85 Verbindungen ins In- und Ausland, solche nach Japan, Korea, Thailand, Singapur und nach Deutschland. Lufthansa bedient ab 31. März 2008 die Strecke von Frankfurt am Main aus dreimal wöchentlich mit einem Airbus A340-300 (Flugnummer LH780). Autobahnen führen nicht nur ins 35 km nach Norden entfernte Stadtzentrum, sondern auch direkt in Nachbarstädte.
Wasserverkehr
Der Hafen von Nanjing ist der größte Binnenhafen Chinas mit einem Durchsatz von jährlich 66 Mio. Tonnen (2003). Das Hafengelände erstreckt sich über 98 km und verfügt über 64 Kais, von denen 16 Schiffe mit einer Tonnage von mehr als 10.000 Bruttoregistertonnen abgefertigt werden können. Nanjing ist auch der größte Containerhafen am Yangzi. Mit der Eröffnung der eine Million Container fassenden Longtan Containers Port Area im März 2004 bekräftige Nanjing seinen Anspruch als führender chinesischer Flusshafen. Da am Hafengelände gleich zwei große Raffinerien der großen chinesischen Ölveredeler liegen, gilt Nanjing auch als wichtiges Zentrum in der Ölbranche.
Kultur
Traditionell verfügt die ehemalige Hauptstadt Nanjing über ein reiches Kulturleben.
In einer Rangliste der Städte nach ihrer Lebensqualität belegte Nanjing im Jahre 2018 den 140. Platz unter 231 untersuchten Städten weltweit. Im Vergleich mit anderen chinesischen Städten lag es hinter Shanghai (Platz 103), Peking und Guangzhou (beide Platz 109), Shenzhen (Platz 130), Chengdu (Platz 133) aber noch vor Chongqing (Platz 147) und Shenyang (Platz 157).
Musik und Theater
In der Stadt sind mehrere Orchester ansässig, darunter das Jiangsu Symphonieorchester, das Chinesische Orchester der Stadt Nanjing, zwei Orchester der Universität, zwei des Kunstinstituts sowie eine Bläsergruppe der Technischen Universität.
Die meisten Theater der Stadt sind multifunktionell angelegt und können neben ihrem eigentlichen Zweck etwa auch als Kongresszentren, Kinos oder Konzertsäle genutzt werden. Zu den größten Häusern zählen die Volksversammlungshalle und das Kunst- und Kulturzentrum.
Im Theaterbetrieb werden die verschiedenen Formen der chinesischen Oper gepflegt. Das Kunqu-Opernhaus pflegt die gleichnamige Opernform, die als Chinas älteste gilt. Neben den wöchentlich stattfindenden Opernabenden gibt es mehrmals im Jahr sog. Vollopern, deren Aufführung wegen der Länge der klassischen Texte jeweils mehrere Abende in Anspruch nimmt. Ein Beispiel hierfür aus jüngster Zeit ist die sogar im Fernsehen übertragene Inszenierung des Päonienpavillon, ein weiteres das Weiße Seidenhemd, das den Staatspreis für die beste moderne Oper gewann. Andere Häuser widmen sich der Yang-, Yue-, Xi- und Jing-Oper, der Sprechtheaterform Suzhou Pingtan sowie dem Puppentheater. Die Stadt beherbergt das Peking-Oper-Institut der Provinz Jiangsu.
Berühmt sind auch die Qianxian- und die Nanjing-Tanzgruppe. 2004 wurde in Nanjing der Shangying-Warner Kinopalast eröffnet.
Museen und Galerien
Das Nanjing-Museum, unter der Guomindang-Regierung als Nationales Zentralmuseum bekannt, gehört zu den bedeutendsten Museen Chinas. Es zeigt unter anderem klassische Bronzen, Ton- und Jadewaren, Tuschmalerei, Ming- und Qing-Porzellan und Seidenkunst.
Weiter sind das Stadtmuseum, das Museum der Geschichte des Taiping-Königreichs, das Volkskunde-, das Stadtmauer- sowie ein Geologisches und ein Paläontologisches Museum zu nennen.
Die Jiangsu Kunstgalerie ist die größte der gesamten Provinz und bietet einen umfassenden Einblick in die traditionelle wie zeitgenössische Malerei. Spezielleren Themen widmen sich der Kunstgarten Rote Kammer sowie die Jinling Steingalerie.
Das Sifang Art Museum präsentiert seit 2013 moderne Kunst.
Bibliotheken
Die 1937 gegründete Nanjing-Bibliothek ist mit 7 Mio. Bänden die drittgrößte Bibliothek des Landes. Die Universitätsbibliothek umfasst 4,2 Mio. Bände. Daneben gibt es die städtische Jinling-Bibliothek sowie verschiedene Stadtbezirks-Bibliotheken.
In Nanjing befindet sich außerdem die drittgrößte deutschsprachige Bibliothek (nach Beijing und Shanghai) des chinesischen Festlandes.
Festkalender
In alter Zeit gab es in der Stadt neben den allgemeinen chinesischen Festen eine Reihe lokaler Veranstaltungen: So pflegte man etwa am 16. Januar gemeinsam die Stadtmauer zu besteigen, am 3. März im Qingxi-Fluss zu baden oder am 9. September und an anderen speziellen Tagen in die Purpurberge zu wandern.
An ihre Stelle sind heute von der Regierung organisierte Veranstaltungen getreten. Das jährlich stattfindende Internationale Pflaumenblütenfest in den Pflaumenbergen etwa zieht tausende von Touristen aus dem In- und Ausland an. Weitere wichtige Events sind das Baima Pfirsichblüten- und Drachenfest, das Jiangxin Obstfest sowie das Osmanthusblütenfest im Linggu-Tempel.
Nachtleben
Das Nachtleben der Stadt konzentriert sich traditionell um den Konfuziustempel und die Gegend am Qinhuai-Fluss, wo sich Restaurants, Kneipen und Nachtmärkte aneinanderreihen. Berühmt sind auch die nächtlichen Bootsfahrten auf dem Qinhuai. Vor der Machtübernahme durch die Kommunisten blühte hier auch die gehobene Prostitution. In den letzten Jahren entstanden mehrere riesige, bis spät nachts geöffnete Shopping Malls insbesondere im Xinjiekou- Bezirk, an der Hunan-Straße sowie im neu angelegten Nanjing-1912-Bezirk. Auf der und um die Shanghai Lu gibt es viele Bars.
Bildung
Schulen
Fremdsprachenschule Nanjing
Universität Nanjing
Die Nanjing-Universität (; kurz: ) reicht in ihren Ursprüngen bis ins Jahr 258 zurück. 1902 wurde sie in eine moderne Hochschule umgewandelt. Seitdem hat sie vielfach eine Vorreiterrolle im chinesischen Bildungssystem eingenommen, etwa bei der Einführung der Koedukation wie auch der studentenzentrierter Lehrmethoden im Gegensatz zum traditionellen Frontalunterricht. Sie verfügt über Fakultäten für Architektur, Humanwissenschaften, Auslandsstudien, Naturwissenschaften, Chemie, Geowissenschaft, Technologie, Wirtschaftswissenschaft, Recht, Öffentliche Verwaltung, Politikwissenschaften, Journalismus, Medizin, Umwelt, Softwareentwicklung, Intensivbildung sowie Erziehung/Sport/Kunst. Spezielle Institute bieten darüber hinaus Ausbildungsgänge u. a. in Afrikanologie, Judaistik, Internationale Beziehungen, Anthropologie, Agrowissenschaft, Weltraumwissenschaft an.
Neben dem im Stadtzentrum gelegenen Gulou-Campus gibt es seit 1993 einen weiteren, den nach seinem Stadtbezirk benannten Pukou-Campus. Dort sind vor allem jüngere Studenten untergebracht. Zu den Ehrendoktoren der Universität Nanjing zählen u. a. François Mitterrand, George H. W. Bush, Bob Hawke, Boutros Ghali sowie Johannes Rau. Studiert hat dort u. a. der ehemalige Staatspräsident Jiang Zemin.
Weitere Universitäten
Nanjing ist ferner Sitz weiterer staatlicher Hochschulen, nämlich der Universität Südostchinas (), der Hohai-Universität (), die Pädagogische Universität Nanjing (), zweier technischer Hochschulen ( bzw. ), einer Finanz- und Wirtschaftsuniversität (), der Landwirtschaftlichen Universität Nanjing (), einer Kunsthochschule (), einer medizinischen Hochschule (), der Chinesischen Pharmahochschule () sowie der Universität für Luft- und Raumfahrt Nanjing ().
Institute der Akademie der Wissenschaften
In Nanjing befinden sich mehrere Institute der Chinesischen Akademie der Wissenschaften. Dies sind neben der Zweigstelle der Akademie und dem Purple-Mountain-Observatorium die Institute für Astronomische Optik und Technologie mit einer angeschlossenen Fertigung von astronomischen Instrumenten, Geologie und Paläontologie, Bodenkunde und Geographie und Limnologie.
Sport
In der Stadt befindet sich das 13.000 Zuschauer fassende Nanjing Olympic Sports Center Gym.
Im August 2014 fanden in Nanjing die 2. Jugendolympischen Spiele statt.
Sehenswürdigkeiten
Nördliches Zentrum
In der Stadtmitte befindet sich der Trommelturm () von 1382. In der Nähe steht der Große Glockenpavillon () aus dem 19. Jahrhundert, der einen im 17. Jh. eingestürzten Vorgängerbau ersetzt. Die 23 Tonnen schwere Glocke stammt aus der frühen Ming-Dynastie. Nordöstlich erstreckt sich der 395 ha große Xuanwu-See (), der nach dem daoistischen Gottheit Xuanwu, auch als Gottheit des Norden () bekannt, benannt wird. In der Zeit vor den Sechs Dynastien hieß der See ursprünglich „Sangpo“ (). Lokal kennt man ihn auch als Beihu (), da er im Norden des Yanque-Sees () liegt. An seinem Ufer verlaufen Reste der Stadtmauer aus der Ming-Zeit; ursprünglich war sie 33 km lang, 12 m hoch und 8 m breit. Die fünf Seen des Insels Yingzhou (), Liangzhou (), Huanzhou (), Lingzhou () und Cuizhou () sind untereinander durch Dämme und Brücken verbunden. Südlich davon befinden sich die meist kaum kniehohen Ruinen des einstigen Kaiserpalastes der Mingkaiser ().
Südliches Zentrum
Die südliche Altstadt beherrscht der weitläufige Konfuziustempel (). Ursprünglich aus der Song-Dynastie stammend, musste er im Laufe der Jahrhunderte nach Zerstörungen mehrfach wieder aufgebaut werden, zuletzt nach der japanischen Besatzungszeit im Zweiten Weltkrieg. Heute wird die wenig authentisch wirkende Anlage vor allem für Ausstellungen und Konzerte genutzt. In der Nähe ist noch eine kaiserliche Examensanstalt mit mehreren Reihen originalgetreu erhaltenen Prüflingszellen erhalten. Ein Stück südwestlich berichtet ein Museum vom Taiping-Aufstand.
Am Südrand der Altstadt ist ein weiteres Stück historischer Stadtmauer mit dem Südtor zu sehen. Jenseits davon erstreckt sich die Blumenregenterrasse (), ein sanft geschwungener Hügel mit einigen historischen Bauten. Der Legende nach soll dort einst ein buddhistischer Mönch so eindrucksvoll gepredigt haben, dass Blumen vom Himmel fielen. Heute ragt dort ein steinernes Mahnmal in den Himmel, das an die von Chiang Kai-sheks Truppen 1927 an den Kommunisten verübten Massaker erinnern soll.
In der westlichen Innenstadt schließlich steht der Palast der Himmelsverehrung (), der besterhaltene Konfuziustempel südlich des Yangzi. In seinen Anfängen reicht er bis ins 5. Jahrhundert zurück, als Fürst Helu von Wu dort zwei berühmte Schwerter schmieden ließ. In der Ming-Dynastie wurde der Bau zu einer Audienzhalle des Kaisers umgewidmet. Heute dient der Tempel als Museum.
Der nahebei gelegene idyllische Mochouhu-Park () verdankt seinen Namen einer für ihre Gesangskunst berühmten Frau aus dem 5. Jahrhundert, die von ihrem zudringlichen Nachbarn in den Selbstmord durch Ertrinken getrieben wurde. Am Ufer des gleichnamigen Sees erinnert der Turm der verlorenen Schachpartie () an ein Spiel zwischen Kaiser Hongwu und seinem General Xu Da, bei dem Letzterer als Siegespreis den Park gewann.
Ein Stück westlich gemahnt eine Gedenkstätte () mit einem kleinen Museum an das von den Japanern während des Zweiten Weltkriegs verübte Nanjing-Massaker, bei dem innerhalb weniger Wochen mindestens 200.000 Zivilisten und Kriegsgefangene ermordet und rund 20.000 Mädchen und Frauen vergewaltigt wurden.
Yangzi
Die Nanjing-Jangtse-Brücke, eine im Nordwesten der Stadt den Jangtsekiang überspannende Auto- und Eisenbahnbrücke, zählt mit einer Gesamtlänge von 6.772 m zu den größten Brücken Asiens. Sie wurde 1960–1968 zum Stolz des chinesischen Volkes ganz ohne ausländische Hilfe erbaut. Ein Stück südlich erinnert ein kleines Museum an den 1842 geschlossenen Vertrag von Nanjing, der den Ersten Opiumkrieg beendete und für China ein Zeitalter halbkolonialer Abhängigkeit einläutete. Ein Stück yangziabwärts erhebt sich am Ufer der Schwalbenfels mit einem Pavillon, der eine Tafel mit der Originalkalligraphie Kaiser Qianlongs enthält.
Purpurberge
Im Osten der Stadt schließlich erstrecken sich die weitläufigen Purpurberge (). 392 Stufen führen zum pompösen, aus weißem Marmor erbauten Sun-Yat-sen-Mausoleum empor, in dem man des 1925 verstorbenen und 1929 hierher überführten Staatsgründers gedenkt. Ein Stück westlich liegt das Grab des ersten Ming-Kaisers Hongwu, der als einziger seiner Dynastie noch hier in Nanjing und nicht in der späteren Hauptstadt Peking begraben ist; nahebei befindet sich die „Geisterstraße“ mit Tierskulpturen. Der früher an dieser Stelle befindlichen buddhistischen Tempel des Geistertals (). wurde kurzerhand einige Kilometer nach Osten versetzt, wo er heute wieder besichtigt werden kann. Auf einer Hügelkuppe im Westen der Purpurberge erhebt sich schließlich das kaiserliche Observatorium mit historischen astronomischen Instrumenten.
Die Masten der Jangtsekiang-Freileitungskreuzung Nanjing sind die höchsten Betonmasten der Welt.
Partnerstädte
Nanjing listet folgende 16 Partnerschaften mit ausländischen Städten oder Regionen:
Der offizielle zwischenstaatliche Austausch zwischen Nanjing und Nagoya wurde seit Februar 2012 ausgesetzt.
Persönlichkeiten
Söhne und Töchter der Stadt
Siehe auch
John Rabe, Film von 2009 unter Regie von Oscar-Preisträger Florian Gallenberger
Deji Plaza Phase 2
Literatur
Iris Chang: The Rape of Nanking. Penguin Books, London 1997, 1998. ISBN 0-14-027744-7
Erwin Wickert: John Rabe, der gute Deutsche von Nanking. Dt. Verlagsanstalt, Stuttgart 1997. ISBN 3-421-05098-8
Weblinks
Offizielle Website (chinesisch, englisch)
Einzelnachweise
Ort in Jiangsu
Unterprovinzstadt (China)
Millionenstadt
Ehemalige Hauptstadt (China)
Ort mit Binnenhafen
Hauptort einer Verwaltungseinheit
Hochschul- oder Universitätsstadt
Ort am Jangtsekiang
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Q16666
| 360.70562 |
1026
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https://de.wikipedia.org/wiki/Dominikaner
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Dominikaner
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Der katholische Orden der Dominikaner, auch Predigerorden, lat. Ordo (fratrum) Praedicatorum (Ordenskürzel OP), wurde im frühen 13. Jahrhundert vom heiligen Dominikus gegründet. Der Sitz der Generalkurie des Predigerordens ist Santa Sabina in Rom.
Geschichte
Gründung und erste Jahre
Dominikus wurde im Jahr 1170 in der kastilischen Ortschaft Caleruega geboren. Schule und Studium absolvierte er in Palencia. Im Jahr 1196 trat er in das Domkapitel von Osma in Kastilien ein, wurde dort zum Priester geweiht und wurde 1201 Subprior des Kapitels. Auf Reisen im Gefolge seines Bischofs Diego de Acevedo wurde er in Südfrankreich mit den dortigen Erfolgen der Katharer konfrontiert. Der Katharismus fand aufgrund der asketischen Lebensweise und rhetorischen Überzeugungskraft seiner Prediger großen Anklang in der Bevölkerung. Von den örtlichen Feudalherren wurde er toleriert oder auch gefördert, während die theologisch und seelsorgerisch wenig ambitionierte katholische Geistlichkeit hauptsächlich um die Sicherung ihrer Pfründen und weltlichen Privilegien bemüht war. Auch die von Papst Innozenz III. als Legaten beauftragten Zisterzienser, die den Schwerpunkt ihrer Tätigkeit nicht in der Missionierung, sondern in der politischen Diplomatie und der Herbeiführung repressiver Maßnahmen sahen, hatten sich vor allem den Hass der Bevölkerung zugezogen, aber dem Katharismus keine wirksamen Maßnahmen entgegensetzen können.
Bischof Diego hatte zunächst das Projekt einer Missionierung der Türken verfolgt und ersuchte den Papst Innozenz III. in Rom dafür um Befreiung von seinem Bischofsamt. Dem Papst war jedoch die Missionierung in Südfrankreich das vordringliche Anliegen. Ende des Jahres 1204 kehrten die beiden über Cîteaux nach Südfrankreich zurück und stimmten ihre Missionstätigkeit mit den päpstlichen Legaten (u. a. Pierre de Castelnau) ab. Mit Unterstützung des neuen Bischofs von Toulouse, des Zisterziensers und ehemaligen Trobadors Folquet de Marseille, gründeten sie 1206/1207 in Prouille (okzitanisch: Prolha) in der Nähe von Fanjeaux einen Konvent für bekehrte Katharerinnen, die in den ersten Jahren nach der Regel der Zisterzienser lebten. Während Diego nach Osma zurückkehrte und dort Ende 1207 verstarb, blieb Dominikus in Südfrankreich und widmete sich von Prouille aus weiter seiner inneren Berufung, durch ein Wanderleben zu Fuß, statt herrschaftlich zu Pferde, in apostolischer Armut und durch rastlosen Einsatz als Prediger die Bevölkerung wieder zum katholischen Glauben zu bekehren. Diesem Programm, welches das Betteln als Form des Lebensunterhalts einschloss und dadurch im Widerspruch zu den noch gültigen kirchlichen Vorschriften stand, erteilte am 17. November 1206 auch der Papst eine erste offizielle Genehmigung. Als es im Jahr 1208 zu dem vom Papst seit längerem vorbereiteten, militärischen Kreuzzug gegen die Katharer kam (siehe: Albigenserkreuzzug), war Dominikus anscheinend nicht maßgeblich an der Organisation und Propaganda des Kreuzzuges beteiligt, sondern ihm fiel vor allem die Aufgabe zu, die Überlebenden in der militärisch unterworfenen Region nunmehr auch geistlich zu bekehren, wobei seine Missionstätigkeit unter anderem dadurch gefördert wurde, dass der militärische Anführer des Kreuzzuges, Simon IV. de Montfort, und die neuen katholischen Herren den Konvent von Prouille mit Schenkungen und Privilegien bedachten.
Im Jahr 1215 wurden Dominikus und sechs seiner Gefährten durch Bischof Folquet von Toulouse in rechtsverbindlicher Form als Predigergemeinschaft approbiert. Grundlage des Ordens war von Anfang an die Augustinusregel, weshalb die Dominikaner zu den augustinischen Orden gezählt werden. Diesen Regeln fügte die Gemeinschaft Konstitutionen bei, die sich auf die Durchführung des Predigtauftrags bezogen. Die Brüder waren beauftragt, die Häresie zu bekämpfen und den Glauben zu predigen, und erhielten dazu die Erlaubnis, als Wanderprediger ein Leben in religiöser Armut zu führen. Die dafür erforderlichen Mittel wurden ihnen durch Almosen der Diözese zugeteilt; was davon nicht gemäß der Zweckbestimmung verbraucht wurde, war am Ende des Jahres zurückzuerstatten. Diese neue Institution wurde noch im selben Jahr durch ein päpstliches Schreiben approbiert und 1215 dann durch den 10. Kanon des IV. Laterankonzils, dort allerdings ohne Festlegung des Prinzips apostolischer Armut, allen Bischöfen vorgeschrieben.
Zurückgekehrt nach Toulouse entsandte Dominikus am Fest Mariä Himmelfahrt des Jahres 1217 (15. August) seine Mitbrüder in die Welt – zunächst nach Paris und nach Spanien – zur Gründung neuer Konvente, hierin dem biblischen Vorbild Christi bei der Entsendung der Jünger folgend. Zum Jahreswechsel hielt er sich erneut in Rom auf und erwirkte am 11. Februar 1218 eine päpstliche Enzyklika, in der das Armutsprinzip der Prediger bekräftigt und die Amtsträger der Kirche zu deren Unterstützung aufgefordert wurden. Im selben Jahr folgten Gründungen der ersten italienischen Konvente, in Bologna und durch Dominikus selber in Rom. Von Rom begab er sich über Toulouse nach Spanien, Nordfrankreich (Paris) und erneut nach Italien, um die Gründung und Organisation neuer Konvente persönlich zu unterstützen. Als besonders folgenreich erwiesen sich hiervon die frühen Gründungen in Paris und Bologna, die wesentlich dazu beitrugen, dass der Orden durch Lehrstühle an den entstehenden Universitäten und durch Einrichtung eigener Generalstudien bald eine führende Rolle in der mittelalterlichen Wissenschaft einnehmen konnte.
Im Jahr 1220, als bereits annähernd 60 Niederlassungen bestanden, hielt Dominikus zu Pfingsten in Bologna die erste Generalversammlung des Ordens ab. Das Generalkapitel ergänzte die erste Fassung (prima distinctio) der Satzungen von 1216 durch eine secunda distinctio und gab dem Orden seine in den Grundzügen bis heute gültige Organisationsform. Es besiegelte zugleich die Entwicklung von einem Kanonikerorden zu einem Bettelorden sui generis durch die Verschärfung des Armutsprinzips, indem außer dem persönlichen auch der gemeinschaftliche Besitz und feste Einkünfte ausgeschlossen wurden. Nach neuerlichen Predigten in Oberitalien, wo Honorius III. zum Vorgehen gegen die aus Südfrankreich zugelaufenen Katharer aufgerufen hatte, verstarb Dominikus am 6. August 1221 in Bologna.
Hochmittelalter und Spätmittelalter (13. bis 15. Jahrhundert)
Die von dem zweiten Ordensmeister Jordan von Sachsen als Constitutiones zusammengestellten Satzungen und Regelwerke des Ordens wurden von dessen Nachfolger Raimund von Peñafort, einem der größten Kanonisten seiner Zeit, in eine systematische Ordnung gebracht und seither durch die Generalkapitel immer wieder geändert oder ergänzt. Seit der frühen Zeit herrschte allerdings ein gewisser Pragmatismus in der Anwendung der Vorschriften, indem in Einzelfällen Dispensationen möglich waren und tatsächlich auch häufig erteilt wurden, um Hindernisse bei der Ausübung des Studiums oder der Predigt auszuräumen. Seit dem Generalkapitel von 1236 wurden Verstöße gegen die Constitutiones außerdem nicht mehr als Sünde, sondern als durch Buße abzugeltendes Vergehen bewertet.
Das strenge Armutsprinzip wurde im Lauf des 14. Jahrhunderts vielfach dadurch gelockert, dass einzelne Ordensmitglieder Benefizien annahmen und dadurch die vita privata als Usus einführten. Durch das große abendländische Schisma wurde der Orden zeitweise in drei „Observanzen“ zerrissen. Raimund von Capua als Generalmeister der römisch-urbanianischen Observanz initiierte 1390 eine Reformbewegung, die die vita privata zurückdrängen und die vita apostolica erneuern sollte. Dies führte zur Gründung von Reformkonventen, die sich ihrerseits zu Reformkongregationen und Reformprovinzen zusammenschlossen. Als bindende Vorschrift wurde das ursprüngliche Armutsprinzip de jure aufgehoben, als Martin V. im Jahr 1425 zunächst einzelnen Konventen und Sixtus IV. 1475 dem gesamten Orden Besitz und feste Einkünfte erlaubte.
Wie andere Bettelorden entwickelten die Dominikaner im späten Mittelalter durch ihren missionarischen Eifer eine judenfeindliche Haltung. Die am meisten verbreitete antijüdische Schrift des Mittelalters stammte von einem Dominikaner, dem Spanier Alfonso de Buenhombre. Sein fingierter Brief des Rabbis Samuel, der sich als Werk eines bekehrten Juden ausgab, behandelte die Zerstreuung der Juden unter den Völkern und ihre Ursache. Der 1339 in lateinischer Sprache abgefasste Brief wurde in beinahe alle Sprachen des Abendlandes übersetzt und hat sich in mehr als dreihundert Handschriften erhalten.
Inquisition
Der Dominikanerorden stellte seit dem Beginn der Inquisition zu Beginn des 13. Jahrhunderts im päpstlichen Auftrag Inquisitoren zur Aufspürung und Verfolgung von Häretikern. Aufgrund der Erfahrungen, die der Orden bereits früh in Auseinandersetzung mit Häretikern gesammelt hatte, sowie seiner intellektuellen Ausrichtung bot er dafür besonders gute Voraussetzungen. Bereits 1231–33 erteilte Papst Gregor IX. in seinem mehrfach ausgestellten Sendschreiben Ille humani generis mehreren Dominikanerkonventen den Auftrag zur Verfolgung von Häresien. Besonders aktiv wurden die Dominikaner, die man deshalb mit einem Wortspiel auch als domini canes (Hunde des Herrn) bezeichnete, daraufhin in Südfrankreich bei der inquisitorischen Bekämpfung der Katharer. Neben Inquisitoren aus den Reihen anderer Orden, etwa der Franziskaner, wirkten Dominikaner als Inquisitoren während des gesamten Mittelalters vor allem in Frankreich, Italien und im Heiligen Römischen Reich. Bedeutende Dominikanerinquisitoren waren u. a. Bernard Gui († 1331), Walter Kerlinger († 1373), Tomás de Torquemada († 1498), der erste Generalinquisitor der Spanischen Inquisition, oder Jakob van Hoogstraten († 1527). Umgekehrt fielen auch Mitglieder des Dominikanerordens der Inquisition zum Opfer, wie Giordano Bruno.
Dominikaner beteiligten sich auch an den Anfängen der Hexenverfolgung, darunter Nicolas Jacquier († 1472) oder Heinrich Kramer († 1505), der Autor des Hexenhammers.
Im Jahr 2000 nahm das Provinzkapitel der Dominikanerprovinz Teutonia zur historischen Beteiligung der Dominikaner an der Inquisition und Hexenverfolgung kritisch Stellung (siehe hier).
Kirchenbau
Bedeutende historische Dominikanerkirchen, auch Predigerkirchen genannt, sind die Französische Kirche in Bern sowie weitere Beispiele in Basel, Eisenach, Erfurt, Regensburg, Rottweil oder Zürich. Viele davon befinden sich heute nicht mehr im Besitz des Dominikanerordens.
In der ostwestfälischen Hansestadt Warburg (Land Nordrhein-Westfalen) kann das Kuriosum von gleich zwei ehemaligen Dominikanerklöstern und -kirchengebäuden im Stadtgebiet besichtigt werden, die nicht mehr im Besitz des Ordens sind. Es handelt sich hierbei um die erste Dominikanerkirche St. Maria in vinea (Klosterkirche von 1281 bis 1803) mit seinem seit 1826 als Gymnasium Marianum genutztem Klostergebäude sowie um die zweite Dominikanerkirche mit -kloster St. Mariä Himmelfahrt (Klosterkirche von 1903 bis 1993). Im letztgenannten Konvent befand sich bis zur Auflösung das Noviziat als Ausbildungsstätte der Provinz Teutonia.
1953 baute der bekannte schweizerisch-französische Architekt Le Corbusier Kirche und Kloster der Dominikaner Sainte-Marie de la Tourette bei Lyon.
20. Jahrhundert
In den 1950er- und 1960er-Jahren erlebte der Orden im deutschsprachigen Raum „eine erneute Blüte“. Neue Konvente wurden gegründet bzw. wiederbegründet: in Braunschweig (1952), in Münster (1961), in Hamburg (1962) und in Bremen (1968).
Der Orden in der Gegenwart
Verfassung des Ordens
Was den Orden der Predigerbrüder von seiner Gründung her auszeichnet, ist seine demokratische Verfassung. Alle Brüder tragen gemeinsam die Verantwortung für die Verwirklichung der Ziele der Ordensgemeinschaft. Es gibt ein Mitspracherecht auf allen Ebenen. Alle Oberen werden auf Zeit gewählt. Wichtige Entscheidungen werden von der Gemeinschaft der Brüder oder ihrer jeweiligen Delegierten im Konvents-, Provinz- oder Generalkapitel getroffen. Der Generalobere der Dominikaner wird Ordensmeister (Magister Ordinis) genannt. Der derzeitige Ordensmeister (seit Juli 2019) ist Gerard Francisco Timoner.
Der kleinste Baustein des Ordens ist ein Kloster, der sogenannte Konvent, der traditionell aus mindestens sechs Mitgliedern besteht. Ist die Zahl der Mitglieder geringer, handelt es sich um ein "Domus" (Haus). Hier leben die Brüder in Gemeinschaft zusammen, halten gemeinsam das Chorgebet und erfüllen ihre Aufgaben im Studium, in der Predigt innerhalb und außerhalb des Konvents und zum Teil auch in Übernahme von Aufgaben der pfarrlichen oder kategorialen Seelsorge (Krankenhaus, Gefängnis, Beratungsdienste etc.). Der Obere eines Konventes wird Prior genannt, und auf drei Jahre gewählt. Er wird vom nächsthöheren Oberen, dem Provinzial, bestätigt. Der Obere eines Domus wird als Superior bezeichnet. Er wird vom Provinzial nach Anhörung der Gemeinschaft für drei Jahre ernannt. Die Konvente und Häuser sind zu Provinzen zusammengeschlossen, heute insgesamt 42, denen jeweils ein Provinzial vorsteht. Er wird für vier Jahre auf dem alle vier Jahre tagenden Provinzkapitel gewählt, das sich aus den gewählten Prioren und zusätzlich gewählten Delegierten zusammensetzt. Der Provinzial wird vom Ordensmeister, dem höchsten Oberen des Ordens bestätigt. Der Ordensmeister wiederum wird vom Generalkapitel, der obersten gesetzgebenden Versammlung, auf neun Jahre gewählt. Wähler sind hier jeweils die gewählten Provinziale sowie von den Provinzen gewählte Delegierte.
Spiritualität
Die Spiritualität des Ordens wird vom Ziel her bestimmt: (Papst Honorius III.). Die Predigt fließt aus der Fülle der Beschauung, so dass Thomas von Aquin formulieren konnte: („sich der Kontemplation widmen und die Frucht der Kontemplation weitergeben“). Die spezifische Lebensform der Dominikaner, für die das Gemeinschaftsleben, das feierliche, gemeinsame Chorgebet und das ständige Studium charakteristisch sind, führt zur Verkündigung in Wort und anderen apostolischen Aktivitäten.
Apostolat
In der heutigen Zeit sind für die Dominikaner vor allem folgende Prioritäten für ihr Tun leitend:
Die Katechese in nichtchristlichen Kulturen, geistigen Systemen, sozialen Bewegungen und religiösen Traditionen.
Die Gerechtigkeit in der Welt: kritische Analyse der Ursprünge, Formen und Strukturen von Gerechtigkeit in unserer Welt und Einsatz für die Befreiung des Menschen.
Die Inanspruchnahme sozialer Kommunikationsmittel für die Verkündigung des Wortes Gottes.
Statistik
Heute gibt es weltweit ca. 6.000 Brüder, ferner 3.000 Nonnen und über 30.000 tätige Schwestern in Kongregationen des dritten Ordens (siehe Dominikanerinnen). Die Dominikanischen Laiengemeinschaften beiderlei Geschlechts führen ein spirituelles Leben im Geiste der dominikanischen Tradition, leben aber in der Welt, gehen einem Beruf nach und können auch verheiratet sein.
Zur Provinz Teutonia (gegründet 1221) gehören 9 Konvente: Köln (Provinzialat), Düsseldorf, Vechta, Hamburg, Berlin, Braunschweig, Leipzig, Worms, Mainz (Studienhaus). Das Noviziat befindet sich seit 1993 in Worms, wo die Dominikaner schon zehn Jahre nach der Ordensgründung im Jahr 1216 ansässig wurden. Darüber hinaus gibt es eine kleinere Niederlassung (Domus) im Wallfahrtsort Klausen bei Trier sowie in Berlin (Institut M.-Dominique Chenu). Zur Provinz Teutonia gehörte bis 2013 ein Vikariat in Bolivien mit 6 Niederlassungen (Santa Cruz de la Sierra, Cochabamba, Pampagrande, Comarapa, Samaipata, Mairana, Potosi). Das Vikariat wurde 2013 als Vizeprovinz von Bolivien selbstständig. Seit 2020 ist Ungarn Provinzvikariat der Teutonia mit Häusern in Sopron, Debreczen und Sentendre.
Die Süddeutsch-Österreichische Provinz umfasst vier Konvente: einen Konvent in Baden-Württemberg (Freiburg), zwei in Bayern (Augsburg, München) und einen in Österreich (Wien).
Mit Wirkung zum 28. Januar 2024, dem Fest des heiligen Thomas von Aquin, werden die Provinz Teutonia (Deutschland ohne Bayern und Baden-Württemberg, Ungarn) und die Süddeutsch-österreichische Provinz vom hl. Albert fusionieren und eine organisatorische Einheit bilden. Die neue Provinz wird „Dominikanerprovinz des hl. Albert in Deutschland und Österreich“ heißen. Provinzial wird Pater Peter Kreutzwald, derzeitiger Probinzial der Provinz Teutonia.
Siehe auch: Liste der Dominikanerklöster.
Das Wappen der Dominikaner
Als Wappen des Dominikanerordens sind zwei unterschiedliche Motive zu finden, das Lilienkreuz und das Mantelwappen.
Das gegenwärtige Wappen der Dominikaner zeigt im von schwarz und silber achtfach geständerten Schild ein schwarz und silber geständertes Lilienkreuz. Das Lilienkreuz tritt seit dem 15. Jahrhundert auf und ist damit älter als das schwarz-silberne ekklesische Mantelwappen. Es ist ein ursprünglich der Inquisition zugeordnetes Emblem und findet erst seit dem 17. Jahrhundert allgemeine Verbreitung als Symbol für den Predigerorden.
Das Mantelwappen (heraldisch: Mantelzug) ist eine silberne Spitze auf schwarzem Feld. Es erscheint erstmals 1494 in einem venezianischen Processionarium, wird dann in Europa zum üblichen Zeichen für die Dominikaner und trug ihnen in England die Bezeichnung als Blackfriars, schwarze Brüder, ein. Gedeutet wird es als .
Das eigentlich ältere Lilienkreuz verdrängte das Mantelwappen erst an der Wende zum 20. Jahrhundert, beim Generalkapitel in Bologna 1961 wurde das Mantelwappen wieder zum verbindlichen Abzeichen des Dominikanerordens erklärt, was aber bereits das Generalkapitel von 1965 in Bogotá wieder aufhob. Seitdem ist die Verwendung beider Wappenbilder freigestellt.
Bekannte Dominikaner
Albertus Magnus (ca. 1200–1280)
Anatol Feid (1942–2002)
Arthur F. Utz (1908–2001)
Aurelius Arkenau (1900–1991)
Bartolomé de Las Casas (1484 oder 1485–1566)
Basilius Streithofen (1925–2006)
Benedikt XI. (1240–1304)
Benedikt XIII. (1649–1730)
Benedikt Momme Nissen (1870–1943)
Bernard Gui (ca. 1261–1331)
Christoph Kardinal Schönborn (* 1945)
Colmarer Dominikanerchronist (ca. 1221–1305)
Dietrich von Freiberg (ca. 1240–1320)
Dominik Duka (* 1943)
Dominikus (Ordensgründer) (ca. 1170–1221)
Dominique Pire (1910–1969)
Eberhard Welty (1902–1965)
Edward Schillebeeckx (1914–2009)
Everhard von Westerheim (ca. 1362–1392)
Felizian Ninguarda (1524–1595)
Fra Angelico (ca. 1400–1450)
Francesco Gaude (1809–1860)
Georges Kardinal Cottier (1922–2016)
Giordano Bruno (1548–1600)
Girolamo Savonarola (1452–1498)
Gordian Landwehr (1912–1998)
Gustavo Gutiérrez (* 1928)
Hans Conrad Zander (Schriftsteller, ehem. Dominikanernovize, * 1937)
Heinrich Kalteisen (ca. 1390–1464)
Heinrich Kramer (ca. 1430–1505)
Heinrich Seuse (ca. 1295–1366)
Innozenz V. (1225–1276)
Jacobus a Voragine (ca. 1228–1298)
Jacobus de Cessolis (14. Jahrhundert)
Jakob Sprenger (Inquisitor, 1435–1495)
Jacopo Passavanti (ca. 1302–1357)
Jean-Baptiste Labat (1663–1738)
Jean Baptiste Henri Lacordaire (1802–1861)
Jean de Menasce (1902–1973)
Jean-Hervé Nicolas (1910–2001)
Jean-Joseph Lataste (1832–1869)
Johannes Nider (ca. 1385–1438)
Johannes Tauler (ca. 1300–1361)
Johann Dietenberger (ca. 1475–1537)
Johann Strote († 1350)
Johann Tetzel (Ablassprediger, ca. 1460–1519)
Jordan von Sachsen (ca. 1185–1237)
José Tolentino Kardinal Calaça de Mendonça (* 1965)
Joseph Maria Bocheński (1902–1995)
Katharina von Siena (3. Orden, 1347–1380)
Kjell Arild Pollestad (* 1949)
Laurentius Siemer (1888–1956)
Marie-Dominique Chenu (1895–1990)
Martín de Porres (1579–1639)
Matthias von Sittard (1522–1566)
Meister Eckhart (ca. 1260–1328)
Michel Le Quien (1661–1733)
Odilo Braun (1899–1981)
Paul-Heinz Guntermann (1930–2006)
Petrus von Verona (ca. 1206–1252)
Pierre Claverie (1938–1996)
Pius V. (1504–1572)
Réginald Garrigou-Lagrange (1877–1964)
Ricoldo da Monte di Croce (ca. 1243–1320)
Rosa von Lima (3. Orden, 1586–1617)
Servais-Théodore Pinckaers (1925–2008)
Thomas Cajetan (1469–1534)
Thomas von Aquin (ca. 1225–1274)
Titus Maria Horten (1882–1936)
Tomás de Torquemada (Inquisitor, 1420–1498)
Tommaso Campanella (1568–1639)
Ulrich von Straßburg (ca. 1220–1277)
Vinzenz Ferrer (1350–1419)
Wolfgang Ockenfels (* 1947)
Wunibald Maria Brachthäuser (1910–1999)
Yves Congar (1904–1995)
Siehe auch
Liste der Ordensmeister der Dominikaner
Literatur
Geschichte
Überblicke und Gesamtdarstellungen
William A. Hinnebusch OP: Kleine Geschichte des Dominikanerordens (= Dominikanische Quellen und Zeugnisse, Bd. 4). Aus dem Amerikanischen von Christophe Holzer und Winfried Locher OP und Winfried Locher. St. Benno Verlag, Leipzig 2004, ISBN 3-7462-1688-5.
Elias H. Füllenbach (Hrsg.): Mehr als Schwarz und Weiß. 800 Jahre Dominikanerorden. Verlag Friedrich Pustet, Regensburg 2016, ISBN 978-3-7917-2757-8.
Einzelne Epochen
Wolfram Hoyer (Hrsg.): Jordan von Sachsen. Von den Anfängen des Predigerordens (= Dominikanische Quellen und Zeugnisse, Bd. 3). St. Benno Verlag, Leipzig 2002, ISBN 3-7462-1574-9.
Achim Todenhöfer: Apostolisches Ideal im sozialen Kontext. Zur Genese der europäischen Bettelordensarchitektur im 13. Jahrhundert. In: Marburger Jahrbuch für Kunstwissenschaft, Bd. 34 (2007), S. 43–75.
Einzelne Regionen
Ingo Ulpts: Die Bettelorden in Mecklenburg. Ein Beitrag zur Geschichte der Franziskaner, Klarissen, Dominikaner und Augustiner-Eremiten im Mittelalter (= Saxonia Franciscana, Bd. 6). Coelde, Werl 1995, ISBN 3-87163-216-3.
Johannes Schütz: Hüter der Wirklichkeit. Der Dominikanerorden in der mittelalterlichen Gesellschaft Skandinaviens, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2014.
Yvonne Arras: Die Dominikanerinnen und Dominikaner der Region Neckar-Alb in der Augsburger Chronik von Karl Welz OP († 1809) und Emerich Rueff OP († 1814). In: Hohenzollerischer Geschichtsverein (Hrsg.): Zeitschrift für Hohenzollerische Landesgeschichte. 51./52. Band. Sigmaringen 2015/2016. (Mit einer Edition von Teil I der Handschrift 2002/90 Bistumsarchiv Augsburg).
Spiritualität
Ulrich Engel (Hrsg.): Dominikanische Spiritualität (= Dominikanische Quellen und Zeugnisse, Bd. 1). St. Benno Verlag, Leipzig 2000, ISBN 3-7462-1358-4.
Timothy Radcliffe: Gemeinschaft im Dialog. Ermutigung zum Ordensleben (= Dominikanische Quellen und Zeugnisse, Bd. 2). St. Benno Verlag, Leipzig 2001, ISBN 3-7462-1450-5.
Thomas Eggensperger, Ulrich Engel: Dominikanerinnen und Dominikaner: Geschichte und Spiritualität . Topos-Tb, Kevelaer 2010, ISBN 978-3-8367-0709-1.
Heilige und Selige
Gerfried A. Bramlage OP: Die Heiligen und Seligen des Dominikanerordens. Werth, Warburg 1985.
Artikel in Lexika
Filme und Audio-Dateien
Episode 13, Dominikaner, im Podcast Gott bewahre!
Vom Wort zur Wissenschaft – Die Dominikaner. Dokumentationsreihe Te Deum – Himmel auf Erden, 3sat (Weblink).
Wilfried Köpke: Die Dominikaner. Der Orden der Prediger, 30'-Film und 15'-Interview mit Ordensmeister fr. Carlos Azpiroz Costa op, DVD, Leipzig (St. Benno-Verlag) 2006, ISBN 978-3-7462-1967-7.
Weblinks
Portal des Dominikanerordens (englisch)
Portal des Dominikanerordens in Deutschland
Dominikanerprovinz Teutonia
Süddeutsch-österreichische Dominikanerprovinz
Schweizer Dominikanerprovinz
Meister Eckhart und seine Zeit – Orden – Dominikaner
Institut Chenu des Dominikanerordens in Berlin
Alfonso Buenhombre
Einzelnachweise
Dominikaner
Männerorden
Bettelorden
Gegründet im 13. Jahrhundert
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Q131479
| 318.608991 |
6753
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https://de.wikipedia.org/wiki/1755
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1755
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Ereignisse
Politik und Weltgeschehen
Europäische Kolonien in Nordamerika
16. Juni: Britische Einheiten erobern nach rund zweiwöchiger Belagerung das französische Fort Beauséjour im Franzosen- und Indianerkrieg.
9. Juli: Eine vor allem aus mit den Franzosen verbündeten Indianern bestehende Truppe fügt einem auf das französische Fort Duquesne, das heutige Pittsburgh, vorrückenden britischen Heer in der Schlacht am Monongahela eine vernichtende Niederlage zu und beenden damit vorläufig die britischen Versuche, sich im Tal des Ohio River festzusetzen. Sowohl der britische Kommandant Edward Braddock als auch der französische Kommandeur Daniel Liénard de Beaujeu kommen bei der Schlacht ums Leben, die als klassisches Beispiel für Führungsversagen gilt. Wesentlicher Grund für die schwere Niederlage der Briten ist die dilettantische Vorbereitung und Durchführung der Expedition, der Einsatz unerfahrener Soldaten sowie das sture Festhalten an der vom Reglement vorgeschriebenen, aber für den Kolonialkrieg völlig ungeeigneten linearen Gefechtsordnung.
8. September: In der Schlacht am Lake George besiegen ein britisches Milizheer unter William Johnson verbündete französische und indianische Einheiten und setzt sich damit im Bereich der Großen Seen fest.
24. November: Beim ersten Gnadenhütten-Massaker wird die Herrnhuter Brüdergemeine in Gnadenhütten, Pennsylvania, von mit den Franzosen verbündeten Indianern überfallen. Sämtliche dort lebenden Missionare und die christlichen sogenannten Mährischen Indianer werden von ihnen umgebracht.
Großbritannien beschließt die Deportation aller französischen Einwohner Akadiens, die keinen Eid auf die britische Krone ablegen wollen. Die Große Vertreibung der Akadier in Kanada beginnt.
In der britischen Kolonie Georgia tritt ein Sklavengesetz in Kraft, das weitgehend auf dem Negro Act von South Carolina basiert.
Europa
Pasquale Paoli kehrt nach Korsika zurück und bekämpft mit Erfolg die regierende Republik Genua, die aus dem Landesinneren vertrieben und in wenigen Hafenstädten eingeschlossen wird. Mit der von ihm entworfenen Verfassung regiert er von der Hauptstadt Corte aus die Insel. Einer seiner Weggefährten ist Carlo Buonaparte.
Afrika
Iyasu II., negus von Äthiopien aus der Solomonischen Dynastie, stirbt am 26. Juni unter ungeklärten Umständen, möglicherweise an einer Vergiftung. Nachfolger wird sein Sohn Joas I. Da er zu diesem Zeitpunkt erst wenige Monate alt ist, führt seine Großmutter Mentewab die Regentschaft über das Kaiserreich, das Iyasu finanziell ruiniert zurückgelassen hat, und das überdies unter regionalen Konflikten leidet.
Asien
Im Kampf gegen die Mon erobert Alaungpaya die Stadt Dagon, gibt ihr den Namen Yangon und macht sie zur neuen Hauptstadt des birmanischen Reichs.
Wirtschaft
Fayencemanufakturen
20. Juni: Kurfürst Georg II. erteilt der Fayence-Manufaktur Münden rückwirkend die Konzession für eine Porcellain-fabrique für unechtes Porcellain.
19. September: Die Stralsunder Fayencenmanufaktur wird vom Kaufmann Joachim Ulrich Giese gegründet.
Weitere Unternehmensgründungen
Die Bank Leu wird als Staatsbank des Zürcher Stadtstaats gegründet. Maßgeblich an der Gründung beteiligt ist auch der spätere Bürgermeister Johann Jacob Leu.
Die Römerbrauerei in Bergheim wird gegründet.
Der Uhrmachermeister Jean-Marc Vacheron eröffnet eine Werkstatt in Genf.
In Edinburgh erscheint erstmals eine Zeitschrift mit dem Namen Edinburgh Review.
Geldwirtschaft
Unter Zarin Elisabeth wird in Russland erstmals der Imperial geprägt, eine Goldmünze im Wert von 10 Rubel.
Landwirtschaft
Die Größe einer Hufe in Preußen wird geändert.
Wissenschaft und Technik
Lehre und Forschung
25. Januar: Die Gründung der Lomonossow-Universität in Moskau erfolgt per Erlass von Elisabeth I. auf Anregung des Universalgelehrten und Schriftstellers Michail Lomonossow durch Iwan Schuwalow.
Maria Theresia gründet auf Anregung von Johann Joseph von Trautson das Observatorium Caesareo-Regium Viennense. Erster Direktor der Universitätssternwarte in Wien wird Maximilian Hell.
Kartographie
Am 13. Februar wird die erste Ausgabe der Mitchell-Karte herausgegeben. Sie wird heute noch verwendet, um Dispute um die Grenze zwischen Kanada und den Vereinigten Staaten beizulegen.
Linguistik
Neun Jahre nach Beginn seiner Arbeit veröffentlicht der englische Gelehrte und Schriftsteller Samuel Johnson am 15. April das Dictionary of the English Language. Es gilt bis heute als eines der einflussreichsten Wörterbücher in der Geschichte der englischen Sprache.
Naturwissenschaften
Immanuel Kant verfasst die Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels, die er anonym veröffentlicht. Nach Kants Vorstellung ist unser Sonnensystem eine Miniaturausgabe der beobachtbaren Fixsternsysteme, wie zum Beispiel unser Milchstraßensystem und andere Galaxien. So entstehen und vergehen Sonnensysteme und Galaxien periodisch aus einem Urnebel, dabei verdichten sich die einzelnen Planeten unabhängig. Im dritten Teil der Schrift, Von den Bewohnern der Gestirne, entwickelt Kant eine Theorie des außerirdischen Lebens. Danach ist die Existenz von Lebewesen auf anderen Planeten unseres Sonnensystems sehr wahrscheinlich. Zudem formuliert Kant ein Sonnenabstandsgesetz, nach dem die geistigen Fähigkeiten von Lebewesen zunehmen, je weiter sie von der Sonne entfernt leben. Demnach seien Lebewesen auf dem Jupiter den Menschen geistig weit überlegen, während Merkurbewohner den Erdbewohnern intellektuell deutlich unterlegen seien. Aus einer geistigen Überlegenheit folge zudem eine moralische Überlegenheit, weswegen der Mensch aus geistiger und moralischer Perspektive nicht mehr als „Krone der Schöpfung“ zu betrachten sei.
Leonhard Euler stellt die Grundgleichungen der Hydrodynamik auf.
Kunstgeschichte
Das Erstlingswerk von Johann Joachim Winckelmann, die Gedanken über die Nachahmung der Griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst erscheint in Dresden in einer Auflage von knapp 50 Exemplaren.
Philosophie
Jean-Jacques Rousseaus Werk Discours sur l’origine et les fondements de l’inégalité parmi les hommes (Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen) erscheint in französischer Sprache beim Genfer Verleger Marc-Michel Rey in Amsterdam.
Kultur
Architektur
Der Bau von Schloss Benrath in Düsseldorf beginnt unter der Leitung von Nicolas de Pigage im Auftrag des Kurfürsten Karl Theodor von der Pfalz.
Musik und Theater
6. Januar: Die Opera seria Montezuma von Carl Heinrich Graun auf das Libretto von Friedrich dem Großen wird an der Königlichen Hofoper in Berlin uraufgeführt.
20. Januar: Am Königlichen Hoftheater in Dresden erfolgt die Uraufführung der Oper Ezio von Johann Adolph Hasse. Es ist bereits Hasses zweite Oper dieses Namens auf das Libretto von Pietro Metastasio und ist eine der spektakulärsten und aufwändigsten Inszenierungen am Dresdner Hof und jener Zeit insgesamt. Im gleichen Jahr vertont auch Carl Heinrich Graun Metastasios Libretto. Sein Werk wird am 16. März in Berlin uraufgeführt.
15. Juni: Die Uraufführung der Oper Il Don Chisciotte von Ignaz Holzbauer findet in Schwetzingen statt.
10. Juli: Die Uraufführung des ersten deutschen bürgerlichen Trauerspiels Miss Sara Sampson von Gotthold Ephraim Lessing findet im Exerzierhaus zu Frankfurt statt.
30. August: Die Uraufführung der Oper Enea nel Lazio von Niccolò Jommelli erfolgt in Stuttgart.
Der Dichter Christian Fürchtegott Gellert schafft das Weihnachtslied Dies ist der Tag, den Gott gemacht. Gellert unterlegt dem Lied die Melodie Vom Himmel hoch, da komm ich her von Martin Luther.
Die Handschriften des Nibelungenlieds werden durch Jacob Hermann Obereit wiederentdeckt.
Gesellschaft
26. Juli: Giacomo Casanova wird wegen „Schmähungen gegen die heilige Religion“ in den Bleikammern des Dogenpalastes in Venedig inhaftiert. Fünfzehn Monate später gelingt ihm die spektakuläre Flucht.
Johann Georg Müchler und Friedrich Gabriel Resewitz gründen in Berlin den Verein Gelehrtes Kaffeehaus.
Friedrich Nicolai gründet den literarischen Freundeskreis Berliner Aufklärung, dem unter anderem auch Gotthold Ephraim Lessing angehört.
Religion
22. Februar: Mit der Bulle Beatus Andreas erlaubt Papst Benedikt XIV. die Verehrung des laut einer Ritualmordlegende von Juden ermordeten Anderl von Rinn.
26. Juli: Papst Benedikt XIV. gibt mit der Enzyklika Allatae sunt die erste kompakte Ostkirchenenzyklika heraus.
Deutsche Einwanderer gründen die Zion Church of the City of Baltimore.
Katastrophen
Am 1. November wird Lissabon von einem Erdbeben und einem darauf folgenden Tsunami größtenteils zerstört. 30.000 bis 100.000 Menschen kommen dabei allein in Lissabon um, die ganze südliche Iberische Halbinsel und Nord-West-Afrika sind davon betroffen, ebenso die Azoren, Madeira und die Kapverdischen Inseln. Das Beben wird in ganz Europa bis nach Finnland registriert und verursacht zum Teil schwere Schäden.
Auf viele Denker der Aufklärung macht das Erdbeben einen großen Eindruck. Es wirft für Philosophen und Theologen das alte Theodizee-Problem neu auf: Wie kann ein allmächtiger und gütiger Gott ein so gewaltiges Unglück wie das Erdbeben von Lissabon zulassen – überdies am Festtag Allerheiligen? Gelehrte wie Voltaire, Kant und Lessing diskutieren diese Fragen.
Der Wiederaufbau Lissabons wird von Sebastião José de Carvalho e Mello, dem späteren Marquês de Pombal, organisiert. Mit seiner kompetenten Aufarbeitung der Katastrophe etabliert er sich als führend Staatsmann und setzt sich in den folgenden Jahren im seit langem schwelenden Machtkampf gegen den alteingesessenen Adel und die katholische Kirche durch.
Geboren
Erstes Quartal
1. Januar: Christian August Thon, deutscher Jurist, Beamter und Politiker († 1829)
7. Januar: Stephen Groombridge, englischer Astronom und Handelsmann († 1832)
8. Januar: Charlotte von Hezel, deutsche Schriftstellerin, Redakteurin und Journalistin († 1817)
11. Januar: Wilhelm Julius Ludwig von Schubert, deutscher Jurist und Regierungsbeamter († 1835)
17. Januar: Peter I., Regent des Fürstbistums Lübeck und des Herzogtums Oldenburg sowie erster Großherzog von Oldenburg († 1829)
20. Januar: Johannes Aloysius Martyni-Laguna, deutscher Privatgelehrter († 1824)
28. Januar: Samuel Thomas von Soemmerring, deutscher Arzt, Anthropologe, Paläontologe und Erfinder († 1830)
12. Februar: David Ross, US-amerikanischer Politiker († 1800)
14. Februar: Karl Ludwig, Erbprinz von Baden († 1801)
15. Februar: Jean-Nicolas Corvisart, französischer Mediziner und Leibarzt von Napoleon Bonaparte († 1821)
15. Februar: Ferdinand von Lüninck, preußischer Fürstbischof von Corvey und Bischof von Münster († 1825)
16. Februar: Friedrich Wilhelm Bülow von Dennewitz, preußischer General († 1816)
19. Februar: Pieter Gerardus van Overstraten, Generalgouverneur von Niederländisch-Indien († 1801)
21. Februar: Carl Heinrich August von Lindenau, preußischer Generalleutnant († 1842)
24. Februar: Ferdinand Kunz, deutscher Hochschullehrer († 1825)
24. Februar: Karl von Müller-Friedberg, Schweizer Politiker, Diplomat und Staatsmann († 1836)
6. März: Jean-Pierre Claris de Florian, französischer Dichter († 1794)
11. März: Nikolaus Ferdinand Auberlen, württembergischer Musiker und Komponist († 1828)
18. März: Caterina Cavalieri, österreichische Opernsängerin, Mozartinterpretin († 1801)
24. März: Rufus King, US-amerikanischer Jurist, Politiker und Diplomat († 1827)
Zweites Quartal
1. April: Jean Anthelme Brillat-Savarin, französischer Schriftsteller († 1826)
5. April: Vincenc Mašek, böhmischer Komponist († 1831)
7. April: Donatien-Marie-Joseph de Vimeur, vicomte de Rochambeau, französischer General († 1813)
10. April: Samuel Hahnemann, deutscher Arzt († 1843)
11. April: Georg Hubmer, österreichischer Schwemmunternehmer und Tunnelplaner († 1833)
11. April: James Parkinson, britischer Arzt, Apotheker und Paläontologe († 1824)
15. April: Johann Georg Feldhann, deutscher Schulleiter und Philologe († 1826)
16. April: Élisabeth Vigée-Lebrun, französische Malerin († 1842)
17. April: Louis Marie de Narbonne-Lara, französischer Militär und Politiker († 1813)
18. April: Anna Franziska von Ketteler, letzte Äbtissin im Stift Freckenhorst († 1835)
20. April: John Armstrong, US-amerikanischer Offizier, Jurist und Politiker († 1816)
21. April: Maria Johanna von Aachen, deutsche Schriftstellerin († 1845)
22. April: Matthias Stumpf, Schweizer Maler und Kupferstecher († 1806)
26. April: William Matthews, US-amerikanischer Politiker († um 1808)
27. April: Carl Ludwig Amelang, preußischer Jurist und Beamter († 1819)
27. April: Marc-Antoine Parseval, französischer Mathematiker († 1836)
1. Mai: Brigida Banti, italienische Opernsängerin († 1806)
1. Mai: Theodor Christoph Grotrian, deutscher evangelischer Geistlicher, Pädagoge und Verleger († 1829)
11. Mai: Jean-Baptiste André Amar, französischer Revolutionär († 1816)
12. Mai: Giovanni Battista Viotti, italienischer Violinist und Komponist († 1824)
22. Mai: Gaetano Andreozzi, italienischer Opernkomponist († 1826)
22. Mai: Tench Coxe, Delegierter für Pennsylvania im Kontinentalkongress († 1824)
23. Mai: Bernhard Christoph Faust, deutscher Arzt, Begründer der Sonnenbaulehre († 1842)
30. Mai: Collin d'Harleville, französischer Dramatiker († 1806)
30. Mai: Johann Lukas Legrand, Schweizer Seidenfabrikant und Politiker († 1836)
18. Juni: Wilhelm Dietrich Hermann Flebbe, deutscher Beamter († 1837)
21. Juni: Johann George Gast, deutscher Orgelbauer († nach 1821)
24. Juni: Anacharsis Cloots, französischer Politiker und Revolutionär († 1794)
25. Juni: Wilhelmine von Hessen-Darmstadt, preußische Adelige und erste Gattin des Zaren Paul I. (Russland) († 1776)
30. Juni: Paul de Barras, französischer Politiker und Mitglied des Direktoriums († 1829)
30. Juni: Grigore IV. Ghica, Fürst der Walachei († 1834)
Drittes Quartal
3. Juli: Theodor von Reding, Schweizer General in spanischen Diensten († 1809)
5. Juli: Sarah Siddons, britische Schauspielerin († 1831)
6. Juli: John Flaxman, britischer Bildhauer († 1826)
27. Juli: Gabriel de Hédouville, französischer General und Politiker († 1825)
27. Juli: Benjamin Howland, US-amerikanischer Politiker († 1821)
27. Juli: Johann Heinrich Wepler, deutscher Theologe und Hochschullehrer († 1792)
1. August: Antonio Capuzzi, italienischer Violinist und Komponist († 1818)
3. August: Nicholas Gilman, US-amerikanischer Politiker († 1814)
18. August: Gottlob Heinrich von Lindenau, sächsischer Kammerherr, Kreisoberforstmeister und Rittergutsbesitzer († 1830)
21. August: Christian Adolph Overbeck, Bürgermeister von Lübeck und Dichter († 1821)
22. August: Louis André Jordan, deutsch-französischer Textil-Unternehmer und Bankier († 1834)
25. August: Johann Philipp Högl, Stadt-Steinmetzmeister von Wien, Obervorsteher der Wiener Bauhütte († 1800)
28. August: Friedrich Wilhelm Ludwig von Beulwitz, deutscher Jurist und Kanzler von Schwarzburg Rudolstadt († 1829)
29. August: Jan Henryk Dąbrowski, polnischer General († 1818)
4. September: Hans Axel von Fersen, schwedischer Staatsmann und Favorit der Königin Marie-Antoinette († 1810)
13. September: Oliver Evans, US-amerikanischer Erfinder († 1819)
15. September: Werner Jasper Andreas von Moltke, dänischer Amtmann der Färöer († 1835)
17. September: William Schaw Cathcart, britischer General und Diplomat († 1843)
20. September: Johann Nepomuk von Triva, bayerischer General und Kriegsminister († 1827)
24. September: Robert Lefèvre, französischer Maler († 1830)
24. September: John Marshall, US-amerikanischer Jurist und Politiker († 1835)
30. September: Hieronymus Waldinger, österreichischer Tierarzt und Hochschullehrer († 1821)
Viertes Quartal
2. Oktober: Hannah Adams, US-amerikanische Schriftstellerin († 1831)
3. Oktober: Ildefons von Arx, schweizerischer Mönch und Historiker († 1833)
9. Oktober: Nonnosus Brand, bayerischer Komponist, Organist und Musikpädagoge († 1793)
17. Oktober: Envold de Falsen, dänisch-norwegischer Dichterjurist († 1808)
17. Oktober: Johann Adam Goez, deutscher Schriftsteller und Pädagoge († 1840)
25. Oktober: François-Joseph Lefebvre, Marschall von Frankreich († 1820)
28. Oktober: Jacques Julien Houtou de Labillardière, französischer Naturforscher und Reisender († 1834)
1. November: Johann Theodor Roscher, deutscher Hütteninspektor († 1829)
2. November: Marie-Antoinette, österreichische Erzherzogin, Königin von Frankreich und Navarra († 1793)
8. November: William Stephens Smith, US-amerikanischer Politiker († 1816)
8. November: Dorothea Viehmann, deutsche Märchenerzählerin und Quelle der Märchensammlung der Brüder Grimm († 1815)
9. November: Franz Gallus Sündermahler, deutscher Jurist und Beamter († 1840)
10. November: Franz Anton Ries, deutscher Violinist († 1846)
12. November: Gerhard von Scharnhorst, preußischer General († 1813)
13. November: Christoph Ludwig Kämmerer, deutscher Naturforscher († 1797)
13. November: Antoine-François Momoro, französischer Politiker († 1794)
16. November: James Sheafe, US-amerikanischer Politiker († 1829)
17. November: Ludwig XVIII., König von Frankreich und Navarra († 1824)
20. November: Franz Josef Gassmann, Schweizer Buchdrucker und -händler, Zeitungsgründer und Redaktor († 1802)
24. Dezember: Claude-Emmanuel de Pastoret, französischer Politiker und Schriftsteller († 1840)
27. Dezember: Anton, König von Sachsen († 1836)
28. Dezember: Johann Christian Gottlieb Wernsdorf, deutscher Hochschullehrer und Philosoph († 1822)
Genaues Geburtsdatum unbekannt
Koča Anđelković, serbischer Freischärlerführer, Hauptmann und Freiheitskämpfer († 1788)
Manoel Carlos de Andrade, portugiesischer Bereiter an der Hofreitschule († 1817)
Francesco Apostoli, italienischer Schriftsteller († 1816)
Girolamo Pongelli, Schweizer Somasker und Übersetzer († nach 1789)
Gestorben
Januar bis April
11. Januar: Joseph-Nicolas-Pancrace Royer, französischer Komponist, Cembalist und Sänger (* um 1705)
14. Januar: Julius Valentin van Gollenesse, niederländischer Gouverneur von Ceylon (* 1691)
14. Januar: Konrad Friedrich Ernst Bierling, deutscher lutherischer Theologe (* 1709)
18. Januar: Johann Rudolph Engau, deutscher Rechtswissenschaftler (* 1708)
25. Januar: Filippo Argelati, italienischer Gelehrter und Herausgeber (* 1685)
27. Januar: Sámal Pætursson Lamhauge, Løgmaður der Färöer (* 1676)
28. Januar: André Falquet, Schweizer Kaufmann, Händler und Abgeordneter im Genfer Rat der Zweihundert (* 1681)
2. Februar: Anselm Christoph von Bonin, preußischer Offizier, Gouverneur von Magdeburg (* 1685)
7. Februar: Giovanni Gaetano Androi, schweizerischer Stuckateur (* unbekannt)
8. Februar: Niccolò Coscia, italienischer Kardinal und Bischof (* 1682)
10. Februar: Charles de Secondat, Baron de Montesquieu, französischer Schriftsteller und Staatsphilosoph (* 1689)
11. Februar: Scipione Maffei, italienischer Dichter und Gelehrter (* 1675)
15. Februar: Eleonore von Schlieben, Ehrendame der preußischen Königin Elisabeth Christine (* 1720)
1. März: Maria Anna Josepha Althann, italienisch-österreichische Adelige und Mäzenin (* 1689)
2. März: Louis de Rouvroy, Herzog von Saint-Simon, französischer Politiker und Schriftsteller (* 1675)
6. März: Pier Leone Ghezzi, italienischer Maler, Radierer und Zeichner (* 1674)
8. März: Stepan Petrowitsch Krascheninnikow, russischer Entdecker und Geograf (* 1711)
10. März: Johann David Köhler, deutscher Historiker, Numismatiker und Heraldiker (* 1684)
16. März: Christian Albrecht von Ahlefeldt, deutscher Kammerjunker und Obrist unter Karl XII. von Schweden (* 1693)
21. März: William Bull, britischer Gouverneur der Province of South Carolina (* 1683)
7. April: Laurentius Blumentrost der Jüngere, russischer Mediziner, Leibarzt des Zaren (* 1692)
17. April: Christian Nicolaus von Linger, preußischer General der Artillerie (* 1669)
30. April: Jean-Baptiste Oudry, französischer Maler (* 1686)
April: Anastasia Robinson, englische Opernsängerin und Händel-Interpretin, Countess of Peterborough and Monmouth (* um 1695)
Mai bis August
4. Mai: Ignazio Visconti, italienischer Adeliger, General der Societas Jesu (* 1682)
20. Mai: Johann Georg Gmelin, deutscher Sibirienforscher und Botaniker (* 1709)
27. Mai: Ulrich von Löwendal, deutscher Feldherr und Marschall von Frankreich (* 1700)
26. Juni: Iyasu II., Negus negest von Äthiopien (* 1723)
Juni: George Ballard, englischer Antiquar und Biograph (* 1706)
Juni oder Juli: Philipp Stamma, syrischer Schachmeister (* um 1705)
9. Juli: Johann Gottlob Harrer, deutscher Komponist und Thomaskantor (* 1703)
9. Juli: Daniel Liénard de Beaujeu, französischer Offizier in Neufrankreich (* 1711)
13. Juli: Edward Braddock, britischer Oberbefehlshaber der Truppen in Nordamerika (* 1695)
17. Juli: Manuel de Lara Churriguera, spanischer Architekt und Bildhauer (* um 1690)
17. Juli: Marie Elisabeth von Schleswig-Holstein-Gottorf, Äbtissin des reichsunmittelbaren und freiweltlichen Stifts Quedlinburg (* 1678)
4. August: Johann Christoph Thielemann, deutscher Orgelbauer (* 1682)
5. August: Salomon Deyling, deutscher evangelischer Theologe (* 1677)
6. August: August Ludwig, Fürst von Anhalt-Köthen (* 1697)
6. August: Johann Kaspar Wetzel, deutscher evangelischer Theologe, Hymnologe und Kirchenlieddichter (* 1691)
14. August: Jean-Jacques-Baptiste Anet, französischer Violinist und Komponist (* 1676)
22. August: Elias Hügel, deutscher Kirchenbaumeister, Hofsteinmetzmeister (* 1681)
24. August: Christian Franz Dietrich von Fürstenberg, kurkölnischer Politiker (* 1689)
August: Annibale Antonini, neapolitanischer Romanist, Übersetzer, Grammatiker und Lexikograf (* 1702)
September bis Dezember
2. September: Marie Zéphyrine, französische Prinzessin (* 1750)
8. September: Hendrick Theyanoguin, Häuptling und Orator der Mohawk (* um 1691)
14. September: Maria Celeste Crostarosa, neapolitanische Nonne und Ordensgründerin (* 1696)
21. September: Johan Cornelius Krieger, dänischer Architekt und Gartenkünstler (* 1683)
22. September: Bernard Stuart, schottischer Benediktiner, Architekt, Mathematiker und Uhrmacher sowie Hofbaumeister in Salzburg (* 1706)
30. September: Francesco Durante, neapolitanischer Komponist (* 1684)
1. Oktober: Louis Auguste II. de Bourbon, Herzog von Maine und Fürst von Dombes (* 1700)
4. Oktober: Samuel von Cocceji, preußischer Kammergerichtspräsident, Justizminister und Großkanzler, Reformator des preußischen Justizwesens (* 1679)
16. Oktober: Hans Moritz von Brühl, Wirklicher Geheimer Rat, General der Kavallerie und Statthalter der Deutschordensballei Thüringen (* 1693)
19. Oktober: Gebhard Christian Bastineller, deutscher Rechtswissenschaftler (* 1689)
21. Oktober: Christian, Landgraf von Hessen-Wanfried und Hessen-Rheinfels (* 1689)
27. Oktober: Johann Michael Breunig, deutscher Komponist (* 1699)
28. Oktober: Joseph Bodin de Boismortier, französischer Flötist, Cembalist und Komponist (* 1689)
vermutlich 1. November: Francisco António de Almeida, portugiesischer Komponist (* 1702)
6. November: Franz Ulrich Ries, deutscher evangelischer Theologe und Hochschullehrer (* 1695)
25. November: Johann Georg Pisendel, deutscher Violinist, Komponist und Konzertmeister (* 1687)
27. November: Anastassija Trubezkaja, russische Fürstin und Erbprinzessin von Hessen-Homburg (* 1700)
30. November: Johann Elias Bach, deutscher Komponist (* 1705)
5. Dezember: William Cavendish, 3. Duke of Devonshire, britischer Adeliger und Politiker (* 1698)
9. Dezember: Francisco José de Ovando, spanischer Soldat, Gouverneur von Chile und später der Philippinen (* 1693)
16. Dezember: Valentin Johann Beselin, deutscher Jurist und Erster Bürgermeister von Rostock (* 1693)
21. Dezember: Manuel de Sumaya, mexikanischer Komponist (* um 1678)
29. Dezember: Daniel Archinard, Schweizer hugenottischer Prediger und Pfarrer (* 1698)
29. Dezember: Gabrielle-Suzanne de Villeneuve, französische Schriftstellerin (* 1685)
Genaues Todesdatum unbekannt
Rosa Bavarese, bayerische kurfürstliche Kammersängerin (* 1705)
Kathog Rigdzin Chenpo Tshewang Norbu, Geistlicher der Nyingma-Schule des tibetischen Buddhismus aus dem Kathog-Kloster in Osttibet, Genealoge (* 1698)
Johann Matthäus Oberschall, deutscher Bildhauer (* 1688)
Johann Jakob Rischer, deutscher Architekt (* 1662)
Joost van Sasse, niederländischer Kupferstecher (* 1684)
Zhang Tingyu, han-chinesischer Politiker in der Qing-Dynastie (* 1672)
Weblinks
Österreichische Zeitungen des Jahres 1755 in AustriaN Newspaper Online (ANNO) der Österreichischen Nationalbibliothek
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https://de.wikipedia.org/wiki/Romanisierung
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Romanisierung
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Romanisierung bezeichnet die Übernahme der lateinischen Sprache und römischen Zivilisation durch andere, meist unterworfene Völker. Romanisierung bedeutet dabei im Wesentlichen eine sprachliche und kulturelle Anpassung unter Aufgabe oder Umgestaltung eigener Kulturformen. In der neueren Forschung wird oft der Begriff Romanisation bevorzugt, um deutlich zu machen, dass es sich nicht um einen zentral gesteuerten und von den Römern aktiv herbeigeführten Prozess gehandelt hat.
Die Romanisation wurde oft durch Veteranen der Auxiliartruppen getragen, welche ursprünglich selbst Einheimische waren, aber den Status eines römischen Bürgers bekamen und folglich eine Einheimische (welche meist früher auch eine Angehörige vom selben Stamm oder Volk des Auxiliar-Veteranen war) heirateten. Dies hatte zur Folge, dass die Frau und der Nachfolger des Veteranen auch römische Bürger wurden. Noch wichtiger war die Rolle der lokalen Oberschichten, die sich früh aus eigener Initiative an die Römer und ihre Kultur anpassten, um auf diese Weise Teilhabe an der Herrschaft und am Prestige des Imperiums zu gewinnen.
Die Ausdehnung des Römischen Imperiums hatte nicht überall eine Romanisierung zur Folge. Im östlichen Mittelmeerraum haben sich die von den Römern vorgefundenen orientalischen oder hellenistischen Kulturformen behauptet; die Dominanz etwa der antiken griechischen Kultur war dafür zu groß. Sie konnten sogar Einfluss auf die römische Kultur nehmen. Romanisiert haben sich die nördlichen und nordwestlichen Regionen Europas, die zur Zeit ihrer Eroberung keine eigene hochentwickelte Schriftkultur besaßen. Oft hatte jedoch nur die städtische oder lokale Elite daran Anteil. Die überwiegende Anzahl der Bevölkerung verharrte weiterhin in der vorrömischen Lebensweise. Außerhalb der Städte war sie weitgehend rechtlos oder unfrei.
Verlauf
Die Romanisation begann im dritten vorchristlichen Jahrhundert, war aber in der Regel kein planmäßiger Vorgang: Fälle, in denen die Römer sie selbst gezielt vorantrieben, wie es laut Tacitus etwa Gnaeus Iulius Agricola in Britannien tat (Tacitus, Agricola 21), bildeten nach heutigem Forschungsstand seltene Ausnahmen. In der Regel ging die Initiative von den Unterworfenen selbst aus, wurde von den Römern allerdings begrüßt und gefördert. Auch die im 1./2. Jahrhundert n. Chr. stark zunehmende Verstädterung Westeuropas förderte die Romanisation wesentlich, da die Städte eine Nachahmung Roms im Kleinen waren und somit die Völker, beeinflusst durch die Tempel, Theater und Arenen, ihren Lebensstil der römischen Kultur anglichen. Abseits der Städte hielten sich vorrömische Traditionen hingegen in der Regel sehr viel länger.
Im engeren Sinne bezeichnet das Wort nur Kulturentwicklungen bis zum Beginn des Frühmittelalters (etwa die Romanisierung der fränkischen Oberschicht im spätantiken Frankenreich); im weiteren Sinne dauert in der französischen und spanischen Einflusssphäre in Afrika und Südamerika dieser Prozess zum Teil bis heute noch an.
Aspekte der Romanisation waren insbesondere:
Wohn- und öffentliche Einrichtungen werden gebaut (Thermen, Kultstätten)
Nachahmung Roms → Bauboom, Städtegründung
Bestimmte Veranstaltungen (Gladiatorenkämpfe usw.) werden beliebt
Sprache, Recht und Religion werden auf die römischen Verhältnisse abgestimmt → andere Kulturen und Ansichten werden ausgegrenzt (Vereinheitlichung)
Veteranen und Händler brachten römische Kulturen in eroberte Provinzen
Literatur
Géza Alföldy: Die Romanisation – Grundbegriff oder Fehlgriff? Überlegungen zum gegenwärtigen Stand der Erforschung von Integrationsprozessen im römischen Weltreich. In: Zsolt Visy (Hrsg.): Limes XIX. Proceedings of the XIXth International Congress of Roman Frontier Studies. Pécs 2005, S. 25–56.
Helga Botermann: Wie aus Galliern Römer wurden. Leben im Römischen Reich. Stuttgart 2005, ISBN 3-608-94048-0.
Dirk Krausse: Das Phänomen Romanisierung. Antiker Vorläufer der Globalisierung? In: Imperium Romanum. Roms Provinzen an Neckar, Rhein und Donau. Archäologisches Landesmuseum Baden-Württemberg, Esslingen 2005, ISBN 3-8062-1945-1, S. 56–62.
Alexander Rubel (Hrsg.): Romanisierung und Imperium. Neue Forschungsansätze aus Ost und West zu Ausübung, Transformation und Akzeptanz von Herrschaft im Römischen Reich. Konstanz 2013, ISBN 978-3-86628-467-8.
Günther Schörner (Hrsg.): Romanisierung – Romanisation. Theoretische Modelle und praktische Fallbeispiele. Oxford 2005.
Cathy Schucany: Aquae Helveticae. Zum Romanisierungsprozess am Beispiel des römischen Baden. Basel 1996, ISBN 3-908006-19-8.
Greg Woolf: Becoming Roman. The Origins of Provincial Civilization in Gaul. Cambridge 1998 (Reprint 2003), ISBN 0-521-41445-8.
Weblinks
Zur Romanisierung im Rheinland (Internetpräsenz des Landschaftsverbandes Rheinland)
Altphilologie
Transkulturation
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Norisch-pannonische Kultur
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https://de.wikipedia.org/wiki/Mauerziegel
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Mauerziegel
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Der Mauerziegel, in der Fachsprache kurz Ziegel (von lateinisch tegula „Dachziegel“: von tegere „bedecken“), sinnverwandt Backstein und Ziegelstein genannt, ist ein aus keramischem Material künstlich hergestellter Stein, der im Bauwesen zum Mauerwerksbau genutzt wird. Die Anordnung der Ziegel in einer Mauer, ihr Verband, kann dabei unterschiedlich gestaltet sein.
Begriffe
Ziegel
Der Lehmziegel ist das älteste vorgefertigte Bauelement; er wird aus tonhaltigem Lehm geformt und in Öfen gebrannt. Die Bezeichnung „Ziegelstein“ ist weit verbreitet, aber insofern laienhaft, als „Steine“ nicht gebrannt werden, Ziegel hingegen schon. Im übertragenen Sinn wird der Begriff „Ziegel“ für sonstige quaderförmige Gegenstände wie Lehmziegel und Adobe benutzt, gleichfalls für gebrannte Produkte in anderer Form wie Dachziegel.
Backstein
Der Begriff „Backstein“ steht bevorzugt für die mittelalterlichen Bauten, wird aber hauptsächlich im Schweizer Raum für Mauerziegel gebraucht (wo mit Ziegel üblicherweise nur Dachziegel gemeint sind). Auch in Berlin, Hamburg, Sachsen und im Ruhrgebiet wird der Begriff durch den oft stadtbildprägenden Backsteinexpressionismus allgemeiner verwendet. Einfache Backsteine aus Lehm können bei nur 900 °C in Ziegeleien gebrannt („gebacken“) werden. Sie sind mechanisch nicht sehr stabil und offenporig, weshalb sie relativ viel Wasser aufnehmen können. Deshalb werden sie üblicherweise verputzt, um die Wetterfestigkeit zu verbessern. Der aus Ton (statt Wiesenlehm) bei höheren Temperaturen gebrannte „Tonziegel“ ist härter und gilt als beständiger.
Feldbrandziegel
Feldbrandziegel sind vorindustrielle, handgeformte Ziegel, die ohne festen Ofen in einem eigens errichteten Meiler durch Verfeuerung von Holz oder Kohle gebrannt wurden. Die in Europa bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts hergestellten Feldbrandziegel werden heute aus Altbeständen vornehmlich bei der Restaurierung historischer Gebäude verwendet.
Klinker
Klinker sind Produkte aus „blauem“ Ton, die reicher an Alumosilikaten sind. Aufgrund des höheren Silikatgehaltes werden sie bei 1200 °C gebrannt. Durch die starke Versinterung nehmen sie weniger Wasser auf, sind frost- und insgesamt wetterbeständiger. Sie werden deshalb meist unverputzt oder als Pflaster-Klinker eingesetzt, abhängig vom Eisengehalt verleihen sie daher einem Bau das typische Aussehen von gelben über rote bis braune Nuancen. Die mögliche Brenntemperatur ist vom Ausgangsmaterial abhängig, da der Rohling zwar sintern, aber nicht formverändernd weich werden darf.
Terrakotta
Terrakotten sind dekorativ gestaltete Ziegelelemente, die erheblich größer als die traditionellen (Form-)Ziegel sind. Die Terrakotta wird häufig von einfachem gebranntem Ton nach der Qualität des verwendeten Tons unterschieden. In Architektur- und Kunstgeschichte werden Terrakotten und Ziegel jedoch nur durch Maß und Form unterschieden.
Mauerwerk
Mauerziegel werden mit Mörtel zum Mauerwerk gefügt. Das Aussehen des (unverputzten) „Mauerwerks“ wird durch die Art des Mauerwerksverbandes und die gliedernden Fugen bestimmt. Mörtel entfällt, wenn der Maueraufbau mit Schalungssteinen oder Betonhohlblock-Steinen (fälschlich oft „Betonziegel“ genannt) erfolgt.
Blendziegel
Regional Blendstein oder Verblender genannt, wurden Blendziegel vorwiegend im 19. Jahrhundert an Fassaden zur Verkleidung von Mauerwerk angebracht. Es sind Klinker in einer geometrisch sehr genauen rechteckigen Form mit glatter Oberfläche. Solche Fassaden stehen gegenüber Fassaden mit Ziegeln im Design deutlich hervor, da die Fugen sehr schmal und genau angelegt sind. Besonders in Großstädten wie Berlin, Leipzig, Halle und Dresden wurden ganze Straßenzüge mit Blendziegeln versehen, dagegen wurden im Münsterland meistens handgestrichene Ziegel verwendet. Oft wurden und werden Villen und Siedlungshäuser mit Blendziegeln versehen.
Sonderziegel
Handgeformte Ziegel werden insbesondere für Restaurierungen angefertigt.
Fehlbrandziegel
Fehlbrandziegel entstehen durch zu kurze oder zu lange Brennzeiten oder falsche Brenntemperaturen. Sie wurden früher als Ausschuss weggeworfen und sind heute für Kunstwerke eher begehrt.
Geschichte
Frühe Hochkulturen
Lehmziegel sind neben Holz, unbearbeiteten Bruchsteinen, Pflanzenfasern und -blättern das erste in den frühen Siedlungen der Jungsteinzeit (etwa 8000 bis 6000 v. Chr.) verwendete Baumaterial. Gegenüber Wänden aus ungeformtem Lehm haben Wände aus Ziegelstein viele Vorteile: die Steine sind leichter zu transportieren, die Mauern sind stabiler und benötigen bei ihrer Errichtung keine Schalung. Die ältesten Ziegel wurden im Jahr 1952 bei archäologischen Grabungen in Jericho (7500 v. Chr.) gefunden.
Die Technik des Brennens von Ton für Gefäße war in der Jungsteinzeit bekannt, wurde aber nicht für Ziegel eingesetzt. Stattdessen wurde Kalk gebrannt, der zu Estrich verarbeitet wurde.
Die ersten Ziegel (Lehmziegel) waren handgeformt und dadurch unregelmäßig in der Form. Ziegel mit glatt gestrichener Form sind etwa seit 6300 v. Chr. aus Mesopotamien bekannt. Hier wurde zwischen 5900 und 5300 v. Chr. die Verwendung von Formen entwickelt. Zwischen 3100 und 2900 v. Chr. wurde erstmals gebrannter Ton in Ziegelform in großem Umfang verwendet und die Technik des Glasierens entwickelt und perfektioniert. Das Ischtar-Tor ist ein herausragendes Beispiel für den in babylonischer Zeit erreichten Entwicklungsstand der Techniken. Es wurde unter Nebukadnezar II. (604 bis 562 v. Chr.) gebaut.
Der perfekt gebrannte Einhandziegel, der in den Proportionen 1:2:4 als vorgefertigtes und optimal rationalisiertes Bauelement gebräuchlich ist, wurde erstmals zwischen 2800 und 2200 v. Chr. in der damaligen Indus-Kultur oder Harappa-Kultur entwickelt. Dieser Ziegel ist in allen Richtungen beliebig addierbar.
Im 2. Buch Mose der Bibel wird aus dieser Zeit die körperliche Anstrengung bei der Ziegelherstellung beschrieben: „(Die Ägypter) ... machten ihnen ihr Leben sauer mit schwerer Arbeit in Ton und Ziegeln ...“.()
Frühe chinesische Backsteinarchitektur
In China wurden Backsteine ab etwa 1000 v. Chr. verwendet. Typisch für chinesische Backsteinbauten war der Verzicht auf Mörtel, der durch eine große Maßhaltigkeit der hergestellten Ziegel möglich war, und die Errichtung von Hohlmauerwerken, die mit Schutt ausgefüllt wurden.
Antike und Spätantike
Für die Architektur im Römischen Reich hatte der gebrannte Ziegel eine zunehmende und schließlich große Bedeutung. Durch die Römer wurde das Bauen mit gebrannten Ziegeln im ganzen Römischen Reich verbreitet. Typisch für den römischen Backstein sind dünne Ziegel.
Die umfangreiche Verwendung von gebrannten Ziegeln für Mauerwerk setzte im 1. Jahrhundert v. Chr. ein, war aber beispielsweise in der Stadt Rom bis in die Zeit der Regierung des Augustus (27 v. Chr. bis 14 n. Chr.) überhaupt nicht nachzuweisen. Wohl deshalb nahm die Beschreibung der Technik des Bauens mit getrockneten und gebrannten Ziegeln bei Vitruv nur geringen Raum ein. Bis 100 n. Chr. war die Technik bereits durch die Römischen Legionen, die überall Ziegeleien errichteten, im ganzen Reich verbreitet. Bis in diese Zeit wurden Backsteinmauern regelmäßig verputzt oder verkleidet. Im 2. Jahrhundert wurden Ziegel oft als dekorative Oberfläche verwendet und ersetzten Tuffsteine und andere Steine als Verkleidung für die von den Römern erfundenen Betonmauern (lat.: opus caementicium). Einzelne in die Verblendung des Gussmauerwerks eingefügte Ziegellagen werden als Ziegeldurchschuss bezeichnet. Ende des 2. Jahrhunderts endete die Blütezeit des Backsteinbaus in Rom wieder.
Der Bau der Konstantinbasilika in Trier ist ein Beispiel für einen großen Backsteinbau im Gebiet von Deutschland. Die Ziegel waren ursprünglich außen verputzt und innen mit Marmor verkleidet.
Im Byzantinischen Reich und im Westen des Römischen Reichs wurde der Ziegelsteinbau weiterentwickelt. So ist die Hagia Sophia in Konstantinopel (gebaut 532 bis 537 n. Chr.) vollständig aus Ziegeln erbaut. Typisch für den byzantinischen Backsteinbau sind sehr dünne Ziegel und Fugen, deren Dicke die Ziegel teils noch übertrifft. Im Weströmischen Reich finden sich herausragende Beispiele für Backsteinarchitektur wie insbesondere die Kirche San Vitale in Ravenna.
Mittelalter
Während die Tradition des Backsteinbaus in Italien seit den Römern ungebrochen fortgesetzt wurde, verschwand der Backstein in Nordeuropa mit dem Ende des Römischen Reichs völlig. Er wurde im 12. Jahrhundert durch Mönche wieder eingeführt und verbreitete sich wegen der besseren Maßhaltigkeit gegenüber Naturstein im Präsentalbau. Der Dom zu Roskilde und die um 1160 begonnene Marienkirche in Kalundborg in Dänemark sind frühe Beispiele.
Die Blütezeit dekorativen Bauens mit Formziegeln war die Backsteingotik, verbreitet vor allem im Gebiet der Hanse und des Deutschen Ordens (Norddeutsche Backsteingotik), aber nicht minder in den Niederlanden und Flandern bis an die Straße von Dover. Das prägende Vorbild für den Ostseeraum war die Marienkirche in Lübeck, die das höchste Backsteingewölbe der Welt besitzt. Erwähnenswert ist das Kloster Chorin bei Eberswalde oder die Marienburg. Aus welchen Gründen die Backsteintechnik im 12. Jahrhundert wieder aufkam, ist nicht abschließend geklärt. Jedenfalls spielt die schlechte Verfügbarkeit von Natursteinen eine wichtige Rolle. Ein weiterer Grund ist die Verfügbarkeit des Ausgangsmaterials. Allerdings war in Teilen des Verbreitungsgebietes Backstein teurer als Feldstein. Und im Krakauer Wawel stehen gotische Backsteinbauten auf einem Kalkfelsen. Ein Nischenprodukt waren die Buchstabenziegel zur Dekoration von Fußböden.
Die St.-Marien-Kirche in Stralsund (im Jahr 1298 erstmals erwähnt) war von 1625 bis zur Zerstörung ihrer damals 151 Meter hohen gotischen Spitze durch Blitzschlag 1647 das weltweit höchste Gebäude. Seitdem ist der im Jahre 1500 fertiggestellte Turm der Landshuter Martinskirche mit 130,60 Metern der höchste Backsteinturm der Welt. Ein Beispiel für Backsteingotik außerhalb des nördlichen Verbreitungsgebiets ist die Kathedrale von Albi in Frankreich.
Renaissance und Barock
In der Renaissance und im Barock nahm die Verwendung von Sichtmauerwerk aus Ziegel in manchen Regionen ab, in manchen aber zu. Die bürgerlichen Backsteingiebel der Niederlande und der norddeutschen Hansestädte sind großenteils Werke der Renaissance. In Frankreich leitete der noch gerade der Gotik angehörende Flügel Ludwigs XII. des Schlosses Blois eine Mode des brique-et-pierre, also der Kombination von Backstein und Werkstein ein, die sich auch in Gegenden findet, wo bis dahin kein einziger repräsentativer Backsteinbau stand. Der erste große Backsteinbau der Stadt Köln war das 1594–1606 errichtete Zeughaus, heute Kölnisches Stadtmuseum. In Münster, dessen mittelalterliche Bauten aus Baumberger Sandstein errichtet worden waren, entstanden in der Barockzeit 1753–1757 der Erbdrostenhof und 1767–1787 das fürstbischöfliche Schloss aus Backstein.
Insgesamt verbreitete sich der Ziegel als Baumaterial anstelle von Haustein und von lehmgefülltem Fachwerk in immer größeren Regionen, andererseits wurde er zunehmend mit Putz oder Stuck bedeckt (überschlämmt wurde er schon vorher oft). Unter der Verblendung war Backstein wahrscheinlich nicht nur in Italien der am häufigsten verwendete Baustoff jener Zeit, weil die Herstellung von Backsteinen billiger als der Transport und das Behauen von Steinen war. Zudem sind Backsteine leichter als die meisten Natursteine. Deshalb baute Brunelleschi die Kuppel des Doms von Florenz aus Backsteinen.
In England hatte Backsteinarchitektur mit Sichtmauerwerk erst um 1450 im spätgotischen Tudorstil begonnen und erlebte bis 1650 eine Blütezeit.
In London durften nach dem großen Brand von 1666 nur noch Stein- und Backsteinbauten errichtet werden. Backsteine dominierten wegen des geringeren Preises.
Seit dem Ende des Mittelalters wurden die Fächer von Fachwerkhäusern zunehmend mit Mauerziegeln gefüllt.
Während in Europa die Gotik zu Ende ging, begann 1493 unter Kaiser Hongzhi der Bau der Ming-Mauer, der dritten Chinesische Mauer, die zu großen Teilen aus Backsteinen errichtet wurde.
19. Jahrhundert
Im 19. Jahrhundert wurde Sichtbackstein gerne für Fabrik- und Bahnhofsgebäude verwendet, weit über das traditionelle Verbreitungsgebiet hinaus. Sehr große Verbreitung fanden Backsteinbauten in Norddeutschland wieder in der Backstein-Neogotik. Traditionsgebunden wurden vielstöckige Mietskasernen in Berlin mit Niederlausitzer Klinkern errichtet, aber auch Mauerziegeln von der Oberhavel. Dort gibt es heute das Freilichtmuseum Ziegeleipark Mildenberg. In Gegenden ohne Backsteintradition wurde im 19. Jahrhundert der verputzte Ziegelbau zur Standardbauweise. Für einige große Tiefbauprojekte verwendete man hart gebrannte Klinker, die Göltzschtalbrücke ist noch die größte Ziegelbrücke der Welt. Sie wurde aus Klinkern errichtet, um Tragfähigkeit und Wetterfestigkeit zu erreichen.
20. Jahrhundert
Stahl, Beton und Glas lösten in den Industrieländern aus ökonomischen und konstruktiven Gründen gleichermaßen Ziegel und Haustein als Baumaterialien ab, weil sie ein günstigeres Verhältnis von Belastbarkeit und Eigengewicht haben. Backsteinexpressionismus und Heimatschutzarchitektur setzten die Tradition des Backsteinbaus im 20. Jahrhundert aber nicht nur in Norddeutschland fort. Bedeutende Industriebauten (Kraftwerke, Stahlwerke, Kokereien) wurden noch in der Mitte des 20. Jahrhunderts aus Ziegeln errichtet oder zumindest mit Klinkern verkleidet. Der Berliner Dom ruht auf einem Fundament aus Pfeilern von Ziegeln.
21. Jahrhundert
In Entwicklungsländern wie Bangladesch spielen Ziegel auch in den 2020er Jahren noch eine zentrale Rolle als Baumaterial.
Außereuropäische Kulturen
Außerhalb des europäischen Kulturkreises gibt es eine umfangreiche Backsteinarchitektur bei islamischen Bauten in steinarmen Regionen (wie beim Samaniden-Mausoleum in Buchara oder Kherua-Moschee in Bengalen). Außerdem bestehen nahezu alle Bauten der Mogul-Architektur in ihrem Kern aus Ziegelsteinen; das trifft auch für das Taj Mahal zu.
Bei Hindu-Tempeln und bei Bauten in buddhistischer Tradition wurden Mauerziegel im natursteinlosen Schwemmland des Ganges verwendet, die in vielen Fällen verputzt und farbig bemalt wurden. Beispiele finden sich in Bengalen, in Bhitargaon, in Sirpur oder in Bagan (Myanmar/Birma). Auch in entsprechenden Regionen in China wurde mit Ziegeln gebaut. Die im Schwemmland der südlichen mexikanischen Golfküste errichtete Maya-Stätte von Comalcalco ist – als große Ausnahme unter den Maya-Tempeln – ebenfalls aus Ziegelsteinen erbaut, die allerdings mit Stuck verkleidet und anschließend farbig gestrichen wurden.
Der heutige US-Staat Texas wurde von den spanischen Conquistadoren nach den Adobe-Bauten der indigenen Einwohner benannt, in der damaligen Schreibweise von spanisch: tejas, dem Plural von teja = Ziegel.
Herstellung
Traditionelle Herstellung
Das Ausgangsmaterial Lehm oder Ton wird zunächst einige Wochen in Wasser gelöst oder über den Winter bei mehrmaliger Wasserzugabe im Freien ausgebreitet gelagert und durchgefroren. Durch dieses „Ausfrieren“ wird der Ton feinkrümelig. Diese Arbeitsschritte erfolgen immer noch für Qualitätsprodukte, Ton wird in großen Bassins waagerecht eingetragen und senkrecht abgebaggert. Bei diesem „Mauken“ gleicht sich die Feuchte aus, es entweichen Gase, die beim Brennen den Ziegel sprengen könnten und das Material wird dadurch vermischt. Danach wird der Lehm von festen oder organischen Bestandteilen gereinigt, fallweise wird noch Sand oder Ton beigesetzt und schließlich wird die Masse in einen oben und unten offenen Formrahmen oder einen nur oben offenen Kasten gepresst (Ziegelmodel), was traditionell ab dem Monat Mai erfolgte. Teilweise sind in diesen Formen Ziegelzeichen aufgebracht. Überstehendes Material wird abgestrichen und die Form gestürzt – dies ergibt die Handstrichziegel. Als sichtbares Merkmal weisen sie typische Quetschfalten auf. (Diese Verarbeitung wird noch bei kulturhistorisch bedeutsamen Restaurierungen genutzt.) Die Ziegel werden mehrere Wochen luftgetrocknet, in Gegenden, wo mit Regen zu rechnen ist, in einem luftigen Trockenschuppen. In küstennahen Regionen ist ein geschlossener Trockenschuppen nötig, da der nahezu beständig herrschende Wind die Ziegel zu schnell trocknen und somit brechen lassen würde. Ungebrannte Ziegel wurden im 18. und 19. Jahrhundert Luftsteine, zu schwach gebrannte Bleichsteine genannt.
Zum Brennen werden die Formziegel abwechselnd mit Kohle in einem Meiler aufgeschichtet. Der Meiler wird abschließend mit Lehm und Ziegeln minderer Qualität bedeckt. Der folgende Brennvorgang benötigt etwa 14 Tage, wobei die Ziegel nur etwa drei Tage einer Temperatur von 600–900 °C ausgesetzt sind. Die restliche Zeit dient zum Aufwärmen und Abkühlen, bei dem die fertig gebrannten Ziegel nicht zerspringen dürfen. Bei einem Meilerofen ist die Qualität der Ziegel sehr unterschiedlich, ein Drittel ist mit zu hoher Temperatur gebrannt und neigt zum Splittern, ein Drittel ist mit zu niedrigerer Temperatur gebrannt und verwittert rascher. Oft waren einzelne Ziegel nur zur Hälfte von guter Qualität und somit bedingt brauchbar. Die gebrannten Ziegel werden daher nach Qualitäten sortiert. Eine wesentlich bessere Ausbeute wird in Schachtöfen erzielt, die oft mit Kalksteinen ausgemauert sind. Das ist möglich, da solche Lehmbrandziegel nur bei Temperaturen bis maximal 900 °C gebrannt werden können und Kalk erst bei Temperaturen über 900 °C in Branntkalk übergeht. Ein Schachtofen kann unter Anwendung der herkömmlichen Technik in Mitteleuropa etwa fünfmal jährlich beschickt werden.
Im Unterschied zur streichenden Fertigung wurden Ziegel zu Beginn des Mittelalters aus einem Lehmklumpen herausgeschnitten, und danach getrocknet und gebrannt.
Die Bilderserie zeigt die Herstellungsweise von Handstrichziegeln. Etwa 200 Ziegelhersteller leben in Dukatole von der Herstellung von Ziegeln.
Industrielle Fertigung
Mit der Industrialisierung wurde bald die Herstellung mechanisiert. Zunächst gab es Maschinen, die das Abstreichen und Formen übernahmen. Erst danach setzte sich ein Verfahren durch, bei dem die Ziegel ihre Form durch Strangpressen erhalten und geschnitten werden. Stranggepresste Ziegel haben eine sehr glatte Oberfläche. Im Strangpressverfahren lassen sich Sonderformen, wie Hohllochziegel, fertigen.
Andere Fortschritte gab es beim Brennen. Zunächst wurde durch die überschlagende Flamme die Temperatur im Meiler gleichmäßiger und damit der Ausschuss oder der Anteil minderer Qualität vermindert. Es kamen Öfen mit Dauerbrand (Ringofen) auf, bei denen in verschiedenen Kammern kontinuierlich gebrannt wurde. Aufwärm- und Abkühlphasen des Gesamtofens entfielen. Tunnelöfen sind allgemein üblich geworden, in denen die Ziegel sich während des Brandes auf Wagen durch den Ofen bewegen, was eine kontinuierliche Beschickung ermöglicht. Im Gegensatz hierzu blieb der Ziegel im Ringofen fest und der Brand wanderte durch die Kammern. Die Neuerungen der Produktion ermöglichten es, die gewaltigen Bauleistungen der Industrialisierung mit den Fabrikhallen, Arbeitersiedlungen, Mietskasernen und repräsentativen Bürgerhäusern zu meistern. Für eine Berliner Mietskaserne wurden mehr als eine Million Ziegel benötigt, der Bau des Anhalter Bahnhofs in Berlin bestand aus 16 Millionen Ziegeln.
Kalksandziegel (oder Sandsteinziegel) sind seit 1855 bekannt und wurden gegen Ende des 19. Jahrhunderts mit Hilfe von patentierten Herstellungsverfahren in großen Mengen hergestellt. Sie wurden aus scharfkantigem kieselsäurehaltigem Sand gefertigt, der möglichst frei von erdigen Bestandteilen, wie Lehm und Humus, sein sollte. Als Kalk kamen Fettkalk (Weißkalk), Magerkalk (Graukalk) oder hydraulischer Kalk (Schwarzkalk) in Betracht. Das Mischungsverhältnis von Kalk zu Sand betrug etwa 1:6.
Einteilungen
Die Rohdichte von Ziegeln beträgt je nach den Bedingungen beim Brennen zwischen 1,4 und 2,0 kg/dm³.
Härtungsmethode
Luftgetrocknete Ziegel (Adoben) werden nicht gebrannt, sondern über eine längere Zeit an der Luft getrocknet. Die Konsequenz ist, dass sie sich bei Aufnahme von Wasser wieder aufweichen und daher nur in niederschlagsarmen, trockenen Regionen verwendet werden. Diese Ziegelsteine werden als Lehmziegel bezeichnet.
Belastbarkeit dieser Ziegel: etwa 150 kg/cm²
Gebrannte Ziegel werden im Brennofen gebrannt (siehe Brennen von Tonmineralen). Sie sind zwar im Gegensatz zum luftgetrockneten Ziegel dauerhaft verfestigt, aber dennoch nicht sonderlich witterungsbeständig, da sie eine hohe Porosität und Wasseraufnahmefähigkeit aufweisen. Sie werden beim Bau im Innenbereich verwendet (Hintermauerziegel) oder am fertigen Bauwerk üblicherweise mit Putz abgedeckt.
Belastbarkeit dieser Ziegel: etwa 250 kg/cm²
Hartgebrannte Ziegel werden mit höheren Temperaturen gebrannt und sind dadurch härter und dichter als normal gebrannte. Sie finden im Außenbereich Verwendung. Zu dieser Sorte gehören die Vormauerziegel (VMZ), die Klinker, mitunter Pflasterklinker sowie die Dachziegel (Tondachziegel). Klinker sind so stark gebrannt, dass die Poren des Brenngutes durch Sinterung geschlossen werden. Sie nehmen nur sehr wenig Wasser auf und sind sehr widerstandsfähig.
Belastbarkeit dieser Ziegel: etwa 500 kg/cm²
Farben
Beschaffenheit des Tons
Die Farbe der Ziegel hängt in erster Linie von den im Ton enthaltenen Mineralien ab. Ein hoher Eisengehalt (rote Eisen(III)-silikate) führt durch die Oxidation des Eisens zu hell- bis dunkelroten (braunen) Farbtönen, abhängig von Brenntemperatur und Brennatmosphäre. Ein hoher Kalkgehalt und geringer Eisengehalt führen zu gelben Farbtönen.
Magerung
Variieren lässt sich das Mengenverhältnis vom Ton und Sand in der Ziegelmasse. Besonders stark gemagerte Ziegelsteine gehören zum regionalen Baustil ganz im Norden Frankreichs und werden dort bricque de sable genannt, übersetzt etwa „Sandbackstein“.
Organische Zusätze
Die farblichen Nuancen lassen sich durch oxidierende (Sauerstoffüberschuss in der Ofenatmosphäre) oder reduzierende (Sauerstoffmangel in der Ofenatmosphäre) Brandführung beeinflussen, die mittels der Brennstoff- und Luftzufuhr eingestellt werden kann. Eine alte Möglichkeit war der Zusatz von nassen Baumstämmen während des Brennens: Die hierbei erzeugte reduzierende Atmosphäre im Ofen (bei den zum Brennen benötigten Temperaturen entstehen aus Kohle und Wasser Kohlenmonoxid und Wasserstoff) ermöglicht blaue Farbtöne durch elementares Eisen (Oxidationsstufe 0). Da hierbei der Ofen Schaden nimmt, blieb diese Technik auf wenige Sonderfälle beschränkt.
Engoben
Durch Engoben, die vor dem Brennen aufgetragen werden, kann die Farbpalette stark erweitert werden. Diese Technik wird in Europa seit dem Mittelalter, bei islamischen Backsteinbauten schon seit dem frühen Mittelalter angewendet. Darüber hinaus sind schon in der Blütezeit Babylons unter Nebukadnezar II. viele Farben und Schattierungen zu finden.
Glasur
In Burgund und folgend in Franken und in Ungarn wurden glasierte Dachziegel zur Verzierung der Dächer eingesetzt. Dieses Architekturmerkmal wurde in Burgund entwickelt (bekanntes Beispiel ist das Hôtel-Dieu de Beaune) und kam durch die Heirat einer Königin nach Ungarn, wo besonders die Budaer Burg in Budapest bekannt dafür ist. Glasierte Mauerziegel verwendete man schon in den frühen Hochkulturen Mesopotamiens. In der mittelalterlichen Baukunst finden sie sich von der Mudéjararchitektur Spaniens bis zur Backsteingotik.
Formate
Der traditionelle kleinformatige Backstein ist ein länglicher Quader, dessen größte Kantenlänge (Länge) etwas mehr als dem doppelten Maß der mittleren Kantenlänge (Breite) entspricht. Die Differenz entspricht der Breite der vertikalen Fuge, der Stoßfuge. Unter Berücksichtigung der Fuge entspricht damit ein längs eingemauerter Ziegel, der Läufer, genau zwei quer eingemauerten Bindern. Die Notwendigkeit, Ziegel wegen ihrer Tragfähigkeit im Verband zu vermauern, bestimmt ihr Format.
Klosterformat
Das „Klosterformat“ für Handstrichziegel ist kein einheitliches System, sondern unterscheidet sich in den einzelnen Bauschulen, da überörtliche Normung während der Handfertigung der Backsteingotik nicht nötig war. Es wurde nicht nur in Klöstern oder anderen geistlichen Bauwerken verwendet, sondern auch in rein weltlichen. Im Ostseeraum und den Niederlanden wurde von der Romanik (außer ersten, nach italienischen Maßen erstellten Backsteinen) bis in die beginnende Renaissance vorwiegend mit diesen Backsteinen gebaut, die höher waren als neuzeitliche Formate. Die niederländische Bezeichnung für derartige Mauerziegel ist ‚Kloostermop(pen)‘, die dänische ‚Munkesten()‘ (Pluralendungen in Klammern). Fritz Gottlob gibt als Durchschnittsmaße Größen von 28 cm × 15 cm × 9 cm bis zu 30 cm × 14 cm × 10 cm an, die Höhe kann in Einzelfällen bis zu 12,5 cm betragen. Die Fugen waren üblicherweise 1,5 cm dick.
Reichsformat
Industrialisierung und Eisenbahnbau ermöglichten den Transport von Baumaterialien über größere Strecken und die Lieferanten mussten austauschbar sein. So wurde 1872 in Deutschland per Gesetz das „Reichsformat“ für Ziegel (heute „altes Reichsformat“) eingeführt: 25 cm × 12 cm × 6,5 cm.
Damit konnte ein Gebäude aus Mauerziegeln verschiedener Herkunft erbaut werden. Für staatliche Bauten war die Verwendung dieser „Reichsziegel“ verbindlich. Für andere Gebäude war es wirtschaftlicher geworden, normierte Ziegel zu verwenden und herzustellen. Dieses Ziegelformat wurde 1869 von dem Berliner Baumeister Adolf Lämmerhirt vorgeschlagen. Damit wurde die Anzahl mit dem Planungsmaß 1 Kubikmeter Bauwerk verbunden. Ein Kubikmeter Mauerwerk inklusive 1 cm Fuge und üblichen Verlusten an den Ecken bestand aus 400 Ziegeln.
Mit dem metrischen System wurde das (neue) Reichsformat mit 24 cm × 11,5 cm × 6,3 cm und das Normalformat mit 24 cm × 11,5 cm × 7,1 cm notwendig. Mit dieser Ziegelgrundfläche und einem Zentimeter Mörtelfuge waren die Bauten in 1/8-Meter-Einheiten gerastert (oktametrisches System). Durch eine fehlende oder zusätzliche Mörtelfuge bei Innen- und Außenmaßen ergibt sich immer eine Differenz von ±1 Zentimeter. Auf dieses Baurichtmaß genannte Raster wurden später die Maße anderer Baugewerke, wie zum Beispiel Fenster und Türen, abgestimmt und in ihren Maßen genormt.
Auswahl an Ziegelformaten
Länder und bestimmte Regionen haben eigene Formate entwickelt. Für Deutschland sind Formate und Rohdichten in der DIN 105 geregelt.
Bei allen in der Tabelle aufgeführten Ziegelformaten (mit Ausnahme zweier Schweizer Formate) gilt:
1 × Länge = 2 × Breite + 1 Fugenstärke
Grundlage der meisten angeführten Formate war das Modul, ein aus sechs normal- oder acht dünnformatigen Ziegelsteinen (inklusive Fugenstärken) bestehender Würfel, dessen Kantenlänge gleich der Kantenlänge eines Ziegels war. Die übrigen Maße der Ziegelquader wurden daraus unter Abzug der vordefinierten Fugenstärke ermittelt.
Formen
Ziegel können vor oder nach dem Brennen in Form gebracht werden. Für die Formgebung vor dem Brennen werden Formrahmen verwendet. Der Ton muss dabei relativ feucht sein (Wassergehalt: 17 bis 30 Massenprozent bezogen auf die trockene Rohlingsmasse) und vor dem Brennen auf 0,5 bis 3 Prozent Wassergehalt getrocknet werden, damit die Steine beim Brennen keine Risse bekommen. Die Formsteine der Backsteingotik wurden in dieser Weise hergestellt.
Nach dem Brennen können Backsteine behauen oder beschliffen werden. Beschliffen wurden Backsteine insbesondere, um Größenunterschiede auszugleichen und dadurch schmalere Fugen zu erreichen.
Ziegel im 21. Jahrhundert
Im Neubau hat der traditionelle kleinformatige Ziegel als tragendes Mauerwerk nur noch geringe Bedeutung. Ziegel wurden immer größer und wegen des wachsenden Gewichts durchlöchert. Der Lochziegel besitzt bei gleicher Stabilität Hohlräume, die ihn leichter und in größeren Formaten handhabbar machen. Gleichzeitig bewirkt die eingeschlossene Luft eine bessere Wärmedämmung. Genauer formuliert werden Wärmeverluste durch Wärmeleitung im Material verringert. Um diese Eigenschaften zu verbessern, wird das Ziegelmaterial selbst porosiert. Dazu wird die Tonrohmasse mit brennbaren Stoffen wie Sägemehl oder Kunststoffkügelchen vermengt. Diese Stoffe brennen während der Herstellung unter hohen Temperaturen aus, und die Verbrennungsgase hinterlassen bei der Versinterung Poren im Ziegelinneren. Ein vorheriges Aufschäumen mit Treibmitteln ist weniger gebräuchlich und weniger effektiv, solche Produkte heißen „Schaumton“. Bei den Großformaten bilden die alten Standardmaße die Grundlage und werden als Vielfache des Normal- oder Dünnformats angegeben. Eine moderne Variante des Ziegels ist der „Planziegel“.
Als Verblendmauerwerk sind Ziegel vor allem in Norddeutschland traditionell durch die Backsteinarchitektur beliebt. Die Baustoffindustrie hat eine Palette von Formaten, Tönungen und Oberflächenstrukturen entwickelt, um auf individuelle Wünsche von Architekten und Bauherren einzugehen. Dazu gehören die Spaltplatten, die aus zwei gegengesetzten Klinkeroberflächen bestehen und zum Verblenden gespalten und auf das Mauerwerk aufgesetzt werden. Das Angebot umfasst sowohl in unterschiedlichen Farben glasierte Ziegel als auch durch unterschiedliche Zusammensetzung in Masse farbig gefertigte Ziegel. Als Farbtöne sind Gelb-, Rot-, Blau- und Brauntöne bis zu nahezu schwarzen Ziegeln möglich, letztere sind sehr dunkle Brauntöne. Im Gegensatz zu historischen Ziegeln, die durch Verunreinigungen im Ton in der Fläche ein lebendiges Bild ergaben, wirkten Wandflächen aus industriell gefertigten Ziegeln zunächst oft „steril“. In der modernen Fertigung lässt sich ein zu einheitliches Bild durch gezielte Anflammungen beim Brand, das Aufbringen von Granulaten und das Strukturieren der Oberflächen bei der Herstellung verhindern. „Rustikale Formbackziegel“ werden nach historischem Vorbild durch das maschinelle Einwerfen der Tonmasse in Formen hergestellt.
Alte Backsteine (Abbruchziegel) werden inzwischen für Renovierungen und Neubauten in traditioneller Bauweise aus Abbrüchen geborgen und wiederverwendet. Diese Form des Recyclings hat durchaus eine lange Tradition, da Ziegel ein teurer Baustoff sind. Bereits bei Bauten im Zweistromland oder bei römischen Ziegeln lässt sich dies beobachten und es ist bei mittelalterlichen Bauwerken zu finden. In der Denkmalpflege ist es schwierig und komplex, Schäden an historischem Ziegelmauerwerk mit modernen Ziegeln in anderem Formate und glatteren Farben auszubessern. In solchen Fällen wird mitunter auf Abbruchziegel zurückgegriffen. Es gibt einige wenige Betriebe, die in traditioneller Weise produzieren und Ziegel nach historischen Vorbildern herstellen können. Wegen der geringen Stückzahlen und der stark von Handarbeit geprägten Produktion sind Sonderanfertigungen teurer als industriell hergestellte genormte Ziegel.
Trivia
„Feierabendziegel“ sind spezielle Ziegel, die mit Datumsangaben, Texten, Sprüchen oder Ornamenten verziert wurden.
Diese Bezeichnung ist als Oberbegriff für verzierte Ziegel üblich. Die Ziegel wurden ursprünglich im Meiler gebrannt, d. h. unter freiem Himmel. Ein Brand umfasste eine Menge von 5000 bis 10.000 Ziegeln, die Ausschussquote war sehr hoch. Um den Segen für das Gelingen des Brandes zu erbitten, wurden der erste und der letzte Ziegel mit aufgehenden Sonnen und Monden verziert. Auftragsbezogen wurden Abwehrziegel (bei Dachziegeln) verziert, d. h., mit Wellen- und Zackenmustern versehen, die wohl einer Blitzmarke nachempfunden waren und Haus sowie Bewohner vor den Witterungsunbilden schützen sollten. Außerdem gibt es als Glücksbringer Ziegel mit Blumen-, Kreuz-, Tiermotiven sowie Hand- und Kinderfußabdrücken. Die Tradition hielt sich bis in die vorindustrielle Zeit, die Verzierungen sind noch auf stranggepressten Dachziegeln zu finden. In Zeiten der manuellen Produktion wurde der noch weiche Ton damit verziert. Dies fand häufig nach getaner Arbeit statt – zum Feierabend.
In Paul Austers Roman Die Musik des Zufalls geht es um den Bau einer sinnlosen Ziegelmauer.
Museen
Literatur
Adelung: Backstein, der. In: Adelung: Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart. Band 1. Leipzig 1793, S. 688.
Ulrich Brandl, Emmi Federhofer: Ton + Technik. Römische Ziegel (Schriften des Limesmuseums Aalen. Nr. 61). Theiss, Stuttgart 2010, ISBN 978-3-8062-2403-0.
Bundesverband der Deutschen Ziegelindustrie e. V. (Hg.): Die Geschichte der Ziegelherstellung. Bearbeitet von Erwin Rupp und Günther Friedrich, Heidelberg o. J. 3. Auflage. Bonn 1993.
James W.P. Campbell, William Pryce: Backstein. Eine Architekturgeschichte – Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Verlag Knesebeck 2003, ISBN 3-89660-189-X.
Fritz Gottlob: Formenlehre der Norddeutschen Backsteingotik: Ein Beitrag zur Neogotik um 1900. Baumgärtner, Leipzig 1907. Nachdruck der 2. Auflage, Verlag Ludwig, 1999, ISBN 3-9805480-8-2, Abschnitt A.1.A Flächenmauerwerk.
Edmund Heusinger von Waldegg: Die Ziegel- und Röhrenbrennerei, einschließlich der neuesten Maschinen und Geräthe für die Ziegelfabrikation. Verlag Theodor Thomas, Leipzig 1891 (Umfassender Überblick über alle Aspekte der Ziegelproduktion um 1900).
Gottfried Kiesow: Backstein ist nicht gleich Backstein. In: monumente-Zeitschrift für Denkmalkultur in Deutschland. Ausgabe 3/4, April 2009, S. 70–72 (mit zahlreichen Abbildungen).
M. Kornmann und CTTB: Clay bricks and roof tiles, manufacturing and properties. LaSim, Paris 2007, ISBN 2-9517765-6-X.
Otto Lueger: Lexikon der gesamten Technik und ihrer Hilfswissenschaften. Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart/Leipzig 1899, Bd. 2, S. 484; Bd. 7, S. 989–992.
Wilko Potgeter: Bautechnik des Berliner Backstein-Rohbaus von Schinkel bis Blankenstein. In: INSITU 2020/1, S. 131–149.
Claudia Trümmer: Früher Backsteinbau in Sachsen und Südbrandenburg (= Kultur- und Lebensformen in Mittelalter und Neuzeit; Bd. 4). scripvaz, Berlin 2011, ISBN 978-3-931278-57-1.
Weblinks
backstein.com Initiative Zweischalige Wand, Regelwerke zum Bauen mit Backstein und Klinker
Bundesverband der Deutschen Ziegelindustrie e. V.
Der Mauerziegel – Ein technisches Handbuch, von F. Hart und E. Bogenberger, 275 Seiten, München, 1967 (PDF).
Institut für Ziegelforschung Essen e. V.
Deutsche Gesellschaft für Mauerwerksbau e. V.
Anmerkungen
Einzelnachweise
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Q40089
| 340.965709 |
78894
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https://de.wikipedia.org/wiki/Mindestlohn
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Mindestlohn
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Unter dem Mindestlohn versteht man in der Wirtschaft ein durch Gesetz oder Tarifvertrag festgelegtes Arbeitsentgelt, das als Mindestpreis gilt und nicht unterschritten werden darf. Vereinbarungen über niedrigere Löhne als die gesetzlich oder tarifvertraglich vorgesehenen Mindestlöhne oder der Verzicht der Arbeitnehmer auf den Mindestlohn sind unwirksam; d. h. der Arbeitnehmer kann trotzdem seinen Anspruch darauf geltend machen.
Die Festsetzung erfolgt durch eine gesetzliche Regelung, eine Festschreibung in einem allgemeinverbindlichen Tarifvertrag oder implizit durch das Verbot von Lohnwucher. Eine Mindestlohnregelung kann sich auf den Stundenlohn oder den Monatslohn bei Vollzeitbeschäftigung beziehen. Neben nationalen Mindestlöhnen gibt es auch regionale Varianten, die sich z. B. auf Bundesstaaten oder Städte beziehen. Weitere Erscheinungsformen sind branchenspezifische Mindestlöhne.
Eine 1970 von der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) beschlossene Absichtserklärung zur Einführung von Verfahren zur vertraglichen Festlegung von Mindestlöhnen hatten zu Beginn des 21. Jahrhunderts 51 der 181 ILO-Mitgliedsstaaten ratifiziert. Nach einer Statistik der ILO gibt es in über 90 % ihrer Mitgliedstaaten Mindestlöhne.
Branchenspezifische Mindestlöhne und ein allgemeiner gesetzlicher Mindestlohn werden unter sozial- und arbeitsmarktpolitischen Aspekten in Wissenschaft und Politik kontrovers diskutiert. Ein Hauptargument für Mindestlöhne ist die Verbesserung der Einkommenssituation von Beschäftigten im Niedriglohnsektor, ein Hauptargument dagegen ist der drohende Verlust von Arbeitsplätzen. Die Wirkung von Mindestlöhnen auf das Beschäftigungsniveau ist umstritten. Maßgeblich für die möglichen Auswirkungen ist dabei die Höhe des Mindestlohns in Relation zum allgemeinen Lohnniveau.
Geschichte
Mindestlöhne wurden in der Geschichte mehrfach von der Arbeiterbewegung durch Streiks erkämpft. Motiv waren so genannte „Hungerlöhne“, die in Zeiten großer Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt so gering waren, dass sie nicht zur Sicherung der Grundbedürfnisse reichten. Erste lokale Mindestlohnregelungen gab es gegen Ende des 19. Jahrhunderts. Ab 1894 vergab die Stadt Amsterdam öffentliche Aufträge nur noch an Unternehmen, die ihre Beschäftigten nicht unter einem Mindestlohn bezahlten. 1896 wurden in Neuseeland durch den Industrial Conciliation and Arbitration Act Lohnschlichtungsstellen eingeführt, gefolgt von Victoria, Australien, im Jahr 1899 und Großbritannien im Jahr 1909, die ähnliche Schlichtungsstellen einführten. Das australische Mindestlohnsystem hat seinen Ursprung im ‚Harvester Judgment‘ (1907), und das argentinische mit dem im Jahre 1918 erlassenen Ley 10.505 de trabajo a domicilio (deutsch: Heimarbeitsgesetz). Auch eine Reihe von Entwicklungsländern beschloss in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts Mindestlöhne, darunter Sri Lanka mit der Minimum Wage Ordinance aus dem Jahr 1927. 1938 wurden in den Vereinigten Staaten von Amerika nationale Mindestlöhne eingeführt, mit der Begründung, die weißen Arbeitnehmer vor den damals als minderwertig angesehenen Schwarzen zu schützen. Das Jahr vor der Einführung des Mindestlohns war dann auch das letzte Jahr, in dem die Arbeitslosigkeit der Schwarzen niedriger war als die der Weißen. Zu weiteren Ländern mit einer langen Erfahrung mit Mindestlöhnen gehören u. a. Frankreich (seit 1950) oder die Niederlande (1968).
Die Einführung gesetzlicher und tariflicher Mindestlöhne wurde bis nach dem Zweiten Weltkrieg nur spärlich zur Armutsbekämpfung eingesetzt. Erst mit Ende des Krieges wuchs die Zahl der Länder mit Mindestlöhnen wieder deutlich an. Auch die ILO, drittelparitätisch besetzt mit Vertretern von Gewerkschaften, Arbeitgebern und der Staaten, beschloss nun mehrere Internationale Arbeitskonventionen über Mindestlohnregelungen: noch 1928 die Minimum Wage Fixing Machinery Convention (No. 26), dann 1951 die Minimum Wage Fixing Machinery (Agriculture) Convention (No. 99) und schließlich 1970 die Minimum Wage Fixing Convention (No. 131).
Heute existieren Regelungen, die gesetzliche Rahmenbedingungen zur Vereinbarung von Mindestlöhnen regeln, in 22 der 27 Länder der Europäischen Union. In Europa gab es besonders in den 1990er Jahren nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion einen deutlichen Zuwachs an Ländern, die an ihre nationalen Begebenheiten angepasste Gesetze beschlossen.
Südafrika
Südafrikas Regierung erließ im Rahmen ihrer Apartheidpolitik 1957 den Wage Act (Act No 5 / 1957), dessen früheste Fassung 1925 (Act No. 25 / 1925) in Kraft gesetzt worden war, der dazu diente, für nicht gewerkschaftlich organisierte Arbeitnehmer (für Schwarze gab es starke Einschränkungen) bzw. Branchen ohne Tarifstruktur geeignete Festlegungen zu treffen. Dazu konnte der Arbeitsminister so genannte Lohnkommissionen (Wage Boards) einrichten, die Empfehlungen erarbeiteten und dem Ministerium als Vorschlag übermittelten. Im Juni 1973 sind 355 Wage Board-Festsetzungen im Amtsblatt der Regierung von Pretoria als wage determination verkündet worden, wonach etwa 500.000 Arbeitnehmer (darunter etwa 300.000 Schwarze) betroffen waren. Im Abschnitt 5 (b) des Gesetzes wurde eingeschränkt, dass die Lohnkommission für die Gruppen von Beschäftigten aufzeigen soll, in welcher Höhe das Entgelt für sie zu zahlen ist, damit es in Übereinstimmung mit dem „zivilisierten Lebensstandard“ steht, womit nur Weiße gemeint waren.
Diese Sichtweise hatte in Südafrika bereits Tradition und ist mit dem Begriff Civilized Labour Policy (deutsch etwa: „Politik für zivilisierte Arbeit“) verbunden. Ein früherer Arbeitsminister, der Sozialdemokrat Frederic Cresswell, definierte um 1924 „unzivilisierte Arbeit“ als eine Erwerbstätigkeit von Personen, die sich auf einen Lebensstil mit den nur allernötigsten Verpflichtungen beschränken, wie es unter „barbarischen und unentwickelten Menschen“ üblich sei. Die nationalistisch-sozialdemokratische Regierung Hertzog (Nasionale Party)-Cresswell (South African Labour Party) verbreitete ihre diesbezügliche Sicht auf die Erwerbstätigkeit in öffentlichen Regierungserklärungen; früheste Bekanntheit erlangte das Prime Minister’s Circular No. 5 of 1924.
In der Praxis orientierten sich die Lohnkommissionen oftmals an den Unternehmen, die die geringste Ertragsrate aufwiesen. Unternehmen des Bergbausektors, der Agrarwirtschaft und des Dienstleistungsbereiches waren jedoch von den gesetzlichen Mindestlohnbestimmungen ausgenommen, was damaligen wahlpolitischen Überlegungen geschuldet war. Viele dazu verpflichtete Unternehmen entlohnten jedoch unter dieser Mindestgrenze. Den Lohnkommissionen oblag sogar die Kontrolle zur Einhaltung der gesetzlich definierten Grenzwerte und es gab dazu eine Beschwerdeinstanz. Fehlende Beratungsmöglichkeiten für die betroffenen Arbeitnehmer und deren meist kurzfristigen Anstellungsverträge verhinderten entsprechende Korrekturen dieser Missstände.
Das System der Lohnkommissionen diente nach 1945 im Rahmen der Industriepolitik zur Infragestellung allgemeiner Mindestlohnregelungen im Bereich der Border Industry (deutsch etwa: „Grenzindustrie“), die sich durch eine bewusste Lenkungs- und Förderpolitik in der Randzone um die Homelands angesiedelt hatte. Hier zeigte sich die Apartheidregierung bereit, durch spezifische wage determinations (deutsch etwa: „Lohnfestlegungen“) oder industrial council agreements (deutsch etwa: „Industrierats-Abkommen“) die sonst geltenden Festlegungen außer Kraft zu setzen, um in den grenznahen Industrieinvestitionen spezielle Niedriglöhne zu ermöglichen, die noch erschwerend durch Arbeitssuchende aus den benachbarten Homelands unter Dauerdruck standen.
Wirtschaftstheorie
Die ökonomischen Auswirkungen von Mindestlöhnen werden kontrovers diskutiert.
Während die klassische Nationalökonomie bis ins späte 19. Jahrhundert sowie ihr Nachfolger die Neoklassische Theorie den Arbeitsmarkt bis heute im Sinne eines freien Marktes wie einen Gütermarkt betrachten, führte der Keynesianismus im frühen 20. Jahrhundert die Konjunkturpolitik im Sinne eines regulierten Marktes in die theoretische Betrachtung ein. Die Annahme vollkommener Arbeitsmärkte wurde von John Maynard Keynes in General Theory fundamental kritisiert. Diese Perspektive nahm die Neue Institutionenökonomik wieder auf. Neuere Theorien ziehen die Unvollkommenheiten auf dem Arbeitsmarkt in Untersuchungen ein oder berücksichtigen, dass Arbeitsmärkte abgeleitete bzw. regulierte Märkte sind.
Einige dieser Thesen:
Der Ökonom Gary Fields meint, dass ein Markt für Arbeit nicht nur auf seinem eigenen Sektor betrachtet werden dürfe, da er nicht vor der Wirkung anderer Marktsektoren geschützt sei. Die Bedingungen für den Arbeitsmarkt in einer Branche können beispielsweise die in einer anderen Branche beeinflussen, so dass die einfache Lehrbuchannahme eines Marktmodells nicht zutreffe.
Walter Eucken, Begründer des Ordoliberalismus, der als Grundlage der Sozialen Marktwirtschaft gilt, argumentiert, dass die Angebotskurve anormal verlaufen könne, wenn die Menschen zur Sicherung der Existenzgrundlage bei sinkenden Löhnen das Arbeitsangebot ausweiten müssen. Sollte ein solches Problem über längere Zeit hinweg auftreten, schlägt Eucken hierfür die staatliche Festsetzung von Minimallöhnen vor.
Die Modellierung effizienzlohntheoretischer Zusammenhänge betrachtet Unternehmer und Beschäftigte nicht nur als reine Anpasser an externe Bedingungen, sondern als aktive und möglicherweise innovative Akteure. Ein Mindestlohn könne zu steigender Motivation der Beschäftigten führen oder die Unternehmen zur Qualifizierung der Mindestlohnbezieher veranlassen. Durch gestiegene Produktivität stiegen auch die Gewinne des Unternehmens.
Ein gestiegenes Suchverhalten bei höheren Lohnniveau u. U. kann zu mehr Beschäftigung führen, weil ein Arbeitsangebot dann eher angenommen wird; andererseits aber auch zu einem Rückgang im Niedriglohnsektor.
Verschiedene Literaturauswertungen gelangen zu dem Ergebnis, dass die theoretische Analyse keine eindeutigen negativen Beschäftigungswirkungen eines Mindestlohns belege. Laut Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (SVR) „hängt das Urteil über den Mindestlohn davon ab, welche praktische Relevanz den Modellannahmen beigemessen wird. Das heißt, es bedarf letztlich einer empirischen Analyse.“.
Neoklassische Theorie
Laut neoklassischer Wirtschaftstheorie hält ein Mindestlohn diejenigen Arbeitnehmer vom Arbeitsmarkt fern, bei denen der unternehmerische Ertrag aus ihrer Arbeit unter den durch den Mindestlohn festgelegten Kosten ihres Arbeitsplatzes liegt.
Im neoklassischen Modell stellt sich auf einem freien Markt aufgrund der Gesetze von Angebot und Nachfrage stets ein Gleichgewicht ein, so auch auf dem Arbeitsmarkt. Im Gleichgewicht entspricht die Menge der angebotenen Arbeitskraft der nachgefragten Arbeitskraft und der angebotene Lohn dem nachgefragten Lohn. Dieser wird als Gleichgewichtslohn bezeichnet.
Kaufkrafttheorie
Nach der nachfrageorientierten Kaufkrafttheorie steigert ein Mindestlohn den Gesamtkonsum der Volkswirtschaft. Die Lohnempfänger im Niedriglohnbereich konsumieren demnach den Großteil ihres Einkommens unmittelbar. Die Voraussetzung für einen positiven Nettoeffekt für die Wirtschaft ist laut dieser Theorie dadurch gegeben, dass der Nachfrageeffekt größer ist als die Preissteigerungen infolge der höheren Löhne. Z. B. könnten die Bezieher hoher Einkommen ihre Sparsumme reduzieren, um die höheren Preise zu bezahlen, und das Einkommen der neuen Mindestlohnbezieher ist ohnehin gestiegen. Es muss mehr investiert werden, um den Nachfrageüberhang auszugleichen. Deshalb wird die Investitionstätigkeit bei einer sinkenden Sparquote nicht verringert, sondern wegen der Zunahme der Kaufkraft vergrößert: „In einer gesamtwirtschaftlichen Betrachtung aber, und das ist für die Wirtschaftspolitik die einzig relevante Sichtweise, führt die Idee des der Investition vorangehenden Sparens in die Irre. Der Kern des Missverständnisses liegt in der immer gewährleisteten Identität von realisiertem Sparen und realisiertem Investieren.“
Kritik
Vertreter der Angebotspolitik bestreiten, dass durch die Einführung von Mindestlöhnen ein Nachfrageeffekt erzeugt werden kann. Die Effekte nachfragesteuernder Maßnahmen werden im Gegensatz zur Preissteigerung erst mit großer zeitlicher Verzögerung wirksam. Ein Unternehmen produziert und verkauft zum Zeitpunkt der Einführung eines Mindestlohnes nicht mehr Güter und verfügt somit nicht über mehr Geld; es muss daher entweder Personal entlassen, die Gehälter kürzen oder die Gewinne reduzieren. Also treten zuerst negative Nachfrageeffekte ein. Wenn nun die Erhöhung der Niedriglöhne zu einem späteren Zeitpunkt tatsächlich reale Nachfrageeffekte hervorruft, wird sich die kumulierte Nachfrage nicht verändern, sondern es gibt nur Verlagerungen bei der Nachfrageentscheidung. In der Regel nimmt aufgrund der niedrigeren Sparquote der neuen Nachfragerstruktur die Nachfrage nach Investitionsgütern ab, was mittelfristig zu einem Anstieg der Arbeitslosigkeit führt.
Weiter wird kritisiert, dass diejenigen Unternehmen Vorteile aus dem Kaufkraftgewinn der Lohnempfänger zögen, die von der Lohnerhöhung weniger belastet seien. Dies sind zum einen die Unternehmen der kapitalintensiven Wirtschaftszweige, die relativ wenig Menschen beschäftigen, zum anderen ausländische Unternehmen, die oftmals bereits kostengünstiger produzieren.
Weitere Positionen in der wirtschaftswissenschaftlichen Diskussion
Der Ökonom Gregory Mankiw argumentiert, dass ein Mindestlohn äquivalent ist zu
einer Gehaltssubvention für ungelernte Arbeiter, bezahlt durch
eine Steuer auf Arbeitgeber, die ungelernte Arbeiter beschäftigen.
Der erste Teil der Politik bringt Vorteile für Niedriglöhner, während der zweite bestimmte Arbeitgeber diskriminiert.
Daher argumentieren einige Kritiker des Mindestlohns, dass eine negative Einkommensteuer größeren Teilen der ärmeren Bevölkerung Vorteile bringt und dabei die Kosten gerechter auf die Gesellschaft als Ganzes verteilt. Dass die negative Einkommensteuer armen Arbeitern einen größeren monetären Vorteil bei geringeren Kosten für die Gesellschaft bringt, wurde in einem Bericht des Congressional Budget Office dokumentiert.
Nach Lewis F. Abbott sind Arbeit gebende Unternehmen ökonomische Organisationen und keine Wohlfahrtsorganisationen und nationale Mindestlöhne ineffiziente, kostenträchtige und dysfunktionale Methoden, den Lebensstandard von ärmeren Haushalten anzuheben. Es ist für die Regierung sehr viel praktischer und kostengünstiger, wenn sie:
die Möglichkeiten zu arbeiten maximiert, unabhängig von dem Marktwert der Arbeit; selbst einfachste Tätigkeiten bieten laut Abbott wertvolle Arbeitserfahrungen und Möglichkeiten zur Weiterentwicklung;
Niedriglöhne aufstockt oder wenn nötig subventioniert und
Geld in anderen Bereichen spart, Inflation bekämpft und diverse künstliche politisch bedingte Belastungen abschafft, die die Lohnsubventionen erst erforderlich machen.
Empirische Studien und Prognosen
Internationale Befunde
Von der OECD 1998 und 2003 erstellte Literaturübersichten zu empirischen Studien zu Beschäftigungswirkungen von Mindestlöhnen zeigen, dass im Gegensatz zu älteren Untersuchungen, die übereinstimmend nur negative Effekte konstatierten, nun grob widersprüchliche Ergebnisse ermittelt wurden. Dabei wurden Ergebnisse, die entweder keine statistisch signifikanten Aussagen hergeben, oder solche, bei denen die konjunkturellen Effekte eventuell eine Rolle spielen, als widersprüchlich gewertet. Neben negativen Beschäftigungswirkungen, vor allem bei Jugendlichen, wurde auch festgestellt, dass die Armutsquote durch Mindestlöhne nur in begrenztem Maße verringert werden kann, da viele arme Haushalte kein Einkommen aus Erwerbsarbeit beziehen und Beschäftigte mit Mindestlöhnen oft in Haushalten mit einem höher Verdienenden leben. Die unterschiedlichen qualitativen Ergebnisse aus neun Ländern besagen zusammengefasst: In 24 Fällen ergab sich eine Unterstützung für das neoklassische Standardmodell, also Evidenz für negative Beschäftigungseffekte. Widersprüchliche Ergebnisse wurden bei sieben Studien konstatiert und unerwartete Ergebnisse, also entweder keine oder sogar positive Beschäftigungswirkungen, in 15 Fällen aufgezeigt.
Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung kommt in seiner Auswertung der jüngeren Studien zu dem Ergebnis, dass in den Vereinigten Staaten und Großbritannien, wo der Mindestlohn so niedrig ist, dass davon weniger als 2 % der Arbeitnehmer betroffen sind, nicht allein „in der Regel keine oder allenfalls geringfügig negative, sondern bisweilen sogar positive Beschäftigungseffekte eines Mindestlohns“ gefunden wurden. In Frankreich, wo der Mindestlohn so hoch ist, dass 15,6 % der Arbeitnehmer betroffen sind, zeigten sich im Unterschied dazu teilweise starke negative Beschäftigungseffekte, vor allem bei Jugendlichen und Frauen. In diesem Land, das laut SVR „hinsichtlich seines institutionellen Regelwerkes auf dem Arbeitsmarkt am ehesten mit Deutschland vergleichbar ist“, seien die Beschäftigungsverluste aufgrund der Anhebung des französischen Mindestlohns allerdings beachtlich. „So ermitteln Laroque und Salanié (2002) einen signifikanten Einfluss des Mindestlohns auf die Höhe der Arbeitslosigkeit.“ Andere Studien ermitteln allenfalls einen geringen negativen Beschäftigungseffekt des SMIC. Weitere Untersuchungen schätzen die beschäftigungspolitischen Effekte von Mindestlöhnen infolge produktivitätssteigernder Wirkungen durch veränderte Unternehmensstrategien positiv ein. Zudem seien weitere positive Einflüsse auf Wachstum und Beschäftigung über eine Stärkung der Binnennachfrage zu erwarten, so dass ein negativer Beschäftigungseffekt stark relativiert werde.
Nach Angaben der ILO führen gravierende Erhöhungen von Mindestlöhnen empirisch belegbar zu Beschäftigungseinbußen für diejenigen Beschäftigten, welche zum Mindestlohn arbeiten. Hingegen kommt es im Fall moderater Erhöhungen zu keinen signifikanten Beschäftigungseffekten.
Deutsche Befunde
Siehe dazu den Abschnitt Empirische Untersuchungen in Deutschland.
Situation in verschiedenen Staaten
Überblick
In den meisten EU-Ländern wird der Mindestlohn als Bruttomonatslohn definiert, in Großbritannien, Irland und Deutschland als Stundenlohn. 2015 haben 22 von 28 Mitgliedstaaten der Europäischen Union einen gesetzlich festgelegten Mindestlohn.
In Österreich, der Schweiz, Italien und den skandinavischen Ländern gibt es keinen von der jeweiligen Regierung festgelegten Mindestlohn, unter anderem deshalb, weil mehr Wert auf die Tarifautonomie gelegt wird. In Dänemark, Finnland und Schweden liegt die Tarifbindung bei über 90 %. In Österreich besteht ebenfalls eine beinahe flächendeckende Tarifbindung.
Deutschland
Das deutsche Arbeitsrecht kennt sechs Arten von Mindestlöhnen:
den allgemeinen Mindestlohn auf der Grundlage des Mindestlohngesetzes;
Branchenmindestlöhne durch allgemeinverbindliche Tarifverträge auf der Grundlage des Tarifvertragsgesetzes;
Branchenmindestlöhne durch allgemeinverbindliche Tarifverträge auf der Grundlage des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes;
den Mindestlohn für die Pflegebranche durch Rechtsverordnung auf der Grundlage des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes;
Lohnuntergrenzen für Leiharbeitnehmer auf der Grundlage des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes;
Vergabemindestlöhne nach den Vergabegesetzen der Länder, Vergabemindestlöhne beinhalten keinen individuellen Anspruch der Arbeitnehmer auf ein Mindestentgelt.
In Deutschland wurde 2009 in Westdeutschland für 65 % und in Ostdeutschland für 51 % der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten ein Branchen- oder Firmentarifvertrag angewendet. Der Anteil der Beschäftigten in Deutschland, deren Lohn- und Arbeitsbedingungen durch einen Tarifvertrag geregelt werden, hat seit 1996 eine rückläufige Tendenz.
In Deutschland gilt seit dem 1. Januar 2015 aufgrund des Mindestlohngesetzes (MiLoG) erstmals ein allgemeiner gesetzlicher Mindestlohn. Der Mindestlohn beträgt seit 1. Oktober 2022 12,00 € Brutto je Zeitstunde. Daneben gibt es in mehreren Branchen spezielle Branchenmindestlöhne. Diese gehen dem allgemeinen Mindestlohn vor, wenn sie höher als der allgemeine Mindestlohn sind ( Abs. 3 MiLoG). Während einer Übergangszeit bis Ende 2017 durften Branchenmindestlöhne den allgemeinen Mindestlohn noch unterschreiten ( Abs. 1 MiLoG). Laut einer Studie des Deutschen Instituts der Wirtschaft wurde noch 2018 der Mindestlohn bei 3,8 Millionen Arbeitnehmern in Deutschland unterschritten.
Die Branchenmindestlöhne werden grundsätzlich durch Tarifverträge festgelegt und durch einen staatlichen Rechtsetzungsakt für alle Arbeitsverhältnisse dieser Branche rechtsverbindlich. Die Rechtsverbindlichkeit des Branchenmindestlohns ergibt sich aus Arbeitnehmer-Entsendegesetz (AEntG) in Verbindung mit einer Allgemeinverbindlicherklärung des Tarifvertrags nach Tarifvertragsgesetz oder – alternativ – in Verbindung mit einer nach AEntG erlassenen Rechtsverordnung. Für die Pflegebranche gelten besondere Bestimmungen nach AEntG.
Die Branchenmindestlöhne gelten auch für Arbeitnehmer, die von einem ausländischen Arbeitgeber nach Deutschland entsandt werden. Ebenso gelten sie für (Leih-)Arbeitnehmer, wenn und solange sie durch ihren Arbeitgeber (Verleiher) einem anderen Arbeitgeber (Entleiher) überlassen werden, der in den Geltungsbereich eines Branchenmindestlohns fällt ( Abs. 3 AEntG). Daneben kann für die Branche der Arbeitnehmerüberlassung selbst ein Mindestlohn-Tarifvertrag durch eine Rechtsverordnung nach Abs. 2 AÜG allgemeinverbindlich werden. Man spricht hier von einer Lohnuntergrenze.
Die von der Ampel-Koalition im Dezember 2021 vereinbarte Erhöhung (Koalitionsvertrag) des Mindestlohns auf 12 Euro/Stunde würde nach einer Studie der Hans-Böckler-Stiftung für fast 9 Millionen Beschäftigungsverhältnisse zu einer Lohnerhöhung führen. Eine Anhebung des Mindestlohns auf zwölf Euro würde für Beschäftigte, die nach Tarifvertrag bezahlt werden, eine durchschnittliche Lohnerhöhung von 1 Prozent bewirken. Bei den Beschäftigten ohne Tarif wären es 4,1 Prozent. Die Zahlen zeigten, so die Autoren der Studie, dass der höhere Mindestlohn keinen tiefen Eingriff in die Tarifautonomie bedeute. Er wäre vor allem eine wirksame Stütze zur Stabilisierung der Löhne von Beschäftigten ohne Tarifvertrag.
Insgesamt wurden im Jahr 2019 circa 1.421.000 Jobs zum Mindestlohn angeboten. Im Jahr 2019 haben 807.000 Frauen den Mindestlohn verdient. Im Vergleich dazu waren es 614.000 Männer, die den Mindestlohn für ihre Tätigkeit erhalten haben.
Allgemeiner gesetzlicher Mindestlohn
Der allgemeine gesetzliche Mindestlohn von ursprünglich 8,50 € wurde durch das am 1. Januar 2015 in Kraft getretene Mindestlohngesetz eingeführt. Seit dem 1. Oktober 2022 liegt er bei 12 € brutto.
Die ursprüngliche Höhe und die Erhöhung zum 1. Oktober 2022 wurde durch den Gesetzgeber bestimmt.
Die Höhe des Mindestlohns kann auf Vorschlag einer ständigen Kommission der Tarifpartner (Mindestlohnkommission) durch Rechtsverordnung der Bundesregierung geändert werden. Die Kommission wird alle fünf Jahre durch die Bundesregierung neu berufen. Sie besteht aus einem Vorsitzenden, je drei stimmberechtigten ständigen Mitgliedern der Arbeitnehmer- und der Arbeitgeberseite, sowie zwei Mitgliedern aus Kreisen der Wissenschaft ohne Stimmrecht (beratende Mitglieder).
Anspruch auf den gesetzlichen Mindestlohn haben alle Arbeitnehmer. Ebenso Anspruch haben Praktikanten, die eingestellt werden, um berufliche Fertigkeiten, Kenntnisse, Fähigkeiten oder berufliche Erfahrungen zu erwerben, ohne dass es sich um eine Berufsausbildung im Sinne des Berufsbildungsgesetzes (BBiG) handelt. Das gilt nicht für Schüler oder Studenten, die das Praktikum im Rahmen ihrer Schulausbildung oder ihres Studiums absolvieren oder für bis zu dreimonatige Orientierungspraktika oder für von der Arbeitsagentur geförderte Maßnahmen zum Erwerb einer Einstiegsqualifikation.
Ausgenommen von dem Anspruch auf den Mindestlohn sind außerdem jugendliche Arbeitnehmer und Auszubildende. Arbeitnehmer, die mindestens 1 Jahr lang arbeitslos waren (Langzeitarbeitslose i.S. v. SGB III) haben erst nach sechsmonatiger Beschäftigung Anspruch auf den Mindestlohn. Für Zeitungszusteller galt übergangsweise ein geringerer Mindestlohn, und zwar bis Ende 2015 von 6,38 €, bis Ende 2016 von 7,23 € und bis Ende 2017 von 8,50 € ( Abs. 2 MiLoG).
Darüber hinaus konnte bis Ende 2016 mit allgemeinverbindlichen Tarifverträgen vom gesetzlichen Mindestlohn nach unten abgewichen werden. Seit 2017 gilt der Mindestlohn in allen Branchen, selbst wenn ein Tarifvertrag ein niedrigeres Entgelt vorsieht.
Anderweitige Vereinbarungen, die den Anspruch auf Mindestlohn unterschreiten oder seine Geltendmachung beschränken oder ausschließen, sind insoweit unwirksam. Arbeitnehmer können auf den Mindestlohn nur durch gerichtlichen Vergleich verzichten. Der Mindestlohnanspruch kann nicht verwirkt werden. Die Einhaltung des Mindestlohns wird von der Finanzkontrolle Schwarzarbeit (FKS) der Zollverwaltung kontrolliert. Um die Kontrolle zu erleichtern, bestehen für Arbeitgeber zusätzliche Melde- und Dokumentationspflichten.
Das Bundesarbeitsgericht entschied im September 2017, dass für Nachtzuschläge, die nach dem tatsächlichen Stundenverdienst berechnet werden, der Mindestlohn als untere Basis gilt.
Vor der Einführung des Mindestlohns in Deutschland Anfang 2015 wurde vielfach vor negativen Folgen für den Arbeitsmarkt und starken Arbeitsplatzverlusten gewarnt. Ein Jahr nach Einführung waren keine derartigen Folgen festzustellen.
Ab 1. Januar 2021 betrug der Mindestlohn 9,50 € pro Stunde, zum 1. Juli 2021 wurde er auf 9,60 € angehoben. Am 1. Juli 2022 stieg der Mindestlohn auf 10,45 €.
Am 3. Juni 2022 beschloss der Bundestag per Gesetz, den Mindestlohn außerplanmäßig zum 1. Oktober 2022 auf 12 € anzuheben.
Aktuelle gesetzliche Mindestlöhne und Lohnuntergrenzen in den einzelnen Branchen
In weiteren Branchen ist ein Mindestlohn rechtlich möglich, aber nicht (mehr) in Kraft. Betroffen sind folgende Branchen:
Briefdienstleistungen
Mit der Postmindestlohnverordnung waren Mindestlöhne für die Branche nach Maßgabe des Tarifvertrages für verbindlich erklärt worden, den der Arbeitgeberverband Postdienste e.V. und die Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft „ver.di“ im November 2007 geschlossen hatten. Die Postmindestlohnverordnung wurde jedoch durch das Bundesverwaltungsgericht, wie bereits von den Vorinstanzen, als rechtswidrig und damit als ungültig angesehen.
Abbruch- und Abwrackgewerbe
Hier galt bis zum 31. Dezember 2008 ein Mindestlohn von 9,10 € bis 11,96 €.
Friseurhandwerk
Hier galt bis zur Einführung des allgemeinen folgender branchenspezifischer Mindestlohn:
ab 1. Januar 2014
West: 7,50 €
Ost und Berlin: 6,50 €
ab 1. August 2014
West: 8,00 €
Ost und Berlin: 7,50 €
ab 1. August 2015
bundesweit: 8,50 €
Empirische Untersuchungen
Vor Einführung des gesetzlichen Mindestlohns 2015
Laut einer Studie des Instituts für Wirtschaftsforschung Halle und des Ifo-Instituts aus dem Jahr 2007 birgt das Instrument des Mindestlohns die Gefahr, dass die dadurch gestiegenen Einkommen zu Arbeitsplatzverlusten bei Geringverdienern führen könnten. Eine ebenfalls 2007 veröffentlichte DFG-Studie (Mikrodatenanalyse über Mindestlohneffekte des Entsendegesetzes) für die deutsche Bauwirtschaft ergab hinsichtlich der Beschäftigungswirkung insgesamt keine größeren Effekte. Die Untersuchung ergab im Detail in jeweils minimalem Ausmaß sowohl negative Effekte für Ostdeutschland als auch positive Effekte für Westdeutschland. Die Aussagekraft beider Studien wurde unterschiedlich beurteilt. Forscher der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung konstatieren eine kontroverse Diskussion innerhalb der Wirtschaftswissenschaft zum Verhältnis von Mindestlöhnen und Beschäftigung, bestreiten aber die Folge des Verlusts von Arbeitsplätzen.
Im Auftrag des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales evaluierten 2011 sechs führende Wirtschaftsforschungsinstitute acht der insgesamt zwölf branchenspezifischen Mindestlöhne in Deutschland. Das Konsortium aus den Instituten IAB (Nürnberg), RWI (Essen) und ISG (Köln) analysierte den Mindestlohn in der Bauindustrie, das ZEW (Mannheim) übernahm das Dachdeckerhandwerk und die Abfallwirtschaft, das IAQ (Duisburg) die Wäschereidienstleistungen im Objektkundengeschäft und die Gebäudereinigung und das IAW (Tübingen) die Pflegebranche, das Maler- und Lackiererhandwerk und das Elektrohandwerk. Ziel der Studien war es, die bestehenden Mindestlöhne hinsichtlich ihrer Auswirkungen auf die Beschäftigung, den Arbeitnehmerschutz und den Wettbewerb zu untersuchen. Die Ergebnisse wurden in zusammenfassender Form in einer Sonderausgabe der Zeitschrift für Arbeitsmarktforschung veröffentlicht. Die Analysen beruhen größtenteils auf Mikrodaten und entsprechen den Standards der internationalen Mindestlohnforschung. Methodisch wurde der Differenz-von-Differenzen Ansatz verwendet, bei dem die Ergebnisvariable (z. B. die Beschäftigung oder Löhne) ähnlich wie bei einer Medikamentenstudie vor und nach Einführung des Mindestlohnes zwischen einer Gruppe aus Betroffenen und einer Kontrollgruppe verglichen wird. Insgesamt legen die Ergebnisse nahe, dass Beschäftigungsverluste durch einen Mindestlohn weitgehend ausgeblieben sind, wenn auch große regionale Unterschiede zu konstatieren sind. So lassen sich insbesondere in Ostdeutschland deutliche Effekte der Lohnuntergrenze auf die Lohnverteilung nachweisen.
Weitere wissenschaftliche Studien zu den ökonomischen Effekten erschienen in einer Sonderausgabe des German Economic Review. So untersucht eine Studie von Frings die Beschäftigungseffekte sowohl in der Elektro- als auch in der Maler- und Lackiererbranche. Die Ergebnisse legen nahe, dass mit der Einführung des Mindestlohnes in der Branche keine negativen Beschäftigungswirkungen einhergegangen sind, trotz teils hoher Betroffenheit. In der Studie von Boockmann, Krumm, Neumann und Rattenhuber für die Elektrobranche kommen die Autoren zu einem ähnlichen Ergebnis. Die Studie von Aretz, Arntz und Gregory berücksichtigt dagegen auch Lohngruppen mit Verdiensten oberhalb des Mindestlohns in ihren Analysen und findet eine reduzierte Weiterbeschäftigungswahrscheinlichkeit in der Dachdeckerbranche, insbesondere auch bei Facharbeitern in Ostdeutschland. Eine weitere Studie betrachtet die Verdienstsituation der Dachdecker im Zuge des Mindestlohns. Die Ergebnisse zeigen, dass zwar die Löhne der Geringverdiener gestiegen sind, die Verdienste der qualifizierteren Facharbeiter sich jedoch gleichzeitig verschlechtert haben. Die Befunde sprechen für eine reduzierte Lohndifferenzierung bzw. Bildungsrendite im Handwerk. Mit einer Betroffenheitsquote (Anzahl der Beschäftigten mit einer Entlohnung unterhalb der nächsten Mindestlohnstufe) von über 50 % ist das Dachdeckerhandwerk einer der am stärksten vom Mindestlohn betroffenen Branchen. Eine weitere Studie der Universitäten Tübingen und Linz zur Schattenwirtschaft in Deutschland prognostiziert mit Einführung des Mindestlohnes zum 1. Januar 2015 eine Erhöhung der Schattenwirtschaft um 1,5 Mrd. Euro, wobei dies nach der Modellschätzung lediglich einen relativ geringen Teil der erforderlichen Anpassungen an den Mindestlohn ausmacht.
Seit Einführung des gesetzlichen Mindestlohns 2015
Laut einer Studie des WSI in der Hans-Böckler-Stiftung vom Oktober 2021 verdienen rund 8,6 Millionen Beschäftigte weniger als 12 Euro in der Stunde – vor allem in Jobs ohne Tarifvertrag. Etwa zwei Drittel der gut achteinhalb Millionen Menschen, die dementsprechend direkt von einer Erhöhung des gesetzlichen Mindestlohns auf 12 Euro profitieren würden, sind Frauen. Die Mehrzahl der Berufsgruppen, in denen aktuell weniger als 12 Euro bezahlt werden, erfordere eine abgeschlossene Ausbildung.
Politische Debatte im Vorfeld der Einführung des Mindestlohns
Befürworter des Mindestlohns sahen die Forderungen nach Mindestlöhnen als notwendigen Bestandteil humaner Arbeit im Kontext der Menschenwürde.
Eine Position sah den gesetzlichen Mindestlohn als geeignetes und notwendiges Instrument an, soziale Verwerfungen durch Niedriglöhne zu verhindern, insbesondere auch als Kompensation für die zurückgegangene Tarifbindung und die steigende Anzahl von „Aufstockern“, die einen Lohn unterhalb des Sozialhilfeniveaus erhalten und daher einen Anspruch auf ergänzendes Arbeitslosengeld II haben. Ihre Vertreter verwiesen auf entsprechende ausländische Regelungen.
Die Gegenposition lehnte den Mindestlohn ab. Sie befürchtete negative Auswirkungen auf die wirtschaftliche Lage und einen Arbeitsplatzabbau. Sie schlug andere Modelle zur Lösung eventueller sozialer Probleme vor.
Die Tarifbindung war zurückgegangen, weil das Instrument der Allgemeinverbindlicherklärungen (AVE) weniger genutzt wurde. Daten dazu enthalten Tarifregister die vom BMA, von Landesministerien und vom WSI geführt werden. Vom 1. Januar 1999 bis zum 1. Januar 2006 (rot-grüne Koalition) ging die Zahl der AVE von 591 auf 446 Tarifverträge zurück (also um 25 %).
Während der Regierungszeit der großen Koalition (2005–2009, Kabinett Merkel I, Bundesarbeitsminister: Franz Müntefering) gab es relativ wenige Diskussionen zum Thema Mindestlohn.
Seit dem Wahlkampf vor der Bundestagswahl 2009 wurde das Thema 'Mindestlöhne' wieder stärker diskutiert; ebenso vor der Bundestagswahl 2013 (22. September) und der Bayerischen Landtagswahl (15. September 2013) und Hessen (siehe unten).
Die grün-rote Landesregierung von Baden-Württemberg (Kabinett Kretschmann I) brachte im Dezember 2011 gemeinsam mit Rheinland-Pfalz und Hamburg einen Entschließungsantrag für die Einführung eines Mindestlohns in den Bundesrat (BR) ein. Die damalige BR-Mehrheit lehnte den Antrag ab.
Durch die Landtagswahl in Niedersachsen am 20. Januar 2013 änderte sich die Mehrheit im Bundesrat.
Der Bundesrat verabschiedete am 1. März 2013 einen Beschluss (BR-Drucksache 136/13) und am 3. Mai 2013 die Entschließung Gute Arbeit – Zukunftsfähige und faire Arbeitspolitik gestalten. In letzterer fordert der Bundesrat die Bundesregierung und den Bundestag auf, umfassende gesetzliche Veränderungen zu initiieren und umzusetzen zwecks „Sicherung auskömmlicher Löhne, insbesondere durch Einführung eines flächendeckenden allgemeinen gesetzlichen Mindestlohns in Höhe von mindestens 8,50 Euro brutto in Deutschland“.
Am 8. Mai 2013 wurden Daten aus neuen Statistiken der Bundesagentur für Arbeit (BA) bekannt.
2012 gab es im Jahresdurchschnitt etwa 323.000 Haushalte mit einem sogenannten Hartz-IV-Aufstocker, der ein sozialversicherungspflichtiges Bruttoeinkommen von mehr als 800 Euro bezieht. 2009 waren es etwa 20.000 weniger.
Die Zahl dieser auf Hartz IV angewiesenen, alleinstehenden Vollzeit- oder Teilzeit-Jobber kletterte im gleichen Zeitraum um 38 % auf etwa 75.600.
Insgesamt waren 2012 durchschnittlich etwa 1,3 Millionen Hartz-IV-Bezieher erwerbstätig, etwa genauso viele wie 2009. Knapp die Hälfte von ihnen hatten einen Mini-Job.
Zeit online konstatierte im Mai, dass einige seriöse Medien aus statistischen Zahlen falsche Schlussfolgerungen gezogen hatten und Meldungen mit Titeln wie Reguläre Jobs reichen immer seltener zum Leben (Spiegel Online) veröffentlicht hatten.
Tarifparteien
Die Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG) und die Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft (ver.di) forderte einen gesetzlichen Mindeststundenlohn in Höhe von 8,50 €, der später auf 9,00 € ansteigen solle. Dieser Betrag orientiere sich an den Mindestlöhnen wirtschaftlich vergleichbarer EU-Länder. Das sich daraus ergebende Nettoeinkommen liegt unterhalb der Pfändungsfreigrenze. Auch die IG Metall forderte nach anfänglicher Skepsis einen Mindeststundenlohn von 8,50 €. Der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) hatte die Forderung nach einem gesetzlichen Mindestlohn in Höhe von 8,50 € ebenfalls übernommen. Das gesetzliche Minimum sollte dabei als Auffanglösung die Instrumente Allgemeinverbindlicherklärung und das Arbeitnehmer-Entsendegesetz ergänzen. Die IG Bergbau, Chemie, Energie (IG BCE) lehnte einen branchen-unspezifischen gesetzlichen Mindestlohn ab und favorisiert branchenspezifische Lösungen. Die IG Bauen-Agrar-Umwelt hatte für Mitglieder in Teilen ihres Organisationsbereichs bereits deutlich höhere Branchen-Mindestlöhne ausgehandelt (beispielsweise am Bau). Da dies nicht für alle Branchen in Tarifverhandlungen möglich sei, unterstützte sie nach wie vor die Forderung des DGB nach einem flächendeckenden Mindestlohn in Höhe von 8,50 €.
Die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) war (Stand 2007) gegen den gesetzlichen Mindestlohn, sie sah 2007 durch den Mindestlohn 1,7 Millionen Arbeitsplätze bedroht.
Politische Parteien
In den Koalitionsverhandlungen im November 2013 vereinbarten SPD, CDU und CSU im Koalitionsvertrag die schrittweise Einführung eines flächendeckenden Mindestlohnes von 8,50 Euro für 2015 mit möglichen Ausnahmeregelungen bis 2017.
Die CDU lehnte einen flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn viele Jahre lang ab mit der Begründung, sie befürchte eine arbeitsplatzvernichtende Wirkung. Mit dem Ziel, Arbeitsplätze auch für Geringqualifizierte zu sichern oder zu schaffen, forderte sie stattdessen ein Mindesteinkommen, das sich aus einer Kombination aus Lohn und einem staatlichen Lohnzuschuss zusammensetzen sollte.
Nach der Bundestagswahl 2009 vereinbarte die CDU mit der FDP im Koalitionsvertrag, in Deutschland keinen allgemeinen Mindestlohn einzuführen („Einen einheitlichen gesetzlichen Mindestlohn lehnen wir ab.“).
Anfang 2010 befürwortete die neue Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen weitere Branchen-Mindestlöhne. Im Mai 2011 forderte die Christlich-Demokratische Arbeitnehmerschaft (CDA) Mindestlöhne. Karl-Josef Laumann (Bundesvorsitzender der CDA – Christlich-Demokratische Arbeitnehmerschaft – und Vorsitzender der CDU-Landtagsfraktion in NRW) kämpfte jahrelang parteiintern für Mindestlöhne. Davon konnte er letztendlich auch den Bundesvorstand der CDU unter Angela Merkel überzeugen, und auf dem Leipziger Parteitag 14./15. November 2011 beschloss die CDU, sich für die Einführung einer allgemein verbindlichen Lohnuntergrenze einzusetzen, die durch eine Kommission der Tarifparteien bestimmt werden solle.
Einen Einfluss der Politik auf diese Lohnuntergrenze lehnte sie ab. Der Begriff „Lohnuntergrenze“ statt „Mindestlohn“ wurde gewählt, um sich begrifflich von politischen Wettbewerbern abzugrenzen.
Die SPD forderte mit dem Argument der Lohngerechtigkeit einen gesetzlichen Mindestlohn, der bei einer Vollzeitbeschäftigung das Existenzminimum gewährleistet. Sie forderte, der Mindestlohn solle gesetzlich verankert sein, flächendeckend gültig sein und mindestens 8,50 € je Stunde betragen.
Die FDP plädierte lange Zeit gegen einen gesetzlichen Mindestlohn. Sie fürchtete negative Konsequenzen für die Wirtschaft und einen Rückgang der Beschäftigung für gering qualifizierte Tätigkeiten. Negativen sozialen Folgen von Niedriglöhnen wollte sie durch Einführung eines Bürgergeldes begegnen. Der Kurswechsel der CDU und andere Faktoren lösten in der FDP eine Debatte über den zukünftigen Kurs aus. Das Thema wurde auf dem Bundesparteitag am 4. Mai 2013 diskutiert; schließlich stimmten 57 % der Delegierten für die (neue) Linie der FDP-Parteispitze.
Die Partei Die Linke forderte 2007, einen Mindestlohn von 10 € gesetzlich zu verankern, dieser solle dann jährlich mindestens in dem Maße steigen, in dem die Lebenshaltungskosten steigen.
Bündnis 90/Die Grünen schlug (Stand November 2011) eine Mindestlohnkommission nach britischem Vorbild vor, die unabhängig von politischem Einfluss mit Vertretern von Gewerkschaften, Arbeitgeberverbänden und Wissenschaft besetzt sein solle und die Höhe des Mindestlohns unter Berücksichtigung der sozialen und wirtschaftlichen Anforderungen festlegen solle.
Die Piraten forderten langfristig die Einrichtung einer Expertenkommission nach niederländischem Vorbild zur Festlegung eines gesetzlichen Mindestlohns. Kurzfristig wurde ein Mindestlohn von 9,02 Euro für unbefristete und 9,77 Euro für befristete Arbeitsverhältnisse im Jahr 2013 gefordert.
Von Seiten der Arbeitgeber wurde kritisiert, dass mit der Einführung des Mindestlohnes auch eine erhebliche Steigerung der Bürokratie einhergehe, da Arbeitszeiten aller Arbeitnehmer genau aufgezeichnet werden müssten. Dies bringe erhebliche Mehrkosten und Rechtsunsicherheit mit sich, wie u. a. der DIHK kritisierte.
Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung
Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung widmete in seinem Jahresgutachten von 2006 dem Thema Mindestlohn einen Abschnitt mit der Überschrift Mindestlöhne – ein Irrweg und untersuchte darin die Argumente für und gegen die Einführung eines Mindestlohns. Die Analyse kam zu dem Schluss: „Als Fazit ergibt sich, dass keines der Argumente für die Einführung eines Mindestlohns wirklich zu überzeugen vermag.“ (S. 407). Hinsichtlich der zu erwartenden Beschäftigungswirkungen schrieb der Sachverständigenrat: „Anders als in der Diskussion teils suggeriert, dürfte ein gesetzlicher Mindestlohn in Deutschland durchaus negative Beschäftigungseffekte nach sich ziehen.“ (S. 408) sowie: „In Verbindung mit den internationalen Erfahrungen ist daher im Hinblick auf die zu erwartenden Beschäftigungseffekte ausdrücklich vor der Einführung eines Mindestlohns in Deutschland zu warnen. Dies gilt umso mehr angesichts der gegenwärtig diskutierten Höhe eines gesetzlichen Mindestlohns von 7,50 € und mehr.“ (S. 407).
Der Angehörige des Sachverständigenrats Peter Bofinger vertrat eine abweichende Meinung. Er schlug einen Mindestlohn von 5 € vor. Seiner Ansicht nach wäre die Einführung eines Mindestlohns nicht mit negativen Beschäftigungsfolgen verbunden (S. 422 ff.).
Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung
Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung prognostizierte im Jahr 2013, dass Deutschlands Handelsbilanzüberschuss mit Mitgliedstaaten der Europäischen Union auch in den kommenden Jahren über der von der EU geforderten Grenze von 6 % liegen würde und empfahl Deutschland, einen gesetzlichen Mindestlohn einzuführen. Ihre Empfehlung enthielt keine Angaben über eine geeignete Höhe des Mindestlohns.
Bundesländer
In Bremen galt ab April 2021 ein Landesmindestlohn in Höhe von 12 Euro für Beschäftigte von öffentlichen Unternehmen und Einrichtungen, für Beschäftigte von Zuwendungsempfängern z. B. in Kultur- oder Jugendeinrichtungen, für studentische Hilfskräfte sowie Mitarbeiter von Einrichtungen, die Entgeltvereinbarungen nach dem Sozialrecht abschlossen und für Menschen auf dem sozialen Arbeitsmarkt. Seit dem 1. Dezember 2022 beträgt der Mindestlohn im Land Bremen 12,29 Euro in der Stunde.
Sonderfall Pflegeberufe
Am 5. Februar 2022 (im dritten Jahr der COVID-19-Pandemie in Deutschland) beschloss die Pflegekommission einstimmig, dass Pflegekräfte in der Altenpflege in Deutschland ab dem 1. September 2022 in drei Schritten höhere Mindestlöhne erhalten sollen. Für Pflegehilfskräfte empfiehlt die Pflegekommission eine Anhebung auf 14,15 Euro pro Stunde, für qualifizierte Pflegehilfskräfte eine Anhebung auf 15,25 Euro pro Stunde und für Pflegefachkräfte auf 18,25 Euro pro Stunde. Durch die ungewöhnlich starke Anhebung der Mindestlöhne solle „ein klares Signal für bessere Arbeitsbedingungen in der Branche“ gesetzt werden.
Kein Mindestlohnanspruch
Eine Reihe von Personengruppen haben keinen Anspruch auf einen Mindestlohn. Hierzu zählen z. B. Teilnehmer an Freiwilligendiensten, Auszubildende, Strafgefangene und Beschäftigte in Werkstätten für behinderte Menschen.
Werkstätten für behinderte Menschen
Bislang sind in Deutschland Beschäftigte in einer Werkstatt für behinderte Menschen nicht von Regelungen über den gesetzlichen Mindestlohn betroffen, da sie zwar produktive Arbeit leisten ( Absatz 2 SGB IX), aber nicht als Arbeitnehmer, sondern als arbeitnehmerähnliche Personen, die wegen des fehlenden Arbeitnehmerstatus kein Recht auf Zahlung des Mindestlohns haben.
Bereits in den 2010er Jahren war dieser Sachverhalt Gegenstand von Kontroversen.
Im Jahr 2019 forderte der Deutsche Bundestag die Bundesregierung auf, „innerhalb von vier Jahren zu prüfen, wie ein transparentes, nachhaltiges und zukunftsfähiges Entgeltsystem [für Beschäftigte in einer WfbM] entwickelt werden kann“. Im September 2023 wurde der Öffentlichkeit die Abschlussstudie vorgestellt, die vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales in Auftrag gegeben worden und von namhaften Wissenschaftlern ausgearbeitet worden war.
Brasilien
Frankreich
In Frankreich wurde 1950 ein gesetzlicher Mindestlohn eingeführt, der seit 1970 die Bezeichnung Salaire minimum interprofessionnel de croissance (SMIC) trägt und in der Verfassung und im Arbeitsrecht verankert ist. Die Höhe des Bruttomindestlohnes wird einmal jährlich, und zwar zum 1. Januar, an die gesamtwirtschaftliche Lage angepasst. Dies geschieht gemäß einer Formel, die einerseits die Entwicklung der Lohntarife für Arbeiter und Angestellte berücksichtigt und andererseits die Entwicklung der Preise für die 20 Prozent einkommensschwächsten Haushalte. Ab dem 1. Januar 2023 betrug der Mindestlohn 11,27 € pro Stunde, was bei einer 35-Stunden-Woche einem Monatslohn von 1709,28 € entspricht. Zudem kann der Mindestlohn nach politischen Vorgaben angepasst werden. Überschreitet die Inflation eine bestimmte Schwelle, erfolgt unterjährig eine automatische Anhebung des Mindestlohns. Infolgedessen stieg er zum 1. Mai 2023 auf 11,52 € pro Stunde.
Abgezogen werden die gesetzlich vorgeschriebenen Sozialabgaben (13,7 % des Brutto-SMIC) sowie weitere obligatorische Beiträge wie der CSG (Contribution sociale généralisée) und der CRDS (Contribution au remboursement de la dette sociale) zur Deckung der Krankenkassenverschuldung beziehungsweise der Soziallastverschuldung (insgesamt 8 % von 97 % des Brutto-SMIC).
Irland
In Irland gilt seit dem 1. April 2000 ein gesetzlicher Mindestlohn. Für 18- bis 20-Jährige, Berufseinsteiger und Praktikanten sind reduzierte Mindestlöhne zwischen 70 % und 90 % des vollen Satzes zu zahlen. In den Jahren vor 2000 wurden branchenspezifische Mindestlöhne in Irland durch die Joint Labour Committees ausgehandelt. Diese Branchenregelungen ergaben einen im Vergleich zum jetzigen Mindestlohn deutlich niedrigeren Stundenlohn und galten zudem nur für ein knappes Viertel der Arbeitskräfte. Im Jahr 2004 erhielten 3,1 % der Vollzeitbeschäftigten den Mindestlohn.
Eine 2002 vorgestellte ökonomische Studie zeigte, dass der Beschäftigungszuwachs bei Unternehmen im Niedriglohnsektor nicht signifikant anders war als der bei Firmen, die von der Mindestlohngesetzgebung nicht betroffen waren. Dabei werde jedoch die Anzahl der betroffenen Unternehmen überschätzt. Bei Berücksichtigung der Steigerung des allgemeinen Lohnniveaus befanden die Autoren, dass der Mindestlohn einen statistisch signifikanten negativen Beschäftigungseffekt bei der kleinen Anzahl von Firmen gehabt haben kann, die von der Einführung des Mindestlohns besonders stark betroffen waren.
Das DIW weist darauf hin, dass der Mindestlohn in Irland in einer Phase starken Wirtschaftswachstums und sich deutlich verringernder Arbeitslosigkeit eingeführt wurde. Zudem gebe es „eine lange Reihe“ von Ausnahmeregelungen.
Luxemburg
In Luxemburg wird seit dem 1. Januar 2009 arbeits- und sozialrechtlich nicht mehr zwischen „Arbeitern“ (ouvriers) und „Angestellten“ (employés privés) unterschieden; fortan gibt es nur noch „Gehaltsempfänger“ (salariés). Für alle Beschäftigungsverhältnisse ist ein Mindestgehalt per Gesetz vorgeschrieben. Am 1. Januar 2020 wurde das Mindestgehalt je nach Alter und Qualifikation entsprechend nebenstehender Tabelle neu festgelegt. Das „soziale Mindestgehalt“ (le salaire social minimum) ist ein grundlegender Eckwert der Luxemburger Sozialversicherung und entspricht im Betrag jeweils dem Mindestgehalt für Unqualifizierte ab dem Alter von 18 Jahren, derzeit 2141,99 € im Monat.
Litauen
In Litauen gilt ein Mindestlohn von 4,47 Euro (Stand 02/2022). Ab 2024 wird er 5,65 Euro betragen.
Namibia
In Namibia gibt es einen Mindestlohn für drei Branchen. Der Mindestlohn für Hausangestellte (Stand 2018) liegt bei N$ 9,03 je Stunde, für Farmarbeiter bei N$ 4,62 je Stunde (Stand 2019) und für Wachleute zwischen N$ 8,76 und 10 je Stunde (Stand 2017).
Niederlande
In den Niederlanden gilt seit 1968 ein gesetzlicher Mindestlohn, jüngere Angestellte erhalten 30 % bis 85 % des allgemeinen Betrags. Das Gesetz hierzu wurde am 27. November 1968 vom Parlament verabschiedet. Damals betrug der Mindestlohn 100 Gulden per Arbeitswoche. Erhöhungen beschließt das niederländische Arbeitsministerium nach freiwilliger Anhörung des so genannten Sozialökonomischen Rats, der sich aus Arbeitgebern, Gewerkschaften und Externen zusammensetzt.
Um Schocks durch zu hohe Steigerungen zu vermeiden, passt die niederländische Regierung den Mindestlohn öfter, und zwar jeweils zum 1. Januar und 1. Juli eines Jahres an die wirtschaftliche Entwicklung an. Prinzipiell an Letztere gebunden, kann durch politische Entscheidungen des Ministeriums eine außergewöhnliche Erhöhung oder Stagnation des Mindestlohns beschlossen werden. Nachdem der Mindestlohn von 2003 bis einschließlich 2005 aufgrund politischer Entscheidungen und bedingt durch die schlechte Wirtschaftslage nicht erhöht wurde, stieg er am 1. Januar 2006 um 0,6 % an. Der allgemeine gesetzliche Mindestlohn wurde zum 1. Juli 2023 auf 1.995 Euro brutto im Monat für Vollzeitarbeitnehmer im Alter von 21 Jahren oder älter festgelegt.
Österreich
In Österreich gelten für jene Betriebe, die Mitglied in der Wirtschaftskammer sind, teilweise Kollektivverträge, die zwischen der Wirtschaftskammer und den zuständigen Branchenverbänden bzw. Gewerkschaften abgeschlossen werden. Dort sind, je nach Einstufung der Tätigkeit und dem Dienstalter, verbindliche Mindestlöhne festgelegt. Ein Generalkollektivvertrag (für alle Branchen) wurde in Österreich nicht eingeführt. Organisationen, die keinem Kollektivvertrag unterliegen (manche Non-Profit-Organisationen, nicht abschließende WKÖ Fachbereiche), sind nicht zur Zahlung eines Mindestlohnes verpflichtet.
In Österreich wurde zum 1. Januar 2009 durch Festlegung in den Kollektivverträgen zwischen der WKÖ und ÖGB, ein Mindestlohn in Höhe von 1.000 € brutto für viele Branchen eingeführt. Da in Österreich aus steuerlichen Gründen fast überall 14 Monatsgehälter pro Jahr üblich sind (12 gewöhnliche Gehälter plus 2 steuerbegünstigte „Sonderzahlungen“ in der Höhe eines Monatsgehalts), entspricht dies 14.000 € im Jahr, oder 12*1.167 €. Ausgenommen sind Lehrlinge und Praktikanten. Am 15. April 2009 bestanden noch drei Kollektivverträge mit einem Mindestlohn von unter 1.000 €: Konditorengewerbe, in bestimmten Sparten der Bekleidungsindustrie und im Verlagswesen. Außerdem bestanden für einige Branchen, wie die Abfallwirtschaft, gar keine Kollektivverträge.
Weiterhin ist festzuhalten, dass etwaige Kollektivverträge zwar die Mindestlöhne für Arbeiter- und Angestelltenverhältnisse sehr genau regeln, aber atypische Dienstverhältnisse, die in den letzten Jahren ein starkes Wachstum verzeichneten, oft gar nicht oder unzureichend berücksichtigt werden. Als in atypischen Dienstverhältnissen Beschäftigte gelten freie Dienstnehmer und Werkvertragnehmer sowie unter Umständen auch Dienstnehmer in Ausbildungsverhältnissen (Praktikanten, Werkstudenten). Eine Studie aus dem Jahr 2002 hat ergeben, dass atypische Dienstnehmer in Österreich in der Praxis meist finanzielle Einbußen hinnehmen müssen und sozial weniger abgesichert sind als die gleiche Arbeit verrichtende Angestellte.
Bereits 2003 war im Koalitionspakt von ÖVP und FPÖ ein Mindestlohn von 1000 € vorgesehen, wurde aber nicht umgesetzt.
Im Jahr 2006 einigten sich SPÖ und ÖVP im Koalitionspakt auf einen einheitlichen Mindestlohn in der Höhe von 1.000 €. Die Sozialpartner WKÖ und ÖGB trafen im Juli 2007 eine Vereinbarung zur Umsetzung bis 1. Januar 2009; allerdings nicht durch Generalkollektivvertrag, sondern durch die Kollektivverträge in den Branchen. Nur wenn bis 2009 die Umsetzung nicht erfolgt ist, kommt der Generalkollektivvertrag für alle Bereiche die durch WKÖ und ÖGB abgedeckt werden. Die freien Berufe (z. B. Zahnarzthelferin) bilden nach wie vor eine Lücke. Durch die Einigung der Sozialpartner ist ein gesetzlich geregelter Mindestlohn unwahrscheinlicher geworden. (siehe Vereinheitlichung des Kollektivvertrages).
Das im Rahmen von Kollektivverträgen vereinbarte niedrigste Einkommen der verschiedenen Branchen war von 1.000 € im Jahr 2008 auf 1.300 € im Jahr 2010 gestiegen. In etlichen Branchen mit einer Abdeckung von etwa 80 % ist er seit 2014 bei 1.500 €. Die österreichischen Gewerkschaften möchten ihn seit Mitte des Jahres 2015 auf 1.700 € anheben.
Polen
Der Mindestlohn in Polen beträgt 2022 3.010 PLN (643 Euro). Für 2023 liegt der Mindestlohn bei 3.490 PLN (ca. 745 Euro). Ab Januar 2024 soll er 4.242 PLN (ca. 950 Euro) betragen und im Juli 2024 erneut erhöht werden.
Schweiz
In der Schweiz können Mindestlöhne nur im Rahmen von Gesamtarbeitsverträgen (GAV) oder bundesrechtlichen Normalarbeitsverträgen allgemeinverbindlich verankert werden. Für ungelernte Angestellte in der Hauswirtschaft gilt beispielsweise ein Mindestlohn von 18,90 CHF. Etwa 60 % der Lohnabhängigen sind nicht über Mindestlöhne abgesichert.
Der Schweizerische Gewerkschaftsbund (SGB) forderte 2008 einen Mindestlohn von 3550 Schweizer Franken (nach damaligem Kurs etwa 2'250 €). Dies gilt als das Existenzminimum für eine alleinerziehende Person mit einem Kind. Am 18. Mai 2014 scheiterte die Mindestlohn-Initiative des SGB an der Urne; die Abstimmenden lehnten einen Mindestlohn von 22 CHF (nach damaligem Kurs etwa 18,50 €) mit einer großen Mehrheit von 76,3 % ab.
Kantone
Am 27. November 2011 haben die stimmberechtigten Bürger des französischsprachigen Kantons Neuenburg mit 54,6 % einem gesetzlichen Mindestlohn zugestimmt; somit ist Neuenburg der erste Kanton mit einem in der Verfassung verankerten Mindestlohn. Zudem stimmten am selben Tag die Bürger der französischsprachigen Kantone Genf und Waadt über eine Aufnahme des Mindestlohns in ihre Verfassungen ab. Der Kanton Genf stimmte mit 54,2 %, die Waadt mit 51,1 % gegen einen Mindestlohn.
Der Kanton Jura war der zweite Schweizer Kanton, der einen Mindestlohn einführte. Bereits 2013 war eine Volksinitiative mit 54,2 % Ja-Stimmen angenommen worden. Nachdem das Bundesgericht 2017 den Neuenburger Mindestlohn als bundesrechtskompatibel einstufte, verabschiedete das Jura-Kantonsparlament einen Mindestlohn von 20 Franken.
Der Kanton Tessin hat 2015 einer kantonalen Volksinitiative zur Einführung eines Mindestlohns (19 Franken pro Stunde ab 2021) zugestimmt, der aber nach Branchen festgesetzt werden soll.
Im September 2020 hat der Kanton Genf mit 58,2 % eine Volksinitiative für einen kantonalen Mindestlohn von 23 Franken pro Stunde angenommen.
Spanien
Der spanische Mindestlohn wurde noch unter Diktator Francisco Franco 1963 eingeführt und zuletzt 1980 umgebaut. Jeweils in der letzten Woche eines Jahres verkündet die spanische Regierung nach freiwilliger Konsultation der Gewerkschaften und Arbeitgeber den ab 1. Januar des Folgejahres geltenden Mindestlohnsatz. Sollte es ihr notwendig erscheinen, kann die Regierung auch eine zweite Anpassung des Salario Mínimo Interprofesional genannten Mindestlohns in einem Jahr veranlassen.
Der Mindestlohn ist in Spanien der Maßstab für eine Reihe weiterer Regelungen, darunter das nationale Arbeitslosengeld, das Eingliederungsgeld nach längerer Arbeitslosigkeit oder Abfindungen bei vorzeitiger Auflösung eines Arbeitsvertrages. Dies macht ihn zu einem wichtigen politischen Instrument, auch wenn er durch seine Gültigkeit für nur 0,77 % der Arbeitskräfte in Spanien aufgrund seiner relativ geringen Höhe von 37,7 % des nationalen Durchschnittseinkommens keine große wirtschaftliche Bedeutung genießt.
In Spanien ist der gesetzlich vorgeschriebene Mindestlohn (Salario mínimo interprofesional, kurz: SMI) das, was ein Arbeitender unabhängig von seinem Beruf und seiner Tätigkeit verdienen soll und wird in Beträgen pro Tag, pro Monat oder pro Jahr angegeben. Er wird jährlich in dem Boletín Oficial del Estado (BOE) veröffentlicht.
Im Februar 2023 wurde der Mindestlohn rückwirkend zum 1. Januar 2023 auf 1.080 Euro im Monat erhöht (bei 14 Monatsgehältern im Jahr).
2011 erhielten mehr als 30 % der in Spanien niedergelassenen Bürger den Mindestlohn. Im Dezember 2011 wurde der Mindestlohn erstmals seit seiner Einführung von der Regierung unter Mariano Rajoy für ein Jahr eingefroren.
Südkorea
Zum 1. Januar 2018 wurde der Mindestlohn um 16,4 % angehoben. Im Juli 2018 beschloss eine Kommission, ihn zum 1. Januar 2019 um 10,9 % auf 8.350 Won (6,30 Euro) anzuheben. Moon Jae-in hatte vor seiner Wahl zum Staatspräsidenten angekündigt, den Mindestlohn in den fünf Jahren seiner Amtszeit auf 10.000 Won zu steigern.
Tschechien
Der Mindestlohn in Tschechien beträgt 2023 17.300 CZK (ca. 716 Euro).
Türkei
Der Mindestlohn in der Türkei für das Jahr 2021 wurde mit 3.577,50 Türkische Lira brutto (rund 375 Euro) bzw. 2.825,90 Lira netto (etwa 296 Euro) pro Monat festgelegt.
2022 wurde der Mindestlohn zum Jahresanfang und dann erneut zum 1. Juli erhöht. Er betrug im 2. Halbjahr 2022 5.500 Lira (308 Euro, Stand 26. September 2022). Zum 1. Januar 2023 stieg er auf 8.500 Lira (426 Euro, Stand 28. Dezember 2022). Zum 1. Juli 2023 wurde er auf 11.402 Lira erhöht (ca. 393 Euro, Stand 29. September 2023).
Venezuela
Der Mindestlohn im Land war während der Hyperinflation in der Zeit von 2017 bis Frühjahr 2019 mindestens 14 Mal erhöht worden und hatte im Mai 2019 einen Gegenwert von zirka 7 Dollar pro Monat.
Vereinigtes Königreich
1999 führte die Labour-Regierung unter Premierminister Tony Blair einen gesetzlichen Mindestlohn (National Minimum Wage) ein. Laut dem Bericht der britischen Low Pay Commission von 2006 gibt es 1,3 Millionen Menschen in Großbritannien, die für den Mindestlohn arbeiten. Niedrigere Mindestlöhne existieren jedoch für unter 23-Jährige sowie für ältere Angestellte während der ersten sechs Monate in einem neuen Job, wenn gleichzeitig eine Weiterbildungsmaßnahme belegt wird. Die Mindestlöhne betragen seit April 2023:
£ 10,42 (11,94 €) ab 23 Jahren,
£ 10,18 (11,67 €) (21 bis 22 Jahre),
£ 7,49 (8,58 €) (18 bis 20 Jahre),
£ 5,28 (6,05 €) (unter 18 Jahren),
£ 5,28 (6,05 €) (Auszubildende).
Die Low Pay Commission übt wesentlichen Einfluss auf die Mindestlohngestaltung aus; sie ist unabhängig und besteht aus je drei Vertretern der Wirtschaft, der Wissenschaft und der Gewerkschaften. Sie gibt jährlich, zumeist im März, einen Bericht heraus, in dem umfassend die Wirkungen des Mindestlohns auf die Gesamtwirtschaft und den Niedriglohnsektor untersucht werden, und Empfehlungen für die künftige Höhe des Mindestlohnes, auf Grundlage derer dann die Regierung zum Oktober eines jeden Jahres eine Wertanpassung vornimmt.
Die Untersuchung von Metcalf 2007 kommt zu dem Ergebnis, dass derzeit einer von zehn Beschäftigten davon betroffen ist und nach der Einführung des Mindestlohns in Großbritannien sich das reale und relative Lohnniveau im Niedriglohnbereich erhöht sowie die Lohnunterschiede zwischen Männern und Frauen sich verringert haben. Auf unterschiedliche Weise angestellte Analysen lassen indes keine oder nur geringfügige Auswirkungen auf das gesamte Beschäftigungsniveau erkennen, es sei denn auf die Anzahl der geleisteten Arbeitsstunden. Mutmaßlich wurde befürchteten negativen Beschäftigungseffekten entgegengewirkt durch die Arbeitsmarkt-Friktionen, Einkommensteuerfreibeträge, die Nichteinhaltung von gesetzlichen Vorschriften, Produktivitätsverbesserungen, Preiserhöhungen und Profitreduktionen. In einer neueren Beurteilung des britischen Modells wird die vergleichsweise günstigere Arbeitsmarktentwicklung nicht auf die erfolgte Arbeitsmarktflexibilisierung, sondern auf die im Vergleich zur Eurozone günstiger gestalteten institutionellen Rahmenbedingungen für makroökonomisches Handeln zurückgeführt.
Vereinigte Staaten
In den USA existiert seit 1938 ein gesetzlicher Mindestlohn. Er wurde damals mit einem Wert von 0,25 US-Dollar pro Stunde eingeführt und seitdem regelmäßig erhöht; seine stärkste Kaufkraft bestand im Jahr 1968 mit 1,60 Dollar pro Stunde, was auf Preise des Jahres 2013 umgerechnet 10,70 Dollar entsprach. Seit Juli 2009 beträgt die Höhe des amerikanischen Mindestlohns 7,25 US-Dollar. Ein niedrigerer Betrag von 2,13 US-Dollar (tipped wage) kann gezahlt werden, wenn ein Trinkgeld zu erwarten ist, wobei der Arbeitgeber den Lohn gegebenenfalls bis zum gesetzlichen Mindestlohn aufstocken muss.
Am 13. Februar 2014 hat Barack Obama den Mindestlohn für Beschäftigte, deren Arbeitgeber auf Vertragsbasis für die Regierung tätig sind per Dekret von 7,25 auf 10,10 US-Dollar angehoben. Gültig ist dieser Mindestlohn für solche Arbeitsverträge ab 1. Januar 2015.
Die Bundesregierung gibt mit ihren Regelungen einen nationalen Mindestlohn vor, von dem die Bundesstaaten nach oben hin abweichen können. Eine große Zahl der Bundesstaaten haben bislang von der Möglichkeit zur selbständigen Erhöhung des Mindestlohns Gebrauch gemacht, in einigen Staaten haben auch Städte eigene Mindestlohnregelungen erlassen. Den höchsten gesetzlichen Mindestlohn in den USA hat San Francisco in Kalifornien mit 10,55 Dollar seit Januar 2013. Obwohl der Mindestlohn in der Politik als zwischen den beiden Parteien umstrittenes Thema wahrgenommen wird, haben 2014 die Wähler in vier als besonders republikanisch geltenden Staaten in Volksabstimmungen eine teilweise erhebliche Erhöhung des Mindestlohns beschlossen: Betroffen waren South Dakota, Arkansas, Nebraska und Alaska. 2012 haben 1,15 % aller Amerikaner bzw. 3,6 Millionen zum Mindestlohn oder darunter gearbeitet. 1,6 Millionen haben den Mindestlohn erhalten, während ca. 2,0 Millionen darunter lagen. Letzteres ist auf Ausnahmen vom Mindestlohngesetz und die Beschränkung des Gesetzes auf pro Stunde entlohnte Arbeitnehmer zurückzuführen.
Die 2010 veröffentlichte Untersuchung „Minimum Wage Effects Across State Borders“ des Arbeitsmarkt-Forschungszentrums an der University of California in Berkeley kam zum Ergebnis, dass höhere Mindestlöhne in den USA in den vergangenen 16 Jahren zu keinem Verlust an Arbeitsplätzen geführt haben.
Der Bundesstaat New York hat einen Mindestlohn von 15 US-Dollar beschlossen. Er gilt ab dem 1. Januar 2019 für alle Unternehmen mit mindestens elf Mitarbeitern, seit dem 1. Januar 2020 auch für kleinere Unternehmen.
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IAB InfoSpezial. Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung zum Thema Mindestlohn mit Veröffentlichungen, Forschungsprojekten, Institutionen und weiterführenden Links
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Kommentare zu der Studie von Arbeitsmarkt- und Ökonometrie-Experten
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Studie der IHK Berlin zu den Auswirkungen des Mindestlohns in der deutschen Hauptstadt
Einzelnachweise
Arbeitsmarktpolitik
Arbeitsentgelt
Sozialpolitik
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Q186228
| 115.834969 |
1046598
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https://de.wikipedia.org/wiki/Al-F%C4%81r%C4%81b%C4%AB
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Al-Fārābī
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Abū Nasr Muhammad al-Fārābī (, kurz al-Fārābī (gelegentlich auch Fārābī) oder Alfarabi, latinisiert Alpharabius oder Avenassar; geboren vermutlich um 872 in Otrar, Siebenstromland; gestorben 950 zwischen Aschkelon und Damaskus, Syrien) war ein arabischsprachiger Philosoph und Gelehrter aus Zentralasien.
Leben
Vor allem über al-Fārābīs Kinder- und Jugendzeit bieten sowohl schriftlich-dokumentarische als auch schriftlich-erzählende Quellen keine eindeutigen Fakten. Sein Geburtsort war als Sohn eines Generals möglicherweise Wāsidsch, eine kleine Festung im Distrikt Fārāb an der Nordgrenze Transoxaniens oder die Region Faryab im heutigen Afghanistan. Über seine ethnische Herkunft aus Zentralasien finden sich in den – zeitlich viel späteren und größerenteils nicht direkt verlässlichen – biographischen Quellen unterschiedliche Angaben, u. a. eine iranische, turkestanische oder türkische Abstammung, wobei die Forschungsliteratur größerenteils letztere für wahrscheinlicher oder ein abschließendes Urteil für unbegründbar hält. Al-Fārābī gibt an, dass einer seiner philosophischen Lehrer der nestorianische Christ und Anhänger der alexandrischen Schule Yuḥanna ibn Ḥaylān (gest. um 920) war. Da dieser 908 nach Bagdad übersiedelte, wird angenommen, dass auch al-Fārābī spätestens ab diesem Zeitpunkt sich dort aufhielt. Ferner hatte al-Fārābī Verbindungen zu Abū Bišr Mattā ibn Yūnus, einem Übersetzer und Kommentator der Bagdader Schule christlicher Aristoteliker. Ab 942 lebte al-Fārābī dann in der Gefolgschaft des späteren Hamdanidenfürsten Saif ad-Daula meist in Aleppo. Im Jahre 950 soll er laut der legendarisch gefärbten Darstellung al-Bayhaqīs (ca. 1097–1169) als Begleiter von Saif ad-Daula auf dem Weg zwischen Damaskus und Asqalān von Straßenräubern erschlagen worden sein.
Über al-Fārābīs Leben in Baghdad ist nicht viel bekannt. Es existieren allgemein viele Anekdoten über sein Leben, die ihn als weltabgewandten Gelehrten präsentieren. So existiert z. B. ein Bericht über al-Fārābīs angebliche nächtliche Wächtertätigkeit in einem Baghdader Garten, da er in der Nacht die benötigte Ruhe zum Denken gefunden habe. Anekdoten über seine Auftritte als Musiker stellen ihn als musikalischen Verführer von Menschengruppen dar, die von al-Fārābī „verzaubert“ wurden, so z. B. gegen ihren Willen in den Schlaf gespielt etc. Der Wahrheitsgehalt dieser Anekdoten ist denn auch eher kritisch zu sehen, obwohl bestimmte Punkte der Realität entsprochen haben mögen. Dies lässt sich aber nicht überprüfen, da al-Fārābī, im Gegensatz zu anderen prominenten Zeitgenossen, keine Autobiographie verfasste und ebenfalls seine Schüler nicht über sein Leben berichteten.
Werk
Er beschäftigte sich mit Logik, Ethik, Politik, Mathematik, Philosophie und Musik. Er kannte unter anderen philosophische Werke von Aristoteles (nebst einigen wichtigen Kommentaren) und Platon, die ihm bereits in persischer oder arabischer Übersetzung vorlagen, und trieb auch die Übersetzung weiterer Texte voran.
Er war der Ansicht, dass die Philosophie nunmehr in der islamischen Welt ihre neue Heimat gefunden habe. Philosophische Wahrheiten hielt er für universell gültig und betrachtete die Philosophen als Propheten, die zu ihren Erkenntnissen mittels göttlicher Inspiration (arab. waḥy) gelangt seien.
Musikwissenschaft
Sein Kitāb al-Mūsīqā al-kabīr (Großes Buch der Musik) gilt als umfassendste und grundlegende Schrift der „irano-arabo-türkischen“ Musiktheorie und Musiksystematik. In seinen Schriften zur Musik verband er detaillierte Kenntnisse als ausübender, dem Sufismus nahestehender Musiker und sachliche Präzision als Naturwissenschaftler mit der Logik der Philosophie. Zu von ihm beschriebenen Musikinstrumenten gehören unter anderem das zitherähnliche Saiteninstrument šāh-rūd sowie die Langhalslauten Tanbur (ṭunbūr al-baghdādī und ṭunbūr al-chorassānī), womit er mittels Zeichnungen charakteristische Merkmale von Tonarten, Modi und Intervallen beschreibt.
Zentral war für al-Fārābī die Kurzhalslaute ʿūd. Von al-Fārābī selbst wird berichtet, dass er oft bei feierlichen Veranstaltungen diese Laute gespielt habe. Es existieren hierzu einige Anekdoten, die allerdings schwer belegbar sind.
Al-Fārābī begann seine bedeutendste musiktheoretische Abhandlung, das Kitāb al-mūsīqī al-kabīr, aus dem Anlass, dass die überlieferten griechischen Werke seiner Meinung nach von geringerer Qualität waren. Dies führte er auf fehlerhafte Übersetzungen zurück. Ebenso fand er bei den arabischen Musiktheoretikern Ansichten, die entweder auf Verhältnisse der arabischen Musik nicht anwendbar waren oder theoretischen Hintergrund vermissen ließen. So hatte z. B. al-Kindī griechisches Theoriegut auf die arabische Musik übertragen. Al-Kindī selbst fehlten aber praktische Kenntnisse der Musik, um die mangelnde Anwendbarkeit griechischer Musiktheorie auf den vorderen Orient feststellen zu können. Er übernahm einen Großteil griechischen Vokabulars aus einem großen Bereich wissenschaftlicher Disziplinen, grenzte aber die griechische Musiktheorie in bestimmten Punkten von der Musik des Orients ab.
Al-Fārābī grenzt die philosophische Theorie der Musik von der Akustik ab. Er gliedert das Handwerk der Musik in 3 Künste. Die Kunst (fann) Sawa, die erste dieser Künste, ist die Kenntnis der Theorie wie der Akustik, der Intervallslehre, von Melodie und Rhythmus. Die Griechen hatten sich seiner Meinung nach nur auf diese Kunst beschränkt. Die zweite Kunst ist nach al-Fārābī die Kenntnis der Instrumente und das Hervorbringen von Tönen auf denselben, also das Erlernen des Spielens eines Instruments als Verbindung von Theorie und Praxis. Al-Fārābī nimmt hierbei besonderen Bezug auf Kurzhals- und Langhalslauten, Flöte aus Pfahlrohr (nay), arabische Oboe (mizmar) und Harfe (tschang) sowie einige weitere Instrumente. Die dritte Kunst behandelt die Theorie der Komposition an sich. Hierbei geht al-Fārābī auf Konsonanz und Dissonanz ein und behandelt Melodie und Rhythmus. Der die Melodie behandelnde Teil seines Werkes ist für den Laien teils schwer verständlich. Der Rhythmus stellt nach al-Fārābī die Länge und die Ausdehnung der Noten dar. Al-Fārābī verwendet Anleihen bei der Geometrie Euklids zur näheren Beschreibung von Tönen. Analog zur menschlichen Sprache existiert Musik sowohl in rhythmischer, „poetischer“, Form als auch in nicht-rhythmischer Form. Letztere zeichnet sich dadurch aus, dass die einzelnen Töne keine feste Länge besitzen.
Medizin
Im medizinischen Bereich zeigt sich erneut ein Kernpunkt des farabianischen Gedankengebäudes, nämlich der auch als Monarchismus bezeichnete Rückgriff auf ein zentrales, alles regelndes Element. Zur Naturwissenschaft rechnete Farabi nur die Kenntnis der Körperteile, die Arten der Gesundheit und die Arten der Krankheit. Die anderen vier Teile (Diagnose, Kenntnis der Medikamente und Nahrungsmittel, Prophylaxe und Therapie) stellte er auf dieselbe Stufe wie die Kochkunst oder das Schmiedehandwerk. Al-Fārābīs Ansichten zur Medizin beruhen auf einer Verteidigung der aristotelischen Lehre gegenüber der Lehre Galens. Ziel al-Fārābīs war es hierbei eine strenge Trennung der Philosophie von der Medizin vorzunehmen, da letztere aus al-Fārābīs Sicht nicht den hohen Standards der Philosophie und Logik entsprach. Galen hingegen betrachtete Medizin als untrennbar mit der Philosophie verbunden. In seiner Kritik Galens verwirft al-Fārābī dessen Annahme mehrerer den Körper steuernder Organe. Gemäß al-Fārābīs Analogie zwischen dem Aufbau des Universums und dem Aufbau der Details kann es nur ein herrschendes Organ geben, das den körperlichen Kreislauf reguliert. Für al-Fārābī entspricht dieses Organ dem Herzen, da das Herz über den Arterien den Körper mit Nährmitteln versorgt. Ebenso wird über das Herz die geistige Ineinanderwirkung mit dem Körper bewerkstelligt, denn das Herz ist, Aristoteles folgend, der Sitz der Seele, wohingegen das Gehirn nach aristotelischer Vorstellung irrelevant ist.
In Hinblick auf die Medizin verwirft al-Fārābī den Weg empirischer Erkenntnis, um zu einem neuen Verständnis des Körpers zu gelangen. So lehnt er die Sektion von Leichen mit Verweis auf die Logik der ersten und zweiten Analytiken des Organons Aristoteles hatte, wie ebenfalls Galen, die Annahme vertreten, dass verschiedene Nervenstränge zum Gehirn führen. Aristoteles sah hier einen Sinn, der die fünf von ihm postulierten Sinne regierte. Dies wurde aber von al-Fārābī nicht rezipiert.
Kosmologie
Al-Fārābīs System des Universums fußt fest in der Intellektlehre des Neuplatonismus, der sich zu seiner Zeit bereits in der islamischen Philosophie etabliert hatte. Bedeutender Vorläufer war hierbei al-Kindī, obwohl das Bewegungslehre-Modell (kinematisches Modell) al-Fārābīs als Synthese aus Aristoteles, dem ptolemäischen Weltbild und dem Neuplatonismus, keine Vorläufer in arabischer oder griechischer Geschichte hatte. Kernpunkt ist hierbei das auf dem Wissenstand der antiken Astronomie erbaute geozentrische Weltbild, welches die Erde in den Mittelpunkt des Universums rückt und die Planeten und Himmelskörper um die Erde kreisen lässt. Dabei bewegen sich die Himmelskörper in Sphären, die jeweils in Interaktion miteinander stehen. So sind zum Beispiel die Planeten des Sonnensystems jeweils einer Sphäre zugeordnet. Aristoteles vertrat die Auffassung, dass die Sphären jeweils von Bewegern bewegt würden, in der islamischen Philosophie wurde der Begriff Beweger durch den des Intellektes ersetzt. Gott ist hierbei seit Aristoteles der erste unbewegte Beweger, der alle anderen Sphären in Gang setzt.
Die Intellektlehre al-Fārābīs ist eine Spielart der neuplatonischen Emanationslehre, die vom Ausfluss des Göttlichen in die niederen Sphären ausgeht. Der Intellekt geht aus Gott hervor, der als reines Geistwesen gedacht wird, und durch das Selbsterkennen Gottes entsteht in einer Art Spiegelungsprozess eine weitere Sphäre. Durch den weiteren Ausfluss des Göttlichen in niederere Sphären entstehen die Himmelssphäre, die selbst keine Sterne enthält und die anderen Sphären. Es folgt die Sphäre der Fixsterne, die von al-Fārābī als fest in ihrer Stellung im Himmel angesehen werden. Absteigend folgen die Sphären der Planeten des Sonnensystems, beginnend bei Saturn, zur Erde hin, wobei dem Mond eine eigene Sphäre zugeordnet wird. Der Mond repräsentiert die Trennlinie zwischen himmlischer und irdischer Welt. Unterhalb des Mondes finden sich die Elemente (Feuer, Wasser etc.) in Reinform. All diese Sphären entsprechen jeweils einem Intellekt und sind hierarchisch nach ihrer Erhabenheit geordnet. Der Unterschied zu Aristoteles besteht darin, dass Aristoteles pro Sphäre zwei „Beweger“ annimmt, einen für das Gestirn selbst und einen für die Bewegung der Sphäre, wohingegen al-Fārābī nur einen Intellekt pro Sphäre annimmt. Al-Fārābīs Erklärung der Bewegung der einzelnen Sphären ist unklar.
Es existieren mehrere mögliche Modelle, die sich entweder an Aristoteles zwei Bewegern pro Sphäre orientieren oder nur einen Beweger annehmen. Janos nimmt an, dass al-Fārābī von einem Intellekt pro Sphäre ausgeht, der durch Emanation die Bewegung der Sphäre in Gang setzt. Die Kreisbewegungen der einzelnen Sphären rufen die Entstehung der Materie hervor. Der zehnte Intellekt bedingt hierbei die Gestaltung der Erde selbst. Er ist gleichzusetzen mit dem aktiven Intellekt des Aristoteles, zu dem der Mensch im Stande ist Kontakt aufzunehmen. Neu bei al-Fārābī ist, dass die Materie als notwendige Voraussetzung angesehen wird, um den Intellekt in der niederen Welt zu realisieren. Die Materie wird im Gegensatz etwa zu al-Kindī nicht als etwas Böses, zu Überwindendes betrachtet. Laut al-Fārābī ist die Idee der Materie bereits in Gott enthalten und kann somit nicht selbst böse sein, da Gott selbst als uneingeschränkt gut verstanden wird.
Al-Fārābī verbindet seine kosmologische Lehre mit der Deutung religiös überlieferter Wundergeschehnisse. Er sieht die Ursache von Wundern in der Sphärenwelt. Diese bewirkt selbst einzelne Wunder, ein Mensch, der Verbindung mit dieser Welt aufgenommen hat, ein Prophet, kann ihre Kräfte aber ebenfalls für sich nutzen und Wunder bewirken.
Menschliches Denken und Wissenschaften
Dem Menschen ist es grundsätzlich möglich, mit dem zehnten Intellekt Verbindung aufzunehmen, allerdings geht al-Fārābī davon aus, dass dies einigen wenigen begabten Personen, den Philosophen oder den Propheten, vorbehalten bleibt, welche nichtsdestoweniger als nacheifernswertes Ideal für den Rest der Menschheit gelten. Das menschliche Denkvermögen teilt al-Fārābī denn auch gemäß der Intellekttheorie auf. Von al-Kindī übernimmt er den potenziellen Intellekt, welcher der Möglichkeit zum Denken entspricht. Al-Fārābī ergänzt den aktuellen Intellekt, den zur Abstraktion fähigen und mit Wissenschaft vertrauten Denkenden sowie den erworbenen Intellekt, der in der Lage ist, die Existenz der himmlischen Intellekte zu erkennen. Der aktive Intellekt schließlich entspricht dem zehnten kosmischen Intellekt. Dieser Intellekt stellt auch die Möglichkeit zur Glückseligkeit des Menschen dar.
Al-Fārābīs Ansichten über Wissenschaft sind ähnlich seinen übrigen Vorstellungen vom Rückgriff auf hierarchische Elemente durchzogen.
Zentrale Autorität ist für al-Fārābī im Bereich der Philosophie die Lehre der athenischen Philosophie mit ihren Begründern und zentralen Figuren Platon und Aristoteles, deren Lehrmeinung für al-Fārābī in allen zentralen Fragen autoritativ ist. Al-Fārābī sieht in der athenischen Philosophie den Ausgangspunkt der philosophischen Bewegung, welche für ihn stets eine Bewegung bleibt. Eine Aufgliederung in Schulen mit verschiedenen Lehrmeinungen hält er für unzulässig. In philosophiehistorischer Hinsicht ist die Philosophie gemäß al-Fārābī von den alten Griechen zu den Arabern übergegangen.
Al-Fārābīs Urteil über die einzelnen Gegenstandsbereiche des menschlichen Wissens und die Möglichkeit, in diesen Bereichen Erkenntnis zu gewinnen, ist denn auch stark von Aristoteles beeinflusst. Al-Fārābī entwickelt eine eigene Theorie des menschlichen „Nachdenkens“. Dieser zufolge kommen die Menschen überein, bestimmte Gegenstände mit einem wiederholt verwendeten Begriff zu bezeichnen. Hierdurch entsteht die menschliche Sprache. Der Mensch beginnt anschließend Poesie und Prosa zu unterscheiden, nimmt dann eine Unterscheidung von normaler Prosa und Rhetorik vor und unterscheidet ebenfalls beide von der Grammatik. Die Grammatik dient dazu, ein Ordnungssystem in der Sprache zu etablieren. In der weiteren Entwicklung wird der Mensch befähigt, mathematische und physikalische Schlüsse zu entwickeln. Als Höhepunkt des menschlichen Denkens betrachtet al-Fārābī die Logik der Philosophie, insbesondere Aristoteles’ Organon. Hier findet sich die Möglichkeit zum Beweis einer Ansicht gegeben.
Die Kategorienlehre des Organon stellt für al-Fārābī die Grundlage des menschlichen Denkens dar. Die verschiedenen syllogistischen Schlussformen des Organon entsprechen für al-Fārābī jeweils einer Wissenschaft. Jedem Schlusstyp wird eine bestimmte Stufe von Wahrheitsfähigkeit zugebilligt. Der demonstrative Schluss ist der der Philosophie, welche dem Menschen ermöglicht, die Welt mittels des eigenen Verstandes zu erkennen, der dialektische Schluss der der Theologie, Rechtslehre und Sprachwissenschaft. Da diese stets nur von einigen Kulturen anerkannt wird, entspricht sie nicht mehr den hohen Standards der Philosophie. Der rhetorische Schluss und der von al-Fārābī hinzugefügte poetische Schluss sind nicht einmal mehr wissenschaftlich, sondern dienen der Religion, welche das Ziel verfolgt, mittels anschaulicher Gleichnisse unverständigen Personen Wahrheiten näher zu bringen, die ihnen aufgrund ihres mangelnden Verstandes sonst nicht zugänglich wären.
In Hinblick auf die islamische Religion selbst plädiert al-Fārābī an vielen Stellen für eine symbolische oder allegorische Interpretation des Koran. So sieht er z. B. die jenseitige Sanktionierung des diesseitigen Verhaltens als eine nur den Geist betreffende Angelegenheit, da nur der Geist zur Empfindung fähig sei.
Al-Fārābīs Modellstaat
Angelehnt an Platons Politeia entwarf al-Fārābī ein eigenes utopisches Staatsmodell, al-madīna al-fadila, die Idealstadt. Hierunter ist aber, in Abgrenzung zu Platon, nicht eine konkrete Stadt, wie die griechische Polis, sondern eher eine mehrere solche Gemeinschaften umfassende politische Einheit zu verstehen. In Analogie zu seinem kosmischen Ordnungsprinzip, welches Gott als Lenker der Welt vorsieht, soll al-Fārābīs Idealstaat von einem Philosophenkönig gelenkt werden, der aber zugleich als Prophet tätig ist, um erkannte Wahrheiten in Form von Gleichnissen vermitteln zu können, die ansonsten unverständlich blieben.
In al-Fārābīs Abhandlung zeigt sich eine deutliche Absetzung vom orthodoxen Islam seiner Zeit. So sieht er nicht die islamische Gesellschaft als alleinig befähigt an, den Zustand des idealen Staates zu erreichen, sondern gesteht dies grundsätzlich allen Völkern zu. Dies geht einher mit seiner Theorie der Prophetie, die in religiösen Symboliken nur Gleichnisse für die der Erkenntnis der Welt mittels Philosophie nicht Befähigten sieht. Die wirkliche Tugendhaftigkeit ist aber prinzipiell unabhängig von Religion möglich. Da religiöse Wahrheiten nicht logisch belegt sind, können sie für sich nicht denselben Wahrheitsgehalt beanspruchen, wie geistige Erkenntnisse, zu denen der Philosophenherrscher aufgrund seiner Verbindung mit dem aktiven Intellekt gelangte. Religiöse oder soziale Normen dienen letztlich zur Aufrechterhaltung der gesellschaftlichen Stabilität. Sie müssen aber stets der Kontrolle des Philosophen und damit der Kontrolle der Logik unterliegen, da nur diese in der Lage ist zentrale Wahrheiten zu erkennen, welche bei al-Fārābī z. B. gleichzusetzen sind mit den Annahmen, dass das Glück das Ziel des Lebens ist oder auch mathematische Wahrheiten, wie dass 2>1. Al-Fārābīs Modellstaat weist deutliche Anleihen an Platon auf. So ordnet er ebenfalls jedem Einzelnen Aufgaben gemäß seinen Fähigkeiten zu, die ehrbarste Aufgabe kommt aber dem Herrscher zu, welcher wissend und gerecht sein muss und in Kontakt mit dem Aktiven Intellekt. Der Philosophenherrscher muss, vergleichbar Platon, in wissenschaftlichen Erkenntnissen geschult sein, muss aber ebenso moralische und persönliche Qualitäten aufweisen. Al-Fārābī betont aber auch, dass es fast unmöglich ist, eine solche Person zu finden, sodass man die Herrschaft im Zweifelsfalle lieber mehreren Personen übertragen solle.
Al-Fārābī unterscheidet mehrere „Idealtypen“ eines Staates, wobei dem das Individuum umgebenden Staatsgebilde eine wesentliche Funktion in Hinblick auf dessen künftiges Heil zukommt. Da die Glückseligkeit bei al-Fārābī an Erkenntnis gebunden ist und die Bewohner des idealen Staates unter einem Herrscher leben, der Zugang zur göttlichen Wahrheit besitzt und diese vermitteln kann, haben die Bewohner des Idealstaates eine größere Wahrscheinlichkeit nach ihrem Tod ins Paradies zu gelangen. Al-Fārābī kommentiert ebenfalls den unmoralischen Staat. Dieser fußt zu einem Gutteil auf der mangelnden Moralität der Herrschenden. Seine Bewohner gehen der Glückseligkeit abhanden und werden nach ihrem Tod mit höherer Wahrscheinlichkeit in die Hölle gelangen. Im unwissenden Staat hingegen besteht die Möglichkeit, dass Seelen nach dem Tode zergehen, da die Bewohner dieses Staates nicht für ihre Unwissenheit verantwortlich gemacht werden könne und es somit ungerecht wäre, sie nach dem Tode zu bestrafen.
Rezeption
In der Wissenschaftsgeschichte des Islams wird al-Fārābī als „Zweiter Lehrer“ nach Aristoteles gesehen. Neben al-Kindī, ar-Rāzi, Avicenna und al-Ghazali ist al-Fārābī einer der wichtigsten Vertreter der islamischen Philosophie. Er gehört mit zu den herausragenden und umfassenden Denkern des 10. Jahrhunderts und gilt als größter Theoretiker der arabisch-persischen Musikgeschichte. Es war auch sein Verdienst, dass die griechische Philosophie ihren Weg in das Morgenland fand. Seine Werke wurden über Jahrhunderte immer wieder herangezogen und intensiv diskutiert. Besondere Wirkung, auch in hebräischen und lateinischen Übersetzungen des 11. und 12. Jahrhunderts, entfaltete sein wissenschaftstheoretisches Grundlagenwerk Kitāb Iḥṣāʾ al-ʿulūm (Buch über die Einteilung der Wissenschaften). Moses ibn Tibbon aus der Übersetzerfamile Ibn Tibbon übersetzte einige seiner Werke ins Hebräische. Wie in ähnlichen Fällen großer Gelehrter wurde al-Fārābī gelegentlich vereinnahmt, was z. B. die Zurechnung zur jeweils eigenen Ethnie betrifft.
Ebenso berief sich insbesondere Avicenna auf ihn. Avicennas kosmologisches Modell scheint stark von al-Fārābī beeinflusst zu sein. Ebenso scheint die metaphorische Betrachtung einzelner Reden im Koran bei Avicenna (z. B. die Metapher des göttlichen Thrones) auf al-Fārābīs „Methode“ der Koranauslegung zurückzugehen. Das aristotelische Organon erlangte durch Fārābī einen über Jahrhunderte dominierenden Status in der islamischen Theologie.
Es finden sich aber auch weiterreichende Rezeptionsvorgänge der farabianischen Philosophie, so z. B. in der schiitischen Mystik. Die Lauteren Brüder von Basra scheinen, von Fārābīs Intellekttheorie beeinflusst, diese mit mystischem Erlösungsstreben verbunden zu haben. Die direkte Schule al-Fārābīs bestand vor allem aus den arabischen Christen Yaḥyā ibn ʿAdī, Abū Sulaimān as-Siǧistānī, Yūsuf al-ʿĀmirī und Abū Haiyan at-Tauhidī. Der Kritiker der Philosophen, al-Ġazālī, bezog in seine Verurteilung der Philosophie auch Fārābī ein.
Schriften
Schriften zur Musik
Kitāb Iḥṣāʾ al-īqāʿāt (Buch der Klassifikation der Rhythmen)
Übers. E. Neubauer: Die Theorie vom Īqā, I: Übersetzung des Kitāb al-īqā‘āt von Abū Nasr al-Fārābī’, in: Oriens 34 (1994), S. 103–73.
Kitāb fi ’l-īqāʿāt (Buch über Rhythmen)
Übers. E. Neubauer: Die Theorie vom Īqā, I: Übersetzung des Kitāb al-īqā‘āt von Abū Nasr al-Fārābī’, in: Oriens 21-22 (1968–9), S. 196–232.
Kitāb Iḥṣāʾ al-ʿulūm (Buch über die Einteilung der Wissenschaften)
Kitāb al-Mūsīqā al-kabīr (Das große Buch der Musik; )
hrsg. G.A.M. Khashaba, Kairo 1967
Übers. R. d’Erlanger: La musique arabe, Bd. 1, Paris 1930, S. 1–306 und Bd. 2 (1935), S. 1–101.
Philosophische und theologische Schriften
Kitāb Iḥṣāʾ al-ʿulūm (Buch der Klassifikation der Wissenschaften)
A. González Palencia (Hrsg.): Catálogo de las Ciencias (Textedition, lateinische und spanische Übersetzung), Madrid: Imprenta y Editorial Maestre 2. A. 1953.
Al-Fārābī: Über die Wissenschaften. De scientiis. Nach der lateinischen Übersetzung Gerhards von Cremona. Mit einer Einleitung und kommentierenden Anmerkungen herausgegeben und übersetzt von Franz Schupp. Felix Meiner, Hamburg, 2005.
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Weblinks
Primärtexte
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Lateinische Texte zur Musik im Thesaurus Musicarum Latinarum
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Literatur
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‘Ammar al-Talbi: Al-Farabi (englisch; PDF; 80 kB)
Einzelnachweise
Philosoph (islamisches Mittelalter)
Neuplatoniker
Politischer Philosoph
Musiktheoretiker
Logiker
Person (Bagdad)
Geboren im 9. Jahrhundert
Gestorben 950
Mann
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Q160460
| 93.810618 |
1252
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https://de.wikipedia.org/wiki/Edelgase
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Edelgase
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Die Edelgase, auch inerte Gase oder Inertgase bilden eine Gruppe im Periodensystem der Elemente, die sieben Elemente umfasst: Helium, Neon, Argon, Krypton, Xenon, das radioaktive Radon sowie das künstlich erzeugte, ebenfalls radioaktive Oganesson. Die Gruppe wird systematisch auch 8. Hauptgruppe oder nach der neueren Einteilung des Periodensystems Gruppe 18 genannt und am rechten Rand des Periodensystems neben den Halogenen dargestellt.
Das einheitliche Hauptmerkmal sämtlicher Edelgasatome ist, dass sie für die energetisch höchsten Atomorbitale die Elektronenkonfiguration s2 (Helium) bzw. s2p6 aufweisen (Edelgaskonfiguration). Es gibt nur vollständig gefüllte Atomorbitale, die dazu führen, dass Edelgase nur unter extremen Bedingungen chemische Reaktionen eingehen; sie bilden auch miteinander keine Moleküle, sondern sind einatomig und bei Raumtemperatur Gase. Dieser geringen Reaktivität verdanken sie ihren Gruppennamen, der sich an die ebenfalls nur wenig reaktiven Edelmetalle anlehnt.
Helium ist das mit Abstand häufigste Edelgas. Auf der Erde kommt Argon am häufigsten vor; alle anderen zählen zu den seltenen Bestandteilen der Erde. Als Gase sind sie Bestandteile der Luft; in der Erdkruste findet man sie mit Ausnahme des Heliums, das in Erdgas enthalten ist, nur in sehr geringen Mengen. Entdeckt wurden sie – mit Ausnahme des erst 2006 hergestellten Oganessons – kurz nacheinander in den Jahren 1868 (Helium) bis 1900 (Radon). Die meisten Edelgase wurden erstmals vom britischen Chemiker William Ramsay isoliert.
Verwendung finden Edelgase vor allem als Schutzgas, z. B. in Glühlampen, wichtig sind sie als Füllgas von Gasentladungslampen, in denen sie in der für jedes Gas charakteristischen Farbe leuchten. Trotz der geringen Reaktivität sind von den schwereren Edelgasen, insbesondere Xenon, chemische Verbindungen bekannt. Deren wichtigste ist das starke Oxidationsmittel Xenon(II)-fluorid.
Geschichte
Einen ersten Hinweis, dass in der Luft ein unreaktives Gas enthalten ist, fand 1783 Henry Cavendish. Er mischte Luft und Sauerstoff derart, dass die darin enthaltenen Elemente Stickstoff und Sauerstoff mit Hilfe von Reibungselektrizität komplett zu Stickoxiden reagierten. Dabei blieb ein nicht reagierender Rest zurück. Er erkannte jedoch nicht, dass es sich dabei um ein neues Gas – eine Mischung aus Argon und anderer Edelgase – handelte, und setzte seine Experimente nicht fort.
Als erstes Edelgas entdeckten 1868 Jules Janssen und Norman Lockyer das Helium unabhängig voneinander. Die beiden Astronomen beobachteten – Janssen in Indien, Lockyer in England – das Sonnenspektrum und entdeckten darin eine bislang unbekannte gelbe Spektrallinie bei einer Wellenlänge von 587,49 nm. Das neue Element wurde von Edward Frankland nach für die Sonne Helium genannt. Der erste Nachweis von Helium auf der Erde gelang 1892 Luigi Palmieri durch Spektralanalyse von Vesuv-Lava.
Cavendishs Experimente zur Untersuchung der Luft wurden ab 1888 von Lord Rayleigh fortgesetzt. Er bemerkte, dass „Stickstoff“, der aus der Luft gewonnen wurde, eine andere Dichte besitzt als aus der Zersetzung von Ammoniak gewonnener. Rayleigh vermutete daher, dass es einen noch unbekannten, reaktionsträgen Bestandteil der Luft geben müsse. Daher versuchten er und William Ramsay, durch Reaktion mit Magnesium den Stickstoff aus einer Luftprobe vollständig zu entfernen und dieses unbekannte Gas zu isolieren. Schließlich gelang ihnen 1894 spektroskopisch der Nachweis eines neuen Elementes, das sie nach dem griechischen argos, „träge“, Argon benannten.
Nachdem die wichtigsten Eigenschaften von Helium und Argon bestimmt worden waren, konnte festgestellt werden, dass diese Gase im Gegensatz zu den anderen atmosphärischen Gasen einatomig sind. Dies wurde dadurch erkannt, dass das Verhältnis der molaren Wärmekapazität Cp bei konstantem Druck im Verhältnis zur Wärmekapazität CV bei konstantem Volumen bei Edelgasen einen sehr hohen Wert von 1,67 (= Cp/CV) aufweist, während zwei- und mehratomige Gase deutlich kleinere Werte aufweisen. Daraufhin vermutete William Ramsay, dass es eine ganze Gruppe derartiger Gase geben müsse, die eine eigene Gruppe im Periodensystem bilden und er begann nach diesen zu suchen. 1898 gelang es ihm und Morris William Travers, durch fraktionierte Destillation von Luft, Neon, Krypton und Xenon zu isolieren.
Als letztes der natürlich vorkommenden Edelgase wurde 1900 von Friedrich Ernst Dorn als Radium-Emanation (Ausdünstung von Radium) das Radon entdeckt und mit dem Symbol Em bezeichnet. Dabei handelte es sich um das Isotop 222Rn. Weitere Radon-Isotope wurden von Ernest Rutherford und André-Louis Debierne gefunden und zunächst für eigene Elemente gehalten. Erst nachdem William Ramsay 1910 das Spektrum und weitere Eigenschaften bestimmte, erkannte er, dass es sich um ein einziges Element handelt. Er nannte dies zunächst Niton (Nt), seit 1934 wird der Name Radon verwendet. Oganesson, das letzte Element der Gruppe, konnte nach mehreren nicht erfolgreichen Versuchen erstmals 2002–2005 am Vereinigten Institut für Kernforschung in Dubna erzeugt werden.
Es wurden schon bald nach der Entdeckung Versuche unternommen, Verbindungen der Edelgase zu synthetisieren. 1894 versuchte Henri Moissan, eine Reaktion von Argon mit Fluor zu erreichen, scheiterte jedoch. Im Jahr 1924 behauptete A. von Antropoff, eine erste Kryptonverbindung in Form eines roten stabilen Feststoffes aus Krypton und Chlor synthetisiert zu haben. Später stellte sich jedoch heraus, dass in dieser Verbindung kein Krypton, sondern Stickstoffmonoxid und Chlorwasserstoff enthalten waren.
Mit Xenonhexafluoroplatinat wurde 1962 durch Neil Bartlett erstmals eine Xenonverbindung und damit die erste Edelgasverbindung überhaupt entdeckt. Nur wenige Monate nach dieser Entdeckung folgten im August 1962 nahezu zeitgleich die Synthese des Xenon(II)-fluorids durch Rudolf Hoppe und die des Xenon(IV)-fluorids durch eine Gruppe um die amerikanischen Chemiker C. L. Chernick und H. H. Claassen. Bald darauf konnte durch A. V. Grosse die erste Kryptonverbindung dargestellt werden, die er zunächst für Kryptontetrafluorid hielt, die jedoch nach weiteren Versuchen als Kryptondifluorid identifiziert wurde. Im Jahr 2000 wurde die erste Argonverbindung, das sehr instabile Argonfluorohydrid synthetisiert.
Vorkommen
Edelgase finden sich vorwiegend in der Erdatmosphäre, in geringem Maße aber auch in der Erdkruste; ihre Häufigkeiten sind jedoch sehr unterschiedlich. Das mit Abstand häufigste ist Argon, das mit einem Volumenanteil von 0,934 % (9340 ppm) einen nennenswerten Anteil der gesamten Atmosphäre ausmacht. Alle anderen sind mit Anteilen unter 20 ppm sehr viel seltener, sie zählen daher zu den Spurengasen. Krypton, Xenon und Radon zählen zu den seltensten Elementen auf der Erde überhaupt. Helium ist außerdem Bestandteil von Erdgas, an dem es einen Anteil von bis zu 16 % am Volumen haben kann.
Ständig verlässt eine geringe Menge Helium auf Grund seiner niedrigen Dichte die Erdatmosphäre in den Weltraum und ständig werden auf der Erde Edelgase neu gebildet, was ihre Häufigkeiten und auch ihre Isotopenverhältnisse maßgeblich bestimmt. Argon, vor allem das Isotop 40Ar, wird durch Zerfall des Kaliumisotops 40K gebildet. Helium entsteht beim Alpha-Zerfall von schweren Elementen wie Uran oder Thorium (Alpha-Teilchen), Xenon beim seltenen Spontanzerfall von Uran. Das kurzlebige Radon-Isotop 222Rn mit einer Halbwertszeit von 3,8 Tagen ist das häufigste und ein Zwischenprodukt in der Zerfallsreihe von 238U. Andere, noch kurzlebigere Isotope sind ebenfalls Mitglieder der Zerfallsreihen von Uran-, Thorium- oder Neptuniumisotopen. Auf Grund dieser Zerfallsprozesse findet man die Edelgase auch in Gesteinen eingeschlossen. So findet sich Helium in vielen Uranerzen wie Uraninit und Argon im Basalt der ozeanischen Kruste, erst beim Schmelzen des umgebenden Gesteins gast es aus.
Die Häufigkeitsverteilung der Edelgase im Universum lässt sich großteils durch die Nukleosynthesewege erklären. Je schwerer ein Edelgas, desto seltener ist es. Helium, das sowohl durch primordiale Nukleosynthese gebildet wird, als auch durch stellare Nukleosynthese aus Wasserstoff entsteht, ist dabei nach Wasserstoff das zweithäufigste Element überhaupt. Auch Neon und Argon zählen zu den häufigsten Elementen im Universum. Krypton und Xenon, die nicht durch stellare Nukleosynthese entstehen und sich nur in seltenen Ereignissen wie Supernovae bilden, sind deutlich seltener. Bedingt durch ihren regelmäßigen Aufbau mit gerader Protonenzahl sind Edelgase gemäß der Harkinsschen Regel häufiger als viele ähnlich schwere Elemente.
Gewinnung
Mit Ausnahme eines Großteils des Heliums und der radioaktiven Elemente erfolgt die Gewinnung der Edelgase ausschließlich aus der Luft. Sie fallen als Nebenprodukte bei der Gewinnung von Stickstoff und Sauerstoff im Linde-Verfahren an. In der Haupt-Rektifikationskolonne, in der Sauerstoff und Stickstoff getrennt werden, reichern sich die verschiedenen Edelgase an unterschiedlichen Stellen an. Sie können aber in eine eigene Kolonne überführt und dort von allen anderen Gasen getrennt werden. Während Argon leicht abgetrennt werden kann und nur von Stickstoff und Sauerstoff befreit werden muss, besteht bei Helium und Neon, aber auch bei Krypton und Xenon das Problem, dass diese sich zunächst zusammen anreichern und anschließend getrennt werden müssen. Dies kann über eine weitere Rektifikationskolonne oder auch durch unterschiedliche Adsorption der Gase an geeigneten Adsorptionsmedien erfolgen.
Helium wird zumindest seit 1980 überwiegend aus Erdgas gewonnen. Diese Heliumquelle wurde zuerst in den Vereinigten Staaten entdeckt, später auch in der Sowjetunion genutzt, heute in wenigen weiteren Ländern und Werken, so etwa in Algerien, dessen Ausbeute tiefkalt verflüssigt im 40-Fuß-Container nach Marseille und damit Europa verschifft wird. Von den anderen Bestandteilen des Erdgases kann es als Rohhelium entweder durch Ausfrieren aller anderen Gase oder durch Permeation an geeigneten Membranen getrennt werden. Anschließend muss das Helium noch durch Druckwechsel-Adsorption, chemische oder kryotechnische Verfahren von restlichen störenden Gasen wie Stickstoff oder Wasserstoff befreit werden.
Radon lässt sich auf Grund der kurzen Halbwertszeit nicht in größeren Mengen gewinnen. In kleinerem Maßstab dient Radium als Quelle, Radon entsteht beim Zerfall dieses Elements und gast aus einem entsprechenden Präparat aus. Oganesson konnte als künstliches Element in wenigen Atomen durch Beschuss von Californium mit Calcium-Atomen erzeugt werden.
Eigenschaften
Physikalische Eigenschaften
Alle Edelgase sind unter Normalbedingungen einatomige, farb- und geruchlose Gase. Sie kondensieren und erstarren erst bei sehr niedrigen Temperaturen, wobei die Schmelz- und Siedepunkte umso höher liegen, je größer die Atommasse ist. Der Siedepunkt des Heliums liegt mit 4,224 K (−268,926 °C) nur knapp über dem absoluten Nullpunkt, das schwerste Edelgas Radon siedet bei 211,9 K (−61,25 °C).
Helium besitzt die Besonderheit, dass es als einziges Element unter Atmosphärendruck und auch deutlich darüber nicht erstarrt. Stattdessen geht es bei 2,17 K in einen speziellen Aggregatzustand, die Suprafluidität, über. In diesem verliert die Flüssigkeit die innere Reibung und kann so beispielsweise über höhere Gefäßwände kriechen (Onnes-Effekt). Erst bei Drücken über 25,316 bar erstarrt Helium bei 0,775 K. Diese Temperaturen und Drücke gelten nur für das häufige Isotop 4He, das seltene zweite, leichtere stabile Isotop 3He hat dagegen deutlich andere Eigenschaften. Es wird erst bei Temperaturen unter 2,6 · 10−3 K suprafluid. Auch Schmelz-, Siede- und kritischer Punkt liegen bei anderen Temperaturen und Drücken.
Mit Ausnahme des Heliums, das im hexagonalen Kristallsystem kristallisiert, besitzen alle Edelgase eine kubisch-flächenzentrierte Kristallstruktur. Wie durch die steigenden Atomradien zu erwarten, wird der Gitterparameter a von Neon zu Radon immer größer.
Auch die Dichten der Edelgase korrelieren wie zu erwarten mit der Atommasse. Helium ist nach Wasserstoff das Gas mit der geringsten Dichte. Als einziges weiteres Edelgas hat Neon eine geringere Dichte als Luft, während Argon, Krypton, Xenon und Radon dichter sind. Radon ist mit einer Dichte von 9,73 kg/m3 eines der dichtesten Gase überhaupt.
Die Eigenschaften von Oganesson sind auf Grund der kurzen Halbwertszeit nicht experimentell ermittelbar. Nach theoretischen Überlegungen ist durch relativistische Effekte und die hohe Polarisierbarkeit des Oganesson-Atoms anzunehmen, dass Oganesson deutlich reaktiver ist als Radon. Auch ist es unwahrscheinlich, dass es bei Standardbedingungen gasförmig ist, durch Extrapolation kann ein Siedepunkt zwischen 320 und 380 K angenommen werden.
Atomare Eigenschaften
Bei Edelgasen sind alle Elektronenschalen entweder vollständig mit Elektronen besetzt oder leer. Deshalb wird dieser Zustand auch Edelgaskonfiguration genannt. Helium ist dabei das einzige Edelgas, bei dem lediglich ein s-Orbital vollständig besetzt ist (da es kein 1p-Orbital gibt), bei allen anderen ist das äußerste besetzte Orbital ein p-Orbital. Nach den Gesetzen der Quantenmechanik ist dieser Zustand der Orbitale energetisch besonders günstig. Darum tendieren auch Atome anderer Elemente dazu, Edelgaskonfiguration zu erreichen, indem sie Elektronen abgeben oder aufnehmen (Edelgasregel).
Die Eigenschaften der Edelgase sind deutlich davon bestimmt, dass sie Edelgaskonfiguration nicht durch Abgabe oder Aufnahme von Elektronen, sondern bereits im neutralen, nicht-ionisierten Zustand erreichen. Edelgase liegen daher einatomig vor, besitzen eine hohe Ionisierungsenergie und reagieren fast nicht mit anderen Elementen oder Verbindungen.
Chemische Eigenschaften
Trotz des Aufbaus der Edelgasatome sind die schweren Edelgase nicht völlig unreaktiv und können einige Verbindungen bilden. Verantwortlich hierfür sind der größere Abstand der Valenzelektronen vom Kern, wodurch die Ionisierungsenergie sinkt, sowie relativistische Effekte. Die größte Vielfalt an Verbindungen ist vom Xenon und nicht wie zu erwarten vom Radon bekannt, da bei diesem die starke Radioaktivität und kurze Halbwertszeit die Bildung von Verbindungen und deren Untersuchung erschwert.
Das einzige Element, das in der Lage ist, direkt mit Xenon, Radon und unter bestimmten Bedingungen auch Krypton zu reagieren, ist Fluor. Während das bei der Reaktion von Krypton und Fluor gebildete Krypton(II)-fluorid thermodynamisch instabil und daher nur bei tiefen Temperaturen synthetisierbar ist, sind die Xenon- und auch Radonfluoride auch bei Raumtemperatur stabil. Andere Elemente reagieren nicht mit Edelgasen, dennoch sind verschiedene weitere Verbindungen bekannt, die durch Reaktionen der Fluoride zugänglich sind.
Die Reaktivität und Stabilität von Verbindungen der leichten Edelgase Helium, Neon und Argon konnte mit Ausnahme einer bekannten Argonverbindung, HArF, nur theoretisch untersucht werden. Demnach gilt Neon als das am wenigsten reaktive Edelgas. So zeigte sich in Rechnungen, dass das Neonanalogon der einzigen in der Theorie stabilen Heliumverbindung HHeF nicht stabil sein sollte.
Aufgrund des Fehlens chemischer Verbindungen der Edelgase gab es lange Zeit auch keine Zahlenwerte ihrer Elektronegativitäten – bestimmt werden konnten davon bis jetzt nur die Werte der Pauling-Skala für die beiden Elemente Xenon (2,6) und Krypton (3,0), die damit in etwa denen der Halogene entsprechen. In den neueren Elektronegativitätsskalen nach Mulliken, Allred und Rochow dagegen lassen sich auch Zahlenwerte für die übrigen Edelgase berechnen, die in diesem Fall über die der Halogene hinausreichen. Bei Helium betragen sie beispielsweise 5,50 nach Allred-Rochow und 4,86 nach Mullikan.
Verwendung
Edelgase werden auf Grund ihrer geringen Reaktivität, der niedrigen Schmelzpunkte und der charakteristischen Farben bei Gasentladungen genutzt. Vor allem Argon und Helium werden in größerem Maßstab verwendet, die anderen Edelgase können nur in geringeren Mengen produziert werden und sind daher teuer. Die geringe Reaktivität wird in der Verwendung als Inert- bzw. Schutzgas beispielsweise beim Schutzgasschweißen und in der Produktion von bestimmten Metallen wie Titan oder Tantal ausgenutzt. Dafür wird vorwiegend das Argon immer dann eingesetzt, wenn der billigere, aber reaktivere Stickstoff nicht verwendet werden kann.
Bei Gasentladungen gibt jedes Edelgas Licht einer charakteristischen Farbe ab. Bei Neon beispielsweise ist das emittierte Licht rot, bei Argon violett und bei Krypton oder Xenon blau. Dies wird in Gasentladungslampen ausgenutzt. Von besonderer Bedeutung ist dabei das Xenon, da das Spektrum einer Xenon-Gasentladungslampe annähernd dem des Tageslichtes entspricht. Es wird darum auch in Autoscheinwerfern als „Xenonlicht“ verwendet. Auch Leuchtröhren basieren auf diesem Prinzip, nach dem ersten verwendeten Leuchtgas Neon werden sie auch Neonlampen genannt. Dagegen nutzen die umgangssprachlich „Neonröhren“ genannten Leuchtstofflampen kein Edelgas, sondern Quecksilberdampf als Leuchtmittel. Auch Glühlampen werden mit Edelgasen, häufig Krypton oder Argon, gefüllt. Dadurch ist die effektive Abdampfrate des Glühfadens geringer, was eine höhere Temperatur und damit bessere Lichtausbeute ermöglicht.
Auf Grund der niedrigen Schmelz- und Siedepunkte sind Edelgase als Kühlmittel von Bedeutung. Hier spielt vor allem flüssiges Helium eine Rolle, da durch dieses besonders niedrige Temperaturen erreicht werden können. Dies ist beispielsweise für supraleitende Magnete wichtig, die etwa in der Kernspinresonanzspektroskopie eingesetzt werden. Müssen für eine Anwendung keine so niedrigen Temperaturen erreicht werden, wie sie flüssiges Helium bietet, können auch die höher siedenden Edelgase wie Neon verwendet werden.
Wie alle Gase wirken auch die Edelgase abhängig vom Druck durch Blockierung von Membranen in Nervenzellen narkotisierend. Die nötigen Drücke liegen aber bei Helium und Neon so hoch, dass sie nur im Labor erreicht werden können; für Neon liegt der notwendige Druck bei 110 bar. Da sie daher keinen Tiefenrausch verursachen können, werden diese beiden Gase gemischt mit Sauerstoff („Heliox“ und „Neox“), auch mit Sauerstoff und Stickstoff („Trimix“) als Atemgase beim Tauchen verwendet. Mit diesen ist es möglich, größere Tiefen zu erreichen als bei der Nutzung von Luft. Xenon wirkt dagegen schon bei Umgebungsdruck narkotisierend und kann daher anstelle von Distickstoffmonoxid als Inhalationsanästhetikum verwendet werden. Wegen des hohen Preises und der geringen Verfügbarkeit wird es jedoch nur selten verwendet.
Helium ist Füll- und Traggas für Gasballone und Zeppeline. Neben Helium kann auch Wasserstoff verwendet werden. Dieser ist zwar leichter und ermöglicht mehr Nutzlast, jedoch kann er mit dem Sauerstoff der Luft reagieren und brennen. Beim unreaktiven Helium besteht diese Gefahr nicht.
Entsprechend ihrer Häufigkeit und Verfügbarkeit werden Edelgase in unterschiedlichen Mengen produziert. So betrug 1998 die Menge des hergestellten Argons etwa 2 Milliarden m3, Helium wurde in einer Menge von rund 130 Millionen m3 isoliert. Die Weltjahresproduktion an Xenon wird dagegen für 1998 auf nur 5.000–7.000 m3 geschätzt (jeweils Normkubikmeter). Entsprechend unterschiedlich sind die Preise der Gase: Argon kostet etwa 15 Euro pro Kubikmeter (unter Standardbedingungen, Laborqualität), Xenon 10.000 Euro pro Kubikmeter (Stand 1999).
Verbindungen
Xenonverbindungen
Die größte Vielfalt an Edelgasverbindungen gibt es mit dem Xenon. Die wichtigsten und stabilsten sind dabei die Xenonfluoride Xenon(II)-fluorid, Xenon(IV)-fluorid und Xenon(VI)-fluorid, die durch Reaktion von Xenon und Fluor in unterschiedlichen Verhältnissen synthetisiert werden. Xenon(II)-fluorid ist die einzige Edelgasverbindung, die in geringen Mengen technisch genutzt wird, sie dient als starkes Oxidations- und Fluorierungsmittel in der organischen Chemie.
Mit Sauerstoff erreicht Xenon die höchste mögliche Oxidationsstufe +8. Diese wird in Xenon(VIII)-oxid und dem Oxifluorid Xenondifluoridtrioxid XeO3F2 sowie in Perxenaten der Form XeO4− erreicht. Weiterhin sind Xenon(VI)-oxid und die Oxifluoride XeO2F2 und XeOF4 in der Oxidationsstufe +6 sowie das Oxifluorid XeOF2 mit vierwertigem Xenon bekannt. Alle Xenonoxide und -oxifluoride sind instabil und vielfach explosiv. Auch Verbindungen des Xenons mit Stickstoff, Chlor und Kohlenstoff sind bekannt. Unter supersauren Bedingungen konnten auch Komplexe mit Metallen wie Gold oder Quecksilber synthetisiert werden.
Verbindungen anderer Edelgase
Von den anderen Edelgasen sind Verbindungen nur in geringer Zahl bekannt. So sollten Radonverbindungen zwar thermodynamisch ähnlich stabil wie Xenonverbindungen sein, aufgrund der starken Radioaktivität und kurzen Halbwertszeit der Radon-Isotope ist ihre Synthese und exakte Charakterisierung aber außerordentlich schwierig. Vermutet wird die Existenz eines stabilen Radon(II)-fluorids, da Radon nach dem Durchleiten durch flüssiges Chlortrifluorid nicht mehr nachweisbar ist, somit reagiert haben muss. Löst man die Rückstände dieser Lösung in Wasser oder Säuren, bilden sich als Zersetzungsprodukte Sauerstoff und Fluorwasserstoff im gleichen Verhältnis wie bei Krypton- oder Xenondifluorid.
Alle bekannten Verbindungen leichterer Edelgase sind thermodynamisch instabil, zersetzen sich leicht und lassen sich deshalb, wenn überhaupt, nur bei tiefen Temperaturen synthetisieren. Die wichtigste und stabilste Kryptonverbindung ist Krypton(II)-fluorid, das zu den stärksten bekannten Oxidations- und Fluorierungsmitteln zählt. Krypton(II)-fluorid ist direkt aus den Elementen herstellbar und Ausgangsprodukt einer Reihe weiterer Kryptonverbindungen.
Während Helium- und Neonverbindungen weiterhin allein Gegenstand theoretischer Untersuchungen sind und Rechnungen ergaben, dass allenfalls eine Heliumverbindung (HHeF), dagegen keine einzige Neonverbindung stabil sein sollte, konnte eine erste Argonverbindung inzwischen tatsächlich synthetisiert werden: Durch Photolyse von Fluorwasserstoff in einer auf 7,5 K heruntergekühlten Argonmatrix konnte das sehr instabile Argonfluorohydrid gebildet werden, das schon bei Berührung zweier Moleküle oder Erwärmung über 27 K wieder in seine Bestandteile zerfällt.
Clathrate
Argon, Krypton und Xenon bilden Clathrate, Einschlussverbindungen, bei denen das Edelgas physikalisch in einen umgebenden Feststoff eingeschlossen ist. Typische Beispiele hierfür sind Edelgas-Hydrate, bei denen die Gase in Eis eingeschlossen sind. Ein Argon-Hydrat bildet sich langsam erst bei −183 °C, Hydrate des Kryptons und Xenons schon bei −78 °C. Auch mit anderen Stoffen wie Hydrochinon sind Edelgas-Clathrate bekannt.
Literatur
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Weblinks
Einzelnachweise
Gruppe des Periodensystems
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Q19609
| 319.429496 |
5906
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https://de.wikipedia.org/wiki/1921
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1921
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Ereignisse
Politik und Weltgeschehen
Deutsches Reich/Polen
5. Januar: Anlässlich drohender Streiks erhöht die deutsche Reichsregierung die Bezüge der Eisenbahner um 55 bis 70 %.
8. März: Franzosen und Belgier besetzen die Städte Duisburg und Düsseldorf und sichern sich diese als Pfand für die Zahlung der Reparationen.
19. März: Preußische Polizei wird zur Wiederherstellung der Ordnung in Mansfeld, Hettstedt und Eisleben eingesetzt. Die Vereinigte Kommunistische Partei Deutschlands verlegt deswegen einen ohnehin geplanten Aufstand vor. Die Märzkämpfe in Mitteldeutschland setzen ein.
20. März: Volksabstimmungen infolge des Versailler Vertrags: Die Volksabstimmung in Oberschlesien ergibt überraschend eine Mehrheit von fast 60 % für Deutschland.
30. März: Der populäre kommunistische Obermaschinist und Gewerkschafter Wilhelm Sült wird von Polizeibeamten der Abteilung I A aus einer Vertrauensleuteversammlung heraus „in Schutzhaft genommen“. Zwei Tage später stirbt er an den Folgen einer im Berliner Polizeipräsidium Alexanderplatz erlittenen Schussverletzung.
3. Mai: Beginn des dritten polnischen Korfanty-Aufstandes in Oberschlesien
10. Mai: Joseph Wirth, bis dahin Finanzminister, wird nach dem Rücktritt Constantin Fehrenbachs aufgrund des Londoner Ultimatums in der Reparationsfrage neuer Reichskanzler der Weimarer Republik.
11. Mai: Die deutsche Reichsregierung unter Reichskanzler Joseph Wirth befolgt das unter der Drohung einer Ruhrgebietsbesetzung stehende Londoner Ultimatum der Alliierten vom 5. Mai, das Anlass zum Rücktritt des Kabinetts Fehrenbach war. Die deutschen Reparationen sollen 132 Milliarden Goldmark ausmachen, wie auf der Londoner Konferenz von den Siegern gegen starken deutschen Protest geregelt.
23. Mai: Deutsche Truppen stürmen unter Generalleutnant Karl Hoefer und britischer Aufsicht den von polnischen Aufständischen besetzten Wallfahrtsort St. Annaberg in Oberschlesien.
8. Juni: Der Zeppelin LZ 121 Nordstern macht seine Jungfernfahrt, bevor er an Frankreich ausgeliefert wird.
3. Juli: Der Zeppelin LZ 120 Bodensee wird, wie von den Alliierten gefordert, als Reparation an Italien überführt.
29. Juli: Adolf Hitler wird durch Mitgliederversammlung zum Parteivorsitzenden der NSDAP gewählt. Er bekommt diktatorische Macht und propagiert die Durchsetzung politischer Ziele mitunter auch mit Gewalt.
12. August: In Berlin wird nach einem Hilfeaufruf Lenins die KPD-nahe Internationale Arbeiterhilfe gegründet, die in Notlagen aus ihrem Spendenaufkommen Unterstützungen leistet.
26. August: Der Reichsfinanzminister Matthias Erzberger wird bei Bad Griesbach im Schwarzwald Opfer eines der politisch motivierten Fememorde in der Weimarer Republik.
Österreich/Ungarn
26. Januar: Geschichte des Burgenlandes: Deutsch-Westungarn das seit über 1000 Jahren die überwiegende Zeit zum Königreich Ungarn gehörte, wird entsprechend dem Vertrag von Saint-Germain als Bundesland Burgenland in die Republik Österreich eingegliedert. Bad Sauerbrunn wird provisorischer Sitz der Landesregierung. Die Landnahme des Burgenlandes scheitert im Lauf des Jahres mehrmals.
Ende März: Zu Ostern unternimmt der frühere Kaiser Karl I. von seinem Exil in der Schweiz aus einen Restaurationsversuch im Königreich Ungarn. Er fährt auf Anraten von Oberst Anton Lehár incognito mit dem Auto durch Österreich nach Budapest und fordert Reichsverweser Miklós Horthy zum Rücktritt auf. Erst nach einem Aufenthalt von einer Woche in Szombathely in Westungarn kann er von der Aussichtslosigkeit seiner Bemühungen überzeugt werden und reist zurück in die Schweiz.
24. April: Volksabstimmung in Tirol: 98,5 % Stimmen für den Anschluss an das Deutsche Reich. Die Abstimmung hat jedoch keine Folgen.
29. Mai: Volksabstimmung in Salzburg: 99,5 % Stimmen für den Anschluss an das Deutsche Reich. Die Abstimmung hat jedoch keine Folgen.
4. Oktober: Ungarische Freischärler proklamieren die Republik Lajtabánság. Sie existiert bis zum 5. Dezember.
20. Oktober: Karl I. unternimmt einen zweiten Restaurationsversuch in Ungarn. Er fliegt mit seiner Familie nach Sopron, wo er von Freischärlertruppen unter Julius von Ostenburg-Morawek erwartet wird. Der Abmarsch nach Budapest verzögert sich jedoch, was Horthy Zeit gibt, ebenfalls Truppen zusammenzuziehen. Nach einem Scharmützel am 23. Oktober, bei dem 19 Soldaten ums Leben kommen, gibt Karl seine Restaurationsversuche auf. Nach einer kurzen Internierung in der Abtei Tihany am Balaton wird er am 1. November mit seiner Frau Zita an Bord des britischen Donauschiffes Glowworm bis zum Schwarzen Meer und dann über Gibraltar auf die portugiesische Insel Madeira gebracht.
6. November: Mit der Entthronung der Habsburger aufgrund eines Parlamentsbeschlusses wird Ungarn zum Königreich ohne König. Dem schon 1920 provisorisch bestellten Reichsverweser Miklós Horthy wächst endgültig die Funktion des Staatsoberhauptes zu.
14. bis 16. Dezember: Bei der Volksabstimmung in Ödenburg entscheidet sich die Stadt Ödenburg für Ungarn.
Schweiz
1. Januar: Edmund Schulthess wird erneut Bundespräsident der Schweiz.
30. Januar: In der Schweiz wird eine Volksinitiative für obligatorische Referenden bei Staatsverträgen angenommen.
Großbritannien und Irland
3. Januar: In London wird ein Abkommen, das die Rückgabe beziehungsweise Vergütung von britischem Eigentum sicherstellt, das während des Ersten Weltkriegs beschlagnahmt wurde, vom deutschen Botschafter Friedrich Sthamer und dem britischen Außenminister Lord Curzon unterzeichnet.
13. Februar: Winston Churchill, bis dahin Kriegsminister, wird britischer Kolonialminister in der Regierung Lloyd George. Er löst damit den amtierenden Alfred Milner, 1. Viscount Milner, ab.
6. Dezember: Unterzeichnung des Anglo-irischen Vertrags in London. England gewährt Irland innere Autonomie, behält aber die Nordprovinz Ulster
Die Sowjetunion und ihre Nachbarn
20. Januar: Die Sowjetische Gebirgsrepublik wird gegründet.
21. Februar: Die Demokratische Republik Georgien verabschiedet eine Verfassung nach dem Vorbild der Schweiz. Darin ist auch das Frauenwahlrecht verankert.
25. Februar: Sowjetrussland besetzt Georgien und proklamiert die Georgische Sozialistische Sowjetrepublik. Die Regierung unter Noe Schordania flieht aus Tiflis und geht am 18. März ins Exil.
28. Februar: Ein Freundschaftsvertrag zwischen der RSFSR und Afghanistan wird geschlossen, der militärische und politische Abkommen mit Dritten ausschließt. Kabul erhält von Moskau finanzielle und technische Hilfe.
28. Februar: Matrosen der Schlachtschiffe Petropawlowsk und Sewastopol beschließen die Petropawlowsk-Resolution, woraufhin sich einen Tag später 16.000 Aufständische dem Kronstädter Matrosenaufstand anschließen.
8. bis 16. März: Auf dem X. Parteitag der Kommunistischen Partei der Sowjetunion erfolgt die Abkehr vom Kriegskommunismus. Lenin verkündet die Neue Ökonomische Politik.
13. März: In der Äußeren Mongolei wird eine unabhängige Monarchie ausgerufen. Der deutschbaltische Baron Roman von Ungern-Sternberg setzt als nominelles Oberhaupt Bogd Khan ein.
18. März: Der Kronstädter Matrosenaufstand in Kronstadt bei Sankt Petersburg wird blutig niedergeschlagen.
18. März: Sowjetrussland und Polen unterzeichnen in Riga einen Friedensvertrag zur Beendigung des Polnisch-Sowjetischen Kriegs.
22. Juni bis 12. Juli: Die Kommunistische Internationale hält ihren III. Weltkongress ab.
11. Juli: Die UdSSR installiert in der Äußeren Mongolei eine Marionettenregierung und bereitet damit die Gründung der Mongolische Volksrepublik vor, die bis 1990 ein Satellitenstaat der Sowjetunion bleibt.
1. September: Von der Sowjetischen Gebirgsrepublik wird das Gebiet der Kabardiner abgetrennt. Es bildet 1922 gemeinsam mit dem Gebiet der Balkaren die Kabardino-Balkarische Autonome Oblast.
Griechenland/Türkei
7. Februar: Geschichte der Türkei: Knapp zehn Monate nach Gründung des türkischen Parlaments in Ankara durch Mustafa Kemal Pascha tritt die Türkische Verfassung von 1921 in Kraft.
15. März: Talât Pascha, ehemaliger Großwesir des Osmanischen Reichs und ein Verantwortlicher des Völkermords an den Armeniern, wird im Berliner Exil erschossen.
23. August bis 13. September: Im Griechisch-Türkischen Krieg gelingt es der türkischen Armee unter Mustafa Kemal, den griechischen Vorstoß auf den Sitz der Nationalregierung in Ankara in der mehrwöchigen Schlacht am Sakarya abzuwehren.
20. Oktober: Mit dem Vertrag von Ankara legen Frankreich und die Türkei ihre Streitigkeiten in Bezug auf Kilikien bei. Im Gegenzug erkennt die türkische Nationalregierung die französische Vorherrschaft in Syrien an.
Portugal
2. März: Nach knapp über drei Monaten muss Liberato Ribeiro Pinto sein Amt als Ministerpräsident Portugals niederlegen. Sein Nachfolger wird Bernardino Machado, ebenfalls vom Partido Democrático, der jedoch auch nur kurz im Amt bleibt.
Am 23. Mai übernimmt Tomé José de Barros Queirós vom konservativen Partido Unionista die Regierungsgeschäfte. Seine kurze Regierung ist von finanziellen Problemen gekennzeichnet. Um die dramatische Schieflage des Etats auszugleichen, versucht Finanzminister Afonso Costa, Portugal einen Kredit von 50 Millionen US-Dollar zu verschaffen. Als dieser Kredit jedoch nicht zustande kommt, gerät die gesamte Regierung in Misskredit, so dass Barros Queirós bereits am 30. August sein Amt an seinen Parteifreund António Granjo abgeben muss.
19. Oktober: Ministerpräsidenten António Joaquim Granjo wird während der Lissabonner Blutnacht ermordet. Oberst Manuel Maria Coelho wird neuer Ministerpräsident.
5. November: Carlos Maia Pinto wird portugiesischer Ministerpräsident. Bereits am 16. Dezember übergibt er sein Amt an Francisco Pinto da Cunha Leal, der sich erfolglos bemüht, die revolutionäre Stimmung der Lissabonner Blutnacht zu beenden.
Italien
21. Januar: Die Kommunistische Partei Italiens wird im Theater San Marco in Livorno gegründet, nachdem sich die revolutionäre Fraktion von der Partito Socialista Italiano abgespalten hat. Amadeo Bordiga übernimmt den Parteivorsitz, ins Zentralkomitee kommen Antonio Gramsci und Umberto Terracini.
24. April: Am Bozner Blutsonntag greifen rund 400 italienische Faschisten, angeführt von Francesco Giunta und Achille Starace, mit Knüppeln, Pistolen und Handgranaten einen traditionellen Südtiroler Trachtenumzug an. Ein Mann wird getötet, rund 50 Personen werden zum Teil schwer verletzt. Das nun einschreitende Militär beschränkt sich darauf, die Aggressoren zum Bahnhof zu eskortieren, wo sie unbehelligt abreisen können.
Weitere Ereignisse in Europa
24. Juni: Der Völkerbund entscheidet in der Åland-Frage, dass die Inseln weiter zum Staatsgebiet Finnlands zählen, verlangt jedoch verschiedene Garantien zu Gunsten der schwedischsprachigen Bevölkerung.
16. August: Nach dem Tod von König Peter I. wird sein Sohn Alexander I. neuer Herrscher im Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen. Im Gegensatz zu seinem Vater, der sich vor dem Krieg weitgehend aus der Tagespolitik herausgehalten und dadurch im Königreich Serbien die Herausbildung eines parlamentarischen Regierungssystems ermöglicht hat, mischt sich Alexander von Anfang an unmittelbar in die Regierungspolitik ein. Dabei tritt er ebenso wie die führenden serbischen Politiker für eine zentralistische und monarchische Staatsordnung ein, wie sie durch die Vidovdan-Verfassung vom 28. Juni festgeschrieben ist. Gleichzeitig versucht er jedoch auf deren Kosten, seine eigene Machtposition auszubauen und dazu die Stellung der wichtigsten serbischen Partei, der vom mehrmaligen Ministerpräsidenten Nikola Pašić geleiteten Radikalen Volkspartei, zu schwächen. Dabei stützt er sich vor allem auf Kreise des serbischen Offizierskorps, mit denen er aus seiner Armeezeit persönlich bekannt ist.
30. September: In Genf kommt ein internationales Übereinkommen zustande, das den Frauen- und Kinderhandel eindämmen soll.
14. November: In Spanien entsteht durch den Zusammenschluss zweier junger kommunistischer Parteien der Partido Comunista de España.
Zionismus
September: Karlsbader Tagung des Zionistischen Weltkongresses: Das jüdische Volk hat den Willen, mit den Arabern „im Geist der Verbundenheit und des gegenseitigen Respekts“ in Palästina zusammenleben zu wollen.
11. September: Die Siedlung Nahalal wird als erster jüdischer Moschaw in der Jesreelebene gegründet.
Weitere Ereignisse in Asien
21. Februar: Eine Abteilung der Persischen Kosakenbrigade unter Führung von Reza Khan marschiert in Teheran ein und stürzt mit dem Putsch vom 21. Februar 1921 die Regierung von Premierminister Fathollah Akbar Sepahdar. Seyyed Zia al Din Tabatabai wird neuer Premierminister.
12. bis 30. März: Auf einer in Kairo und Jerusalem abgehaltenen geheimen britischen Nahostkonferenz wird für die Mandatsgebiete Palästina und Mesopotamien die „scharifische Lösung“ beschlossen: Faisal ibn Husain soll König im Irak werden und sein Bruder Abdallah Emir von Transjordanien.
1. Mai: Innerhalb des Französischen Mandats für Syrien und Libanon wird der Drusenstaat mit der Hauptstadt As-Suwaida ausgerufen.
23. Juli bis 2. August: In Abwesenheit von Chen Duxiu und Li Dazhao findet der Gründungskongress der Kommunistischen Partei Chinas im französischen Konzessionsgebiet von Shanghai statt. Nach der Auflösung der Versammlung durch die örtliche Polizei wird der Rest der Veranstaltung auf einem Ausflugsboot auf dem See Nan Hu im Süden der Stadt Jiaxing abgehalten. In das dreiköpfige Zentralkomitee werden Chen Duxiu, Zhang Guotao und Li Da gewählt.
23. August: Faisal ibn Husain wird als Faisal I. zum König des Irak ausgerufen.
4. November: Ein fanatisierter Marineoffizier ersticht den japanischen Ministerpräsidenten Hara Takashi im Hauptbahnhof von Tokio.
Vereinigte Staaten von Amerika
4. März: Warren G. Harding von der Republikanischen Partei wird als 29. Präsident der Vereinigten Staaten in sein Amt eingeführt. Er löst den Demokraten Woodrow Wilson ab. Vizepräsident im Kabinett Harding wird Calvin Coolidge, Innenminister wird Albert B. Fall, der wenig später in den Teapot-Dome-Skandal verwickelt wird.
19. Mai: In den USA wird der Emergency Quota Act verabschiedet, ein Gesetz, das die starke Einwanderung in die Vereinigten Staaten nach dem Ersten Weltkrieg eindämmen soll. Das Gesetz regelt, wie viele Personen pro Jahr aus welchen Herkunftsländern einreisen dürfen. Der Act benachteiligt vor allem Menschen aus Süd- und Osteuropa, die zu dieser Zeit in großer Zahl in die Vereinigten Staaten strömen.
31. Mai: Ein Zeitungsbericht über einen angeblichen Vergewaltigungsversuch löst schwere Rassenunruhen in Tulsa im US-Bundesstaat Oklahoma aus, in deren Verlauf ein weißer Mob das afroamerikanische Wohn- und Geschäftsviertel Greenwood völlig niederbrennt. Bis zu 300 Menschen werden ermordet.
10. Juni: Das Government Accountability Office wird ins Leben gerufen. Dieser Rechnungshof ist als überparteiliches Untersuchungsorgan dem Kongress der Vereinigten Staaten unterstellt.
11. Juli: Der ehemalige Präsident William Howard Taft wird zum Chief Justice of the United States ernannt.
Weitere internationale Ereignisse
6. Januar: In Buenos Aires erklärt der argentinische Staatspräsident Hipólito Yrigoyen, dass sein Land den Völkerbund verlassen habe. Er bemängelt damit, dass nicht alle Länder der Welt in diesen Verbund aufgenommen wurden.
30. Juli: In Kapstadt, Südafrika, beginnt der Gründungskongress der Communist Party of South Africa. Der in England geborene William H. Andrews wird erster Sekretär und C. B. Tyler erster Vorsitzender der neuen Partei.
Wirtschaft
Geld- und Wirtschaftspolitik
1. Januar: In den britischen Kronkolonien Kenia, Tanganjika und Uganda löst der Ostafrikanische Schilling den erst im Vorjahr eingeführten Ostafrikanischen Florin als Zahlungsmittel ab.
21. März: Mit einem Dekret des Allrussischen Zentralen Exekutivkomitees beginnt in Sowjetrussland die Umsetzung der Neuen Ökonomischen Politik. Damit erfolgt die Abkehr vom Kriegskommunismus.
Mit dem Budget and Accounting Act wird in den Vereinigten Staaten das Bureau of Budget als Teil des Finanzministeriums geschaffen.
Messen und Ausstellungen
4./5. April: Im Leipziger Krystallpalast findet die erste Deutsche Pelzmodenschau statt.
11. September: Die erste Wiener Messe wird nach nur vier Monaten Planung eröffnet. Sie hat das Ziel, Österreich aus der wirtschaftlichen Isolation nach dem Ersten Weltkrieg zu führen. Die (dem Publikum nicht zugänglichen) Ausstellungen sind auf mehrere Standorte in Wien aufgeteilt und haben als Leitbild die drei Jahre zuvor wieder ins Leben gerufene Messe Frankfurt. Das größte Areal umfasst Teile des Geländes der Wiener Weltausstellung von 1873 im Prater. Das zentrale Gebäude ist die zur Ruine verfallene Rotunde samt deren Freiflächen.
Unternehmensgründungen
15. März: Der Heeresflieger Giorgio Parodi und sein Freund der Flugzeugtechniker Carlo Guzzi gründen mit der finanziellen Unterstützung von Giorgios Vater Emanuele Vittorio Parodi, in der italienischen Stadt Mandello del Lario die „Aktiengesellschaft Moto Guzzi“.
5. April: Auf Initiative von Oskar von Miller wird in Bayern das staatliche Stromversorgungsunternehmen Bayernwerk gegründet.
Benelli beginnt die Serienfertigung von Motorrädern.
Sonstiges
10. Januar: Die Kaufmännische Schule Tauberbischofsheim wird durch Erlass des Kultusministeriums gegründet, indem die Trennung der Handelsschule von der Gewerbeschule in zwei selbstständige Schulanstalten erfolgt.
8. Dezember: Eine Anzeige mit dem Slogan „One Look is Worth A Thousand Words“ in der Fachzeitschrift Printers' Ink entwickelt sich hinterher zum Sprichwort Ein Bild sagt mehr als tausend Worte.
Wissenschaft und Technik
1. Januar: Die NC-5, ein US-Marineflugzeug hergestellt von der Naval Aircraft Factory nach den Plänen von Glenn Curtiss, fliegt mit 5 Passagieren an Bord eine Strecke von 702 Meilen (1129,5 km) in einer Rekordzeit von 9 Stunden 15 Minuten. Sie erreicht damit eine Durchschnittsgeschwindigkeit von 123,44 km/h.
24. Februar: Bei Aufräumarbeiten auf einem Hügel findet der Bauer Peder Platz in Jütland einen Baumsarg. Darin wird nach Untersuchungen dänischer Wissenschaftler das Mädchen von Egtved entdeckt, das in der Nordischen Bronzezeit (1800–530 v. Chr.) bestattet wurde.
16. März: Der deutsche Chemiker Fritz Winkler entdeckt bei einem Experiment einen weiteren Aggregatzustand: Plasma.
1. April: Der französischen Pilotin Adrienne Bolland gelingt der erste Alleinflug einer Frau über die Anden. Mit einer Caudron G-III bewältigt sie die Flugroute vom argentinischen Mendoza nach Santiago de Chile in 4:17 Stunden.
17. September: Unter dem Befehl von Ernest Shackleton läuft die Quest-Expedition von London aus und nimmt Kurs auf die Antarktis.
23. September: Auf der Deutschen Automobilausstellung in Berlin wird als Weltneuheit das erste aerodynamisch konstruierte Auto, der Rumpler-Tropfenwagen, präsentiert.
Die Caudron C.61 absolviert ihren Erstflug.
Es gelingt das Isolieren von Acetylcholin als erstem Botenstoff im Gehirn.
Kultur
Bildende Kunst
6. Januar: Das Rembrandt-Gemälde Abziehendes Gewitter in Herbstlandschaft wird in Hamburg aus dem Kontor der Privatbank Heckscher gestohlen. Es hat einen Wert von 2 Millionen Mark.
Film
21. Januar: In New York City hat Charles Chaplins Tragikomödie The Kid seine Uraufführung. Der sechsjährige Jackie Coogan spielt die Titelrolle und wird damit zu einem der ersten Kinderstars der Filmgeschichte. Chaplins spätere Ehefrau Lita Grey hat in dem Film eine Nebenrolle.
21. Januar: Das deutsche Filmdrama Der Gang in die Nacht von Friedrich Wilhelm Murnau wird uraufgeführt. In den Hauptrollen sind Olaf Fønss und Erna Morena zu sehen.
21. Februar: The Haunted House (Das verwunschene Haus) von und mit Buster Keaton wird in den Vereinigten Staaten uraufgeführt.
Februar: Der heute als verschollen geltende Film Sehnsucht von Friedrich Wilhelm Murnau nach dem Manuskript Der nie geküßte Mund von Carl Heinz Járosy mit Conrad Veidt und Gussy Holl in den Hauptrollen hat seine Uraufführung in Deutschland.
6. März: Das US-amerikanische Familienepos The Four Horsemen of the Apocalypse (Die vier Reiter der Apokalypse) von Rex Ingram, basierend auf dem Roman Los cuatro Jinetes de Apocalipsis von Vicente Blasco Ibáñez, wird uraufgeführt und bewirkt den Durchbruch des jungen Schauspielers Rudolph Valentino.
14. März: Der Kurzfilm Hard Luck von Buster Keaton hat seine Uraufführung in den Vereinigten Staaten.
7. April: Der deutsche Horrorfilm Schloß Vogelöd von Friedrich Wilhelm Murnau nach dem gleichnamigen Kriminalroman von Rudolf Stratz wird uraufgeführt.
12. April: Die Bergkatze, eine deutsche Stummfilm-Groteske in vier Akten von Ernst Lubitsch, wird im Ufa-Palast am Zoo in Berlin uraufgeführt.
12. April: Die Komödie The High Sign, Buster Keatons Erstlingswerk als Produzent, kommt mit einjähriger Verspätung in die Kinos und erhält trotz Keatons Skepsis gute Kritiken.
15. Mai: Die Kurzfilmkomödie The Scapegoat (Die Ziege) mit Buster Keaton und Virginia Fox wird in den Vereinigten Staaten uraufgeführt. Für Drehbuch und Regie ist Keaton gemeinsam mit Malcolm St. Clair verantwortlich.
28. August: Die drei Musketiere ist der erste große Kostümfilm von Douglas Fairbanks senior, der auch die Hauptrolle spielt. Der Stummfilm von Regisseur Fred Niblo basiert auf dem gleichnamigen Roman von Alexandre Dumas dem Älteren und wird ein großer Erfolg.
verm. August: Der ungarische Stummfilm Drakula halála (Draculas Tod) mit dem Österreicher Paul Askonas in der Titelrolle gilt als der erste Dracula-Film der Filmgeschichte.
15. September: Der kleine Lord
25. September: The Idle Class (Die feinen Leute)
6. Oktober: Der müde Tod
6. Oktober: Buster Keaton, Im Theater
22. Oktober: Harold Lloyds letzte Kurzfilmkomödie Never Weaken (Nur nicht schwach werden) hat mit großem Erfolg ihre Uraufführung in den Vereinigten Staaten. Lloyd wendet sich anschließend dem abendfüllenden Spielfilm zu.
30. Oktober: In Los Angeles hat der Stummfilm Der Scheich Premiere. Rudolph Valentino als Hauptdarsteller wird damit über Nacht weltberühmt.
10. November: Wasser hat keine Balken
28. Dezember: Zwei Waisen im Sturm
Der Dokumentarfilm Manhatta von Charles Sheeler und Paul Strand wird veröffentlicht.
Die Marx Brothers drehen ihren ersten Kurzfilm.
verm. 1921: In dem Stan-Laurel-Kurzfilm The Lucky Dog tritt Oliver Hardy in einer Nebenrolle auf. Es ist der erste gemeinsame Filmauftritt des späteren Komikerduos Laurel und Hardy.
Musik und Theater
3. Januar: Das Aufführungsverbot von Arthur Schnitzlers Drama Der Reigen wird aufgehoben. Es war wegen angeblicher Unsittlichkeit beanstandet worden.
5. Januar: An der Pariser Oper wird die Oper Die Walküre als erste Wagner-Inszenierung seit 1914 aufgeführt.
15. April: Die Operette Der Vetter aus Dingsda von Eduard Künneke erfolgt am Theater am Nollendorfplatz in Berlin. Das Libretto stammt von Herman Haller und Fritz Oliven. Das Werk wird Künnekes erfolgreichstes Stück.
23. Mai: Am Broadway hat das afroamerikanische Musical Shuffle Along seine Uraufführung.
4. Juni: Die Uraufführung der einaktigen Oper Mörder, Hoffnung der Frauen von Paul Hindemith mit dem Libretto von Oskar Kokoschka findet gemeinsam mit Hindemiths Oper Das Nusch-Nuschi auf das Libretto von Franz Bei an der Staatsoper in Stuttgart statt.
5. September: Das Teatro Cervantes, heute das Nationaltheater Argentiniens, wird in Buenos Aires eingeweiht.
9. September: Uraufführung der Operette Die Tangokönigin von Franz Lehár am Apollo-Theater in Wien. (Zweite Neufassung der Operette Der Göttergatte aus dem Jahr 1904.)
25. September: Gründung der Duisburger Oper
30. Dezember: Uraufführung der Oper Die Liebe zu den drei Orangen (Orig.: L’Amour des trois oranges) von Sergei Sergejewitsch Prokofjew in Chicago
Gesellschaft
2. Januar: Erhöhung der Arbeitslöhne für Strafgefangene im Deutschen Reich: Zuchthausgefangene bekommen von nun an 1 Mark statt 20 Pfennig, andere Gefangene 1,50 Mark statt 30 Pfennig, ausgezahlt.
17. Januar: Der englische Zauberkünstler P. T. Selbit führt in London als Erster die Illusion der Zersägten Jungfrau vor.
27. März: Robert Oelbermann gründet auf Burg Drachenfels den Nerother Wandervogel.
7. September: Als Atlantic City Pageant beginnt zum ersten Mal ein zweitägiger Schönheitswettbewerb in Atlantic City, aus dem sich die Wahl zur Miss America entwickelt.
8. September: Die sechzehnjährige Margaret Gorman gewinnt den Schönheitswettbewerb in Atlantic City und wird nachträglich zur ersten Miss America erklärt.
5. September: Roscoe Arbuckle, der Regisseur, Komiker und Entdecker von Buster Keaton, feiert am Labor Day mit Freunden eine Party im St.-Francis-Hotel in San Francisco. Dabei erkrankt die junge Schauspielerin Virginia Rappe ernsthaft und stirbt vier Tage später in einer Klinik. Durch eine Reihe von Umständen wird Fatty Arbuckle der Vergewaltigung und des Mordes bezichtigt. In drei Prozessen erweist sich schließlich seine Unschuld, doch seine große Hollywood-Karriere ist mit dem Skandal zu Ende.
Religion
Mai: Der Reformiert-Apostolische Gemeindebund entsteht durch Ausschluss von Carl August Brückner aus der Neuapostolischen Kirche
29. Juni: Aus Anlass des 700. Todestags des Heiligen Dominikus unterstreicht Papst Benedikt XV. dessen Bedeutung für die Kirche in der Enzyklika Fausto appetente die.
Katastrophen
2. Januar: 244 Menschen kommen beim Untergang des spanischen Dampfschiffes Santa Isabell vor Gilla Garcia ums Leben.
31. Januar: Auf den Sandbänken vor Cape Hatteras an der Ostküste der Vereinigten Staaten wird ein Fünfmaster, der in schwerem Sturm gestrandete Frachtsegler Carroll A. Deering, gesichtet; von der elfköpfigen Besatzung und den Rettungsbooten wird nie eine Spur gefunden.
23. August: Das von der United States Navy in Großbritannien in Auftrag gegebene Starrluftschiff R38 stürzt bei der vierten Testfahrt nahe Hull ab. Von den britischen und amerikanischen Besatzungsmitgliedern überleben fünf den Absturz, 44 sterben. Der britische Luftschiffbau wird durch das tragische Ereignis für etwa zehn Jahre unterbrochen.
21. September: Ammoniumnitrat-Explosion in der Badischen Anilin- & Soda-Fabrik (BASF) Ludwigshafen-Oppau (Deutsches Reich). 500 Tote, 2.000 Verletzte; Gebäude zerstört. Siehe Explosion des Oppauer Stickstoffwerkes.
In Sowjetrussland beginnt die Hungersnot, die etwa 5 Millionen Tote fordert.
Sport
19. Januar: Der portugiesische Fußballverein Sporting Braga entsteht.
8. März: Der Verein für Rasenspiele Aalen wird gegründet. Ein Vorgängerverein mit identischem Namen existierte bereits vor dem Ersten Weltkrieg.
24. März: In Monte-Carlo starten die Ersten Olympischen Frauenspiele; veranstaltet werden sie von der Internationalen Frauen-Sport-Föderation. An der bis zum 31. März dauernden Veranstaltung nehmen rund 100 Frauen aus England, Frankreich, der Schweiz und Italien teil. Ausgetragen werden Laufwettbewerbe (zwischen 60 und 800 Metern, Hürden- und Staffelsprints), Hoch- und Weitsprung, Speerwurf und Kugelstoßen. Dazu kommen ein Basketballturnier sowie Demonstrationen der Sportgymnastik und des Push-Ball-Spiels.
17. April: Der Wassersport-Verein 1921 wird gegründet.
28. April: Mit dem vorzeitigen Wettkampfsieg über den seit 1894 amtierenden Emanuel Lasker wird José Raúl Capablanca der dritte Schachweltmeister.
12. Juni: Durch einen 5:0-Sieg gegen den Berliner FC Vorwärts 1890 wird der 1. FC Nürnberg in Düsseldorf nach 1920 zum zweiten Mal deutscher Fußballmeister.
21. Juli: Die SpVgg Bayreuth wird gegründet.
30. Oktober: Beim Fußballwettbewerb Campeonato Sudamericano in Buenos Aires schlägt der Gastgeber Argentinien im letzten Spiel des Turniers die Elf Uruguays mit 1:0 und wird zum ersten Mal Südamerikameister.
4. November: Der Deutsche Tanzsportverband entsteht als Reichsverband für Tanzsport durch Eintrag im Berliner Vereinsregister.
Nobelpreise
Physik: Albert Einstein
Chemie: Frederick Soddy
Literatur: Anatole France
Friedensnobelpreis: Karl Hjalmar Branting, Christian Lous Lange
Ein Nobelpreis für Physiologie oder Medizin wurde nicht verliehen.
Geboren
Januar
1. Januar: César Baldaccini, französischer Bildhauer und Plastiker († 1998)
1. Januar: Hermann-Josef Kaltenborn, deutscher Kommunalpolitiker († 1999)
1. Januar: Alain Mimoun, französischer Leichtathlet algerischer Herkunft († 2013)
2. Januar: Bob Bruce Ashton, US-amerikanischer Komponist und Musikpädagoge († 2006)
2. Januar: Hans Güth, ehemaliger deutscher Politiker (CDU der DDR) und Redakteur († 2013)
3. Januar: Mily Dür, schweizerische Schriftstellerin und Lyrikerin († 2016)
3. Januar: Claude Vigée, französischer Dichter († 2020)
4. Januar: Eberhard Cohrs, deutscher Komiker und Schauspieler († 1999)
4. Januar: Torsten Lilliecrona, schwedischer Schauspieler († 1999)
4. Januar: Friedrich Schütter, deutscher Schauspieler und Synchronsprecher († 1995)
5. Januar: Friedrich Dürrenmatt, Schweizer Schriftsteller, Dramatiker und Maler († 1990)
5. Januar: Shinya Inoué, japanisch-amerikanischer Zellbiologe († 2019)
5. Januar: Jean, Luxemburger Großherzog, Graf und Fürst († 2019)
5. Januar: Russell Mathews, australischer Wirtschaftswissenschaftler († 2000)
6. Januar: Louis Déprez, französischer Radrennfahrer († 1999)
6. Januar: Bob Wilder, US-amerikanischer Automobilrennfahrer († 1953)
6. Januar: Hans Winter, deutscher Maschinenbauingenieur und Hochschullehrer († 1999)
7. Januar: Joseph Asher, deutsch-US-amerikanischer Rabbiner († 1990)
7. Januar: Jules Schelvis, niederländischer Überlebender des Holocaust († 2016)
8. Januar: Leonardo Sciascia, italienischer Schriftsteller († 1989)
9. Januar: Fred Kwasi Apaloo, ghanaischer Jurist und Politiker († 2000)
11. Januar: Kathleen Byron, britische Filmschauspielerin († 2009)
11. Januar: Juanita M. Kreps, US-amerikanische Wirtschaftswissenschaftlerin und Politikerin († 2010)
11. Januar: Berry Lipman, deutscher Bandleader, Komponist, Arrangeur und Musikproduzent († 2016)
12. Januar: Fride Larsson, schwedischer Militärpatrouillenläufer († 1955)
13. Januar: Pedro Luís António, angolanischer Bischof († 2014)
14. Januar: Werner Bergmann, deutscher Kameramann († 1990)
14. Januar: Murray Bookchin, US-amerikanischer Anarchist († 2006)
14. Januar: Kenneth Bulmer, britischer SF-Autor († 2005)
15. Januar: Edward Statkiewicz, polnischer Geiger und Musikpädagoge († 1970)
16. Januar: José Arribas, französischer Fußballtrainer († 1989)
16. Januar: Giuseppe Moro, italienischer Fußballspieler († 1974)
17. Januar: Antonio Prohías, kubanisch-amerikanischer Cartoonist († 1998)
18. Januar: Yōichirō Nambu, US-amerikanischer Physiker († 2015)
18. Januar: Belding Scribner, US-amerikanischer Arzt († 2003)
18. Januar: Libero Tresoldi, Bischof von Crema, Italien († 2009)
19. Januar: Gunther Baumann, deutscher Fußballspieler († 1998)
19. Januar: Patricia Highsmith, US-amerikanische Schriftstellerin († 1995)
19. Januar: Katrin Höngesberg, deutsche Zeichnerin, Malerin, Illustratorin und Schriftstellerin († 2009)
19. Januar: Miklós Mészöly, ungarischer Schriftsteller († 2001)
20. Januar: Erwin Brocke, Vizepräsident des deutschen Bundessozialgerichtes († 2004)
20. Januar: Bernt Engelmann, deutscher Schriftsteller und Journalist († 1994)
20. Januar: Oscar Müller, deutscher Schauspieler († 2003)
21. Januar: Howard Unruh, US-amerikanischer Veteran und Massenmörder († 2009)
22. Januar: Arno Babadschanjan, armenischer Komponist († 1983)
22. Januar: Sepp Weiler, deutscher Skispringer († 1997)
23. Januar: Silvio Gazzaniga, italienischer Bildhauer († 2016)
23. Januar: Marija Gimbutas, litauische Archäologin († 1994)
24. Januar: Friedrich Körner, deutscher General († 1998)
24. Januar: Roland Schnell, deutscher Motorradrennfahrer († 1980)
25. Januar: Juan Vicente Mas Quiles, spanischer Komponist und Dirigent († 2021)
25. Januar: Alfred Reed, US-amerikanischer Komponist und Professor († 2005)
26. Januar: Eddie Barclay, französischer Musikproduzent († 2005)
27. Januar: Georges Mathieu, französischer Maler († 2012)
27. Januar: Kurt Meyer, deutscher Fußballspieler († 2008)
27. Januar: Donna Reed, US-amerikanische Schauspielerin († 1986)
28. Januar: Pierre Galet, französischer Önologe, Fachmann für Rebenzüchtung und Ampelographie († 2019)
29. Januar: Hans Dichand, österreichischer Journalist, Herausgeber der Kronen Zeitung († 2010)
29. Januar: Mustafa bin Halim, libyscher Politiker († 2021)
31. Januar: John Agar, US-amerikanischer Schauspieler († 2002)
31. Januar: John Anderson, US-amerikanischer Trompeter († 1974)
31. Januar: Eva-Maria Buch, Widerstandskämpferin im Dritten Reich († 1943)
31. Januar: Carol Channing, US-amerikanische Sängerin und Schauspielerin († 2019)
31. Januar: Mario Lanza, US-amerikanischer Sänger (Tenor) († 1959)
31. Januar: Kurt Marti, Schweizer Pfarrer und Schriftsteller († 2017)
Februar
1. Februar: José-Maria Ibánez, argentinischer Automobilrennfahrer
1. Februar: Heinz Kluge, deutscher Handballspieler († 2001)
1. Februar: Peter Sallis, britischer Schauspieler und Sprecher († 2017)
2. Februar: Klaus Friedrich, Richter am deutschen Bundessozialgericht († 2005)
2. Februar: Adolf Riedl, deutscher Unternehmer († 2003)
3. Februar: Herbert Baack, deutscher Politiker, Bundestagsabgeordneter († 2006)
3. Februar: Joseph Wang Dian Duo, katholischer Priester († 2004)
4. Februar: Betty Friedan, US-amerikanische Feministin und Publizistin († 2006)
4. Februar: Lotfi Zadeh, US-amerikanischer Informatiker, Vater der Fuzzy-Logik († 2017)
5. Februar: Ken Adam, deutsch-britischer Szenenbildner († 2016)
6. Februar: Zvi Aharoni, israelischer Mossad-Agent († 2012)
7. Februar: Nexhmije Hoxha, albanische Politikerin († 2020)
8. Februar: Hans Albert, deutscher Soziologe und Philosoph († 2023)
8. Februar: Ekkehard Fritsch, deutscher Schauspieler († 1987)
8. Februar: Fritz Heinrich, deutscher Politiker († 1959)
9. Februar: Eusebio Castigliano, italienischer Fußballspieler († 1949)
9. Februar: Joseph Fontanet, französischer Politiker († 1980)
9. Februar: Georg Gaidzik, Volkspolizist und ein Opfer des Volksaufstandes in der DDR († 1953)
9. Februar: Constance Keene, US-amerikanische Pianistin und Musikpädagogin († 2005)
9. Februar: Heinz Schöffler, deutscher Lektor, Schriftsteller, Literatur- und Kunstkritiker. († 1973)
10. Februar: Adrian Cruft, britischer Komponist und Professor († 1987)
10. Februar: Margarete Hannsmann, deutsche Schriftstellerin († 2007)
10. Februar: Heinz Quermann, Fernsehentertainer der DDR († 2003)
12. Februar: Kay McNulty Mauchly Antonelli, US-amerikanische Programmiererin († 2006)
12. Februar: Günter Aust, deutscher Kunsthistoriker († 2018)
13. Februar: Markus Bernhard, deutscher Handball- und Basketballspieler († 2002)
13. Februar: Jeanne Demessieux, französische Komponistin, Pianistin, Organistin und Pädagogin († 1968)
15. Februar: Frank Seno, US-amerikanischer American-Football-Spieler († 1974)
16. Februar: Jean Behra, französischer Automobilrennfahrer († 1959)
16. Februar: Hua Guofeng, chinesischer Politiker († 2008)
17. Februar: Herbert Köfer, deutscher Schauspieler, Moderator, Hörspiel- und Synchronsprecher († 2021)
19. Februar: Lamberto Antonelli, italienischer Journalist und Autor
19. Februar: Len Levy, US-amerikanischer American-Football-Spieler († 1999)
19. Februar: Ernie McCoy, US-amerikanischer Automobilrennfahrer († 2001)
19. Februar: Claude Pascal, französischer Komponist († 2017)
19. Februar: Samuel Cochran Phillips, US-amerikanischer General († 1990)
19. Februar: Ann Savage, US-amerikanische Filmschauspielerin († 2008)
20. Februar: Les „Carrot Top“ Anderson, US-amerikanischer Country-Musiker († 2001)
20. Februar: Robert Knight Andras, kanadischer Unternehmer und Politiker († 1982)
20. Februar: Packiam Arokiaswamy, indischer Erzbischof († 2003)
20. Februar: Louis Biesbrouck, niederländischer Fußballspieler († 2005)
21. Februar: John Ralph Armellino, US-amerikanischer Soldat und Politiker († 2004)
21. Februar: Blanche Aubry, schweizerische Schauspielerin († 1986)
21. Februar: Antonio María Kardinal Javierre Ortas, Kurienkardinal († 2007)
21. Februar: Zdeněk Miler, tschechischer Zeichentrickfilmer († 2011)
21. Februar: John Rawls, US-amerikanischer Philosoph († 2002)
22. Februar: Sune Andersson, schwedischer Fußballspieler und -trainer († 2002)
22. Februar: Jean-Bédel Bokassa, Präsident und später Kaiser der Zentralafrikanischen Republik († 1996)
22. Februar: Wayne Booth, US-amerikanischer Literaturwissenschaftler († 2005)
22. Februar: Giulietta Masina, italienische Schauspielerin († 1994)
23. Februar: Adulf Peter Goop, Liechtensteiner Rechtsberater, Heimatkundler und Mäzen († 2011)
24. Februar: Ludvík Aškenazy, tschechischer Schriftsteller, Dramatiker und Drehbuchautor († 1986)
24. Februar: Ingvar Lidholm, schwedischer Komponist († 2017)
24. Februar: Ludwig Munzinger junior, deutscher Verleger († 2012)
24. Februar: Gaston Reiff, belgischer Leichtathlet († 1992)
24. Februar: Abe Vigoda, US-amerikanischer Schauspieler († 2016)
25. Februar: Rolf Appel, deutscher Chemiker († 2012)
27. Februar: Stan Turley, US-amerikanischer Politiker († 2014)
28. Februar: Alexander Arendt, deutscher Mediziner († 1986)
28. Februar: August Henne, deutscher Forstmann († 2006)
28. Februar: Willi Sitte, deutscher bildender Künstler († 2013)
März
1. März: Terence Cooke, Erzbischof von New York und Kardinal († 1983)
1. März: Richard Wilbur, US-amerikanischer Dichter und Schriftsteller († 2017)
2. März: Lykke Aresin, deutsche Ärztin und Sexualwissenschaftlerin († 2011)
2. März: Cornelius Edward Gallagher, US-amerikanischer Politiker († 2018)
2. März: Kazimierz Górski, polnischer Fußballspieler und Trainer († 2006)
2. März: Ernst Haas, österreichisch-US-amerikanischer Fotograf und Autor († 1986)
2. März: Robert Simpson, britischer Komponist († 1997)
3. März: Diana Barrymore, US-amerikanische Schauspielerin († 1960)
3. März: Paul Guimard, französischer Schriftsteller († 2004)
4. März: Halim El-Dabh, US-amerikanischer Sänger, Musikwissenschaftler und -pädagoge ägyptischer Herkunft († 2017)
4. März: Ademilde Fonseca, brasilianische Sängerin († 2012)
5. März: Berkley Bedell, US-amerikanischer Politiker († 2019)
5. März: Günther Neutze, deutscher Schauspieler († 1991)
6. März: Hans-Hubertus Bühmann, deutscher Forstwirt und Politiker († 2014)
7. März: Franz Mack, deutscher Unternehmer, Gründer des Europa-Parks († 2010)
8. März: Alexei Berest, sowjetischer Kosmonaut († 1970)
8. März: Denys de La Patellière, französischer Filmregisseur und Drehbuchautor († 2013)
8. März: József Romhányi, ungarischer Drehbuchautor, Librettist und Lyriker († 1983)
9. März: Evelyn M. Witkin, US-amerikanische Genetikerin († 2023)
10. März: Otto Heinrich Kühner, deutscher Schriftsteller († 1996)
11. März: Astor Piazzolla, argentinischer Tangomusiker, Bandoneon-Spieler und Komponist († 1992)
11. März: Léopold Reichling, Luxemburger Botaniker und Entomologe († 2009)
12. März: Giovanni Agnelli, italienischer Industrieller († 2003)
12. März: Gordon MacRae, US-amerikanischer Sänger und Schauspieler († 1986)
12. März: Don McCafferty, US-amerikanischer American-Football-Trainer († 1974)
12. März: Chet Mutryn, US-amerikanischer American-Football-Spieler († 1995)
12. März: Ralph Shapey, US-amerikanischer Dirigent und Komponist († 2002)
13. März: Armando Cabrera, dominikanischer Komponist
13. März: Al Jaffee, US-amerikanischer Cartoonist († 2023)
14. März: Karl Dietrich Adam, deutscher Paläontologe († 2012)
14. März: Waldemar Beck, deutscher Ruderer († 2014)
14. März: Ulrich Koch, deutscher Bratschist († 1996)
15. März: Nikolaus Joachim Lehmann, Informatiker aus der DDR († 1998)
16. März: Josef van Eimern, deutscher Forst- und Agrarmeteorologe († 2008)
16. März: Anne Truitt, US-amerikanische Bildhauerin des Minimalismus († 2004)
17. März: Meir Amit, israelischer General und Direktor des Geheimdienstes Mossad († 2009)
18. März: Bartolomeu Anania, rumänischer Schriftsteller und Geistlicher († 2011)
18. März: Eilif Armand, norwegischer Schauspieler, Lyriker und Literaturkritiker († 1993)
18. März: Hellema, niederländischer Schriftsteller und Widerstandskämpfer († 2005)
18. März: Claire Pratt, kanadische Grafikerin, Lyrikerin und Herausgeberin († 1995)
19. März: Émile Bongiorni, französischer Fußballspieler († 1949)
19. März: Joseph-Marie Trinh Van-Can, Erzbischof von Hanoi und Kardinal († 1990)
20. März: Amadou-Mahtar M'Bow, senegalesischer Politiker
20. März: Rudolf Noelte, deutscher Regisseur († 2002)
21. März: Abd as-Salam Muhammad Arif, Staatspräsident des Irak († 1966)
21. März: Paco Godia, spanischer Automobilrennfahrer († 1990)
21. März: Arthur Grumiaux, belgischer Violinist († 1986)
22. März: Johnny Bruck, deutscher Zeichner und Fotolithograf († 1995)
22. März: John Gilligan, US-amerikanischer Politiker († 2013)
22. März: Nino Manfredi, italienischer Schauspieler († 2004)
22. März: Wolfgang Schwenke, deutscher Zoologe, Entomologe und Forstwissenschaftler († 2006)
22. März: Edith Teichmann, deutsche Schauspielerin und Synchronsprecherin († 2018)
23. März: Donald Campbell, britischer Geschwindigkeitsrekordler († 1967)
23. März: Geoffrey Chater, britischer Filmschauspieler († 2021)
23. März: Heinz Rox-Schulz, Globetrotter und Abenteurer († 2004)
23. März: Gert Fritz Unger, deutscher Schriftsteller († 2005)
24. März: Otto Meyer, deutscher Politiker († 2013)
24. März: Ken Rudd, britischer Unternehmer und Automobilrennfahrer († 2009)
24. März: Wassili Wassiljewitsch Smyslow, russischer Schach-Großmeister († 2010)
25. März: Hans Guido Mutke, Jagdflieger in der Luftwaffe († 2004)
25. März: Simone Signoret, französische Schauspielerin († 1985)
25. März: Trude Simonsohn, jüdische Auschwitz-Überlebende († 2022)
25. März: Josef Staribacher, österreichischer Politiker († 2014)
27. März: Georges Anderla, französischer Wirtschaftswissenschaftler und Statistiker († 2005)
27. März: Paulo Moacyr Barbosa Nascimento, brasilianischer Fußballspieler († 2000)
27. März: Toni Berger, deutscher Volksschauspieler († 2005)
27. März: Johanna König, deutsche Schauspielerin († 2009)
27. März: Phil Chess, US-amerikanischer Plattenproduzent († 2016)
28. März: Harold Melvin Agnew, US-amerikanischer Physiker († 2013)
28. März: Dirk Bogarde, britischer Schauspieler († 1999)
28. März: Herschel Grynszpan, politischer Attentäter, Begründung für Reichspogromnacht (verschollen 1942)
30. März: Aquilino Boyd, panamaischer Diplomat und Politiker († 2004)
30. März: Ishii Kan, japanischer Komponist († 2009)
31. März: Lowell Fulson, US-amerikanischer Blues-Gitarrist und -Sänger († 1999)
April
1. April: Dante Agostini, französischer Schlagzeuger († 1980)
1. April: Frederick Fortune, US-amerikanischer Bobfahrer († 1994)
1. April: André Stil, französischer Schriftsteller († 2004)
2. April: Theodor Herrmann, deutscher Fußballspieler
3. April: Franz Geiger, deutscher Drehbuchautor, Regisseur und Schauspieler († 2011)
3. April: Jan Sterling, US-amerikanische Bühnen- und Filmschauspielerin († 2004)
4. April: Leonhard Mahlein, deutscher Gewerkschafter († 1985)
4. April: Hans Schilling, deutscher Architekt († 2009)
6. April: Arnold Marquis, deutscher Schauspieler und Synchronsprecher († 1990)
6. April: Heinrich Schmid, deutscher Sprachwissenschaftler († 1999)
6. April: Christel Schulz, deutsche Leichtathletin († 2014)
7. April: Bill Butler, US-amerikanischer Kameramann († 2023)
8. April: Franco Corelli, italienischer Sänger (Tenor) († 2003)
8. April: Jan Novák, tschechischer Komponist († 1984)
9. April: Francesco Adorno, italienischer Hochschullehrer und Philosophiehistoriker († 2010)
9. April: Vince Banonis, US-amerikanischer American-Football-Spieler († 2010)
9. April: Carlos Pizarro, puerto-ricanischer Sänger († 2000)
9. April: Alfred Preißler, deutscher Fußballspieler († 2003)
9. April: Hansjürg Steinlin, Schweizer Forstwissenschaftler († 2004)
10. April: Chuck Connors, US-amerikanischer Schauspieler († 1992)
12. April: Slim Dortch, US-amerikanischer Country- und Rockabilly-Musiker († 2000)
12. April: James Dougherty, US-amerikanischer Polizist und erster Ehemann von Marilyn Monroe († 2005)
12. April: Frans Krajcberg, brasilianischer Bildhauer und Maler († 2017)
12. April: Günter Gerhard Lange, deutscher Typograf und Lehrer († 2008)
13. April: Hans Heinrich Thyssen-Bornemisza de Kászon, Schweizer Unternehmer und Kunstsammler († 2002)
14. April: Thomas Schelling, US-amerikanischer Ökonom und Nobelpreisträger († 2016)
14. April: Gerhard Schürer, deutscher Politiker († 2010)
15. April: Georgi Beregowoi, sowjetischer Kosmonaut († 1995)
15. April: Ray Poole, US-amerikanischer American-Football-Spieler († 2008)
16. April: Víctor Balaguer, spanischer Sänger († 1984)
16. April: Alfons M. Dauer, deutscher Musikwissenschaftler und Ethnologe († 2010)
16. April: Dieter Korp, deutscher Journalist und Fachbuchautor († 2015)
16. April: Wolfgang Leonhard, deutscher Historiker und Autor († 2014)
16. April: Peter Ustinov, Schriftsteller, Schauspieler, Regisseur († 2004)
17. April: Sergio Sollima, italienischer Filmregisseur († 2015)
18. April: Heinz Werner Hübner, deutscher Journalist († 2005)
19. April: Hans Landauer, österreichischer Freiheitskämpfer im Spanischen Bürgerkrieg († 2014)
19. April: Reece Shipley, US-amerikanischer Country-Musiker († 1998)
19. April: Roberto Kardinal Tucci, Intendant von Radio Vatican († 2015)
20. April: Marianne Hediger, Schweizer Schauspielerin († 2017)
21. April: Nicolaus Dreyer, deutscher Politiker und MdB († 2003)
21. April: Michel Hakim, libanesischer Erzbischof († 2006)
21. April: Sieglinde Wagner, österreichische Sängerin († 2003)
22. April: Cándido Camero, kubanischer Perkussionist († 2020)
22. April: Charles Philip „Gabby“, hawaiischer Steel-Gitarrist († 1980)
23. April: Judy Agnew, Gattin des Vizepräsidenten der Vereinigten Staaten, Spiro Agnew († 2012)
23. April: Toni Schmücker, deutscher Industriemanager, VW-Vorstandsvorsitzender 1975–1981 († 1996)
24. April: Joseph Adetunji Adefarasin, nigerianischer Jurist († 1989)
24. April: Gerhard Lusenti, Schweizer Fußballspieler († 1996)
25. April: Karel Appel, niederländischer Maler und Mitgründer der Malergruppe „Cobra“ († 2006)
26. April: Jimmy Giuffre, US-amerikanischer Jazz-Musiker († 2008)
26. April: François Picard, französischer Automobilrennfahrer († 1996)
26. April: Horst Schulze, deutscher Schauspieler und Opernsänger († 2018)
27. April: Robert Dhéry, französischer Filmschauspieler und Regisseur († 2004)
27. April: Hans-Joachim Kulenkampff, deutscher Schauspieler und Fernsehmoderator († 1998)
27. April: Pietro Mitolo, Südtiroler Politiker († 2010)
27. April: Erwin Ringel, österreichischer Tiefenpsychologe und Neurologe († 1994)
28. April: Stana Tomašević, jugoslawische Partisanin, Politikerin und Diplomatin († 1983)
30. April: Roger L. Easton, US-amerikanischer Wissenschaftler († 2014)
30. April: Pierre Flahault, französischer Automobilrennfahrer († 2016)
Mai
1. Mai: Robert Goldmann, US-amerikanischer Journalist († 2018)
1. Mai: Rudolf Rumetsch, deutscher Verwaltungsjurist, Landrat und Ministerialbeamter († 1998)
2. Mai: Satyajit Ray, indischer Regisseur († 1992)
3. Mai: Vasco Gonçalves, portugiesischer Militäroffizier und Politiker († 2005)
3. Mai: Karl-Heinz Spilker, deutscher Politiker, MdB und Schatzmeister der CSU († 2011)
4. Mai: Werner Schumacher, deutscher Schauspieler († 2004)
5. Mai: May Nilsson, schwedische Skirennläuferin († 2009)
5. Mai: Arthur L. Schawlow, US-amerikanischer Physiker († 1999)
6. Mai: Erich Fried, österreichischer Lyriker, Übersetzer und Essayist († 1988)
6. Mai: Elizabeth Sellars, britische Schauspielerin († 2019)
7. Mai: Georges Harris, belgischer Automobilrennfahrer († 2019)
7. Mai: Gaston Rébuffat, französischer Bergsteiger († 1985)
8. Mai: Henri Arends, niederländischer Dirigent († 1994)
8. Mai: Marie-Madeleine Duruflé, französische Organistin († 1999)
9. Mai: Daniel Berrigan, US-amerikanischer Jesuit, Schriftsteller und Friedensaktivist († 2016)
9. Mai: Sophie Scholl, deutsche Widerstandskämpferin im Dritten Reich († 1943)
10. Mai: Oliver Hassencamp, deutscher Kabarettist, Schauspieler und Autor († 1988)
11. Mai: Geoffrey Crossley, britischer Automobilrennfahrer († 2002)
11. Mai: Herbert Giersch, deutscher Volkswirt († 2010)
11. Mai: Hildegard Hamm-Brücher, deutsche Politikerin († 2016)
12. Mai: Giovanni Benelli, Erzbischof von Florenz und Kardinal († 1982)
12. Mai: Joseph Beuys, deutscher Künstler († 1986)
12. Mai: Farley Mowat, kanadischer Schriftsteller († 2014)
13. Mai: Terry Fell, US-amerikanischer Country-Musiker († 2007)
13. Mai: Wolfgang Jacobeit, deutscher Volkskundler († 2018)
13. Mai: Carlos Werner, deutscher Schauspieler († 2016)
14. Mai: Hafiz Sabri Koçi, albanischer Theologe († 2004)
15. Mai: Čestmír Vycpálek, tschechischer Fußballspieler und -trainer († 2002)
16. Mai: Harry Carey junior, US-amerikanischer Filmschauspieler († 2012)
16. Mai: Winnie Markus, deutsche Filmschauspielerin († 2002)
17. Mai: Dennis Brain, britischer Hornist († 1957)
17. Mai: Sigi Feigel, Schweizer Rechtsanwalt, der sich gegen Antisemitismus engagierte († 2004)
18. Mai: Olgierd Cecil Zienkiewicz, britischer Mathematiker († 2009)
19. Mai: Martha Carson, US-amerikanische Country-Gospel-Musikerin († 2004)
19. Mai: Daniel Gélin, französischer Schauspieler († 2002)
20. Mai: Erwin Andrä, deutscher Formgestalter und Hochschullehrer († 2022)
20. Mai: Wolfgang Borchert, deutscher Schriftsteller († 1947)
20. Mai: Karl Dedecius, deutscher Übersetzer († 2016)
20. Mai: Aldo Gordini, französischer Automobilrennfahrer († 1995)
20. Mai: Hal Newhouser, US-amerikanischer Baseballspieler († 1998)
21. Mai: Jean Dewasne, französischer Maler, Bildhauer und Autor († 1999)
21. Mai: Andrei Dmitrijewitsch Sacharow, sowjetischer Atomwissenschaftler, Friedensnobelpreisträger († 1989)
21. Mai: Adriano Soldini, Schweizer Pädagoge und Schriftsteller († 1989)
23. Mai: Walter Baum, deutscher Typograf, Lehrer und Grafiker († 2007)
23. Mai: James Blish, US-amerikanischer Science-Fiction-Schriftsteller († 1975)
23. Mai: Humphrey Lyttelton, britischer Jazzmusiker und Autor († 2008)
23. Mai: Grigori Tschuchrai, sowjetischer Filmregisseur († 2001)
25. Mai: Hal David, US-amerikanischer Popmusik-Texter († 2012)
25. Mai: Jack Steinberger, US-amerikanischer Physiker († 2020)
26. Mai: Walter Laqueur, US-amerikanischer Historiker († 2018)
27. Mai: Charles Gates Jr., US-amerikanischer Geschäftsmann und Philanthrop († 2005)
27. Mai: Harry G. Haskell, US-amerikanischer Politiker († 2020)
28. Mai: Heinz Günther Konsalik, deutscher Schriftsteller († 1999)
28. Mai: Edwin Koller, Schweizer Politiker († 2005)
28. Mai: Bill Paschal, US-amerikanischer American-Football-Spieler († 2003)
29. Mai: Alessandro Bausani, italienischer Iranist, Islamwissenschaftler und Sprachwissenschaftler († 1988)
30. Mai: Frank Kilroy, US-amerikanischer American-Football-Spieler († 2007)
Juni
1. Juni: Nelson Riddle, US-amerikanischer Komponist und Bigband-Leader († 1985)
1. Juni: Albert Tepper, US-amerikanischer Komponist und Musikpädagoge († 2010)
3. Juni: Charlie Aldrich, US-amerikanischer Country-Musiker, Gitarrist und Komponist († 2015)
3. Juni: Eberhard Schlotter, deutscher Maler und Grafiker († 2014)
4. Juni: Bobby Wanzer, US-amerikanischer Basketballspieler († 2016)
6. Juni: Horst-Gregorio Canellas, deutscher Fußballfunktionär († 1999)
7. Juni: Tal Farlow, US-amerikanischer Jazz-Gitarrist († 1998)
7. Juni: Bernard Lown, US-amerikanischer Kardiologe und Aktivist († 2021)
7. Juni: Hans Oswald, deutscher Fußballspieler
8. Juni: Antanas Mončys, litauischer Bildhauer († 1993)
8. Juni: Anneliese Overbeck, deutsche Malerin und Grafikerin († 2004)
8. Juni: Ivan Southall, australischer Jugend- und Sachbuchautor († 2008)
8. Juni: Suharto, indonesischer General und Politiker († 2008)
10. Juni: Sergio Victor Arellano Stark, chilenischer Generalmajor († 2016)
10. Juni: Philip, Duke of Edinburgh, Ehemann der britischen Königin Elisabeth II. († 2021)
10. Juni: Kåre Fuglesang, norwegischer Geiger und Musikpädagoge († 2000)
10. Juni: Jean Robic, französischer Radrennfahrer († 1980)
10. Juni: Hans Rotta, deutscher Verleger, Herausgeber, Redakteur und Biologe († 2008)
10. Juni: Garry Walberg, US-amerikanischer Schauspieler († 2012)
11. Juni: Hans Detlev Becker, deutscher Journalist († 2014)
11. Juni: Waltrud Will-Feld, deutsche Politikerin († 2013)
12. Juni: Hans Carl Artmann, österreichischer Dichter († 2000)
12. Juni: Heinz Weiss, deutscher Schauspieler († 2010)
12. Juni: Johan Witteveen, niederländischer Politiker und Geschäftsführender Direktor des IWF († 2019)
14. Juni: Samuel C. Ashcroft, US-amerikanischer Pionier der Blindenschrift († 2006)
14. Juni: Hans Stark, SS-Unterscharführer († 1991)
15. Juni: Erroll Garner, US-amerikanischer Komponist und Pianist († 1977)
15. Juni: Heinz Kaminski, deutscher Chemieingenieur und Weltraumforscher († 2002)
16. Juni: Olav Hodne, norwegischer Missionar und Autor († 2009)
16. Juni: Gustav Just, Journalist in der DDR († 2011)
17. Juni: William Anderson, US-amerikanischer Marineoffizier, Entdeckungsreisender und Politiker († 2007)
17. Juni: Tony Scott, US-amerikanischer Jazzmusiker (Klarinette, Saxophon, Electronics, Komposition) († 2007)
18. Juni: Chaya Arbel, israelische Komponistin († 2006)
19. Juni: Louis Jourdan, französischer Schauspieler († 2015)
20. Juni: Matilde Rosa Araújo, portugiesische Schriftstellerin († 2010)
20. Juni: Pancho Segura, Tennisspieler aus Ecuador († 2017)
21. Juni: Gebhard Büchel, Liechtensteiner Zehnkämpfer
21. Juni: Helmut Heißenbüttel, deutscher Schriftsteller († 1996)
21. Juni: Judy Holliday, US-amerikanische Schauspielerin († 1965)
21. Juni: Jane Russell, US-amerikanische Schauspielerin († 2011)
23. Juni: Paul Findley, US-amerikanischer Politiker († 2019)
24. Juni: Hans Geissberger, Schweizer Bildhauer und Maler († 1999)
24. Juni: Gerhard Sommer, deutscher SS-Untersturmführer († 2019)
25. Juni: Celia Franca, kanadische Balletttänzerin und Choreographin († 2007)
25. Juni: Heinrich Windelen, deutscher Politiker († 2015)
27. Juni: Yusuf Atılgan, türkischer Schriftsteller († 1989)
27. Juni: Muriel Pavlow, britische Filmschauspielerin († 2019)
27. Juni: Roy Schechter, US-amerikanischer Flieger und Automobilrennfahrer († 2016)
28. Juni: Peter Dubovský, slowakischer Weihbischof († 2008)
28. Juni: P. V. Narasimha Rao, indischer Politiker († 2004)
29. Juni: Reinhard Mohn, deutscher Unternehmer, Verleger († 2009)
29. Juni: Heinz Rath, deutscher Fußballspieler
29. Juni: George Reed, US-amerikanischer Autorennfahrer († 1991)
29. Juni: Harry Schell, US-amerikanischer Automobilrennfahrer († 1960)
30. Juni: Oswaldo López Arellano, honduranischer Präsident († 2010)
30. Juni: Pierre Labric, französischer Organist, Komponist und Musikpädagoge
Juli
1. Juli: François Abou Mokh, syrischer Kurienbischof († 2006)
1. Juli: Seretse Khama, erster Präsident von Botswana († 1980)
3. Juli: Leo Navratil, österreichischer Psychiater († 2006)
4. Juli: Gérard Debreu, französischer Wirtschaftswissenschaftler und Nobelpreisträger († 2004)
4. Juli: Tibor Varga, ungarischer Violinist, Dirigent und Pädagoge († 2003)
5. Juli: Hugo Staudinger, deutscher Historiker und Wissenschaftstheoretiker († 2004)
6. Juli: Charles A. Ferguson, US-amerikanischer Sprachwissenschaftler († 1998)
6. Juli: Nancy Reagan, US-amerikanische Schauspielerin und First Lady († 2016)
7. Juli: Rollo Gebhard, deutscher Einhandsegler, Autor und Tierschützer († 2013)
7. Juli: Adolf von Thadden, deutscher Politiker († 1996)
7. Juli: Stanisław Wisłocki, polnischer Komponist, Dirigent und Musikpädagoge († 1998)
8. Juli: Arturo Gatica, chilenischer Sänger († 1996)
8. Juli: John Money, neuseeländischer Psychologe und Sexualforscher († 2006)
8. Juli: Edgar Morin, französischer Soziologe und Philosoph
8. Juli: Frank Prihoda, australischer Skirennläufer († 2022)
9. Juli: Hans-Joachim Reiche, deutscher Journalist († 2005)
10. Juli: Harvey Ball, US-amerikanischer Grafikdesigner († 2001)
10. Juli: Jake LaMotta, US-amerikanischer Mittelgewichtsboxer († 2017)
10. Juli: Jock Lawrence, britischer Autorennfahrer († 1998)
10. Juli: Eunice Shriver, Aktivistin für Behinderte († 2009)
11. Juli: Ilse Werner, deutsche Schauspielerin († 2005)
12. Juli: Peter Edel, deutscher Grafiker und Schriftsteller († 1983)
13. Juli: Ernest Gold, US-amerikanischer Komponist österreichischer Herkunft († 1999)
13. Juli: Friedrich Peter, österreichischer Politiker († 2005)
14. Juli: Sir Geoffrey Wilkinson, britischer Chemiker († 1996)
15. Juli: Jack Beeson, US-amerikanischer Komponist († 2010)
15. Juli: Manolo Fábregas, mexikanischer Schauspieler, Regisseur und Filmproduzent spanischer Herkunft († 1996)
15. Juli: Jean Heywood, britische Schauspielerin († 2019)
16. Juli: Ernst Beyeler, Schweizer Künstler († 2010)
17. Juli: Burnu Acquanetta, US-amerikanische Schauspielerin († 2004)
17. Juli: Louis Lachenal, französischer Alpinist († 1955)
17. Juli: Bernard Morel, Schweizer evangelischer Geistlicher und Hochschullehrer († 1996)
17. Juli: Lito Peña, puerto-ricanischer Saxophonist, Bandleader, Komponist und Arrangeur († 2002)
18. Juli: Aaron T. Beck, US-amerikanischer Psychiater und Psychotherapeut († 2021)
18. Juli: Heinz Bennent, deutscher Schauspieler († 2011)
18. Juli: John Glenn, US-amerikanischer Testpilot, Astronaut und Politiker († 2016)
18. Juli: Richard Leacock, britischer Regisseur und Kameramann von Dokumentarfilmen († 2011)
18. Juli: Hans Conrad Leipelt, deutscher Student und Mitglied der Weißen Rose († 1945)
18. Juli: Werner Lindenmaier, deutscher Jurist († 2005)
19. Juli: Bertil Antonsson, schwedischer Ringer († 2006)
19. Juli: Harold Camping, US-amerikanischer Radioprediger († 2013)
19. Juli: Laurence Mitchell, britischer Automobilrennfahrer († 2009)
19. Juli: André Moynet, französischer Flieger im Zweiten Weltkrieg, Politiker und Automobilrennfahrer († 1993)
19. Juli: Rosalyn Sussman Yalow, US-amerikanische Physikerin und Nobelpreisträgerin († 2011)
20. Juli: Désiré Dondeyne, französischer Komponist und Dirigent († 2015)
20. Juli: Mercedes Pardo, venezolanische Malerin († 2005)
21. Juli: James Cooke Brown, US-amerikanischer Soziologe und Science-Fiction-Autor († 2000)
21. Juli: Ted Schroeder, US-amerikanischer Tennisspieler († 2006)
21. Juli: Werner Schubert-Deister, deutscher Maler und Bildhauer († 1991)
22. Juli: Rudolf Diwald, österreichischer Tischtennisspieler († 1952)
22. Juli: William V. Roth, US-amerikanischer Politiker († 2003)
23. Juli: Robert Brown, britischer Schauspieler († 2003)
24. Juli: Giuseppe Di Stefano, italienischer Opernsänger (Tenor) († 2008)
25. Juli: Adolph Herseth, US-amerikanischer Trompeter († 2013)
25. Juli: Paul Watzlawick, österreichischer Psychotherapeut und Autor († 2007)
26. Juli: Amedeo Amadei, italienischer Fußballspieler und -trainer († 2013)
26. Juli: Heinrich Graf von Einsiedel, deutscher Politiker, MdB († 2007)
26. Juli: Karin Hertz, deutsche Bildhauerin († 2017)
27. Juli: Eugenio Coseriu, Romanist und Allgemeiner Sprachwissenschaftler († 2002)
27. Juli: Émile Genest, kanadischer Schauspieler und Komödiant († 2003)
27. Juli: Karl Ernst Tielebier-Langenscheidt, deutscher Verleger
29. Juli: Chris Marker, französischer Schriftsteller, Fotograf und Dokumentarfilmer († 2012)
31. Juli: Peter Benenson, britischer Anwalt, Gründer von Amnesty international († 2005)
31. Juli: Wladimir Keilis-Borok, russischer Geophysiker und Erdbebenforscher († 2013)
31. Juli: Margarita Luna García, dominikanische Pianistin und Komponistin († 2016)
31. Juli: Donald Malarkey, US-amerikanischer Fallschirmjäger († 2017)
31. Juli: Albertas Vesčiūnas, litauischer Maler und Graphiker († 1976)
August
1. August: Jack Kramer, US-amerikanischer Tennisspieler († 2009)
2. August: Rudi Michel, deutscher Sportjournalist († 2008)
2. August: Erwin Wenzl, österreichischer Politiker († 2005)
3. August: Richard Adler, US-amerikanischer Komponist und Liedtexter († 2012)
3. August: Frank De Felitta, US-amerikanischer Schauspieler und Drehbuchautor († 2016)
3. August: Marilyn Maxwell, US-amerikanische Schauspielerin († 1972)
4. August: Herb Ellis, US-amerikanischer Jazzmusiker († 2010)
4. August: Maurice Richard, kanadischer Eishockeyspieler († 2000)
6. August: Buddy Collette, US-amerikanischer Jazz-Musiker († 2010)
7. August: René Alain, kanadischer Akkordeonist († 1968)
7. August: Karel Husa, US-amerikanischer Komponist und Professor († 2016)
8. August: Roger Nixon, US-amerikanischer Komponist und Musikpädagoge († 2009)
8. August: Webb Pierce, US-amerikanischer Country-Sänger († 1991)
8. August: Esther Williams, US-amerikanische Schauspielerin († 2013)
9. August: Lola Bobesco, belgische Geigerin rumänischer Herkunft († 2003)
9. August: John James Exon, US-amerikanischer Politiker († 2005)
10. August: John Archer, britischer Sprinter († 1997)
10. August: Agnes Giebel, deutsche Sopranistin († 2017)
11. August: Alex Haley, US-amerikanischer Schriftsteller († 1992)
11. August: Frederick Mayer, deutscher Pädagoge, Hochschullehrer, Autor († 2006)
11. August: Carl Möhner, österreichischer Schauspieler und Maler († 2005)
12. August: Martin Appelfeller, deutscher Generalmajor († 2001)
13. August: Raúl Matas, chilenischer Journalist und Moderator († 2004)
13. August: Engelbert Niebler, Richter am Bundesverfassungsgericht († 2006)
13. August: Imre Sarkadi, ungarischer Schriftsteller († 1961)
14. August: Julia Hartwig, polnische Dichterin und Übersetzerin († 2017)
14. August: Giorgio Strehler, italienischer Regisseur († 1997)
15. August: Eckart Afheldt, deutscher Militär († 1999)
16. August: Hans Karl Otto Asplund, schwedischer Architekt († 1994)
16. August: Avrahm Galper, kanadischer Klarinettist und Musikpädagoge († 2004)
16. August: Max Thurian, Schweizer Theologe († 1996)
16. August: Dick Wildung, US-amerikanischer American-Football-Spieler († 2006)
17. August: Geoffrey Rudolph Elton, britischer Historiker deutscher Herkunft († 1994)
17. August: Walter Koschatzky, österreichischer Kunsthistoriker († 2003)
19. August: Jonas Algirdas Antanaitis, litauischer Politiker († 2018)
19. August: Gene Roddenberry, Drehbuchautor, Fernseh- und Filmproduzent († 1991)
20. August: Leonid Wiktorowitsch Afanassjew, sowjetischer Komponist († 1995)
20. August: Jürgen Kieser, deutscher Comic-Zeichner, Werbegrafiker und Karikaturist († 2019)
21. August: Wolfgang Heyl, deutscher Politiker († 2014)
22. August: Michael Yeats, irischer Politiker (Fianna Fáil) († 2007)
23. August: Kenneth Arrow, US-amerikanischer Ökonom († 2017)
23. August: Franco Ossola, italienischer Fußballspieler († 1949)
24. August: Schuyler Carron, US-amerikanischer Bobsportler († 1964)
24. August: Ercole Rabitti, italienischer Fußballspieler und -trainer († 2009)
24. August: Sam Tingle, rhodesischer Automobilrennfahrer († 2008)
25. August: Walter Achenbach, deutscher Mediziner († 2015)
25. August: Monty Hall, kanadischer Showmaster und Fernsehproduzent († 2017)
25. August: Brian Moore, Schriftsteller und Drehbuchautor († 1999)
26. August: Shimshon Avraham Amitsur, israelischer Mathematiker († 1994)
26. August: Ben Bradlee, US-amerikanischer Journalist, Vizepräsident der Washington Post († 2014)
26. August: Maxime A. Faget, US-amerikanischer NASA-Raumfahrttechniker († 2004)
27. August: Gerhard Kander, kanadischer Geiger († 2008)
27. August: Leo Penn, US-amerikanischer Filmregisseur, Schauspieler, Drehbuchautor und Filmproduzent († 1998)
27. August: Karel Ptáčník, tschechischer Schriftsteller († 2002)
27. August: Manuel Rueda, dominikanischer Schriftsteller und Pianist († 1999)
28. August: Fernando Fernán Gómez, spanischer Schauspieler und Regisseur († 2007)
28. August: Barbro Hiort af Ornäs, schwedische Schauspielerin († 2015)
28. August: Fred Weyrich, deutscher Musikproduzent, Schlagertexter und Sänger († 1999)
29. August: Iris Apfel, US-amerikanische Geschäftsfrau
29. August: Gerhard Grüneberg, SED-Funktionär († 1981)
29. August: Erni Singerl, bayerische Volksschauspielerin († 2005)
31. August: Hermann Vetter, deutscher Fußballspieler
September
1. September: Dieter Ahlers, deutscher Jurist († 2009)
1. September: Willem Frederik Hermans, niederländischer Schriftsteller († 1995)
1. September: Kurt Hübner, deutscher Philosoph († 2013)
2. September: Ernst Balluf, österreichischer Maler und Grafiker († 2008)
3. September: John Aston, englischer Fußballspieler († 2003)
3. September: Henry Bellmon, US-amerikanischer Politiker († 2009)
3. September: Luigi Bühler, Schweizer Schachproblemkomponist († 2004)
3. September: Thurston Dart, englischer Cembalist, Dirigent und Musikpädagoge († 1971)
3. September: Ruth Orkin, US-amerikanische Photographin und Filmemacherin († 1985)
4. September: Ariel Ramírez, argentinischer Komponist († 2010)
4. September: Herbert Weicker, deutscher Schauspieler und Synchronsprecher († 1997)
5. September: Karl Decker, österreichischer Fußballspieler und Trainer († 2005)
5. September: Jack Valenti, langjähriger Präsident der Motion Picture Association of America († 2007)
6. September: Carmen Laforet, spanische Schriftstellerin († 2004)
8. September: Hans Ulrich Engelmann, deutscher Komponist († 2011)
8. September: Victor Razafimahatratra, Erzbischof von Antananarivo und Kardinal († 1993)
9. September: Solomon Konstantinowitsch Apt, russischer Übersetzer († 2010)
9. September: Andrzej Dobrowolski, polnischer Komponist und Musikpädagoge († 1990)
10. September: Alfred Bengsch, katholischer Bischof und Kardinal († 1979)
11. September: Myqerem Fuga, albanischer Politiker († 2003)
11. September: Bruno Moravetz, deutscher Sportreporter († 2013)
11. September: Ydnekachew Tessema, äthiopischer Fußballspieler und Sportfunktionär († 1987)
12. September: Stanisław Lem, polnischer Philosoph, Essayist und Science-Fiction-Autor († 2006)
14. September: Erhard Agricola, deutscher Sprachwissenschaftler und Schriftsteller († 1995)
14. September: Paulo Evaristo Kardinal Arns, brasilianischer Bischof († 2016)
14. September: Helmut Bantz, deutscher Turner († 2004)
15. September: Henry H. Arnhold, US-amerikanischer Bankier († 2018)
15. September: Snooky Pryor, US-amerikanischer Blues-Sänger und Mundharmonikaspieler († 2006)
16. September: Jon Hendricks, US-amerikanischer Jazz-Sänger († 2017)
17. September: Virgilio Barco Vargas, Politiker und Präsident der Republik Kolumbien († 1997)
17. September: Roger H. Zion, US-amerikanischer Politiker († 2019)
18. September: Nermin Abadan-Unat, deutsch-türkische Soziologin und Frauenforscherin
18. September: Kamal Hasan Ali, ägyptischer General, Politiker und Premierminister († 1993)
19. September: Paulo Freire, brasilianischer Pädagoge, Jurist, Historiker, Philosoph († 1997)
20. September: Carlo Parola, italienischer Fußballspieler und -trainer († 2000)
21. September: Chico Hamilton, US-amerikanischer Jazzmusiker und -komponist († 2013)
22. September: Wolfgang Arnold, österreichischer Schriftsteller († 1998)
22. September: Ian Raby, britischer Automobilrennfahrer († 1967)
23. September: Ernst Naumann, deutscher Verleger († 2004)
25. September: Jacques Martin, französischer Comiczeichner († 2010)
25. September: Ann-Charlott Settgast, deutsche Schriftstellerin († 1988)
26. September: Hellmut Arnold, deutscher Offizier
26. September: Cyprian Ekwensi, nigerianischer Schriftsteller († 2007)
26. September: Tivadar Kardos, ungarischer Schachproblemkomponist († 1998)
27. September: Gonzague Olivier, französischer Automobilrennfahrer und Bootsbauer († 2013)
27. September: John Malcolm Patterson, US-amerikanischer Politiker († 2021)
29. September: Wolfgang Mischnick, deutscher Politiker und Bundesminister († 2002)
29. September: Otto Gerhard Prokop, österreichischer Anatom und Gerichtsmediziner († 2009)
30. September: Deborah Kerr, US-amerikanische Schauspielerin († 2007)
30. September: Leo Mülfarth, deutscher Autor und Hochschullehrer († 2009)
30. September: Stanisław Nagy, polnischer Theologe und Kardinal († 2013)
Oktober
2. Oktober: Peter Florin, deutscher Politiker († 2014)
2. Oktober: Mike Nazaruk, US-amerikanischer Automobilrennfahrer († 1955)
2. Oktober: Albert Scott Crossfield, US-amerikanischer Testpilot († 2006)
2. Oktober: Giorgio Scarlatti, italienischer Automobilrennfahrer († 1990)
3. Oktober: Hermann Arnhold, russischer Dichter († 1991)
3. Oktober: Pierre Hémard, französischer Autorennfahrer († 2003)
4. Oktober: Alexander Leonowitsch Kemurdschian, russischer Raumfahrtingenieur († 2003)
4. Oktober: Francisco Morales Bermúdez, Präsident Perus von 1975 bis 1980 († 2022)
4. Oktober: Pierre Riché, französischer Historiker († 2019)
5. Oktober: Johann Ludwig Atrops, deutscher Ingenieur († 2001)
5. Oktober: Joachim Piefke, deutscher Manager († 2003)
5. Oktober: Horst Scholze, deutscher Glaschemiker und Hochschullehrer († 1990)
5. Oktober: Asta Vorsteher, deutsche Weberin und Malerin († 2006)
5. Oktober: Bill Willis, US-amerikanischer American-Football-Spieler und -Trainer († 2007)
6. Oktober: Julia Dingwort-Nusseck, deutsche Wirtschaftsjournalistin
6. Oktober: Rinaldo Martino, argentinisch-italienischer Fußballspieler († 2000)
6. Oktober: Boris Mersson, Schweizer Komponist und Pianist († 2013)
6. Oktober: Giovanni Michelotti, italienischer Fahrzeugdesigner († 1980)
7. Oktober: Dirk Dautzenberg, deutscher Schauspieler und Theaterregisseur († 2009)
7. Oktober: Raymond Goethals, belgischer Fußballtrainer († 2004)
7. Oktober: Siegfried Spielmann, deutscher Billardspieler († 1999)
8. Oktober: Mélanie Berger-Volle, österreichisch-französische Schneiderin, Widerstandskämpferin und Zeitzeugin
8. Oktober: Günther Jerschke, deutscher Schauspieler († 1997)
9. Oktober: Adrienne Clostre, französische Komponistin († 2006)
9. Oktober: María Luisa Landín, mexikanische Sängerin († 2014)
9. Oktober: Tadeusz Różewicz, polnischer Schriftsteller († 2014)
9. Oktober: Georg Schreiber, deutscher Mediziner und Medizinjournalist († 1996)
10. Oktober: James Clavell, britisch-australischer Romanschriftsteller, Drehbuchautor und Regisseur († 1994)
10. Oktober: Julius Watkins, US-amerikanischer Hornist († 1977)
10. Oktober: Andrea Zanzotto, italienischer Dichter († 2011)
11. Oktober: Ernst Dürr, österreichischer Politiker († 2002)
12. Oktober: Jaroslav Drobný, tschechoslowakischer Tennis- und Eishockeyspieler († 2001)
13. Oktober: Jaroslav Juhan, guatemaltekischer Automobilrennfahrer († 2011)
13. Oktober: Salvador Minuchin, argentinischer Pädiater und Psychotherapeut († 2017)
13. Oktober: Yves Montand, französischer Chansonnier und Schauspieler († 1991)
14. Oktober: Josef Amadori, deutscher Fußballspieler († 2007)
14. Oktober: Jean-Daniel Chapuis, Schweizer evangelischer Geistlicher († 1988)
15. Oktober: Angelica Adelstein-Rozeanu, rumänische Tischtennisspielerin († 2006)
15. Oktober: Hoimar von Ditfurth, deutscher Schriftsteller und Fernsehmoderator († 1989)
15. Oktober: Al Pease, kanadischer Automobilrennfahrer († 2014)
16. Oktober: Esteban Servellón, salvadorianischer Komponist, Musiker, Dirigent und Musikpädagoge († 2003)
16. Oktober: Georges Wilson, französischer Schauspieler († 2010)
19. Oktober: Bill Bright, US-amerikanischer Evangelist († 2003)
19. Oktober: George Nader, US-amerikanischer Schauspieler († 2002)
19. Oktober: Gunnar Nordahl, schwedischer Fußballspieler († 1995)
20. Oktober: Manuel Ayulo, US-amerikanischer Automobilrennfahrer († 1955)
20. Oktober: Heinz Lehmann, deutscher Schachspieler († 1995)
21. Oktober: Malcolm Arnold, englischer Komponist († 2006)
22. Oktober: Georges Brassens, französischer Dichter, Autor, und Interpret von Chansons († 1981)
22. Oktober: Herbert Gruhl, deutscher Politiker und Umweltschützer († 1993)
22. Oktober: Cuthbert Sebastian, Generalgouverneur von St. Kitts und Nevis († 2017)
22. Oktober: Czesław Słania, Graveur von Briefmarken und Geldscheinen († 2005)
24. Oktober: Ulrich Berger, deutscher Politiker und Gewerkschafter († 2003)
24. Oktober: Rafa Galindo, venezolanischer Sänger († 2010)
24. Oktober: Sena Jurinac, kroatische Sängerin († 2011)
24. Oktober: Flor Roffé de Estévez, venezolanische Musikpädagogin und Komponistin († 2004)
25. Oktober: Michael I., letzter rumänischer König († 2017)
26. Oktober: Joe Fulks, US-amerikanischer Basketballspieler († 1976)
27. Oktober: José Ádem Chain, mexikanischer Mathematiker († 1991)
27. Oktober: Nell I. Mondy, US-amerikanischer Biochemikerin († 2005)
28. Oktober: Alewtina Bilinkina, sowjetische Vulkanologin und Geologin († 1951)
29. Oktober: Alois Mertes, deutscher Politiker († 1985)
30. Oktober: Abraham Leonardus Appel, niederländischer Fußballspieler und -trainer († 1997)
30. Oktober: Rudolf Asmus, tschechischer Opernsänger († 2000)
31. Oktober: Walter Fitz, deutscher Schlagersänger, Komponist und Volksschauspieler († 1992)
Oktober: Hans Wrage, deutscher Maler († 2012)
November
1. November: Ilse Aichinger, österreichische Schriftstellerin († 2016)
1. November: Wadih El Safi, libanesischer Sänger, Songwriter, Komponist und Schauspieler († 2013)
1. November: Harald Quandt, deutscher Industrieller († 1967)
2. November: Federico Brito Figueroa, venezolanischer marxistischer Historiker und Anthropologe († 2000)
2. November: Sören Kam, Angehöriger der dänischen SS-Einheiten († 2015)
2. November: Wanda Półtawska, polnische Psychiaterin, Widerstandskämpferin und KZ-Überlebende († 2023)
2. November: William Donald Schaefer, US-amerikanischer Politiker († 2011)
3. November: Charles Bronson, US-amerikanischer Schauspieler († 2003)
4. November: Kurt Abraham, deutscher Jazzmusiker († 1988)
4. November: Gert Ledig, deutscher Schriftsteller († 1999)
4. November: Miriam Solovieff, US-amerikanische Geigerin und Musikpädagogin († 2004)
5. November: Kurt Adolff, deutscher Automobilrennfahrer († 2012)
5. November: Jacqueline Brumaire, französische Sopranistin († 2000)
5. November: György Cziffra, ungarischer Pianist († 1994)
5. November: Fausia von Ägypten, erste Ehefrau von Schah Mohammad Reza Pahlavi und Königin von Iran († 2013)
5. November: Walter Queißner, deutscher Langstreckenläufer und Sportfunktionär († 1997)
6. November: Julius Hackethal, deutscher Mediziner († 1997)
6. November: Karl Herold, deutscher Politiker († 1977)
6. November: James Jones, US-amerikanischer Schriftsteller († 1977)
7. November: Andrew Athanassoulias Athens, US-amerikanischer Geschäftsmann († 2013)
7. November: Manuel Fernández Álvarez, spanischer Historiker († 2010)
8. November: Walter Mirisch, US-amerikanischer Filmproduzent († 2023)
9. November: Pierrette Alarie, kanadische Sängerin und Gesangspädagogin († 2011)
10. November: Abd ar-Rahman Scharkawi, ägyptischer Schriftsteller († 1987)
11. November: Bruno Banducci, US-amerikanischer American-Football-Spieler († 1985)
11. November: Terrel Bell, US-amerikanischer Politiker († 1996)
11. November: Milorad Pavić, jugoslawischer Fußballtrainer († 2005)
12. November: Hartmut Aschermann, deutscher Theologe († 2009)
12. November: Robert Fleming, kanadischer Komponist, Pianist, Organist, Chorleiter und Musikpädagoge († 1976)
13. November: Ghislaine Demonceau, französische Geigerin († 2014)
13. November: Yoshiro Irino, japanischer Komponist († 1980)
13. November: Joonas Kokkonen, finnischer Komponist († 1996)
14. November: Constance Baker Motley, US-amerikanische Bundesrichterin († 2005)
15. November: Gil Bouley, US-amerikanischer American-Football-Spieler († 2006)
15. November: Helmut Schönnamsgruber, deutscher Naturwissenschaftler, Naturschützer sowie Vereins- und Verbandsfunktionär († 2008)
16. November: Edmondo Fabbri, italienischer Fußballspieler und -trainer († 1995)
17. November: Albert Bertelsen, dänischer Maler († 2019)
17. November: Edith Keller-Herrmann, deutsche Schachspielerin († 2010)
17. November: Warren Tallman, US-amerikanischer Literaturwissenschaftler († 1994)
18. November: Tschabua Amiredschibi, georgischer Schriftsteller († 2013)
18. November: Margrit Aust, österreichische Schauspielerin († 2014)
19. November: Géza Anda, Schweizer Pianist († 1976)
19. November: Max Kruse, deutscher Kinderbuchautor († 2015)
20. November: Jim Garrison, Staatsanwalt von New Orleans von 1962 bis 1973 († 1992)
20. November: Robert Schwan, deutscher Fußballmanager († 2002)
21. November: Maxwell William Ward, kanadischer Flugpionier und Unternehmer († 2020)
22. November: Pierre Arnold, schweizerischer Manager († 2007)
22. November: Rodney Dangerfield, US-amerikanischer Komiker, Schauspieler († 2004)
22. November: Henry F. Sherwood, deutsch-amerikanischer Computerpionier († 2005)
24. November: John Lindsay, US-amerikanischer Politiker († 2000)
24. November: Lieselotte Quilling, deutsche Schauspielerin († 1997)
25. November: Vladimír Černušák, tschechoslowakischer Sportfunktionär († 2018)
25. November: Gottfried Sälzler, deutscher Fußballspieler und Sportfunktionär († 1968)
26. November: Henry Beckman, kanadischer Schauspieler († 2008)
26. November: Françoise Gilot, französische Malerin († 2023)
27. November: Alexander Dubček, slowakischer Politiker († 1992)
29. November: Warren Anderson, US-amerikanischer Manager († 2014)
30. November: Edward Adamczyk, polnischer Leichtathlet und Sportlehrer († 1993)
Dezember
2. Dezember: Otis Dudley Duncan, US-amerikanischer Soziologe († 2004)
2. Dezember: Carlo Furno, italienischer Kardinal der römisch-katholischen Kirche († 2015)
3. Dezember: Phyllis Curtin, US-amerikanische Opernsängerin (Sopran) und Musikpädagogin († 2016)
4. Dezember: Carlos Franqui, kubanischer Poet, Schriftsteller, Journalist und Kunstkritiker († 2010)
4. Dezember: Paul Schäfer, deutscher Gründer der Colonia Dignidad in Chile († 2010)
5. Dezember: Satoshi Anabuki, japanischer Jagdflieger († 2005)
5. Dezember: Louis de Froment, französischer Dirigent († 1994)
6. Dezember: Khalil Abi-Nader, libanesischer Bischof († 2009)
6. Dezember: Marcel Callo, französischer katholischer Jugendarbeiter und Gegner des Nationalsozialismus († 1945)
6. Dezember: Otto Graham, American-Football-Spieler und -Trainer, Basketballspieler († 2003)
7. Dezember: Tilda Thamar, argentinische Filmschauspielerin und Malerin († 1989)
8. Dezember: Peter René Körner, deutscher Schauspieler, Sänger und Moderator († 1989)
9. Dezember: Herbert Koschel, deutscher Speerwerfer († 1980)
10. Dezember: Richard Ackerschott, deutscher Fußballspieler († 2002)
10. Dezember: Christine Brückner, deutsche Schriftstellerin († 1996)
10. Dezember: Georg Stefan Troller, österreichischer Schriftsteller, Fernsehjournalist und Dokumentarfilmer
11. Dezember: Liz Smith, britische Filmschauspielerin († 2016)
11. Dezember: Bob Zimny, US-amerikanischer Footballspieler († 2011)
12. Dezember: George Frankl, österreichischer Psychoanalytiker, Philosoph und Autor († 2004)
12. Dezember: Valerie Steinmann, Schweizer Schauspielerin († 2011)
13. Dezember: Ludwig Baumann, deutscher Friedensaktivist († 2018)
14. Dezember: Mike McCormack, US-amerikanischer Politiker († 2020)
14. Dezember: Charley Trippi, US-amerikanischer American-Football-Spieler und -Trainer († 2022)
15. Dezember: Nadija Andrianowa, ukrainische Autorin, Übersetzerin und Esperantistin († 1998)
15. Dezember: Evelyn Künneke, deutsche Sängerin, Tänzerin und Schauspielerin († 2001)
17. Dezember: Anne Golon, französische Schriftstellerin († 2017)
18. Dezember: Renato Baldini, italienischer Filmschauspieler († 1995)
19. Dezember: Noel George Butlin, australischer Wirtschaftswissenschaftler und -historiker († 1991)
19. Dezember: Christian Kipfer, Schweizer Turner († 2009)
19. Dezember: Ludvík Podéšt, tschechischer Komponist († 1968)
20. Dezember: Willi Walter Horst Ankermann, deutscher Pharmakologe und Bildhauer († 2005)
20. Dezember: George Roy Hill, US-amerikanischer Filmregisseur († 2002)
20. Dezember: Gomi Kōsuke, japanischer Schriftsteller († 1980)
21. Dezember: Heinrich Adameck, SED-Funktionär und Vorsitzender des Staatlichen Komitees für Fernsehen († 2010)
21. Dezember: Karl-Günther Bechem, deutscher Automobilrennfahrer († 2011)
21. Dezember: Paul Falk, deutscher Eiskunstläufer († 2017)
21. Dezember: Augusto Monterroso, guatemaltekischer Schriftsteller und Diplomat († 2003)
21. Dezember: Maila Nurmi, US-amerikanische Schauspielerin († 2008)
22. Dezember: Dimitris Fampas, griechischer Gitarrist und Komponist († 1996)
22. Dezember: Laine Mets, estnische Pianistin und Musikpädagogin († 2007)
22. Dezember: Reinhold Stecher, österreichischer Geistlicher, Bischof der Diözese Innsbruck († 2013)
23. Dezember: Hans Bausch, deutscher Journalist und Rundfunkintendant († 1991)
23. Dezember: Ludwig Deiters, deutscher Architekt und Generalkonservator in der DDR († 2018)
23. Dezember: Günther Nenning, österreichischer Journalist, Autor und politischer Aktivist († 2006)
23. Dezember: Heinrich Riethmüller, deutscher Komponist († 2006)
24. Dezember: Bill Dudley, US-amerikanischer American-Football-Spieler († 2010)
25. Dezember: Walter Than, deutscher Tischtennisspieler († 2011)
26. Dezember: Steve Allen, US-amerikanischer Komiker und Musiker († 2000)
26. Dezember: Dietrich Andernacht, deutscher Historiker und Archivar († 1996)
26. Dezember: Thomas von Randow, deutscher Mathematiker, Wissenschaftsredakteur und Buchautor († 2009)
27. Dezember: Emil Obermann, deutscher Journalist und Fernsehmoderator († 1994)
27. Dezember: Yohannes Woldegiorgis, äthiopischer Bischof († 2002)
28. Dezember: Tamara Ehlert, deutsche Dichterin († 2008)
28. Dezember: Cyril Frankel, britischer Film- und Fernsehregisseur († 2017)
28. Dezember: Johnny Otis, US-amerikanischer Bandleader, Produzent und Talentsucher († 2012)
30. Dezember: John Lloyd Ackrill, englischer Philosophiehistoriker († 2007)
Genaues Geburtsdatum unbekannt
Sabit Osman Avcı, türkischer Politiker († 2009)
Marie-Thérèse Chailley, französische Bratschistin und Musikpädagogin († 2001)
Salvador García, mexikanischer Sänger und Schauspieler († 1994)
Robert Last, deutscher Schlagzeuger († 1986)
Ahmad Mogharebi, iranischer General und sowjetischer Spion († 1977)
Ingo Osterloh, deutscher Schauspieler († 1986)
Gestorben
Januar/Februar
2. Januar: Theobald von Bethmann Hollweg, deutscher Politiker (* 1856)
3. Januar: Arseni Nikolajewitsch Koreschtschenko, russischer Komponist (* 1870)
5. Januar: Jakob Johan Adolf Appellöf, schwedischer Zoologe (* 1857)
8. Januar: Béatrice La Palme, kanadische Sängerin, Geigerin und Musikpädagogin (* 1878)
12. Januar: Gervase Elwes, englischer Sänger (* 1866)
17. Januar: Joachim von Bonin, deutscher Politiker (* 1857)
18. Januar: Wilhelm Foerster, deutscher Astronom (* 1832)
18. Januar: Adolf von Hildebrand, deutscher Bildhauer (* 1847)
21. Januar: Arthur Sifton, kanadischer Politiker und Richter (* 1858)
22. Januar: Louis Armand, französischer Höhlenforscher (* 1854)
23. Januar: Hugo Oppenheim, deutscher Bankier (* 1847)
23. Januar: Władysław Żeleński, polnischer Komponist (* 1837)
26. Januar: Georg Oskar Immanuel von Hase, deutscher Verleger und Buchhändler (* 1846)
3. Februar: Colin Archer, norwegischer Yacht- und Schiffskonstrukteure (* 1832)
3. Februar: Julius von Soden, deutscher Politiker und Gouverneur von Kamerun (* 1846)
3. Februar: Franz Weineck, deutscher Gymnasialdirektor und Heimatforscher (* 1839)
4. Februar: Carl Hauptmann, deutscher Schriftsteller (* 1858)
6. Februar: Alberto Membreño Vásquez, Präsident von Honduras (* 1859)
8. Februar: Francisco d’Andrade, portugiesischer Opernsänger (* 1859)
8. Februar: Josip Ipavec, slowenischer Komponist (* 1873)
8. Februar: Peter Kropotkin, russischer Anarchist (* 1842)
14. Februar: Thompson Benton Ferguson, US-amerikanischer Politiker (* 1857)
16. Februar: Ernst Ziel, deutscher Schriftsteller und Redakteur (* 1841)
25. Februar: Elisabeth Fedde, norwegische Diakonisse (* 1850)
März/April
3. März: Henry Goudy, britischer Jurist und Hochschullehrer (* 1848)
7. März: Emanuel Hugo Eugen Ottokar von Aderkas, russischer Verwaltungsjurist, Geheimer Rat und Gutsbesitzer (* 1859)
7. März: Alexander Dutow, Kosakenführer im Russischen Bürgerkrieg (* 1879)
8. März: Thomas H. Paynter, US-amerikanischer Politiker (* 1851)
15. März: Talât Pascha, Großwesir des Osmanischen Reiches, Führer der Jungtürken (* 1874)
15. März: Caroline Weldon, schweizerisch-amerikanische Künstlerin, Bürgerrechtlerin und Vertraute von Sitting Bull (* 1844)
17. März: Oltwig von Kamptz, deutscher Offizier (* 1857)
21. März: Georg Schläger, deutscher Lehrer und Volksliedforscher (* 1870)
27. März: Karl Ernst Osthaus, deutscher Kunstmäzen (* 1874)
29. März: Levi Ankeny, US-amerikanischer Politiker (* 1844)
1. April: Joseph-Daniel Dussault, kanadischer Organist und Musikpädagoge (* 1864)
1. April: Carl Johannes Thomae, deutscher Mathematiker (* 1840)
6. April: Maximilian Delphinius Berlitz, deutsch-US-amerikanischer Sprachpädagoge und Gründer der Berlitz Sprachschulen (* 1852)
7. April: Lorenz Adlon, deutscher Gastronom und Hotelier (* 1849)
10. April: Jeter Connelly Pritchard, US-amerikanischer Politiker (* 1857)
11. April: Auguste Viktoria, letzte deutsche Kaiserin (* 1858)
13. April: Theodor Leutwein, deutscher Gouverneur von Deutsch-Südwestafrika (* 1849)
15. April: Georg Heinrich Maria Kirstein, Bischof von Mainz (* 1858)
18. April: August Scherl, deutscher Großverleger (* 1849)
21. April: Hans Georg Joachim Apel-Pusch, deutscher Offizier (* 1862)
24. April: Julius Krautz, deutscher Scharfrichter (* 1843)
25. April: Max Jacob, deutscher Architekt (* 1849)
29. April: Samuel T. Strang, US-amerikanischer Organist und Komponist (* 1856)
Mai/Juni
2. Mai: Jakob Lutz, Schweizer Lehrer und Politiker (* 1845)
3. Mai: Emil Baudenbacher, Schweizer evangelischer Geistlicher und Volksschriftsteller (* 1874)
4. Mai: Alfred Hermann Fried, deutscher Pazifist, Publizist, Friedensnobelpreisträger (* 1864)
7. Mai: Max Buchner, deutscher Forschungsreisender (* 1846)
12. Mai: Emilia Pardo Bazán, spanische Schriftstellerin (* 1851)
13. Mai: Jean François Victor Aicard, französischer Dichter, Romancier und Dramatiker (* 1848)
18. Mai: Franklin Knight Lane, US-amerikanischer Politiker (* 1864)
19. Mai: Edward Douglass White, Oberster Richter der USA 1910–1921 (* 1845)
27. Mai: Haydn Keeton, englischer Organist, Musikpädagoge und Komponist (* 1847)
1. Juni: Robert Rowand Anderson, schottischer Architekt (* 1834)
4. Juni: Ludwig Knorr, deutscher Chemiker (* 1859)
4. Juni: Harry Walden, deutscher Schauspieler (* 1875)
5. Juni: Georges Feydeau, französischer Dramatiker (* 1862)
9. Juni: Karl Gareis, Fraktionsvorsitzender der USPD im bayerischen Landtag (* 1889)
11. Juni: Wilhelm Sievers, deutscher Geograph und Forschungsreisender (* 1860)
15. Juni: Oscar Wilhelm Stübel, deutscher Diplomat (* 1846)
16. Juni: William E. Mason, US-amerikanischer Politiker (* 1850)
17. Juni: Nagao Aruga, japanischer Rechtswissenschaftler und Soziologe (* 1860)
18. Juni: Eduardo Acevedo Díaz, uruguayischer Schriftsteller und Politiker (* 1851)
20. Juni: Karl Aderhold, deutscher Politiker (* 1884)
21. Juni: Murphy J. Foster, US-amerikanischer Politiker (* 1849)
24. Juni: Charles Frédéric Porret, Schweizer evangelischer Geistlicher und Hochschullehrer (* 1845)
26. Juni: Alfred Percy Sinnett, englischer Autor und Theosoph (* 1840)
28. Juni: Charles Joseph Bonaparte, Enkel von Jerome Bonaparte (* 1851)
29. Juni: Jennie Churchill, amerikanisch-britische Philanthropin und Autorin (* 1854)
29. Juni: Otto Seeck, deutscher Althistoriker (* 1850)
Juli/August
4. Juli: Miles Benjamin McSweeney, US-amerikanischer Politiker (* 1855)
11. Juli: Karl Radinger von Radinghofen, österreichischer Altphilologe und Museumsfachmann (* 1869)
12. Juli: Harry George Hawker, australischer Luftfahrtpionier (* 1889)
13. Juli: Gabriel Lippmann, französischer Physiker, Nobelpreisträger (* 1845)
13. Juli: Emil Pfeiffer, deutscher Internist und Kinderarzt (* 1846)
16. Juli: Giovanni Arcangeli, italienischer Botaniker (* 1840)
19. Juli: Joseph Zimmermann, Schweizer römisch-katholischer Geistlicher (* 1849)
24. Juli: Cyrus I. Scofield, US-amerikanischer Jurist und Theologe (* 1843)
30. Juli: Luise Ahlborn, deutsche Schriftstellerin (* 1834)
2. August: Jean Agélou, französischer Fotograf (* 1878)
2. August: Enrico Caruso, italienischer Opernsänger (* 1873)
7. August: Alexander Blok, russischer Dichter (* 1880)
8. August: Juhani Aho, finnischer Schriftsteller und Journalist (* 1861)
11. August: Henry Carter Adams, US-amerikanischer Finanz- und Wirtschaftswissenschaftler (* 1851)
14. August: Georg von Schönerer, österreichischer Gutsbesitzer und Politiker (* 1842)
15. August: Philipp Heinrich Ast, deutscher Schäfer und Kräuterheilkundiger (* 1878)
19. August: Heinrich Eduard Burlage, deutscher Politiker (* 1857)
23. August: Feliksa Kozłowska, polnische Ordensfrau (* 1862)
26. August: Ludwig Thoma, deutscher Schriftsteller und Satiriker (* 1867)
26. August: Matthias Erzberger, deutscher Politiker (* 1875)
September/Oktober
6. September: José Mariano Benjamin Zubiaur, argentinischer Pädagoge (* 1856)
11. September: George P. Wetmore, US-amerikanischer Politiker (* 1846)
12. September: Caesar Carpentier Antoine, US-amerikanischer Politiker (* 1836)
12. September: Carlo Maffeis, italienischer Motorradrennfahrer (* 1883)
15. September: Roman von Ungern-Sternberg, Baron deutsch-baltischer Herkunft (* 1886)
17. September: Philipp zu Eulenburg, deutscher Diplomat (* 1847)
17. September: Filip Rězak, sorbischer Pfarrer, Übersetzer und Wörterbuchautor (* 1859)
21. September: Amala, indisches Wolfskind (* 1919)
21. September: Eugen Dühring, deutscher Nationalökonom, Sozialist und Philosoph (* 1833)
22. September: Iwan Wasow, bulgarischer Dichter, Schriftsteller, Historiker und Politiker (* 1850)
24. September: Hermann Boßdorf, deutscher Schriftsteller (* 1877)
27. September: Engelbert Humperdinck, deutscher Komponist klassischer Musik (* 1854)
28. September: Ludwig Forrer, Schweizer Politiker (* 1845)
28. September: Oskar Panizza, deutscher Arzt und Schriftsteller (* 1853)
30. September: Jean-Baptiste Eugène Abel, französischer Politiker (* 1863)
1. Oktober: Julius von Hann, österreichischer Mathematiker, Meteorologe (* 1839)
1. Oktober: Lamar Fontaine, amerikanischer Schriftsteller (* 1841)
2. Oktober: Wilhelm II., König von Württemberg (* 1848)
3. Oktober: Mohammad Taqi-Khan Pesyan, iranischer Militärkommandeur und Politiker (* 1892)
10. Oktober: Otto von Gierke, deutscher Jurist und Historiker (* 1841)
11. Oktober: Haruthiun Abeljanz, Schweizer Chemiker (* 1849)
12. Oktober: Philander C. Knox, US-amerikanischer Politiker (* 1853)
13. Oktober: Max Bewer, deutscher Dichter und Schriftsteller (* 1861)
13. Oktober: Peter Dybwad, deutscher Architekt norwegischer Herkunft (* 1859)
18. Oktober: Ulrich Kreusler, deutscher Agrikulturchemiker (* 1844)
18. Oktober: Ludwig III., letzter bayerischer König (* 1845)
19. Oktober: António Joaquim Granjo, portugiesischer Ministerpräsident (* 1881)
19. Oktober: Gotthold Gundermann, deutscher Altphilologe (* 1856)
25. Oktober: Fritz Arnold, deutscher Maler (* 1883)
25. Oktober: Niels Pedersen Mols, dänischer Tier- und Landschaftsmaler (* 1859)
28. Oktober: William Speirs Bruce, schottischer Polarforscher und Ozeanograph (* 1867)
29. Oktober: Wilhelm Erb, deutscher Neurologe (* 1840)
November/Dezember
2. November: Andreas Heusler, Schweizer Jurist, Rechtshistoriker und Politiker (* 1834)
4. November: Oscar Montelius, schwedischer Archivar und Archäologe (* 1843)
5. November: Antoinette Brown Blackwell, US-amerikanische Frauenrechtlerin (* 1825)
6. November: Luther E. Hall, US-amerikanischer Politiker (* 1869)
8. November: Pavol Országh Hviezdoslav, slowakischer Dichter (* 1849)
12. November: Fernand Khnopff, belgischer Maler und Graphiker (* 1858)
14. November: Isabella von Brasilien, letzte Kronprinzessin von Brasilien (* 1846)
19. November: Hans Georg von Doering, deutscher Offizier und Kolonialbeamter (* 1866)
19. November: Hendrik Wefers Bettink, niederländischer Pharmakologe (* 1839)
23. November: John Boyd Dunlop, britischer Erfinder (* 1840)
25. November: Etienne Soukkarie, syrischer Geistlicher und Patriarchalvikar von Alexandria (* 1868)
28. November: ʿAbdul-Bahāʾ, Zentralgestalt des Bahai-Glaubens (* 1844)
6. Dezember: Said Halim Pascha, Großwesir des Osmanischen Reiches (* 1864)
15. Dezember: John Nixon, britischer General (* 1857)
16. Dezember: Adriaan Joseph Heymans, belgischer impressionistischer Landschaftsmaler (* 1839)
16. Dezember: Camille Saint-Saëns, französischer Pianist, Organist und Komponist (* 1835)
17. Dezember: Gabriela Zapolska, polnische Schriftstellerin (* 1857)
20. Dezember: Julius Richard Petri, deutscher Bakteriologe (* 1852)
23. Dezember: Friedrich von Thiersch, deutscher Architekt (* 1852)
25. Dezember: Wladimir Korolenko, russischer Dichter (* 1853)
29. Dezember: Hermann Paul, deutscher Germanist und Sprachwissenschaftler (* 1846)
31. Dezember: Boies Penrose, US-amerikanischer Politiker (* 1860)
Genaues Todesdatum unbekannt
Émile Arnaud, französischer Anwalt, Notar, Pazifist und Schriftsteller (* 1884)
Auweyida, nauruischer König (* vor 1850)
Nat Love, US-amerikanischer Sklave, Cowboy, Rodeoreiter, Pullman porter und Autor (* 1854)
Wilhelm Schwach, rumäniendeutscher Komponist, Musikpädagoge und Chorleiter (* 1850)
Weblinks
http://www.dhm.de/lemo/html/1921/ (Lebendiges virtuelles Museum Online)
Digitalisate von Zeitungen des Jahres 1921 im Zeitungsinformationssystem (ZEFYS) der Staatsbibliothek zu Berlin
Wikipedia:Artikel mit Video
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Q2162
| 1,656.682496 |
180410
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https://de.wikipedia.org/wiki/C-SPAN
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C-SPAN
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C-SPAN (Cable-Satellite Public Affairs Network) ist ein US-amerikanischer Fernsehsender, der ausschließlich über die Gesetzgebung, Regierung und Verfassungsjustiz in den USA berichtet. Der Sender begann am 19. März 1979 mit den Ausstrahlungen.
Organisation
C-SPAN wird von der Non-Profit-Organisation National Cable Satellite Corporation verwaltet und ist eine Gründung amerikanischer Kabelnetzunternehmen. Es wird privat, aber nicht kommerziell betrieben. Der Fernsehsender wird allein aus Gebühren der Kabelnetzbetreiber, die C-SPAN ausstrahlen, finanziert. Die Mitarbeiterzahl beläuft sich 2013 auf 282, der Vorsitzende C-SPANs im Jahre 2022 ist Pat Esser.
Im März 1979 erreichte C-SPAN 3,5 Mio. Zuschauer, im Jahr 2013 erreichte C-SPAN 100 Mio. Menschen über Satellit und Kabelfernsehen.
Programminhalt
Zum Programm des Parlamentsfernsehens gehören u. a. die Live-Berichterstattung aus dem US-Kongress sowie die Ausstrahlung offizieller Stellungnahmen und Pressekonferenzen der US-Regierung sowie Interviews zu politischen Themen. Das Fernsehprogramm wird seit 1982 rund um die Uhr ausgestrahlt.
Unter dem Namen C-SPAN2 wird seit 1986 ein zweiter Kanal mit gleichem Prinzip angeboten. Hier werden aktuelle Buchdiskussionen unter dem Namen Booknotes, die Sitzungen des US-Senats und andere spezielle Ereignisse ausgestrahlt.
Das weniger verbreitete C-SPAN3 strahlt werktäglich weitere aktuelle und historische Sendungen aus.
Im Internet sind Livestreams von allen drei Fernsehprogrammen verfügbar. Daneben gibt es das C-SPAN-Radio in der Region Washington-Baltimore (WCSP-FM 90,1 MHz), das man auch per Livestream hören kann. In Deutschland waren alle drei Programme von C-SPAN auch über den Peer-to-peer-Dienst Livestation bis zu dessen Schließung im März 2017 empfangbar. Über die Website der C-SPAN Video Library macht der Sender sein gesamtes Video-Archiv kostenlos der Öffentlichkeit zugänglich.
Sendungen
Der Sender bietet neben den Live-Sendungen folgende Serienthemen an:
America & The Courts
American History TV
Book TV
First Ladies
Local Content Vehicles
Newsmakers
Prime Minister’s Questions
Q&A
The Communicators
Washington Journal
Frühere Serien waren:
American Presidents
American Writers
Blair House
Booknotes
The Capitol
The Contenders
Library of Congress
Presidential Libraries
Students & Leaders
The Supreme Court
Tocqueville
The White House
Weblinks
Offizielle Website (englisch)
Einzelnachweise
Englischsprachiger Fernsehsender (Vereinigte Staaten)
Parlamentsfernsehen
Abkürzung
Gegründet 1979
Non-Profit-Organisation
Unternehmen (Washington, D.C.)
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Q1022311
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469497
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https://de.wikipedia.org/wiki/K%C3%BCrbisartige
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Kürbisartige
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Die Kürbisartigen (Cucurbitales) sind eine Ordnung der Bedecktsamigen Pflanzen (Magnoliopsida). Ihr gehören acht Familien an. Vor allem unter den Kürbisgewächsen (Cucurbitaceae) sind viele bekannte und wirtschaftlich bedeutende Pflanzenarten zu finden.
Merkmale
Die Taxa der Ordnung sind morphologisch sehr vielfältig. Zu den Kürbisartigen zählen Bäume und Sträucher ebenso wie krautige Pflanzen. Der Blattrand ist meist ganzrandig, seltener gezähnt. Das Vorhandensein von Nebenblättern gilt innerhalb der Ordnung als ursprünglich, bei den Kürbisgewächsen, Datiscaceae, Tetramelaceae und Apodanthaceae fehlen sie.
Anatomische Merkmale, die als gemeinsame abgeleitete Merkmale der Ordnung (Synapomorphien) gelten, sind das Fehlen von Schleimzellen oder -höhlen, das Fehlen von Sternhaaren, das Vorhandensein von Libriformfasern, sowie einige anatomische Merkmale der Tracheen.
Die Geschlechtssysteme sind innerhalb der Ordnung sehr vielfältig. Ursprünglich innerhalb der Ordnung sind zwittrige Blüten, wie sie bei den Corynocarpaceae, Coriariaceae, Anisophylleaceae und Apodanthaceae vorkommen. Bei den drei letzten Familien kommen jedoch auch monözische Arten vor. Die Begoniaceae sind rein monözisch. Die übrigen Familien sind primär zweihäusig (diözisch), jedoch haben sich bei den Cucurbitaceae sekundär monözische und andere Systeme gebildet. Generell gelten die Sexualsysteme innerhalb der Ordnung als labil und können leicht von einer zur anderen wechseln.
Die Blütenhülle ist meist in Kelch und Krone differenziert, die Blütenhüllblätter sind außer bei den Kürbisgewächsen nicht verwachsen.
Der Fruchtknoten ist unterständig, lediglich bei Coriariaceae und Corynocarpaceae oberständig. Diese beiden Familien zeigen auch eine apikale Plazentation der einzigen Samenanlage pro Fruchtknoten, während die übrigen Familien parietale Plazentation aufweisen.
Die Kerngruppe der Kürbisartigen (Begoniaceae, Datiscaceae, Tetramelaceae, Cucurbitaceae) besitzen vorwiegend folgende Blütenmerkmale: die Antheren sind an der Basis am Staubfaden befestigt (basifix), die Pollensäcke sitzen seitlich (latrors) oder nach außen zeigend (extrors); der Stempel besteht aus drei Fruchtblättern; die Samenanlagen sitzen parietal im Fruchtknoten. Als wichtige Trends gelten ein zweizellschichtiges inneres Integument und das Fehlen von tanninhaltigem Gewebe in den Blüten.
Die Früchte sind sehr variabel: es gibt Steinfrüchte und Samaras bei den Anisophylleaceae, Steinfrüchte bei den Corynocarpaceae, Panzerbeeren (Cucurbitaceae) und Kapselfrüchte bei den übrigen Familien. Die Kerngruppe besitzt viele Samen pro Frucht, während die Anisophylleaceae, Corynocarpaceae und Coriariaceae einen Samen pro Frucht bilden. Letzteres wird innerhalb der Ordnung als ursprünglich angesehen.
Verbreitung
Die Cucurbitales sind weltweit verbreitet, jedoch mit einem Schwerpunkt in den tropischen und subtropischen Gebieten.
Systematik
Äußere Systematik
Die genaue Stellung der Kürbisartigen innerhalb der Rosiden ist noch nicht endgültig geklärt, sie bilden jedenfalls mit den Buchenartigen (Fagales), Schmetterlingsblütenartigen (Fabales) und den Rosenartigen (Rosales) eine Gruppe, die Verhältnisse innerhalb dieser Gruppe sind noch unklar. Verschiedene Arbeiten sahen sie als Schwestertaxon der Fagales, andere wiederum als Schwestertaxon zu (Fagales + Rosales + Fabales), oder sogar als Schwestertaxon der Zygophyllales.
Innere Systematik
Die Ordnung Kürbisartige selbst ist monophyletisch. Die einzelnen Familien unterscheiden sich wesentlich in ihrer Artenzahl: die Cucurbitaceae und Begoniaceae umfassen rund 800 bzw. 1400 Arten, während die Anisophylleaceae lediglich 30 bis 40 Arten, die anderen Familien zwischen zwei und 19 Arten umfassen.
Zur Ordnung gehören folgende acht Familien mit zusammen 131 Gattungen und fast 2300 Arten:
Anisophylleaceae mit vier Gattungen
Apodanthaceae mit zwei bis drei Gattungen
Schiefblattgewächse (Begoniaceae) mit zwei Gattungen
Gerberstrauchgewächse (Coriariaceae) mit einer Gattung
Keulenfruchtgewächse (Corynocarpaceae) mit einer Gattung
Kürbisgewächse (Cucurbitaceae) mit rund 120 Gattungen
Scheinhanfgewächse (Datiscaceae) mit einer Gattung
Tetramelaceae mit zwei Gattungen
Nach Zhang u. a. (2006) ergibt sich für die Beziehungen innerhalb der Ordnungen folgendes Kladogramm, in welchem allerdings die Apodanthaceae nicht enthalten sind, da ihre Zugehörigkeit zu den Cucurbitales erst 2010 geklärt wurde:
Phylogenetische Untersuchungen der systematischen Stellung von parasitischen Pflanzen haben ergeben, dass die Familie der Apodanthaceae, die bisher innerhalb der Rosopsida keiner Untergruppe zugeordnet wurden (incertae sedis), in die Cucurbitales gehören. Daher werden sie von Peter Stevens inzwischen zu den Cucurbitales gestellt.
Die ältesten Fossilien sind Samen von Kürbisgewächsen aus dem obersten Paläozän und unteren Eozän des Londoner Lehms im Alter von rund 65 Mio. Jahren. Weitere Fossilfunde stammen dann erst aus dem oberen Oligozän Frankreichs (rund 34 Mio. Jahre), die Coriaria-ähnliche Blütenzweige darstellen.
Botanische Geschichte
Die Ordnung Cucurbitales wurde 1829 von Barthélemy Charles Joseph Dumortier aufgestellt. Lange Zeit umfasste sie lediglich die Familie Cucurbitaceae. Später kamen die Begoniaceae und die Datiscaceae (inkl. Tetramelaceae) hinzu. Die Verwandtschaft dieser Kerngruppe (Begoniaceae, Cucurbitaceae, Datiscaceae und Tetramelaceae) wurde bereits aufgrund morphologischer Studien erkannt. Insgesamt wurden die sieben Familien in der Vergangenheit in den verschiedenen Systemen in 17 verschiedene Ordnungen gestellt.
Da sich die Verwandtschaft der übrigen Familien nicht in gemeinsamen morphologischen oder anatomischen Merkmalen äußert, wurde der jetzige Umfang der Ordnung erst in den 1990er Jahren durch DNA-Sequenzvergleiche erfasst. Die jetzigen sieben Familien wurden dann in beiden Veröffentlichungen der Angiosperm Phylogeny Group den Cucurbitales zugeordnet.
Nutzung
Wirtschaftlich bedeutende Pflanzen finden sich nur unter den Kürbisgewächsen, zu denen etliche Nutzpflanzen gehören. Die kommerziell bedeutendsten sind Gartenkürbis (Cucurbita pepo), Zuckermelone (Cucumis melo), Gurke (Cucumis sativus) und Wassermelone (Citrullus lanatus). Viele Arten und Hybriden der Begonien (Begonia) sind weitverbreitete Zierpflanzen. Datisca cannabina ist eine historische Färbepflanze, mit der Seide gelb gefärbt wurde. Tetrameles nudiflora ist ein wichtiges Nutzholz in Südost-Asien.
Belege
Li-Bing Zhang, Mark P. Simmons, Alexander Kocyan, Susanne S. Renner: Phylogeny of the Cucurbitales based on DNA sequences of nine loci from three genomes: Implications for morphological and sexual system evolution. Molecular Phylogenetics and Evolution, Band 39, 2006, S. 305–322. doi:10.1016/j.ympev.2005.10.002 (pdf; 562 kB)
N. Filipowicz, S. S. Renner: The worldwide holoparasitic Apodanthaceae confidently placed in the Cucurbitales by nuclear and mitochondrial gene trees. In: BMC Evolutionary Biology. Band 10, 2010, S. 219. (biomedcentral.com)
Einzelnachweise
Weblinks
Die Ordnung beim Tree of Life Projekt. (engl.)
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Q21875
| 123.355069 |
171462
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https://de.wikipedia.org/wiki/Durban
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Durban
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Durban [] ( [], früher Port Natal) ist eine Großstadt am Indischen Ozean an der Ostküste Südafrikas. Mit umliegenden Orten bildet sie die Metropolgemeinde eThekwini. Mit über 3,9 Millionen Einwohnern nach der Volkszählung von 2011 ist eThekwini die größte Stadt der Provinz KwaZulu-Natal und nach Johannesburg und Kapstadt die drittgrößte Stadt Südafrikas; Durban selbst hatte 595.061 Einwohner.
Durban ist eine bedeutende Industrie- und Hafenstadt mit dem größten Hafen Afrikas und aufgrund der Strände und des subtropischen Klimas ein vielbesuchtes Urlaubszentrum des Landes.
Geographie
Durban liegt an der südöstlichen Küste Südafrikas in der Provinz KwaZulu-Natal, die im Osten vom Indischen Ozean und im Westen von den Drakensbergen mit Gipfeln von über 3000 Meter Höhe begrenzt wird.
Klima
Während das Hinterland vor allem aus Savanne besteht, herrscht an der Küste ein feucht-subtropisches Klima (effektive Klimaklassifikation: Cfa) vor. Die Jahresniederschläge betragen etwa 1000 mm und fallen vor allem im Sommer, der sehr heiß wird. Das Klima von Durban als Küstenstadt wird vom warmen Wasser des Agulhasstromes beeinflusst, der von Mosambik die Küste entlang nach Süden verläuft.
Die Meerwassertemperaturen sind in Durban verglichen mit Kapstadt wesentlich höher. Das Wasser hat eine durchschnittliche Temperatur von 21,8 °C. Im Februar ist es mit 24,6 °C am wärmsten, im August mit 19,25 °C am kältesten. Die Winter sind sehr mild, relativ trocken und völlig frostfrei.
Geschichte
Die ältesten Spuren von Menschen in dieser Region sind Felszeichnungen in Höhlen der Drakensberge, deren Alter auf das Jahr 100.000 v. Chr. geschätzt werden. Diese ursprünglichen Einwohner wurden von den Bantu, die vom 2. Jahrtausend v. Chr. an aus dem Norden kommend die Gegend bevölkerten, vertrieben. Insgesamt ist über die Zeit vor der Landung des portugiesischen Seefahrers Vasco da Gama nur wenig bekannt.
Da Gama entdeckte die Bucht, die von den Zulu Thekwini („Lagune“) genannt wurde, an der später die Stadt entstand, am 25. Dezember 1497 auf seiner ersten Indienreise bei der Suche nach einem Seeweg von Europa nach Indien. Sie stellte einen der wenigen natürlichen Häfen an der afrikanischen Ostküste dar. Er nannte den Ort nach dem Entdeckungstag ( „Weihnachtstag“) Rio de Natal oder „Weihnachtsfluss“ in der falschen Annahme, dass es sich bei der Bucht um die Mündung eines großen Flusses handeln würde. Später wurde daraus Port Natal.
Für etwa dreihundert Jahre war Port Natal vor allem eine Zufluchtsstätte für Schiffbrüchige, Sklavenhändler und Kaufleute. Erst 1823 gründeten britische Siedler unter der Führung von Henry Fynn eine permanente Siedlung. Mittlerweile zu einer Stadt angewachsen, erhielt sie 1835 zu Ehren des damaligen Gouverneurs der Kapkolonie Benjamin D’Urban ihren heutigen Namen.
1838 überquerten Voortrekker, burische Siedler auf ihrem großen Treck, die Drakensberge und gründeten Pietermaritzburg, 80 Kilometer nordwestlich von Durban.
Als der Anführer der Buren, Pieter Retief, mit dem Zulu-König Dingane über das Abtreten von Zulu-Gebieten an die Buren verhandeln wollte, ließ dieser ihn und seine Delegation ermorden. Dingane war 1828 seinem Halbbruder Shaka auf den Thron gefolgt. Während dieser ein gutes Verhältnis zu den weißen Siedlern pflegte, zeigte Dingane offen Feindseligkeit und Aggressivität. Nach dem Tod Retiefs kam es zu blutigen Kämpfen zwischen Buren und Zulu, die erst mit dem Sieg in der Schlacht am Blood River für die Buren entschieden wurden.
Auf eine kurze Zeit der relativen Ruhe folgten 1842 mehrere Kämpfe zwischen Buren und Briten. Nachdem sie die Briten in der Schlacht von Congella besiegt hatten, besetzten die Buren Durban für kurze Zeit und belagerten das dortige britische Fort, wurden jedoch von britischen Verstärkungen, die auf dem Seeweg eintrafen, wieder vertrieben. 1843 wurde die Region dauerhaft von den Briten annektiert und zu einem Teil der Kapkolonie, bevor sie 1856 den Status einer eigenständigen Kolonie erhielt.
Im Jahr 1850 wurde in der Stadt das römisch-katholische Apostolische Vikariat Natal errichtet, das 1951 zum Erzbistum Durban erhoben wurde.
Durch den Kolonialstatus stieg Durban zum wichtigen Hafen- und Handelsplatz im südlichen Afrika auf. Ab 1860 brachten die Briten Tausende indische Landarbeiter nach Natal, die über den Hafen Durban einwanderten. Sie erlangten nach und nach einen deutlichen Einfluss auf die Stadt und deren Nachkommen machen heute einen beträchtlichen Teil der Bevölkerung dieser Metropole aus. Während seines Aufenthalts in Südafrika von 1893 bis 1915 arbeitete Mahatma Gandhi für längere Zeit als Anwalt in Durban.
Anfang April 2015 kam es in einigen Stadtteilen von Durban zu fremdenfeindlichen Ausschreitungen, auf die es landesweit sowie international Reaktionen gab.
Demografie
Die demografische Struktur Durbans wurde bei der Volkszählung 2011 statistisch ausführlich untersucht. Demnach hatte die Stadt im Jahre 2011 595.061 Einwohner. Schwarze Afrikaner machten 51,12 % der Bevölkerung aus, gefolgt von Asiaten, hauptsächlich indischer Abstammung mit 24,03 %, Weißen mit 15,33 % und den sogenannten Coloureds mit 8,59 %.
Im Mercer Quality of Living Index, welcher Lebensqualität in Städten vergleicht, belegte Durban im Jahre 2019 den 88. Platz von 231 untersuchten Städten und den ersten innerhalb Afrikas.
Wirtschaft
Die Metropolregion Durban besitzt eine umfangreiche Wirtschaft mit starker Industrie, Handel, Logistik, Finanz- und Regierungsinstitutionen sowie Tourismus. Die Küstenlage und der Hafen verschaffen Durban einen Vorteil im Vergleich zu anderen Ballungsräumen in Südafrika. Das milde Klima, die warme Meeresströmung sowie die Drakensberge im Hinterland sind die Grundlage für einen ausgeprägten Tourismussektor.
Durban ist der wichtigste Wirtschaftsstandort in KwaZulu-Natal, der über die Hälfte des Einkommens und der Arbeitsplätze beinhaltet. Im nationalen Vergleich ist Durban nach Gauteng das zweitgrößte industrielle Zentrum, das 15 % des nationalen Einkommens, 14 % des Haushaltseinkommens und 11 % der Arbeitsplätze stellt. Wichtige wirtschaftliche Verbindungen bestehen im Norden nach Richards Bay und Maputo, im Westen nach Pietermaritzburg und Johannesburg.
Zuckerverarbeitung ist der wichtigste Industriezweig. Weiter finden sich Schiffswerften, Erdölraffinerien, Automobilindustrie, chemische sowie Papier-, Nahrungsmittel- und Textilindustrie. Die Landwirtschaft der Region um Durban baut zu einem großen Teil Zuckerrohr an. Daneben spielen Schafe und anderes Vieh, Zitrusfrüchte, Mais, Baumwolle, Bananen und Ananas eine wichtige Rolle.
Die Hauptexportgüter über den Warenumschlagplatz Durban sind Mangan- und andere Erze, Stahlprodukte, Kohle, Zucker und Mais.
Trotz der vielfältigen Wirtschaft wurden auf dem offiziellen Arbeitsmarkt seit den 1990er Jahren nur wenig neue Arbeitsplätze geschaffen. Im produzierenden Gewerbe, das zweitgrößte nach dem Regierungs- und Verwaltungsbereich, ist die Zahl der Arbeitsplätze rückläufig. Die steigende Kriminalitätsrate wirkt sich negativ auf viele Bereiche aus, vor allem auf den Tourismus. Trotz einer wachsenden Anzahl an sogenannten Mikroarbeitsplätzen hat Durban eine hohe Arbeitslosenquote, die in den früheren Township-Gebieten über 30 % liegt.
Verkehr
Luftfahrt
Nördlich von Durban wurde bei La Mercy, etwa 30 Kilometer von der Innenstadt entfernt, seit 2007 der neue Flughafen King Shaka International Airport errichtet, er ging am 1. Mai 2010 in Betrieb. Es besteht hier Anschluss an zahlreiche Inlandsziele und Verbindung mit einigen internationalen Flughäfen, wenn auch kleiner als Kapstadt und Johannesburg.
Der alte Internationale Flughafen Durban, Durban International Airport, liegt, eingeklemmt von der ihn umgebenden Bebauung, südlich der Stadt und diente als Tor in die Region KwaZulu-Natal und die Drakensberge. 2009 wurden hier rund 4,4 Millionen Passagiere abgefertigt. Am 30. April 2010 wurde er als Zivilflughafen geschlossen, ist aber weiterhin als Air Force Base Durban in Nutzung.
Schiffsverkehr
Durban, früher Port Natal, hat eine lange Tradition als Hafenstadt. Der Hafen Durban ist einer der wenigen natürlichen Häfen an der Küste zwischen den traditionell konkurrierenden Hafenstädten Gqeberha und Maputo. Dieser Umstand sowie die oft stürmische See in der Gegend machten Durban zu einem vielgenutzten Hafen, oft auch für Schiffsreparaturen. Der Hafen von Durban ist derjenige mit dem größten Umsatz in Südafrika sowie der zweitgrößte Containerhafen der südlichen Hemisphäre.
Der heutige Hafen, 1840 etabliert, wuchs mit der Handelsentwicklung in und um Durban, ferner mit dem Kohlebergbau Natals und durch die Industrie in der Region von Johannesburg, das als Industrie- und Bergbauzentrum Südafrikas über keinen direkten Anschluss an Seewege besitzt. Der Hafen von Durban dient als Umschlagsplatz für einen Großteil von Produkten, die mit Lastwagen und Zug aus und nach Johannesburg transportiert werden. Seit dem Ende des Bürgerkriegs in Mosambik in den frühen 1990er Jahren stellt der Hafen Maputo wieder eine Alternative für die Industrie und den Handel im südlichen Afrika dar, es herrscht ein intensiver Wettbewerb zwischen den beiden Hafeneinrichtungen.
Ein kleiner Teil des Hafens, Salisbury Island, ist inzwischen wieder ein aktiver militärischer Stützpunkt der südafrikanischen Marine. Im Jahre 2007 hatte Vizeadmiral Refiloe Mudimu, Chief of the South African Navy in einer parlamentarischen Ausschusssitzung erklärt, diesen Stützpunkt wegen der Verminderung der militärischen Schlagkraft Südafrikas zu verkleinern und später an einen anderen Ort zu verlegen. Schon 1994 begann die Streitkräftereduzierung an diesem Marinestandort, indem dieser als bisherige Durban Naval Base zur Naval Station abgestuft wurde. Im Jahr 2013 kam es zur Wiedereröffnung dieser Militäranlagen, da sich Südafrika an der Piratenbekämpfung vor der afrikanischen Ostküste bei Mosambik zu beteiligen begann. Dieser Schritt war bereits 2012 durch die damalige Verteidigungsministerin Lindiwe Sisulu angekündigt worden.
Fernverkehr
Durban ist gut an das südafrikanische Streckennetz von Transnet angeschlossen. Die Autobahn N2 verbindet Durban mit East London und Port Elizabeth im Süden sowie Richards Bay im Norden, die N3 führt Richtung Pietermaritzburg und Johannesburg. Daneben existiert ein Netz von Motorways, die Landstraßen entsprechen. Verschiedene Gesellschaften bieten Verbindungen mit Langstreckenbussen an.
Nahverkehr
Der Nahverkehr ist mit der Metrorail Durban vorhanden. Der Busverkehr wird von der privatisierten eThekwini Municipal Bus Company durchgeführt. Durban lebt von einer großen Anzahl privater Busse und Sammeltaxis (minibus), die einen hohen Anteil der Pendler befördern. Die Minibusse stellen dabei für weite Teile der Bevölkerung das einzige finanzierbare Verkehrsmittel dar. Da sie oft überladen und schlecht gewartet sind, kommt es häufig zu schweren Unfällen. Neben den Minibus-Taxis gibt es metered taxis, die jedoch nicht an der Straße angehalten werden können, sondern telefonisch bestellbar sind. Traditionelle Zulu-Rikschas dienen vor allem als touristische Attraktion.
1935 bis 1964 verkehrten in Durban auch Oberleitungsbusse, die eine 1902 in Betrieb gegangene elektrische Straßenbahn ablösten, welche wiederum aus einer 1880 eröffnete Pferdestraßenbahn hervorging.
Bildung
Durban ist der Sitz der Universität von KwaZulu-Natal, abgekürzt UKZN. Diese entstand 2004 durch die Zusammenlegung der zwei größten Bildungseinrichtungen von KwaZulu-Natal, der Universität von Natal und der Universität von Durban-Westville. Etwa 38.000 Studierende sind eingeschrieben; es werden alle wichtigen Fachbereiche unterrichtet. Die Universität beziehungsweise ihre Vorgängerinstitutionen, insbesondere die Universität von Durban-Westville, war in der Zeit der südafrikanischen Apartheid ein wichtiges Zentrum der Anti-Apartheid-Bewegung. Neben der UKZN gibt es die Durban University of Technology, eine technische Universität, an der etwa 20.000 Studierende eingeschrieben sind.
Trotz dieser breiten universitären Bildungsangebote haben etwa zehn Prozent der Bevölkerung keine und weitere 20 % nur eine marginale Schulbildung (siehe Abschnitt Demografie).
Sport und Freizeit
Durban bietet eine breite Palette an kulturellen Angeboten, Sehenswürdigkeiten und Freizeitangeboten. An der Beachfront oder Golden Mile konzentrieren sich Bars und Restaurants. Durban ist ein beliebtes Revier für Wellenreiter, Kitesurfer und Bodyboarder. Wegen der Gefahr durch Sambesi- und Tigerhaie sind die Strände mit Hainetzen gesichert. In der Umgebung von Durban und in der Stadt selbst sind verschiedene große kommerzielle Angebote zu finden, so das Gateway-Einkaufszentrum, das größte Afrikas, oder uShaka Marine-World mit Aquarien und verschiedenen Shows. Etwas nördlich von Durban an der Küste gelegen befinden sich unter anderem der North Beach sowie das Ausflugs- und Ferienziel Umhlanga Rocks.
Im 52.000 Zuschauer fassenden Kings-Park-Stadion, nach dem Hauptsponsor auch ABSA-Stadion genannt, spielen die Fußballmannschaft Golden Arrows und die Rugbymannschaft Natal Sharks. Hier wurden während der Rugby-Union-Weltmeisterschaft 1995 fünf Partien ausgetragen und beim Afrika-Cup 1996 sechs. Für die Fußball-Weltmeisterschaft 2010 wurde ein größerer Neubau erstellt: das 56.000 Plätze bietende Moses-Mabhida-Stadion. Mit seinem markanten begehbaren Mittelbogen ist es ein neues Wahrzeichen in Küstennähe. Während der Fußball-Weltmeisterschaft 2010 fanden dort sieben Spiele statt und beim Afrika-Cup 2013 sechs Partien.
Durban verfügt mit dem Sahara Stadium Kingsmead über ein internationales Cricket-Stadion. Beim Cricket World Cup 2003 fanden hier fünf Partien statt, inklusive eines Halbfinales. Auch bei der ICC World Twenty20 2007 fanden hier mehrere Spiele statt, darunter ein Halbfinale.
Seit 1921 wird zwischen Durban und Pietermaritzburg der Comrades Marathon ausgetragen, der traditionsreichste und teilnehmerstärkste Ultramarathon weltweit. Auf dem Cyril Geoghegan Velodrome fanden 2017 die afrikanischen Meisterschaften im Bahnradsport statt.
Sehenswürdigkeiten und Kultur
Die Botanischen Gärten von Durban umfassen 20 Hektar. Die Anlage diente britischen Kolonialisten als Versuchsanstalt für den Import von Wirtschaftspflanzen, weshalb sich dort Pflanzen aus aller Welt finden.
Das Bat-Centre am Hafen ist eine ehemalige Lagerhalle, die mit Geldern der UNESCO zum Kulturzentrum umgebaut wurde. Im Obergeschoss ist der Trans African Express untergebracht, ein Kulturrestaurant, dessen Speisekarte Menüs aus ganz Afrika enthält. Im Hinterhaus finden sich verschiedene Ausstellungs- und Verkaufsateliers moderner afrikanischer Kunsthandwerker.
Das Durban Natural Science Museum (DNSM) in der historischen Town Hall beinhaltet eine beachtliche naturkundliche Sammlung. Dort befindet sich auch die Durban Art Gallery mit zeitgenössischer südafrikanischer Kunst. Das Local History Museum hat mehrere Standorte und vereinigt auf diese Weise mehrere Sammlungen. Dazu gehören beispielsweise das KwaMhule-Museum. Dieses Museum dokumentiert die früheren Lebensverhältnisse in den Townships der Stadt, informiert über die Geschichte der schwarzen politischen Gewerkschaften sowie über kulturelle Organisationen und Gruppen der schwarzen Bevölkerung. Zudem werden Lebensleistungen vieler Menschen gewürdigt, die an der Basis der Stadtgesellschaft zur Entwicklung Durbans maßgeblich beigetragen haben.
Daneben existieren viele weitere Museen mit speziellen Themen, wie das Cato Manor Museum, Loram House Museum, Phoenix Settlement Museum oder Port Natal Maritime Museum.
Panoramaansicht
Religionen
Die Einrichtungen vieler Religionsgemeinschaften sind in Durban zu finden, unter anderem die Juma-Mosque, die größte Moschee der südlichen Hemisphäre, und der Hare Krishna Temple of Unterstanding. Der Alayam Hindu Temple ist der älteste und größte in Südafrika. Es findet sich auch eine große Zahl Kirchen verschiedener christlicher Glaubensrichtungen.
Städtepartnerschaften
eThekwini hat folgende Partnerstädte:
Persönlichkeiten
Sonstiges
2001 fand in Durban die dritte Weltkonferenz gegen Rassismus statt.
Vom 28. November bis zum 10. Dezember 2011 fand in Durban die 17. UN-Klimakonferenz statt.
Im November 2017 wurde Durban zur UNESCO City of Literature ernannt.
Literatur
Bill Freund: Insiders and Outsiders. Indian Working Class of Durban, 1910–90. Social History of Africa. James Currey Publishers, Portsmouth NH 1995, ISBN 0-85255-616-0.
Paul Maylam, Iain Edwards (Hrsg.): A People’s City. African Life in Twentieth-Century Durban. University of KwaZulu-Natal Press, Portsmouth NH 1996, ISBN 0-86980-916-4.
Weblinks
Webpräsenz der Stadt Durban. auf www.durban.gov.za (englisch)
eThekwini-Durban. auf www.durban-information.co.za (englisch)
Einzelnachweise
Ort in der Provinz KwaZulu-Natal
Ort mit Seehafen
Hochschul- oder Universitätsstadt in Südafrika
Ort in Afrika
Geographie (eThekwini Metropolitan Municipality)
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Q5468
| 166.348721 |
47038
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https://de.wikipedia.org/wiki/Beh%C3%B6rde
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Behörde
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Behörde (auch Amt im organisatorischen Sinne genannt) ist eine öffentliche Stelle, die die Aufgaben der öffentlichen Verwaltung wahrnimmt, die ihr aufgrund materieller Gesetze aufgegeben sind. Behörden können Tun, Dulden oder Unterlassen aufgeben (Eingriffsverwaltung) oder Leistungen darbieten (Leistungsverwaltung) und sind das Organ der jeweiligen Körperschaft, für die sie eingerichtet sind. Sie bestehen auf supranationaler, nationaler und subnationaler Ebene. Weitergehend ist der Begriff der öffentlichen Einrichtung und der Dienststelle, die als staatliche Stelle auch über die öffentliche Verwaltung hinausgehende Aufgaben wahrnimmt (z. B. militärische Dienststelle).
Situation in Deutschland
Begriff der Behörde
Eine Behörde ist gemäß Abs. 4 VwVfG des Bundes bzw. der jeweils entsprechenden Vorschrift der VwVfG der Länder „jede Stelle, die Aufgaben der öffentlichen Verwaltung wahrnimmt“ (funktioneller Behördenbegriff). Darunter fallen neben den klassischen Verwaltungsträgern auch Organe der Legislative und der Judikative, sofern sie Verwaltungsentscheidungen treffen (z. B. der Bundestagspräsident bei der Erstattung von Wahlkampfkosten oder der Präsident eines Gerichts bei der Erteilung eines Hausverbots). Darüber hinaus gelten auch Beliehene (z. B. die Sachverständigen des TÜV oder die Bezirksschornsteinfeger) als Behörde, soweit sie die ihnen übertragenen Hoheitsrechte ausüben.
Auftreten gegenüber dem Bürger
In Deutschland treten Behörden gegenüber dem Bürger im eigenen Namen auf, obwohl ihr Verwaltungsträger durch sie handelt. Dass sie dabei die Hoheitszeichen ihres Verwaltungsträgers tragen, etwa ein Bundeswappen, ist heute nicht mehr überall die Regel. Die Bundesagentur für Arbeit und die Deutsche Rentenversicherung Bund zum Beispiel verwenden eigene Unternehmenslogografien.
Abgrenzung
Sowohl im privaten als auch im öffentlichen Recht handeln Behörden oder Unternehmen, die gewisse Aufgaben der Versorgung übernehmen, im Auftrag der Verwaltungspolitik.
Sollen Teile einer Behörde als wirtschaftliches Unternehmen geführt werden, so geschieht dies in einem sogenannten Eigenbetrieb. Im Falle der Privatisierung wird in eine private Unternehmensform übergeleitet. In welcher Form Beamte in einer privatwirtschaftlich organisierten Gesellschaft verwendet werden können, regelt der Gesetzgeber. Eine Grenze für Privatisierungen bietet in Deutschland der Funktionsvorbehalt des Abs. 4 GG, der vorsieht, dass die Ausübung hoheitsrechtlicher Befugnisse in der Regel Angehörigen des öffentlichen Dienstes zu übertragen ist. In diesem Zusammenhang wird der Begriff der Daseinsvorsorge als Aufgabe des öffentlichen Dienstes in der politischen Diskussion verwendet.
Behördenstruktur
Generell gilt, dass die Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten sowie die wesentlichen Arbeitsabläufe durch Gesetz, Verordnung, Erlass, Satzung, Geschäftsordnung oder anderweitig eindeutig und nachvollziehbar festgelegt sind. Behördenentscheidungen unterliegen, soweit sie in Rechte von Bürgern eingreifen, grundsätzlich einer rechtlichen Überprüfung im Rahmen der Verwaltungsgerichtsbarkeit; darüber hinaus wird die Arbeit von Behörden von der Fachaufsicht oder der Kommunalaufsicht durch übergeordnete Behörden kontrolliert.
Die Offenlegung interner Abläufe ist hingegen typischerweise nicht einklagbar, unterliegt aber der Dienstaufsicht; derartige Abläufe können der Aufsichtsbehörde mit einer Dienstaufsichtsbeschwerde zur Kenntnis gebracht werden. Eine Klagbarkeit kann sich aus inneren Abläufen beispielsweise dann ergeben, wenn es durch Verwaltungsvorschriften und/oder eine gefestigte Verwaltungspraxis zu einer Selbstbindung der Verwaltung kommt; ein Abweichen davon kann den allgemeinen Gleichheitssatz aus Abs. 1 GG verletzen und ist dann aus diesem Grund rechtswidrig.
Bundes- und Landesbehörden
Die tragenden Organisationseinheiten der Bundes- und Landesbehörden sind bei obersten und oberen Behörden die Referate, welche im Übrigen Dezernate genannt werden. Diese können sich in Sachgebiete oder Teams gliedern. Sie werden von einem Sachgebiets- bzw. Teamleiter geführt. Mehrere Referate werden zu einer Gruppe, zu einer Referatsgruppe oder in Ministerien zu einer Unterabteilung zusammengefasst. Mehrere Gruppen, Referatsgruppen oder Unterabteilungen bilden eine Abteilung. Bedeutende Abteilungen mit vielen Unterabteilungen werden auch Hauptabteilung genannt, z. B. die ehemalige Hauptabteilung Rüstung im Bundesministerium der Verteidigung. Die (Haupt-)Abteilung ist die höchste Gliederungsform unterhalb der Leitungsebene einer Behörde. Diese besteht aus den Behördenleiter, seinen Stellvertretern und Stabsstellen. In Bundesbehörden werden die Behördenleiter oft Präsident, deren Stellvertreter Vizepräsident genannt. In Bundesministerien gehören zur Leitungsebene der Bundesminister, die Parlamentarischen und beamteten Staatssekretäre.
Die Bundes- und Landesbehörden führen die Gesetze des Bundes bzw. ihres Landes aus. Die Verwaltung kann im eigenen Namen oder im Auftrag des Bundes erfolgen, je nach Verwaltungskompetenz. Da die Länder im föderalistischen System der Bundesrepublik Deutschland die Basiselemente bilden sollen, handeln sie selbständig im Rahmen ihrer Landesverwaltung unter der Fach- bzw. Rechtsaufsicht ihrer Regierung (welche dem jeweiligen Parlament wiederum Rechenschaft schuldet) sowie unter der Überprüfung durch Gerichte. Eine Kooperation der Ministerien der Länder findet unter anderem im Rahmen der Konferenzen der Ministerpräsidenten und Fachminister, insbesondere der Ministerpräsidentenkonferenz, statt.
Einzelne Behörden heißen oft Amt, z. B. Finanzamt, Versorgungsamt oder Forstamt.
Andere Behörden
Je nach Verwaltungsgliederung (siehe Kommunalverwaltung) gibt es in Deutschland Ämter in Regierungsbezirken, Landkreisen, Städten und Gemeinden. Dies ist in den Bundesländern durch die Gemeindeordnungen in Deutschland unterschiedlich geregelt. Meist untersteht die Stadt- oder Gemeindeverwaltung einem Bürgermeister.
Verwaltungsvorgänge
Für einige Verwaltungsvorgänge gibt es genau definierte Begriffe.
Ein Erlass ist eine Anordnung aus der Ministerialverwaltung an eine nachgeordnete Behörde (z. B. ein Erlass des Innenministeriums an die oberste Polizeibehörde).
Ein Runderlass ist eine Anordnung aus der Ministerialverwaltung an mehrere nachgeordnete Behörden (z. B. ein Erlass des Kultusministeriums über Regelungen bestimmter Vorgänge an Schulen).
Ein Auftrag ist jede Anweisung oder Mitteilung einer übergeordneten Behörde (die nicht oberste Behörde, also Ministerium, ist, da das Ministerium nur durch Erlass handelt, s. o.) an eine nachgeordnete Behörde.
Eine Verfügung ist eine Anordnung mit Außenwirkung, d. h. an Behörden anderer Verwaltungsträger oder an Bürger, z. B. eine Polizeiverfügung des regionalen Polizeipräsidenten.
Ein Bericht ist Text einer untergeordneten an die übergeordnete Behörde mit Sachständen, Bewertungen und/oder Folgerungen. Ein Brief eines subalternen Behördenmitarbeiters an seinen Vorgesetzten oder an den Minister ist somit auch dann ein „Bericht“, wenn er nicht angefordert war, sondern eine Eigeninitiative des Beamten ist.
Ein Bescheid ist ein Verwaltungsakt in Form einer Entscheidung (z. B. Ablehnungsbescheid eines Antrages).
Ein Vermerk ist eine ausschließlich behördeninterne Notiz (z. B. Gesprächsnotiz).
Ein Protokoll beschreibt in der Regel Besprechungen und (Rats-)Sitzungen.
Ein Schreiben umfasst alle sonstigen Schriftstücke innerhalb oder außerhalb der Behörde (z. B. Briefe an Bürger oder andere Behörden).
Beispiel: Nach einem Einbruch in ein Finanzamt schreibt der Polizeirevierleiter einen Bericht an den Polizeipräsidenten, er richtet ein Schreiben an das Finanzamt und eine Anordnung an seine ihm untergebenen Polizeibeamten.
Siehe auch
Deutschland
Verwaltungsverfahrensgesetz der Bundesrepublik Deutschland (VwVfG) und Landesverwaltungsverfahrensgesetz (LVwVfG) des jeweiligen Bundeslandes
Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (Sozialrechtliches Verwaltungsverfahren)
Föderalismusreform
Schweiz
Bundesverwaltung (Schweiz)
Österreich
Behörde (Österreich)
Europa
Hohe Behörde
Weblinks
Offizieller Behördenwegweiser des deutschen Bundesverwaltungsamtes mit den Zuständigkeiten der Länder (PDF; 43 kB)
help.gv.at Amtshelfer im Internet der österreichischen Bundesverwaltung auf HELP.gv.at
Einzelnachweise
Organisationsform
Bürokratie
Rechtsstaat
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Q327333
| 430.126896 |
193626
|
https://de.wikipedia.org/wiki/Sozialphilosophie
|
Sozialphilosophie
|
Sozialphilosophie (selten Gesellschaftsphilosophie) beschäftigt sich mit Fragen zum Sinn und Wesen einer Gesellschaft. Insbesondere beleuchtet sie das Verhältnis zwischen dem einzelnen Menschen und der Gemeinschaft sowie die Strukturen des Zusammenlebens. Teilweise wird sie als eine Variante der Philosophie betrachtet, wenn diese sich mit der Soziologie berührt. Neben der geisteswissenschaftlichen Perspektive wird der Begriff auch auf publizistische oder essayistische Arbeiten bezogen.
Begriff
Sozialphilosophie als eine eigenständige philosophische Disziplin hat im angelsächsischen Sprachraum eine längere Tradition, wird dort allerdings meistens unter dem Namen „Political Philosophy“ betrieben. Im deutschsprachigen Raum spielt der Ausdruck Sozialphilosophie „eher die Rolle eines Verlegenheitstitels, unter den Arbeiten subsumiert werden, die nicht mit der gängigen Gliederung praktischer Philosophie in Anthropologie, Ethik, Rechts-, Staats- und Geschichtsphilosophie zu fassen sind.“ Nach Detlef Horster lassen sich derzeit (2005) mindestens folgende Verwendungen des Begriffs „Sozialphilosophie“ unterscheiden:
umgreifende Klammer für die praktischen Teildisziplinen der Philosophie
normative Ergänzung der deskriptiv verfahrenden Soziologie
Disziplin der Zeitdiagnose
politische Philosophie (in der angelsächsischen Tradition)
Verfahren, in dem die sozialen Pathologien erörtert werden
das (dialektische) Verhältnis zwischen philosophischer Theorie und sozialwissenschaftlicher Praxis
Disziplin, die das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft und die sich daraus ergebenden Probleme aufgreift
Begriffs- und Problemgeschichte
Zu einem ausdrücklichen Gebrauch des Ausdrucks „Sozialphilosophie“ kam es im deutschen Sprachraum erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts, als sich die Geistes- und Sozialwissenschaften als eigenständige Einzelwissenschaften im Unterschied zur Philosophie und in Absetzung von den Naturwissenschaften etablierten.
Der erste Beleg eines Gebrauchs des Ausdruck „Sozialphilosophie“ in Deutschland stammt von Moses Hess, der ihn 1843 in den 21 Bogen aus der Schweiz zur Kennzeichnung der Philosophie der französischen Sozialisten gebraucht. Der Begriff konnte sich zuerst jedoch nicht durchsetzen und wurde selbst von Marx und Engels nicht übernommen.
1894 taucht der Ausdruck „Sozialphilosophie“ dann in einer systematischen Bedeutung auf, zeitgleich bei Georg Simmel und Rudolf Stammler. Seitdem findet der Begriff im deutschen Sprachraum eine breitere Verwendung.
Simmel und Stammler verstehen Sozialphilosophie zugleich als eine deskriptive und eine normative Disziplin: es soll so an sozialen Tatsachen angeknüpft werden, dass diese den normativen Zielen entsprechend verändert werden.
Bei Ferdinand Tönnies ist Sozialphilosophie ein anderer Name für theoretische Soziologie. Sie wird auf das Ideal der Objektivität und Wertfreiheit wissenschaftlicher Forschung verpflichtet. Sozialphilosophie solle sich des praktischen Engagements enthalten. Ihre Aufgabe bestehe nicht darin, den Wert oder den Sinn, sondern das Sein der Gesellschaft zu untersuchen.
Dieser werturteilsfreie Zugang zu den Themen der Sozialphilosophie wird seit den 1920er Jahren zunehmend von der Frage nach dem Sinn des Sozialen abgelöst. Eine wichtige Station dazu bildet die große systematische Sozialphilosophie von Gerhard Lehmann, Lehrbuch der Soziologie und Sozialphilosophie (1931), in der sie eine vermittelnde Rolle zwischen theoretischer und praktischer Philosophie, wertfreier Sozialwissenschaft und philosophischer Ethik erhält.
Im gleichen Jahr behandelt Max Horkheimer in seiner berühmten Antrittsrede
als Direktor des neu gegründeten Instituts für Sozialforschung in Frankfurt die Einheit von Philosophie und Soziologie. Horkheimer entwickelt hier das Programm einer Sozialphilosophie als „kritischer Gesellschaftstheorie“, in dem die Sozialphilosophie nicht mehr nur eine partielle philosophische Disziplin ist, sondern zur allgemeinen Philosophie wird.
Wilhelm Sauer veröffentlicht 1936 seine Rechts- und Staatsphilosophie, in der er eine thomistisch ausgerichtete Sozialphilosophie entwickelt. Nach dem Zweiten Weltkrieg nimmt die Kritik an der Sozialphilosophie vor allem von Seiten positivistisch geprägter Soziologen zu. René König trennt die Sozialphilosophie, die er für „besonders primitiv“ und von „ungewöhnlicher Armseligkeit“ geprägt hält, von der Wissenschaft.
Ernst Topitsch hält die Prinzipien der Sozialphilosophie für Leerformeln.
Gegen die positivistische Kritik an der Sozialphilosophie erklärt Theodor W. Adorno, dass der Begriff Sozialphilosophie „sich weithin mit kritischer Gesellschaftstheorie deckt“.
Der Kritische Rationalismus, insbesondere in der Version von Hans Albert, plädiert für eine Sozialphilosophie, die geleitet ist von der Idee der Kritik. Sie soll grundsätzlich einen hypothetischen Charakter haben, Vorschläge zur Lösung sozialer Probleme formulieren und Freiheit, Fortschritt und politischen Pluralismus in der Gesellschaft weiterentwickeln.
Jürgen Habermas setzt dem Begriff der Sozialphilosophie den der Theorie der Gesellschaft entgegen. Erst dieser integriere das Anliegen von Soziologie, Sozialphilosophie und Geschichtsphilosophie.
Hans Lenk plädiert für eine Kooperation zwischen Sozialwissenschaften und Sozialphilosophie. Die Sozialphilosophie habe dabei die Aufgabe, die Vermittlung der normativen und empirischen Sphäre vorzunehmen.
Nach der Auffassung von Bernhard Waldenfels ist die Sozialphilosophie – ähnlich wie zuvor die Sprachphilosophie – zu einer methodischen Leitdisziplin der Philosophie der Gegenwart aufgestiegen. Husserls „Versuch, die Sozialität selbst noch in einem präsozialen Ego zu verankern, führt in die Engpässe eines transzendentalen Solipsismus, ungeachtet aller Versuche, die Sinnstrukturen am Ende einer transzendentalen Intersubjektivität zu überantworten.“
Themen
Bei den Gegenständen der Sozialphilosophie spielt die Ethik häufig eine Rolle. In der Sozialethik hat sich eine eigenständige Bereichsethik herausgebildet, in der moralische Fragen zur Gesellschaft systematisch diskutiert werden.
Der Sozialphilosophie geht es um die grundlegende Klärung von Fragen wie:
Was ist das Wesen einer Gesellschaft? (Organismus, Prozess ...)
Was sind ihre Funktionen? (Gemeinwohl, Subsidiarität ...)
Brauchen Menschen einen Gesellschaftsvertrag?
Wozu brauchen Menschen überhaupt andere Menschen? (Arbeit, Kooperation, Kommunikation ...)
Wie kann das Zusammenleben von Menschen geregelt werden?
Auch wenn diese Fragen in den meisten Philosophien seit Platon in jeweils eigener Weise bearbeitet wurden, wird der Begriff Sozialphilosophie erst seit dem 19. Jahrhundert mit der Verwirklichung der bürgerlichen Revolution und dem Nachdenken über alternative Staatskonzepte verwendet.
Einige, zueinander teilweise konträre, Positionen sind:
Thomas Hobbes vertritt die Annahme, der absolutistische Staat sei notwendig, um den beständigen Kampf der Menschen gegeneinander (Bellum omnium contra omnes) zu unterbinden.
Max Stirner geht davon aus, dass der Einzelne vollkommen ungebunden sei (Solipsismus).
Karl Marx formuliert die gesellschaftliche Bedingtheit des Menschen (Dialektischer Materialismus) und anerkennt Arbeit als die alles begründende gesellschaftliche Wirklichkeit.
Amitai Etzioni u. a. entwickeln Ideen zum Kommunitarismus.
Rudolf Steiner entwickelt Ideen zur Dreigliederung des sozialen Organismus.
Erich Fromm differenziert die Beziehung von Individuum und Gesellschaft in Haben oder Sein und Die Kunst des Liebens.
Jürgen Habermas entwickelt die Theorie des kommunikativen Handelns.
Joseph Beuys prägte den „erweiterten Kunstbegriff“ Soziale Plastik, beziehungsweise soziale Skulptur, und fordert ein kreatives Mitgestalten an der Gesellschaft.
Kurt Röttgers geht statt von „Menschenbildern“ vom medialen Prozess zwischen den Menschen aus, den er den „kommunikativen Text“ nennt.
Indem der „Gesamtzusammenhang“ des Gesellschaftlichen überlegt werden soll – samt dessen historischen, politökonomischen, kulturellen, gesellschaftsmoralischen und zukunftsweisenden Bedingungen –, wohnt der Sozialphilosophie meist auch ein idealistisches Element inne.
Konstitutiv wird sie von einer „Leitidee“ getragen, welche, wie Adorno es einmal ausdrückte, in der „treibenden Sehnsucht, daß es endlich anders werde“ ihr heimliches Kraftzentrum hat.
Überschneidungen der Sozialphilosophie bestehen u. a. mit der Anthropologie, Soziologie, Politikwissenschaft, Wirtschaftsphilosophie, Politischen Philosophie, Rechts- und Staatsphilosophie.
Siehe auch
Sozialontologie
Literatur
Primärliteratur
Platon: Politeia
Aristoteles: Politik
Thomas Hobbes
De Cive
Leviathan
Jean-Jacques Rousseau
Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen
Vom Gesellschaftsvertrag oder Prinzipien des Staatsrechtes
Adam Ferguson: Versuch über die Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft. Junius, Leipzig 1768 (hrsg. und eingeleitet von Zwi Batscha und Hans Medick, Frankfurt 1985)
Immanuel Kant: Die Metaphysik der Sitten. Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre
Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts
Karl Marx
Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie
Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie
Auguste Comte: Die Soziologie. Die positive Philosophie im Auszug, Jena 1923 (Kröner, Stuttgart 1974)
Herbert Spencer: Die Principien der Sociologie. Drei Bände E. Schweizerbart’sche Verlagshandlung, Stuttgart 1877, 187 und 1889 (insb. Band 2)
Vilfredo Pareto
Trattato di sociologia generale – das soziologische Hauptwerk 1916
(dt.) Allgemeine Soziologie, übersetzt von Carl Brinkmann, Mohr, Tübingen 1955
Émile Durkheim
Frühe Schriften zur Begründung der Sozialwissenschaft, hrsg., eingeleitet und übersetzt von Lore Heisterberg, Luchterhand, Darmstadt / Neuwied 1981
Über soziale Arbeitsteilung. Studie über die Organisation höherer Gesellschaften, mit einer Einleitung „Arbeitsteilung und Moral“ von Niklas Luhmann, 2. Aufl. Suhrkamp, Frankfurt 1996
Georg Simmel
Über sociale Differenzierung (1890)
Philosophie des Geldes
Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung (1908)
Ferdinand Tönnies: Gemeinschaft und Gesellschaft
Rudolf Steiner: Die Kernpunkte der Sozialen Frage
Max Weber
Die protestantische Ethik und der 'Geist' des Kapitalismus
Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen 1922, 7. Auflage Mohr Siebeck, Tübingen 1988
Sigmund Freud: Das Unbehagen in der Kultur: Und andere kulturtheoretische Schriften, 10. Aufl. Fischer, Frankfurt 2007
Helmuth Plessner: Grenzen der Gemeinschaft. Eine Kritik des sozialen Radikalismus. (1924), Suhrkamp Frankfurt 2002 (GS V, 7-133)
Talcott Parsons: Das System moderner Gesellschaften, mit einem Vorwort von Dieter Claessens, Nachdruck Juventa, Weinheim / München 1985
Norbert Elias: Über den Prozeß der Zivilisation, 2 Bde., Basel 1939, Neuauflage Frankfurt am Main 1976
George Herbert Mead: Geist, Identität und Gesellschaft aus der Sicht des Sozialbehaviorismus. Suhrkamp, Frankfurt 1968
Max Horkheimer, Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung
Georg Lukács: Geschichte und Klassenbewußtsein (1923)
Peter Winch: Die Idee der Sozialwissenschaft und ihr Verhältnis zur Philosophie, Suhrkamp, Frankfurt 1966
Cornelius Castoriadis
Gesellschaft als imaginäre Institution. Entwurf einer politischen Philosophie. Suhrkamp, Frankfurt 1984
Durchs Labyrinth. Seele, Vernunft, Gesellschaft. Europäische Verlagsanstalt, Frankfurt 1981
Sozialismus und autonome Gesellschaft, in: Ulrich Rödel (Hrsg.:) Autonome Gesellschaft und libertäre Demokratie, Suhrkamp, Frankfurt 1990, S. 329ff.
Michel Foucault
Überwachen und Strafen
Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit 1, Frankfurt am Main 1983
Pierre Bourdieu
Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1982
Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1987
Jürgen Habermas:
Zur Logik der Sozialwissenschaften, Suhrkamp, Frankfurt 1970
Theorie des kommunikativen Handelns
Niklas Luhmann
Soziale Systeme (1984)
Die Gesellschaft der Gesellschaft, Suhrkamp, Frankfurt 1997
Zygmunt Bauman
Moderne und Ambivalenz. Das Ende der Eindeutigkeit, Junius, Hamburg 1992
Ansichten der Postmoderne, Argument, Hamburg 1995
Kurt Röttgers
Kategorien der Sozialphilosophie (Sozialphilosophische Studien Bd. 1), Scriptum Verlag, Magdeburg 2002, ab 2003: Parerga Verlag Berlin. ISBN 978-3-933046-55-0
Sekundärliteratur
Norbert Brieskorn: Sozialphilosophie: Eine Philosophie des gesellschaftlichen Lebens, Kohlhammer, Stuttgart/Berlin/Köln 2009, ISBN 3-17-020521-8
Norbert Brieskorn, Michael Reder: Sozialphilosophie. Komplett-Media, München 2011. 155 S. ISBN 978-3-8312-0379-6 (sechs einführende Vorlesungen)
Wolfgang Caspart: Idealistische Sozialphilosophie. Ihre Ansätze, Kritiken und Folgerungen. Universitas Verlag, München 1991. ISBN 3-8004-1256-X.
Gerhard Gamm/Andreas Hetzel/Markus Lilienthal: Interpretationen. Hauptwerke der Sozialphilosophie. Reclam, Stuttgart 2001, ISBN 3-15-018114-3
Johannes Heinrichs: Logik des Sozialen. Woraus Gesellschaft entsteht, Steno, München 2005 (= erweiterte Neuauflage von Reflexion als soziales System)
Detlef Horster: Sozialphilosophie. Reclam, Leipzig 2005, ISBN 3-379-20118-9
Rahel Jaeggi: Einführung in die Sozialphilosophie. (zus. mit Robin Celikates). Beck, München 2017, ISBN 978-3-406-64056-8
Weblinks
Detlef Horster: Sozialphilosophie (PDF; 38 kB), in: Annemarie Pieper (Hrsg.): Philosophische Disziplinen, Reclam, Leipzig 1998, S. 368–391
Anmerkungen
Philosophische Disziplin
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Q180592
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221093
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https://de.wikipedia.org/wiki/Kumamoto
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Kumamoto
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Kumamoto (, -shi) ist eine Großstadt und Verwaltungssitz der gleichnamigen Präfektur Kumamoto auf Kyūshū, der südlichsten der großen Inseln von Japan. Kumamoto ist am 1. April 2012 zu einer durch Regierungserlass bestimmten Großstadt (seirei shitei toshi) ernannt worden. Damit ist Kumamoto die insgesamt 20. derartige Stadt Japans.
Geographie
Kumamoto liegt nördlich zentral in der Präfektur Kumamoto ca. 110 km südlich von Fukuoka und ca. 180 km nördlich von Kagoshima. Mit Einwohnern ist Kumamoto die 17. größte Stadt Japans und die drittgrößte auf Kyūshū hinter Fukuoka und Kitakyūshū.
Stadtgliederung
Kumamoto wird seit dem 1. April 2012 in fünf Stadtbezirke (-ku) eingeteilt:
Angrenzende Städte und Gemeinden
Tamana
Uto
Uki
Kōshi
Kikuchi
Yamaga
Mashiki
Klima
Die Jahresdurchschnittstemperatur beträgt ca. 16 °C und der Niederschlag zwischen 1.500 mm und 2.400 mm pro Jahr. Abgesehen von den Regionen an der Ariake-See herrscht ein kontinental warm-gemäßigtes Klima mit großen Temperaturunterschieden zwischen Sommer und Winter vor. Der Sommer ist geprägt von großer Hitze und hoher Luftfeuchtigkeit. Im Winter fallen die Temperaturen zeitweise unter den Gefrierpunkt und es schneit gelegentlich.
Politik
Oberbürgermeister der Stadt Kumamoto (Kumamoto-shichō) ist seit 2014 Kazufumi Ōnishi, vorher seit 1997 Abgeordneter im Präfekturparlament von Kumamoto für den damaligen Wahlkreis Stadt Kumamoto. Er löste Seishi Kōyama ab, der nicht für eine vierte Amtszeit kandidierte. Bei der Bürgermeisterwahl 2022 wurde Ōnishi mit LDP-Kōmeitō-Unterstützung gegen zwei Kandidaten mit über 85 % der Stimmen für eine dritte Amtszeit bestätigt. Die Wahlbeteiligung sank auf ein neues Rekordtief von 28,3 %.
Das Parlament der Stadt Kumamoto (Kumamoto-shigikai) hat regulär 48 Mitglieder, nach der Ernennung zur Großstadt fungieren seit 2015 die Bezirke als Wahlkreise (Wahlkreismagnituden seit 2023: Chūō-ku 12, Higashi-ku 12, Nishi-ku 6, Minami-ku 9, Kita-ku 9). Es wurde bei den einheitlichen Regionalwahlen im April 2023 neu gewählt. Die Mehrheit der Abgeordneten kommen von der LDP oder wurden ohne Parteinominierung gewählt.
Bei Wahlen zum 48-köpfigen Präfekturparlament Kumamoto (Kumamoto-kengikai) ist die Stadt Kumamoto heute in zwei Wahlkreise unterteilt, die zusammen 17 Abgeordnete wählen (Stadt Kumamoto I: 12, Stadt Kumamoto II: 5). Davon gehören (Stand: Mai 2023) sieben der LDP-Fraktion, drei der KDP-Fraktion, drei der Kōmeitō und je einer der Ishin no Kai und der Sanseitō an, zwei Abgeordnete sind fraktionslos.
Bei Wahlen zum Abgeordnetenhaus (Shūgiin), dem Unterhaus der Staatsversammlung (Kokkai), erstreckt sich die heutige Stadt Kumamoto seit einer Neuordnung der Wahlkreise in der Präfektur Kumamoto zur Abgeordnetenhauswahl 2017 in die Wahlkreise I und II, letzterer umfasst auch die Stadt Arao sowie Kreis und Stadt Tamana. Den Wahlkreis I verteidigte bei der Wahl 2021 Minoru Kihara (LDP, 61,0 %), den Wahlkreis II verlor Takeshi Noda (LDP) nach insgesamt 16 Wahlperioden im Abgeordnetenhaus an den von einzelnen LDP-Politikern unterstützten Unabhängigen Daisuke Nishino (60,6 %).
Kultur und Sehenswürdigkeiten
Sehenswürdigkeiten
Das Stadtbild wird geprägt durch die in den 1960er Jahren teilweise rekonstruierte Burg Kumamoto. Einige Nebengebäude der 1607 erbauten und 1877 durch ein Feuer während der Satsuma-Rebellion zerstörten Burg waren bis zum Kumamoto-Erdbeben 2016 noch im Originalzustand erhalten. Große Teile der Burg wurden durch das Erdbeben jedoch beschädigt oder sogar zerstört.
Die ehemalige Residenz des Hosokawa Gyobo, einem jüngeren Bruder von Hosokawa Tadatoshi, der von 1633 bis 1641 daimyo des Lehens Kumamoto war, ist ein gut erhaltenes Samuraihaus, das 1993 an den derzeitigen Ort in der Nähe der Burg verlegt wurde.
Suizenji-Park (), auch bekannt unter dem Namen (), ist ein Landschaftsgarten, der beginnend im Jahr 1636 von Hosokawa Tadatoshi angelegt wurde. Um den Teich im Zentrum des Parks wurden Stationen des historischen Tōkaidō in Miniatur nachgebildet, unter anderem der Berg Fuji.
Museen
Kumamoto Prefectural Museum of Art ()
Städtisches Museum Kumamoto ()
Contemporary Art Museum, Kumamoto ()
Verkehr
Straße:
Kyūshū-Autobahn
Nationalstraße 3: nach Kagoshima oder Kitakyūshū
Zug:
JR Kyūshū-Shinkansen: nach Kagoshima oder Fukuoka
JR Kagoshima-Hauptlinie: nach Kagoshima oder Kitakyūshū
JR Hōhi-Hauptlinie: nach Beppu
Nordöstlich der Stadt gibt es den Flughafen Kumamoto.
Wirtschaft
Wirtschaftliche Bedeutung haben neben chemischer und pharmazeutischer Industrie noch Textilverarbeitung, Papierherstellung und Kunsthandwerk, im Umland befinden sich Produktionsstandorte von Halbleiterfirmen und es wird Reis und Tabak angebaut.
Wissenschaft und Bildung
Universitäten und Colleges
Heisei ongaku daigaku
Kumamoto-Gakuen-Universität
Universität Kumamoto
Kumamoto hoken kagaku daigaku
Kumamoto kenritsu daigaku
Kyūshū rūteru gakuin daigaku
Kyūshū tōkai daigaku
Shokei College
Sojo Universität
Söhne und Töchter der Stadt
Sakurama Banma (1835–1917), Nō-Schauspieler
Mikiya Etō (* 1999), Fußballspieler
Takuro Ezaki (* 2000), Fußballspieler
Wataru Iwashita (* 1999), Fußballspieler
Motoyama Hikoichi (1853–1932), Unternehmer und Politiker
Kozaki Hiromichi (1856–1938), Christ und Pädagoge
Minoru Kihara (* 1969), Politiker
Hikaru Manabe (* 1997), Fußballspieler
Shōgo Matsuo (* 1987), Fußballspieler
Masatoshi Mihara (* 1988), Fußballspieler
Seiichirō Nakagawa (* 1979), Bahnradsportler
Eiichirō Oda (* 1975), Mangaka
Miyabi Onitsuka (* 1998), Snowboarderin
Kōki Ōtani (* 1989), Fußballspieler
Kōdai Sakamoto (* 1995), Fußballspieler
Ikebe Sanzan (1864–1912), Journalist der Meiji-Zeit
Yōko Shimada (1953–2022), Schauspielerin
Tokunaga Sunao (1899–1958), Schriftsteller
Leo Takae (* 1998), Fußballspieler
Naoki Tajima (* 2000), Tennisspieler
Kosei Tajiri (* 2001), Fußballspieler
Akiko Yonemura (* 1984), Tennisspielerin
Auch die Vorfahren des ehemaligen Präsidenten von Peru, Alberto Fujimori, stammen aus der Gegend von Kumamoto.
Sport
Kumamoto ist die Heimat des Fußballvereins Roasso Kumamoto.
Das Kumamoto Stadium war einer der Austragungsorte der Rugby-Union-Weltmeisterschaft 2019.
Vom 30. November bis zum 15. Dezember 2019 war Kumamoto, zusammen mit Yamaga und Yatsushiro, Austragungsort der 24. Handball-Weltmeisterschaft der Frauen. Das Finale fand im Park Dome Kumamoto statt.
Partnerstädte
Guilin, VR China, seit 1979
San Antonio, USA, seit 1987
Heidelberg, Deutschland, seit 1992
Fukui, Japan, seit 1994
Weblinks
Einzelnachweise
Ort in der Präfektur Kumamoto
Ort mit Seehafen
Japanische Präfekturhauptstadt
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Q199889
| 101.32859 |
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https://de.wikipedia.org/wiki/Mehrheitswahl
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Mehrheitswahl
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Eine Mehrheitswahl, schweizerisch Majorzwahl, ist ein Repräsentationsprinzip mit dem Ziel, eine parlamentarische Regierungsmehrheit für eine Partei herbeizuführen. Es bezeichnet ein Wahlverfahren zur Auswahl eines Vorschlages aus einer Reihe vorgegebener Alternativen durch die Mehrheit einer Gruppe von Wählern. Auf diese Weise zeichnet sich die Mehrheitswahl als ein Verfahren zur direkten, personenbezogenen Wahl von Repräsentanten aus. Seltener werden so auch Exekutiven gewählt (z. B. in Schweizer Kantonen).
Die Mehrheitswahl ist insbesondere von der Verhältniswahl abzugrenzen und in der Regel als Persönlichkeitswahl ausgestaltet.
Klassifizierung
Mehrheitswahlen können sowohl in Wahlkreisen, in denen nur eine Person pro Vorschlag gewählt wird, als auch in solchen, in denen mehrere bis alle (Einheitswahl) Personen in einem Vorschlag gewählt werden, durchgeführt werden.
Relative Mehrheitswahl
Bei der relativen Mehrheitswahl ist der Vorschlag oder Kandidat gewählt, der die meisten Stimmen erhält. Davon profitieren in der Regel Parteien mit regionalen Hochburgen und Regionalparteien überproportional. Durch eine Anwendung dieses Typs der Mehrheitswahl bilden sich oft Zweiparteiensysteme heraus, z. B. in den USA. Ähnliches ist z. B. im Vereinigten Königreich Großbritannien und Nordirland zu beobachten, mit der zusätzlichen Ausbildung von regional starken Parteien.
Ausgenommen davon sind gewählte Direktkandidaten, die auch nur als Unabhängige vorgesehen sind, so z. B. auch für den Allgemeinen Nationalkongress in Libyen.
Absolute Mehrheitswahl
Bei der absoluten Mehrheitswahl ist der Vorschlag gewählt, der mehr als die Hälfte der Stimmen erhält. Um in allen Fällen die erforderliche Mehrheit zu erreichen, wird oft eine Stichwahl durchgeführt, bei der nur die beiden besten Kandidaten des ersten Durchgangs zugelassen werden. Dies findet z. B. Anwendung bei den meisten Bürgermeister- und Landratswahlen in Deutschland, aber nicht bei der Bürgermeisterwahl in Baden-Württemberg. Hierbei können im zweiten Wahlgang sogar noch neue Bewerber aufgestellt werden.
Eine Alternative hierzu ist die integrierte Stichwahl, bei der die Wähler die Vorschläge nach Präferenz nummerieren. Auf diese Weise werden u. a. die Mitglieder der beiden Kammern des Parlaments von Australien gewählt.
Romanische Mehrheitswahl
Als romanische Mehrheitswahl bezeichnet man eine Mehrheitswahl, bei der in bis zu zwei Wahldurchgängen gewählt wird. Wer im ersten Wahlgang die absolute Mehrheit der Stimmen auf sich vereint, ist gewählt. Trifft dies auf keinen der Kandidaten zu, findet ein zweiter Wahlgang („Neuwahl“, „Wiederholungswahl“) statt, bei dem der Kandidat mit den meisten Stimmen gewählt ist. Wer an diesem zweiten Wahlgang teilnehmen darf, ist unterschiedlich geregelt. Ein solches Verfahren wird z. B. bei den Wahlen zur Französischen Nationalversammlung angewendet.
Die Klassifizierung dieser Mehrheitswahl als relative oder absolute Mehrheitswahl ist umstritten, da Elemente beider auffindbar sind und dennoch einige spezifische Eigenschaften resultieren.
Mehrpersonenwahlkreise
Es können auch mehrere Bewerber in einem Wahlkreis nach Mehrheitswahl gewählt werden.
Üblicherweise hat der Wähler hierbei so viele Stimmen, wie Sitze zu vergeben sind, und Kumulieren ist nicht möglich. In fast allen Kantonen der Schweiz werden die Regierungsmitglieder nach absoluter Mehrheitswahl durch das Volk gewählt, wobei hierfür jeweils der ganze Kanton den Wahlkreis bildet und die Wähler so viele Stimmen haben, wie Regierungsmitglieder zu wählen sind. Bei relativer Mehrheitswahl sind bei n zu vergebenen Sitzen die n Bewerber mit den meisten Stimmen gewählt. Bei absoluter Mehrheitswahl kann bei Mehrpersonenwahlkreisen die absolute Mehrheit unterschiedlich definiert werden.
Auch möglich ist eine Mehrheitswahl in Mehrpersonenwahlkreisen mit bloß einer Stimme. Hierbei können entweder mehrere Bewerber zusammen gewählt werden, z. B. die Wahlmänner bei US-Präsidentschaftswahlen, oder es wird bloß ein Bewerber mit der Stimme gewählt, in diesem Fall spricht man auch von nicht-übertragbarer Einzelstimmgebung.
Verhältnis zur Verhältniswahl
Wird nur ein Abgeordneter im Wahlkreis gewählt, kann man die relative Mehrheitswahl auch als Verhältniswahl betrachten. Im umgekehrten Fall werden Verhältniswahlen in besonders kleinen Wahlkreisen auch als Mehrheitswahlen betrachtet, da sie dem gleichen Ziel wie diese dienen. Die sogenannte faktische Hürde ist dann oft sehr hoch.
Zu einer Einheitswahl kann die Verhältniswahl dann werden, wenn die Sperrklausel sehr hoch angesetzt wird.
Der Einsatz der Mehrheitswahl kann auch mit dem der Verhältniswahl kombiniert werden. Bei der personalisierten Verhältniswahl gibt es eine integrierte Mehrheitswahl, die aber auf das Stimmenverhältnis im Parlament keine Auswirkungen hat. Beim Grabenwahlrecht dagegen wird ein Teil der Abgeordneten durch Mehrheitswahl und unabhängig davon der andere Teil durch Verhältniswahl bestimmt.
Das sogenannte minderheitenfreundliche Mehrheitswahlrecht sieht vor, dass die stimmenstärkste Partei automatisch einen gewissen Mindestanteil der Parlamentssitze zugesprochen bekommt, der in der Regel über 50 % der Sitze liegt. Ansonsten ist es eine Verhältniswahl.
Situation in ausgewählten Staaten
Vereinigtes Königreich
Im Vereinigten Königreich werden die Mitglieder des Unterhauses nach relativer Mehrheitswahl gewählt. Dieser Typ hat seinen Ursprung im angelsächsischen Raum und ist heute nur noch dort verbreitet. Da alle Stimmen bis auf die des Gewinners verfallen, wird dieses Wahlverfahren auch winner-takes-all oder first-past-the-post system (FPTP) genannt.
Frankreich
In Frankreich wird bei Nationalversammlungswahlen ein romanisches Mehrheitswahlrecht angewandt. Um im ersten Wahlgang gewählt zu sein, muss eine absolute Mehrheit der abgegebenen Stimmen sowie die Stimmen von 25 % der Wahlberechtigten erreicht worden sein. Am möglichen zweiten Wahlgang darf neben den beiden Bestplatzierten des ersten Wahlganges teilnehmen, wer die Stimmen von mehr als 12,5 % der Wahlberechtigten erhalten hat. Bei Präsidentschaftswahlen wird nach absoluter Mehrheitswahl gewählt.
USA
Die Mitglieder des Kongresses der Vereinigten Staaten (Repräsentantenhaus und Senat) und der meisten Parlamente der Bundesstaaten werden in Einerwahlkreisen gewählt, wobei die genaue Ausgestaltung der Gesetzgebung der Bundesstaaten unterliegt und der Wahlkreis der Senatoren immer einen ganzen Bundesstaat umfasst. Bei der Wahl des US-Präsidenten durch das Wahlmännerkollegium fallen in den meisten Bundesstaaten die jeweiligen Wahlmänner ebenso gemäß dem Mehrheitswahlrecht dem stimmenstärksten Kandidaten im jeweiligen Staat zu.
Deutschland
In Deutschland gilt als Bundestagswahlrecht ein personalisiertes Verhältniswahlrecht. Zwar werden in den Wahlkreisen auch Direktkandidaten nach dem relativen Mehrheitswahlrecht gewählt (die Hälfte der Bundestagssitze). Parteilose Direktkandidaten hatten seit der Bundestagswahl 1949 gegen die parteiunterstützten Kandidaten jedoch keine Chance mehr.
Im Gegensatz zu vielen anderen Verfassungen schreibt das Grundgesetz kein konkretes Wahlsystem vor. Dies ist der Tatsache geschuldet, dass sich die verschiedenen Parteien im Parlamentarischen Rat nicht auf eine dauerhafte Lösung verständigen konnten. Nachdem bereits in den 1950er-Jahren die Einführung eines Grabenwahlrechts diskutiert worden war, wollte die Große Koalition (1966–1969) ein Mehrheitswahlrecht einführen. Diese Wahlrechtsreform war eines der Reformprojekte, um derentwillen die Koalition gebildet worden war. Das Vorhaben wurde insbesondere von der CDU unterstützt, die auf diese Weise unabhängig von der FDP werden wollte, die im damaligen Dreiparteiensystem die Richtung der Politik bestimmen konnte. Die SPD war zunächst bereit, eine solche Reform zu unterstützen, rückte aber später davon ab, da die FDP eine sozialliberale Koalition ins Spiel gebracht hatte. Bundesinnenminister Paul Lücke (CDU) trat daraufhin von seinem Amt zurück. Helmut Schmidt (SPD), der zu dieser Zeit Fraktionsvorsitzender der SPD im Bundestag war, gab als einer der wenigen in seiner Partei die damalige Forderung nicht auf. Vertreter der Mehrheitswahl an den Universitäten waren unter anderem die Politologen Ferdinand A. Hermens und Wilhelm Hennis.
Nachdem die Linkspartei 2007 erstmals in ein westdeutsches Parlament einzog, wurde vereinzelt erneut ein Mehrheitswahlrecht für Deutschland gefordert. Unabdingbare Kompromisse würden eine klare, eindeutige und sinnvolle Politik verhindern, so die Argumentation der Reform-Befürworter. Dies sei ein großer Schaden für Deutschland. Unter anderen forderte Ernst Benda die Einführung des Mehrheitswahlrechts in Deutschland.
Jedoch wird das Mehrheitswahlsystem bei anderen Wahlen gesetzlich vorgeschrieben, so u. a. in Abs. 2 BetrVG und in Abs. 2 Nr. 2 MitbestG.
Österreich
Nach der Nationalratswahl 2006 forderten einige prominente Politiker in Österreich, unter ihnen auch Landeshauptmann Erwin Pröll, die Einführung eines Mehrheitswahlrechtes bei Wahlen zum Nationalrat mit dem Ziel, klare Mehrheiten zu schaffen und große Koalitionen weniger häufig zu machen.
In einem Zwischenentwurf zu einem veränderten Parteiprogramm der ÖVP „denkt die Partei in ihrem „Evolutionsprozess“ die Einführung des Mehrheitswahlrechts an.“
Schweiz
Das Mehrheitswahlsystem wird in der Schweiz Majorzsystem genannt.
In der Schweiz ist für Volksvertretungen die Verhältniswahl die Regel. Die Mehrheitswahl, wenn sie angewendet wird, ist nach romanischer Art üblich. Sie gilt für die Wahl des Ständerates (außer in den Kantonen Jura und Neuenburg), einige kantonale Parlamente sowie kantonale und kommunale Regierungen (Exekutiven).
Auch in den Kantonen, die nur einen Vertreter in den Nationalrat entsenden, ist derjenige Kandidat gewählt, der die meisten Stimmen erhält.
Bundesratswahlen, also Wahlen in die Bundesregierung durch das Parlament, werden mit einer modifizierten absoluten Mehrheitswahl durchgeführt.
Italien
In Italien wurde für die Wahlen zum Italienischen Abgeordnetenhaus zeitweise ein minderheitenfreundliches Mehrheitswahlrecht angewandt, wobei die stimmenstärkste Partei 54 % der Sitze erhält. Gleiches gilt in jeder Region einzeln für die Wahl des Senats, wodurch die Mehrheitsverhältnisse verzerrt wurden und wiederum nur zufälligerweise stabilere Mehrheiten zustande kamen als bei einer reinen Verhältniswahl.
Indien
In Indien hat sich kein Zweiparteiensystem herausgebildet, weil sich dort die regionalen Besonderheiten stark auswirken.
Typische Merkmale des Mehrheitswahlrechts
Personenwahl
In der Regel ist eine Personenwahl in den Wahlkreisen möglich. Die Wähler haben die Möglichkeit, Kandidaten ihres Wahlkreises persönlich kennenzulernen und aufgrund ihrer Persönlichkeit zu wählen.
Dies trifft jedoch z. B. nicht auf die US-Präsidentschaftswahl zu. Hier kommt es auf die Mehrheiten im jeweiligen Bundesstaat an, obwohl landesweit dieselben Kandidaten antreten.
Die Abgeordneten sind von ihrer Partei weniger abhängig, da sie in ihren Wahlkreisen direkt gewählt werden. Dies führt dazu, dass die Abgeordneten in Mehrheitswahlsystemen öfter als in Verhältniswahlsystemen gegen ihre eigene Fraktion stimmen. Dies wird sowohl als Vorteil (Abgeordneter fühlt sich Region stärker verpflichtet als Partei) als auch als Nachteil (Mehrheitsbildungen werden undurchsichtiger) angesehen.
Das System und die Auszählung ist meist einfacher und dadurch leichter verständlich als beim Verhältniswahlrecht.
Eine Stimme in einem kleinen Wahlkreis – es ist praktisch unmöglich, immer alle Wahlkreise gleich groß zu machen – wiegt rechnerisch mehr als eine Stimme in einem großen Wahlkreis, da jeder Wahlkreis einen Abgeordneten wählt.
Zweiparteiensystem
Das Mehrheitswahlrecht tendiert durch strategische Wahl zu einem Zweiparteiensystem (Duvergers Gesetz).
In Großbritannien bildete sich im Mai 2010 zum ersten Mal seit Generationen eine Koalitionsregierung (Kabinett Cameron I). Wenn es im Unterhaus keine Partei mit absoluter Mehrheit gibt, nennt man dies hung parliament.
In den USA gehen konstant alle oder fast alle Sitze an zwei Parteien (Demokratische Partei und Republikaner). Auch wenn es auf nationaler Ebene kein Zweiparteiensystem gibt, ist es gleichwohl meist so, dass auf Wahlkreisebene höchstens zwei Parteien realistische Chancen auf einen Sieg haben.
In Neuseeland bestand bis zur Ersetzung des First-Past-the-Post-Systems durch das Mixed-Member Proportional-Verhältniswahlrecht im Rahmen der Wahlrechtsreform 1993 dazu eine Dominanz der beiden etablierten Parteien. Nach der Einführung des Verhältniswahlrechts erreichten abseits der beiden etablierten Parteien weitere Parteien Mandate. Dies führte unter anderem zu einer verstärkten Repräsentation der Maori.
In der Praxis anderer Länder ist das manchmal anders:
In Frankreich gab es nie annähernd ein Zweiparteiensystem (siehe auch Politisches System Frankreichs).
In Indien gibt es kein Zweiparteiensystem (siehe auch Politisches System Indiens#Exekutive).
U. a. Kanada, Pakistan und einige afrikanische Staaten (z. B. Kenia) haben ebenfalls trotz Mehrheitswahl kein Zweiparteiensystem.
Der Reichstag des Deutschen Kaiserreichs, der nach absoluter Mehrheitswahl gewählt wurde, war stets recht zersplittert, es gab nie ein Zweiparteiensystem.
Laut dem umstrittenen Medianwählermodell führt dies zur Konkurrenz um den „mittleren“ Wähler und somit zu einer Ausrichtung der Programme an der politischen Mitte. Bei Mehrheitswahlrecht neigen die beiden großen Parteien dazu, sich politisch aufeinander zuzubewegen, da sie keine realistische Konkurrenz von der anderen Seite des Spektrums zu erwarten haben. Dadurch hat der Wähler effektiv nur die Wahl zwischen zwei (mehr oder weniger) ähnlichen Politikangeboten. Dies wird zum Teil als Vorteil angesehen, wenn man die Ausrichtung der Politik an „zentrischen Positionen“ für wichtig erachtet; aber auch als Nachteil (vor allem unter demokratietheoretischen Ansätzen), weil der Wähler nicht die Möglichkeit der Auswahl zwischen echt verschiedenen Positionen hat.
Eine Parteienzersplitterung ist unwahrscheinlich, da Kandidaten kleiner Parteien nur selten genügend Stimmen erhalten, um einen Wahlkreis zu gewinnen. Die Stimmen für Kandidaten kleinerer Parteien werden häufig zu „Papierkorbstimmen“, da sie ohne Konsequenz für die Zusammensetzung des Parlaments bleiben. Kritiker bemängeln, dass gesellschaftliche Minderheiten nicht ausreichend vertreten werden.
Dies betrifft zum einen extreme Parteien und Lobbyparteien, die nur bestimmte Teile der Gesellschaft vertreten wollen. Deren Nichtteilnahme an politischen Entscheidungsprozessen wird allgemein positiv bewertet. Es betrifft aber auch kreative demokratische Kleinparteien und neue Parteien, die reale Alternativen zum Politikangebot der großen Volksparteien anbieten wollen.
Unter bestimmten Bedingungen können auch Mehrheitswahlen zu Parteizersplitterung führen: Ein Mehrheitswahlrecht behindert zwar die Entstehung von themenorientierten Splitterparteien, aber fördert die Entstehung von Regionalparteien, welche dann im Parlament oft die regionalen Interessen den Gemeinschaftsinteressen des Staates voranstellen. Ein gutes Beispiel bildet hierfür Kanada. Im kanadischen Unterhaus sind trotz des angelsächsischen Mehrheitswahlrechts neben den beiden traditionell tonangebenden Listen der konservativen und der liberalen Partei auch der Bloc Québécois sowie die New Democratic Party (NDP) vertreten. Die beiden letztgenannten verfügen jeweils über eine starke regionale Machtbasis – der Bloc Quebecois in Québec, die NDP unter anderem in der Provinz Saskatchewan. Somit kann das Mehrheitswahlrecht auch dazu führen, dass starke Regionalparteien auf nationaler Ebene zum Teil überproportionale Bedeutung erlangen – deren Fraktionen können zum Teil bedeutsame Gegenleistungen einfordern, wenn ihre Stimmen zur Mehrheitsbeschaffung der nationalen Regierung benötigt werden („Zünglein an der Waage“).
Eindeutige Mehrheiten im Parlament
Die Mehrheitswahl führt häufig zu eindeutigen Mehrheitsverhältnissen im Parlament.
Koalitionen sind zum Erreichen einer Mehrheit in der Regel nicht erforderlich.
Die stimmenstärkste Partei ist im Parlament (verglichen mit dem Wahlergebnis) meist überproportional stark, die übrigen unterproportional vertreten. Es kommt meist zu einer einfachen und für die Wähler voraussehbaren Regierungsbildung und einer stabilen starken Regierung.
Es wird das Gesamtergebnis im Parlament verzerrt wiedergegeben.
Es ist möglich, dass die stimmenmäßig zweitstärkste Partei die größte Fraktion stellt oder sogar die absolute Mehrheit der Sitze erhält. Letzteres war beispielsweise der Fall 1951 in Großbritannien, 1978 und 1981 in Neuseeland und 1998 in Québec. Dies ist möglich, wenn der Wahlsieger in bevölkerungsreichen Wahlbezirken knappere Ergebnisse erzielt und daher die Summierung der abgegebenen Stimmen ein anderes Bild ergibt als die Auszählung nach geltendem Wahlrecht. Im Extremfall kann es vorkommen, dass eine Partei knapp die Hälfte aller Stimmen und die relative Mehrheit erringt und dennoch bei der Sitzverteilung leer ausgeht. Regionalparteien können weitaus stärker vertreten sein als landesweit antretende Parteien mit wesentlich mehr Stimmen.
Es kann passieren, dass im Parlament nur eine Partei vertreten ist und es somit keine parlamentarische Opposition mehr gibt. Dies geschah z. B. in der kanadischen Provinz New Brunswick bei den Wahlen 1987 und bis in die 1970er Jahre regelmäßig in Mexiko.
Auch das Mehrheitswahlrecht kann zu einem knappen Gesamtergebnis führen, obwohl ein Lager in der Bevölkerung eine klare Mehrheit hatte.
Wahlkreisgeometrie
Es ist möglich, das Wahlergebnis durch „geschicktes“ Ziehen der Wahlkreisgrenzen zu beeinflussen („Gerrymandering“, „Wahlkreisgeometrie“):
Ein Teil der Bevölkerung kann de facto seines Wahlrechts beraubt werden, wenn er in einem Wahlkreis oder -bezirk lebt, der fest in der Hand einer der beiden Parteien ist, und somit keine Chance hat, auf das Wahlresultat Einfluss zu nehmen. So leben z. B. in den USA 80 % der Bevölkerung in einem fest einem Lager zugerechneten Bundesstaat.
Auswahldilemma
Ein Merkmal ist die Abhängigkeit des Wahlausgangs von irrelevanten Alternativen. Die amerikanische Präsidentschaftswahl 2000 wird von vielen als Beispiel dafür angesehen. Es wird argumentiert, dass der Demokrat Al Gore die Wahl gegen den Republikaner George W. Bush deswegen verloren habe, weil viele links-orientierte Wähler für Ralph Nader, einen von den Grünen nominierten Kandidaten ohne Aussicht auf Erfolg, gestimmt hatten. Ohne diese Alternative hätten sie wahrscheinlich Gore gegenüber Bush vorgezogen und ersterem zum Sieg verholfen.
Die Abhängigkeit der Mehrheitswahl von irrelevanten Alternativen verleitet zu strategischem Wahlverhalten.
Abhängigkeit vom Wahlmodus
Bei Wahlen, bei denen es nur einen Sieger geben kann und dieser direkt gewählt wird (z. B. der amerikanische oder französische Präsident) kann es stark vom Auszählungsmodus abhängen, welcher Kandidat gewinnt. Das folgende Beispiel nach Michel Balinski soll dies verdeutlichen:
A gewinnt in einer reinen Mehrheitswahl ohne 50 %-Regel
B gewinnt in einer Borda-Wahl sowie einer Coombs-Wahl
C gewinnt nach der Condorcet-Methode
D gewinnt bei einer Vorzugswahl (z. B. Australien und Irland)
E gewinnt bei einer Mehrheitswahl mit zweitem Wahlgang, z. B. dem französischen Präsidentenwahlsystem
Für eine Auszählung nach der Wahl durch Zustimmung und der Rang-Wahl müssten vom Wähler weitere Entscheidungen verlangt werden. Geht man davon aus, dass bei einer Wahl durch Zustimmung jeder Wähler seinen ersten beiden Kandidaten zustimmen würde, läge – zumindest nach einem ersten Wahlgang – Kandidat B mit 49 Punkten knapp vor Kandidat E mit 48 Punkten.
Siehe auch
Wahlsystem
Binomiales Wahlsystem
Literatur
G. William Domhoff: Changing the Powers That Be. How the Left Can Stop Losing and Win. Rowman & Littlefield, New York 2003.
Egon Flaig (Hrsg.): Genesis und Dynamiken der Mehrheitsentscheidung (= Schriften des Historischen Kollegs. Kolloquien. Bd. 85). Oldenbourg, München 2013 (Digitalisat).
Richard M. Scammon, Ben J. Wattenberg: The Real Majority. The Classic Examination of the American Electorate. Plume, New York 1992.
Ingar Solty: Warum gibt es in den Vereinigten Staaten keine Linkspartei? In: Das Argument 264, 2006, Heft 1, S. 71–84.
Weblinks
Mehrheitswahlsysteme auf wahlrecht.de (Überblick).
Tagungsbericht Genesis und Dynamiken der Mehrheitsentscheidung. 6.–8. Mai 2010, München. In: H-Soz-u-Kult, 3. Juli 2010 (Geschichte).
Wir brauchen das Mehrheitswahlrecht, von Blogger Gregor Keuschnig (Artikel pro Mehrheitswahlrecht).
Tyrannei der Mehrheit, Politikwissenschaftler Franz Walter über die Auswirkungen einer theoretischen Einführung des Mehrheitswahlrechts in Deutschland (Artikel contra Mehrheitswahl).
Einzelnachweise
Wahlverfahren
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Q6738411
| 87.488848 |
21662
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https://de.wikipedia.org/wiki/Unpaarhufer
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Unpaarhufer
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Die Unpaarhufer oder Unpaarzeher (Perissodactyla, früher auch Mesaxonia) sind eine Ordnung der Säugetiere (Mammalia). Im Gegensatz zu den Paarhufern sind sie durch eine meist ungerade Anzahl von Zehen charakterisiert. Die Ordnung umfasst drei rezente Familien, die Pferde (Equidae), Nashörner (Rhinocerotidae) und Tapire (Tapiridae) mit insgesamt rund 18 Arten. Dass diese drei sehr unterschiedlich aussehenden Familien miteinander verwandt sind, erkannte als Erster der Zoologe Richard Owen im 19. Jahrhundert, der auch den Begriff Unpaarhufer (engl. odd-toed ungulates) prägte.
Merkmale
Allgemeines
Als Anpassung an verschiedene Habitate und Lebensweisen haben die Unpaarhufer deutliche Unterschiede im Körperbau entwickelt. Gemeinsame Merkmale gibt es im Bau der Gliedmaßen und der Zähne. Bei allen lebenden und der überwiegenden Mehrzahl der ausgestorbenen Arten handelt es sich um recht große Tiere. Mit den Nashörnern gehören die nach den Elefanten zweitgrößten landlebenden Säugetiere zu dieser Gruppe. Das ausgestorbene Paraceratherium, ein hornloses, nashornverwandtes Tier aus dem Oligozän, gilt sogar als größtes Landsäugetier aller Zeiten. Einige ursprüngliche Vertreter der Ordnung wie das Urpferdchen Hyracotherium waren mit nur 20 cm Schulterhöhe ziemlich klein. Abgesehen von Zwergzüchtungen des Hauspferdes und des Hausesels erreichen die heutigen Unpaarhufer eine Kopfrumpflänge von 180 bis 420 Zentimeter und ein Gewicht von 150 bis 3500 Kilogramm. Während Nashörner nur spärlich behaart sind und eine dicke Epidermis aufweisen, sind Tapire und Pferde mit einem dichten, kurzen Haarkleid versehen. Die meisten Arten sind grau oder braun gefärbt, Zebras allerdings tragen ein typisches Streifenkleid, und junge Tapire weisen weiße Längsstreifen auf.
Gliedmaßen
Die Hauptachse sowohl der vorderen als auch der hinteren Füße verläuft durch den Mittelstrahl, die dritte Zehe ist dementsprechend bei allen Arten die größte. Die übrigen Strahlen sind in unterschiedlichem Ausmaß reduziert worden, am wenigsten bei den Tapiren. Diese Tiere besitzen an den Vorderfüßen noch vier Zehen, eine Anpassung an den weichen Untergrund ihres Lebensraumes, und an den Hinterfüßen drei. Heutige Nashörner haben an Vorder- und Hinterfüßen drei Zehen. Bei den Pferden ist die Reduktion der Seitenstrahlen am weitesten fortgeschritten, diese Tiere besitzen nur mehr eine einzige Zehe (Monodaktylie). Die Füße sind mit Hufen versehen, die allerdings nur bei Pferden die Zehe fast vollständig bedecken; bei Nashörnern und Tapiren ist nur der Vorderrand mit einem Huf bedeckt, die Unterseite ist weich – Nashörner haben zusätzlich ein weiches Sohlenkissen.
Innerhalb der Beine sind die Elle und das Wadenbein verkleinert, bei den Pferden sind diese Knochen in der unteren Hälfte sogar mit Speiche beziehungsweise Schienbein verwachsen. Eine Autapomorphie (ein gemeinsames Merkmal, das diese Gruppe eindeutig von anderen Gruppen unterscheidet) ist das sattelförmige Talonaviculargelenk – das Sprunggelenk zwischen Sprungbein (Talus) und Kahnbein (Naviculare) –, das die Beweglichkeit stark einschränkt. Der Oberschenkel ist relativ kurz, das Schlüsselbein fehlt.
Schädel und Zähne
Unpaarhufer haben einen langgestreckten Kopf, wofür in erster Linie ein langer Oberkiefer (Maxillare) verantwortlich ist. Die verschiedenen Schnauzenformen der einzelnen Familien gehen auf Unterschiede im Bau des Zwischenkieferbeines (Prämaxillare) zurück. Das Tränenbein (Lacrimale) weist einen in die Augenhöhle vorspringenden Höcker auf; eine Autapomorphie ist der breite Kontakt zwischen Tränenbein und Nasenbein (Nasale). Kennzeichnend ist weiterhin ein insbesondere bei den grasfressenden Arten massiver Kiefer. Das Kiefergelenk liegt hoch und der Unterkieferast ist vergrößert.
Nashörner haben ein oder zwei Hörner, die im Gegensatz zu den Hörnern der Paarhufer nicht aus Knochensubstanz, sondern aus agglutiniertem Keratin bestehen.
Anzahl und Bau der Zähne sind je nach Nahrung unterschiedlich. Schneide- und Eckzähne können sehr klein sein oder komplett fehlen (etwa bei den beiden afrikanischen Nashornarten; bei den Pferden besitzen meist nur männliche Tiere Eckzähne – „Hakenzahn“). Aufgrund des langgestreckten Oberkiefers klafft zwischen den vorderen Zähnen und den Backenzähnen eine als Diastema bezeichnete Lücke. Die Prämolaren (Vorbackenzähne) sind meist molarartig entwickelt; die Oberflächenform und Höhe der Molaren (Hinterbackenzähne) ist stark davon abhängig, ob eher weiches Laub oder hartes Gras den Hauptbestandteil der Nahrung ausmacht. Pro Kieferhälfte sind drei oder vier Prämolaren und stets drei Molaren vorhanden, so dass die Zahnformel der Unpaarhufer lautet: I 0–3/0–3 · C 0–1/0–1 · P 2–4/2–4 · M 3/3.
Innere Anatomie
Im Bau des Verdauungstraktes weisen die Unpaarhufer große Unterschiede zu den ebenfalls meist pflanzenfressenden Paarhufern auf. Unpaarhufer sind – ähnlich den Nagetieren – Enddarmfermentierer, das heißt, dass die Verdauung größtenteils erst im Dickdarm stattfindet. Der Magen ist im Gegensatz zu dem der Paarhufer stets einfach gebaut und einkammerig; die Fermentation findet im sehr großen Blinddarm (der etwa bei Pferden bis zu 90 Liter fasst) und im doppelschlingigen Grimmdarm (Colon) statt. Der Darm ist sehr lang (beim Pferd etwa bis zu 26 Meter). Die Nahrungsausnutzung ist relativ gering, das hat vermutlich dazu geführt, dass es heute keine kleinen Unpaarhufer mehr gibt, da bei großen Tieren der Nahrungsbedarf pro Kilogramm Körpergewicht geringer und das Oberfläche-Volumen-Verhältnis kleiner ist (was besser für den Wärmehaushalt ist).
Im Bereich des Urogenitaltraktes sind die Weibchen ursprünglich durch eine „zweihörnige Gebärmutter“ (Uterus bicornis) gekennzeichnet. Die Eierstöcke (Ovarien) liegen bei Nashörnern und Tapiren in einer Tasche des Bauchfells (Eierstocktasche, Bursa ovarica), bei Pferden bedeckt die Eierstocktasche das Ovar nur teilweise. Pferde unterscheiden sich im Bau des Eierstocks von allen anderen Säugetieren: Das gewöhnlich als „Rinde“ bezeichnete Eierstockgewebe mit den Follikeln liegt bei Pferden im Inneren des Organs, das gefäßführende Eierstockmark dagegen außen. Die Eierstockrinde reicht nur an einer Stelle an die Oberfläche. Diese Stelle ist als Einziehung auch von außen sichtbar und wird als „Ovulationsgrube“ (Fossa ovarii) bezeichnet, nur an dieser Stelle kann der Eisprung (Ovulation) erfolgen. Bei den männlichen Unpaarhufern liegen die Hoden bei Nashörnern und Tapiren inguinal (in der Leistenregion), lediglich Pferde haben ein Skrotum.
Verbreitungsgebiet
Das heutige Verbreitungsgebiet der Unpaarhufer besteht nur noch aus einem kleinen Teil eines einst größeren, nahezu die ganze Erde umfassenden Vorkommens. Wildlebende Vertreter dieser Gruppe finden sich heute in Mittel- und Südamerika, im östlichen und südlichen Afrika sowie im mittleren, südlichen und südöstlichen Asien. Während der Blütezeit der Unpaarhufer vom Eozän bis in das Oligozän erstreckte sich das Verbreitungsgebiet mit großem Formenreichtum über einen Großteil des Globus mit Ausnahme Australiens und Antarktikas, den südamerikanischen Kontinent erreichten sie mit Pferden und Tapiren nach der Bildung des Isthmus von Panama im Pliozän vor rund 3 Millionen Jahren. In Nordamerika starben sie vor rund 10.000 Jahren aus, in Europa mit dem Verschwinden des Tarpans im 19. Jahrhundert. Bejagung und Einschränkung des Lebensraums haben dazu geführt, dass auch die heutigen freilebenden Arten oft nur mehr in zersplitterten Reliktpopulationen vorkommen. Im Gegensatz dazu haben Hauspferde und Hausesel als Nutztiere eine weltweite Verbreitung erlangt, verwilderte Tiere beider Arten kommen mittlerweile auch in Regionen vor, in denen ursprünglich keine Unpaarhufer beheimatet waren, etwa in Australien.
Lebensweise und Ernährung
Je nach Lebensraum führen die verschiedenen Arten der Unpaarhufer eine unterschiedliche Lebensweise. Es sind eher dämmerungs- oder nachtaktive Tiere. Tapire leben einzelgängerisch und bewohnen vorwiegend tropische Regenwälder und andere Wälder. Nashörner leben ebenfalls eher als Einzelgänger und kommen in Afrika eher in trockenen Savannen und in Asien in feuchten Sumpf- oder Waldgebieten vor. Pferde schließlich bewohnen offene Gebiete wie Grasländer, Steppen oder Halbwüsten und leben in Gruppen zusammen.
Unpaarhufer sind ausschließlich Pflanzenfresser, die sich in unterschiedlichem Ausmaß von Gräsern, Blättern und anderen Pflanzenteilen ernähren. Man unterscheidet meist zwischen vorwiegend grasfressenden Formen (Breitmaulnashorn, Einhufer) und laubfressenden (Tapire, andere Nashörner).
Fortpflanzung und Entwicklung
Unpaarhufer sind durch eine lange Tragzeit und eine kleine Wurfgröße gekennzeichnet, in der Regel kommt ein einzelnes Jungtier zur Welt. Die Trächtigkeitsdauer liegt zwischen 330 und 500 Tagen, am längsten ist sie bei den Nashörnern. Neugeborene Unpaarhufer sind Nestflüchter, junge Pferde und Nashörner können der Mutter schon nach wenigen Stunden folgen; lediglich Tapirbabys verbringen ihre ersten Lebenstage in einem geschützten Lager.
Die Jungtiere werden relativ lang gesäugt, oft bis ins zweite Lebensjahr hinein und erreichen die Geschlechtsreife mit rund zwei bis acht Jahren. Es sind eher langlebige Tiere, für mehrere Arten ist in menschlicher Obhut ein Alter von knapp 50 Jahren belegt.
Systematik
Äußere Systematik
Traditionell wurden die Unpaarhufer mit anderen huftragenden Säugetieren wie Paarhufern, Schliefern, Rüsseltieren und anderen als „Huftiere“ (Ungulata) zusammengefasst. Ein nahes Verwandtschaftsverhältnis wurde insbesondere zu den Schliefern vermutet und durch Gemeinsamkeiten im Bau des Ohres, des Verlaufes der Halsschlagader und der Zehen begründet.
Aufgrund molekulargenetischer Untersuchungen wurden in jüngerer Zeit jedoch erhebliche Zweifel an der Verwandtschaft der Huftiere deutlich, vermutlich stellen diese eine polyphyletische Gruppe dar, das heißt, dass die Ähnlichkeiten nur auf konvergenter Evolution und nicht auf einer gemeinsamen Abstammung beruhen. Elefanten und Schliefer werden heute zumeist in die Überordnung der Afrotheria eingeordnet, sind also nicht näher mit den Unpaarhufern verwandt. Diese wiederum werden in den Laurasiatheria geführt, einer Überordnung, die ihrem Ursprung im Kontinent Laurasia hatte. Der molekulargenetische Befund deutet an, dass das Schwestertaxon der Unpaarhufer die Cetartiodactyla bilden, in denen die Paarhufer (Artiodactyla) und die Wale (Cetacea) enthalten sind; beide Gruppen formen zusammen die Euungulata. Weiter außerhalb stehen die Fledertiere (Chiroptera) und die Ferae (ein gemeinsames Taxon aus Raubtieren (Carnivora) und Schuppentieren (Pholidota)). In einem alternativen Szenario besteht auch eine engere Verbindung zwischen den Unpaarhufern, den Raubtieren und den Fledertieren, wobei diese gemeinsame Gruppe dann Pegasoferae bezeichnet wird.
Nach Untersuchungen, die im März 2015 veröffentlicht wurden, stehen die Unpaarhufer in einem nahen Verwandtschaftsverhältnis mit zumindest einigen der sogenannten Meridiungulata („Südamerikanische Huftiere“), einer vom Paläozän bis zum Pleistozän in Südamerika vorkommenden, sehr vielfältigen Gruppe von huftragenden Säugetieren, deren systematische Einheitlichkeit weitgehend ungeklärt ist. Teilweise wurden diese aufgrund ihrer paläogeographischen Verbreitung mit den Afrotheria in Verbindung gebracht, wofür auch einige anatomische Merkmale wie der Bau der Wirbelsäule oder des Sprungbeins sprachen. Allerdings konnte mit Hilfe von Proteinsequenzierungen und dem Vergleich mit fossilem Kollagen, gewonnen an Überresten einiger stammesgeschichtlich junger Vertreter der „Meridiungulata“ (speziell Macrauchenia aus der Gruppe der Litopterna und Toxodon aus der Gruppe der Notoungulata), eine enge Beziehung zu den Unpaarhufern herausgearbeitet werden. Beide Verwandtschaftsgruppen, die Unpaarhufer und die Litopterna-Notoungulata, werden nun in dem übergeordneten Taxon der Panperissodactyla zusammengefasst. Diese Verwandtschaftsgruppe steht dabei innerhalb der Euungulata den Paarhufern und Walen gegenüber (Cetartiodactyla). Zwei Jahre später konnte das Ergebnis mit Hilfe von molekulargenetischen Untersuchungen zumindest für die Litopterna-Linie bestätigt werden. Die Trennung dieser von der Linie, die zu den Unpaarhufern führte, erfolgte demnach vor rund 66,15 Millionen Jahren, was in etwa der Kreide-Tertiär-Grenze entspricht. Als Ausgangspunkt für die Entwicklung der beiden Gruppen können vermutlich die „Condylarthra“ in Betracht gezogen werden, welche eine heterogene Gruppe urtümlicher Huftiere darstellen, die im Paläogen hauptsächlich die nördliche Hemisphäre bewohnten. Studien aus dem Jahr 2020 lassen auch auf anatomischer Basis zumindest für die Litopterna ein Schwestergruppenverhältnis zu den Unpaarhufern annehmen. Ebenso führten anatomische Erwägungen dazu, dass im Jahr 2021 in einer Studie die Südamerikanischen Huftiere in zwei Großgruppen, die Panameriungulata und die Sudamericungulata, aufgeteilt wurden. Die Panameriungulata schließen dabei die Litopterna und die Didolodontidae ein und sollen laut den Autoren der Studie, Leonardo S. Avilla und Dimila Mothé, den Unpaarhufern nahestehen. Dem gegenüber vereinen die Sudamericungulata die restlichen Südamerikanischen Huftiere (Notoungulata, Astrapotheria, Pyrotheria und Xenungulata) und werden hierbei als Teilgruppe der Afrotherien angesehen. Die Auffassung steht im Widerspruch zu den erwähnten biochemischen Analysen, worauf Avilla und Mothé hinweisen, und wird auch durch eine phylogenetische Untersuchung aus dem Jahr 2022 abgelehnt.
Als weitere übergeordnete Gruppe wurden im Jahr 2020 die Perissodactylamorpha eingeführt. Diese schließen neben den Unpaarhufern auch die Anthracobunia ein, welche wiederum die Anthracobunidae und die Cambaytheriidae beinhalten. Beide Gruppen kamen während des Paläogens in Asien vor. Momentan ist dabei das Verhältnis der Perissodactylamorpha zu den Panperissodactyla unklar, letztere beruhen auf genetischen, erstere auf anatomischen Befunden. Die Autoren vermuten aber, dass die Perissodactylamorpha eine Untergruppe der Panperissodactyla darstellen. In einer eher traditionellen Auffassung werden zumindest die Anthracobunidae als Basalform der Tethytheria eingestuft und damit den Afrotheria zugewiesen.
Innere Systematik
Rezente Vertreter
Man unterscheidet in der Ordnung der Unpaarhufer (Perissodactyla) drei rezente Familien mit rund 18 Arten – innerhalb der Pferde ist die genaue Artanzahl noch umstritten. Nashörner und Tapire sind dabei näher miteinander verwandt und stehen den Pferden gegenüber. Die Trennung der Pferde von den übrigen Unpaarhufern erfolgte laut molekulargenetischen Analysen im Paläozän vor rund 56 Millionen Jahren, während sich die Nashörner und Tapire im Unteren Mittleren Eozän vor etwa 47 Millionen Jahren aufspalteten.
Ordnung: Unpaarhufer (Perissodactyla Owen, 1848)
Familie: Pferde (Equidae Linnaeus, 1758)
Tarpan (Equus ferus Boddaert, 1785)
Przewalski-Pferd (Equus przewalskii Poljakov, 1881)
Afrikanischer Esel, auch Wildesel oder Echter Esel (Equus asinus Linnaeus, 1758)
Asiatischer Esel, auch Halbesel oder Pferdeesel (Equus hemionus Pallas, 1775)
Kiang (Equus kiang Moorcroft, 1841)
Steppenzebra (Equus quagga Boddaert, 1785)
Bergzebra (Equus zebra Linnaeus, 1758)
Grevyzebra (Equus grevyi Oustalet, 1882)
Familie: Tapire (Tapiridae Gray, 1821)
Flachlandtapir (Tapirus terrestris (Linnaeus, 1758))
Bergtapir (Tapirus pinchaque (Roulin, 1829))
Kabomani-Tapir (Tapirus kabomani Cozzuol, Clozato, Holanda, Rodrigues, Nienow, de Thoisy, Redondo & Santos, 2013)
Mittelamerikanischer Tapir (Tapirus bairdii (Gill, 1865))
Schabrackentapir (Tapirus indicus Desmarest, 1819)
Familie: Nashörner (Rhinocerotidae Owen, 1845)
Breitmaulnashorn (Ceratotherium simum (Burchell, 1817))
Spitzmaulnashorn (Diceros bicornis (Linnaeus, 1758))
Sumatra-Nashorn (Dicerorhinus sumatrensis (Fischer, 1814))
Panzernashorn (Rhinoceros unicornis Linnaeus, 1758)
Java-Nashorn (Rhinoceros sondaicus Desmarest, 1822)
Das Hauspferd wurde aus einem wildlebenden Vorläufer domestiziert, der Hausesel stammt vom Afrikanischen Esel ab. Das Przewalski-Pferd und der Tarpan werden häufig als „Wildpferde“ eingestuft, genetische Analysen zeigten aber, dass beide Formen möglicherweise aus domestizierten Tieren hervorgingen oder sich mit diesen vermischt haben. In manchen Systematiken gelten der Khur (Equus khur) und der Achdari (Equus hemippus) sowie das Hartmann-Bergzebra (Equus hartmannae) und das Nördliche Breitmaulnashorn (Ceratotherium cottoni) als eigenständige Arten.
Fossile Vertreter
Fossil traten Unpaarhufer in einer hohen Zahl mit variantenreichen Formen auf, zu den wichtigsten Entwicklungslinien zählen folgende Gruppen:
Die Brontotherioidea gehörten zu den frühesten bekannten Großsäugern, bestehend aus den Familien der Brontotheriidae (synonym Titanotheriidae), deren bekanntester Vertreter Megacerops ist, und der eher basalen Gruppe der Lambdotheriidae. Sie waren vor allem in ihrer Spätphase durch ein knöchernes Horn am Übergang vom Nasen- zum Stirnbein und generell durch flache, für weiche Pflanzennahrung geeignete Backenzähne charakterisiert. Am Beginn des Oberen Eozäns starben die Brontotheroidea, die fast ausschließlich auf Nordamerika und Asien beschränkt waren, aus.
Die Equoidea (Pferdeartige) entwickelten sich ebenfalls im Eozän. Die Palaeotheriidae, die vor allem aus Europa bekannt sind und deren bekanntester Vertreter Hyracotherium war, sind im Oligozän ausgestorben. Die (eigentlichen) Pferde (Equidae) hingegen florierten und breiteten sich aus. Bei der Entwicklung dieser Gruppe ist die Reduktion der Zehenanzahl, die Verlängerung der Gliedmaßen und die fortschreitende Anpassung der Zähne an harte Grasnahrung anhand von Fossilienfunden gut zu beobachten.
Die Chalicotherioidea stellten eine weitere charakteristische Gruppe dar, die aus den Familien der Chalicotheriidae und der Lophiodontidae bestand. Innerhalb der Chalicotheriidae kam es zur Entwicklung von Klauen statt Hufen und zu einer drastischen Verlängerung der Vorderbeine. Die bekanntesten Gattungen sind unter anderem Chalicotherium und Moropus. Die Chalicotherioidea starben erst im Pleistozän aus.
Die Rhinocerotoidea (Nashornverwandte) kamen vom Eozän bis in das Oligozän mit einem großen Formenreichtum vor, es gab hundsgroße Blätterfresser, semiaquatische (teilweise im Wasser lebende) Tiere und auch riesige, langhalsige Tiere – Hörner auf der Nase hatten die wenigsten davon. Die eigentlichen Nashörner (Rhinocerotidae) entstanden im Mittleren Eozän, fünf Arten überleben bis auf den heutigen Tag. Daneben sind noch mehrere fossile Familien belegt, die weitgehend im Eozän und Oligozän präsent waren. In einer eher klassischen Sichtweise werden die Amynodontidae, flusspferdähnliche, im Wasser lebende Tiere, und die eher langbeinigen Hyracodontidae unterschieden. Letztere entwickelten extrem große, langhälsige Formen wie etwa Paraceratherium (früher auch als Baluchitherium oder Indricotherium bekannt), das größte bekannte Landsäugetier. Da sich die Hyracodontidae aber als „Abfalleimertaxon“ erwiesen, gibt es in jüngerer Zeit verschiedene Versuche einer neuen Gliederung. Teilweise werden die Indricotheriidae (auch Paraceratheriidae) und die Eggysodontidae aus den Hyracodontidae ausgegliedert und von ersteren wiederum die Forstercooperiidae abgespalten. Dadurch stehen die nun eigentlichen Hyracodontidae eher basal innerhalb der Rhinocerotoidea.
Die Tapiroidea (Tapirartige) erreichten ihre größte Vielfalt im Eozän, als mehrere Gattungen in Eurasien und Nordamerika beheimatet waren. Sie behielten am ehesten einen urtümlichen Körperbau bei, bemerkenswert ist lediglich die Entwicklung eines Rüssels. Zu den ausgestorbenen Familien zählen unter anderem die Helaletidae, die recht formenreich in Nordamerika und Eurasien auftraten, bekannte Gattungen sind hier Helaletes, Heptodon, Colodon oder Desmatotherium. Neben dieser basalen Gruppe waren die Deperetellidae eher auf Eurasien beschränkt. Sie umfassen Formen wie Deperetella, Teleolophus und Irenolophus. Möglicherweise sind auch die Lophialetidae in die Tapiroidea einzuordnen, bei denen es sich um eine asiatisch verbreitete Gruppe urtümlicher Unpaarhufer handelt. Andererseits können sie auch als eher basale Formengruppe der Nashorn-Tapir-Verwandtschaftsgemeinschaft aufgefasst werden.
Höhere Systematik der Unpaarhufer
Die Beziehungen der Großgruppen der Unpaarhufer untereinander sind noch nicht vollständig geklärt. Anfänglich nach der Etablierung des Begriffes Perissodactyla durch Richard Owen im Jahr 1848 wurden die heutigen Vertreter als gleichrangig eingestuft. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts begann unter Einbeziehung fossiler Formen eine stärkere systematische Differenzierung der Unpaarhufer, wodurch diese in die beiden großen Unterordnungen der Hippomorpha und der Ceratomorpha unterschieden wurden. Dabei umfassen die Hippomorpha nach gegenwärtiger Auffassung die heutigen Pferde und deren fossilen Vertreter (Equoidea), die Ceratomorpha dagegen die Tapire und Nashörner zuzüglich ihrer ausgestorbenen, weiterläufigen Verwandtschaft (Tapiroidea und Rhinocerotoidea). Die Bezeichnungen Hippomorpha und Ceratomorpha wurden 1937 von Horace Elmer Wood eingeführt, wobei er damit auf Kritik reagierte, die nach seinen drei Jahre zuvor vorgeschlagenen Namen Solidungula für die Verwandtschaftsgruppe der Pferde und Tridactyla für den Nashorn-Tapir-Komplex aufgekommen war. Die ausgestorbenen Brontotheriidae wurden von Wood ebenfalls zu den Hippomorpha gestellt und besäßen demnach eine nahe Verwandtschaft zu den Pferden. Einige Forscher sehen diese Zuweisung aufgrund ähnlicher Zahnmerkmale heute noch gerechtfertigt, es gibt aber auch die Ansicht einer sehr basalen Stellung innerhalb der Unpaarhufer, wobei sie dann der Gruppe der Titanotheriomorpha angehören.
Ursprünglich wurden von Wood auch die Chalicotheriidae als Mitglieder der Hippomorpha gesehen, im Jahr 1941 stellte William Berryman Scott sie aber als klauentragende Unpaarhufer den huftragenden gegenüber und verwies sie in die neue Unterordnung Ancylopoda (wobei er die Ceratomorpha und Hippomorpha als huftragende Unpaarhufer in der Gruppe der Chelopoda vereinte). Der Begriff Ancylopoda war bereits 1889 von Edward Drinker Cope für die Chalicotherien etabliert worden. Weitere morphologische Untersuchungen aus den 1960er Jahren ergaben jedoch eine Mittelstellung der Ancylopoda zwischen den Hippomorpha und Ceratomorpha. Leonard Burton Radinsky sah alle drei Großgruppen der Unpaarhufer als gleichrangig an, was er unter anderem mit der extrem langen und unabhängigen stammesgeschichtlichen Entwicklung der drei Linien begründete. In den 1980er Jahren erkannte Jeremy J. Hooker im Zahnbau eine generelle Ähnlichkeit der Ancylopoda zu den Ceratomorpha, vor allem bei den frühesten Vertretern, was 1984 zur Vereinigung der beiden Unterordnungen in der Zwischenordnung Tapiromorpha führte (gleichzeitig erweiterte er die Ancylopoda um die Lophiodontidae). Der Name Tapiromorpha wiederum geht auf Ernst Haeckel zurück, der ihn 1873 prägte; er galt aber lange Zeit als synonym zu Ceratomorpha, da Wood ihn 1937 bei der Etablierung der Ceratomorpha aufgrund seiner stark unterschiedlichen Verwendung in der Vergangenheit nicht beachtet hatte. Ebenfalls im Jahr 1984 benutzte Robert M. Schoch den konzeptionell ähnlichen Begriff Moropomorpha, der heute als synonym zu Tapiromorpha gilt. Innerhalb der Tapiromorpha stehen die heute ausgestorbenen Isectolophidae als Schwestergruppe der Ancylopoda-Ceratomorpha-Gruppe gegenüber und sind somit als die ursprünglichsten Vertreter dieses Verwandtschaftskomplexes anzusehen.
Neben den hier weitgehend anerkannten Großgruppen der Unpaarhufer bestehen noch weitere höhere Taxa, die je nach verwendeter systematischer Aufteilungen der Ordnung Bedeutung haben, in der Regel aber nur selten gebraucht werden. Jerry J. Hooker und Demberelyin Dashzeveg führten im Jahr 2004 die Lophodontomorpha ein, die alle Unpaarhufergruppen mit Ausnahme der Brontotherien und ihre unmittelbare Nahverwandtschaft einschließen. Auf beide Autoren gehen auch die Euperissodactyla zurück, die wiederum die Ceratomorpha und die Hippomorpha vereinen. Dagegen propagierten Malcolm C. McKenna und Susan K. Bell im Jahr 1997 in ihrem Übersichtswerk zur Gliederung der Säugetiere die Selenida, in denen sie die Brontotherien und die Chalicotherien nebst ihrer Verwandtschaft aufnahmen.
Entwicklungsgeschichte
Ursprünge
Die Entwicklungsgeschichte der Unpaarhufer ist vergleichsweise gut durch Fossilien überliefert; zahlreiche Funde lassen die Radiation dieser früher viel formenreicheren und weiter verbreiteten Gruppe erkennen. Die Ursprünge der Unpaarhufer sind ungeklärt, teilweise wird eine Entstehung in Nordamerika angenommen, was mit der rapiden Entwicklung der Phenacodontidae einhergehen würde. Andererseits könnte auch Asien als eigentliches Evolutionszentrum angesehen werden. Als einer der ältesten nahen Verwandten der Unpaarhufer wird teilweise Radinskya aus dem ausgehenden Paläozän Ostasiens angesehen. Der nur etwas mehr als 8 cm messende Schädel gehört einem sehr kleinen und ursprünglichen Tier an, das mit der leicht π-förmigen Gestaltung des Zahnschmelzes auf den hinteren Backenzähnen Ähnlichkeiten zu Unpaarhufern, vor allem den Nashörnern und ihren Verwandten zeigt. Andere Merkmale wie die Ausbildung der Zahnhöckerchen könnten aber auch für eine engere Beziehung mit den Tethytheria sprechen, zu denen etwa die Rüsseltiere zählen. Funde aus dem westlichen Indien unterstützen die Ansicht eines asiatischen Ursprungs und grenzen das Entstehungszentrum auf Südasien ein. Aus der Cambay-Shale-Formation, die ins Untere Eozän vor rund 54,5 Millionen Jahre datiert, stammen Überreste von Cambaytherium, welches zur Familie der Cambaytheriidae gehört. Deren Zähne zeigen vergleichbar zu Radinskya Ähnlichkeiten zu den frühen Unpaarhufern und Tethytherien. Von Cambaytherium liegt auch umfangreiches Material des Körperskeletts vor. Hier sprechen unter anderem der sattelförmige Einzug des Naviculargelenks am unteren Ende des Sprungbeins und die mesaxonische Gestaltung der Vorder- und Hinterfüße – die Hauptachse des Fußes ging durch den Mittelstrahl (Strahl III) – für eine nahe Verwandtschaft mit den Unpaarhufern. Da die Füße aber abweichend von den frühesten Unpaarhufern noch fünfstrahlig waren, werden die Cambaytherien heute als deren Schwestergruppe betrachtet. Möglicherweise gelangten Vorfahren der Unpaarhufer über eine Inselbrücke von der Afroarabischen Landmasse auf den Indischen Subkontinent, der damals eine Insel war und nach Norden Richtung Asien driftete. Aus der gleichen Formation wurde mit Vastanolophus einer der urtümlichsten bekannten Vertreter der Unpaarhufer beschrieben, der allerdings bisher nur mit zwei Zähnen belegt ist.
Stammesgeschichte
Die Unpaarhufer erscheinen relativ unvermittelt zu Beginn des Unteren Eozäns vor rund 56 Millionen Jahren sowohl in Nordamerika als auch in Asien. Die ältesten nordamerikanischen Funde stammen unter anderem von Sifrhippus, einem Vertreter der Pferde aus der Willwood-Formation im nordwestlichen Wyoming. Etwa zeitgleich ist in Asien aus der Lingcha-Formation im nordwestlichen China mit Erihippus ebenfalls ein Verwandter der Pferde belegt. Zusätzlich kommen hier mit Orientolophus ein Vertreter der Stammgruppe der Nashorn-Tapir-Linie, mit Protomoropus eine frühe Form der Ancylopoda und mit Danjiangia ein erster Angehöriger der Brontotheriidae vor. Nur wenig später treten in Asien weitere entfernte Vorfahren der Tapire und Nashörner auf wie beispielsweise Ganderalophus oder Meridiolophus, daneben auch Litolophus, das in der Entwicklungslinie der Chalicotheriidae steht. In Nordamerika ist wiederum Eotitanops aus der Gruppe der Brontotheriidae belegt. Somit sind im Verlauf des Unteren Eozän die wichtigsten Großgruppen durch urtümliche Vertreter nachweisbar. Anfangs sahen sich die Angehörigen der verschiedenen Linien noch recht ähnlich mit einem aufgewölbten Rücken und generell vier Zehen an den Vorder- und drei an den Hinterfüßen. Hyracotherium, das als Vertreter der Pferdeverwandten gilt, ähnelte äußerlich beispielsweise sehr Hyrachyus, dem ersten Vertreter der Linie, die zu den heutigen Nashörnern und Tapiren führte. Alle waren im Vergleich zu späteren Formen relativ klein und lebten als Frucht- und Laubfresser in Wäldern. Erste Riesenformen entstanden mit den Brontotherien bereits im Mittleren und Oberen Eozän, wobei das bekannte Megacerops aus Nordamerika bis 2,5 m Schulterhöhe erreichte und gut 3 t gewogen haben könnte. Der Niedergang der Brontotherien am Ausgang des Eozäns steht dabei im Zusammenhang mit dem Aufkommen konkurrenzfähigerer Pflanzenfresser.
Vor allem am Ende des Eozäns entstanden weitere erfolgreiche Linien der Unpaarhufer, etwa die Chalicotheriidae und die Nashörner und ihre näheren Verwandten, deren Entwicklung ebenfalls mit sehr kleinen Formen begann. Die Hyracodontidae, die nächsten fossilen Verwandten der Nashörner, stellten dabei mit Paraceratherium das größte landlebende Säugetier aller Zeiten. Dieses wog bis zu 20 t und lebte im Oligozän in Eurasien. Andere florierende Gruppen jener Zeit waren die Amynodontidae mit Amynodon, Cadurcodon oder Sellamynodon, darüber hinaus auch die Eggysodontidae. Mit dem Beginn des Miozäns erreichten die Unpaarhufer vor etwa 20 Millionen Jahren erstmals Afrika, das durch die Schließung der Tethys nun mit Eurasien verbunden war. Allerdings gelangten durch den nun folgenden Faunenaustausch neue Tiergruppen in die alten Besiedlungsgebiete der Unpaarhufer, so etwa die Rüsseltiere, deren Konkurrenz auch zum Aussterben einiger Unpaarhufer-Linien führte. Auch der Aufstieg der Wiederkäuer, die ähnliche ökologische Nischen besetzten und deren Verdauungssystem als effizienter gilt, wird mit dem Rückgang der Diversität der Unpaarhufer in Verbindung gebracht. Einen erheblichen Anteil am Niedergang der Unpaarhufer hatten aber klimatische Veränderungen im Verlauf des Miozäns hin zu kühlerem und trockenem Klima, das mit der Ausbreitung offener Landschaften einherging. Allerdings florierten auch einige Linien, etwa jene der Pferde und Nashörner, indem sich zahlreiche Vertreter durch anatomische Modifikationen an die härtere Grasnahrung anpassten. Dadurch entstanden Offenlandformen, die die neu entstandenen Landschaftstypen besiedelten. Mit der Entstehung des Isthmus von Panama im Pliozän und dem anschließenden Großen Amerikanischen Faunenaustausch erreichten die Unpaarhufer, hier die Pferde und Tapire, vor rund 3 Millionen Jahren mit Südamerika einen der letzten für sie zugänglichen Lebensräume. Allerdings waren auch die Unpaarhufer vom Aussterben der Großsäuger am Ende des Pleistozäns betroffen, so verschwanden zu dieser Zeit unter anderem die Pferde Nord- und Südamerikas sowie das Wollnashorn. Ob die Bejagung durch den Menschen (Overkill-Hypothese), klimatische Veränderungen, die mit dem Ende der Eiszeit einhergingen, oder eine Kombination beider Faktoren für dieses Aussterben verantwortlich war, ist umstritten.
Forschungsgeschichte
Die Erkenntnis, dass die Unpaarhufer eine systematische Einheit bilden, reicht bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts zurück. Davor wurden die heutigen Vertreter der Unpaarhufer meist anderen Gruppen zugeordnet. Linnaeus (1707–1778) stellte 1758 in seinem wegweisenden Werk Systema naturae die Pferde (Equus) an die Seite der Flusspferde (Hippopotamus). Diese enthielten damals auch die Tapire (Tapirus), genauer den Flachlandtapir, der zu jener Zeit in Europa die einzige bekannte Tapirart war und den Linnaeus als Hippopotamus terrestris klassifizierte. Beide Gattungen verwies Linnaeus zur Gruppe der Belluae. Die Nashörner (Rhinoceros) vereinte er dagegen mit den Glires, einer Gruppe heute bestehend aus den Hasenartigen und den Nagetieren. Erst Mathurin-Jacques Brisson (1723–1806) trennte 1762 mit der Einführung des Begriffes le tapir die Tapire von den Flusspferden, zudem gliederte er die Nashörner aus den Nagern aus, vereinte aber die drei heutigen Familien der Unpaarhufer nicht. Im Übergang zum 19. Jahrhundert wurden die einzelnen Unpaarhufer-Gattungen mit verschiedenen anderen Gruppen, so den Rüsseltieren oder heutigen Paarhufern assoziiert, in jene Zeit fällt auch die Etablierung des Begriffes „Dickhäuter“ (Pachydermata), den Étienne Geoffroy Saint-Hilaire (1772–1844) und Georges Cuvier (1769–1832) im Jahr 1795 als Pachydermes einführten (und der neben den Nashörnern und Elefanten auch die Flusspferde, Schweine, Pekaris, Tapire und Schliefer einbezog). Die Pferde galten aber weitgehend als von den anderen Säugetieren abgetrennte Gruppe und wurden häufig unter der Bezeichnung Solidungula oder Solipèdes geführt, was beides so viel wie „Einhufer“ bedeutet.
Im Jahr 1816 war es Henri Marie Ducrotay de Blainville (1777–1850), der die Huftiere nach dem Aufbau der Füße gliederte und so Tiere mit einer geraden von solchen mit einer ungeraden Anzahl von Zehen unterschied. Er schob die Pferde als solidungulate in die Nähe der Tapire und Nashörner als multungulate Tiere und bezeichnete alle zusammen als onguligrades à doigts impairs, was dem Konzept der Unpaarhufer als systematische Einheit sehr nahekam. Richard Owen (1804–1892) berief sich in seiner Studie zu fossilen Säugetieren der Isle of Wight auf Blainville und führte den Namen Perissodactyla ein. Wie Blainville schloss er in diese aber neben den Pferden, Nashörnern und Tapiren auch die Schliefer mit ein. In den folgenden Jahren verwies Owen noch weitere, heute ausgestorbene Formen den Unpaarhufern zu, so etwa Coryphodon, Toxodon oder Nesodon, die heute aber allesamt anderen Säugetierordnungen angehören.
Othniel Charles Marsh (1831–1899) führte im Jahr 1884 den Begriff Mesaxonia ein. Diesen verwendete er für die heutigen Angehörigen der Unpaarhufer einschließlich deren ausgestorbenen Verwandten, schloss die Schliefer aber ausdrücklich aus. Mesaxonia gilt heute als Synonym zu Perissodactyla. Teilweise wurde er aber für die eigentlichen Unpaarhufer als Unterordnungsbegriff verwendet (Nashörner, Pferde, Tapire), während Perissodactyla als Bezeichnung für die gesamte Ordnung einschließlich der Schliefer stand. Die Annahme, die Schliefer seien ein Teil der Unpaarhufer hielt sich noch bis weit in das 20. Jahrhundert. Erst mit dem Aufkommen molekulargenetischer Untersuchungsmethoden wurde erkannt, dass die Schliefer nicht mit den Unpaarhufern näher verwandt sind, sondern mit den Rüsseltieren und Seekühen in Beziehung stehen.
Unpaarhufer und Menschen
Das Hauspferd und der Hausesel spielen insbesondere als Reit-, Arbeits- und Lasttiere eine wichtige Rolle in der menschlichen Geschichte, die Domestikation beider Arten begann bereits mehrere Jahrtausende vor Christi Geburt. Aufgrund der Motorisierung der Landwirtschaft und der Verbreitung des Automobilverkehrs ist dieser Verwendungszweck in den westlichen Industrieländern stark zurückgegangen, das Reiten wird meist nur mehr als Hobby oder Sport betrieben. In den wenig entwickelten Regionen der Erde ist der Einsatz dieser Tiere aber immer noch weit verbreitet. In geringerem Ausmaß werden Pferde und Esel auch wegen ihres Fleisches und ihrer Milch gehalten.
Im Gegensatz dazu sind die Bestände fast aller übrigen Arten der Unpaarhufer durch Bejagung und Zerstörung des Lebensraumes drastisch zurückgegangen. Das Przewalski-Pferd wurde in den 1960er in freier Wildbahn ausgerottet, der Tarpan verschwand bereits im Verlauf des 19. Jahrhunderts vollständig. Gleiches gilt für das Quagga als Unterart des Steppenzebras. Ebenso sind mehrere Unterarten des Spitzmaulnashorns, des Sumatra-Nashorns und des Java-Nashorns erloschen.
Gegenwärtige Gefährdungsstufen laut IUCN (Stand 2022):
Vier Arten sind vom Aussterben bedroht (critically endangered): das Java-Nashorn, das Sumatra-Nashorn, das Spitzmaulnashorn und der Afrikanische Esel.
Fünf Arten sind stark gefährdet (endangered): der Bergtapir, der Mittelamerikanische Tapir, der Schabrackentapir, das Przewalski-Pferd und das Grevyzebra.
Drei Arten sind gefährdet (vulnerable): das Panzernashorn, der Flachlandtapir und das Bergzebra.
Drei Arten sind potenziell gefährdet (near threatened): das Breitmaulnashorn, dessen nördliche Unterart Ceratotherium simum cottoni (Nördliches Breitmaulnashorn) steht allerdings kurz vor der Ausrottung, das Steppenzebra und der Asiatische Esel.
Nicht gefährdet (least concern) ist der Kiang.
Literatur
Martin S. Fischer: Mesaxonia (Perissodactyla), Unpaarhufer. In: Wilfried Westheide, Reinhard Rieger (Hrsg.): Spezielle Zoologie. Teil 2: Wirbel- oder Schädeltiere. Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg und Berlin 2004, S. 646–655, ISBN 3-8274-0307-3.
Thomas S. Kemp: The Origin & Evolution of Mammals. Oxford University Press, Oxford 2005. ISBN 0-19-850761-5.
A. H. Müller: Lehrbuch der Paläozoologie, Band III: Vertebraten, Teil 3: Mammalia. 2. Auflage. Gustav Fischer Verlag, Jena und Stuttgart 1989. ISBN 3-334-00223-3.
Don E. Wilson, DeeAnn M. Reeder (Hrsg.): Mammal Species of the World. 3. Ausgabe. The Johns Hopkins University Press, Baltimore 2005, ISBN 0-8018-8221-4.
Einzelnachweise
Jingyang Hu, Yaping Zhang und Li Yu: Summary of Laurasiatheria (Mammalia) Phylogeny. Zoological Research 33 (E5–6), 2012, S. E65–E74
Weblinks
Detailliertes Kladogramm der Unpaarhufer
Informationen, Abbildungen und Verbreitungskarten auf The Ultimate Ungulate Page (englisch)
Informationen auf Animal Diversity Web (englisch)
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Q25374
| 137.410332 |
138913
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https://de.wikipedia.org/wiki/Lynchjustiz
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Lynchjustiz
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Als Lynchjustiz [] wird das widerrechtliche Verurteilen und die vollendete oder versuchte außergesetzliche Tötung von tatsächlichen oder vermeintlichen Straftätern, Beschuldigten oder Verdächtigen ohne richterliches Urteil bezeichnet. Täter sind einerseits ein wilder Mob, andererseits aber initial auch eine besonders zu diesem Zweck formierte Gruppe von Personen, die der Auffassung sind, die tatsächlichen Richter und Polizisten seien untauglich, unfähig oder bestechlich und würden nichts gegen die grassierende Gewalt unternehmen. Später wurden darunter rassistisch motivierte Morde an Schwarzen verstanden.
Der Begriff Lynchen wird insbesondere dann verwendet, wenn die Opfer dieser Selbstjustiz (in den USA auch popular justice „Volksjustiz“) gehängt werden. Man spricht dann auch von Lynchmorden. Von Gruppen organisierte Lynchjustiz ist in den USA auch unter dem Namen Vigilantismus bekannt.
Der Begriff wird somit generell für jede Art von Hinrichtungen ohne korrektes richterliches Urteil verwendet, lediglich in den USA wurde ab dem späten 19. Jahrhundert damit vor allem rassistisch motivierte Morde durch einen Mob oder durch kleine Gruppen gemeint.
Begriffsherkunft
Der Begriff Lynchen ist als Deonym von einer Person namens Lynch abgeleitet. Je nach Quelle werden unterschiedliche Personen als Namensgeber genannt. Darunter:
James Lynch, Bürgermeister der irischen Stadt Galway, der 1493 in einem Mordprozess gegen seinen Sohn als Ankläger und Richter und nach dessen Verurteilung auch als Henker auftrat.
John Lynch, der Ende des 17. Jahrhunderts von den Bewohnern North Carolinas mit unumschränkter richterlicher und exekutiver Gewalt ausgestattet wurde.
Charles Lynch (1736–1796), bekannt als ein willkürlich rechtsprechender Oberst und Richter, der im Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg sowohl mit englandtreuen Loyalisten als auch mit vermeintlich Kriminellen ohne ordentliches Gerichtsverfahren kurzen Prozess machte und sie bestrafen ließ (meist durch Auspeitschen).
William Lynch (1742–1820) aus Virginia. Er organisierte eine Bürgerwehr in Pittsylvania County, um eine berüchtigte Räuberbande zu fangen und zu bestrafen.
Vereinigte Staaten
Die ersten Vereinigungen zum Zwecke der Selbstjustiz – Selbstbezeichnung Vigilante Committees (deutsch oft als „Bürgerwehr“ oder „Wachsamkeitsvereinigung“ übersetzt) – formierten sich in der Mitte des 18. Jahrhunderts. Bürgerwehren wurden allenthalben gegründet, um der wachsenden Kriminalität während der Westausdehnung Amerikas Einhalt zu gebieten. Große Unterstützung erhielt die Idee der von den Bürgern selbst ausgeübten Rechtspflege während der Goldsuche und später im Amerikanischen Bürgerkrieg, weil das Rechtssystem – nach Auffassung der Bürger – nicht richtig funktionierte oder korrupt war. Am 13. Juni 1851 war etwa im Daily Alta California zu lesen:
Damit wähnten sich diese Bürger im Recht und sie hatten während langer Zeit auch nicht mit Konsequenzen für die illegalen Aktivitäten zu rechnen, die oft in öffentlichen Hinrichtungen endeten. Im Gebiet der sich ausdehnenden Westgrenze (im Deutschen als Wilder Westen bekannt) haben diese Aktivitäten auch teilweise tatsächlich als Wegbereitung für korrekte Umsetzung der Gesetze gedient. Eines der bekanntesten Beispiele dafür waren die während des Goldrausches aufgestellten Wachsamkeitsvereinigungen in San Francisco, die mehrere Männer, die auf frischer Tat ertappt worden waren, öffentlich hängten und sich danach aber wieder auflösten, als durch Neuwahlen die Ordnung wieder hergestellt war. Der Begriff „Lynchen“ steht hier im engeren Sinn nicht für die außergerichtliche Bestrafung an sich, sondern für das öffentliche Hängen der Verdächtigen. Zur Abschreckung wurden die Leichen oft sehr hoch aufgehängt und präsentiert.
Ein weiteres Auftreten von vigilance committees gab es in Bannack und Virginia City, in Montana zwischen 1863 und 1865. Eine Gangsterbande, bekannt als „road agents“, wurde für mehr als 100 Morde und Raubüberfälle verantwortlich gemacht. 22 Männer wurden von den Bürgerwehr-Aktivisten gehängt, inklusive des Sheriffs von Bannack, den man als angeblichen Kopf der Verbrecherbande identifizierte. Beweise für die Schuld der Gehängten gab es nie.
Mit dem Amerikanischen Bürgerkrieg wurde „Lynching“ zu einem Instrument der Einschüchterung gegen Afroamerikaner oder andere Minderheiten, oft praktiziert von Mitgliedern des Ku-Klux-Klans, aber auch von anderen zumeist weißen Teilen der Bevölkerung der Südstaaten. Nach älteren Schätzungen, die auf Listen des Tuskegee Institute aus den Jahren 1912 und 1919 beruhen und 1995 überprüft und überarbeitet wurden, wurden in den Jahren von 1889 bis 1940 insgesamt 3833 Menschen gelyncht; 90 Prozent dieser Morde fanden in den Südstaaten statt, vier Fünftel der Opfer waren Afroamerikaner. Nach 2015 vorgelegten Zählungen der Equal Justice Initiative (EJI), die das Mahnmal The National Memorial for Peace and Justice in Alabama errichtet hat, starben in der Zeit zwischen 1877 und 1950 allein in zwölf Südstaaten mehr als 4400 Menschen bei rassistisch motivierten Lynchaktionen. Laut EJI-Dokumentation Lynching in America hatte sich entgegen dem im Dezember 1865 verabschiedeten 13. Verfassungszusatz, der die Sklaverei verbot, eine „zweite Sklaverei“ etabliert, die Schwarze faktisch rechtlos einer Form öffentlicher Folter aussetzte, die von den Behörden der Staaten und des Bundes weitgehend toleriert wurde. Der Report schließt mit dem Fazit, dass dieses Lynchen Terrorismus war.
Manchmal wurden von Fotos der Lynchopfer Postkarten angefertigt. Diese dienten sowohl der Belustigung der Täter und ihrer Sympathisanten als auch zur Abschreckung und Einschüchterung der afroamerikanischen Bevölkerung. Besonderes Aufsehen erregte der Fall des bei seiner Ermordung 14-jährigen Emmett Till.
Der Song Strange Fruit thematisiert die Lynchmorde und wurde durch die Interpretation Billie Holidays weltbekannt und zu einem Ausdruck der Bürgerrechtsbewegung. In Montgomery (Alabama) wurde im Juli 2018 auf Initiative der Bürgerrechtsgruppe EJI in Kooperation mit dem Architekten Michael Murphy ein Mahnmal für die Opfer der Lynchjustiz eröffnet. Es trägt die Bezeichnung The National Memorial for Peace and Justice und soll eine Aussöhnung des Landes mit seiner Geschichte erreichen.
Im März 2022 haben die beiden Kammern des US-Kongresses die Lynchjustiz zum Hassverbrechen erklärt und damit höhere Strafen ermöglicht. Die ersten Gesetzesvorschläge in diese Richtung waren schon hundert Jahre zuvor eingebracht worden, ohne jedoch die nötigen Mehrheiten zu erreichen.
In den letzten 100 Jahren wurden etwa 200 Gesetzesentwürfe eingebracht; alle scheiterten.
Europa
Lynchmorde an alliierten Flugzeugbesatzungen
Fliegermorde (Borkum)
Fliegermorde Pforzheim
Malmedy-Massaker
Massaker von Aussig
Massaker von Prerau
Massaker von Komotau
Massaker von Postelberg/Saatz
Brünner Todesmarsch
Massaker von Nemmersdorf
Massaker von Metgethen
Massaker von Lippach
Siehe auch
Lynchmorde von Duluth
Lynchmord von Ramallah
Pogrom
Einzelnachweise
Literatur
James Allen (Hrsg.): Without Sanctuary. Lynching Photography in America. Twin Palms Publications, 2000, ISBN 0-944092-69-1. (mit Online-Begleitmaterial)
Manfred Berg: Lynchjustiz in den USA. Hamburger Edition, Hamburg 2014, ISBN 978-3-86854-273-8.
Philip Dray: At the Hands of Persons Unknown. The Lynching of Black America. Random House, New York 2002, ISBN 0-375-50324-2 oder ISBN 0-375-75445-8.
Jacqueline Goldsby: A Spectacular Secret: Lynching in American Life and Literature. Chicago 2006, ISBN 978-0-226-30137-2.
Karlos K. Hill: Beyond the Rope: The Impact of Lynching on Black Culture and Memory. Cambridge University, Cambridge 2016, ISBN 978-1-107-62037-7.
Daniel Kato: Liberalizing Lynching: Building a New Racialized State. Oxford University Press, New York 2016, ISBN 978-0-19-023257-3.
Judith Ketelsen: Das unaussprechliche Verbrechen. Die Kriminalisierung der Opfer im Diskurs um Lynching und Vergewaltigung in den Südstaaten der USA nach dem Bürgerkrieg. Lit, Münster 2000, ISBN 3-8258-4498-6.
Sascha W. Krause: The anatomy of resistance. The rhetoric of anti-lynching in American literature and culture, 1892–1936. Dissertation, Universität Regensburg 2006 (Volltext)
Danielle F. Jung, Dara Kay Cohen: Lynching and Local Justice: Legitimacy and Accountability in Weak States. Cambridge University Press, Cambridge 2020, ISBN 978-1-108-79447-3.
Ersula J. Ore: Lynching: Violence, Rhetoric, and American Identity. University Press of Mississippi, Jackson 2019, ISBN 978-1-4968-2160-7.
Ida B. Wells-Barnett: Mob Rule in New Orleans. Robert Charles and His Fight to Death, the Story of His Life, Burning Human Beings Alive, Other Lynching Statistics. 1900. (E-Text)
Ida B. Wells-Barnett: The Red Record. Tabulated Statistics and Alleged Causes of Lynching in the United States. 1895. (E-Text)
Ida B. Wells-Barnett: Southern Horrors. Lynch Law in All Its Phases. (E-Text)
Weblinks
Antje Stiebitz: Lynchjustiz – Tödlicher Mob. Deutschlandfunk Kultur, 1. April 2020
Sammlungsprojekt von Lynchjustizfotos/Postkarten aus den USA 1882–1968
Gelyncht, weil er mit einer Weißen geflirtet haben soll
USA: Lynchmorde und ihr rassistisches Erbe In: Schweizer Radio und Fernsehen. 13. Juni 2020
Strafrecht
Vigilantismus
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Q486775
| 89.110663 |
1601
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https://de.wikipedia.org/wiki/Fichten
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Fichten
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Die Fichten (Picea) bilden die einzige Gattung der Unterfamilie Piceoideae innerhalb der Pflanzenfamilie der Kieferngewächse (Pinaceae). Die einzige in Mitteleuropa heimische Art ist die Gemeine Fichte (Picea abies), die wegen ihrer schuppigen, rotbraunen Rinde in manchen Regionen auch als „Rottanne“ bezeichnet wird.
Beschreibung und Ökologie
Erscheinungsbild und Merkmale
Picea-Arten sind immergrüne und einstämmige Bäume. Sie erreichen in der Regel Wuchshöhen von etwa 30 bis 50 Metern, in Ausnahmefällen über 80 Metern, wie etwa Picea sitchensis. Die Baumkrone ist kegelförmig bis walzlich. Der Stammdurchmesser beträgt bis zu 1 Metern, maximal bis 2,5 Metern; bei einzelnen Arten treten Extremwerte von bis zu 4 Metern auf. Ein strauchförmiger Wuchs kommt nur unter besonderen Standortsbedingungen oder bei Mutanten vor.
Für alle Picea-Arten charakteristisch ist eine monopodiale, akroton (an den oberen bzw. äußeren Knospen) geförderte Verzweigung. Dies führt zu einem etagenartigen Kronenaufbau und einer spitzwipfeligen Krone. Die Seitensprosse erster Ordnung stehen in Astquirlen in scheinquirliger Anordnung und bilden so einzelne „Stockwerke“.
Fichten können mehrere hundert Jahre alt werden, so erreicht beispielsweise die Gemeine Fichte (Picea abies) ein Lebensalter von bis zu 300 Jahren. Mit zunehmendem Alter tritt vermehrt proventive Triebbildung auf: An älteren Zweigen treiben schlafende Knospen aus. Bei älteren Bäumen können diese einen wesentlichen Teil der Zweige und Nadelmasse der Krone aufbauen.
Kronenform und Sprosssystem variieren je nach Umweltbedingungen und sind zum Teil auch genetisch bedingt.
Beim Verzweigungstyp unterscheidet man mehrere Formen:
Bei der Plattenfichte sind auch die Seitensprosse höherer Ordnung horizontal angeordnet, so dass die Etagen einzelne „Platten“ bilden (besonders bei Picea pungens, Picea torano).
Bei Kammfichten hängen die Seitensprosse ab der zweiten Ordnung wie ein Vorhang lang herab (zum Beispiel besonders bei Picea breweriana, Picea smithiana).
Bürstenfichten sind eine Zwischenform, bei der die Seitenzweige nach allen Seiten abstehen.
Jungfichten weisen meist eine plattige Verzweigung auf. Die Kammform stellt sich meist erst ab 30 Jahren ein.
Schmalkronigkeit, wie sie bei den sogenannten „Spitzfichten“ auftritt, kann wie bei Picea omorika artspezifisch, also genetisch fixiert sein. Sie kann aber auch bei spezifischen Ökotypen oder Mutanten („Spindelfichten“) auftreten. Meistens ist sie jedoch eine Standortmodifikation („Walzenfichten“) unter hochmontan-subalpinen oder boreal-subarktischen Klimabedingungen. Diese Modifikation tritt auch bei der in Mitteleuropa heimischen Gemeinen Fichte (Picea abies) auf.
Sämlinge besitzen meist vier bis neun (bis zu 15) Keimblätter (Kotyledonen).
Zweige und Knospen
Junge Zweige besitzen feine Furchen. Diese befinden sich zwischen erhabenen Rücken, die durch die Abfolge der „Blattpolster“ (Pulvini) gebildet werden. Diese Blattpolster werden entweder als Achsenprotuberanzen oder als Blattgrund gedeutet. Sie enden nach oben in einem stielähnlichen Fortsatz. Dieser Fortsatz („Nadelstielchen“) ist rindenfarbig und steht vom Zweig ab, wodurch dieser raspelartig aussieht. Dem Nadelstielchen sitzt die eigentliche Nadel auf. Diese beiden Merkmale – Furchen und abstehende Nadelstielchen – sind für die Gattung Picea spezifisch.
Knospen sind vielfach ei- bis kegelförmig. Sie sind je nach Art mehr oder weniger stark verharzt. Die Knospenmerkmale sind für die jeweilige Art charakteristisch. Blütenknospen und die in den basalen Teilen auftretenden Proventivknospen weichen jedoch oft von diesen artcharakteristischen Merkmalen ab.
Nadeln
Picea-Arten besitzen die für Koniferen typischen immergrünen, nadelförmigen Blätter, die in der Regel einen recht xeromorphen Bau aufweisen. Die Nadeln sind vom rindenfarbenen „Nadelstielchen“ (Blattkissen) durch eine Trennschicht abgegrenzt. Hier löst sich die Nadel nach dem Absterben ab: Die Nadel schrumpft an der Kontaktfläche aufgrund von Wasserverlust, das verholzte Blattkissen hingegen nicht. Im Normalfall bleiben die Nadeln sechs bis 13 Jahre auf den Zweigen, bei Stress fallen sie eher ab.
Die Morphologie und Anatomie der Nadeln sind wesentliche Merkmale für die Unterscheidung der einzelnen Fichtenarten: Nadelquerschnitt, Mesophyllstruktur, Anordnung der Spaltöffnungen (Stomata) und der Harzkanäle.
Die Nadeln der einzelnen Arten entsprechen in der Regel einem von folgenden zwei Typen:
äquifazial/amphistomatisch: die Nadeln sind im Querschnitt ± viereckig, etwa so hoch wie breit oder sogar höher. Die Stomata sind allseitig verteilt, die Nadeln allseitig gleich gefärbt.
invers-dorsiventral/epistomatisch: die Nadeln sind dorsiventral abgeflacht, breiter als hoch. Auf der Blattunterseite fehlen die Stomatalinien und sind nur auf der Oberseite als weiße Streifen sichtbar. Die Nadeln sind daher zweifarbig.
Bei den Seitenzweigen der Picea-Arten sind die Oberseiten der Nadeln jedoch nach unten gerichtet, sodass die weißen Streifen scheinbar auf den Nadelunterseiten stehen.
Die Nadeln sind meist 1 bis 2 Zentimeter lang und spitz oder zugespitzt, bei manchen Arten sogar scharf und stechend (zum Beispiel Picea pungens).
Die Nadeln sind an den Zweigen spiralig angeordnet. Dennoch gibt es artspezifische Unterschiede, wie die Nadeln an den horizontal wachsenden (plagiotropen) Seitenzweigen angeordnet sind: Sie können ringsum vom Zweig abstehen wie etwa bei Picea asperata und Picea pungens, oder an der Zweigunterseite streng (Picea glehnii) oder schwach (Picea schrenkiana) gescheitelt sein.
Blüten, Zapfen und Samen
Picea-Arten sind einhäusig getrenntgeschlechtig (monözisch), das heißt, es gibt weibliche und männliche Blütenorgane getrennt voneinander an einem Baum. Nur ausnahmsweise kommen auch zweigeschlechtige Blüten bzw. Blütenstände vor. Die Blütenstände werden an vorjährigen Seitensprossen gebildet. Blühreife tritt im Alter von 10 bis 40 Jahren ein. Die Blütezeit findet im Zeitraum April bis Juni statt.
Die männlichen Blüten stehen einzeln, sind länglich-eiförmig und 1 bis 2 Zentimeter lang. Anfangs sind sie purpurn bis rosa, zur Reife gelb. Der Pollen hat zwei Luftsäcke. Die Bestäubung erfolgt durch den Wind (Anemophilie).
Die weiblichen Blütenzapfen entstehen meist aus endständigen Knospen. Sie sind zunächst aufrecht, krümmen sich jedoch nach der Befruchtung nach unten. Unreife Zapfen sind grün, rot bis dunkelblau und schwarzviolett gefärbt. Bei manchen Arten gibt es sogar einen Farbdimorphismus, der mit einem Selektionsvorteil rot/purpurn gefärbter Zapfen in alpinen/borealen Gebieten erklärt wird. Die Zapfen reifen zwischen August und Dezember und sind dann meist braun, eiförmig bis zylindrisch. Der Samen fällt zwischen August und Winter, teilweise erst im nächsten Frühjahr aus, wird also durch den Wind verbreitet. Danach werden die Zapfen als Ganzes abgeworfen. Die Zapfen sind 2 bis 20 Zentimeter lang. Die Deckschuppen sind immer kürzer als die Samenschuppen und deshalb am Zapfen nicht sichtbar.
Die Samen sind mit einer Länge von 3 bis 6 Millimetern relativ klein. Fertile Samen sind dunkelbraun bis schwarz, unfruchtbare Samen sind heller. Ihre Flügel sind hell, gelb- oder rosa-braun und etwa 6 bis 15 Millimeter lang.
Verbreitung und Standortbedingungen
Die Gattung Picea ist holarktisch verbreitet. Nur in Mexiko und auf Taiwan reicht ihr Verbreitungsgebiet bis zum nördlichen Wendekreis. Verschiedene Picea-Arten sind bestandsbildend in der borealen Nadelwaldzone und in der Nadelwaldstufe vieler Gebirge in den klimatisch temperaten, submeridionalen und meridionalen Teilen Eurasiens und Nordamerikas. In Nordamerika kommen etwa sieben Arten vor; eine Art ist dort ein Neophyt.
Viele der asiatischen Arten sind in den Gebirgen der submeridionalen und meridionalen Zonen vertreten. Hier finden sich etliche Endemiten mit eng umrissenen Arealen.
In China und Zentralasien kommen mehrere Arten in den kontinentalen Gebirgen im östlichen Tibet sowie Turkestan vor. Sie bilden ein pflanzengeographisches Bindeglied zur Sibirischen Fichte (Picea obovata), deren Areal von Ostsibirien und der Mongolei bis westlich des Urals reicht. Westlich davon schließt die in Europa heimische Gemeine Fichte an.
Die Parallelarten zur Picea obovata in Nordamerika sind Picea glauca und Picea mariana, die ebenfalls einen breiten Waldgürtel in der borealen Zone bilden.
In den Rocky Mountains sind einige kontinental verbreitete Arten heimisch, etwa Picea engelmannii und Picea chihuahuana, die bis Mexiko reicht. Ozeanisch verbreitete Arten gibt es in Nordamerika nur zwei (Picea breweriana und Picea rubens).
Picea-Arten sind generell anspruchslos bei der Nährstoffversorgung. Die ozeanisch verbreiteten Arten brauchen aber feuchte und zugleich gut durchlüftete Böden. Staunässe wird von Picea-Arten nicht vertragen.
2008 wurde unter einer heute als Old Tjikko bekannten Fichte in der Provinz Dalarna in Schweden Wurzelholz gefunden, das auf ein Alter von 9.550 Jahre datiert wurde und genetisch identisch mit dem darüber wachsenden Baum sein soll.
Nutzung
Fichten zählen auf der Nordhalbkugel zu den wichtigsten forstwirtschaftlich genutzten Baumarten. Nur in Resten werden noch Naturwälder genutzt, meist sind es bewirtschaftete oder künstlich geschaffene Monokulturen. In Mitteleuropa ist die Gemeine Fichte der Brotbaum der Forstwirtschaft. Ausschlaggebend sind hier wie auch bei den anderen Arten der gerade Wuchs, das rasche Wachstum, die geringen Ansprüche an den Standort und die gute Verwendbarkeit des Holzes. Die Fichte liebt eher kühle Lagen, wie z. B. die Bergregionen. Durch die flache Wurzel ist sie anfällig für Trockenschäden.
Im Zuge der globalen Erwärmung und des dadurch vielerorts trockeneren Waldbodens ist ein Teil der Fichten geschwächt, von Borkenkäfern befallen und/oder bereits abgestorben. Fichten sind gegen Borkenkäfer anfälliger als andere Nadelbäume, weil ihre Rinde relativ dünn ist und weil sie wenig(er) Harz haben.
Fichtenholz wird vor allem genutzt zur Papier- und Zellstoffherstellung, als Bauholz, als Möbelholz und als Brennholz. Als Schnittholz wird Fichtenholz in der Regel gemeinsam mit Tannenholz als Mischsortiment Fichte/Tanne gehandelt und verwendet. Fichtenstämme werden zu Rundholz, Schnittholz (Bretter und Brettschichthölzer) und als Furnierholz verarbeitet.
Es ist das wichtigste Holz für die Herstellung von Holzwerkstoffen wie Sperrholz, Leimholz, Spanplatten und Faserplatten.
Gleichmäßig gewachsene Stämme aus dem Hochgebirge werden zu Brettern gesägt, aus denen man Resonanzböden von Tasteninstrumenten und Resonanzdecken von Streichinstrumenten und Zupfinstrumenten herstellt.
Fichtenwälder in Steillagen können talwärts liegende Flächen vor Lawinen und Steinschlag schützen (→ Schutzwald).
Einige Arten werden auch als Ziergehölze in Parks und Gärten gepflanzt und als Weihnachtsbäume verwendet.
Namensherkunft
Das Wort wurde von den Römern im Sinne von ‚harzhaltiges Holz: Fichte‘ verwendet (Vergil, Aeneis. 6,180), aber auch, wenn die Gemeine Kiefer gemeint war (Plinius der Ältere, Naturalis historia 16,40ff.). Es ist eine Substantivierung des Adjektivs , das zu , Genitiv , gehört, ‚Pech‘, ‚Harz‘. Dieses wird auf die indogermanische Wurzel *pik- ‚Pech‘, ‚Harz‘ zurückgeführt. Dieser Wurzel nahe steht die Wurzel *pit- ‚Fichte‘.
Beide Wurzeln werden meist mit den indogermanischen Wörtern für ‚Fett‘, ‚Saft‘, ‚Trank‘ in Verbindung gebracht. Es ist jedoch auch eine Verbindung mit *(s)pik-, *(s)pit- ‚spitz‘, ‚stechend‘ denkbar.
Evolution und Systematik
Fossile und molekularbiologische Daten deuten darauf hin, dass die Gattung Picea in Nordamerika entstand. Die ältesten Fossilien (Pollen) stammen aus dem Paläozän Montanas (USA). Aus dem Eozän sind viele Zapfenfossilien bekannt, allerdings nur aus Nordamerika. Die frühesten Fossilien Asiens stammen aus dem Oligozän, Europas aus dem Pliozän. Über die Bering-Route dürfte die Gattung in ein oder zwei Wellen nach Asien und von da weiter nach Europa gelangt sein. Der Ursprung der Gattung liegt vermutlich in der späten Kreide oder im frühen Tertiär.
Die Gattung Picea bildet alleine die Unterfamilie Piceoideae. Die Monophylie der Gattung ist bislang unbestritten. Die nächsten Verwandten innerhalb der Familie sind die Gattungen Cathaya und Pinus.
Die Systematik innerhalb der Gattung wird klassischerweise primär auf der Basis von Zapfenmerkmalen, sekundär von Nadelmerkmalen aufgestellt. Eine weitgehend anerkannte Systematik stammt von Schmidt 1989; auf ihr basiert die hier angeführte Systematik in der Fassung von Schmidt 2004. Auch Aljos Farjon folgte 1990 dieser Gliederung, wenngleich er die Taxa unterhalb der Gattung eine Stufe niedriger ansetzte.
Arbeiten (Ran et al. 2006) auf [[Molekularbiologie<molekularbiologischer]] Basis stellten diese auf morphologischer Grundlage entwickelte Systematik berechtigt in Zweifel, machten aber keine neuen Vorschläge für eine [[Phylogenetik<phylogenetische]] Systematik.
Nach der Systematik von Schmidt 2004 gibt es 35 Arten. Andere Autoren geben 28 bis 56 Arten an:
Untergattung Picea (Morinda-Zapfen):
Sektion Omorika:
Sargent-Fichte (Picea brachytyla )
Siskiyou-Fichte (Picea breweriana ): Sie gedeiht in montanen bis subalpinen Wäldern in Höhenlagen von 1000 bis 2300 Metern nur in den Siskiyou-Bergen in den westlichen US-Bundesstaaten Kalifornien sowie Oregon.
Picea farreri
Serbische Fichte (Picea omorika )
Sikkim-Fichte (Picea spinulosa )
Sektion Picea:
Untersektion Marianae :
Serie Orientales :
Kaukasus-Fichte (Picea orientalis )
Serie Rubentes :
Sachalin-Fichte (Picea glehnii )
Schwarz-Fichte (Picea mariana )
Amerikanische Rot-Fichte (Picea rubens )
Untersektion Picea
Serie Politae :
Alcocks-Fichte (Picea alcoquiana , Syn.: Picea bicolor hort. ex )
Maximowiczs Fichte (Picea maximowiczii )
Tigerschwanz-Fichte (Picea torano , Syn.: Abies torano , Abies polita nom. illeg., Pinus polita , Picea polita ): Der Name Picea polita wird zwar relativ oft verwendet ist aber nicht gültig veröffentlicht. Sie gedeiht im Gebirge in Höhenlagen von meist 600 bis 1700 (400 bis 1850) Metern auf Böden über Vulkangestein auf japanischen Inseln: von der pazifischen Seite des zentralen Honshū (westlich der Präfektur Fukushima), auf Shikoku sowie Kyūshū. Sie wird in China kultiviert.
Serie Smithianae :
Taiwan-Fichte (Picea morrisonicola )
Schrenks Fichte (Picea schrenkiana )
Himalaja-Fichte (Picea smithiana )
Wilsons Fichte (Picea wilsonii )
Serie Asperatae :
Picea asperata agg.
Borsten-Fichte (Picea asperata )
Picea aurantiaca
Picea crassifolia
Picea meyeri
Picea neoveitchii
Picea retroflexa
Chihuahua-Fichte (Picea chihuahuana )
Serie Picea:
Picea koraiensis
Koyama-Fichte (Picea koyamae )
Sibirische Fichte (Picea obovata )
Gemeine Fichte (Picea abies )
Serie Glaucae :
Weiß-Fichte (Picea glauca )
Untergattung Casicta (Casicta-Zapfentyp):
Sektion Sitcha :
Serie Ajanenses :
Ajan-Fichte (Picea jezoensis )
Sitka-Fichte (Picea sitchensis )
Serie Likiangenses :
Picea likiangensis agg.
Likiang-Fichte (Picea likiangensis )
Picea linzhiensis
Purpur-Fichte (Picea purpurea )
Sektion Pungentes :
Engelmann-Fichte (Picea engelmannii ): Es gibt zwei Varietäten:
Picea engelmannii var. engelmannii (Syn.: Picea glauca subsp. engelmannii , Picea columbiana , Picea engelmannii var. glabra ): Sie gedeiht in montanen bis subalpinen Wäldern in Höhenlagen von 1000 bis 3000 Metern von den kanadischen Provinzen Alberta sowie British Columbia über die US-Bundesstaaten Arizona, Kalifornien, Colorado, Idaho, Montana, Nevada, New Mexico, Oregon, Utah, Washington, Wyoming bis Mexiko.
Picea engelmannii var. mexicana (Syn.: Picea mexicana , Picea engelmannii subsp. mexicana , Picea engelmannii subsp. mohinorsensis , Picea engelmannii var. mohinorsensis ): Sie kommt nur in den mexikanischen Bundesstaaten südliches Chihuahua sowie Nuevo León vor.
Stech-Fichte (Picea pungens , Syn.: Picea parryana ): Sie gedeiht in mittleren montanen Wäldern in Höhenlagen von 1800 bis 3000 Metern in den US-Bundesstaaten Arizona, Colorado, Idaho, New Mexico, Utah sowie Wyoming.
Quellen
Literatur
P. A. Schmidt: Picea. In: Schütt, Weisgerber, Schuck, Lang, Stimm, Roloff: Lexikon der Nadelbäume. Nikol, Hamburg 2004, ISBN 3-933203-80-5, S. 265–278.
Einzelnachweise
Weblinks
Weiterführende Literatur
Jin-Hua Ran, Ting-Ting Shen, Wen-Juan Liu, Pei-Pei Wang, Xiao-Quan Wang: Mitochondrial introgression and complex biogeographic history of the genus Picea. In: Molecular Phylogenetics and Evolution, Volume 93, 2015, S. 63–76.
Baum
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Q26782
| 212.952367 |
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https://de.wikipedia.org/wiki/Oberhausen
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Oberhausen
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Oberhausen ist eine kreisfreie Großstadt im westlichen Ruhrgebiet und am unteren Niederrhein im Regierungsbezirk Düsseldorf des Landes Nordrhein-Westfalen mit rund 210.000 Einwohnern. Oberhausen gehört zur Metropolregion Rhein-Ruhr. Sie ist Mitglied im Landschaftsverband Rheinland und im Regionalverband Ruhr. Der 1758 auf dem heutigen Stadtgebiet in Betrieb genommenen Eisenhütte St. Antony, der ersten im Ruhrgebiet, verdankt Oberhausen den Beinamen „Wiege der Ruhrindustrie“. Heute bilden Einkaufs- und Freizeiteinrichtungen einen Schwerpunkt der Wirtschaft; Einkaufscenter, Freizeitpark, Museen, Theater und andere Attraktionen verzeichnen jährlich hohe Besucherzahlen.
Geographie
Räumliche Lage und landesplanerische Ausweisung
Oberhausen liegt geografisch in der Niederrheinischen Tiefebene an den von orographisch rechts oder Ost in den Rhein mündenden Flüssen Ruhr und Emscher. In der Landesplanung ist Oberhausen als Mittelzentrum und als Teil der europäischen Metropolregion Rhein-Ruhr ausgewiesen. Oberhausen liegt mitten im zentralen Wirtschaftsraum Europas, der mit dem Begriff Blaue Banane umschrieben wird.
Stadtgebiet
Das Stadtgebiet Oberhausen hat eine Fläche von 77 km² und dehnt sich in Nord-Süd-Richtung 14,6 km und in West-Ost-Richtung 10,7 km aus. Die Länge der Stadtgrenze beträgt 53 km, die mittlere Höhenlage 50 m über NN. Der Ortsmittelpunkt, die geographische Stadtmitte im Stadtteil Sterkrade liegt an der Christinestraße 23 und hat die Koordinaten: 51° 31′ n.B. und 6° 51′ ö.L.
Mit 102 Meter über NN bildet die Knappenhalde (Schlackeberg) den höchsten Punkt im Stadtgebiet.
Seit 1975 ist das Stadtgebiet in die drei Stadtbezirke Alt-Oberhausen, Osterfeld und Sterkrade gegliedert. Sie haben jeweils eine Bezirksvertretung mit einem Bezirksbürgermeister. Die Bezirksvertretung hat je nach Größe des Stadtbezirks zwischen 15 und 19 Mitglieder und wird alle fünf Jahre bei jeder Kommunalwahl von der Bevölkerung des Stadtbezirks gewählt.
Oberhausen hat ca. 210.000 Einwohner. Von allen deutschen Großstädten dieser Einwohnerzahlen weist Oberhausen jedoch mit 77 km² die kleinste Stadtfläche auf, sodass Oberhausen mit 2735 Einwohner/km² sehr dicht besiedelt ist. Oberhausen ist die am zehntdichtesten besiedelte Großstadt Deutschlands.
Stadtgliederung
Oberhausen hat mehr als nur die drei bekannten, mit den Stadtbezirken namensgleichen Gemarkungen. Im Bezirk Sterkrade gibt es noch die Gemarkungen Sterkrade-Nord mit Schmachtendorf, bis 1917 Teil von Hiesfeld (daher auch die Benennung Hiesfelder Wald) und Buschhausen. In Alt-OB gibt es neben Oberhausen die Gemarkungen Alstaden, OB-Borbeck, OB-Styrum und OB-Dümpten, wobei die letzten beiden ebenfalls aus einer Aufteilung früherer Gemarkungen auf zwei heutige Städte entsprungen war. Die Gemarkungsgrenzen sind in der heutigen Siedlungsstruktur oftmals nicht mehr erkennbar.
Für statistische Zwecke wurden die Stadtbezirke in mehrere statistische Bezirke unterteilt, die sich wiederum in Unterbezirke gliedern. Diese halten sich indes nicht immer eng an die historischen Zugehörigkeiten und die landläufige Zuordnung. Auf Basis der Unterbezirke wurde allerdings eine Aufteilung der Stadt in sechs Sozialräume, die sich wiederum in sogenannte Quartiere gliedern, vorgenommen, die deutlich mehr den tatsächlichen bzw. landläufigen Stadtteilen entsprechen – wobei sich die Grenzen verständlicherweise gegenüber den historischen Gemarkungen etwas verschoben haben. Dabei gibt es in etwa so viele (Sozial-)Quartiere wie statistische Bezirke und manchmal sind diese auch völlig kongruent – bei im Einzelfall abweichenden Namen.
Folgende „vollwertige“ (entweder der Größe oder der historischen Eigenständigkeit wegen) Stadtteile lassen sich ausmachen – hinter dem Gedankenstrich je die Anzahl Unterbezirke und Einwohnerzahlen:
Alt-Oberhausen:
Alstaden – 13 Unterbezirke; 17.782 Einwohner
Bermensfeld – 2 UB; ohne Nordteil, aber mit Ostteil des Knappenviertels 4.764 EW
Borbeck – 4 UB; zusammen mit der Neuen Mitte und dem Norden des Bermensfelds 3.730 EW
Knappenviertel (mit der Knappenhalde und dem Osten des Lipperfelds) – 2 UB; ohne Ostteil 4.605 EW
Dümpten – 4 UB; ohne Nordosten 7.796 EW
Innenstadt/Altstadt – 3 UB; 13.135 EW
Lirich – 13 UB; 15.130 EW
Marienviertel (mit dem Kaisergarten nebst Schloss und dem Westen des Lipperfelds) – 6 UB; 6.708 EW
Neue Mitte (inklusive der Siedlung Grafenbusch) – 2 UB
Schlad – 8,5 UB; zusammen mit dem Nordosten Dümptens 10.157 EW
Styrum – 4 UB; 6.800 EW
Sterkrade:
Alsfeld (mit dem Westen des Wahlbezirks Sterkrader Heide und der Siedlung Dunkelschlag; inklusive Volkspark Sterkrade) – 9 UB; 10.623 EW
Barmingholten – 4 UB
Biefang – 2 bzw. 5 UB
Buschhausen (mit den zum Stadtbezirk Osterfeld gehörigen, auf Oberhausener Gemarkung liegenden, aber historisch auf Buschhausener Gebiet liegenden Wald Grafenbusch und Stadion Niederrhein) – 14 bzw. 11 UB; zusammen mit Biefang 13.547 EW
Holten (mit Waldteich) – 8 UB; zusammen mit Barmingholten 8.764 EW
Königshardt – 11 UB; 7.564 EW
Schmachtendorf (mit Waldhuck) – 8 UB; 8.290 EW
Schwarze Heide (inklusive einer Exklave und mit Weierheide) – 4+1 UB; 5.503 EW
Sterkrade-Mitte – 6 UB; 8.271 EW
Tackenberg-West (inklusive der verbliebenen Sterkrader Heide) – 9 UB; 10.173 EW
Walsumermark (mit Brink und Neuköln) – 11 UB; 9.087 EW
Osterfeld:
Osterfeld-Heide (inklusive Siedlung Eisenheim und Siedlung Stemmersberg) – 5 UB; 7.790 EW
Klosterhardt (Südteil der historischen Klosterhardt) – 6 UB; 5.790 EW
Osterfeld-Mitte (inklusive Osterfeld-Süd) – 9 UB; zusammen mit Vonderort 13.311 EW
Rothebusch (nach Westen bis einschließlich Volksgarten Osterfeld) – 6 UB; 4.985 EW
Tackenberg-Ost (Nordteil der historischen Klosterhardt) – 5 UB; 6.049 EW
Vonderort (inklusive Revierpark Vonderort, Haus Vondern und Siedlung Vondern) – 3 UB
Nachbarstädte
Klima
Geschichte
Frühmittelalter
Auch wenn die Stadt Oberhausen erst im Zuge der industriellen Revolution entstand, so gehören zum heutigen Stadtgebiet Ortsteile, die weit ins Mittelalter zurückreichen. So hatte Holten bereits 1310 Stadtrechte erworben, die die Stadt allerdings unter Napoleon wieder verlor. Ebenfalls mittelalterliche Wurzeln weisen Ortsteile wie Sterkrade, Osterfeld oder die Bauerschaften Lippern und Lirich auf.
Die Lage im Tal des Rheins sowie eine Reihe von Bächen boten sehr früh günstige Siedlungsplätze. Archäologische Untersuchungen erweisen, dass die frühmittelalterlichen Bewohner des Gebietes kulturell dem fränkischen Merowingerreich angehörten. Während allerdings mit Stand 2014 in Duisburg 15 Gräberfelder aus dieser Zeit belegt sind, waren auf Oberhausener Gebiet nur fünf Felder belegt. 1920/1921 wurde auf Sterkrader Stadtgebiet an der Weseler Straße eines dieser Gräberfelder entdeckt. Mindestens sechs Gräber in zwei Reihen fanden sich 0,8 bis 1,0 m unter dem Bodenniveau, die Häupter der Toten wiesen nach Westen. Die Fundstücke befinden sich heute im Stadtarchiv. Das gilt etwa für die Bügelfibeln vom Typ Junkersdorf, die sich in die 2. Hälfte des 5. und das frühe 6. Jahrhundert datieren lassen. 1930 kam es an der nahegelegenen Oskarstraße zu Grabfunden, die jedoch zerstört wurden. Nur ein Grabfund – heute im Kultur- und Stadthistorischen Museum der Stadt Duisburg – wurde gesichert.
1936 erfolgten systematische Ausgrabungen im Winkel zwischen Weseler, Oskar- und Georgstraße, die mindestens 13 Gräber zu Tage förderten. Darunter waren etwa zehn Körper- und sechs Urnenbestattungen. Eines der Gräber wies ausnahmsweise eine Nord-Süd-Ausrichtung auf, was möglicherweise auf westfälische Einflüsse zurückzuführen ist. Die Gräber stammen aus der Zeit zwischen 530/555 und 670. Die beiden Männergräber waren vergleichsweise schlicht ausgestattet. Hingegen war ein Frauengrab (Nr. 7) reich ausgestattet: „Besonders bemerkenswert ist ihr Fibelschmuck, der eine rosettenförmige Almandinscheibenfibel, eine S-Fibel mit stilisierten Raubvogelköpfen sowie ein Paar großer, fast 13 cm langer Bügelfibeln umfasst. Alle Fibeln bestehen aus Silber, die S-Fibel und die Bügelfibeln sind zusätzlich vergoldet.“ (Eger, S. 113). Hinzu kam eine schlichte eiserne Gürtelschnalle und 39 Glas- und Bernsteinperlen, die zu einer Halskette gehörten. Ein eiserner Schlüssel erweist sie als Hausherrin, einer Angehörigen der gehobenen Schicht. Als Oberhausens „kostbarster Fund aus der Merowingerzeit“ gilt ein Bügelfibelpaar. Es entstand zwischen etwa 555 und 570. Die Anfänge der nahegelegenen Siedlung Sterkrade reichen nach dem Werdener Urbar (mindestens) bis in die Zeit um 900 zurück. Der zu den Merowingergräbern anzunehmende Siedlungskern dürfte eher nördlich von Sterkrade gelegen haben. Gräberfelder der gleichen Zeitstellung fanden sich in Osterfeld im Jahr 1928, nämlich im südwestlichen Eck zwischen Bahndamm und Osterfelder Bahnhof, dem „Gleisdreieck“, etwa 650 bis 700 m von der Pankratiuskirche entfernt. „Ostervelde“ erscheint allerdings erst 1085 erstmals in einer Quelle.
In Sterkrade kamen um 1911 auch Münzen (aus der Bremerstraße) zu Tage, von denen nach dem Krieg drei Wilhelmine Hagen vorgelegt wurden. Die Münzen sind heute verschollen, doch immerhin existieren Fotos, die Hagen anfertigen ließ. Die älteste Münze stammte aus der Zeit des Kaisers Anastasios I. (491–518). Die Besiedlung des Stadtgebietes konzentrierte sich insgesamt auf ein Gebiet nördlich der Emscher, insbesondere auf die Bachläufe an den Abhängen der Mittel- und Niederterrasse und die Terrassenkante oberhalb der Emscheraue.
Eine Kontinuität zu den späteren Ortskernen ließ sich bisher nicht belegen, denn für die Zeit ab dem 8. Jahrhundert fehlen bis dato Funde. Wenige Scherbenfunde aus einer Baugrube des einstigen Klosters von Sterkrade belegen immerhin eine kontinuierliche Besiedlung von Sterkrade ab dem 9. Jahrhundert. Reichhaltigeres Fundmaterial stammt erst aus dem Hoch- und Spätmittelalter.
Landesherrschaften und Gebietsreformen
Der Bereich des heutigen Stadtgebiets Oberhausen gehörte bis Ende des 18. Jahrhunderts zu unterschiedlichen Herrschaften. Während Lippern (Lipper Heide) und Lirich zum Reichsstift Essen (Essen-Borbeck) gehörten, Styrum zur reichsfreien Herrschaft Styrum, Alstaden und Dümpten zur Herrschaft Broich, lagen die Bürgermeisterei Holten mit Buschhausen und Sterkrade im Kreis Wesel im preußischen Herzogtum Kleve und Osterfeld im kurkölnischen Vest Recklinghausen. Nach vorübergehender Zugehörigkeit ab 1806 zum Großherzogtum Berg (Alt-Oberhausen, Sterkrade) bzw. ab 1803 zum Herzogtum Arenberg-Meppen (Osterfeld) kam das gesamte heutige Stadtgebiet 1815 zu Preußen. Im Zuge der Verwaltungsgliederung des Preußischen Staates wurden die Ortschaften den am 23. April 1816 neu gebildeten Landkreisen Recklinghausen im Regierungsbezirk Münster (Provinz Westfalen), Dinslaken im Regierungsbezirk Kleve bzw. Essen im Regierungsbezirk Düsseldorf zugeteilt. Die beiden letztgenannten Landkreise wurden bereits am 27. September 1823 zum neuen Landkreis Duisburg im 1821 mit dem Klever Bezirk vereinigten Regierungsbezirk Düsseldorf (Rheinprovinz) zusammengeschlossen.
Die Besiedlung nahm, bedingt durch den Abbau von Kohle, anfänglich jedoch Eisenerz, stark zu. Wie andere Orte im Ruhrgebiet wuchs auch Oberhausen vom ländlichen Raum zum Industriestandort mit Zechen, Stahlwerken und chemischer Industrie heran.
Die Eisenverhüttung stellt den Beginn der Industrialisierung in diesem Raum dar. Die Antoniehütte (auch St.-Antony-Hütte) liegt im (heutigen) Stadtgebiet Oberhausen. Sie wird als die Wiege der Ruhrindustrie (1758) bezeichnet.
Die Bürgermeisterei Oberhausen wird am 1. Februar 1862 auf Betreiben des Duisburger Landrats Anton Kessler aus Teilen von sechs anderen Gemeinden gebildet. Die Urzelle und den größten Gebietsanteil (zwei Drittel) lieferte die Gemeinde Borbeck mit den Ortsteilen Lippern und Lirich, die bisher zum Reichsstift Essen gehörten. Dazu kamen Teile von Alstaden, Dümpten und Styrum aus der Bürgermeisterei Mülheim an der Ruhr-Land. Hinzu kamen auch noch kleinere Teile von Meiderich und Buschhausen. Den Namen Oberhausen erhielt die junge Gemeinde vom 1847 neuangelegten gleichnamigen Bahnhof (seinerzeit erster Bahnhof der Gemeinde Borbeck) an der Cöln-Mindener Eisenbahn, der wiederum seinen Namen von dem an der Emscher gelegenen Schloss des Grafen Westerholt erhalten hatte. Bereits zwölf Jahre danach am 10. September 1874 erhielt die Gemeinde Oberhausen durch Einführung der Städteordnung die Stadtrechte. Sie wurde damit kreisangehörige Stadt des Landkreises Mülheim an der Ruhr, der kurz zuvor am 8. Dezember 1873 aus dem Landkreis Duisburg (nach Ausscheiden von Duisburg als Stadtkreis am 27. Juni 1873) hervorgegangen war. Am 1. April 1901 schied auch Oberhausen aus ihm aus, nachdem es gemäß der Rheinischen Provinzialordnung die Marke von 40.000 Einwohnern erreicht hatte und damit ebenfalls Stadtkreis wurde.
Es folgten weitere Gebietszuwächse:
1. April 1909: Eingemeindung des südlichen Teils von Buschhausen (Grafenbusch mit Schloss Oberhausen)
1. April 1910: Eingemeindung von Alstaden und der nördlichen Teile von Dümpten und Styrum
1. April 1915: Eingemeindung von Teilen Borbecks, Dellwigs und Frintrops
Osterfeld gehörte ab 1811 zur Bürgermeisterei Bottrop und ab 1844 zum Amt Bottrop im Landkreis Recklinghausen, löste sich am 1. Juli 1891 im Zuge der Industrialisierung vom Amt Bottrop und erhielt am 17. Juni 1921 Stadtrechte. Nachdem es die Marke von 30.000 Einwohnern überschritten hatte, schied Osterfeld gemäß der Westfälischen Provinzialordnung am 1. Januar 1922 auch aus dem Landkreis Recklinghausen aus und wurde selbständiger Stadtkreis.
Sterkrade gehörte zur Bürgermeisterei Holten im Landkreis Dinslaken bzw. ab 27. September 1823 zum Landkreis Duisburg und ab 8. Dezember 1873 zum Landkreis Mülheim an der Ruhr. Am 1. April 1886 wurde die Bürgermeisterei Holten in die Bürgermeistereien Beeck und Sterkrade (mit der Gemeinde Sterkrade, der Stadt Holten, dem Amt Holten und Buschhausen) geteilt, die am 20. April 1887 zum Landkreis Ruhrort und am 1. April 1909 zum Landkreis Dinslaken kamen. Zum gleichen Zeitpunkt wurde Buschhausen geteilt. Der größte Teil wurde nach Sterkrade eingemeindet. Ein kleineres Gebiet im Süden kam zu Oberhausen, der Grafenbusch mit dem Schloss Oberhausen. Am 1. April 1913 erhielt Sterkrade Stadtrechte, die Bürgermeisterei Sterkrade wurde in die Stadt Sterkrade und die Bürgermeisterei Holten geteilt. Bereits am 1. Juli 1917 wurden die Bürgermeisterei Holten und ein großer Teil der Bürgermeisterei Hiesfeld, die Orte Barmingholten, Schmachtendorf und Walsumermark, in die Stadt Sterkrade eingegliedert. Dadurch überschritt Sterkrade die Marke von 40.000 Einwohnern, um gemäß der Rheinischen Provinzialordnung aus dem Landkreis Dinslaken auszuscheiden und selbständiger Stadtkreis zu werden.
Im Zuge der Kommunalen Neugliederung im Ruhrgebiet wurden am 29. Juli 1929 die Stadtkreise Oberhausen an der Ruhr, Osterfeld und Sterkrade zum neuen Stadtkreis Oberhausen (Rheinland), mit Korrekturen an den Grenzen zu den Nachbarstädten Duisburg, Mülheim an der Ruhr und Bottrop, vereinigt. Seit dem Zusammenschluss trug die Stadt den Namenszusatz (Rheinland) oder (Rhld.). Die Einwohnerzahl von Alt-Oberhausen hatte bereits um das Jahr 1914 die 100.000-Grenze überschritten und damit Oberhausen zur Großstadt gemacht. Heute hat Oberhausen etwa 210.000 Einwohner.
Die Gebietsreform von 1929 führte dazu, dass die heutige kreisfreie Stadt Oberhausen drei gewachsene Zentren hat.
Die erst Anfang der 1990er Jahre geplante „Neue Mitte“ kann heute als viertes Zentrum der Stadt gewertet werden.
Einwohnerentwicklung
1905 hatte Alt-Oberhausen mehr als 50.000 Einwohner. Im Jahr 1915 überschritt seine Einwohnerzahl die Grenze von 100.000, wodurch es zur Großstadt wurde. Einen Zuwachs um mehr als 80.000 Personen auf rund 190.000 Einwohner brachte am 1. August 1929 die Eingemeindung von Sterkrade (50.661 Einwohner 1925) und Osterfeld (32.655 Einwohner 1925). Im Jahre 1963 erreichte die Bevölkerungszahl der Stadt mit über 260.000 ihren historischen Höchststand. Am 31. Dezember 2016 betrug die Einwohnerzahl 212.460.
Die Arbeitslosenquote lag im Januar 2018 bei 9,5 Prozent, die Zahl der gemeldeten offenen Stellen betrug 3.328.
Der Ausländeranteil lag zum 31. Dezember 2018 bei 15,4 Prozent (32.616). Die Altersstruktur stellte sich am 31. Dezember 2018 wie folgt dar:
0–17 Jahre: 15,8 %
18–64 Jahre: 62,5 %
ab 65 Jahre: 21,6 %
Religionen
Eine Auflistung der Sakralbauten in Oberhausen findet man in der Liste von Sakralbauten in Oberhausen.
Christentum
Konfessionsstatistik
Gemäß dem Zensus 2011 waren 40,3 % römisch-katholisch, 27,1 % der Einwohner evangelisch und 32,6 % waren konfessionslos, gehörten einer anderen Glaubensgemeinschaft an oder machten keine Angabe. Die Zahl der Protestanten und Katholiken ist seitdem gesunken. Mit Stand Juni 2023 hatte Oberhausen 212.340 Einwohner; davon 31,1 % Katholiken, 20,9 % Protestanten und 48,0 % gehörten einer sonstigen oder keiner öffentlich-rechtlichen Religionsgesellschaft an. Von den 40 deutschen Großstädte (über 200.000 Einwohner) haben mitte 2023 noch vier eine Mehrheit an Kirchenmitgliedern (Münster, Mönchengladbach, Oberhausen und Bochum). Alle vier haben eine Gemeinsamkeit: sie sind traditionell mehrheitlich katholisch. Bochum wird voraussichtlich Ende 2023 aber ebenfalls weniger als die Hälfte der Einwohner als Kirchenmitglieder zählen.
Katholische Kirche
Im äußersten südlichen Stadtgebiet Oberhausens gehörten ursprünglich die Ortschaften Lirich und Lippern (Lipperheide) zum Reichsstift Essen (Borbeck) und damit zum Erzbistum Köln, denn die Fürstäbtissin von Essen ließ ihre Orte durch einen vom Kölner Erzbischof investierten Offizial verwalten. Pfarramtlich wurden sie von der Petrikirche in Mülheim an der Ruhr aus versorgt. Nachdem diese 1555 protestantisch geworden war, war die Schlosskapelle von Styrum die nächste katholische Kirche, denn die Herrschaft Styrum war katholisch geblieben.
Seit 1763 gehörten die südlichen Ortschaften Oberhausens (Alstaden, Styrum) zur neu gegründeten Pfarrei St. Marien in Mülheim-Styrum, während die Menschen im Rest des heutigen Alt-Oberhausen von St. Dionysius Borbeck aus betreut wurden.
Ab 1821 gehörten alle katholischen Pfarreien südlich der Emscher zum Erzbistum Köln. 1857 entstand die erste katholische Kirche im Gebiet der späteren Stadt Oberhausen, die St.-Marien-Kirche, 1864 wurde mit St. Joseph in Styrum die zweite Kirche errichtet. 1888 wurde St. Marien zur Pfarrei erhoben, ein Jahr später wurde auch St. Joseph von St. Mariae Geburt in Mülheim abgetrennt. In den nächsten Jahren erfolgten mehrere Pfarreineugründungen, größtenteils von St. Joseph aus.
Die Kirchengemeinden nördlich der Emscher gehörten zum Bistum Münster und ab 1904 zum Dekanat Ruhrort. 1910 wurde Sterkrade Sitz eines eigenen Dekanats, dort war bereits 1240 ein Kloster entstanden. Osterfeld hatte bereits um 1000 eine Kirche.
1958 wurden alle katholischen Pfarrgemeinden Oberhausens dem neuen Bistum Essen zugeordnet. 1960 fasste der erste Bischof von Essen alle Oberhausener Kirchengemeinden zum Stadtdekanat Oberhausen zusammen, zunächst mit den drei Dekanaten Alt-Oberhausen, Sterkrade und Osterfeld. Mit der Zusammenlegung der Dekanate Sterkrade und Osterfeld zum Dekanat Oberhausen-Sterkrade-Osterfeld existierten seit 2003 nunmehr zwei Dekanate. Im Zuge der Umstrukturierung der Dekanate und Pfarreien im Bistum Essen 2007 wurden Oberhausen und Oberhausen-Sterkrade-Osterfeld zum Dekanat Oberhausen zusammengefasst. Seitdem gibt es in Oberhausen folgende katholische Großpfarreien, Gemeinden und Kirchen:
Propstei St. Clemens Sterkrade: St. Clemens, St. Josef Buschhausen, Liebfrauen Schwarze Heide, Herz Jesu Sterkrade, St. Barbara Königshardt, St. Theresia vom Kinde Jesu Walsumermark, St. Josef Schmachtendorf und St. Johann Holten. Die Kirche St. Pius wurde abgerissen – die Gemeinde St. Pius mit Herz Jesu zusammengefasst –, St. Bernardus ist eine Kapelle, die zur Gemeinde St. Clemens gehört. Christ König auf dem Gebiet von St. Josef Buschhausen fungiert als Jugendkirche TABGHA.
Propstei St. Pankratius Osterfeld: St. Pankratius, St. Marien Rothebusch und St. Franziskus Osterfeld. Die Gemeinde St. Franziskus Osterfeld besteht aus den Kirchen St. Antonius Klosterhardt, St. Jakobus und St. Josef. Die Gemeinde St. Pankratius nutzt das Evangelische Gemeindezentrum Quellstraße in Borbeck mit.
Pfarrei St. Marien Oberhausen-Mitte: St. Marien, St. Johannes Evangelist, Zu Unserer Lieben Frau Styrum und St. Katharina Lirich. Zur Gemeinde St. Marien gehören neben der Hauptkirche St. Marien die Kirche St. Michael sowie die „Tagungskirche“ Heilig Geist. Die Kirche Heilige Familie liegt auf dem Gebiet von St. Katharina und dient heutzutage der Oberhausener Tafel.
Pfarrei Herz Jesu Oberhausen-Mitte: Herz Jesu, St. Joseph Styrum und St. Antonius Alstaden. Eine ehemalige Filialkirche in Alstaden, St. Hildegard am Ruhrpark, wurde 2008 abgerissen, eine andere, St. Peter, 2021 außer Dienst gestellt.
Evangelische Kirche
Nach Gründung der Stadt Oberhausen 1862 wuchs die Zahl der evangelischen Gemeindeglieder im südlichen Bereich der heutigen Stadt Oberhausen (Alstaden, Dümpten und Styrum beziehungsweise Lippern und Lirich) schnell. 1864 entstand die evangelische Kirchengemeinde Oberhausen I mit der Christuskirche und 1893 die evangelische Kirchengemeinde Oberhausen II mit der Lutherkirche als Mittelpunkt. In Sterkrade waren auf der Königshardt bereits seit 1774 die ersten Protestanten ansässig, doch konnte erst 1846 die Kirchengemeinde Sterkrade gegründet werden. In Osterfeld entstand erst 1896 eine eigene Kirchengemeinde, die zur Westfälischen Provinzialkirche der Evangelischen Landeskirche der älteren Provinzen Preußens bzw. ab 1945 zur Evangelischen Kirche von Westfalen gehörte. Alle übrigen evangelischen Kirchengemeinden Oberhausens gehörten zur Rheinischen Provinzialkirche der Evangelischen Kirche in Preußen bzw. zur Evangelischen Kirche im Rheinland (EKiR).
1954 wurde der Kirchenkreis Oberhausen gegründet, um das gesamte Stadtgebiet auch kirchlich unter eine einheitliche Verwaltung zu bringen. Ihm gehören derzeit (Juni 2023) sechs Kirchengemeinden an:
die Sophien-Kirchengemeinde (gegründet 2023 durch Zusammenschluss der Luther-Kirchengemeinde (früher Oberhausen II), Christus-Kirchengemeinde und Markus-Kirchengemeinde)
die Emmaus-Kirchengemeinde (gegründet 2007 durch Zusammenschluss der Paulus-Kirchengemeinde (früher Oberhausen I) sowie der Kirchengemeinden Alstaden und Buschhausen)
die Apostel-Kirchengemeinde
die Auferstehungs-Kirchengemeinde (früher Osterfeld)
die Kirchengemeinde Holten-Sterkrade (gegründet 2010 durch Zusammenschluss der Kirchengemeinden Holten und Sterkrade)
die Kirchengemeinde Königshardt-Schmachtendorf (gegründet 2007 durch Zusammenschluss der Kirchengemeinden Königshardt und Schmachtendorf).
Andere Konfessionen
Daneben gibt es in Oberhausen auch die Altkatholische Kirche und die lutherische Trinitatis-Gemeinde der SELK sowie Gemeinden, die zu Freikirchen gehören: eine Gemeinde der Apostolischen Gemeinschaft, eine Evangelisch-Freikirchliche Gemeinde (Baptisten), einen Mülheimer Verband Freikirchlich-Evangelischer Christus Gemeinden (CGO), eine Freie evangelische Gemeinde (FeG) und eine Gemeinde der Siebenten-Tags-Adventisten (STA). Ferner sind in Oberhausen auch sechs Gemeinden der Neuapostolischen Kirche vertreten sowie eine Gemeinde der Christadelphians.
Außerdem sind mehrere deutsche Versammlungen der Zeugen Jehovas in Oberhausen beheimatet sowie Versammlungen in Albanisch, Französisch, Lingála, Romani, Serbokroatisch und westafrikanischem Pidgin-Englisch.
Judentum
Im Jahr 1933 gab es etwa 600 Juden in Oberhausen. 1898 war eine Synagoge in der Friedenstraße 24 erbaut worden, die in der Reichspogromnacht vom 9. auf den 10. November 1938 unter der Aufsicht der Oberhausener Feuerwehr niedergebrannt wurde. Die 1858 errichtete Holtener Synagoge in der Mechthildisstraße wurde bereits 1927 wieder aufgegeben, 1936 verkauft und seitdem als Wohnhaus genutzt.
Im Jahre 1968 schlossen sich die jüdischen Gemeinden in Oberhausen, Mülheim an der Ruhr und Duisburg zu einer gemeinsamen Kultusgemeinde – der Jüdischen Gemeinde Duisburg-Mülheim/Ruhr-Oberhausen – zusammen. Als in den 1990er Jahren die Zahl der Gemeindemitglieder – durch die Zuwanderung von Juden aus den Nachfolgestaaten der Sowjetunion – auf über 2.800 anstieg, wurde der Neubau einer Synagoge und eines Gemeindezentrums erforderlich. Gemeinsam einigten sich die jüdische Gemeinde und die drei Städte Oberhausen, Mülheim/Ruhr und Duisburg auf einen Neubau im Duisburger Innenhafen, der 1999 abgeschlossen wurde.
Seit 2005 gibt es in Oberhausen auch eine liberale jüdische Gemeinde, die durch die Union Progressiver Juden Anerkennung gefunden hat und deren Mitgliederzahl stetig steigt. Die Räumlichkeiten der Gemeinde befinden sich am Friedensplatz, nur unweit der 1938 zerstörten Synagoge an der Friedensstraße.
Islam
Bedingt durch die große Zahl türkischstämmiger Einwohner Oberhausens, insbesondere in den Stadtteilen Tackenberg, Knappenviertel und Osterfeld, gibt es im Stadtgebiet mittlerweile 15 Moscheen unterschiedlicher Träger:
Unter dem Dachverband DITIB werden die Haci-Bayram-Moschee im Stadtteil Schwarze Heide, die Ayasofya-Moschee in Lirich-Nord, die Mevlana-Moschee in Klosterhardt-Nord und die Ulu-Moschee in Osterfeld-Ost geführt. Zum Dachverband VIKZ gehören die VIKZ-Moschee und die Fatih-Moschee in Osterfeld-West sowie die Oberhausen-Moschee in Lirich-Nord. Der Dachverband IGMG leitet die Aksemseddin-Moschee im Stadtteil Holten. Die Bosnische Moschee im Stadtteil Osterfeld steht unter der Leitung der Islamischen Gemeinschaft der Bosniaken in Deutschland. Die Assalam-Moschee im Zentrum von Oberhausen ist ebenso wie die Masjid-Sunnah-Moschee im Stadtteil Lirich, die Anour-Mosche in Osterfeld, die Moschee der Islamischen Gemeinschaft in Osterfeld-West, die Oberhausen-Moschee im Stadtteil Heide und die Moschee der Türkischen Gemeinde Oberhausen in Osterfeld-Ost ohne Dachverband.
Politik
Stadtrat
Mit der Bildung der Gemeinde Oberhausen 1862 wurde die Bürgermeisterverfassung mit Gemeinderat und Bürgermeister eingeführt. Daneben gab es zwei Beigeordnete. Nach Erhalt der Stadtrechte 1874 gab es Stadtverordnete und Bürgermeister, die nach Erlangung der Kreisfreiheit 1901 den Titel Oberbürgermeister trugen. Auch Osterfeld und Sterkrade hatten je einen Gemeinderat und einen Bürgermeister bzw. Oberbürgermeister an der Spitze. Im Zuge der Kommunalen Neugliederung 1929 verloren diese jedoch ihre Ämter.
Während der Zeit des Nationalsozialismus wurde der Oberbürgermeister von der NSDAP eingesetzt. Nach dem Zweiten Weltkrieg setzte die Militärregierung der Britischen Besatzungszone einen neuen Oberbürgermeister ein und 1946 führte sie die Kommunalverfassung nach britischem Vorbild ein. Danach gab es einen von den Bürgern gewählten „Rat der Stadt“, dessen Mitglieder als „Stadtverordnete“ bezeichnet wurden. Der Oberbürgermeister, der ehrenamtlich tätig war, wurde als Vorsitzender und Repräsentant der Stadt vom Rat aus seiner Mitte gewählt. Ebenfalls vom Rat gewählt wurde der hauptamtliche Oberstadtdirektor als Leiter der Stadtverwaltung. 1997 wurde die Doppelspitze bei Stadt Oberhausen aufgrund der geänderten Gemeindeordnung NRW aufgehoben. Seitdem gibt es nur noch den hauptamtlichen Oberbürgermeister, der Vorsitzender des Rates, Leiter der Stadtverwaltung und Repräsentant der Stadt ist. 1999 wurde er zum ersten Mal direkt gewählt.
Der Rat der Stadt Oberhausen hatte seit der Kommunalwahl 1999 bis zum Wahljahr 2009 insgesamt 58 Mitglieder. Nach den Kommunalwahlen 2009 wuchs der Rat durch Ausgleichsmandate auf 62 Mitglieder.
Ergebnisse der Kommunalwahlen 2020 in Oberhausen
Die Sitze im Stadtrat und in den Bezirksvertretungen verteilen sich nach dem Ergebnis der Kommunalwahl 2020 folgendermaßen auf die einzelnen Parteien:
Stadtoberhäupter
Bürgermeister
1862–1889: Friedrich August Schwartz
1889–1894: Friedrich Haumann
1894–1906: Otto Wippermann (ab 1903 Oberbürgermeister)
Oberbürgermeister
1906–1930: Berthold Otto Havenstein, DVP
1930–1937: Wilhelm Heuser, bis 1933 Zentrum, nach 1933 NSDAP
1938–1940: Wilhelm Eberhard Gelberg, NSDAP
1940–1942: Bernhard Legge, NSDAP
1942–1945: Ernst Bollmann, NSDAP
1945: Wilhelm Thyssen (kommissarisch)
1945: Karl Haendly (kommissarisch)
1945–1946: Georg Kaessler (kommissarisch)
1946: Karl Feih, Zentrum
1946–1948: Luise Albertz, SPD
1948–1952: Otto Aschmann, CDU
1952–1956: Otto Pannenbecker, Zentrum
1956–1979: Luise Albertz, SPD (zum zweiten Mal)
1979–1997: Friedhelm van den Mond, SPD
1997–2004: Burkhard Drescher, SPD
2004–2015: Klaus Wehling, SPD
2015–Heute: Daniel Schranz, CDU
Bei der Stichwahl des Oberbürgermeisters am 27. September 2020 gewann der Amtsinhaber Herr Schranz (CDU) mit 62,08 % bei einer Wahlbeteiligung von 28,98 %.
Oberbürgermeister von Osterfeld
1921–1929: Johannes Kellinghaus, Zentrum
Oberbürgermeister von Sterkrade
1916–1920: Otto Most, DVP
1920–1929: Wilhelm Heuser, Zentrum (Jan.–Aug. 1920 Bürgermeister)
Oberstadtdirektoren
1946–1953: Georg Kaessler
1953–1960: Anton Schmitz
1960–1972: Werner Peterssen
1972–1979: Raimund Schwarz
1979–1991: Dietrich Uecker
1991–1997: Burkhard Drescher, SPD
Wappen
Das Wappen der Stadt Oberhausen zeigt in einem durch eine silberne Spitze von Blau und Rot gespaltenen Schild, darin schräg gekreuzt ein schwarzer Schlägel und ein schwarzes Eisen (die Symbole des Bergbaus), vorne einen von zwei silbernen Schlangen umwundenen silbernen Merkurstab, hinten gekreuzt eine silberne Zange und einen silbernen Hammer, überdeckt mit einem silbernen Zahnrad. Im Oberwappen ist eine Mauerkrone mit fünf Türmen dargestellt.
Die Stadtflagge ist Blau/Weiß, bis 1996 Schwarz/Weiß/Rot.
Das Wappen wurde der Stadt bereits 1888 von König Wilhelm I. von Preußen verliehen. Allerdings war das vordere Feld zunächst schwarz statt blau. Am 21. Oktober 1952 verlieh das Innenministerium Nordrhein-Westfalen das Wappen neu in seinen heutigen Farben. Es vereint die Symbole der allgemeinen Industrie (Zahnrad und Hammer), der Hüttenwerke (Zange) und des Bergbaus (Schlägel und Eisen) mit dem Symbol für Handel und Verkehr (Merkurstab).
Städtepartnerschaften
Die Stadt Oberhausen unterhält mit folgenden Städten eine Städtepartnerschaft:
Middlesbrough (Vereinigtes Königreich), seit 1974
Saporischschja (Ukraine), seit 1986
Carbonia (Sardinien, Italien), seit 2003
Iglesias (Sardinien, Italien), seit 2003
Mersin (Türkei), seit 2004
Tychy (Polen), seit 2020
Mit der Stadt Freital in Sachsen unterhält die Stadt Oberhausen freundschaftliche Beziehungen.
Schulden
2011 beliefen sich die Schulden der Stadt auf rund 1,4 Milliarden Euro. Oberhausen war mit knapp 9.600 Euro pro Kopf die am höchsten verschuldete Stadt Deutschlands. Durch höhere Steuereinnahmen und einen strikten Sparkurs sank die Verschuldung inzwischen auf 8263 Euro pro Kopf im Jahr 2012. Die kurzfristig fälligen Kassenkredite betragen 6870 Euro pro Kopf.
Aufgrund der Haushaltslage hat die Stadt drei von sieben Bädern geschlossen und stattdessen ein rentables Spaßbad gebaut. Seit 1992 war es aufgrund des tiefgreifenden Strukturwandels in der Stadt nicht mehr möglich, einen ausgeglichenen Haushalt vorzulegen. Die Sozialleistungen übersteigen seit Anfang der 1990er Jahre die Gewerbesteuereinnahmen der Stadt.
Für das Haushaltsjahr 2014 hat die Stadt Oberhausen im Gesamtergebnisplan ein Haushaltsdefizit in ordentlichen Erträgen und Aufwendungen (einschließlich Finanzerträgen und -aufwendungen) in Höhe von −51,7 Millionen Euro (−246 Euro je Einwohner) veranschlagt. Dies entspricht dem dritthöchsten Pro-Kopf-Haushaltsdefizit aller kreisfreien Städte in Nordrhein-Westfalen im Jahr 2014.
Regionaler Flächennutzungsplan
Die Stadt Oberhausen kooperiert zwecks Regionaler Flächennutzungsplanung in einer Planungsgemeinschaft mit den Städten Bochum, Essen, Gelsenkirchen, Herne und Mülheim an der Ruhr (Planungsgemeinschaft der Städteregion Ruhr 2030). Der von den sechs Städten aufgestellte Plan wurde 2009 vom Ministerium für Wirtschaft, Mittelstand und Energie des Landes Nordrhein-Westfalen mit bestimmten Auflagen genehmigt. Nach den Beitrittsbeschlüssen der Räte zu den Auflagen und nach Bekanntmachung des Plans trat der erste Regionale Flächennutzungsplan der Geschichte am 3. Mai 2010 in Kraft. Bis auf Weiteres kann der erste und einzige geltende Regionale Flächennutzungsplan von den sechs Städten im Benehmen mit dem Regionalverband Ruhr geändert und ergänzt werden.
Kultur und Sehenswürdigkeiten
Kunst im öffentlichen Raum
Siehe: Liste von Kunstwerken im öffentlichen Raum in Oberhausen
Theater und Museen
Neben dem Stadttheater gibt es noch das Niebuhrg Theater und die Kleinstädter Bühne Sterkrade e. V., eine Amateurtheatergruppe, die seit 70 Jahren im Lito-Palast im Herzen von Sterkrade ihre Spielstätte hat.
An Museen gibt es im Schloss Oberhausen die Ludwiggalerie Schloss Oberhausen, eine Institution der Peter und Irene Ludwig-Stiftung mit wechselnden Ausstellungen. In direkter Nachbarschaft zu der Ludwig Galerie Schloss Oberhausen befindet sich die Gedenkhalle Oberhausen, die erste Gedenkstätte an die Opfer des Nationalsozialismus in Westdeutschland; hier wird eine Dauerausstellung über die NS-Herrschaft in Oberhausen gezeigt.
Der Gasometer Oberhausen ist eine überregional bekannte Ausstellungshalle. Die Ausstellung „Sternstunden – Wunder des Sonnensystems“ lockte im Jahr 2010 fast eine Million Besucher in den Industriegiganten und war somit die erfolgreichste Ausstellung im Jahr der Kulturhauptstadt Europas. Ebenfalls viel Beachtung fand das „Big Air Package“ von Christo. Bis 27. Oktober 2019 war dort die Ausstellung „Der Berg ruft“ zu sehen. Anschließend wurde der Gasometer wegen Sanierungsarbeiten geschlossen. Mit der Ausstellung „Das zerbrechliche Paradies“ zur Klimageschichte unseres Planeten wurde die Ausstellungshalle im Oktober 2021 wieder eröffnet.
Auf der Westseite des Oberhausener Hauptbahnhofs gelegen zeigt das LVR-Industriemuseum, Rheinisches Landesmuseum für Industrie- und Sozialgeschichte, eine Dauerausstellung zu 150 Jahren Eisen- und Stahlgeschichte an Rhein und Ruhr sowie wechselnde Themenausstellungen. Im Jahr 2008 wurde als neue Zweigstelle das Museum „St.Antony.Hütte“ eröffnet, das an die vor über 250 Jahren errichtete erste Eisenhütte des Ruhrgebietes erinnert. Zum LVR-Industriemuseum gehören in Oberhausen auch das Museum in der Siedlung Eisenheim, das zentrale Museumsdepot im Peter-Behrens-Bau, dem früheren Hauptlagerhaus der Gutehoffnungshütte, und der Museumsbahnsteig im Hauptbahnhof.
Seit August 2008 zeigte die „Modellbahnwelt Oberhausen“ im Maßstab 1:87, wie das Ruhrgebiet von 1965 bis 1970 ausgesehen hat. Auf etwa 420 m² wurde ein Teil von Oberhausen und beispielsweise die Zeche und Kokerei Zollverein modellhaft zu dem Zeitpunkt präsentiert, als Zeche und Kokerei noch in Betrieb waren. Dies wurde von 2012 bis zu deren Insolvenz im Frühjahr 2015 durch die Ausstellung 'Top Secret. Die geheime Welt der Spionage' abgelöst.
In Sterkrade befinden sich das private Sterkrader Radio-Museum und das ebenfalls private Konditoreimuseum Zuckertüte, das am 24. September 2014 eröffnet wurde.
Oberhausen ist mit verschiedenen Ausstellungsorten auch an der Emscherkunst, einer Kunstausstellung im öffentlichen Raum, beteiligt. So befindet sich am Rande des Gehölzgarten Ripshorst die 35 Meter hohe Stahlskulptur Zauberlehrling, die in ihrer Gestalt an einen tanzenden Strommast erinnert.
Siehe auch: Liste von Museen in Oberhausen
Veranstaltungsorte
Eine Mehrzweckhalle für Konzerte, Musicals, Shows, aber auch Sportveranstaltungen ist die Rudolf Weber-Arena in der Neuen Mitte. Sie hat 12.500 Plätze.
Das Ebertbad, ein ehemaliges Schwimmbad, hat sich zu einem der herausragendsten Veranstaltungsorte für Kleinkunst entwickelt. Es war außerdem die Heimspielstätte der Missfits, eines der bekanntesten Kabarett-Duos in Deutschland.
Das Kongresszentrum Oberhausen (Luise-Albertz-Halle/Stadthalle) ist ein multifunktionales Tagungs- und Veranstaltungszentrum, geeignet sowohl für Traditions- und Unterhaltungsveranstaltungen als auch für Börsen, Ausstellungen, Tagungen, Kongresse und Seminare. Angegliedert an das Kongresszentrum sind ein Hotel sowie Gastronomie und ein Parkhaus.
Weitere Veranstaltungsorte sind das Resonanzwerk, das Zentrum Altenberg, die Fabrik K-14, die Turbinenhalle, das Drucklufthaus oder das Theater an der Niebuhrg. Bei diesen Veranstaltungsorten handelt es sich um ehemalige Industriebauten.
Bauwerke
Ein bedeutendes Bauwerk und ein Wahrzeichen der Stadt ist das Schloss Oberhausen, ein ehemaliger Herrensitz an der Emscher. Das Schloss gab zunächst einem Bahnhof an der Köln-Mindener Eisenbahnstrecke und dann der am Bahnhof entstandenen Siedlung den Namen. Heute beherbergt das Gebäude, das nach Kriegszerstörungen im Zweiten Weltkrieg 1960 wiederaufgebaut wurde, die Ludwig Galerie Schloss Oberhausen.
Auf dem Altmarkt, dem zentralen Platz der auf einem rechtwinkligen städtebaulichen Raster entstandenen Innenstadt, steht das Wahrzeichen von Alt-Oberhausen, eine klassizistische Säule mit einer vergoldeten Siegesgöttin Nike über dem Kapitell.
Sehenswert ist auch das Rathaus der Stadt, das 1927–1930 in den Formen des Backsteinexpressionismus nach Plänen der Architekten und kommunalen Baubeamten Ludwig Freitag und Eduard Jüngerich erbaut wurde.
Ein architektonisch besonders interessanter Platz in der City ist der Friedensplatz mit dem Amtsgericht Oberhausen aus dem Jahr 1907, dem Europa-Haus (1955, Architekt: Hans Schwippert) und den expressionistischen Backsteingebäuden an den Längsseiten, die dem Platz zusammen mit den Wasser- und Baumachsen eine strenge Symmetrie verleihen. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts auf einem ehemaligen Industriegelände angelegt, ist der Friedensplatz ein wichtiges Bindeglied zwischen Altmarkt, Hauptbahnhof und Rathaus. In der gleichen Umgebung befindet sich das zunächst privatwirtschaftliche genutzte, seit 1978 jedoch in städtischem Besitz befindliche Bert-Brecht-Haus (anfangs: Ruhrwachthaus), das derzeit die Volkshochschule und die Zentrale der Stadtbibliothek beherbergt.
Weitere bedeutende Bauwerke in Oberhausen sind die Burg Vondern in Osterfeld, das Kastell Holten und die Baumeister Mühle von 1848 in Buschhausen.
Von besonderem architektonischen und städtebaulichen Interesse sind die zahlreichen Arbeitersiedlungen des 19. und 20. Jahrhunderts, darunter die Siedlung Eisenheim in Osterfeld, die älteste Arbeitersiedlung des Ruhrgebiets.
Zu den bemerkenswerten historischen bürgerlichen Wohnquartieren zählen das Rathausviertel und das Marienviertel in Alt-Oberhausen sowie die von der GHH für ihre Führungskräfte angelegte Siedlung Grafenbusch gegenüber dem Schloss.
Ein zukunftsweisender städtebaulicher Ansatz wird mit der Solarsiedlung in Holten realisiert. Hier entsteht seit 2007 im Rahmen des von der Landesregierung ausgerufenen Projektes 50 Solarsiedlungen in Nordrhein-Westfalen eine mit dem European Energy Award ausgezeichnete Siedlung, die mit einer Kombination von Photovoltaik und Wärmepumpentechnik nahezu CO2-neutral und ohne externe Energiezufuhr beheizt und mit Warmwasser versorgt wird.
Ein weiteres bedeutendes Baudenkmal stellt das von dem Architekten Peter Behrens entworfene Hauptlagerhaus der Gutehoffnungshütte dar, das in gleichzeitig monumentaler und sachlicher Formgebung die Essener Straße beherrscht und gemeinsam mit Gasometer und Werksgasthaus an die einstige Gutehoffnungshütte erinnert. Heute dient das Backsteingebäude aus den 1920er Jahren als Depot des Rheinischen Industriemuseums.
In den 1990er Jahren entstand auf dem ehemaligen Industriegelände der Gutehoffnungshütte, später Thyssen, als weiteres Stadtzentrum die „Neue Mitte Oberhausen“ (CentrO). Durch städtebauliche Maßnahmen, die Ansiedlung von modernen Dienstleistungs- und Industrieunternehmen und durch umfangreiche Investitionen in die Infrastruktur wurde ein Strukturwandel vom Industriestandort zum Dienstleistungs- und Tourismusstandort vollzogen.
Das Einkaufszentrum CentrO bildet den Kern des Projektes. Weitere wichtige Bestandteile der „Neuen Mitte“ sind die Multifunktionshalle König-Pilsener-ARENA, der Freizeit- und Vergnügungspark CentrO.PARK, ein Multiplex-Kino, ein Erlebnis-Aquarium (Sea Life), die Heinz-Schleußer-Marina am Rhein-Herne-Kanal und eine Musicalhalle (Metronom Theater). Die „Neue Mitte“ hat sich inzwischen zum Publikumsmagnet der Stadt entwickelt. Zuletzt entstand ein Schwimmbad (Aquapark) in der Nähe der Marina.
Im September 2012 wurde ein Erweiterungsbau des CentrO eröffnet. Im Frühjahr 2013 ist die Eröffnung eines Ocean Adventure Park und des Legoland Discovery Centre geplant, die (wie SeaLife) beide von Merlin Entertainment betrieben werden.
Auf den Brachflächen des ehemaligen Elektrostahlwerks an der Osterfelder Straße sollte sich die Entwicklung der Neuen Mitte grundsätzlich noch fortsetzen. Allerdings haben sich die unter dem Namen O.Vision zu Beginn des Jahrtausends präsentierten Projekte bislang bestenfalls in Ansätzen verwirklichen lassen.
Am Rande der „Neuen Mitte“ befindet sich ein weiteres Wahrzeichen der Stadt, der ehemalige Gasometer der Gutehoffnungshütte. Im Rahmen der IBA Emscher Park wurde er zu einem Veranstaltungsort umgebaut. Das Dach des 117,5 m hohen Gasometers ist seitdem als Beobachtungsplattform zu Fuß oder per Aufzug zu erreichen und bietet eine eindrucksvolle Sicht auf die facettenreiche Kulturlandschaft des Ruhrgebietes. Durch wechselnde Ausstellungen und Installationen, unter anderem von Christo, Bill Viola oder Christina Kubisch hat der Gasometer als Ort kultureller Veranstaltungen überregionale Bedeutung erlangt.
Sport
Mit mehr als 250 Vereinen bietet Oberhausen ein reiches Angebot an Sportmöglichkeiten. Hier finden sich neben allen Standardsportarten auch so ausgefallene Angebote wie Square Dance, Cheerleader-Dance oder Paintball. Der bekannteste Fußballverein Oberhausens ist Rot-Weiß Oberhausen, der 1904 gegründet wurde. Von 1969 bis 1973 spielte RWO in der Fußball-Bundesliga, konnte seitdem jedoch nicht mehr in die höchste Spielklasse zurückkehren. Auch vor Gründung der Bundesliga war RWO in der damals erstklassigen Oberliga West viele Jahre vertreten. 1974 war RWO Gründungsmitglied der 2. Fußball-Bundesliga. Durch viele Auf- und Abstiege brachte man es seitdem bisher insgesamt auf 18 Spieljahre in der Zweitklassigkeit. Der letzte Aufstieg dorthin gelang in der Saison 2007/08, als sich die „Kleeblätter“ in der Regionalliga Nord am Ende als Tabellenzweiter für die 2. Fußball-Bundesliga qualifizieren konnten. In den folgenden beiden Spielzeiten gelang jeweils der Klassenerhalt. In der Saison 2010/11 stieg RWO in die 3. Liga und in der Spielzeit 2011/12 in die Regionalliga West ab.
Erfolgreich ist im Basketball derzeit die Damenmannschaft von NBO92, die von 2002 bis 2016 in der 1. Damen-Basketball-Bundesliga spielte, in den Spielzeiten 2004/05 und 2013/14 Deutscher Vizemeister sowie 2011/12 Pokalsieger wurde. Die Tennisspieler des OTHC (Oberhausener Tennis- und Hockeyclub) spielten zeitweise in der 1. Tennis-Bundesliga; die Revierlöwen Oberhausen gehörten zeitweise der DEL an, der Verein ist jedoch inzwischen insolvent und aufgelöst. In der Saison 2007/08 gelang den Billardspielern des BC Oberhausen der Aufstieg in die Billard-Bundesliga, der Meistertitel wurde 2010, 2011, 2012 und 2013 bereits zum vierten Mal in Serie gewonnen. Der BCO ist damit deutscher Rekordmeister im Poolbillard. Der Oberhausener Schachverein 1887 spielt zurzeit (2014/15) mit sieben Mannschaften und einer Jugendmannschaft in der NRW-Klasse. Ihnen gelang in dieser Saison der Aufstieg in die NRW-Liga, so dass der Schachverein die nächste Saison drittklassig spielen wird. Am Spitzenbrett spielt seit 2001 Großmeister Vlastimil Hort, der 1977 Platz 7 der Weltrangliste einnahm. In der umgebauten Eishalle Vonderort vertreten die „Miners Oberhausen“ die Stadt im Inline-Skaterhockey, im November 2016 konnten sie sich für den Aufstieg in die Bundesliga qualifizieren. In Oberhausen aktiv ist ferner Cha Yong-kil, der den neunten und damit höchsten Dan besitzt, den man in Taekwondo haben kann. Diesen Meistergrad hat er ferner auch im Shaolin Kung Fu erlangt. Ferner ist er Präsident des Jidokwan Taekwondo Europe Verbands und Präsident des Welt-Kampfkunst-Bundes. Die drei mitgliederstärksten Vereine der Stadt heißen Turnerbund Osterfeld, TV Jahn Königshardt und Turnclub Sterkrade 1869. Ebenfalls gibt es einen Segelflugverein, den Flugsportverein Oberhausen und einen Ruderverein (Ruderverein Oberhausen). Das Judo-Team-Holten ist der erfolgreichste Judoverein der Stadt. Aktuell ist die erste Männermannschaft in der 2. Judo-Bundesliga vertreten und ist somit der am höchsten kämpfende Oberhausener Judoverein. Regelmäßig verzeichnet die Jugendabteilung des Vereins Erfolge auf Bezirksebene und zählt somit auch im Umkreis als einer der erfolgreichsten Vereine im Männer- und Jugendbereich.
Regelmäßige Veranstaltungen
Die 1954 gegründeten, alljährlich stattfindenden Internationalen Kurzfilmtage Oberhausen sind ein Höhepunkt des Oberhausener Kulturlebens. Sie gelten als das älteste Kurzfilmfestival der Welt und sind im Laufe der vergangenen Jahrzehnte zu einem der wichtigsten internationalen Plattformen für dieses Filmformat geworden.
Erwachsen aus Kontakten, die seit 1952 bestehen, veranstaltet die Stadt Oberhausen eine multilaterale Jugendbegegnung, die sogenannte MULTI. Jedes zweite Jahr besuchen Gäste aus anderen Ländern – 2010 aus England (Middlesbrough), Estland (Tallinn), Israel (Jerusalem), Polen (Danzig), Türkei (Mersin), Ukraine (Saporischschja), Sardinien (Carbonia und Iglesias), Russische Föderation (Megion, Baschkortostan: Ufa), Rumänien (Bacău), der Volksrepublik China, Frankreich – die Stadt und ihre Umgebung. Für die Zeit ihres Aufenthalts in Oberhausen sind sie in Gastfamilien untergebracht und nehmen – zusammen mit Jugendlichen aus Oberhausen und Umgebung – an einem vielfältigen Programm teil. Die gastgebenden bzw. teilnehmenden Jugendlichen aus Oberhausen und Umgebung haben dann in dem darauf folgenden Jahr die Chance, für einen Gegenbesuch in diese Länder zu fahren. Aufgrund der dortigen Situation fand der Austausch mit Jerusalem (Israel) in den letzten Jahren nur in Oberhausen statt.
Die Multi 2010 war Teil des Projekts TWINS, des offiziellen Programms der Europäischen Kulturhauptstadt Ruhr 2010. Schirmherr war im Jahr 2010 der Musiker Peter Maffay.
Grundidee der MULTI ist der interkulturelle Austausch, bei dem die Jugendlichen Kompetenzen in den Alltag mitnehmen sollen, das Leben in einer multikulturellen globalen Gesellschaft führen zu können.
Die Sterkrader Fronleichnamskirmes ist ein Straßen- und Volksfest, das in der Innenstadt des Oberhausener Stadtteils Sterkrade stattfindet.
Traditionell findet am Tag vor Rosenmontag ein Straßenkarneval in der Innenstadt statt. Der stattfindende Umzug ist der größte Karnevalszug im Ruhrgebiet und einer der längsten im Rheinland. Bereits am Samstag vor Rosenmontag findet im Stadtteil Osterfeld der Kinderkarnevalszug statt. Auch er gehört zu den größten Umzügen des Landes. Rosenmontags findet die kleineren Umzüge in Vondern und Alstaden, der sogenannte „Pöstertreck“ statt.
Des Weiteren findet nun seit mehreren Jahren die Ruhr in Love im Oberhausener OLGA Park statt. Sie ist eine Openair-Technoveranstaltung, bei der über 300 Dj's auf 35 Floors auflegen. Die jährlich im Sommer stattfindende Veranstaltung besuchten im Jahr 2009 über 41.000 Freunde der Elektronischen Tanzmusik.
Der Oberhausener OLGA Park ist weiterhin einmal im Jahr Veranstaltungsfläche von Olgas Rock, einem kostenfreien Rockfestival, was seit 2000 in Oberhausen stattfindet. Das zweitägige Festival lockt mehr als 20.000 Besucher an.
Seit 2015 findet Anfang Dezember das Ruhrpott Metal Meeting statt.
Infrastruktur und Wirtschaft
Die Stadt Oberhausen verdankt ihre Entstehung dem Vorkommen von Erz und Kohle. Spielt das Erz schon wegen seiner mangelhaften Qualität nur eine kurze Rolle in der Stadtgeschichte, sind die Jahre zwischen dem Förderbeginn der Zeche Concordia im Jahr 1851 bis zur Stilllegung der letzten Zeche im Jahr 1992 vom Kohlebergbau und der damit verbundenen stahlerzeugenden und stahlverarbeitenden Industrie geprägt. Den Gründerjahren des Bergbaus in Oberhausen – neben der erwähnten Zeche Concordia, Zeche Roland (1855), Zeche Oberhausen (1858), Zeche Alstaden (1859) folgten als „Großzechen“ die Bergwerke Osterfeld (1879), später im Verbund mit der Zeche Sterkrade (Förderbeginn 1903) und das Bergwerk Jacobi mit einer Kokerei (1913), daneben als kleinere Schachtanlagen die Zechen Vondern und Hugo Haniel, beide schon 1932 während der großen Depression stillgelegt.
Nach dem Zweiten Weltkrieg hatte der Bergbau in Oberhausen wie überall im Ruhrgebiet noch einmal eine kurze Hochkonjunktur, die von 1958 bis zum Beginn der Bergbaukrise mit Absatzschwierigkeiten der Hausbrandzechen dauerte. Danach war der Bergbau eine Krisenbranche, deren Nöte auch an Oberhausen nicht vorbeigingen. Die Stilllegung der Zeche Concordia (1968) erzielte noch ein bundesweites Echo, während die Stilllegungen der Zechen Alstaden (1972), Jacobi (1974, Kokerei 1986) und Osterfeld (1992) fast ohne publizistische Beachtung blieben. Die Stadt Oberhausen weist heute eine – auch im Vergleich zu den übrigen Ruhrgebietsstädten – hohe Pro-Kopf-Verschuldung auf. Im Jahre 2016 erbrachte Oberhausen, innerhalb der Stadtgrenzen, ein Bruttoinlandsprodukt (BIP) von 5,864 Milliarden €. Das BIP pro Kopf lag im selben Jahr bei 27.769 € (Nordrhein-Westfalen: 37.416 €/ Deutschland 38.180 €), was der fünftniedrigste Wert unter allen kreisfreien Städten in Deutschland ist. In der Stadt gab es 2016 ca. 94.100 erwerbstätige Personen. Die Arbeitslosenquote lag im Dezember 2018 bei 9,7 % und damit deutlich über dem Durchschnitt von Nordrhein-Westfalen mit 6,4 %.
Der zweite Schauplatz des industriellen Niedergangs der Stadt, die Stahlindustrie, hier vor allem Stahlerzeugung, ging spektakulärer vor sich. Nach der Übernahme der Hüttenwerke Oberhausen AG, die nach dem Zweiten Weltkrieg aus dem GHH-Konzern zwangsweise ausgegliedert wurde, durch den Thyssen-Konzern wurden bis auf ein noch bis 1997 laufendes Elektrostahlwerk (Sprengung der Gebäude: 2006) alle Produktionsstätten stillgelegt, so dass auch hier über 13.000 Arbeitsplätze verloren gingen. Lediglich die Stahlverarbeitung – extrem spezialisiert auf exportgängige Produkte – hat sich in Oberhausen-Sterkrade bei der nunmehr zum MAN-Konzern gehörenden „Rest-GHH“ gehalten und bietet dort noch rund 1.500 Arbeitsplätze.
Die Arbeitsplatzverluste bei Kohle, Stahl und verarbeitendem Gewerbe allgemein – meist als per saldo Zahl mit 40.000 angegeben – liegen in der Realität weit höher. Wird etwa das Jahr 1960 als Vergleichszeitpunkt genommen, so differieren die Arbeitsplatzzahlen um 53.000.
Mit der Neuen Mitte Oberhausen hat die Stadt erfolgreich den Strukturwandel umgesetzt und sich als Einkaufs- und Freizeitstandort bundesweit etabliert. Die Arbeitsplatzgewinne in diesem Segment belaufen sich nach Studien des Amts für Statistik und Wahlen auf etwa 10.000 sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze. Rund 25 Millionen Kunden zählt allein das Einkaufszentrum CentrO, weitere elf Millionen Tagestouristen besuchen die übrigen Freizeiteinrichtungen, wie Großaquarium, Spaßbad oder Veranstaltungsarena. Weitere touristische Schwerpunkte sind Großveranstaltungen, wie etwa der größte Karnevalszug im Ruhrgebiet, der am Tulpensonntag durch Alt-Oberhausen zieht, die Sterkrader Fronleichnamskirmes, die mit rund 400 Schaustellern zu den größten Kirmesveranstaltungen in Deutschland zählt oder der bekannte Weihnachtsmarkt am Centro. Die zur Bewertung eines Einzelhandelsstandortes relevante Zentralitätskennziffer liegt inzwischen bei knapp 145. Oberhausen hat sich innerhalb der letzten Jahre durch das Centro, aber auch durch die Einkaufscenter Sterkrader Tor und Bero Oberhausen als die Einkaufsstadt des Ruhrgebiets etabliert. Zu Weihnachten steuern pro Tag weit über 200 Reisebusse die Stadt Oberhausen an. Oberhausen gehört bei der Gewerbesteuer als auch bei der Grundsteuer zu den Städten mit den höchsten kommunalen Steuern in Deutschland.
Im Liricher Industriegebiet Zum Eisenhammer haben sich im Laufe der Jahre Unternehmen aus dem Bereich der Logistik, der Textilindustrie, der Haushaltswaren sowie der Freizeitbranche etabliert.
Bildung und Forschung
Oberhausen ist Deutschlands bevölkerungsreichste Stadt ohne Universität oder Fachhochschule.
Einige Studiengänge und Weiterbildungsmöglichkeiten in den Fächern Soziale Arbeit, Sozialpädagogik, Medizin, Psychologie, Pflegemanagement und Gesundheitswissenschaft bietet das gemeinnützige Bildungsunternehmen Medikon GmbH an. Vor Ort vertreten ist auch die Verwaltungs- und Wirtschafts-Akademie Oberhausen-Mülheim.
Die Stadt verfügt über das komplette Angebot an allgemeinbildenden und beruflichen Schulen:
fünf Gymnasien:
Bertha-von-Suttner-Gymnasium
Elsa-Brändström-Gymnasium
Sophie-Scholl-Gymnasium
Freiherr-vom-Stein-Gymnasium
Heinrich-Heine-Gymnasium
vier Gesamtschulen
Heinrich-Böll-Gesamtschule
Fasia-Jansen-Gesamtschule, ehemals Gesamtschule Alt-Oberhausen
Gesamtschule Osterfeld
Gesamtschule Weierheide
drei Berufskollegs
Hans-Sachs-Berufskolleg
Hans-Böckler-Berufskolleg
Käthe-Kollwitz-Berufskolleg
drei Realschulen
Anne-Frank-Realschule
Friedrich-Ebert-Realschule
Theodor-Heuss-Realschule
Ferner gibt es in Oberhausen eine Volkshochschule, eine Mal- und Musikschule sowie ein Studienseminar für Lehrämter an Schulen.
Oberhausen ist Sitz der Deutschen Hörfunkakademie. Ebenfalls in Oberhausen angesiedelt ist das Fraunhofer-Institut für Umwelt-, Sicherheits- und Energietechnik (UMSICHT).
Medien
Der Regionalsender Antenne Ruhr versorgte die beiden Städte Oberhausen und Mülheim an der Ruhr seit dem 1. September 1990 mit Unterhaltung und regionalen Neuigkeiten. Am 5. August 2007 wurde der Sender aufgeteilt und strahlt jetzt als Radio Oberhausen und als Radio Mülheim aus.
Die Radio NRW GmbH auf der Essener Straße in Oberhausen liefert das Rahmenprogramm für sämtliche Lokalradios in NRW.
Die Lotta. Antifaschistische Zeitung aus NRW, Rheinland-Pfalz und Hessen hat ihre Kontaktadresse in Oberhausen.
Verkehr
Luftverkehr
An den nationalen und internationalen Luftverkehr ist Oberhausen über den Flughafen Düsseldorf, den Flughafen Köln/Bonn, den Flughafen Münster/Osnabrück, den Flughafen Dortmund und den Flughafen Niederrhein angeschlossen. Außerdem gibt es in der Nähe noch die Verkehrslandeplätze Essen/Mülheim und Dinslaken/Schwarze Heide.
Schienen- und Busverkehr
Bereits 1847 wurde Oberhausen durch die Cöln-Mindener Eisenbahn an das Eisenbahnnetz angeschlossen. Im Schienenpersonenfernverkehr verkehren ab Oberhausen Hbf der ICE International Amsterdam Centraal – Utrecht Centraal – Köln Hbf – Frankfurt (Main) Hbf / Basel SBB und die IC-Linie Norddeich Mole–Münster–Köln–Koblenz. Ein Zugpaar ist zeitweise nach Konstanz verlängert. Bis 2016 hielten in Oberhausen die CityNightLine-Züge „Pegasus“ Amsterdam Centraal – Karlsruhe Hbf – Zürich HB und „Pollux“ Amsterdam Centraal – München Hbf. Von Dezember 2006 bis Dezember 2007 bzw. ab Dezember 2010 verkehrte zusätzlich der ICE von Oberhausen Hbf über Duisburg, Düsseldorf, Köln Hbf, Frankfurt Flughafen, Würzburg, Nürnberg und Ingolstadt nach München, seinerzeit als Ersatz für die aufgrund einer Baustelle aufgehobene Verbindung ab Essen Hbf. Im Güterverkehrsbereich existieren in Oberhausen der große Rangierbahnhof Oberhausen-Osterfeld und der Verschiebebahnhof Oberhausen West.
Im Schienenpersonennahverkehr (SPNV) verkehren der Rhein-Emscher-Express (RE 3), der Rhein-Express (RE 5), der grenzquerende Rhein-IJssel-Express (RE 19), Fossa-Emscher-Express (RE 44), Wupper-Lippe-Express (RE 49) sowie die Regionalbahn-Linien 32, 33, 35, 36 und die S-Bahn-Linie 3. Außer dem Hauptbahnhof gibt es drei weitere Bahnhöfe bzw. Haltepunkte; dies sind: Sterkrade, Holten und Osterfeld Süd.
Durchgeführt wird der Schienenpersonennahverkehr (SPNV) von der DB Regio NRW, der VIAS Rail, der Eurobahn und der NordWestBahn GmbH. Den weiteren öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) in Oberhausen führen neben der STOAG als örtlichem Unternehmen vier weitere Nahverkehrsbetriebe aus: die DVG, die Ruhrbahn, die NIAG und die Vestischen Straßenbahnen GmbH.
Die ÖPNV-Trasse Oberhausen ist eine Straßenbahn- und Bustrasse, welche im Zuge des Neubaus des CentrO gebaut wurde. Auf ihr verkehrt neben einer Reihe von Buslinien wieder die Straßenbahn-Linie 112 von Mülheim an der Ruhr über den Hauptbahnhof bis zum Bahnhof Sterkrade. Ende Oktober 2004 wurde diese Strecke um einen 800 m langen Abschnitt zum Sterkrader Neumarkt verlängert, welcher in Gegenrichtung von Linienbussen mitbenutzt werden kann. Von 2015 bis 2018 sollte die ÖPNV-Trasse um einen Ast zur Stadtgrenze Essen ergänzt werden, um die Linie 105 der Straßenbahn Essen von ihrer Endstelle an der Grenze dieser Städte bis nach Oberhausen zu verlängern. Es war beabsichtigt, so eine attraktive Verbindung zwischen Oberhausen und Essen zu schaffen. Trotz großer Fürsprache von Land, IHK, RVR, VRR und anderen Institutionen wurden diese Planungen durch einen Ratsbürgerentscheid am 8. März 2015 vorläufig gestoppt. Die Pläne sind jedoch im November 2015 in den ÖPNV-Bedarfsplan des Landes angemeldet worden. Außerdem ist das Infrastrukturprojekt im Nahverkehrsplan 2017 fortgeschrieben worden.
Für den gesamten ÖPNV gelten der Tarif des Verkehrsverbundes Rhein-Ruhr (VRR) und tarifraumüberschreitend der NRW-Tarif.
Straße
Das Autobahnkreuz Oberhausen im Norden der Stadt zählt zu den wichtigsten Autobahnknoten in Nordrhein-Westfalen, weil sich dort die beiden europäischen Magistralen Niederlande – Frankfurt am Main – Österreich – Südosteuropa und Belgien – Deutschland – Osteuropa kreuzen. Neben dem Autobahnkreuz Oberhausen gibt es in Oberhausen noch das Autobahnkreuz Oberhausen-West sowie nahe dem Stadtteil Alstaden das Autobahnkreuz Kaiserberg.
Oberhausen ist über die nachfolgend aufgeführten Bundesautobahnen und Anschlussstellen (AS) an das Fernstraßennetz angebunden. Die Abschnitte durch Oberhausen sind kursiv dargestellt.
Durch das Stadtgebiet von Oberhausen führen die Bundesstraßen B 8, B 223 und B 231. Seit August 2008 wurde die L 21 zwischen der A 3 AS Dinslaken-Süd/OB-Schmachtendorf und der A 59 AS Dinslaken-Hiesfeld zur B 8 hochgestuft, so dass der Oberhausener Norden nunmehr auch an das Bundesstraßennetz angeschlossen ist.
Radverkehr
Oberhausen ist seit 2001 Mitglied in der Arbeitsgemeinschaft fahrradfreundliche Städte und Gemeinden in Nordrhein-Westfalen. Die Stadt erzielte 2020 beim Fahrradklimatest des ADFC unter 26 Städten von 200.000 bis 500.000 Einwohnern mit einer Gesamtbewertung von 4,01 den zwölften Platz. Wie auch an anderer Stelle im Ruhrgebiet wurden in Oberhausen mehrere Trassen ehemaliger Zechenbahnen in Rad- und Wanderwege umgewandelt. Diese ermöglichen fast kreuzungsfreie Radtouren von der Emscherzone im Kern der Stadt bis hinaus in die Wälder der Kirchheller Heide nördlich von Oberhausen.
Wasser
Der Rhein-Herne-Kanal verläuft von Ost nach West größtenteils parallel zur Emscher. Im Bereich der Neuen Mitte Oberhausen liegt am Rhein-Herne-Kanal mit der Marina Oberhausen ein neuer Freizeit- und Sportboothafen. Am Rhein-Herne-Kanal gibt es zudem weitere Häfen und Anlegestellen für die Binnenschifffahrt.
Ansässige Unternehmen
Ein großer Arbeitgeber mit etwa 1.800 Mitarbeitern (auf rund 1.500 reduziert bis 2023) am Standort Oberhausen ist der Maschinenbauer MAN Energy Solutions SE, vormals ein Teil der MAN-Gruppe, hervorgegangen aus der ehemaligen Gutehoffnungshütte in Sterkrade. Die Firma, die das ehemalige Werk III der GHH benutzt, ist inzwischen eine direkte Tochter der Volkswagen AG. Am Standort in Sterkrade werden Kompressoren sowie Dampf- und Gasturbinen produziert.
Die 1995 aus der MAN-GHH hervorgegangene GHH Radsatz ist im ehemaligen Werk II der GHH in der Nähe der Sterkrader Innenstadt ansässig. Sie beschäftigt rund 270 Mitarbeiter und stellt Radsätze her. 2014 fusionierte sie mit der tschechischen Bonatrans-Gruppe.
Bei OQ Chemicals in Oberhausen-Holten sind rund 900 Mitarbeiter (auf rund 800 reduziert bis 2023) in sieben Standortgesellschaften beschäftigt. Die Firmenzentrale wurde 2017 aufgrund der günstigeren Gewerbesteuer nach Monheim verlegt, wodurch etwa 100 Arbeitsplätze wegfielen. OQ ging aus der 1928 gegründeten Ruhrchemie hervor.
Das Katholische Klinikum Oberhausen betrieb drei Krankenhäuser (St. Josef, St. Clemens und St. Marien), eine Hospiz und ein Pflegezentrum und hatte 2018 etwa 2.370 Mitarbeiter. Nach der Insolvenz im Jahre 2019 wurde es von der Ameos-Gruppe übernommen. Ameos behält zunächst die Mitarbeiter und die Standorte.
Die Stadtverwaltung beschäftigte (2012) 2.122 Mitarbeiter.
Die Bäckerei Horsthemke ist eine der größten Bäckereien in ganz Nordrhein-Westfalen. Schon seit 1895 liegt der Stammsitz des Unternehmens in Oberhausen. Insgesamt werden rund 1400 Mitarbeiter beschäftigt.
Die Stadtwerke Oberhausen sind für den ÖPNV der Stadt zuständig und haben etwa 400 Mitarbeiter.
Im Jahr 2004 eröffnete der Lebensmittelgroßhändler Lekkerland im Waldteich-Gelände ein Logistikzentrum. Hier sind rund 500 Mitarbeiter beschäftigt. Die Firma beliefert vor allem Kioske und Tankstellen.
Die Firma Lenord+Bauer fertigte bis 2012 hier Sensoren, Servomotoren und elektronische Steuerungselemente für eine Vielzahl von Industriezweigen. Sie ist Marktführer im Bereich Sensoren für Hochgeschwindigkeitsspindel. Die Produktion zog 2012 nach Gladbeck, Firmenzentrale und Forschung sind weiterhin in Königshardt. Sie beschäftigt etwa 100 Mitarbeiter in Oberhausen; 150 Mitarbeiter sind bei der Produktion in Gladbeck beschäftigt.
Kodi, der größte Haushaltswaren-Discounter Deutschlands, ist seit der Gründung 1981 in Oberhausen ansässig. Die Firmenzentrale, das Zentrallager und der Online-Shop befinden sich im Gewerbegebiet Zum Eisenhammer in Lirich. Dort sind etwa 150 Mitarbeiter beschäftigt.
Ebenfalls in Lirich befindet sich die Firma Intocast AG. Das Unternehmen geht aus der 1970 gegründeten Fabrik für feuerfeste Steine der Wülfrather Feuerfest und Dolomitwerke hervor, die 2008 schließlich vom brasilianischen Feuerfest-Produzenten Magnesita übernommen wurde. 2017 kam das Werk nach der Fusion von RHI und Magnesita schließlich zur Intocast AG. Im Werk sind 110 (2009) Mitarbeiter beschäftigt.
Die GMVA Niederrhein betreibt seit 1972 ein Müllheizkraftwerk in Lirich. Dafür wurde das stillgelegte Kraftwerk der Zeche Concordia umgerüstet. Sie bietet etwa 150 Arbeitsplätze.
Die Firma HKO Isolier- und Textiltechnik fertigt seit 1984 feuerfeste Garne, Schutzkleidungen und Hochtemperaturdichtungen. Es sind etwa 100 Mitarbeiter beschäftigt.
Die Firma Franken Apparatebau ist auf die Fertigung von Apparaten und Rohrleitungen für Unternehmen unterschiedlicher Branchen wie Chemie, Schwefelsäure-, Stahl- und Nichteisen-Industrie oder Anlagenbau spezialisiert. Sie bietet etwa 90 Arbeitsplätze.
Seit 1889 besteht die Firma Klinger Kempchen GmbH, die u. a. Dichtungen herstellt und etwa 220 Mitarbeiter beschäftigt. Früher wurden auch Riemen für Förder- und Dampfmaschinen sowie auch „Arschleder“ für die vielen Zechen im Ruhrgebiet produziert. Die Firma wurde 2004 von der Klinger-Gruppe aus Österreich übernommen und zog 2007 vom Werk an der Alleestraße zum Waldteich-Gelände.
1984–2005 war hier die Elektrikfirma BEKA ansässig, nach Insolvenz und Neugründung 2005 jetzt eltec. Sie stellt u. a. Schaltanlagen her und bietet auch entsprechende Dienstleistungen an. Sie hat etwa 20 Mitarbeiter.
Die Firma Hilti hat seit 1984 ihr Hauptlager für den Bereich Deutschland und Benelux-Länder in Oberhausen. Hier sind etwa 100 Mitarbeiter beschäftigt.
Neben Handwerk und Industrie, haben einige größere Agenturen, wie die bgp e.media, Contact, move:elevator, Online-Genies und Dogfish Studios, ihren Sitz in Oberhausen.
Das Landesamt für Datenverarbeitung und Statistik Nordrhein-Westfalen unterhält in Oberhausen eine Außenstelle mit rund 150 Beschäftigten, deren Aufgabenschwerpunkt die Aufbereitung amtlicher Statistiken ist.
Seit 1970 in Oberhausen ansässig ist der Assoverlag, der heute vorrangig Belletristik, Anthologien, Biografien und Sachbücher aus der Region veröffentlicht. Das bei Asso erschienene politische Volksliederbuch – Lieder gegen den Tritt – war lange Zeit Kult in linken Studentenkreisen. Im Jahr 1996 wurde der Athena-Verlag gegründet, der vor allem geistes- und gesellschaftswissenschaftliche Fachbücher veröffentlicht. 2011 wurde der Verlag Nicole Schmenk gegründet, der sich auf Bandbiographien und Forschungen aus dem Bereich Heavy Metal sowie auf Literatur aus NRW, Fantasy und Geschichtswissenschaft spezialisiert hat.
Ehemalige Unternehmen
Die GHH Fahrzeuge ging 1995 aus der MAN-GHH hervor und stellte hier Muldenkipper, Flugzeugschlepper und Fahrlader her. 2007 zog die Firma nach Gelsenkirchen.
Die GHH Schraubenkompressoren ging ebenfalls 1995 aus der MAN-GHH hervor und stellte hier mit ungefähr 300 Mitarbeitern Schraubenverdichter her. 1998 vom amerikanischen Ingersoll Rand übernommen, wurde das Werk 2019 geschlossen.
Ein anderer großer Arbeitgeber war der Oberhausener Anlagenbauer Babcock Borsig, welches im Jahr 2002 Insolvenz anmeldete. Vormals Gründungsmitglied des DAX, geriet das Unternehmen in den 90er-Jahren in eine schwere Krise. Trotz Sanierungsmaßnahmen und Bemühungen des Bundes gelang es nicht mehr, das Unternehmen vor der Insolvenz zu retten. Im Stammwerk Oberhausen waren im Jahre 2002 etwa 2.500 Mitarbeiter beschäftigt, hier wurden Dampfkessel sowie Kessel- und Kraftwerkszubehör produziert.
Bis 2017 besaß die Firma Dresser-Rand in Buschhausen ein Turbinenwerk. Die Firma war 1956 als Kuhnert Turbinen gegründet worden und wurde 1970 von der amerikanischen Firma Terry Steam Turbine übernommen. Aus ihr ging dann die Dresser-Rand hervor, die ihrerseits 2015 von Siemens übernommen wurde. Siemens beschloss die Verlagerung ins Ausland und schloss das Werk. Es fielen rund 100 Arbeitsplätze weg.
1758–1986 Gutehoffnungshütte (wurde 1986 als MAN neu strukturiert, der Firmensitz nach München verlegt)
1824–1975 Drahtseilwerke Hermann Kleinholz (auf dem ehem. Fabrikgelände stand später die Möbelstadt Rück)
1850–1968 Concordia AG (seit 1926 Tochter der Schering AG)
1855–1981 AG des Altenbergs (heute Sitz des LVR-Industriemuseums)
1857–1984 Gußstahlwerk Hermann Sellerbeck
1868–1909 Franz Hohmann Porzellanfabrik
1870–1994 Ludwigshütte (Eisengießerei)
1872–1974 Grillo-Werke (Zinkwalzwerk)
1877–1979 Oberhausener Glasfabrik Funke & Becker (Fabrikanlage 1981 abgebrochen)
1890–198? Brotfabrik Funke-Kaiser
1903–1966 Rheinische Polstermöbelwerke Carl Hemmers (Einstellung der Produktion)
1953–1997 Hüttenwerke Oberhausen AG, später Thyssen Niederrhein AG
1956–2017 Dresser-Rand
1968–2005 RAG Aktiengesellschaft (zuletzt Bergwerk Lohberg-Osterfeld)
1995–2007 GHH Fahrzeuge
1995–2019 GHH RAND
2004–2013 Babcock Gießerei (aus der insolventen Babcock Borsig hervorgegangen)
2004–2019 Babcock Production Solutions (aus der insolventen Babcock Borsig hervorgegangen)
Persönlichkeiten
Ehrenbürger
Die Stadt Oberhausen hat folgenden Personen das Ehrenbürgerrecht verliehen. Die Auflistung erfolgt chronologisch nach Verleihungsdatum.
1893: Friedrich Bellingrodt, Oberhausener Apotheker
1895: Otto von Bismarck, Reichskanzler
1899: Carl Lueg, Vorstandsvorsitzender der GHH
1908: Gottfried Ziegler, Vorstandsvorsitzender der GHH
1930: Berthold Otto Havenstein, Oberbürgermeister von 1906 bis 1930
1933: Paul von Hindenburg, Generalfeldmarschall und Reichspräsident (1945 aberkannt)
1933: Adolf Hitler, Reichskanzler (1945 aberkannt)
1933: Carl Steinhauer, Musikdirektor
1938: Paul Reusch, Vorstandsvorsitzender der GHH
1945: Hermann Kellermann, Vorstandsvorsitzender der GHH (1947 zurückgegeben)
1956: Gerhard Wirtz, Erzbischöflicher Rat und Ehrendechant
1998: Friedhelm van den Mond, Oberbürgermeister von 1979 bis 1997
Fiktive Personen
Fiktive Personen, die in Oberhausen geboren wurden:
Hermann Josef Matula (* 18. März 1949), Hauptcharakter in der ZDF-Krimiserie Ein Fall für zwei
Literatur
Monografien
Abenteuer Industriestadt Oberhausen 1874–1999. Beiträge zur Stadtgeschichte, hrsg. von der Stadt Oberhausen. Laufen, Oberhausen 2001, ISBN 3-87468-172-6.
Walter Brune, Holger Pump-Uhlmann: Centro Oberhausen – Die verschobene Stadtmitte. Ein Beispiel verfehlter Stadtplanung. IZ, Wiesbaden 2009, ISBN 978-3-940219-09-1.
Vera Bücker: Niedergang der Volkskirchen – was kommt danach? Kirchlichkeit und Image der Kirchen in einer Ruhrgebietsstadt. LIT-Verlag, Münster 2005, ISBN 3-8258-8986-6.
Magnus Dellwig / Peter Langer (Hrsg.): Oberhausen. Eine Stadtgeschichte im Ruhrgebiet. 4 Bde. Aschendorff, Münster 2012. ISBN 978-3-402-12960-9.
Christoph Eger: Das fränkische Gräberfeld an der Weseler Straße und die frühmittelalterliche Besiedlung im Stadtgebiet von Oberhausen, in: Otto Dickau und Christoph Eger (Hrsg.): Emscher - Beiträge zur Archäologie einer Flusslandschaft im Ruhrgebiet, Münster 2014, S. 105–137. (academia.edu)
Günter Hegermann: Steinkohlenbergbau in Oberhausen 1847–1992. Laufen, Oberhausen 1995. ISBN 3-87468-128-9.
Erich Keyser (Hrsg.): Rheinisches Städtebuch. (Deutsches Städtebuch – Handbuch städtischer Geschichte, Bd. III,3) Kohlhammer, Stuttgart 1956, S. 328–336.
Werner Krötz: Die Industriestadt Oberhausen. (Geschichtlicher Atlas der Rheinlande, Beiheft IV/5) Rheinland-Verlag, Köln 1985. ISBN 3-7927-0876-0.
Bernhard Mensch und Peter Pachnicke (Hrsg.): Park-Stadt Oberhausen. Wiedergeburt eines historischen Stadtzentrums moderner Architektur. Fotografien von Thomas Wolf. Ludwiggalerie Schloss Oberhausen 2004. ISBN 3-932236-14-9.
Tim Michalak: Zwischen Gasometer und CentrO. Entdeckertouren. Bachem, Köln 2007. ISBN 3-7616-2141-8.
Fritz Mogs: Die sozialgeschichtliche Entwicklung der Stadt Oberhausen zwischen 1850 und 1933. Universität Köln 1956 (Dissertation)
Thomas Pawlowski-Grütz: Auswahlbibliographie zur Oberhausener Stadtgeschichte. Laufen, Oberhausen 1999. ISBN 3-87468-152-1.
Heinz Reif: Die verspätete Stadt. Industrialisierung, städtischer Raum und Politik in Oberhausen 1846–1929. 2 Bde. Rheinland-Verlag, Köln 1992/1993. ISBN 3-7927-1316-0.
Holger Schmenk: Von der Altlast zur Industriekultur. Der Strukturwandel im Ruhrgebiet am Beispiel der Zinkfabrik Altenberg, Henselowsky Boschmann, Bottrop 2009. ISBN 978-3-922750-97-0.
Jeanette Schmitz und Wolfgang Volz (Hrsg.): Gasometer Oberhausen, Klartext-Verlag, Essen 2004. ISBN 3-89861-341-0.
Wilhelm Seipp: Oberhausener Heimatbuch, hrsg. v. d. Stadt Oberhausen 1964.
Periodika
Beiträge zur Geschichte der Stadt Oberhausen. 1963 –
Schichtwechsel – Journal für die Geschichte Oberhausens. Hrsg. von der Geschichtswerkstatt Oberhausen e. V. 1.2006, April –
Ursprünge und Entwicklungen der Stadt Oberhausen. Hrsg. von der Historischen Gesellschaft Oberhausen e. V. Bd. 1.1991
Filme
Bilderbuch Deutschland: Oberhausen – Wiege des Ruhrgebiets Dokumentation, 45 Min. Ein Film von Tim Lienhard, Produktion: WDR, 1999.
Bilderbuch Deutschland: Oberhausen. Dokumentation, 45 Min. Ein Film von Tim Lienhard, Produktion: WDR, Erstsendung: 26. November 2006.
Dokumentarfilme über das Zuwanderer- und Kulturleben in Oberhausen
Dzień dobry, Deutschland (geschildert wurde u. a. das Ehepaar Maria und Czesław Gołębiewski, die Besitzer des Restaurants und Kulturclubs Gdańska). Regie: Barbara Stupp, Deutschland (WDR) 2012, 45 Minuten.
Przystanek Gdańska (poln. Haltestelle Gdańska). Regie: Arkadiusz Gołębiewski und Rafał Geremek, Polen 2009, 28 Minuten.
Siehe auch
Jüdische Kulturtage im Rheinland Die örtliche Gemeinde ist in Zusammenarbeit mit den Nachbargemeinden an dem Programm beteiligt (2002, März 2007)
Liste der Straßen in Oberhausen
Historische Stadtpläne von Oberhausen: Shell Stadtkarte (1934/35) und Falkplan (1958) - Landkartenarchiv.de
Weblinks
Website der Stadt Oberhausen
Einzelnachweise
Ort in Nordrhein-Westfalen
Kreisfreie Stadt in Nordrhein-Westfalen
Gemeinde in Nordrhein-Westfalen
Rheinland
Stadtrechtsverleihung 1874
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Q2838
| 118.603963 |
1393536
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https://de.wikipedia.org/wiki/Urinsekten
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Urinsekten
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Urinsekten oder Flügellose Insekten (Apterygota) ist die traditionelle zusammenfassende Bezeichnung für Fischchen, Felsenspringer, Springschwänze, Doppelschwänze und Beintastler. Diese Zusammenfassung erfolgte aufgrund von ursprünglichen Merkmalen wie der direkten Entwicklung, dem Aufbau der Mundwerkzeuge und Extremitäten und vor allem aufgrund der fehlenden Flügel, die im wissenschaftlichen Namen Apterygota („Flügellose“) zum Ausdruck kommt. Im Gegensatz dazu gibt es die Fluginsekten (Pterygota), die den weitaus größeren Teil der Insektenfauna stellen. Die Zusammenfassung als Urinsekten wurde als Paraphylum erkannt und ist entsprechend heute in der Systematik nicht mehr im Gebrauch.
Heutige Systematik
Von den ehemaligen Urinsekten werden heute häufig nur noch die Fischchen und Felsenspringer zu den Insekten gezählt. Hier bilden sie gelegentlich eine eigene Unterklasse parallel zu den Fluginsekten, die alle anderen Insekten umfasst. Phylogenetisch stellen allerdings die Fischchen (Zygentoma) aufgrund ihrer an zwei Gelenkkugeln verankerten Mandibel (dikondyle Mandibel) die Schwestergruppe der Fluginsekten (Pterygota) dar. Beide Gruppen zusammen werden als Dicondylia bezeichnet. Die Felsenspringer bilden mit allen gemeinsam wiederum die Ectognatha (Freikiefler).
Die Springschwänze, Doppelschwänze und Beintastler sind eigenständige Klassen der Überklasse Sechsfüßer, zusammengefasst werden sie in das Taxon Sackkiefler (Entognatha).
Literatur
Bernhard Klausnitzer: Insecta (Hexapoda), Insekten. In: Wilfried Westheide, Reinhard Rieger (Hrsg.): Spezielle Zoologie. Teil 1: Einzeller und Wirbellose Tiere. Gustav Fischer, Stuttgart u. a. 1996, ISBN 3-437-20515-3, S. 619–627.
Weblinks
Alternatives Taxon (Insekt)
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Q276532
| 94.808516 |
104739
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https://de.wikipedia.org/wiki/Amtszeit
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Amtszeit
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Als Amtszeit oder Amtsperiode wird diejenige Zeitspanne bezeichnet, in der ein gewähltes oder zugewiesenes Amt durch eine Person ausgefüllt wird. Nach Ablauf der Amtszeit ist das Amt neu- oder wiederzubesetzen. Die Amtszeit ist auf das römischrechtliche Institut der Annuität zurückzuführen. Die Begrenzung der Ausübungsdauer eines hohen staatlichen Amtes wurde als Teil der Machtzernierung eingeführt. Mit dem Untergang der römischen Republik verschwanden zunächst auch die Amtszeiten. Die Posten wurden auf unbestimmte Dauer auf des Kaisers Gnaden vergeben und wurden nur durch Tod oder Weisung des Herrschers beendet. Erst mit der Etablierung demokratischer Traditionen durch die französische Revolution wurde im Zuge der Demokratisierung die Amtszeit ein bestimmendes Bild des Parlamentarismus. Die Begrenzung der Amtszeit ist daher Ausdruck des Demokratieprinzips.
Weblinks
Siehe auch
Legislaturperiode
Politikwissenschaft
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Q524572
| 105.042217 |
216944
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https://de.wikipedia.org/wiki/Tscherkassy
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Tscherkassy
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Tscherkassy (; ) ist eine Stadt mit 286.000 Einwohnern im Zentrum der Ukraine.
Die Stadt verfügt über eine staatliche und eine technische Universität.
Geografie
Tscherkassy liegt südöstlich des Tscherkassy-Waldes etwa 160 km südöstlich von Kiew am Südufer des zum Krementschuker Stausee angestauten Dnepr. Tscherkassy ist administratives, ökonomisches und kulturelles Zentrum der Oblast Tscherkassy sowie auch das Zentrum des gleichnamigen Rajons Tscherkassy.
Geschichte
Tscherkassy wurde erstmals 1394 urkundlich als Stadt erwähnt. Im Zweiten Weltkrieg tobten um Tscherkassy im Winter 1943–1944 im Rahmen der Dnepr-Karpaten-Operation der Roten Armee schwere Kämpfe. Die Stadt wurde am 14. Dezember 1943 von Einheiten der sowjetischen 52. Armee eingenommen. Ende Januar bis Mitte Februar 1944 kam es westlich der Stadt im Raum Korsun zur Kesselschlacht von Tscherkassy. Von den durch die Rote Armee eingeschlossenen Truppen der Wehrmacht (u. a. die SS-Panzer-Division „Wiking“) wurden 21.000 Mann getötet oder gerieten in Gefangenschaft. Den Übrigen etwa 35.000 Mann gelang der Durchbruch nach Westen.
Während des Baus der Druschba-Trasse in den Jahren 1975 bis 1986 war Tscherkassy Sitz der Baudirektion für den von der DDR übernommenen Abschnitt von Krementschuk bis Bar.Die Stadt besteht aus zwei Stadtrajonen (Rajon Prydnipro und Rajon Sosniw) sowie der Siedlung Orschanez ().
Verkehr
Tscherkassy liegt an der Bahnlinie Moskau–Odessa, die nördlich der Stadt auf einer etwa 12 km langen Auto- und Eisenbahnüberführung den Krementschuker Stausee überquert. Der Nahverkehr erfolgt hauptsächlich mit einem 1965 eröffneten städtischen O-Busnetz mit derzeit 10 Linien sowie privaten Busunternehmen auf städtisch lizenzierten Linien.
Söhne und Töchter der Stadt
Ippolit Djakow (1865–1934), Oberbürgermeister Kiews
Wiktor Samirailo (1868–1939), Maler, Buchillustrator und Bühnenbildner
Moissei Urizki (1873–1918), bolschewistischer Revolutionär und Politiker
Mosche Litwakow (1875/80–1939), russisch-jüdischer Schriftsteller, Herausgeber, Literaturkritiker und -historiker
Lazar Weiner (1897–1982), US-amerikanischer Komponist und Chorleiter
Louis Krasner (1903–1995), Geiger und Musikpädagoge
Semen Polonskyj (1933–2020), ukrainisch-kanadischer Handballspieler und -trainer
Wolodymyr Chandohij (* 1953), Diplomat, kommissarischer Außenminister der Ukraine
Serhij Kotscherhin (* 1953), Handballspieler
Tetjana Horb (* 1965), deutsch-ukrainische Handballspielerin
Vitalij Kowaljow (* 1968), Opernsänger
Andrij Maksymenko (* 1969), Schachmeister
Iryna Heraschtschenko (* 1971), Journalistin und Politikerin
Anastassija Udalzowa (* 1978), russische Sozialistin und oppositionelle Politikerin
Irena Karpa (* 1980), Schriftstellerin, Journalistin, Sängerin, Schauspielerin und Fernsehmoderatorin
Olena Choloscha (* 1982), Hochspringerin
Valentin Demjanenko (* 1983), aserbaidschanisch-ukrainischer Kanute
Artem Tschech (* 1985), ukrainischer Schriftsteller
Jaroslaw Schmudenko (* 1988), Tischtennisspieler
Oleksandr Skitschko (* 1991), Fernsehmoderator, Komiker und Schauspieler
Serhij Kulisch (* 1993), Sportschütze
Danylo Danylenko (* 1994), Leichtathlet
Artem Dowbyk (* 1997), Fußballspieler
Witalij Mykolenko (* 1999), Fußballspieler
Illja Kowtun (* 2003), Turner
Städtepartnerschaften
Tscherkassy unterhält folgende Städtepartnerschaften
– Sumqayıt
– Stadtbezirk Wanzhou der Stadt Chongqing, Volksrepublik China
– Bydgoszcz in Polen
Weblinks
city information portal – Stadtinformation (in Englisch)
Einzelnachweise
Ort in der Oblast Tscherkassy
Hochschul- oder Universitätsstadt in der Ukraine
Ort am Dnepr
Hauptstadt einer Oblast in der Ukraine
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Q157055
| 90.388161 |
431762
|
https://de.wikipedia.org/wiki/Gouvernement
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Gouvernement
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Ein Gouvernement ist ein Gebiet, das von einem Gouverneur als oberstem Beamten verwaltet wird. Der Begriff wird im Deutschen häufig, aber unzureichend mit Provinz, wegen der Aufgaben des Gouverneurs zutreffender auch mit Bezirk übersetzt. Die vom englischen governorate abgeleitete Bezeichnung Governorat ist sprachlich nicht korrekt.
Deutschland
In Deutschland verwendete man den Begriff Gouvernement:
im Krieg: Gouvernement war die Behörde, die dem Oberbefehlshaber einer großen Festung oder der Haupt- und Residenzstadt eines Landes – dem Gouverneur – unterstellt war. Im Mobilmachungsfall wurden besondere Festungsgouvernementsstäbe aufgestellt.
im Fall der besetzten Länder schuf man auf dem feindlichen Territorium ein Generalgouvernement. Es war die Behörde, die im Krieg bei fortschreitender Operation zur Verwaltung eines Landstrichs eingesetzt wurde. Beispiele: Generalgouvernement Warschau, im Jahre 1915 im eroberten Kongresspolen geschaffen; Generalgouvernement (zuvor „Restpolen“), 1939 von Hitler auf polnischem Gebiet errichtet.
die Gouvernements existierten auch in den sogenannten deutschen Schutzgebieten (deutsche Kolonien z. B. Kiautschou). Die Gouverneure waren gleichzeitig oberste Befehlshaber der militärischen Besatzung und Vorgesetzte aller dort angestellten Militärpersonen und Beamten.
Sowohl in Deutschland wie in Russland stand dem Gouverneur der Titel Exzellenz zu.
Russland
Die acht russischen Gouvernements von 1708 und die drei Neugründungen aus den Jahren 1713 bis 1719 wurden im Jahre 1929 abgeschafft.
Siehe: Gouvernement (Russland)
Arabischsprachige Staaten
Die Verwaltungseinheiten in arabischsprachigen Staaten heißen im Deutschen Gouvernement, im Französischen Gouvernorat und im Englischen Governorate. Die arabische Bezeichnung hierfür ist , was oft ungenau mit Provinz übersetzt wird. Dies trifft unter anderem für folgende arabischsprachige Staaten zu:
Ägypten → Liste der Gouvernements von Ägypten
Bahrain → Bahrain#Verwaltungsgliederung
Irak → Liste der Gouvernements des Irak
Jemen → Liste der Gouvernements des Jemen
Jordanien → Liste der Gouvernements Jordaniens
Kuwait → Liste der Gouvernements von Kuwait
Libanon → Liste der Gouvernements des Libanon
Palästinensische Autonomiegebiete → Gouvernements der Palästinensischen Autonomiebehörde
Oman → Liste der Regionen und Distrikte in Oman
Saudi-Arabien → Liste der Provinzen Saudi-Arabiens
Syrien → Liste der Gouvernements von Syrien
Tunesien → Liste der Gouvernements von Tunesien
Alternativ wird in einigen Ländern auch die Bezeichnung wilāya, , verwendet, die Bundesstaat oder Verwaltungsbezirk bedeutet. Leiter der Verwaltung ist der Wālī, der im Deutschen üblicherweise als Gouverneur übersetzt wird. Dies trifft auf folgende arabischsprachige Staaten zu:
Algerien → Wilayat Algeriens
Oman → Wilayat des Oman
Siehe auch
Generalgouvernement und Generalgouvernement (Begriffsklärung)
Provinz
Literatur
Georg von Alten (Hrsg.): Handbuch für Heer und Flotte. Enzyklopädie der Kriegswissenschaften und verwandter Gebiete. Band 4: G–Idstedt. Bong, Berlin u. a. 1912.
губерния. In: Большая Советская Энциклопедия. Band 7: Гоголь–Дебит. Том 7, 3-е издание „Советская энциклопедия“, Москва 1972.
Verwaltungseinheit
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Q1798622
| 102.897643 |
303763
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https://de.wikipedia.org/wiki/Wologda
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Wologda
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Die Stadt Wologda () ist die Gebietshauptstadt der Oblast Wologda am gleichnamigen Fluss. Sie liegt gut 400 km Luftlinie nordnordöstlich der russischen Hauptstadt Moskau und hat Einwohner (Stand ).
Geschichte
Die Gegend wurde vermutlich bereits vor der letzten Eiszeit, vor etwa 25.000 Jahren, besiedelt. Archäologen fanden Zeugnisse aus der älteren Steinzeit.
Vor etwa 2000 Jahren wanderten finnische Stämme in das Gebiet ein. Heute leben allerdings nur noch etwa 6000 Angehörige des Volkes der Wepsen im Nordwesten des Gebietes und in den angrenzenden Verwaltungseinheiten.
Im 5. Jahrhundert setzte die slawische Besiedlung des Gebietes ein, und im 8. Jahrhundert entstanden vermutlich die ersten Städte, nämlich Belosersk, Wologda und Weliki Ustjug. Belosersk als älteste nachgewiesene Stadt wurde 862 erstmals erwähnt, nur wenig später als Nowgorod.
erreichte das Christentum die Gegend, nachdem es bereits seit 988 in Kiew Staatsreligion war. Die Stadt Wologda wurde im Jahre 1147 zum ersten Mal in einer Chronik erwähnt. Ab dem 13. Jahrhundert setzte eine rege missionarische Tätigkeit in Wologda ein. Viele Klöster wurden damals vor allem in Russlands Norden erbaut (unter anderem das Kirillo-Beloserski-Kloster, das größte in Russland), man hoffte, damit auch die nicht-slawische Bevölkerung zum Christentum zu bekehren.
Das Gebiet stand damals noch nicht unter der Herrschaft Wologdas, vielmehr war Belosersk (damals noch Belo Osero) das Zentrum des gleichnamigen Fürstentums in der nördlichen russischen Grenzmark. Während des Mittelalters und auch danach hielt Wologda, wie auch Belosersk, Totma und Kirillow, regen Handelskontakt zur Hanse. Zeugnis dieser Zeit ist die von Albert Benningk gegossene Lübecker Glocke von 1687, welche sich im Glockenturm des Wologder Kreml befindet.
In der Mitte des 15. Jahrhunderts musste Fürst Wassili II. (der Vater von Iwan III.) nach Wologda fliehen. Hier baute er sein Heer neu auf und eroberte Moskau zurück. Unter Iwan dem Schrecklichen gab es Pläne, Wologda zur Hauptstadt zu machen. Infolge dieser Überlegungen erlebte die Stadt einen Aufschwung und wurde großzügig ausgebaut. Iwan schätzte die Ruhe der Stadt und ihre günstige Lage auf dem Wege zum neu gegründeten Archangelsk. Während seiner Herrschaft erhielten Engländer, Holländer und Dänen Konzessionen für Erz- und Salzförderung. Die europäischen Kaufleute residierten vor allem in Weliki Ustjug.
Während der Zeit der Wirren (1598–1613) wurde die Stadt von den Truppen polnischer Interventen erobert und verwüstet, viele ihrer Einwohner kamen ums Leben. Im weiteren Verlauf des 17. Jahrhunderts konnte sich die Stadt unter der Herrschaft der neuen Dynastie Romanow jedoch gut erholen und stieg bis zur Gründung von Sankt Petersburg zur drittgrößten russischen Stadt nach Moskau und Jaroslawl auf. Nach der Gründung von Sankt Petersburg durch Peter den Großen ging die Bedeutung Wologdas allmählich wieder zurück, da die Archangelsk-Handelsroute, der Wologda viel von seinem Wohlstand verdankte, in der Folgezeit an Bedeutung verlor.
In der Stadt bestand das Kriegsgefangenenlager 158 für deutsche Kriegsgefangene des Zweiten Weltkriegs. Dem Lager zugeordnet waren das Kriegsgefangenenhospital 5091 in Tscherepowez und das Kriegsgefangenenhospital 3732 im 170 km nördlich liegenden Woschega.
Bevölkerungsentwicklung
Anmerkung: 1897, 1926–2010 Volkszählungsdaten
Geografie und Klima
Die Oblast zählt zur nördlichen Verwaltungsregion Russlands und besteht vor allem aus flachem Land mit lehmigen Böden. 70 Prozent des Gebietes sind von Wäldern bedeckt, weitere 12 Prozent sind Sümpfe und Moorlandschaften. Nur 11 Prozent können landwirtschaftlich genutzt werden.
Das Klima ist kühlgemäßigt kontinental, die Durchschnittstemperaturen liegen bei −13 °C im Januar und +17 °C im Juli. Der Jahresniederschlag beträgt 561 mm. Wologda liegt 118 Meter über dem Meeresspiegel.
Der größte Fluss des Gebiets ist die Suchona, ein weiterer, wichtigerer Wasserweg ist der Wolga-Onega-Kanal, der dem Verlauf der Šeksna im Westen des Gebiets folgt und bei Tscherepowez im Rybinsker Stausee endet. Dieser Wolgastausee (4580 km²) und der Onegasee im Nordwesten (9610 km²) sind die größten Seen des Gebiets.
Wirtschaft
Die wichtigsten Pfeiler der Wirtschaft sind heute verschiedene Zweige des Maschinen-, Fahrzeug- und Gerätebaus (Kräne, landwirtschaftliche Maschinen, Eisenbahnausrüstung, Omnibusse, elektrotechnische und optische Geräte). ferner die Metallverarbeitung, Schwarzmetallurgie, chemische Industrie und Holzverarbeitungs- und Papierindustrie. Byvalovsky mashinostroitelny zavod ist eines der wichtigsten Maschinenbauunternehmen des russischen Nordwestregion.
Die Stadt verfügt über mehrere Theater, Bibliotheken und Museen sowie über ein breites Angebot von Hochschulen.
Verkehr
Wologda ist mit der russischen Hauptstadt Moskau über die Fernstraße M8 Cholmogory verbunden. Gleichzeitig ist die Stadt Ausgangspunkt der R298, die in westlicher Richtung nach Nowaja Ladoga bei Sankt Petersburg führt. Der Eisenbahnknotenpunkt Wologda ist einer der Größten der Nordbahn Sewernaja schelesnaja doroga. Vom Flughafen fliegt die Wologodskoje Awiapredprijatije mit Yak-40.
Weiterführende Bildungseinrichtungen
Staatliche Milchwirtschaftliche N.-W.-Wereschtschagin-Akademie Wologda
Staatliche Technische Universität Wologda, gegründet 1966, ca. 12.000 Studierende
Staatliche Pädagogische Universität Wologda
Institut des Justizministeriums für Recht und Wirtschaft
Filiale der Staatlichen Juristischen Akademie Moskau
Filiale des A.-S.-Gribojedow-Instituts für internationales Recht und Ökonomie
Filiale des Hauptstädtischen Geisteswissenschaftlichen Instituts
Museen
Geschichtlich-architektonisches und kunstgeschichtliches Museumsreservat Wologda:
Wologdaer Kreml
Sophienkathedrale
Glockenturm der Sophienkathedrale
Haus von Peter I.
Architektur- und Völkerkundemuseum der Oblast Wologda in Semjonkowo
Museum „Die Welt vergessener Dinge“
Museum „Das Handelshaus des Kaufmannes Samarin“
Museum für Spitze
Museum des diplomatischen Korps
Gemäldegalerie Wologda:
Zentrale Ausstellungshalle
Schalamow-Haus
Söhne und Töchter der Stadt
Pjotr Rytschkow (1712–1777), Historiker und Geograph
Konstantin Batjuschkow (1787–1855), Dichter
Christofor Ledenzow (1842–1907), Kaufmann und Mäzen
Grigori Landsberg (1890–1957), Physiker
Nikolai Dewjatkow (1907–2001), Physiker und Hochschullehrer
Warlam Schalamow (1907–1982), Schriftsteller
Alexandra Joschkina (1908–1974), Schauspielerin
Wladimir Morosow (1910–1975), Mathematiker
Tatjana Ginezinskaja (1918–2009), Parasitologin und Hochschullehrerin
Dmitri Gudkow (1918–1992), Mathematiker
Natalija Prosorowa (1922–2006), Rechtswissenschaftlerin und Hochschullehrerin
Juri Lochowinin (1924–1992), Bildhauer
Tamara Rylowa (1931–2021), Eisschnellläuferin
Waleri Gawrilin (1939–1999), Komponist
Oleg Grigorjew (1943–1992), Schriftsteller und Maler
Igor Polowodin (1955–2005), Schachspieler und -trainer
Swetlana Djomina (* 1961), Sportschützin
Nikolai Guljajew (* 1966), Eisschnellläufer
Irina Armstrong (* 1970), russisch-deutsche Dartspielerin
Vladislav Solodyagin (* 1975), Opernsänger (Bass)
Anya Monzikova (* 1984), russisch-US-amerikanische Schauspielerin und Model
Julija Tschekaljowa (* 1984), Skilangläuferin
Iwan Kassutin (* 1986), Eishockeytorhüter
Irina Leuchina (* 1987), Biathletin
Artjom Suchanow (* 2001), Fußballspieler
Städtepartnerschaften
Wologda listet folgende Partnerstädte auf:
Londonderry, New Hampshire, Vereinigte Staaten
Miskolc, Ungarn
Zwolle, Niederlande
Kouvola, Finnland
Fotos
Weblinks
Offizielle Website der Stadt Wologda (russisch/englisch)
Einzelnachweise
Ort in der Oblast Wologda
Hochschul- oder Universitätsstadt in Russland
Hauptstadt eines Föderationssubjekts Russlands
Ersterwähnung 1147
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Q1957
| 86.929777 |
14896
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https://de.wikipedia.org/wiki/Orgel
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Orgel
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Eine Orgel (von Werkzeug, Instrument, Organ) ist ein über Tasten spielbares Musikinstrument. Sie gehört zu den Aerophonen. Zur Abgrenzung gegenüber elektronischen Orgeln wird sie auch Pfeifenorgel genannt.
Der Klang wird durch skalamäßig angeordnete Eintonpfeifen erzeugt, die durch einen Orgelwind genannten Luftstrom angeblasen werden. Die meisten Orgeln enthalten mehrheitlich Labialpfeifen (Lippenpfeifen), bei denen die Luftsäule im Innern durch Anblasen eines Labiums (wie bei der Blockflöte) zum Schwingen gebracht und damit der Ton erzeugt wird. Sie werden oft durch Lingualpfeifen (Zungenpfeifen) ergänzt, bei denen die Tonerzeugung (wie bei der Klarinette) durch ein schwingendes Zungenblatt erfolgt.
Die drei Hauptteile der Orgel sind: das Pfeifenwerk, das Windwerk (Gebläse, Bälge, Kanäle, Windkasten, Windladen) und das Regierwerk, d. h. der Mechanismus, welcher dem Wind den Zugang zu den einzelnen Pfeifen öffnet (Spieltisch, Spieltraktur, Registertraktur). Der Organist bedient die Orgel vom Spieltisch aus. Die Töne werden über ein oder mehrere Manuale und gegebenenfalls das Pedal angesteuert, denen die Register meist fest zugeordnet sind. Dabei wird die Bewegung der Tasten über die Traktur mechanisch, pneumatisch, elektrisch oder durch Lichtwellen (Glasfaser) zu den Ventilen unter den Pfeifen geleitet. Mit den Registerzügen oder -schaltern ruft der Organist einzelne Pfeifenreihen verschiedener Tonhöhe und Klangfarbe (Register) auf und erzeugt so verschiedene Klangmischungen.
Dazu treten als Rahmen das Gehäuse und der Prospekt.
Orgeln sind seit der Antike bekannt und haben sich besonders im Barock und zur Zeit der Romantik zu ihrer heutigen Form entwickelt. Deutschland weist mit rund 50.000 Orgeln weltweit die höchste Dichte an Pfeifenorgeln bezogen auf Fläche und Einwohnerzahl auf. Die UNESCO hat Orgelbau und Orgelmusik 2017 in die Liste des Immateriellen Kulturerbes aufgenommen.
Funktionen, Arten und Orte
Liturgischer und weltlicher Einsatz
Sehr viele Orgeln erfüllen liturgische und konzertante Aufgaben in Kirchen und Synagogen des liberalen Judentums. Sie befinden sich auch in Konzertsälen, Musikhochschulen (Übeorgel), Schulen (Schulorgel) und Privathäusern (Hausorgel).
Kleine und große Orgeln
Eine kleine, einmanualige Orgel ohne Pedal bezeichnet man als Positiv oder – bei kompakter Bauweise – als Truhenorgel. Tragbare Kleinstorgeln bezeichnet man als Portativ. Eine Spezialform ist das nur mit Zungenpfeifen disponierte Regal.
Größere Orgeln verfügen in der Regel über viele Register, von Großorgeln spricht man ab etwa hundert Registern. Als derzeit größte Orgel der Welt gilt die Orgel der Atlantic City Convention Hall mit 314 Registern und 33.114 Pfeifen. Ihren einstigen Rang als lauteste Orgel der Welt musste sie inzwischen an die nur einregistrige Freiluftorgel Vox Maris in Yeosu (Südkorea) abtreten, die 138,4 dBA erreicht.
Räume und Akustik
Der Orgelbauer hat die komplexe Aufgabe, das Instrument akustisch, optisch und funktional möglichst optimal aufzustellen, was jedoch oftmals durch bauliche Gegebenheiten nur begrenzt möglich ist. Idealerweise sollte der Orgelklang in jedem Punkt des Raumes ausgeglichen und transparent sein. Der Nachhall sollte das Klangbild nicht zu sehr verschleiern.
In Kirchen verrät die Aufstellung einer Orgel oft viel über ihre liturgische Bestimmung und ihre Einsatzmöglichkeiten. Während die ältesten Instrumente oftmals in der Nähe des Chores oder als Schwalbennestorgeln erscheinen, so wird ab dem 17. Jahrhundert die Orgel an der Westwand gebräuchlich. Traditionell war die Chororgel (oder in Italien/Spanien das Evangelien/Epistel-Orgelpaar) für eine katholische Liturgie bestimmt, die sich großteils im Chorraum der Kirche abspielte. Als nach der Reformation der Gemeindegesang an Bedeutung gewann, wanderte die Orgel an die Westwand auf die Orgelempore (seltener hinter oder über den Altar als Altarorgel) und wurde auch tendenziell größer und lauter, denn nun musste sie eine in einer gefüllten Kirche singende Gemeinde führen können. Je nach Aufstellungsort werden Orgeln auch als Langhausorgeln oder Querhausorgeln bezeichnet. In kleinen Kirchenräumen oder solchen mit besonderen architektonischen Eigenheiten muss die Orgel oft unabhängig von ihrer liturgischen Bedeutung an die Architektur angepasst aufgestellt werden.
Die Größe der Orgelempore sagt viel über die Bestimmung der Orgel aus. So war es beispielsweise in den großen Kirchen Mitteldeutschlands im 18. Jahrhundert oft üblich, auf der Orgelempore Chor und Instrumentalensemble zu platzieren, wodurch die Hauptorgel auch als Begleitinstrument eingesetzt wurde.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurden sogenannte Dachbodenorgeln über dem Kirchenschiff in dafür errichteten Orgelkammern aufgestellt.
In Konzertsälen ist die Orgel zumeist an der Wand über dem Orchesterpodium angebracht.
Orgelbau
Werkstoffe
Der traditionelle, für den Bau einer Orgel hauptsächlich verwendete Werkstoff ist Holz. Aus Holz werden das Gehäuse, die Windladen, die Tasten und ein Teil der Pfeifen gefertigt. Bei Instrumenten mit einer mechanischen Steuerung (Traktur) findet Holz oft auch für die Mechanikteile Verwendung. Für die Metallpfeifen kommen meist Zinn-Blei-Legierungen zum Einsatz (sogenanntes Orgelmetall), seit dem 19. Jahrhundert auch Zink und im 20. Jahrhundert Kupfer (vereinzelt auch Porzellan, Plexiglas und andere Kunststoffe). Für die Beläge der Klaviatur werden Rinderknochen (selten Elfenbein) sowie verschiedene Hölzer (Ebenholz, geschwärzter Birnbaum, Grenadill) verwendet.
Pfeifenwerk und Register
Das Pfeifenwerk der Orgel besteht aus mehreren Pfeifenreihen, in denen jeweils Orgelpfeifen gleicher Bauart und Klangfarbe stehen. Eine Pfeifenreihe (manchmal auch mehrere) wird zu einem Register zusammengefasst, das vom Spieltisch aus an- und abgeschaltet werden kann. Die Bedienung der Register erfolgt bei der mechanischen Traktur über Registerzüge oder Manubrien genannte Knäufe, die man zum Einschalten herausziehen und zum Abschalten wieder hineinschieben muss; daher rühren die alten Bezeichnungen „Ziehen“ und „Abstoßen“ für das Ein- und Ausschalten von Registern. Bei der elektrischen und der pneumatischen Traktur werden die Register mittels Taster oder Schalter ein- und ausgeschaltet.
Die Zusammenstellung der Register einer Orgel einschließlich der Spielhilfen (Koppeln etc.), nennt man die Disposition einer Orgel. Sie wird vom Orgelbauer beim Erstellen des Instrumentes mit dem Auftraggeber abgesprochen und bestimmt die Einsatzmöglichkeiten der Orgel.
Durch planvolles Kombinieren verschiedener Register, die sogenannte Registrierung, können unterschiedliche Klangfarben und Lautstärken eingestellt werden. Die Kunst des Organisten besteht darin, aus dem vorhandenen Klangbestand eine Registrierung zu finden, die der zu spielenden Musik am besten entspricht. Jede Epoche bevorzugte ein jeweils eigenes, spezielles Klangbild, das der gut geschulte Organist kennt. Man kann daher nicht auf jedem Instrument jedes Stück im historischen Sinne stilgetreu interpretieren. Trotz der Möglichkeit einer gewissen Typisierung gibt es selten zwei gleiche Orgeln, da jedes Instrument in Größe und Ausführung an seinen Aufstellungsraum angepasst oder vom Geschmack der Zeit seiner Entstehung abhängig ist.
Unterscheidung nach Tonhöhe
Die Register können verschiedene Tonhöhen haben, wobei die Tonhöhe durch die sogenannte Fußtonzahl angegeben wird. So bezeichnet man ein Register in Normallage (d. h., die Taste c1 bringt den Ton c1 zum Klingen) als 8′-(Acht-Fuß)-Register, da die Länge der tiefsten Pfeife, groß C, eines offenen Labialregisters ungefähr 8 Fuß beträgt (1 Fuß = ca. 30 cm). Ein um eine Oktave tieferes Register ist ein 16′-Register mit oft doppelt so langen Pfeifen, 4′ bezeichnet ein um eine Oktave höheres Register und hat meist nur halb so lange Pfeifen wie ein 8′-Register. Quinten haben stets Fußtonzahlen mit Drittel-Brüchen (bspw. ′ oder ′ – es handelt sich um den 3. Teilton der natürlichen Obertonskala), Terzen mit Fünftel-Brüchen (z. B. ′ – 5. Teilton). Darüber hinaus gibt es Septimen (z. B. ′) mit dem 7. Teilton, Nonen (z. B. ′) mit dem 9. Teilton und weitere höhere Partialtonregister.
Die verschiedenen Tonlagen bilden die Obertonreihe ab. Durch Kombination eines Grundregisters (in der Regel 8′-Lage) mit einem oder mehreren Obertonregistern (etwa ′ oder ′), die auch Aliquoten genannt werden, werden vorhandene Obertöne verstärkt (bzw. fehlende Obertöne hinzugefügt), wodurch sich die Klangfarbe ändert.
Unterscheidung nach Bauart
Die Register unterscheiden sich neben der Tonhöhe (Fußlage) auch durch ihre Bauart und damit durch Tonansatz, Obertonanteil (Klangfarbe) und Lautstärke.
Nach der Art der Tonerzeugung unterscheidet man zwischen Lippenpfeifen oder Labialen (Tonerzeugung wie bei der Blockflöte) und Zungenpfeifen oder Lingualen (Tonerzeugung wie bei einer Klarinette). Labialpfeifen können offen oder gedackt sein; die gedackten Pfeifen klingen bei gleicher Länge eine Oktave tiefer. Weitere Unterschiede gibt es bei Materialien, der Pfeifenform und der Mensur (den Verhältnissen der verschiedenen Pfeifenabmessungen). Daneben gibt es die gemischten Stimmen. Dabei handelt es sich um Register, bei denen für jede Taste mehrere Pfeifen erklingen. Dazu gehören etwa die Klangkronen oder Mixturen und Farbregister wie die Sesquialtera und das Kornett.
Die physikalischen Erklärungen zum Einfluss der Bauform der Pfeifen auf die Klangfarbe sind im Artikel Orgelpfeife genauer ausgeführt.
Nebenregister
Bei den Registerzügen eingeordnet ist der Tremulant. Er verändert periodisch den Winddruck und sorgt so für ein Schwingen des Tones, meist als kombiniertes Tremolo und Vibrato. In Orgeln neuerer Zeit ist die Geschwindigkeit der Schwingung mitunter einstellbar. Der Tremulant wirkt auf alle Register des Werkes, in das er eingebaut ist. Bei alten Orgeln gibt es manchmal einen Tremulanten für die gesamte Orgel, mitunter auch einen, der nur auf ein bestimmtes Register wirkt (etwa Schwebeflöte oder Vox humana).
Spezielle Effektregister, wie Glockenspiele, Kuckuck, Vogelgesang, Donner oder Pauken, ergänzen bei manchen Orgeln die Disposition.
Windwerk
Die zugeführte komprimierte Luft, der sogenannte Wind, wurde bis gegen Ende des 19. Jahrhunderts durch große Blasebälge (Schöpf- und Keilbälge) erzeugt, die mit den Füßen getreten oder mit Seilen aufgezogen wurden. Je nach Orgelgröße benötigte man bis zu zwölf Kalkanten (Balgtreter). Danach wurden zunehmend elektrische Gebläse (Winderzeuger) eingesetzt. Seitdem erfolgt die Regulierung und Stabilisierung des Winddrucks in der Regel durch einen Magazinbalg. Von diesem Balg aus wird der Wind durch meist hölzerne Windkanäle weiter in die Windladen geleitet. Auf einen Magazinbalg kann bei Orgeln mit Falten- oder Keilbälgen unter Umständen auch verzichtet werden (bei Nachrüstung mit elektrischem Winderzeuger), oder wenn (bei kleineren Orgeln) die Stabilisierung des Spielwindes durch Ladenbälge unter den Windladen erfolgt.
Im gegenwärtigen Orgelbau werden im Normalfall elektrische Gebläse verwendet. Bei Restaurierungen vormoderner Instrumente und bei Neubauten in einem vormodernen Orgelstil finden zunehmend auch die dem jeweiligen Instrumententypus historisch entsprechenden Balganlagen Verwendung. Dabei besteht die Möglichkeit, zusätzlich ein elektrisches Gebläse einzubauen oder die Bälge über einen Elektromotor statt durch einen Bälgetreter zu bewegen. Für ältere Musik wird die so erzielte Lebendigkeit und Ruhe (Wirbellosigkeit) des Orgelwindes – oft als Atmen der Orgel beschrieben – geschätzt, für Musik seit dem fortgeschrittenen 19. Jahrhundert hingegen wird absolute Windstabilität benötigt.
Die Windlade
Das Kernstück der technischen Anlage ist die Windlade, auf der die Pfeifen stehen. In ihr vollziehen sich die Schaltvorgänge, um die vom Spieler gewünschten Pfeifen ertönen zu lassen. Vom Spieltisch aus wird das Niederdrücken der Tasten über die Traktur an die den einzelnen Tasten zugeordneten Tonventile der Windlade übertragen. In Abhängigkeit von den vorher gezogenen (eingeschalteten) Registern kann der Wind in die entsprechenden Pfeifen strömen und sie so zum Erklingen bringen (bzw. umgekehrt zum Verstummen). Die Anzahl der in einer Orgel vorhandenen Windladen ist abhängig vom Orgeltypus und von der Anzahl der eingebauten Register.
Es gibt verschiedene Bauformen von Windladen. Grundsätzlich unterscheidet man – je nach Reihenfolge der Ventile für Ton und Register – zwischen Tonkanzellenladen (Schleiflade, Springlade) und Registerkanzellenladen (Kegellade, Taschenlade, Membranlade) und Kastenladen (ohne Kanzellen). Bei einer Tonkanzellenlade stehen alle zu einer Taste gehörenden Pfeifen auf einer Kanzelle, bei der Registerkanzellenlade alle, die zu einem Register gehören, und bei der Kastenlade stehen alle Pfeifen auf einer nicht in Kanzellen aufgeteilten Windlade. Die älteste Windladenbauform mit einzeln registrierbaren Pfeifenreihen ist die Schleiflade, die wegen ihrer Robustheit und klanglichen Vorteile auch bei modernen Orgeln wieder nahezu ausschließlich zum Einsatz kommt.
Regierwerk
Traktur
Ausgehend von der Klaviatur werden mit Hilfe der Spieltraktur (auch Tontraktur) die einzelnen Töne betätigt. Die Traktur überträgt die Bewegung der Tasten mechanisch, pneumatisch, elektrisch, elektronisch (Netzwerk) oder durch Lichtwellen (Glasfaser) auf die Spielventile in der Windlade unter den Pfeifen. Beim Öffnen eines Ventils strömt Wind, der von einem Blasebalg erzeugt wird, in die auf der Windlade stehenden Pfeifen, sofern deren Registerzug gezogen ist.
Mit einer weiteren Traktur, der Registertraktur, werden die einzelnen Register ein- oder ausgeschaltet. Diese bestimmen Tonlage, Klangfarbe und Lautstärke der Töne. Auch hier gibt es mechanische, pneumatische, elektrische und elektronische Systeme.
Spieltisch
Eine Orgel wird vom Spieltisch oder Spielschrank aus gespielt. Größere Orgeln setzen sich aus Teilwerken zusammen, denen meist jeweils eine eigene Klaviatur zugeordnet ist. Der Organist bedient die Manual genannten Klaviaturen mit den Händen, während das Pedal mit den Füßen gespielt wird. In großen Orgeln sowie iberischen Barockorgeln gibt es oft mehr Teilwerke als Manuale. Die nicht fest mit einem eigenen Manual ausgestatteten Teilwerke werden dann mittels Sperrventilen oder Koppeln an ein Manual angeschaltet. Im englischsprachigen Raum werden solche Teilwerke als floating divisions (kurz: floating) bezeichnet.
Die Manuale heutiger Orgeln haben meist einen Tonumfang von C bis g3 (bei Neubauten nur noch selten bis f3), aber gelegentlich auch bis a3 oder c4. Das Pedal weist in der Regel einen Tonumfang von C bis f1, manchmal auch bis g1 oder a1 auf. Orgeln der vergangenen Jahrhunderte haben oft einen kleineren Tonumfang. So ist bis in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts ein Tonumfang im Manual bis c3 oder d3, im Pedal bis c1 oder d1 die Regel. Im 19. Jahrhundert wurde oft nur noch ein Pedalumfang bis f0 oder g0 gebaut. In der Basslage ist bei Orgeln bis um 1700 häufig die kurze oder die gebrochene Oktave zu finden. Bis Anfang des 19. Jahrhunderts wurde oft auf das tiefe Cis verzichtet.
Die Manuale werden in der Regel mit römischen Zahlen abgekürzt und von unten nach oben durchgezählt. Kleine Orgeln haben ein oder zwei Manuale, mittlere zwei oder drei sowie große drei bis fünf (vereinzelt auch sechs oder sieben) Manuale. Iberische Barockorgeln mittlerer Größe verfügen gelegentlich nur über ein Manual. Ein Pedalwerk ist in sehr kleinen Orgeln nicht immer vorhanden. Im historischen Orgelbau (z. B. Niederlande, 17. und 18. Jahrhundert) gab es auch große, mehrmanualige Instrumente ohne selbstständiges Pedal.
Spielhilfen
Koppeln erlauben das gleichzeitige Spiel von verschiedenen Werken auf einem Manual oder das Spiel der Manualregister im Pedal. So ist es möglich, zusätzliche Klangkombinationen oder mehr Register aufzurufen. Durch sogenannte Suboktav- oder Superoktavkoppeln werden die Töne mitbetätigt, die eine Oktave unter beziehungsweise über den gespielten liegen. Koppeln werden bezeichnet, indem zuerst das hinzugekoppelte Manual angegeben wird und dann das Manual, auf das die Koppel wirkt, z. B. II/I (das zweite Manual wird an das erste gekoppelt) oder HW/Ped (das Hauptwerk wird an das Pedal gekoppelt). Bei Oktavkoppeln kann die Versetzung in Fußzahlen angegeben werden, z. B. III/I 4′ (das dritte Manual wird eine Oktave höher spielend an das erste gekoppelt).
Weitere Spielhilfen, insbesondere Registrierhilfen, bieten dem Organisten die Möglichkeit, Registrierungen flexibel zu ändern. Schon in Orgeln der Barockzeit befinden sich Sperrventile, mit denen die Windzufuhr ganzer Werke abgestellt werden konnte. Die ersten wirklichen Registrierhilfen waren die von Aristide Cavaillé-Coll gebauten Jeux de Combinaison, mit denen man per Fußhebel (Einführungstritt)' alle Zungen und Mixturen eines Teilwerks zuschalten konnte.
Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts verfügen Orgeln in Deutschland häufig über feste Kombinationen. Damit lassen sich vom Orgelbauer festgelegte Registerkombinationen per Fußhebel oder (mit Beginn der Röhrenpneumatik) auf Knopfdruck abrufen. Feste Kombinationen sind meist nach Lautstärkegraden abgestuft, etwa p, mf, f, ff.
Etwa um 1900 kamen die einstellbaren freien Kombinationen auf. Größere Orgeln mit pneumatischer oder elektrischer Registertraktur bieten in der Regel zwei oder drei freie Kombinationen. Moderne Orgeln haben oft elektronische Setzer, mit denen eine größere Anzahl an Registrierungen einprogrammiert werden kann. Die Registerfessel blockiert die sofortige Änderung der Registrierung, so dass der Spieler während seines Spiels eine neue Registrierung vorbereiten kann, die dann auf Knopfdruck realisiert wird. Ebenfalls wurden Absteller wie z. B. „Zungen ab“ oder „Crescendo ab“ entwickelt, um einzelne Registergruppen oder Spielhilfen außer Funktion zu setzen. Der Registerschweller (Generalcrescendo, Walze, Rollschweller) ermöglicht es seit etwa 1860 an manchen Orgeln die Register der Reihe nach einzuschalten (nach Lautstärke geordnet), bis alle Register erklingen (Tutti). Damit ist bei großen Orgeln ein nahezu stufenloses Crescendo und Decrescendo zwischen Pianopianissimo und Fortefortissimo möglich.
Gehäuse und Prospekt
Große Orgeln bestimmen mit der Gestaltung ihres Gehäuses und der Front (Orgelprospekt) die Wirkung des Raumes, in dem sie aufgestellt sind. In der Renaissance, mehr noch in der Zeit des Barocks, zeigte sich die Bedeutung, die dem optischen Aspekt beigemessen wurde, daran, dass nicht selten die Kosten für das Orgelgehäuse (mit Skulpturenschmuck, Ornamentschnitzwerk, Gemälden und Vergoldung) jene des eigentlichen Orgelwerkes überstiegen. Der Orgelprospekt diente oft zusammen mit der weiteren skulpturalen und malerischen Ausstattung und Ausgestaltung der Kirche einem architektonischen Gesamtkonzept.
Schwellkästen können den Ton der in ihnen aufgestellten Register durch das Schließen von Jalousien oder Klappen stufenlos dämpfen. Diese Einrichtung wurde in der Zeit der Romantik vor allem in französischen Orgeln eingebaut, um eine dem Orchesterklang angepasste Möglichkeit der Dynamik zu erhalten. In Deutschland gab es Schwellwerke vor 1890 eher selten. Ein Vorläufer des Schwellwerkes waren die Echokästen spanischer Orgeln des 18. Jahrhunderts. Schwellkästen befinden sich meistens innerhalb der Orgel. Nur in modernen Orgeln sind sie häufiger auch von außen sichtbar. Schweller und Schwellkästen sind in der Regel aus Holz gebaut. Eher selten wird die komplette Orgel in einem Schwellkasten untergebracht (wie z. B. die Hauptorgel der Lutherkirche (Asseln)).
Geschichte
Die Gesamtanlage der Orgel (siehe Disposition), die künstlerische Gestaltung des Orgelgehäuses (siehe Prospekt), die klangliche Gestaltung und die technische Anlage (siehe Windlade, Traktur, Windwerk und Spieltisch) sind über viele Epochen der Kunst- und Technikgeschichte hinweg verändert und beeinflusst worden. Orgeln sind seit der Antike bekannt und haben sich besonders im Barock und zur Zeit der Romantik zu ihrer heutigen Form entwickelt.
Antike
Das erste orgelartige Instrument, eine „Wasser-Aulos“ oder Hydraulis, wurde um 246 v. Chr. von Ktesibios, einem Ingenieur in Alexandrien, konstruiert. Die Römer übernahmen die Orgel von den Griechen als rein profanes Instrument und untermalten Darbietungen in ihren Arenen mit Orgelmusik. Reste von Orgeln der Antike wurden in der Nähe von Budapest (siehe Orgel von Aquincum) und in Avenches gefunden.
Mittelalter
Im weströmischen Reich der Völkerwanderungszeit (um 400 n. Chr.) ist der Gebrauch von Orgeln nicht belegt. Das byzantinische Reich erhob die Orgel jedoch zu einem wichtigen Instrument für die kaiserlichen Zeremonien. Damit rückte sie auch in die Nähe der kirchlichen Feierlichkeiten. In den karolingischen Chroniken wird berichtet, dass Gesandtschaften vom byzantinischen Kaiserhof König Pippin dem Jüngeren (757) bzw. dessen Sohn Kaiser Karl dem Großen (812) Orgeln mitbrachten.
Im Laufe des 9. Jahrhunderts begannen die ersten (Bischofs-)Kirchen in Westeuropa, sich Orgeln anzuschaffen, Klosterkirchen wohl erst ab dem 11. Jahrhundert. Die Orgel war in den Kirchen zunächst ein Statussymbol, erst mit der Gotik entwickelte sie sich allmählich zum Hauptinstrument der christlichen Liturgie. Reste einer Orgel der Geburtskirche in Bethlehem aus dem 12. Jahrhundert sind erhalten geblieben.
Mit Erfindung der Schleiflade und der Springlade im 14. und 15. Jahrhundert kamen einzeln wählbare Register, Manual-Tastaturen und einzelne (Teil-)Werke auf. Zu den ältesten spielbaren Orgeln zählen die Orgel von St. Andreas (Ostönnen) (um 1425), die Orgel der Basilique de Valère im schweizerischen Sion (um 1435), die Orgel der Rysumer Kirche (um 1440), die Epistelorgel (linkes Instrument des Orgelpaares) der Basilika San Petronio in Bologna (1475). und die Orgel in St. Valentinus in Kiedrich (um 1500).
Renaissance
Die Orgeln der Frührenaissance enthielten zunächst recht wenige Register (z. B. Prästant, Oktave, Hintersatz und Zimbel aus dem gotischen Blockwerk, dazu ein bis zwei Flöten, Trompete und ein Regal) und verfügten oft nur über ein Manual und ein angehängtes Pedal. Ein vorhandenes Regalregister wurde oft leicht zugänglich über dem Spieltisch angeordnet, da dessen Pfeifen häufig nachgestimmt werden mussten. Aus dieser Anordnung entwickelte sich das Brustwerk. In dieser Zeit entstanden auch die beiden Kleinorgeltypen Positiv und Regal.
In der Hochrenaissance entwickelten sich voll ausgebaute Orgeln mit mehreren Manualen und Pedal. Das Klangideal orientierte sich an der damals üblichen Ensemblemusik auf gleichartigen Instrumenten. Auf solchen Orgeln lässt sich neben Sakralmusik auch sehr gut die weltliche Musik der Renaissance wiedergeben. In der Spätrenaissance begannen sich erste regionale Unterschiede im Orgelbau herauszubilden.
Barock
Im 17. und 18. Jahrhundert erreichte der Orgelbau in einigen europäischen Ländern eine große Blüte. So entwickelten sich im Laufe der Barockzeit unterschiedliche Orgeltypen, und heute lassen sich innerhalb nationaler Kulturräumeregionale Orgellandschaften ausmachen, die in erster Linie geographisch definiert sind.
Die meisten barocken Orgeln Südeuropas und vereinzelt auch der süddeutschen Orgellandschaft befinden sich im Gegensatz zu denjenigen des Nordens und Frankreichs nicht auf einer Westempore, sondern im Chorraum beidseits des Altars, und zwar vom Kirchenschiff aus gesehen links die Epistelorgel und rechts die Evangelienorgel. Englische Orgeln wurden dagegen meistens auf dem Lettner aufgestellt.
Hanseatisch-niederländischer Orgeltypus des 17. und 18. Jahrhunderts
Ein typisches Merkmal der Orgel des norddeutsch-hanseatischen Raumes war das Werkprinzip. Im sogenannten Hamburger Prospekt zeigte sich der konsequente Werkaufbau sehr deutlich. Dabei waren die Pedaltürme jeweils seitlich an der Orgel angebracht und umrahmten damit die Manualwerke. Sowohl die Manualwerke als auch das Pedalwerk zeichneten sich durch ein großes Maß an Selbständigkeit aus. In jedem Teilwerk gab es nun Prinzipal-, Flöten- und Zungenstimmen-Ensembles. Die Klangkronen bestanden überwiegend aus Quinten und Oktaven, was den „Silberglanz“ des Mixturplenums unterstrich. Sesquialtera und Tertian dienten vor allem als Ensembleregister und repetierten schon im Bass. Dagegen fanden sich selbst in größeren Orgeln in jedem Manualwerk meist nur ein bis zwei labiale 8′-Register. Streichende Register wurden fast nie gebaut. Die vielen Register von sehr unterschiedlicher Bauweise dienten der klanglichen Vielfalt. Die starken Bässe und kräftigen Mixtuen waren weniger für polyphones Spiel als vielmehr für die Begleitung des Gemeindegesangs gedacht. Auch der Stylus Phantasticus der hanseatischen Orgelkunst mit seinen wechselnden Affekten konnten auf den Instrumenten optimal verwirklicht werden. Im Vergleich zu den Instrumenten anderer Regionen (vor allem Mittel- und Südwestdeutschlands) waren die Orgeln groß und besaßen viele Register.
Die mitteltönige Stimmung hielt sich bis um 1740 und wurde erst danach von wohltemperierten Stimmungen verdrängt. Die Instrumente waren meist etwa um einen Halbton höher gestimmt als heute. Bis weit ins 18. Jahrhundert wurden von einzelnen Orgelbauern Springladen gebaut. Bekannt für diesen Orgeltypus wurden die Orgelbauer Hans Scherer der Ältere, Gottfried Fritzsche und Arp Schnitger.
Barocker Orgeltypus in Ost- und Mitteldeutschland und in Polen
Typisch für diesen Orgeltypus ist die große Anzahl von labialen 8′-Registern. Bei zweimanualigen wurden nicht selten zusammen acht und mehr Grundstimmen in den Manualen gebaut, wodurch ein dunkler, voluminöser an Gravität orientierter Klang entstand. Jedes Register besaß dabei eine eigene, unverkennbare Klangcharakteristik. Die unterschiedlichen Labialregister wurden in erster Linie als Einzelregister verwendet und ermöglichten eine breite Farbenpalette. Neben den traditionellen 8′-Registern wie Prinzipal, Gedackt, Gemshorn, Spitzflöte und Rohrflöte entwickelten sich u. a. Viola di Gamba, Salicional, Piffaro/Biffara (auch Unda maris genannt), Fugara und Traversflöte. Hinzu kam ein meist lückenloser Prinzipalchor (im Hauptwerk oft mit Mixtur und Cymbel), meist eine bis zwei Zungenstimmen, Sesquialtera und Cornet sowie einzelne Aliquotregistern. Die Mixturen wurden dabei in der Regel als Terzmixturen gebaut. Manualzungen wurden nur wenige gebaut, eine Vorliebe gab es jedoch für die Vox humana 8′ im Oberwerk. Im Hauptwerk wurde als tiefstes Register meist eine Quintade 16′, sehr häufig zusätzlich verstärkt durch eine Quinte ′ gebaut. Im Pedal wurde Subbass 16′ oft um Violonbass 16′ verstärkt. Selbst in mittelgroßen zweimanualigen Orgeln gab es 32′-Register wie Untersatz 32′ oder Posaune 32′. Außerdem wurden gerne typisch barocke Spielereien, wie Glockenspiel, Vogelgesang und Cymbelstern eingebaut.
Die Instrumente besaßen in der Regel Hauptwerk und Oberwerk, bei dreimanualigen Orgeln trat ein Brustwerk hinzu. Rückpositive gab es ab etwa 1690 keine mehr. Die Orgelbauer waren experimentierfreudig und nahmen komplizierte Trakturführungen in Kauf, was oft zu einer schwergängigen Spielweise führte. Auf diese Weise konnten schon früh Transmissionen vom Hauptwerk ins Pedal verwirklicht werden. Schon ab 1700 wurde die mitteltönige Stimmung durch die wohltemperierte Stimmung abgelöst. Bedeutende Vertreter waren Tobias Heinrich Gottfried Trost, Gottfried Silbermann und Zacharias Hildebrandt.
Barocker Orgeltypus West- und Südwestdeutschlands
Charakteristisch für die Orgeln dieser Region war die Teilung einzelner Register in Bass- und Diskant zwischen h0 und c1 (Trompete, Krummhorn, auch z. T. Gedackt). Einige Register gab es nur im Diskant wie Cornet und Flaut travers 8′.. Die Mixturen wiesen häufig Oktavrepetion auf. Charakteristisch waren auch die vielen Terzen als Soloregister. Im Hauptwerk befanden sich als 8′-Register neben Principal und Gedackt (meist Hohlpfeiff genannt) eine Gamba und gelegentlich Gemshorn und Quintatön, im Positiv meist nur Gedackt 8′ und Flaut travers 8′ (Diskant). Der 16′ des Hauptwerks war in der Regel ein Bourdon 16′ (auch Großgedackt oder Groß-Hohlpfeiff genannt). Als 4′ trat Flaut oder Flaut douce, gelegentlich auch Solicinal hinzu. Krummhorn und Vox humana wurden sowohl im Positiv als auch im Echowerk als solistische Zungen disponiert. Im Hauptwerk wurde neben Trompete 8′ gelegentlich das Register Vox angelica 2′ gesetzt, eine enge Trompete, die nur im Bass gebaut war. Die Zungenregister wiesen französische Kehlen auf. Grundsätzlich waren die Dispositionen sehr schematisch und in allen Orgeln sehr ähnlich.
Das Pedalwerk war in der Regel hinterständig eingerichtet und besaß oft nur drei Register (Subbass, Oktavbass und Posaune). Die Posaune 16′ wurde ganz aus Holz gebaut, ebenso die meisten anderen Pedalregister. Der Pedalumfang war sehr gering und reichte meist nur bis d0, selten bis g0 und nur ausnahmsweise noch höher. Der Manualumfang war meist C,D-c3. Zweimanualige Orgeln verfügten über Hauptwerk und Rückpositiv. Als drittes Manual kam ein Echowerk mit vollem Manualumfang hinzu. Ab 1740 verbreitete sich die seitenspielige Anlage und das Rückpositiv wurde oft durch ein Unterwerk verdrängt.
Meist standen die Orgeln einen Halbton höher. Bis um 1800 war die mitteltönige Stimmung die Norm. Die Instrumente zeichneten sich durch einen sehr kräftigen Klang aus, so dass deutlich weniger Register als in anderen Regionen ausreichten, um die Kirchenräume mit Klang zu füllen. Fast keine Orgel dieser Zeit ist in größeren Städten erhalten geblieben. Bedeutende Orgelbauer dieses Typus waren die Familien König und Stumm.
Süddeutscher und österreichischer Orgeltypus der Barockzeit
Typisch für diesen Orgeltypus war die große Palette an Grundstimmen, selbst bei sehr kleinen Instrumenten gab es eine Vielfalt an 8-Registern. Zungenstimmen waren dagegen deutlich reduziert. Das Hauptwerk besaß einen vollständig ausgebauten Prinzipalchor gelegentlich mit doppelter Prinzipalbesetzung in der 8′-Lage in Form eines Registers aus Zinn und eines weiteren aus Holz (Portun). Schon früh fanden sich eng mensurierte Register, wie Gamba oder Salicional. Gerne wurden schwebende Register eingebaut. Terzmixturen waren bis gegen 1720 ungebräuchlich und kamen danach nur bei einzelnen Orgelbauern (vor allem in Oberschwaben) vor. Einzelterzen waren sehr selten, häufiger baute man gemischte Farbregister wie Cornettino oder Hörndl. In der Regel waren die Instrumente einmanualig, meist mit angehängtem Pedal, zweimanualige gab es fast nur in größeren Pfarrkirchen und in Klosterkirchen, wo es gelegentlich auch dreimanualige und ausnahmsweise viermanualige Instrumente gab. Dabei waren die Manualwerke oft dynamisch abgestuft. Entsprechend der katholischen Liturgie dienten die Orgeln in erster Linie dem Alternatimspiel, nicht jedoch zur Gemeindebegleitung. Die vielen unterschiedlichen 8′-Register trugen dem Rechnung.
Geteilte Gehäuse und freistehende Spieltische waren ausgesprochen typische Eigenarten dieses Orgelbaustils. Gerne wurden größere Orgelteilwerke in der Emporenbrüstung positioniert. Vielfach gab es für die Zeit enorm fortschrittliche Experimente mit freistehenden Spieltischen und anderen Konstruktionen mit immensem technischem Aufwand, z. B. Chororgeln mit doppelten Prospekten, Zwillingsorgeln (Evangelien- und Epistelseite), z. T. mit meterlangen gewagten unterirdischen Trakturen.
Im Verhältnis zu norddeutschen und westdeutschen Orgeln waren die Instrumente einerseits wesentlich leiser, andererseits deutlich weicher im Klang. Typisch war das häufige Beharren an kurzen oder gebrochenen Oktaven im Bass und an geringen Pedalumfängen sowie das Festhalten an der mitteltönigen Stimmung bis nach 1800. Bekannte Vertreter waren die Familien Butz, Egedacher, Freundt und Rotenburger sowie Joseph Gabler und Johann Nepomuk Holzhey.
Klassische französische Orgel
Orgeln gab es in Frankreich nur in den Klosterkirchen, einzelnen großen Stadtkirchen und in den Bischofskirchen (Kathedralen), aber nicht in den Dörfern. Die Dispositionen waren in hohem Maße standardisiert. Um 1700 besaß praktisch jede Orgel die gleiche Disposition, von der nur in seltenen Fällen abgewichen wurde: Meist handelte es sich um drei- oder viermanualige Instrumente mit Rückpositiv, Hauptwerk, Récit und Echo. Die beiden letzteren waren dabei nur im Diskant ausgebaut und begannen meist bei c1. In Hauptwerk und Rückpositiv gab es als Einzelstimmen Nazard und Terz. Charakteristisch waren die durchdringenden Zungen: Trompette 8’, Clairon 4’ und Voix humaine 8’ im Hauptwerk sowie Cromorne 8’ im Rückpositiv. Das Pedal besaß in der Regel keinen 16’; die sehr kräftige Pedaltrompete 8′ war für Tenor-Cantus-firmi gedacht und konnte sich gegen das Plein Jeu des Hauptwerks durchsetzen kann. Die Vereinheitlichung der Disposition führte zur Komposition von Orgelstücken für bestimmte Registrierungen, einerseits für Soloregistrierungen (Trompette, Cornet, Cromorne, Voix humaine, Jeu de Tierce) andererseits für Prinzipalplenum (Plein Jeu) oder das dialogisierende Zungenplenum (Grand Jeu).
Die Mensuren der beiden Pedalregister waren extrem weit. Der Prinzipalchor der Manualwerke war ebenfalls überwiegend von weiter Mensur, Fourniture und Cymbale unterschieden sich dabei nicht von der Tonhöhe, sondern lediglich von der Mensur her. Die Klangkronen waren sehr tiefliegend. Das Cornet war nur im Diskant (ab c1) ausgebaut. Grand-Orgue und Récit waren oft auf einer Zwillingslade aufgestellt, das Echo im Unterbau (oft direkt hinter dem Notenpult). Das Pedalwerk stand in der Regel auf Sturz links und rechts neben dem Hauptwerk und besaß keinen eigenen Prospekt.
Die Orgeln waren – vor allem im Grand Jeu – sehr laut und dienten – der katholischen Liturgie entsprechend – nur zur Alternatimspraxis, nicht jedoch zur Begleitung eines Gemeindesgesanges. In der Regel waren die Instrumente im Opernthon – also einen Ganzton tiefer als heutige Orgeln gestimmt. Bis ins 19. Jahrhundert war die mitteltönige Stimmung verbreitet. Bekannte Orgelbauer waren François Thierry, Robert Clicquot, François-Henri Clicquot, Andreas Silbermann, Dom Bedos und Karl Joseph Riepp.
Italienische Orgel seit der Renaissance
Der italienische Orgelbau war sehr konservativ. Bis Ende des 19. Jahrhunderts hatte der schon aus der Renaissance stammende Orgeltypus unverändert Gültigkeit. Bis auf wenige Ausnahmen besaßen italienische Orgeln lediglich ein Manual; das Pedal hatte nur 12 bis 17 Tasten und war meist angehängt. Italienische Orgeln verfügten über eine Vielzahl von Prinzipalregistern aller Fußlagen vom 8′ als Fundament bis über die 2′-Lage hinaus. Mehrchörige Klangkronen waren unüblich, stattdessen waren Oktaven und Quinten bis in die höchsten Lagen vorhanden, die zusammen mit den Prinzipalen das Ripieno (Plenum) ergaben. Neben den Prinzipalen kamen nur wenige weitere Register vor. Voce umana oder Fiffaro waren sehr stark schwebende Diskant-Schwebungen zum Prinzipal 8′, daneben gab es nur noch Flötenregister (Flauti in VIIIa, in XIIa, in XVa). Terzhaltige Register, Trompeten (Tromba) und andere Zungenregister oder Streicherstimmen kamen sehr selten vor. Fußtonbezeichnungen wurden im italienischen Orgelbau nicht verwendet. Stattdessen bezeichnete man den Abstand der Registers zur ersten Taste des Prinzipal 8′ mit Zahlen. Ottava (VIII) ist dementsprechend 4′, Duodecima (XII) ′, Decimaquinta (XV) 2′, Decimanona (IXX) ′, Vigesima seconda (XXII) 1′. Der normale Klaviaturumfang lag bei C bis c3 mit kurzer großer Oktave, also 45 Tasten. Größere Orgeln hatten einen größeren Klaviaturumfang, indem man die Klaviatur zur Tiefe um eine Oktave erweiterte, also bei C1 – klingend also 16′ – begann. Die Pfeifen bestanden überwiegend aus dickwandigem Blei. Der Winddruck war sehr niedrig.
Bereits im Laufe des 16. Jahrhunderts hatte sich ein Grundmuster der italienischen Orgelprospektgestaltung gebildet, das bis weit ins 19. Jahrhundert gültig blieb. Grundsätzlich waren flache Fassadenprospekte typisch. Die Prospektpfeifen standen alle in einer Linie in wenigen, nach oben meist mit einem Rundbogen abgeschlossenen Pfeifenfeldern. Der innere technische Aufbau der Orgel hatte auf die Gestaltung des Gehäuses kaum Einfluss, da die meisten Instrumente nur ein Manualwerk besaßen. Häufig standen die Instrumente im Chorraum beiderseits des Altars, und zwar vom Kirchenschiff aus gesehen links die Epistelorgel und rechts die Evangelienorgel. Der katholischen Liturgie entsprechend dienten sie nur zur Alternatimspraxis. Bekannte Orgelbauer waren Graziadio Antegnati, sein Sohn Costanzo Antegnati, Pietro Nacchini und Francesco Dacci.
Orgelbau auf der iberischen Halbinsel im 18. Jahrhundert
In Spanien und Portugal war die Aufteilung der Orgel in verschiedene Werke typisch: Organo mayor (Hauptwerk), cadereta exterior (Rückpositiv), cadereta interior, ein inneres Positiv im Echokasten, das für dynamische Effekte einzelner Register (Echokornett, Echotrompete) vom Spieltisch aus bewegliche Türen besaß, und Trompetería (Horizontalzungenbatterie) – auch Lengüetería genannt. Brustwerke gab es im spanischen Orgelbau keine, stattdessen findet man oft ein Unterwerk unter der Spielanlage. Aufgrund der seitlichen Aufstellung vieler Orgeln links und rechts im Chorraum gab es an manchen Instrumenten auch Hinterwerke mit eigenem Prospekt, die ins Seitenschiff absprachen. Die einzelnen Werke wurden über Sperrventile angeschaltet. Auch bei bis zu fünf Werken wurden nie mehr als 3 Manuale gebaut. Aufgrund der Raumnot, welche die Aufstellung zwischen Hauptschiff und Seitenschiff und zwischen zwei Pfeilern mit sich brachte, waren die Windladen extrem klein gefertigt. Für die ausreichende Windversorgung sorgten lange Ventile. Die großen und nicht mehr auf dem geringen Platz der Lade selbst unterzubringenden Pfeifen wurden abgeführt. Die Trakturen waren oft nur wenige Zentimeter lang, während die Pfeifen über bis zu 10 m lange Kondukten versorgt wurden.
Die Registerzüge wurden nach Bass und Diskant auf die linke und rechte Seite neben der Klaviatur verteilt. Manualkoppeln gab es nur selten, Pedalkoppeln wurden keine gebaut, Oft war das Pedal angehängt oder verfügte nur über wenige Register in 16′- und 8′-Lage, vereinzelt auch in 32′-Lage und hatte in der Regel nur den Umfang einer Oktave. Die Pedaltasten waren oft als Knöpfe geformt und eigneten sich nur zur Ausführung eines Orgelpunkts, also einzelner langgehaltener Töne. Üblich waren Schleifladen mit chromatischer Aufstellung, häufig mit kurzer großer Oktave. Typisch ist die Teilung in Bass und Diskant einheitlich zwischen c1 und cis1, was eine große Anzahl an Registerzügen zur Folge hatte. Neben den horizontalen gab es auch viele vertikale Zungenregister, so dass im Hauptwerk mehrere unterschiedliche Trompeten und kurzbechrige Zungenregister (z. B. Orlos) zu finden waren. Repetierende Mixturen enthielten oft eine Terz. Der katholischen Liturgie entsprechend dienten die Orgeln nur zur Alternatimspraxis, nicht jedoch zur Begleitung eines Gemeindesgesanges. Als bedeutende Orgelbauer galten Pedro de Liborno, Fernández Dávila und Jordi Bosch.
Orgelbau in England im 18. Jahrhundert
In England war aufgrund der puritanisch-calvinistischen Glaubensvorstellung bis 1660 die Benutzung der Orgel im Gottesdienst verboten. Danach begann der Orgelbau praktisch von einem Nullpunkt aus und wurde hauptsächlich von Einwanderern geleistet: u. a. Bernhard Schmid (genannt Father Smith) und Christopher Schrider aus Deutschland, Renatus Harris aus Frankreich und Johannes Snetzler aus der Schweiz. So kamen unterschiedliche Stilelemente in den Orgelbau.
Neben dem Prinziplachor (Open diapason oder Principal) gab es nur wenige Register anderer Bauart: Stopped diapason (Gedackt), manchmal auch Flute, Sesquialtera und ein oder zwei Zungenregister. Der Manualumfang reichte normalerweise von G1 bis d3, ein Pedal war bis 1720 praktisch unbekannt, danach kamen angehängte Pedale auf. Erst ab 1790 gab es eigene Pedalregister – jedoch bis etwa 1820 nur als 8′. 1712 wurde erstmals ein Schwellwerk gebaut. Danach wurden die meisten Echowerke in Schwellwerke umgewandelt. Eine Besonderheit englischer Orgeln ist die Aufstellung auf einem Lettner.
Fast keine englische Orgel der Barockzeit ist unverändert erhalten. Ständig wurden Instrumente von einem Ort zum nächsten verbracht, wurden Werk und Gehäuse voneinander getrennt, alte Werke mit neuem Gehäuse versehen, einzelne Register in andere Orgeln eingebaut.
Romantik
Nachdem die Orgel in der Zeit der frühen Klassik an Aufmerksamkeit verlor und als Folge der Säkularisation – vor allem in Süddeutschland – kaum noch Orgeln gebaut wurden, entstand mit der romantischen Orgel ein neues, vollkommen anderes, orchestrales Klangideal, das nach und nach zu einer Art Globalisierung im Orgelbau führte. In viel stärkerem Maße als bei der Barockorgel ist hier die 8′-Lage, im Pedalwerk auch die 16′-Lage, mehrfach mit verschiedenen, Orchesterinstrumente nachahmenden Stimmen besetzt, die höheren Lagen treten dafür deutlich zurück: Terzen verschwinden ganz, andere Aliquoten werden kaum noch disponiert. Im Vordergrund stand das Ideal der „Vermischung“ – die Orgel sollte wie ein Orchester klingen, es sollten keine Brüche im Klang mehr erkennbar sein. Daher wurden gehäuft Streicher und überblasende Flöten verwendet.
Die Epoche von 1830 bis 1920 war im Orgelbau eine Phase technischer Innovationen und Weiterentwicklungen. Nun strebten neben den Städten und Klöstern überall auch die Dorfkirchengemeinden nach einer Orgel, was einerseits zu einem regelrechten Orgelbauboom führte, andererseits Großbetriebe hervorbrachte. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts gab es in Deutschland fast keine Kirche ohne eine Orgel mehr.
In Deutschland vollzog sich die Entwicklung des romantischen Orgelbaus in drei Phasen.
Frühromantischer Orgelbau in Deutschland (1830–1860)
Das Nebenmanual wurde meist als Hinterwerk oder Seitenwerk ohne eigenen Prospekt gebaut, Brustwerke und Rückpositive kamen nicht mehr zur Anwendung. Für den Gehäusebau wurden Rundbögen und „küchenschrankähnliche Verkleidungen“ typisch. Der Manualumfang wurde in der Regel bis f3 erweitert, der Pedalumfang blieb hingegen oft auf anderthalb Oktaven (bis f° oder g°) beschränkt. Die bis dahin gebräuchliche mitteltönige Stimmung und die wohltemperierten Stimmungen wurden endgültig durch die gleichschwebende Stimmung abgelöst. Vermehrt wurden durchschlagende Zungen gebaut.
Hochromantischer Orgelbau in Deutschland (1860–1890)
Wichtigstes Kennzeichen dieser zweiten Phase des Orgelbaus in Deutschland war ab etwa 1860 die Verdrängung der Schleiflade durch die Kegellade. Orgelbauer, die keine Kegelladen bauten, erhielten nach und nach keine Aufträge mehr. In den 1870er Jahren hatten sich alle größeren Werkstätten auf Kegelladen umgestellt.
Das Hauptwerk bekam nun deutlich mehr Kraft, vor allem durch die Terzmixturen, die sich allmählich durchsetzten, die Nebenmanuale traten dagegen deutlich zurück: Hier verschwanden mehr und mehr die Zungenstimmen. Systematisch wurden nun Kernstiche zur Verbesserung der Intonation angebracht. Freistehende Spieltisch wurden nun zum Standard, die oft feste Kombinationen als Tritte oder Züge und – besonders in größeren Orgeln – erste Crescendovorrichtungen erhielten.
Spätromantischer Orgelbau in Deutschland (1890–1920)
Mit der Einführung der pneumatischen Traktur um 1890 begann in Deutschland die spätromantische Phase des Orgelbaus. Die Pneumatik brachte einige neue technische Möglichkeiten mit sich: So konnten durch freie Kombinationen erstmals Klangverbindungen vorprogrammiert werden. Sub- und Superoktavkoppeln schufen weitere Möglichkeiten. Viele Orgeln verfügten nun über eine Crescendowalze, die es ermöglichte, mittels einer mit dem Fuß zu bedienenden Walze oder eines Balanciertritts nach und nach alle Register der Orgel zuzuschalten, ohne die entsprechenden Registerknöpfe einzeln von Hand bedienen zu müssen.
Bereits 1833 hatte Walcker in Frankfurt das erste Schwellwerk errichtet. Dabei befindet sich ein Teil der Pfeifen innerhalb oder hinter dem Hauptgehäuse in einem Kasten mit jalousieartigen Schwelltüren, die mittels eines Fußtrittes am Spieltisch geöffnet oder geschlossen werden können. Dies macht eine stufenlose Veränderung der Dynamik möglich. In Deutschland blieben Schwellwerke bis 1890 eher die Ausnahme und konnten sich erst mit der Röhrenpneumatik durchsetzen. Ab 1910 wurden Schwellwerke dann auch in kleineren Orgeln gebaut.
In jedem Werk wurden jetzt sehr viele Register in der 8′-Lage (Äquallage) disponiert, darunter häufig Streicher. Im zweiten Manual tauchten meist Register ähnlicher Bauart in einem leiseren Typus auf. Dies diente zur Schattierung und zur Abstufung der Lautstärke. Streicher wurden nun auch als Schwebung gebaut. In kleineren Orgeln erhielt das zweite Manual häufig neben vier bis fünf 8′-Registern nur ein 4′-Register und keine weitere Stimme. In größeren Orgeln wurden gelegentlich Hochdruckregister wie Stentorgambe oder Seraphonflöte gebaut.
Symphonische Orgel in Frankreich
Die französisch-romantische Orgel geht im Wesentlichen auf Aristide Cavaillé-Coll zurück. Sie besitzt in der Regel mechanische Trakturen, im Hauptwerk meist mit Barkerhebel und verfügt meist über ein Schwellwerk. Typisch sind die vielen Zungenregister, vor allem die schmetternden Trompeten, die überblasenden Flöten (Flûte harmonique genannt) und die schwebende Voix céleste im Schwellwerk.
Romantische Orgel in England
Die englisch-romantische Orgel ist gewissermaßen eine Synthese der deutsch-romantischen und der französisch-romantischen Orgel. Sie besitzt zarte Streicher und Soloregister in Abschattierungen neben höheren Registern und starken Trompeten, die oft als Hochdruckregister gebaut wurden.
20. Jahrhundert
Orgeln außerhalb von Sakralbauten
Spätestens seit Ende des 19. Jahrhunderts wurden vermehrt Orgeln in Konzertsälen und Anfang des 20. Jahrhunderts auch in den mit dem Stummfilm aufkommenden Lichtspielhäusern, dort als Kinoorgel bezeichnet, gebaut. Die Orgeln für Konzertsäle zeigten bereits erste Tendenzen der Universalorgel. Die Kinoorgel hingegen orientierte sich noch am Klangbild der romantischen Orgel. Hinzu kamen aber vermehrt Zungenstimmen, die trotz ihrer teilweise alten Bezeichnungen mitunter neu oder erheblich umkonstruiert wurden, und vor allem diverse Effektregister (Trommeln, Glocken, Klingeln, Xylophon und weitere Geräusche, wie zum Beispiel auch „Telefonklingeln“), die sich in anderen, vor allem in Sakralbauten stehenden, Orgeln nicht finden.
Zahlreiche technische Neuerungen (Pneumatik, Elektrik und neue Baumaterialien) machten es möglich, immer größere Instrumente sowie Fernwerke zu bauen. In diese Zeit fällt auch der Bau einiger Riesenorgeln. So entstanden in dieser Zeit die beiden bis heute größten Pfeifenorgeln der Welt in einer Veranstaltungshalle (Orgel der Boardwalk Hall in Atlantic City) und einem Kaufhaus (Wanamaker-Orgel in Philadelphia). Häufig wurde dabei auf das Multiplexsystem zurückgegriffen, bei dem aus einer Pfeifenreihen mit dem Transmissions- und Extensionsverfahren mehrere Register unterschiedlicher Fußtonlagen erzeugt werden. So können zum Beispiel aus einer 8′-Pfeifenreihe 4′-, ′- und 2′-Register abgeleitet werden; das bedeutet, dass die vier Register die gleichen Pfeifen nutzen.
Orgelbewegung
Die sogenannte Orgelbewegung war eine Strömung etwa in der Zeit von 1920 bis 1970/1980. Sie legte ihren Schwerpunkt als bewusste Abkehr von der romantischen Orgel auf die Wiederbelebung der norddeutschen Orgel der Barockzeit und mündete nach dem Zweiten Weltkrieg in eine als Neobarock bezeichnete zweite Phase.
Orgelbau nach dem Ersten Weltkrieg
Mit dem Ersten Weltkrieg kam der Orgelbau in Deutschland zum Erliegen. Zu Beginn der 1920er Jahre wurden aus finanziellen und materiellen Schwierigkeiten kaum neue Orgeln erbaut.
Der von Wilibald Gurlitt initiierte Bau der Praetorius-Orgel in Freiburg (Walcker, 1921) führte zu einer Rückbesinnung auf die frühbarocke (norddeutsche) Orgel. Instrumente romantischen Klangcharakters wurden nun meist grundsätzlich als „Fabrikorgeln“ abgewertet. Dennoch wurden die Erfindungen der Spätromantik zunächst beibehalten: Freie Kombinationen, Oktavkoppeln, Transmissionen, Extensionen, elektropneumatische Trakturen. Die typischen Merkmale der neuen Ästhetik waren: Höher liegende und stärker besetzte Mixturen auch in den Nebenmanualen, Disponierung von Aliquoten, mehr Zungen als in der Spätromantik vor allem auch in den Nebenmanualen, deutlich weniger 8′-Register, Verzicht auf die Vox coelestis usw. Neubauten, die auch technisch an der Barockzeit orientiert waren, also mechanische Schleifladen aufwiesen, blieben die absolute Ausnahme. Die meisten Orgelbauer dieser Zeit strebten einen Mittelweg an, indem sie Merkmale der spätromantischen Orgel mit den Ideen der Orgelbewegung verbanden.
Orgelbau nach 1945
Nach dem Zweiten Weltkrieg trat die Orgelbewegung in eine zweite Phase: Die Beschäftigung mit den in Vergessenheit geratenen barocken Klangidealen und Prinzipien des Orgelbaus führte nun zur Entwicklung „neobarock“ ausgerichteter neuer Orgeln und zu wachsendem Interesse an der Restaurierung barocker und vor-barocker Orgeln. Im Mittelpunkt standen nun neben klanglichen auch technische Fragen. Allerdings war die Rückkehr zur mechanischen Schleiflade noch nicht vollzogen. Elektrische Spieltrakturen wurden zurückgedrängt und die Kegellade geradezu verteufelt und nach 1965 praktisch nicht mehr gebaut. Stattdessen erhielten ab etwa 1965 die meisten Orgeln Schleifladen mit mechanischer Spiel- und (oft) elektrischer Registertraktur. In der Prospektgestaltung herrschte in den 1950er Jahren der Freipfeifenprospekt vor. Jedoch wurden auch Rückpositiv, Brustwerk und Oberwerk wieder modern, Schwellwerke wurden dagegen seltener gebaut.
Da im Zweiten Weltkrieg viele Instrumente verloren gegangen oder unbrauchbar geworden waren und die beiden großen Konfessionen vermehrt Kirchenneubauten unternahmen, setzte in Westdeutschland ein regelrechter „Orgelbauboom“ ein, der teilweise in einer tatsächlich „fabrikmäßigen“ Serienproduktion unter Verwendung von nicht alterungsbeständigen oder unerprobten Materialien (Windladen aus Sperrholz, Spieltrakturen unter Verwendung von Aluminium oder Kunststoff) mündete. Der Einsatz solcher Materialien galt seinerzeit als fortschrittlich und innovativ, erwies sich aber im Nachhinein als nicht sehr nachhaltig, da die Materialien oft nicht beständig waren. Die Instrumente erhielten viele sehr hochliegende Mixturen und zahlreiche Aliquoten. Die daraus resultierenden Orgeln zeichnen sich im Gegensatz zu denen des Barocks oft durch einen spitzen, teilweise sogar schrillen und schreienden Klang, schwaches Bassfundament und fehlende Kraft in der Mittellage aus. Die Orgelbewegung ist somit aus heutiger Sicht zwar weit über ihr Ziel hinaus geschossen, hat aber auch die historische Aufarbeitung der Orgelgeschichte erheblich beeinflusst und teilweise überhaupt erst initiiert.
Die von den Initiatoren in den 1950er bis 1970er Jahren als Fortschritt (oder auch Rückbesinnung) verstandenen Ziele (Rückkehr zu handwerklicher Fertigung, hellerer Klang, klarere Zeichnung der Stimmen) führten häufig zu heute nur schwer nachvollziehbaren Verlusten an Orgeln mit anderem Konzept. So mussten viele romantische Orgeln neuen Instrumenten mit steiler, „neobarocker“ Disposition (wenig Grundton, viel Oberton) weichen. Nicht nur wurden in diesen Jahrzehnten viele romantische Orgeln „barockisiert“, oder einem „Klangumbau“ unterzogen, oft wurden erhaltene (spät-)barocke Orgeln, besonders süddeutscher Provenienz, deren Disposition nicht barock genug erschien, den häufig sehr schematischen Prinzipien der Orgelbewegung angepasst. Durch solche Umbauten ging manchen Orgeln mehr originale barocke Substanz verloren als in der vorangehenden Romantik. Dennoch gab es auch erste stilgerechte Restaurierungen von Orgeln, beispielsweise durch Jürgen Ahrend und Gerhard Brunzema, z. B. in Rysum (1960).
In Frankreich bildete sich in den 1920er Jahren der neoklassizistische Orgeltypus heraus (l’orgue néoclassique), der bei elektrischen Trakturen die Registerausstattung der französischen Spätromantik mit Einzelaliquoten und Mixturen sowie teilweise historisierenden Zungenstimmen anreicherte. Damit glaubte man ein universelles Instrument für Bach und die alten deutscher Meister wie für die gesamte französische Schule gefunden zu haben. Erst mit den 1970er Jahren traten in Frankreich verstärkt Instrumente auf, die sich an der klassischen französischen Orgel oder am norddeutschen Barock zu orientieren suchten.
Universal- und Stilorgel
Die Ausweitung des Organistenrepertoires, die vertiefte Beschäftigung mit Instrumenten anderer Länder und die nostalgische Wahrnehmung des 19. Jahrhunderts führten ab den 1970er Jahren zu einer Kritik der von der Orgelbewegung geprägten Instrumententypen. Wert und Berechtigung romantischer Orgeln und ihrer spezifischen Musik kamen wieder stärker ins Bewusstsein. In neuester Zeit geht der Trend dahin, bei Generalüberholungen von „barockisierten“ Orgeln des 19. und frühen 20. Jahrhunderts diese in den Originalzustand zurückzuführen. Zum Ende des 20. Jahrhunderts war die Anzahl der Neubauten angestiegen, da viele übereilt gebaute oder schlechte Nachkriegsinstrumente allmählich ersetzt werden mussten. Dabei bestand allerdings die Gefahr, dass auch bedeutende Orgeln des 20. Jahrhunderts aufgegeben wurden.
Seit den 1980er Jahren wird bei Neubauten vermehrt mit einer Art „Universalorgel“ experimentiert, die für alle Arten und Stile von Orgelliteratur bestmöglich geeignet sein soll. Bei größeren Orgeln (ab drei Manualen und ca. 40 Registern) kam man dabei zu brauchbaren musikalischen Ergebnissen, indem man ein Hauptwerk mit norddeutschem Plenum mit einem französisch-barocken Rückpositiv und einem französisch-symphonischen Schwellwerk verband. Allerdings ließen sich die technischen und die klanglichen Eigenschaften verschiedener Zeit- oder Regionalstile nur bedingt in einem Instrument vereinen. Bei kleineren Orgeln erwies sich die Vermischung von Stilelementen verschiedener Epochen als noch problematischer.
Dem in Deutschland vorherrschenden Ideal einer Orgel der stilistischen Synthese trat mit der wachsenden Bedeutung der historischen Aufführungspraxis zunehmend das des stilgetreuen Instruments gegenüber. Detaillierte wissenschaftliche Kenntnisse über den älteren Instrumentenbau und stetig gewachsene Erfahrungen durch sorgfältige Restaurierungen bieten dem heutigen Orgelbau die Möglichkeit, neue Instrumente nach Vorbildern aus verschiedenen Epochen und Kunstlandschaften anzubieten. Ein Beispiel für den Neubau im Stil einer spanischen Barockorgel ist die sogenannte Spanische Orgel in der Hof- und Stadtkirche St. Johannis in Hannover. Auch Rekonstruktionen untergegangener Instrumente werden vermehrt ausgeführt, so z. B. der Orgel von Johann Andreas Silbermann in Villingen-Schwenningen (Gaston Kern, 2002).
21. Jahrhundert
Mit Beginn des 21. Jahrhunderts kam der Orgelbau aufgrund des Mitgliederschwundes der Kirchen teilweise zum Erliegen. Manche Kirche in Deutschland und in anderen Ländern musste aufgegeben werden. Als Folge konnten einige englisch-romantische Orgeln nach Deutschland transloziert oder in Neubauten integriert werden. Die Tendenz, Material von älteren Orgeln wiederzuverwenden, führt auch dazu, dass nun häufiger wieder Kegelladen zum Einsatz kommen. In kleineren Orgeln (bis etwa 15 Register) werden vermehrt Wechselschleifen eingesetzt, die es ermöglichen, Register eines Werkes von diesem unabhängig auf einem anderen spielbar zu machen.
Nennenswerte technische Fortschritte gibt es im Bereich der Spielhilfen und der elektrischen Traktur. Die Elektronik hat größere Setzeranlagen ermöglicht, teilweise sind auch schon Kirchenorgeln midifiziert worden, so dass diese mit einem PC verbunden und über diesen gesteuert werden können. Auch die Verbindung mit externen Klangerzeugern wie Synthesizern ist so möglich, wodurch sich neue Impulse für Komposition und Improvisation ergeben. Weiterhin wird geforscht, wie sich eine Art „Anschlagsdynamik“ auf der Orgel realisieren und wie sich das interaktive Verhalten einer mechanischen Traktur mechatronisch bei elektrischen Trakturen nachbilden lässt. Wo sich mechanische Trakturen nicht errichten lassen, verdrängen Lichtwellenleiter die elektrischen Trakturen in Orgelneubauten. Durch die Einführung digitaler Steuerungen als Ersatz für elektrische Trakturen ergeben sich viele neue technische Möglichkeiten: Ohne dass eigene Verkabelungen nötig werden, sind Sub- und Superkoppeln so nun nur noch Schaltungen, einzelne Manualwerke können als Floating division angelegt und an jedes Manual zugeschaltet werden, die Transposition in alle zwölf Töne der chromatischen Tonleiter ist ebenfalls als Schaltung möglich. Vermehrt werden einzelne Register nun als Auxiliar, z. B. in 16′-, 8′- und 4′-Lage gebaut, wodurch eine Pfeifenreihe in allen Manualen und im Pedal als Transmission oder Extension angespielt werden kann.
Digitalorgeln
Eine weitere Variante, die sich mit dem Fortschritt der Digitaltechnik zunehmend ihren Platz erobert hat, ist die Digitalorgel (oder digitale Konzert- und Sakral-Orgel). Sie ist vor allem als Übungsinstrument in Privathäusern, in kleinen Kirchen und Kapellen oder als Interimsinstrument während Umbau- bzw. Neubauphasen der Pfeifenorgel zu finden. Die laufenden Verbesserungen der Klang- und Reproduktionsqualität machen digitale Sakralorgeln zunehmend zu einer Alternative für größere Kirchen und Konzertsäle und werden mittlerweile auch von namhaften Organisten als konzertantes Instrument akzeptiert. Allerdings können die „natürliche“ Ungleichmäßigkeit einer Pfeifenorgel und ihr individueller Charakter bei der Interaktion mit dem Spieler von einer Digitalorgel bisher nur bedingt wiedergegeben werden. Vor allem nahe am Instrument verliert eine Digitalorgel an räumlicher Tiefe und Plastizität, was von vielen Organisten und Zuhörern als unbefriedigend empfunden wird.
Versuche, „echte“ Orgeln mit Digitalorgeln zu kombinieren (sogenannte Kombinations- oder Hybridorgeln), haben sich bis jetzt aufgrund naheliegender Probleme (Stimmung, Vermischungsfähigkeit) nicht durchsetzen können. Besonders in den USA werden jedoch des Öfteren teure Bassregister und Lingualregister digital ausgeführt. Auch lassen sich Effektregister, die nicht so stimmungsanfällig sind, leicht elektronisch ausführen.
Historische Orgeln
Es gibt nur wenige ältere Instrumente, die in ihrer originalen Substanz im Wesentlichen erhalten sind. Orgeln wurden in der Vergangenheit immer wieder umgebaut, erneuert und dem jeweiligen Zeitgeschmack (Disposition, Intonation, Stimmung, Technik) angepasst. Manchmal sind nur noch Spuren der ursprünglichen Technik zu entdecken, und oft sind überhaupt nur Teile des Pfeifenwerks erhalten – womöglich in modifizierter Form. Äußerst selten wurden Werke in ihrer historischen ungleichstufigen Stimmung belassen. So kommt es beispielsweise häufig vor, dass sich hinter einem barocken Orgelprospekt Technik des 20. Jahrhunderts verbirgt.
Bei der Wiederherstellung historischer Orgeln spricht man entweder von Restaurierung (wenn das vorhandene Material den angestrebten Zustand noch erkennen lässt) oder von Rekonstruktion (wenn große Teile des Werkes der Zielvorstellung entsprechend neu gebaut werden müssen). Regelmäßig entstehen dabei Konflikte mit dem Grundsatz des Denkmalschutzes, dass die Erhaltung des vorhandenen „gewachsenen“ Zustandes der Rückgewinnung eines verlorenen vorzuziehen ist.
Selbst bestimmte Orgeln aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts können schon als historisch und erhaltenswert angesehen werden. Diskutiert wird zurzeit in Einzelfällen, ob sogar Orgeln der Orgelbewegung als erhaltenswert gelten können und sollten.
Stimmungen
Es ist davon auszugehen, dass die ersten Orgeln die pythagoreische Stimmung genutzt haben. Erst durch die zunehmende musikalische und technische Entwicklung der Orgel konnte sich eine modifizierte reine Stimmung durchsetzen. Die mitteltönige Stimmung entstand im 16. Jahrhundert und wurde bis ins 18. Jahrhundert als Orgelstimmung verwendet. Zur Vermeidung der Differenz des syntonischen Kommas wurden dabei leicht verkleinerte Quinten eingeführt, von denen vier aufeinandergeschichtet eine reine große Terz bilden.
Im Laufe des 17. Jahrhunderts wurde die Beschränkung auf zentrale Tonarten zunehmend als störend empfunden. Es entstanden die wohltemperierten Stimmungen. Beispiele hierfür sind die Stimmungen von Andreas Werckmeister, insbesondere die sogenannte Werckmeister-III-Temperatur, oder die Stimmungen des Orgelbauers Gottfried Silbermann. Dennoch waren viele Orgeln bis weit ins 18. Jahrhundert hinein mitteltönig gestimmt. Erst im 19. Jahrhundert setzte sich die gleichstufige Temperatur schließlich allgemein als Standard durch.
Heute gibt es wieder vermehrt Diskussionen darüber, wie Orgeln gestimmt werden sollen. Viele historische Kompositionen gehen von unterschiedlichen Klangeigenschaften verschiedener Tonarten und Akkorde aus, die auf gleichstufig gestimmten Instrumenten nicht reproduzierbar sind; dieses ist insbesondere für die historische Aufführungspraxis von Bedeutung. Orgeln werden daher heute oft – als Kompromiss – in einer gemäßigten Temperierung gestimmt.
Die Stimmtonhöhe unterschied sich innerhalb Europas sehr, je nach Zeit und Region. Eine Tendenz zur Vereinheitlichung setzte im 17. Jahrhundert ein. In der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts wurden Orgeln meist entweder im Kammerton (etwa einen Halbton tiefer als heute), im Chorton (bis zu einer kleinen Terz höher als heute) oder im dazwischen liegenden Cornet-Ton gebaut und gestimmt. Seit 1858 galt als Standard a1 = 435 Hz. 1939 wurde die heutige Stimmtonhöhe von a1 = 440 Hz (bei 18 °C) festgesetzt.
Die Stimmtonhöhe der Orgel ist auch abhängig von der Lufttemperatur. Die Verstimmung beträgt zwar nur wenige Cent pro Grad Celsius, kann aber unter Umständen sogar einen Viertelton betragen. Selbst die Wärmeabgabe des Gebläsemotors, Sonneneinstrahlung oder Berührung (zum Beispiel beim Stimmen) können zu Verstimmungen der Orgelpfeifen führen. Auch Luftdruck und Luftfeuchtigkeit spielen dabei eine Rolle.
Orgelmusik
Historischer Überblick
Als älteste schriftlich überlieferte Orgelmusik gilt die Musik aus dem Robertsbridge Codex (Appendix um 1350). Einige wenige Quellen stammen aus spätgotischer Zeit, so der Codex Faenza (um 1420), die Orgelstücke aus der Predigtsammlung aus Winsen (1431), die Oldenburger Orgeltabulatur des Magister Ludolf Lying (1445) und die Tabulatur des Adam Ileborgh aus Stendal (1448). Aus der Zeit des musikalischen Umbruchs vom Mittelalter zur Renaissance stammt das für damalige Verhältnisse sehr umfangreiche Buxheimer Orgelbuch (1460/1470).
Im 16. Jahrhundert erschienen bereits zahlreiche, in Tabulaturen erfasste Orgelstücke. Die Orgelmusik erlebte ihre erste Blütezeit. Bekannte Vertreter dieser Epoche sind u. a. Arnolt Schlick (~1460~1521), Leonhard Kleber (~1495–1537), Hans Kotter (~1485–1541), Antonio de Cabezón (1510–1566) und Jacob Paix (1556–1623?). Durch den Dreißigjährigen Krieg sind jedoch in einem nicht mehr nachvollziehbaren Maße Quellen und Orgeln aus Mittelalter und Renaissance verloren gegangen.
In der Zeit des Barock erlebte die Orgelmusik ihren zweiten Höhepunkt. Die in jener Zeit voll ausgebildeten, regional stark unterschiedlichen Orgeltypen führten zu entsprechend vielfältiger und ebenso unterschiedlicher Orgelmusik. Orgelmusik aus der Zeit des Barocks ist heute noch fester Bestandteil vieler Orgelkonzerte, was auch damit zu tun hat, dass aus dieser Zeit sehr viele Quellen, aber auch etliche Orgeln bis heute überdauert haben.
Die berühmtesten Komponisten barocker Orgelmusik waren:
im norddeutschen Raum: Heinrich Scheidemann (1596–1663), Franz Tunder (1614–1667), Dieterich Buxtehude (1637–1707), Johann Adam Reincken (1643–1722), Vincent Lübeck (1654–1740), Georg Böhm (1661–1733), Nicolaus Bruhns (1665–1697)
im mitteldeutschen Raum: Samuel Scheidt (1587–1654), Johann Pachelbel (1653–1706), Johann Kuhnau (1660–1722), Friedrich Wilhelm Zachow (1663–1712), Johann Gottfried Walther (1684–1748) und nicht zuletzt Johann Sebastian Bach (1685–1750)
im süddeutschen Raum: Johann Jakob Froberger (1616–1667), Johann Caspar Ferdinand Fischer (~1665–1746), Gottlieb Muffat (1690–1770)
in den Niederlanden: Jan Pieterszoon Sweelinck (1562–1621)
in Frankreich: François Couperin (1668–1733), Louis Marchand (1669–1732), Nicolas de Grigny (1672–1703), Louis-Nicolas Clérambault (1676–1749)
in Italien: Girolamo Frescobaldi (1583–1643), Domenico Zipoli (1688–1726)
in Spanien: Francisco Correa de Arauxo (1584–1654), Juan Bautista José Cabanilles (1644–1712)
Mit dem Ende der Barockzeit Mitte des 18. Jahrhunderts ließ das Interesse an der Orgel stark nach. Nach einer längeren Pause in der Klassik erlebte die Orgelmusik ihren dritten Höhepunkt in der Zeit der Romantik, in der sich neben dem wiedererwachten Interesse an alten Formen, die mit der neuen Tonsprache verbunden wurden, auch die sinfonische Orgelmusik herausbildete. Berühmte Vertreter dieser Epoche sind u. a. Felix Mendelssohn Bartholdy (1809–1847), Johannes Brahms (1833–1897) und Max Reger (1873–1916) in Deutschland sowie César Franck (1822–1890), Jacques-Nicolas Lemmens (1823–1881), Alexandre Guilmant (1837–1911) und Charles-Marie Widor (1844–1937) in Frankreich.
In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts entstand eine besondere neoklassizistische Schule (Siegfried Reda, Johann Nepomuk David), andererseits fand eine Weiterentwicklung der sinfonischen Musik für Orgel statt (Sigfrid Karg-Elert, Louis Vierne, Charles Tournemire, Marcel Dupré, Maurice Duruflé, Jean Langlais). Auch Komponisten der dodekaphonen und nachfolgend der seriellen Musik schrieben für die Orgel. Einer ihrer Vertreter ist Olivier Messiaen. Der verstärkte Orgelbau außerhalb von Sakralbauten (Kinoorgel, Orgel im Konzertsaal) führte dazu, dass nun auch wieder vermehrt weltliche Musik auf der Orgel gespielt wurde. Mit dem Aufkommen elektromechanischer Orgeln und später elektronischer Orgeln wurde jedoch der Großteil dieser neuen weltlichen Orgelmusik auf diese Instrumente verlagert.
Seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts werden auch experimentelle Elemente und neue kompositorische Verfahren verwendet (Cluster bei György Ligeti, graphische Notation bei Mauricio Kagel). Daneben fließen aber auch Elemente älterer Epochen (Gregorianik, Mittelalter, Renaissance, Barock) und genrefremder Musikrichtungen (Blues, Jazz, Rock) in die Orgelmusik ein. Auch Anleihen bei der Filmmusik sind zu beobachten, wobei es hier primär nicht um die Wiederbelebung der alten Kinoorgeltradition geht.
Orgellandschaften und Funktionen der Orgelmusik
Ein zweites Unterscheidungskriterium neben der historischen Zuordnung ist das der Orgellandschaft, da Orgelmusik oft für ganz bestimmte Instrumente oder Instrumententypen geschrieben oder zumindest von ihnen inspiriert wurde.
Ein drittes Unterscheidungskriterium ist der Unterschied zwischen geistlicher und weltlicher Orgelmusik.
Als weltliche Orgelmusik gilt religionsunabhängige Musik, z. B. die antike Orgelmusik auf der Hydraulis, die Bearbeitungen von Tänzen und weltlichen Liedern in der Zeit der Renaissance, die üblicherweise auf Hausorgeln, Positiven und Regalen wiedergegeben wurden, oder auch die Stummfilmbegleitung auf der Kinoorgel.
Als geistliche Orgelmusik gilt, was im Rahmen von religiösen Zeremonien gespielt wird oder auf religiösem Liedgut basiert. Dazu gehört z. B. bis auf wenige Ausnahmen die Orgelmusik, die im Rahmen eines christlichen Gottesdienstes gespielt wird (liturgisches Orgelspiel). Im Bereich der geistlichen Orgelmusik ist darüber hinaus eine Differenzierung zwischen „choralgebundener“, also auf einem geistlichen Lied basierender, und „freier“ Literatur üblich.
Solistisches Orgelspiel und Improvisation
Am künstlerisch bedeutsamsten ist das solistische Orgelspiel. Seit dem Barock sind dessen wichtigste Formen: Praeludium, Toccata, Fantasie, Voluntary, Tiento, Chaconne, Passacaglia, Ricercar, Fuge, Variation, Suite, Sonate, Triosonate und Orgelsinfonie; wobei auch die Kombination einer Fuge mit einem vorangehenden weiteren Stück (zum Beispiel Präludium, Toccata oder Fantasie) häufig vorkommt. Diese Orgelstücke werden als „freie“ Orgelmusik bezeichnet, weil ihnen vom Komponisten frei verfasste Themen zugrunde liegen. Hinzu kommen choralgebundene Kompositionen: gregorianischer Choral beziehungsweise protestantische und katholische Kirchenlieder, die teilweise auch in den zuvor beschriebenen Formen komponiert sind. Eine häufige Form der Orgelbearbeitung eines meist protestantischen Kirchenliedes ist die
Choralbearbeitung.
Die Improvisation ist mit der Orgel eng verbunden. Dies liegt unter anderem daran, dass ein Musiker auf der Orgel eine mehrstimmige Improvisation allein, also ohne Zusammenwirken mit anderen Instrumenten, gestalten kann. Zum anderen ist gerade beim Kontakt mit einer dem Musiker unbekannten Orgel die Improvisation eine sehr gute Möglichkeit, das Instrument kennenzulernen, ohne durch mit komponierten Stücken verbundene Klangvorstellungen eingeengt zu sein.
Die Improvisation ist in der geistlichen Orgelmusik äußerst wichtig und in jeder kirchenmusikalischen Ausbildung fester Bestandteil der Lehre; sie ist ebenfalls in Form von Choralvorspielen und Intonationen fester Bestandteil des liturgischen Orgelspiels und entstand aus den eher funktionalen Ansprüchen an die Musik im Gottesdienst.
In der weltlichen Orgelmusik ist die Improvisation seit je her ein Begleiter der Orgel. Ein Beispiel dafür ist die musikalische Untermalung von Stummfilmen auf der Kinoorgel. Hierbei wird fast immer improvisiert, wobei der ausführende Musiker dies in Echtzeit zum laufenden Film zu bewerkstelligen hat. Normalerweise ist das nur möglich, wenn der Musiker den Film bereits kennt.
Kammer- und Orchestermusik
Die Orgel in der hier beschriebenen Form spielt in der Kammermusik keine große Rolle. Kleinere Orgeln sind seit dem Barock besonders als Basso-Continuo-Instrument verbreitet. Orchestermusik mit Orgel wurde zunächst im Barock besonders in den Orgelkonzerten Georg Friedrich Händels, seltener zur Zeit der Klassik, sowie dann mit großer Orgel vereinzelt in der Romantik gepflegt – im letzteren Fall, um den gegen Ende des 19. Jahrhunderts immer riesigeren Orchestern noch mehr Klangfarbenvielfalt zu geben und den Tonraum bis in die Subkontraoktave (32′-Register der Orgel) zu erweitern.
Spielpraxis
Spieltechnik
Für die Technik des Manualspiels ist der Druckpunkt der Tasten entscheidend. Bei mechanischen Orgeln liegt er eher am Beginn des Tastenweges (wie beim Cembalo), da zunächst der auf dem Ventil lastende Luftdruck überwunden werden muss. In diesem Fall kann durch unterschiedliches Angehen des Druckpunktes auch die An- und Absprache der Pfeife beeinflusst werden. Hier ist ein deutlicher Unterschied zum Klavier festzustellen, bei dem die Saite erst am Ende des Tastenweges angeschlagen wird. Daher wird bei der Orgel, anders als beim Klavier, das Spiel aus den Fingern bevorzugt, wenn der jeweils benötigte Kraftaufwand es zulässt, und die Hand nicht von den Tasten abgehoben, um Schwung für einen Anschlag zu holen.
Bei pneumatischen oder elektronischen Trakturen hingegen ist der Druckpunkt nicht spürbar, da der Gegendruck der Taste nicht vom Ventil herrührt, sondern durch eigene Federn hergestellt wird. Der Kraftaufwand ist gering, so dass vollgriffige Musik leichter umgesetzt werden kann. Allerdings kann der Vorgang der Ventilöffnung nicht beeinflusst werden. Pneumatische Trakturen erschweren zudem durch ihre langsame Reaktion das Artikulieren und erfordern eine Gewöhnung des Spielers. Auf der Orgel wird in der Regel stärker phrasiert und artikuliert als auf Tasteninstrumenten mit Saiten, da der Ton nicht verklingt.
Das Pedalspiel kann sowohl mit den Spitzen als auch mit den Fersen (Absatz) beider Füße erfolgen. Dadurch kann bis zu vierstimmig gespielt werden, was in der Praxis jedoch selten vorkommt. Ein wichtiges Mittel ist das Vor- oder Hintersetzen eines Fußes, auch das Gleiten von Taste zu Taste wird eingesetzt. Der Fußsatz kann wie der Fingersatz durch spezielle Zeichen in die Noten eingetragen werden, die jedoch nicht von allen Organisten gleich verwendet werden. Bis ins 19. Jahrhundert wurde von vielen Organisten das Spiel mit der Spitze bevorzugt, oft schon wegen der Bauform der Pedaltasten, die den sinnvollen Gebrauch des Absatzes nur bei Kombinationen zwischen Unter- zu Obertasten ermöglichte. Die Germani-Technik (nach Fernando Germani) stellt Spitze und Absatz gleich, womit erstmals ein strenges Legato auch im Pedal möglich war.
Beim Spiel Alter Musik wird heute wieder auf historische Finger- und Fußsätze sowie auf eine sensible Artikulation Wert gelegt. Auch die Ausführung der Ornamentik spielt dabei eine große Rolle.
Es handelt sich bei dem Beispiel um den Beginn des Orgelchorals „Wer nur den lieben Gott läßt walten“ (BWV 642) von Johann Sebastian Bach, gespielt auf einer Kleinorgel von Bruno Christensen & Sønner (I/7, 1980)
Pädagogik
Im Gegensatz zu vielen anderen Instrumenten kann man das Orgelspiel in der Regel nicht an Musikschulen erlernen. Neben den Konservatorien oder Musikhochschulen unterrichten in erster Linie hauptamtliche Kirchenmusiker. Da auch ein Übungsinstrument benötigt wird, ist, wenn kein spezielles Übungsinstrument (etwa in einer Hochschule) zur Verfügung steht, meistens eine enge Zusammenarbeit mit einer örtlichen Kirchengemeinde vonnöten. Als Gegenleistung fordert diese häufig Mithilfe an der musikalischen Gottesdienstgestaltung. Seit dem Aufkommen der digitalen Sakralorgel stehen jedoch auch Übungsinstrumente für den Hausgebrauch zur Verfügung, wodurch sich die in früheren Zeiten bestehende Abhängigkeit von einer Kirchengemeinde relativiert. Oft spielen angehende Organisten schon ausreichend Klavier, wobei die erheblichen Unterschiede in der Spieltechnik nicht unterschätzt werden dürfen. Ein Studium am Klavier kann die Orgel, nicht nur wegen des fehlenden Pedals, nicht ersetzen. Auch wird von vielen Pädagogen das Klavierspiel als Voraussetzung für das Orgelspiel gefordert. Aus spieltechnischer Sicht ist die Beherrschung des Klavierspiels zum Erlernen des Orgelspiels nicht notwendig.
Systematische Schulwerke sind erst seit Mitte des 19. Jahrhunderts überliefert. Zu den bekanntesten Werken zählen die „Orgelschulen“ von Karl Straube, Ernst Kaller, Marcel Dupré oder Rolf Schweizer, die sich allerdings fast nur mit dem Literaturspiel beschäftigen. Im Bereich der Improvisation gibt es nur wenig etablierte Literatur, so dass Improvisation weitestgehend im Unterricht und fächerübergreifend in den Bereichen Tonsatz, Komposition sowie Musiktheorie weitergegeben wird.
Anschaffung und Wartung
Die Anschaffung einer Orgel ist ein Großprojekt, das in etwa mit einem Hausbau vergleichbar ist. Lediglich bei Instrumenten bis zur Größe etwa einer Hausorgel fallen die Dimensionen des Projekts kleiner aus. Alleine die Planungsphase, also bevor überhaupt an der Orgel gearbeitet wird, ist selten innerhalb eines Jahres abgeschlossen. In dieser Phase werden in Zusammenarbeit von Investor (etwa Kirchengemeinde, Betreiber einer Konzerthalle, Hochschule), Organist(en) und Orgelbauer sowie gegebenenfalls Sachverständigen und Ämtern (Denkmalschutz, Kirchenamt) die Disposition sowie das Aussehen der Orgel festgelegt und ein Finanzierungsplan entwickelt. Sind die Parameter einer Orgel festgelegt, dauert der eigentliche Bau einer mittelgroßen Orgel noch einmal ein bis zu anderthalb Jahre (etwa 4000 Arbeitsstunden). Dieser endet meist damit, dass die Orgel in der Orgelbauwerkstatt komplett montiert wird. Der Aufbau im Aufstellungsraum vor Ort nimmt noch einmal etwa zwei Monate in Anspruch, dazu kommen etwa vier bis sechs Wochen für die klangliche Anpassung an den Aufstellungsraum (siehe auch: Intonation). Ein einzelnes Orgelregister kostet als Neubau je nach Größe, Material und Bauart derzeit zwischen 5.000 und 20.000 Euro.
Orgeln werden meist jährlich gestimmt, wobei oft nur alle zwei Jahre eine Komplettstimmung (inklusive Mixturen) erfolgt. Die Zungenstimmen werden von den Organisten je nach Bedarf selbst nachgestimmt. Die Stimmung einer mittelgroßen Orgel (20 bis 30 Register) dauert etwa einen Tag und kostet bis zu eintausend Euro. Etwa alle 15 bis 25 Jahre muss eine Orgel „ausgereinigt“ werden, da Staub- und Schmutzablagerungen die technische Zuverlässigkeit beeinträchtigen und zum Beispiel offene, kleine Pfeifen nicht mehr stimmbar sind. Bei einer Ausreinigung werden das gesamte Pfeifenwerk sowie alle Windladen ausgebaut und generalüberholt. Bei einer mittelgroßen Orgel dauern diese Arbeiten etwa zwei Monate und kosten, soweit keine weiteren Instandsetzungsarbeiten notwendig sind, 20.000 bis 30.000 Euro.
Seit Mitte der 1990er Jahre gewinnt bei kleinen und mittelgroßen Instrumenten der Gebrauchtmarkt zunehmend an Bedeutung, da sowohl im Ausland als auch im deutschsprachigen Bereich vermehrt vor allem kleinere und mittelgroße Kirchen geschlossen oder umgewidmet werden und daher das Angebot entsprechend groß ist (siehe auch Kirchenschließung). Dieses ist vor allem für finanzschwache Betreiber eine interessante Alternative, da eine Umsetzung trotz des erheblichen Aufwandes für die Anpassung immer noch deutlich günstiger ist als ein entsprechender Neubau.
Auch auf der Seite der Orgelbauer besteht ein relativ großes Interesse an historischen Einzelregistern, die für Rückführungen oder Restaurierungen genutzt werden. Dies liegt vor allem daran, dass die durch die damaligen, aus heutiger Sichtweise unvollkommenen Herstellungsprozesse entstandenen Verunreinigungen und Ungleichmäßigkeiten im Orgelmetall nur aufwendig zu rekonstruieren sind.
Hörbeispiele
Bei den Beispielen handelt es sich um das „Tema variato“ von Josef Rheinberger (1839–1901).
Die Aufnahmen entstanden an der 1996 erbauten Orgel in St. Maria Königin, Kerpen-Sindorf, Rheinland.
Zitate
Siehe auch
Die Erklärungen einiger Fachbegriffe rund um die Orgel sind im Orgel-Glossar zu finden.
Organist, Liste von Organisten, :Kategorie:Organist
Orgelmusik, Liste von Orgelkomponisten, :Kategorie:Musik für Orgel
Orgelbau, Liste der Orgelbauer, :Kategorie:Orgelbauer
Orgelregister, Liste von Orgelregistern
Kirchenmusik, Kirchenmusiker
Liste deutscher Museen nach Themen#Orgeln
In der :Kategorie:Disposition einer Orgel befinden sich Artikel über einzelne Orgeln. Diese enthalten neben genauen Dispositionsangaben teilweise auch Hörbeispiele.
Varianten und verwandte Instrumente
Positiv, Portativ, Regal, Hausorgel
Drehorgel, Kinoorgel, Hydraulis, Parabrahm-Orgel
Pyrophon, Dampforgel, Flaschenorgel
Elektronische Orgel, Hammond-Orgel, Lichttonorgel, Synthesizer
Sonstiges
Liste der Listen von Orgeln
ORGAN²/ASLSP
Weblinks zu Orgel-Datenbanken (Dispositionen u. a. m.) unter Disposition (Orgel)
Literatur
Allgemeines
Winfried Bönig, Ingo Bredenbach: Orgelliteraturspiel – Orgelbaukunde. 4. Band in: Hans-Jürgen Kaiser, Barbara Lange (Hrsg.): Basiswissen Kirchenmusik. Ein ökumenisches Lehr- und Lernbuch in vier Bänden mit DVD und Registerband zur Grundausbildung und Berufsbegleitung evangelischer und katholischer Kirchenmusikerinnen und Kirchenmusiker. Carus-Verlag, Stuttgart 2009, ISBN 978-3-89948-125-9.
Hermann J. Busch, Matthias Geuting (Hrsg.): Lexikon der Orgel. Laaber-Verlag, Laaber 2007, ISBN 978-3-89007-508-2.
Orgelbau
Bernhard Ader: Orgelkunde. In: Hans Musch (Hrsg.): Musik im Gottesdienst. Band 2. ConBrio, Regensburg 1994, ISBN 3-930079-22-4, S. 256 ff.
Dom François Bédos de Celles. L’art du facteur d’orgues. Band/Tome I: 1766; Band/Tome II: 1770; Band/Tome III: 1778; Faksimile-Nachdruck hrsg. v. Christard Mahrenholz. Bärenreiter, Kassel 1976/1977.
Michael Bosch, Klaus Döhring, Wolf Kalipp: Lexikon Orgelbau. Bärenreiter, Kassel 2007, ISBN 978-3-7618-1391-1.
Orgelmusik
Klaus Beckmann: Repertorium Orgelmusik: Komponisten, Werke, Editionen; 1150–1998; 41 Länder; eine Auswahl = A bio-bibliographical index of organ music. 2., neu bearb. und erw. Auflage. Schott, Mainz 1999, ISBN 3-7957-0358-1.
Hermann J. Busch: Zur französischen Orgelmusik des 19. und 20. Jahrhunderts. Ein Handbuch. Butz Musikverlag, Bonn 2011, ISBN 978-3-928412-12-4.
Hermann J. Busch, Michael Heinemann (Hrsg.): Zur deutschen Orgelmusik des 19. Jahrhunderts. Butz Musikverlag. Bonn 2006, ISBN 3-928412-03-5.
Rudolf Faber, Philip Hartmann (Hrsg.): Handbuch Orgelmusik. Komponisten, Werke, Interpretation. Bärenreiter, Kassel 2002, ISBN 3-476-01877-6.
Victor Lukas: Reclams Orgelmusikführer. Reclam, Stuttgart 2002, ISBN 3-15-008880-1.
Arnfried Edler (unter Mitarbeit von Siegfried Mauser): Geschichte der Klavier- und Orgelmusik. 3 Bde. Laaber-Verlag, Laaber 2007, ISBN 978-3-89007-674-4.
Geschichte der Orgel
Roland Eberlein: Die Geschichte der Orgel. Siebenquart, Köln 2011, ISBN 978-3-941224-01-8.
Karl-Heinz Göttert: Die Orgel. Kulturgeschichte eines monumentalen Instruments. Bärenreiter, Kassel 2017, ISBN 978-3-7618-2411-5.
Hans Maier: Die Orgel. Kleine Geschichte eines großen Instruments. Durchgesehene und erweiterte Ausgabe. Beck, München 2016, ISBN 978-3-406-69758-6.
Curt Sachs: The History of Musical Instruments. W. W. Norton, New York 1968. (Titel der deutschen Originalausgabe: Geist und Werden der Musikinstrumente. 1929.)
Bérnard Sonnaillon: L’orgue. Instrument et musiciens. Office du Livre, Editions Vilo, Paris 1984, ISBN 2-7191-0211-3.
Roman Summereder: Aufbruch der Klänge. Materialien, Bilder, Dokumente zu Orgelreform und Orgelkultur im 20. Jahrhundert. Edition Helbling, Innsbruck 1995, ISBN 3-900590-55-9.
William Leslie Sumner: The Organ. Its Evolution, Principles of Construction and Use. St. Martin’s Press, New York 1981.
Peter Williams: The Organ in Western Culture 750–1250. Cambridge University Press, Cambridge 1993, ISBN 0-521-61707-3 (englisch).
Kinderbücher
Dokumentationen
Die Orgelsucher. (Originaltitel: Chercheurs d’orgues.) TV-Dokomentation von Bernard Foccroulle und Pascale Bouhénic, F 2019/ deutsche Synchronfassung 2022 (91 Min.), zuletzt gesendet auf Arte am 8. Mai 2022.
Eine Orgel wird gebaut. Reihe Die Sendung mit der Maus, WDR
Reportageauftrag für Ralph: Orgelbauer. Wissen macht Ah! – KiKA von ARD und ZDF (YouTube-Video)
Weblinks
OrganIndex, freie Orgeldatenbank (Wiki mit Bildern und Dispositionen)
Fotos und Dispositionen vieler internationaler Orgeln
Bund Deutscher Orgelbaumeister (BDO) (Dachverband der Orgelbauer in Deutschland)
Gesellschaft der Orgelfreunde (GdO) (u. a. mit Informationen zu Orgelmuseen)
Österreichisches Orgelforum
Einzelnachweise
Aerophon
Tasteninstrument
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Q281460
| 388.219628 |
112429
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https://de.wikipedia.org/wiki/Fylke
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Fylke
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Fylke (, Plural fylker; , Plural fylke) ist die norwegische Bezeichnung für die Provinzen (Regierungsbezirke) Norwegens. Bis 1919 hießen sie der dänisch-norwegischen Tradition folgend (Plural: ). Während mit Fylke die geografische Einheit bezeichnet wird, wird die dazugehörige politische Einheit Fylkeskommune genannt.
Norwegen besteht seit dem 1. Januar 2020 aus 11 Fylke. Spitzbergen und Jan Mayen gehören zu Norwegen, sind aber keiner Provinz zugeordnet. Die Provinzen gruppieren sich traditionell in fünf Landesteile (), als statistische Regionalplanungseinheiten in sieben Elemente der NUTS-2-Ebene, siehe NUTS:NO.
Wortherkunft
Das Wort Fylke ist eine in der Neuzeit stattgefundene Wiederaufnahme des altnordischen fylki ‚Schar, Volksteil als Landeseinteilung‘, ursprünglich ‚der Stamm als Kriegsschar‘. Hierzu gehören auch altnordisch fylkja ‚in Heeresordnung aufstellen‘ und fylking ‚Schlachtordnung‘, und verwandt ist altenglisch gefylce ‚Schar, Regiment‘. Fylki ist eine Ableitung von altnordisch folk ‚Volk‘.
Aufgaben und Organisation
Zu den wichtigsten Aufgaben einer Fylkeskommune zählen Bau und Instandhaltung von Provinzstraßen (), Planung und Finanzierung des öffentlichen Nahverkehrs, weiterführende Schulen und Hochschulen, das öffentliche Gesundheitswesen, Denkmalschutz, kulturelle Angebote, regionale Entwicklung sowie Grundstücksverwaltung und -verwertung.
Seit 1975 wird in jeder Fylkeskommune ein Parlament, das , gewählt. In Oslo übernimmt das Kommunalparlament (Bystyre) zugleich die Aufgaben des Fylkesting. Die Fylkestingswahlen finden alle vier Jahre statt und sind an die Kommunalwahlen gekoppelt.
Die politischen Organe im Fylke entsprechen denen der Gemeinden:
In einigen Provinzen erfolgt die Verteilung der Stadtratsposten (Dezernate) nach parlamentarischem Mehrheitsprinzip, in anderen nach Proporz.
Seit 1977 können im gesetzlichen Rahmen Provinzialsteuern erhoben werden.
Jedes Fylke dient gleichzeitig als Regierungsbezirk für zentralstaatliche Verwaltungs- und Dienstleistungsaufgaben. An der Spitze dieser Verwaltung steht der . Er wird von der norwegischen Regierung ernannt. Bis Ende 2020 lautete sein Titel , davor bis 1919 (norw.).
Gebietsreformen
Das Fylke Bergen wurde 1972 aufgelöst und ging im Fylke Hordaland auf.
Seit 2004 wird eine weitere Reform der Gebietsstrukturen diskutiert, um die Verwaltungseinheiten den wirtschaftlichen Anforderungen und demografischen Entwicklungen anzupassen. Eine Kommission hatte eine Einteilung in sieben Regionen vorgeschlagen, wobei die Hauptstadtregion Oslo ausgeweitet werden soll. Im Norden des Landes sollten die Provinzen Nordland, Troms und Finnmark zusammengelegt werden. In Mittelnorwegen wurde das Fylke Trøndelag zum 1. Januar 2018 aus den ehemaligen Fylken Nord-Trøndelag und Sør-Trøndelag neugebildet. Es wurde auch die Ansicht vertreten, dass es zwischen Staat und Kommunen überhaupt keine mittlere Verwaltungsebene mehr geben sollte, was eine vollständige Auflösung der Provinzen beinhalten würde.
Am 8. Juni 2017 beschloss das Storting auf Vorschlag der Regierung folgende Fusionen zum 1. Januar 2020:
Hordaland und Sogn og Fjordane (ohne Hornindal) zum Fylke Vestland
Aust-Agder und Vest-Agder zum Fylke Agder
Vestfold (ohne Svelvik) und Telemark zum Fylke Vestfold og Telemark
Oppland (ohne Jevnaker und Lunner) und Hedmark zum Fylke Innlandet
Buskerud, Akershus und Østfold sowie Jevnaker, Lunner und Svelvik zum Fylke Viken
Troms und Finnmark sowie die Kommune Tjeldsund zum Fylke Troms og Finnmark
Nach anhaltendem Widerstand gegen die Zusammenlegung in einigen Regionen beschloss das Nationalparlament Storting im Juni 2022 die Auflösung von Troms og Finnmark, Vestfold og Telemark sowie Viken. Als Auflösungszeitpunkt wurde der 1. Januar 2024 bestimmt.
Verwaltungseinteilung nach der Neugliederung 2020
Verwaltungseinteilung vor 2020
Zum 1. Januar 2018 wurde das Fylke Trøndelag (Nr. 50) durch Zusammenschluss der ehemaligen Fylken Nord-Trøndelag und Sør-Trøndelag neu gebildet.
Fylkesnummer
Jedes Fylke hat eine sogenannte Fylkesnummer, die vor allem für statistische Zwecke eingesetzt wird. Diese zweistellige Nummer macht auch die ersten beiden Stellen der Kommunennummern aus. Die Nummern wurden für die Volkszählung im Jahr 1946 eingeführt, zusätzlich gab es auch Fylkesbuchstaben, die unter anderem für KfZ-Kennzeichen verwendet wurden.
Die Nummer 13 bezeichnete die Provinz Bergen. Neben den tatsächlichen Fylker haben auch Jan Mayen (22) und Svalbard (21) Fylkesnummern.
Weblinks
Fylke im Store norske leksikon (norwegisch)
Fylker i Norge im Store norske leksikon (norwegisch)
Einzelnachweise
Norwegen, Fylke
Verwaltungsgliederung Norwegens
NUTS-3-Ebene
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Q192299
| 460.592931 |
458916
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https://de.wikipedia.org/wiki/Barangay
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Barangay
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Das Barangay (seltener Baranggay), früher unter der Bezeichnung Barrio bekannt, ist die unterste Ebene in der Verwaltungsstruktur auf den Philippinen, die im Aufbau sehr einem Dorf bzw. einem Stadt- oder Ortsteil ähnelt. Innerhalb der Barangays kann es noch Sitios geben.
Gemeinden und Städte setzen sich aus einzelnen Barangays zusammen.
Es gibt auf den Philippinen insgesamt 42.026 Barangays (Stand 31. März 2011).
Geschichte
Ursprünglich beschreibt das Wort Barangay eine relativ kleine Gemeinschaft von 50 bis 100 Familien. Die meisten Dörfer bestehen aus 30 bis 100 Häusern und haben eine Einwohnerzahl von 100 bis 500 Personen.
Das Wort selbst leitet sich von einer alten Bezeichnung für ein malaiisches Boot ab, welches balangay hieß. Diese Verbindung zwischen Gemeinschaft und Boot unterstützt einige Theorien zur vorkolonialen Geschichte der Philippinen. Sie behandeln die Frage, wie die einzelnen Küsten-Barangays entstanden sind. Dazu wird als Möglichkeit angegeben, dass jedes dieser Küsten-Barangays von Siedlern gegründet worden ist, die per Boot von anderen Orten in Südostasien kamen.
Die meisten Siedlungen entstanden entlang der Küsten und Flussläufe der Inseln, da hier mit Fischen und Früchten eine gute Nahrungsgrundlage gegeben war. Zudem bewegten sich die Menschen zumeist entlang oder auf dem Wasser von einem Ort zum nächsten. Das Süßwasser der Flüsse diente den Menschen als Trinkquelle, zum Waschen und zum Baden. Auch waren küstennahe Siedlungen leichter für Händler erreichbar. Durch die geschäftliche Verbindung zu Kaufleuten kamen die Einheimischen mit anderen Kulturen und Zivilisationen in Kontakt, wie den Chinesen, den Indern und den Arabern, womit diese Lage deren wirtschaftlicher Entwicklung zugutekam. So erreichten die Küstensiedlungen in Manila, Iloilo, Panay, Cebu, Jolo und Butuan ein hohes kulturelles Niveau.
Nach dem Eintreffen der spanischen Kolonisten wurden verschiedene Barangays zu Dörfern zusammengefasst. Jedes Barangay innerhalb eines Dorfes wurde von einem Cabeza de barangay (Barangay-Oberhaupt) geführt, das der Oberschicht der Gemeinden der spanischen Philippinen angehörte.
Das Amt wurde ursprünglich von den ersten Datus, die die Stellung eines Cabezas de Barangay innehatten, weiter vererbt, später, nach Ende der spanischen Regentschaft, wurde das Amt durch eine Wahl vergeben. Die Hauptaufgabe des Cabeza de Barangay war die Eintreibung der Steuern von den Einwohnern seines Verantwortungsbereiches.
Nach der Kolonialübernahme der Amerikaner gewann die Bezeichnung Barrio eine andere Bedeutung, als die meisten Barangays mit Namen ausgestattet wurden. Der Begriff Barrio hielt sich bis lange in das 20. Jahrhundert, bis Präsident Ferdinand Marcos eine Anordnung herausgab, die die Bezeichnung Barrio durch den Begriff Barangay ersetzte. Trotzdem ist im Sprachgebrauch bei manchen Leuten noch immer die alte Bezeichnung Barrio präsent.
Verwaltungsstruktur
Jedes Barangay wird von einem Vorsitzenden (Punong Baranggay oder Barangay Captain) geführt. Dieser leitet den Barangay-Rat (Sangguniang Baranggay), der sich aus sieben Barangay-Räten (Kagawad) zusammensetzt. Außerdem besitzt jedes Barangay einen Jugendrat (Sangguniang Kabataan oder SK), der aus dem SK-Präsidenten oder dem Vorsitzenden des SK-Rates besteht. Dieser leitet jugendorientierte Aktivitäten im Barangay, wie beispielsweise Basketball-Vereine.
Insgesamt gibt es acht Mitglieder des Rates, von denen jeder einen eigenen Verantwortungsbereich leitet. Die Bereiche sind: (1) Bereich für Ruhe und Ordnung, (2) Infrastruktur, (3) Bildung, (4) Gesundheit, (5) Landwirtschaft, (6) Tourismus, (7) Finanzen und (8) Sport und Jugend. Zu jedem Bereich werden drei Mitglieder ernannt, die die Arbeit des Vorsitzenden unterstützen.
Die Struktur ist die gleiche wie bei den Provinz- und bei den Gemeindeverwaltungen.
Liga ng mga Barangay
Auf den Philippinen gibt es seit geraumer Zeit eine Vereinigung von Barangays; die Liga ng mga Barangay (Deutsch: Liga der Barangays). Referenzen beziehen sich zumeist auf deren alte Bezeichnung Association of Barangay Captains (ABC).
Sie repräsentiert alle 42.026 Barangays und ist somit die größte Basisorganisation der Philippinen.
Andere Verwendungen
Die Bezeichnung Barangay wird auch als Beiname von Personen benutzt. Zum Beispiel trägt ein Sponsor des Basketballteams Ginebra San Miguel den Beinamen Barangay Ginebra.
Literatur
Renato Constantino|Constantino, Renato. (1975) The Philippines: A Past Revisited (volume 1). ISBN 971-8958-00-2
Mamuel Merino, O.S.A., ed., Conquistas de las Islas Filipinas (1565–1615), Madrid: Consejo Superior de Investigaciones Cientificas, 1975.
Weblinks
Dateien mit den Ergebnissen der Volkszählung 2007 bis zur Ebene der Barangays
Liga ng mga Barangay
Flächenangaben ausgewählter Barangays
Flächenangaben der Gemeinden
Einzelnachweise
Politik (Philippinen)
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Q61878
| 243.709954 |
234804
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https://de.wikipedia.org/wiki/Adana
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Adana
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Adana (hethitisch Adaniya, , ) ist mit mehr als 2,2 Millionen Einwohnern (2021) die fünftgrößte Stadt der Türkei und Hauptstadt der gleichnamigen Provinz. Sie ist die größte Stadt in der fruchtbaren Tiefebene Çukurova.
Die Çukurova-Universität in Adana ist mit rund 45.000 Studenten eine der größten Universitäten der Türkei. Für die Herkunft des Namens Adana gibt es verschiedene Quellen. So ist er angeblich abgeleitet von Adanos, dem Sohn des Uranos aus der griechischen Mythologie. Eine weitere mögliche Herkunft ist die Ableitung von Adanyia, einem Gebiet bei Kizzuwatna im Reich der Hethiter.
Geographie
Adana liegt im Süden des Landes, im Süden des Taurusgebirges ca. 40 Kilometer vom Mittelmeer entfernt. Die umliegende Region Çukurova, in der Antike Teil von Kilikien, ist sehr fruchtbar. Die Flüsse Seyhan und Ceyhan durchfließen sie. Adana ist ein Zentrum der türkischen Textilindustrie. Der Bahnhof ist ein Verkehrsknotenpunkt der Bagdadbahn, in der Nähe ist ein internationaler Flughafen (Flughafen Adana). Die Incirlik Air Base der NATO liegt 12 Kilometer östlich des Stadtkerns.
Klima
Nach Köppen herrscht in Adana ein mediterranes Klima (Csa). Die durchschnittliche Jahrestemperatur in Adana liegt bei 19,5 °C. Die wärmsten Monate sind Juli und August mit durchschnittlich um die 29 °C, der kälteste der Januar mit unter 10 °C im Mittel. Die tiefste Temperatur seit Messbeginn im Jahr 1929 wurde am 20. Januar 1964 mit - 8,1 °C registriert. Die Sommertemperaturen können während der Hitzeperioden, die oft mehrere Tage andauern und von Juni bis September auftreten, bis über 40 °C im Schatten erreichen. Die höchste Temperatur seit Messbeginn wurde am 24. August 1958 mit 45,6 °C registriert. Durchschnittlich fällt jährlich 681 Millimeter Niederschlag. Die meisten Niederschläge fallen im Januar mit durchschnittlich etwa 86 Millimetern, die geringsten Niederschläge werden für die Monate Juli und August verzeichnet.
Geschichte
Die Stadt geht wahrscheinlich auf eine hethitische Siedlung zurück: Seit dem 16. Jahrhundert v. Chr. wird Adanija in historischen hethitischen Texten genannt. In späteren akkadischen Texten Syriens (ca. 1400 v. Chr.) und ägyptischen Berichten (12. Jahrhundert v. Chr.) wird die Stadt unter dem Landesnamen Danuna, einem Teil des späteren Kilikien, erwähnt.
Nach dem Ende der Perserherrschaft gehörte Adana zuerst zum Reiche Alexanders des Großen, dann zum Seleukidenreich. Wahrscheinlich unter Antiochos IV. wurde Adana kurzfristig in Antiochia am Saros umbenannt. Pompeius siedelte hier 67 v. Chr. einen Teil der von ihm besiegten kilikischen Seeräuber an. Seit 72 n. Chr. war die Stadt Teil der römischen Provinz Cilicia. 260 eroberten die Sassaniden auch Adana.
1097 eroberte der armenische Fürst Oschin, der Stammvater der Hethumiden, von seiner Burg Lambron aus kommend Teile der Stadt. Zwischen dem 11. und dem 14. Jahrhundert wanderten viele Armenier ein, als ihr weiter nördlich gelegenes Siedlungsgebiet von den Seldschuken erobert worden war. Unter der Herrschaft der Rubeniden entstand das Königreich Kleinarmenien, zu dem auch Adana gehörte. Adana fiel 1378 an den turkmenischen Stamm der Ramazanoğulları.
Seit 1575 gehörte die Stadt zum Osmanischen Reich. 1839 war sie im Türkisch-Ägyptischen Krieg umkämpft. 1869 wurde es Hauptstadt des Vilâyets Adana.
Adana war beim Bau der Bagdadbahn ab 1903 ein wichtiger Stützpunkt. Von hier aus wurden die Streckenabschnitte durch den Taurus und in Richtung Aleppo vorangetrieben. Betrieblich war der Bahnhof wichtig, da hier die ältere Strecke nach Mersin und die für den Bau der Bagdadbahn angelegte Strecke zum Hafen von İskenderun verknüpft wurden.
Im April 1909 kam es hier zu einem Massaker, dem 20.000 bis 30.000 Armenier zum Opfer fielen. Bis 1910 forderten die anschließenden Epidemien und eine Hungersnot unter den schlecht versorgten Überlebenden der Massaker weitere 20.000 Opfer.
Im Rahmen des Völkermordes an den Armeniern 1915 wie auch 1920 wurden die Armenier in weit größerer Zahl ermordet und endgültig aus Kilikien vertrieben. Zwischen 1918 und 1920 war die Stadt durch französische Truppen besetzt.
Am 30. Januar 1943 kam es hier zum Gespräch zwischen Churchill und İnönü, bei dem die Alliierten versuchten, die Türkei zum Eintritt in den Zweiten Weltkrieg zu bewegen, wobei es İnönü gelang, eine klare Zusage hinauszuzögern. Seit den 1980er Jahren wuchs die Bevölkerungszahl durch den Zuzug kurdischer Flüchtlinge stark an.
Am 24. November 2016 wurden bei einer Bombenexplosion zwei Menschen getötet, 21 weitere wurden verletzt. Der Terroranschlag ereignete sich vor dem Gouverneursamt.
Bevölkerung
Die wichtigsten ethnischen Gruppen sind heute Türken, Kurden und Araber. Zudem leben knapp zweitausend kryptoarmenische Familien in Adana, die sich seit einem Jahrhundert als Araber, Kurden oder Aleviten identifizieren. Es gibt auch eine höhere Zahl an Nachkommen von armenischen Kindern, die zwangsweise an muslimische Familien übergeben wurden, um dem Völkermord 1915 zu entkommen. Armenier und Griechen machten vor 1915 die Hälfte der Bevölkerung aus.
Religion
Ähnlich wie in anderen türkischen Küstenstädten, vor allem am Mittelmeer und an der Ägäis, ist der Säkularismus in Adana tiefer verwurzelt. Unter den gläubigen Menschen hängt die Mehrheit dem sunnitischen Islam an. Die Mehrheit der Türken und Kurden sowie einige Araber sind Sunniten. Adana ist auch eine Hochburg der alevitischen Gemeinschaft, viele Aleviten zogen nach den Pogrom von Kahramanmaraş nach Adana. Araber aus Adana sind zumeist Alawiten, die oft mit den türkischen Aleviten verwechselt werden. Alawitische Araber sind vor Ort als Nusairier oder Fellah bekannt. Araber, die aus der Provinz Şanlıurfa nach Adana ziehen, sind meist Sunniten. Es gibt auch eine kleine Gemeinde von katholischen Christen und wenige jüdische Familien. Mittlerweile besteht auch eine türkisch-protestantische Gemeinde.
Die 1840 an der Stelle einer aus dem 13. Jahrhundert stammenden Kirche errichtete armenische Muttergotteskathedrale wurde in das Kino Tan umfunktioniert und in den 1970er Jahren abgerissen.
Sehenswürdigkeiten
Das bekannteste historische Bauwerk in Adana ist die unter dem römischen Kaiser Hadrian über dem Seyhan-Fluss errichtete Steinbrücke (Taşköprü), die – z. B. neben der Milvischen Brücke in Rom – als eine der ältesten noch benutzten Brücken der Welt gilt. Die im 16. Jahrhundert errichtete Ulu-Moschee und der gleichnamige Komplex sowie die Hasan-Kethüda-Moschee aus demselben Jahrhundert sind sehenswert. Die zweitgrößte Moschee der Türkei, die 1998 eröffnete Sabancı-Zentralmoschee, befindet sich hier. Die 1880 errichtete armenische St.-Paulus-Kirche ist bis heute als römisch-katholische Kirche erhalten geblieben. Die 1845 errichtete griechisch-orthodoxe Kirche von Kuruköprü hingegen wurde ein Museum.
Sehenswert ist die Anfang des 20. Jahrhunderts von den Deutschen gebaute Vardabrücke.
Beispiele römischer Mosaikkunst kann man in den antiken Städten Misis und Anazarbos sehen. Eine weitere Sehenswürdigkeit ist die Yılankale (Schlangenburg). Das archäologische Museum enthält wichtige Grabungsfunde. Yumurtalık und Karataş sind für ihre Strände bekannte Ferienorte in der Umgebung.
Museen
Im Archäologischen Museum von Adana sind hethitische, römische und frühbyzantinische Fundstücke ausgestellt. Das Museum wurde gleich nach der Ausrufung der Republik im Jahr 1924 gegründet und ist eines der zehn ältesten Museen der Türkei.
Das Ethnographische Museum zeigt Exponate zu den in den Çukurovadörfern und im Taurusgebirge lebenden Volksstämmen.
Das Atatürk-Museum ist dem Vater der Türken gewidmet und dokumentiert dessen Aufenthalt in Adana.
Im Misis-Mosaik-Museum in Misis (Yakapınar) sind Bodenmosaiken aus dem 4. Jahrhundert zu besichtigen.
Das Sabancı Kültür Merkezi, auf deutsch Sabancı-Kulturzentrum, im Zentrum der Stadt enthält auch eine Bibliothek.
Moscheen
Große Moschee (Ulu Camii)
Neue Moschee (Yeni Cami)
Ölmoschee (Yağ Camii, Alte Katholische Kirche)
Sabancı-Zentralmoschee
Alemdar-Mescit
Scheich-Zülfi-Mescit
Kızıldağ-Ramazanoğlu-Moschee
Çifte-Minare-Moschee
Universitäten
Çukurova-Universität
Universität für Wissenschaft und Technik
Çağ-Universität
Verkehr
Der Flughafen Adana bedient eine Reihe nationaler wie internationaler Destinationen.
Im Bezirk Ceyhan gibt es zwei und in Yumurtalık einen Hafen am Mittelmeer.
Die Autobahn O 21 verbindet Adana mit Ankara, die O 51 mit Mersin und O 52 mit Gaziantep.
Eisenbahn: Adana liegt an der Bagdadbahn. Nach Mersin besteht ein S-Bahn-ähnlicher Betrieb namens Banliyö Trenleri. Fernverbindungen im Reisezugverkehr gibt es täglich unter anderem nach Istanbul, Ankara, İskenderun, Gaziantep, Malatya und İslahiye. Einmal in der Woche gibt es einen internationalen Kurswagen nach Aleppo.
Adana hat ein innerstädtisches Busnetz und einen großen Busbahnhof am Rand der Stadt. Außerdem verfügt die Stadt über eine U-Bahn-Strecke mit 13 Stationen. Sie soll in den kommenden Jahren verlängert werden.
Tageszeitungen
Gastronomische Spezialitäten
Adana hat eine sehr reiche Küche. Dazu gehören zum Beispiel das am Spieß gegrillte Hackfleisch Adana Kebap und Şalgam, ein aus Adana stammendes alkoholfreies scharf-saures Getränk aus Gemüse.
Sport
Bekannte Vereine
Adana Demirspor (Fußball)
Adanaspor (Fußball)
Adanagücü (Fußball)
Seyhanspor (Fußball)
Botasspor (Basketball Damen – 1. Türkische Liga)
Ceyhanspor (Basketball Damen – 1. Türkische Liga)
Söhne und Töchter der Stadt
Kasım Gülek (1905–1996), Politiker (CHP)
Armenak Erevanian (1915–1996), armenisch-französischer Fußballtorwart
Musine Kokalari (1917–1983), albanische Autorin und politische Gefangene
Ali Şen (1918–1989), Schauspieler
Kani Karaca (1930–2004), Musiker und Sufimeister
Ceyhun Demirtaş (1934–2009), Schriftsteller
Yılmaz Güney (1937–1984), Schauspieler und Regisseur
Manolo (Fußballfan) (1938–2008), türkisch-deutscher Fußballfan
Tanju Tuncel (1940–2023), Schauspielerin
Şener Şen (* 1941), Schauspieler
Ferdi Tayfur (* 1945), Sänger
Ömer Faruk Tekbilek (* 1951), Musiker
Fatih Terim (* 1953), Fußballtrainer und ehemaliger Fußballspieler
Ahmet Selçuk İlkan (* 1955), Lyriker
Güler Sabancı (* 1955), Unternehmerin
Mehmet Tekerek (* 1956), Autor
Tuncay Akdoğan (* 1959), Sänger
Ozan Ceyhun (* 1960), deutscher Politiker
Ayşe Tütüncü (* 1960), Jazzpianistin und Komponistin
Fatih Uraz (* 1960), Fußballtorhüter
Gülistan Yüksel (* 1962), deutsche Politikerin (SPD)
Ramazan Selçuk (* 1963), deutscher Politiker (SPD)
Murat Kekilli (* 1968), Rockmusiker
Haluk Levent (* 1968), Rock-Musiker und Sänger
Yaşar (* 1970), Popmusiker
Ozan Çolakoğlu (* 1972), Musikproduzent
Demir Demirkan (* 1972), Musiker und Schauspieler
Bülent Bölükbaşı (* 1976), Fußballspieler und Trainer
Ayşe Hatun Önal (* 1978), Sängerin und ehemaliges Model
Rojîn Ülker (* 1980), kurdische Sängerin
Onur Bakis (* 1982), österreichischer Meister im Breakdance
Kıvanç Tatlıtuğ (* 1983), Model und Schauspieler
Eda Özerkan (* 1984), Schauspielerin
Tolgahan Acar (* 1986), Fußballtorhüter
Çağla Büyükakçay (* 1989), Tennisspielerin
Fırat Demir (* 1990), Fußballspieler
Turhan Alper Turgut (* 1995), Fußballspieler
Demet Parlak (* 1996), Stabhochspringerin
İpek Soylu (* 1996), Tennisspielerin
Vedat Bulut (* 1997), Fußballspieler
Semih Kurtulmuş (* 1997), Fußballspieler
İrfan Can Eğribayat (* 1998), Fußballspieler
Kayhan Özer (* 1998), Sprinter
Erkam Develi (* 1999), Fußballspieler
İzzet Çelik (* 2004), Fußballspieler
Städtepartnerschaften
Adana unterhält mit folgenden Städten Städtepartnerschaften:
Be’er Scheva (Israel)
Dschidda (Saudi-Arabien)
Schymkent (Kasachstan)
Córdoba (Spanien)
Ansässige Unternehmen
Temsa
Bossa
BOTAŞ
Özmaktaş-Özaltın Makina Otomotiv (1999–2009)
Weblinks
Anmerkungen und Einzelnachweise
Antike kilikische Stadt
Altorientalischer Fundplatz in der Türkei
Millionenstadt
Hochschul- oder Universitätsstadt in der Türkei
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Q38545
| 102.082468 |
6868
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https://de.wikipedia.org/wiki/1677
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1677
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Ereignisse
Politik und Weltgeschehen
Skandinavien
seit 1674 Nordischer Krieg zwischen Schweden und Dänemark.
vom 25. Juni bis 15. Dezember belagerte und eroberte ein brandenburgisch-dänisch-lüneburgisches Heer die schwedisch-pommersche Stadt Stettin.
1. Juni: Die dänische Flotte siegt in der Seeschlacht bei Mön.
Juni/Juli: Die dänische Belagerung von Malmö wird von den Schweden mit schweren Verlusten zurückgeschlagen. Das dänische Heer zieht sich nach Landskrona zurück.
11./12. Juli: Die Seeschlacht in der Køgebucht endet mit einer schweren Niederlage der schwedischen Flotte.
14. Juli: In der Schlacht bei Landskrona besiegt Schweden das in Auflösung befindliche dänische Heer.
28. Juli: Ein norwegisch-dänisches Heer unter Ulrich Friedrich Gyldenlöwe erobert die Festung Carlsten, die bis dahin als uneinnehmbar gegolten hat. Gyldenlöwe muss sich jedoch Ende des Jahres wieder nach Norwegen zurückziehen.
17. September: Das dänische Heer landet auf Rügen und besetzt die Ostseeinsel.
Französische Piraten überfallen die Färöer und plündern Tórshavn. Sie entwenden unter anderem die Kasse des Løgtings und schänden die Kirche zu Tórshavn. Die lädierte Kanzel von damals steht heute in der Kirche zu Hvalvík.
Frankreich und seine Kriege
17. März: François-Henri de Montmorency-Luxembourg erobert mit seinen Truppen im Holländischen Krieg die belagerte Stadt Valenciennes für Frankreich.
11. April: In der Schlacht bei Cassel siegen im Holländischen Krieg französische über niederländische Truppen.
Cambrai wird von der französischen Krone annektiert.
Ludwig XIV. richtet in Frankreich die Chambre ardente zur Aufklärung der Giftaffäre ein, die durch den Prozess gegen Marie-Madeleine de Brinvilliers im Jahr 1675 losgetreten worden ist.
Karibik
12. Dezember: In der Schlacht von Tobago siegen französische Streitkräfte über die niederländischen Verteidiger, die im März des Jahres einen ersten Landungsversuch der Franzosen auf der Karibik-Insel Tobago abwehren konnten.
Afrika
Niederländische Siedler werden von der Küste Senegals durch die Franzosen vertrieben.
Amerikanische Kolonien
Februar: Bacon’s Rebellion in Virginia wird endgültig niedergeworfen.
Edmund Andros, Gouverneur der britischen Kolonie New York, gründet die Covenant Chain, ein Bündnis zwischen den britischen Kolonien in Nordamerika und der Irokesen-Liga gegen die Franzosen in Neufrankreich.
Die Stadt Valencia im Vizekönigreich Neuspanien wird von französischen Piraten geplündert und zum großen Teil niedergebrannt. Dadurch gehen wertvolle Unterlagen über die frühe Besiedelung Venezuelas verloren.
Wirtschaft
Zwölf Meister des Musikinstrumentenbaus schließen sich in Markneukirchen zu einer Innung zusammen. Der Ort und seine Umgebung wird bald als Musikwinkel bekannt.
Wissenschaft und Technik
Maria Sibylla Merian veröffentlicht Band zwei und drei ihres botanischen Werkes Neues Blumenbuch.
Edmond Halley entdeckt den Kugelsternhaufen Omega Centauri im Sternbild Zentaur.
Kultur
Bildende Kunst und Architektur
Das Monument in London zur Erinnerung an den Großen Brand von London im Jahr 1666 wird vollendet.
Die Cathédrale Saint-Louis-des-Invalides in Paris wird fertiggestellt.
Der von Ercole Ferrata nach einem Entwurf des Gian Lorenzo Bernini geschaffene Obelisco della Minerva wird auf der Piazza della Minerva vor der Basilika Santa Maria sopra Minerva in Rom aufgestellt. Der altägyptische Obelisk wird von Berninis Elefant getragen.
Musik und Theater
1. Januar: Die Tragödie Phèdre von Jean Racine hat ihre Uraufführung im Hôtel de Bourgogne in Paris. Die literarische Vorlage ist die Tragödie Der bekränzte Hippolytos von Euripides. Das Stück besteht aus 1654 paarweise gereimten Alexandrinern und ist eines der wichtigsten Werke der französischen Klassik.
9. September: Das Te Deum von Jean-Baptiste Lully wird uraufgeführt.
Gesellschaft
4. November: In London heiraten die spätere Königin Maria II. und Wilhelm III. von Oranien-Nassau.
Katastrophen
11. August: Rostock wird durch ein Großfeuer verwüstet, das ein Drittel der Bausubstanz zerstört und den wirtschaftlichen Niedergang der Stadt verstärkt.
Geboren
Geburtsdatum gesichert
27. Januar: Justina Catharina Steffan von Cronstetten, Frankfurter Patrizierin und Stifterin († 1766)
3. Februar: Jan Blažej Santini-Aichel, Architekt in Böhmen († 1723)
4. Februar: Johann Ludwig Bach, deutscher Komponist († 1731)
5. Februar: Wilhelm Erasmus Arends, deutscher Pfarrer († 1721)
18. Februar: Jacques Cassini, französischer Astronom und Geograf († 1756)
26. Februar: Nicola Fago, italienischer Komponist († 1745)
22. März: Anna Luise Föhse, Ehefrau des Fürsten Leopold I. von Anhalt-Dessau († 1745)
20. April: Johann Conrad Gottfried Wildermett, Schweizer evangelischer Geistlicher († 1758)
4. Mai: Françoise Marie de Bourbon, Herzogin von Chartres und Herzogin von Orléans († 1749)
15. Mai: Gottlieb Siegmund Corvinus, deutscher Dichter und Jurist († 1747)
24. Mai: Christian Ludwig von Brandenburg-Schwedt, Administrator von Halberstadt († 1734)
30. Mai: Sigismund Graf von Kollonitz, Erzbischof der Erzdiözese Wien und Kardinal († 1751)
5. Juni: Hans Jacob Rietmann, Bürgermeister von St. Gallen († 1756)
14. Juni: Johann Jakob Baier, deutscher Mediziner und Geologe († 1735)
28. Juni: Christoph Heinrich Zeibich, deutscher lutherischer Theologe († 1748)
13. Juli: Johann Georg, Herzog von Sachsen-Weißenfels und Fürst von Sachsen-Querfurt († 1712)
8. August: Johann August, Fürst von Anhalt-Zerbst († 1742)
27. August: Otto Ferdinand Graf von Abensperg und Traun, österreichischer Feldmarschall († 1748)
4. September: Johann Andreas Hommel, Memminger Maler († 1751)
14. September: Salomo Deyling, deutscher evangelischer Theologe († 1755)
17. September: Stephen Hales, englischer Physiologe und Physiker († 1761)
18. September: Christian Döring, Leipziger Architekt und Baumeister († 1750)
22. September: Antoine Maurice der Ältere, französisch-schweizerischer evangelischer Geistlicher und Hochschullehrer († 1756)
27. September: Johann Gabriel Doppelmayr, deutscher Astronom († 1750)
5. Oktober: Pietro Grimani, 115. Doge von Venedig († 1752)
6. Oktober: Philipp Johann von Strahlenberg, schwedischer Offizier, Kartograph, Geograph und Sprachwissenschaftler († 1747)
10. Oktober: William Dummer, britischer Kolonialpolitiker, Gouverneur der Province of Massachusetts Bay († 1761)
20. Oktober: Stanislaus I. Leszczyński, König von Polen und Herzog von Lothringen († 1766)
23. Oktober: Rudolf Franz Erwein von Schönborn, deutscher Politiker und Diplomat († 1754)
3. November: Euphrosyne Auen, deutsche Dichterin († 1715)
18. November: Just Wiedewelt, dänischer Bildhauer († 1757)
29. November: Guillaume Coustou der Ältere, französischer Bildhauer († 1746)
25. Dezember: Natale Ricci, italienischer Maler († 1754)
29. Dezember: August Ferdinand, Herzog von Braunschweig und Lüneburg († 1704)
Genaues Geburtsdatum unbekannt
Christian Petzold, deutscher Organist und Komponist († 1733)
Gestorben
Erstes Halbjahr
10. oder 31. Januar: Friedrich VI., Markgraf von Baden-Durlach (* 1617)
18. Januar: Jan van Riebeeck, niederländischer Schiffsarzt, Kaufmann und Kolonieverwalter (* 1619)
30. Januar: Francesco Caratti, böhmischer Architekt Tessiner Herkunft (* 1615)
21. Februar: Baruch de Spinoza, niederländischer Philosoph (* 1632)
15. März: Evaristo Baschenis, italienischer Maler (* 1617)
18. März: Marie Luise von Degenfeld, Raugräfin zu Pfalz (* 1634)
beerdigt 19. März: Anthonie van Borssom, niederländischer Maler und Zeichner (* um 1630)
21. März: Ángel de Peredo, spanischer Offizier, Richter und Gouverneur von Chile (* 1623)
25. März: Wenzel Hollar, böhmischer Zeichner und Kupferstecher (* 1607)
16. April: Huldreich Groß, deutscher Rechtsanwalt und Stifter der Leipziger Stadtbibliothek (* 1605)
20. April: Mathieu Le Nain, französischer Maler (* 1607)
22. April: Wenzel Eusebius von Lobkowicz, böhmischer Adeliger und Politiker sowie Herzog von Sagan (* 1609)
22. Mai: Wilhelm von Baden, Markgraf von Baden (* 1593)
23. Mai: Johann, Graf von Nassau-Idstein (* 1603)
23. Juni: Wilhelm Ludwig, Herzog von Württemberg (* 1647)
Zweites Halbjahr
9. Juli: Angelus Silesius, deutscher Dichter (* 1624)
24. Juli: Ignatius Andreas Akhidjan, katholischer Patriarch (* 1622)
12. August: Sophie von Barby, Fürstin von Ostfriesland (* 1636)
28. August: Wallerant Vaillant, niederländischer Maler und Radierer (* 1623)
20. September: Daniel Lüdemann, deutscher lutherischer Theologe (* 1621)
7. Oktober: Friedrich Wilhelm, Graf von Rietberg (* 1650)
9. Oktober: Gustav Adolf von Nassau-Saarbrücken, Graf von Saarbrücken und Generalwachtmeister des Heiligen Römischen Reiches bei Rhein (* 1632)
11. Oktober: Otto Johann Witte, deutscher Politiker (* 1615)
19. Oktober: Hans-Jerg Brendlin, genannt Elenhans, aufständischer Bauer im Uracher Amt im Dreißigjährigen Krieg (* 1609)
9. November: Aert van der Neer, holländischer Landschaftsmaler (* 1603 oder 1604)
11. November: Johann Weikhard von Auersperg, österreichischer Minister, Fürst von Auersperg, Reichsfürst von Tengen und Herzog von Münsterberg (* 1615)
11. November: Barbara Strozzi, italienische Sängerin und Komponistin (* 1619)
14. November: Matthias Abele von und zu Lilienberg, österreichischer Jurist und Schriftsteller (* 1616)
25. November: Mukai Genshō, japanischer Neo-Konfuzianer, Arzt und Botaniker (* 1609)
13. Dezember: Thomas Howard, 5. Duke of Norfolk, englischer Adeliger (* 1627)
14. Dezember: Christian Albrecht von Dohna, kurbrandenburgischer General (* 1621)
16. Dezember: Hans Rudolf Werdmüller, Schweizer Offizier (* 1614)
26. Dezember: Bernhard Gustav von Baden-Durlach, Kardinal und Fürstabt von Fulda und Kempten (* 1631)
Genaues Todesdatum unbekannt
Henri Beaubrun, französischer Maler (* 1603)
Hans Rudolf von Greiffenberg, Onkel, Vormund und Ehemann der Dichterin Catharina Regina von Greiffenberg (* 1607)
Shartshang Kelden Gyatsho, tibetischer Mönch (* 1607)
Hans Caspar Waser, Schweizer evangelischer Geistlicher (* 1612)
Weblinks
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Q7631
| 133.393852 |
58943
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https://de.wikipedia.org/wiki/Gewehr
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Gewehr
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Das Gewehr ist nach heutigem Sprachgebrauch eine zu den Handfeuerwaffen zählende Schusswaffe, die als Schulterwaffe (von der Schulter geschossen) mit zwei Händen zu bedienen ist. Das deutsche Waffenrecht definiert Gewehre, mit Ausnahme der Luftgewehre, als Langwaffen.
Gewehre mit gezogenem Lauf oder Polygonlauf werden als Büchsen bezeichnet, während solche mit glattem Laufinneren Flinten genannt werden. Weitere Unterscheidungen bestehen auf Grund der Bauweise, Ladeeinrichtung und Verwendung sowie im Sprachgebrauch.
Etymologie
Das Wort Gewehr stammt von dem althochdeutschen Wort weri ab, was so viel wie „Befestigung“ oder „Verteidigung“ bedeutet. Der ursprüngliche Sinn lebt in dem Wort Wehr („Staudamm“) weiter; vgl. auch Feuerwehr.
Durch Kollektivbildung entstand das Wort giweri und daraus das Sammelwort Gewehr, das schließlich im Militärwesen auf jegliche von einem Mann trag- und bedienbare Waffe (Trutzwaffen, aber auch Blankwaffen wie z. B. Schilde) übertragen wurde. Vor der Erfindung der Feuerwaffen beschrieb „Gewehr“ eine Waffe jeder Art.
Man unterschied dabei, je nach Trageweise, zwischen Obergewehr und Untergewehr. Zu den über der Schulter getragenen Obergewehren zählten z. B. Stangenwaffen, wie der Langspieß (Pike) und dessen gekürzte Version, der/das Sponton („Kurzgewehr“). Zum Obergewehr gehörten außerdem lange Feuerwaffen, wie Musketen und Arkebusen („Schießgewehr“). Als Untergewehr galten hingegen die an der Hüfte getragenen, meist in einer Scheide oder einem Futteral verstauten, sogenannten blanke Waffen für Stoß und Hieb, wie etwa Degen, Pallasche, Säbel, Faschinenmesser und Dolche. In der preußischen Kavallerie des 19. Jahrhunderts bedeutete der Befehl „Gewehr auf“ für die berittene Truppe das Blankziehen von Säbel oder Pallasch.
Später unterschied man das Feuer-Gewehr oder Schießgewehr (auch kleines Gewehr für die Handfeuerwaffen des Fußvolks im Gegensatz zum Geschütz) vom Seiten-Gewehr für die Blankwaffen. Der Begriff „Seitengewehr“ hat sich für das Bajonett erhalten.
Geschichte
Das Gewehr in der heutigen Form ist die Weiterentwicklung der Urform aller Feuerwaffen, des Handrohrs, das um ca. 1300 zum ersten Mal eingesetzt wurde. Ursprünglich bestand dieses aus einem gegossenen Metalllauf (vergleichbar mit einer kleinen Kanone) ohne jegliche Holzkomponenten (Schaft etc. fehlten noch komplett). Gezündet wurden diese Handrohre durch eine kleine Öffnung mittels einer Lunte.
Waren die ersten Handrohre noch sehr ungenau, so waren die Nachfolger in der Mitte des 16. Jahrhunderts bereits etwas genauer. Ein Nachfolger war die Hakenbüchse oder Arkebuse, die in Form und Aussehen dem uns bekannten Gewehr schon etwas näher kam. Meist hatten diese frühen Gewehre schon einen mechanischen Abzug und waren immer noch mit einem Luntenschloss ausgestattet. Aufgrund ihres hohen Gewichtes wurden die Hakenbüchsen normalerweise auf eine Gabel gestützt oder auf Mauern abgelegt und verfügten über einen Haken zum Abstützen der Waffe gegen den Rückstoß, woher sie auch ihren Namen bezogen.
Der größte Sprung in der Gewehrtechnologie war die Entwicklung des gezogenen Laufes.
Das Prinzip des gezogenen Laufs mit Zügen und Feldern wurde um 15. Jahrhundert im deutschsprachigen Raum entwickelt. Namentlich bekannt sind Gaspard Kollner aus Wien der um 1498 daran arbeitete. Der schraubenförmig gerillte Gewehrlauf, so wie er heutzutage Verwendung findet, wird Augustus Kotter aus Nürnberg 1520 zugeordnet. Mit gezogenen Läufen (Büchsen) konnte man deutlich weiter und vor allem präziser schießen. Dass der gezogene Lauf erst im 19. Jahrhundert Einzug in der regulären Infanterie hielt, lag an dem deutlich längerem Ladevorgang und an der teuren Herstellung von Vorderladerbüchsen.
Die Arkebuse wurde Ende des 16. Jahrhunderts von der Muskete abgelöst. Die Muskete wurde weiterentwickelt und setzte sich auf den Schlachtfeldern immer mehr durch. Den Erfindungen waren kaum Grenzen gesetzt und so wurde der Zündmechanismus immer weiter verbessert. Nach dem Luntenschloss wurden verschiedene Zündungen mit Feuersteinen entworfen, Radschloss, Schnapphahn und schließlich das Steinschloss, das die Waffe zu einer handlichen und vielseitig einsetzbaren Waffe machte. Durch die Zündung per Feuerstein, auch Flint genannt, setzte sich der Name Flinte durch.
Zu Beginn des 19. Jahrhunderts kam eine neue Zündung auf, das Perkussionsschloss. Das Zünden der Ladung durch ein Zündhütchen war nochmals ein großer Schritt zur sicheren und einfachen Handhabung. Waren die Vorgängermodelle noch sehr anfällig gegenüber Wind und Feuchtigkeit, so war das Zündhütchen gegen Witterungseinflüsse weitgehend unanfällig und sorgte für eine weitgehend sichere Zündung der Treibladung. Bis auf wenige Ausnahmen waren diese Gewehre Vorderlader.
Anfangs des 19. Jahrhunderts wurden die ersten industriell hergestellten Hinterlader entwickelt, nachdem bereits im 15. Jahrhundert erste Gewehre mit Hinterladung entwickelt wurden, die jedoch aufgrund zahlreicher technischer Probleme noch keine weitere Verbreitung fanden. Das erste militärisch genutzte Hinterladergewehr war 1776 die Ferguson-Büchse. 1836 wurde schließlich in Deutschland das Dreyse-Zündnadelgewehr serienmäßig hergestellt, welches mit Papierpatronen geladen wurde. 1850 folgte die amerikanische Sharps Rifle.
Ab den 1850er Jahren erfolgte die industrielle Fertigung moderner Patronen mit Metallhülsen, die wiederum Einfluss auf die weitere Entwicklung der Gewehre hatte. Erst durch die moderne Metallpatrone war der Weg zur Entwicklung von Mehrladewaffen wie das ab 1860 hergestellte Henry-Gewehr, das noch eine Randfeuerpatrone verschoss und die später entwickelten Repetier- und Selbstladegewehre für Zentralfeuerpatronen von Browning, Mauser, Mannlicher, Winchester und anderen Konstrukteuren frei.
Verwendung, Technik
Gewehre sind Handfeuerwaffen die wie Faustfeuerwaffen von einer Person getragen und verwendet werden können. Sie werden von der Schulter geschossen (Schulterwaffe), auf kurze Distanz können sie auch aus der Hüfte geschossen werden. Auf größere Distanz können sie zur Erhöhung der Schusspräzision aufgelegt werden, auf dem Markt sind auch Gewehre mit Vorder- oder Mittelstützen erhältlich.
Allgemein gelten Schulterwaffen mit einer Lauflänge von über 60 cm als Gewehr. Hinterladergewehre bestehen aus dem Lauf mit dem dahinterliegenden Patronenlager, auch Kammer genannt. Dahinter liegt der Verschluss, Repetierer sind zusätzlich mit einem Magazin ausgerüstet. Der Auslösemechanismus des Schusses wird als Schloss bezeichnet. Lauf, Verschluss und Schloss sind auf den Schaft mit Vorder- und Hinterschaft (Kolben) sowie Handschutz montiert. Die auf dem Lauf angebrachte Zielvorrichtung besteht aus Korn und Visier, zur Erhöhung der Schusspräzision kann auch ein Zielfernrohr oder Reflexvisier montiert werden. Kaliber, Treibladungsmenge im Verhältnis zum Geschossgewicht sowie Rohrlänge sind entscheidend für die Schusspräzision und die Wirkung im Ziel.
Unterscheidungen
Unterscheidung nach Laufprofil
Gewehre werden aus technischer Sicht nach der Art und Beschaffenheit des Laufes unterschieden:
Büchse
Gewehr mit gezogenem Lauf oder Polygonallauf. Diese helokoidale Führung im Lauf dient dazu, dem Geschoss einen Drall, respektive eine Rotation zur Stabilisierung der Flugbahn zu erteilen und ein Überschlagen des Geschosses zu verhindern.
Flinte
Gewehr mit glattem Lauf zum Verschießen von Schrotpatronen und Flintenlaufgeschossen.
Kombinierte Waffe, Büchsflinte,
Gewehr mit zwei oder mehreren glatten und gezogenen Läufen in unterschiedlichen Kombinationen und Anordnungen.
Unterscheidung nach Ladeeinrichtung
Gewehre werden aus technischer Sicht nach der Art der Ladeeinrichtung unterschieden:
Vorderlader
Gewehr, das durch den Lauf von vorne geladen wird.
Einzellader
Gewehr, das von hinten einzeln geladen wird.
Mehrlader, auch Repetierer (dies trifft auch auf Flinten zu), Revolvergewehr.
Gewehr, das aus einem Magazin durch manuelle Betätigung des Lademechanismus (Repetieren) geladen und gespannt wird –
als Unterhebelrepetierer, Vorderschaftrepetierer, Kammerstängelrepetierer.
Selbstladegewehr
Gewehr, das durch einen automatisierten Mechanismus geladen und gespannt wird (sog. Halbautomat).
Maschinenkarabiner und Maschinengewehr
Gewehr, das durch einen automatisierten Mechanismus geladen, gespannt und abgefeuert wird (sog. Vollautomat).
Unterscheidung nach Bauweise
Gewehre werden auch nach Bauweise oder Schäftung unterschieden.
Karabiner
Kurzkarabiner
Stutzen
Unterscheidung nach Verwendung
Gewehre werden unabhängig von technischen Unterscheidungsmerkmalen auch nach ihrer Verwendung unterschieden.
Ordonnanzgewehr (Militärgewehr)
Kavalleriekarabiner
Scharfschützengewehr (Präzisionsgewehr)
Dienstgewehr
Matchgewehr
Jagdgewehr
Unterscheidung nach Sprachgebrauch
Gewehre werden auch im allgemeinen Sprachgebrauch, unabhängig von technischen oder verwendungstechnischen Merkmalen unterschieden. Diese Pseudonyme sind zum großen Teil geschichtlich gewachsen und somit aus dem täglichen Sprachgebrauch nicht wegzudenken.
„Kleinkalibergewehr“ ist als umgangssprachlicher Begriff etabliert, aber nicht technisch oder behördlich definiert.
Sturmgewehr (veraltet: Maschinenkarabiner)
Sportgewehr
Flinte (Schrotgewehr)
Vorderschaftrepetierflinte (Pump Gun)
Waffenrechtliche Definitionen
Deutschland
Das Waffengesetz definiert unter folgenden Voraussetzungen das Gewehr als Langwaffe:
a) Lauf und Verschluss sind geschlossen (also schussbereit) mindestens 30 cm lang.
b) die kürzeste bestimmungsgemäß verwendbare Gesamtlänge überschreitet 60 cm (Lauf, Verschluss und Schaft).
Österreich
Das Waffengesetz 1996 unterteilt alle Schusswaffen in vier Schusswaffenkategorien:
Kategorie A (verboten):
Kriegsmaterial, Vorderschaftrepetierflinten (sog. Pumpguns).
Kategorie B (genehmigungspflichtig):
Faustfeuerwaffen (Pistolen, Revolver), Selbstladegewehre, Repetierflinten.
Kategorie C (meldepflichtig):
Gewehre mit gezogenem Lauf (Büchsen), auch Kleinkaliber.
Kategorie D (meldepflichtig):
Gewehre mit glattem Lauf (Flinten).
Es gibt keine gemeinsame Einstufung für alle Gewehre nach der Bauform, sondern eine funktionsbezogene Klassifizierung von Schusswaffen.
Schweiz
Im Bundesgesetz über Waffen, Waffenzubehör und Munition (Waffengesetz, WG, 514.54) vom 12. Dez. 2008 gelten gemäß
Art. 4. a, Geräte als Waffen, mit denen durch Treibladung Geschosse abgegeben werden können und die eine einzige Person bedienen und tragen kann.
Gemäß Art. 8 sind diese der Waffenerwerbsscheinpflicht unterstellt.
Gemäß Art. 10 können folgende Waffen ohne Waffenerwerbsschein erworben werden: Einschüssige und mehrläufige Jagdgewehre, Nachbildungen von einschüssigen Vorderladern, vom Bundesrat bestimmte Handrepetiergewehre, die im ausserdienstlichen und sportlichen Schießwesen eingesetzt werden. Ihr Erwerb ist der Vertrags- und Meldepflicht unterstellt.
Siehe auch
Liste von Infanteriegewehren
Literatur
Wörterbuch zur Deutschen Militärgeschichte, Militärverlag der Deutschen Demokratischen Republik VEB, Berlin 1985
Brockhaus’ Konversationslexikon, 7. Band, 14. Auflage, Leipzig 1894
Lueger 1904: Eintrag: Jagdgewehre
Meyers 1905: Eintrag: Jagdgewehr
Heinrich Müller: Gewehre, Pistolen, Revolver, Stuttgart 1979
Weblinks
Einzelnachweise
Waffe
Feuerwaffe
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Q124072
| 137.579913 |
12752
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https://de.wikipedia.org/wiki/W%C3%A4rmepumpe
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Wärmepumpe
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Eine Wärmepumpe ist eine Kraftwärmemaschine, die unter Aufwendung technischer Arbeit thermische Energie aus einem Reservoir mit niedrigerer Temperatur (in der Regel ist das die Umgebung) aufnimmt und – zusammen mit der Antriebsenergie – als Nutzwärme mit höherer Temperatur auf ein zu beheizendes System überträgt.
Wärmepumpen werden für Heizzwecke eingesetzt. Die primäre Anwendung ist die Wärmepumpenheizung zur Erwärmung von Gebäuden, die Trinkwassererwärmung, die Erzeugung von Prozesswärme und der Einsatz in Wäschetrocknern. Den Kreisprozess der Wärmepumpe verwendet man auch zum Kühlen (so beim Kühlschrank oder Klimaanlage). Im Gegensatz zur Wärmepumpe ist beim Kälteprozess die aus dem zu kühlenden Raum abgeführte Wärme die Nutzenergie, die zusammen mit der Antriebsenergie als Abwärme an die Umgebung abgeführt wird.
Einteilung
nach dem Verfahren:
Kompression (mechanische Energie als Antriebsleistung)
Absorption (Hochtemperaturwärme als Antriebsleistung; siehe: Absorptionswärmepumpe)
Adsorption (zum Beispiel Adsorption und Desorption eines Stoffes an einer Oberfläche wie Aktivkohle oder einem Zeolith, dabei wird die Adsorptionswärme frei oder auch die Desorptionswärme aufgenommen)
Peltier-Effekt
Magnetokalorischer Effekt
nach der Wärmequelle:
Außenluft
Abluft
Grundwasser (mit Schluckbrunnen)
Oberflächenwasser
Erdwärme
Erdwärmesonde
CO2-Sonde
Direktverdampfer-Sonde mit Kältemittel gefüllt
Spiralkollektor
flächig verlegter Wärmeübertrager mit Soleflüssigkeit befüllt
flächig verlegter Wärmeübertrager mit Kältemittel befüllt
thermisch aktivierte Fundamente
Abwärme von industriellen Anlagen
Abwasserwärmerückgewinnung (AWRG)
Nutzung von Umwandlungsenthalpie beim Phasenübergang in Form eines Eisspeichers
nach der Wärmenutzung:
Kühlen
Gefrieren
Warmwasser
Heizung
mit Flächenheizung, Fußbodenheizung, Wandheizung, Deckenheizung
mit Heizkörpern, Radiatoren, Konvektoren
mit Gebläse-Konvektoren
nach der Arbeitsweise:
Es gibt verschiedene physikalische Effekte, die in einer Wärmepumpe Verwendung finden können. Die wichtigsten sind:
die Verdampfungsenthalpie bei Wechsel des Aggregatzustandes (flüssig/gasförmig);
die Reaktionsenthalpie bei Mischung zweier verschiedener Stoffe;
die Temperaturabsenkung bei der Expansion eines (nicht idealen) Gases (Joule-Thomson-Effekt);
der thermoelektrische Effekt;
das Thermotunneling-Verfahren;
der magnetokalorische Effekt.
in der Gebäudetechnik:
Wärmepumpen werden vielfach auch zur Erwärmung von Wasser für die Gebäudeheizung (Wärmepumpenheizung) und Bereitstellung von Warmwasser eingesetzt. Wärmepumpen können allein, in Kombination mit anderen Heizungsarten sowie in Fern- und Nahwärmesystemen eingesetzt werden. Zu letzteren zählt z. B. die Kalte Nahwärme. Üblich sind die folgenden Kombinationen (Abkürzungen in Klammern):
Wasser/Wasser-Wärmepumpe (WWWP) mit Entzug der Wärme aus dem Grundwasser über Förder- und Schluckbrunnen, aus Oberflächenwässern oder Abwässern
Sole/Wasser-Wärmepumpe (SWWP), als Wärmequellen dienen:
Erdwärmesonden und Erdwärmekollektoren (Spiralkollektoren, Grabenkollektoren, Erdwärmekörbe etc.)
die Sonnenenergie über Sonnenkollektoren und Pufferspeicher
der Umgebung über Massivabsorber, Energiezaun, o. ä.
Luft/Wasser-Wärmepumpe (LWWP) mit Entzug der Wärme aus Abluft oder Außenluft, seltener auch mit Vorerwärmung durch Erdwärmetauscher, Fassadenkollektoren oder ähnlichem; Wärmeabgabe über wasserführende Heizsysteme, preiswert und häufig verwendet
Luft/Luft-Wärmepumpen (LLWP) werden in Gebäuden zur Erwärmung oder Kühlung der Zuluft von Lüftungsanlagen (Klimaanlagen) verwendet
nach der Bauart:
Monoblock-Wärmepumpen
Split-Wärmepumpen
Funktionsprinzipien
Die Kompressionswärmepumpe nutzt den physikalischen Effekt der Verdampfungsenthalpie. In ihr zirkuliert ein Kältemittel in einem Kreislauf, das, angetrieben durch einen Kompressor, die Aggregatzustände flüssig und gasförmig abwechselnd annimmt.
Die Absorptionswärmepumpe nutzt den physikalischen Effekt der Reaktionswärme bei Mischung zweier Flüssigkeiten oder Gase. Sie verfügt über einen Lösungsmittelkreis und einen Kältemittelkreis. Das Lösungsmittel wird im Kältemittel wiederholt gelöst oder ausgetrieben.
Die Adsorptionswärmepumpe arbeitet mit einem festen Lösungsmittel, dem „Adsorbens“, an dem das Kältemittel ad- oder desorbiert wird. Dem Prozess wird Wärme bei der Desorption zugeführt und bei der Adsorption entnommen. Da das Adsorbens nicht in einem Kreislauf umgewälzt werden kann, kann der Prozess nur diskontinuierlich ablaufen, indem zwischen Ad- und Desorption zyklisch gewechselt wird.
Die elektrisch angetriebene Kompressionswärmepumpe stellt den Hauptanwendungsfall von Wärmepumpen dar. Mit der Wärmepumpe kann ein Vielfaches der eingesetzten elektrischen Leistung als Wärmeenergie erzeugt werden. Der Wärmepumpenprozess, nach Rudolf Plank Plank-Prozess genannt, wird auch als Kraftwärmemaschine bezeichnet. Der Grenzfall einer reversibel arbeitenden Kraftwärmemaschine ist der linksläufige Carnotprozess.
Elektrisch angetriebene Wärmepumpen werden mit einem geschlossenen Kältemittelkreislauf betrieben. Das Kältemittel verdampft bei niedrigem Druck unter Wärmezufuhr und nach der Verdichtung kondensiert das Kältemittel unter Abgabe der Nutzwärme. In der Drossel wird das flüssige Kältemittel von dem Hochdruck auf den Niederdruck entspannt. Dabei verdampft der größte Anteil des Kältemittels und die Temperatur sinkt. Die Drossel besteht bei kleinen Anlagen aus einer Kapillaren, bei größeren Anlagen werden thermostatisch geregelte Ventile eingesetzt, die den Druck im Verdampfer so einstellen, dass die entsprechende Sattdampftemperatur etwas tiefer als die Temperatur der Wärmequelle liegt, so dass das Kältemittel durch die Wärmeaufnahmen verdampft. Der Abluft, der Außenluft, dem Erdboden, dem Abwasser oder dem Grundwasser kann Wärme durch Einsatz einer Wärmepumpe entzogen werden.
Der Verdichter wird so geregelt, dass die zum Verdichtungsenddruck zugehörige Sattdampftemperatur geringfügig über der Temperatur der Wärmesenke liegt. Die Wärmequelle für Wärmepumpen ist die Umgebungsluft, die Erdwärme oder ein Wasserfluss. Die Wärmesenke ist der Warmwasser- oder Brauchwasserkreislauf, der eine Seite des Verflüssiger-Wärmetauschers bildet.
Das Verhältnis von in den Heizkreis abgegebener Wärmeleistung zu zugeführter elektrischer Verdichterleistung wird als Leistungszahl (Coefficient Of Performance, kurz COP) bezeichnet. Die Leistungszahl hat einen oberen Wert, der aus dem Carnot-Kreisprozess abgeleitet und nicht überschritten werden kann. Die Leistungszahl wird auf einem Prüfstand gemäß der Norm EN 14511 (früher EN 255) ermittelt und gilt nur unter den jeweiligen Prüfbedingungen. Der COP ist Gütekriterium für Wärmepumpen, erlaubt jedoch keine energetische Bewertung der Gesamtanlage.
Das Kältemittel wird in Bezug auf den Prozess so gewählt, dass die Temperaturen des Phasenübergangs einen für die Wärmeübertragung ausreichenden Abstand zu den Temperaturen von Wärmequelle und Wärmesenke haben. Soweit möglich wird ein Kältemittel verwendet, dessen Verdampfungsdruck bei der niedrigsten Arbeitstemperatur über dem Umgebungsdruck liegt, um das Eindringen von Luft in den Kältemittelkreislauf zu verhindern. Weitere Aspekte zur Auswahl des Kältemittels siehe Abschnitt Kältemittel (Arbeitsgase).
Im Gegensatz zur Kältemaschine wird bei der Wärmepumpe die Energie auf der warmen Seite genutzt. Der Wärmepumpenkreislauf ist in der Abbildung 1 dargestellt. Eine Wärmepumpe besteht mindestens aus den vier dargestellten Komponenten: Verdampfer, Verdichter (Kompressor), Verflüssiger und Drossel.
Der Kreisprozess der Wärmepumpe
Die in der Thermodynamik verwendeten Diagramme für Kreislaufprozesse (Log-p-h-Diagramm oder T-s-Diagramm) sind gute Hilfen, um Kreisprozesse darzustellen. Die spezifischen Parameter können in dem Diagramm des betrachteten Stoffes direkt ermittelt werden. In dem Log-p-h-Diagramm können zu den Arbeitspunkten direkt die Enthalpien h für die spezifischen Wärmeströme und Verdichterarbeit auf der Ordinate abgelesen werden.
Bei der Wärmepumpe werden physikalische Effekte des Übergangs einer Flüssigkeit in die gasförmige Phase und umgekehrt ausgenutzt. So kann zum Beispiel Propan in Wärmepumpen als Kältemittel verwendet werden, da es in dem Temperaturbereich für Gebäudeheizungen je nach Druckstufe in der Gas- und Flüssigphase auftritt. Der Einsatz von Kältemitteln in dem Zweiphasengebiet ist effektiv, da die Stoffe bei dem Phasenübergang einen sehr hohen Wärmeübergangskoeffizienten aufweisen und der Wärmeübergang bei einer durch den Druck eingestellten konstanten Temperatur erfolgt.
In Abbildung 6 ist in dem T-s-Diagramm die Taulinie (rechts vom kritischen Punkt an der Spitze der Kurve) und die Siedelinie (links vom kritischen Punkt) dargestellt. Propan ist bei normalem Luftdruck (1,013 bar) und niedriger Außentemperatur (zum Beispiel 5 °C) gasförmig. Wenn das Gas komprimiert, bleibt es gasförmig und wird überhitzt. Kühlt das Gas bei dem hohen Druck ab, wird es flüssig, wenn die Taulinie erreicht wird. Beim Verflüssigen (Kondensieren) und konstantem Druck bleibt die Temperatur konstant, bis das gesamte Kältemittel kondensiert ist. Wenn das flüssige Kältemittel anschließend ohne Wärmeübertragung nach außen entspannt wird (adiabate Drosselung), verdampft es zum größten Teil und die Temperatur fällt. Diesen Effekt kann man an einer Propangasflasche nachvollziehen; bei starker Entnahme kann sich ein Eisansatz an der Flasche bilden.
Verdichten
Das gasförmige Kältemittel wird im Verdichter durch einen elektrisch angetriebenen Verdichter komprimiert (verdichtet), wobei sich das Gas erhitzt. Der Enddruck des Verdichters wird so geregelt, dass die zugehörige Sattdampftemperatur einige Grad über der Temperatur der Wärmesenke liegt. Dies ist bei Heizungen die Vorlauftemperatur.
Verflüssigen
Das heiße, komprimierte Gas gibt im Wärmetauscher seine Wärme an das Wasser der Heizungsanlage ab. Dabei kühlt sich das komprimierte und überhitzte Gas erst geringfügig ab (Überhitzung des Gases), bis die Temperatur erreicht ist, die dem Sattdampfdruck entspricht. Anschließend kondensiert das Kältemittel bei einer konstanten Temperatur in einem Wärmetauscher (Kondensator, in der Kältetechnik ist der Begriff Verflüssiger üblich). Das Kältemittel im flüssigen Zustand wird noch geringfügig unterkühlt, damit Blasen sicher vermieden werden, die die Funktion des nachgeschalteten thermostatischen Expansionsventils beeinträchtigen können.
Entspannen
Beim anschließenden Durchgang durch das Expansionsventil, eine Drossel, wird das flüssige Kältemittel entspannt, verdampft dabei weitgehend und kühlt ab und wird dem Verdampfer zugeführt.
Verdampfen
Der Verdampfer ist der zweite Wärmetauscher, an dem bei niedriger Temperatur die Wärme aus der Umgebungsluft oder dem Erdreich an das Kältemittel übertragen wird. Hierbei verdampft das Kältemittel bei konstanter Temperatur. Der Druck im Verdampfer wird von dem Expansionsventil so geregelt, dass die Temperatur des Gases geringfügig über der Umgebungstemperatur liegt. Damit wird verhindert, dass flüssiges Kältemittel in den Verdichter gelangt und diesen beschädigt (Flüssigkeitsschlag, Kavitation). Die Temperatur der Wärmequelle muss immer höher sein als die Verdampfungstemperatur des Kältemittels, damit ein Temperaturgradient vorhanden ist, der für eine Wärmeübertragung erforderlich ist.
Beispiel Kältemittel R-134a
In der Abbildung 4 ist der ideale Wärmepumpenprozess mit dem Kältemittel R-134a dargestellt. Die Anergie (Umweltwärme) wird bei 0 °C dem Verdampfer zugeführt und bei 50 °C wird die Wärme ins Heizungssystem abgeführt. Die einzelnen Prozessschritte sind:
1 - 2: Isentrope Verdichtung von 2,93 bar auf 13,18 bar; Das Kältemittel ist geringfügig überhitzt (50,1 °C).
2 - 3: Das Kältemittel kühlt im Verflüssiger auf die Sattdampftemperatur (50,1 °C auf 50 °C) ab und anschließend kondensiert das gesamte Kältemittel bei einer Temperatur von 50 °C durch Wärmeabgabe an das Heizungssystem.
3 - 4 Das flüssige Kältemittel wird auf den Sattdampfdruck von 0 °C entspannt. Der Endpunkt liegt im Zweiphasengebiet, wobei bei dem speziellen Arbeitspunkt „4“ 64 % des Kältemittels noch flüssig sind.
4 - 1 Das gesamte Kältemittel verdampft im Verdampfer durch Wärmeaufnahme aus der Umgebung. Es wird anschließend wieder dem Verdichter zugeführt.
Aus dem Beispiel kann auf der Koordinate oder anhand thermodynamischer Näherungsfunktionen abgelesen werden:
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Mit diesen Angaben kann der COP dieses idealisierten Prozesses berechnet werden:
Vergleicht man den COPideal mit dem Kehrwert des Carnotwirkungsgrades des reversiblen Prozesses
so liegt der COPideal niedriger. Die Ursache ist, dass auch der idealisierte Wärmepumpenprozess (isentrope Verdichtung, Temperaturgradient an den Wärmetauschern wird vernachlässigt, Druckverluste werden nicht berücksichtigt) nicht reversibel ist. Die realen Gase weichen von den idealen Gasen ab, und die Entspannung an der Drossel ist adiabat und nicht reversibel, da aus dem Druckgefälle auch bei dem idealisierten Prozess keine Arbeit gewonnen wird. Der Kehrwert des Carnotfaktors ist aber sehr hilfreich, die Auswirkung unterschiedlicher Arbeitstemperaturen abzuschätzen. Der COP des realen Prozesses kann man mit dem Produkt aus COPmax und dem Gütegrad ηWP abgeschätzt werden, der hier mit 0,5 als Erfahrungswert herangezogen wird. Damit erhält man einen COP von 3,23, wobei in dem Beispiel (0 °C / 50 °C) ein ungünstiger Betriebspunkt gewählt wurde.
Abbildung 6 zeigt den Prozess im T-s-Diagramm. Theoretisch wäre es möglich, die Arbeitsfähigkeit des Kondensates beim Entspannen (Drossel) auf den niedrigeren Druck durch eine Kraftmaschine, beispielsweise eine Turbine, zu nutzen, wie es der reversible Carnot-Prozess beschreibt. Doch dabei würde die Flüssigkeit teilweise verdampfen. Die Nutzung der Entspannungsenthalpie ist technisch nur sehr aufwändig zu realisieren und wird daher nicht angewendet. Deshalb verwendet man der Einfachheit halber hier eine Drossel (Entspannung mit konstanter Totalenthalpie). Insofern liegt der COP des idealen Wärmepumpenprozesses mit Drosselung niedriger als der Carnot-Faktor.
Thermodynamische Betrachtung
Leistungszahl
Die Leistungszahl ε einer Wärmepumpe, in der Literatur auch als Heizzahl bezeichnet (englisch coefficient of performance ), ist der Quotient aus der Wärme Qc, die in den Heizkreis abgegeben wird, und der eingesetzten Energie :
Bei typischen Leistungszahlen von 4 bis 5 steht das Vier- bis Fünffache der eingesetzten Leistung als nutzbare Wärmeleistung zur Verfügung, der Zugewinn stammt aus der entzogenen Umgebungswärme.
Die Leistungszahl hängt stark vom unteren und oberen Temperaturniveau ab. Die theoretisch maximal erreichbare Leistungszahl einer Wärmepumpe ist entsprechend dem zweiten Hauptsatz der Thermodynamik begrenzt durch den Kehrwert des Carnot-Wirkungsgrads
Für die Temperaturen sind die absoluten Werte einzusetzen.
Gütegrad
Der Gütegrad einer Wärmepumpe ist die tatsächliche Leistungszahl bezogen auf die ideale Leistungszahl bei den verwendeten Temperaturniveaus. Er berechnet sich zu:
Praktisch werden Wärmepumpengütegrade im Bereich 0,45 bis 0,55 erreicht.
Komponenten der Wärmepumpe
Verdichter
Die in der Tabelle aufgeführten Verdichterbauarten sind unabhängig von dem Einsatz als Bauteil in einer Wärmepumpe oder Kälteanlage. Die Bauart des Verdichters gibt die Ausführung der Abdichtung des Verdichtergehäuses zur Umgebung an. Der hermetische Verdichter hat keine lösbaren Verbindungen; der Motor liegt im Verdichtergehäuse und im Kältemittel. Der halbhermetische Verdichter hat ein abgedichtetes Maschinengehäuse, in dem der Motor eingebaut ist; das Gehäuse hat aber keine dynamisch belastete Wellendurchführung nach außen. Der offene Verdichter hat eine Wellendurchführung und ist über eine Kupplung an den Motor angeflanscht, der ein separates Bauteil ist.
Der Scrollverdichter hat sich als Verdichter in kleineren und mittleren Wärmepumpen etabliert; vorteilhaft sind die relativ einfache Bauform und der leise Betrieb, da nur eine Drehbewegung erfolgt und keine translatorische Bewegung auftritt. Er besitzt keine Ventile und hat im Vergleich zum Kolbenverdichter einen höheren isentropischen und volumetrischen Wirkungsgrad. Verdichter und Motor sind in einem hermetisch geschlossenen Gehäuse eingebaut und der Motor wird in der Regel mit einem Wechselrichter betrieben, um die Drehzahl an den Wärmebedarf anzupassen. Der Scrollverdichter hat bauartbedingt ein festes Verdichtungsverhältnis. Es kann daher eine unzureichende Verdichtung auftreten, so dass keine Förderung des Fluides möglich ist. Eine zu hohe Verdichtung verringert den Wirkungsgrad. Um diese zu vermeiden, werden dynamische Auslassventile verwendet.
Verdampfer
Lufterwärmter Verdampfer
Bei dem lufterwärmten Verdampfer wird Umgebungsluft mit einem Gebläse zu den Wärmetauscherflächen geführt, die als Rippenrohrbündel ausgeführt sind. Diese sind zumeist aus Kupfer hergestellt. Der Verdampfer kann im Gebäude installiert sein, so dass Außenluft über einen Kanal zugeführt wird. In der Regel sind die Verdampfer allerdings in einem Maschinengehäuse im Freien aufgestellt, um die Antriebsleistung für den Luftgebläsemotor niedrig zu halten und Lärmemissionen im Gebäude zu vermeiden. Das primär gasförmige Kältemittel wird durch parallel angeordnete Rohre geleitet, die mit Metallrippen versehen sind, um die Wärmeaustauschfläche zu erhöhen. Das Kältemittel wird über das Expansionsventil eingespritzt; es verdampft und wird im letzten Teil der Verdampferrohre geringfügig überhitzt. Als Temperaturdifferenz zwischen Verdampfungstemperatur des Kältemittels und der Außentemperatur wird typisch 4 °C angesetzt. Soweit die Außentemperatur über dieser Temperaturdifferenz liegt, begünstigt eine hohe Luftfeuchtigkeit den COP, da die Luftfeuchtigkeit auf den Verdampferflächen kondensiert. Bei niedrigen Temperaturen (5 °C – 6 °C und 60 % relative Luftfeuchtigkeit der Außenluft) bildet sich Eis auf den Verdampferflächen, die ein aufwändiges Abtauen erfordern, was zu Wirkungsgradeinbußen führt.
Effizienz
Der Wärmepumpenprozess bzw. Kälteanlagenprozess, nach Rudolf Plank Plank-Prozess genannt, wird auch als Kraftwärmemaschine bezeichnet. Der Grenzfall einer reversibel arbeitenden Kraftwärmemaschine ist der linksläufige Carnotprozess. Die Leistungszahl COP (coefficient of performance) einer Wärmepumpe wird durch viele Faktoren beeinflusst. Im Falle einer reversiblen Wärmepumpe könnte durch die Umkehrung des Kreisprozesses an dem Generator einer Entspannungsturbine wieder die eingebrachte elektrische Leistung abgegriffen werden, wenn die Wärmemengen wieder in den Prozess eingebracht werden. Bei dem Grenzfall des Carnot-Prozesses und der Verwendung eines idealen Gases wäre der COP identisch mit dem Kehrwert des Carnotfaktors ηc.
Aus der Gleichung kann entnommen werden, dass der COP steigt, wenn die Temperatur der Senke kleiner wird (niedrigere Heiztemperatur) und die Temperatur der Quelle (z. B. Außenluft) steigt. Um eine möglichst hohe Leistungszahl und somit eine hohe Energieeffizienz zu erlangen, sollte die Temperaturdifferenz zwischen der Wärmequelle (Umgebung) und der Wärmesenke (Heizungsvorlauf) möglichst gering sein. Die Wärmeübertrager sollten effizient sein und die Temperaturdifferenz zwischen der Primär- und Sekundärseite sollte gering sein.
Der Kehrwert des Carnotwirkungsgrades kann bei realen Kreisprozessen für den COPmax schon aufgrund der Exergieverluste bei der Drosselung nicht erreicht werden. Bei vorgegebener oberer und unterer Temperatur des Kreisprozesses müssen folgende weitere Verluste berücksichtigt werden:
Wirkungsgrad des elektrischen Motors am Verdichter
Dissipation bei der Verdichtung, Reibungsverluste, Spülverluste
Druckverluste in den Rohrleitungen und Druckbehältern
Wärmeverluste an den Bauteilen
Temperaturdifferenz der Medien im Verflüssiger (Verflüssigungstemperatur des Kältemittels > Temperatur der Wärmesenke)
Temperaturdifferenz der Medien im Verdampfer (Verdampfungstemperatur des Kältemittels < Temperatur der Wärmequelle)
In der Regel muss das Medium der Wärmequelle mit einer Pumpe oder einem Lüfter zu den Wärmetauscherflächen des Verdampfers geleitet werden. Die elektrische Antriebsenergie muss bei dem realen Prozess berücksichtigt werden.
Maßnahmen zur Erhöhung der Effizienz
Grundsätzlich sollte vor der Installation der Energiebedarf des Gebäudes oder des Prozesses gesenkt werden. Dies kann bei Gebäuden durch eine Wärmedämmung, hochwertige Fenster mit niedrigem k-Wert und ggf. mit einer Wärmerückgewinnung bei der Lüftung erreicht werden.
Kältemitteleinspritzung
Die höchste Leistungszahl für eine Wärmepumpe hat der reversible Carnotprozess. Dieser Prozess kann technisch aber nur annähernd erreicht werden. Bei dem realen Wärmepumpenprozess verursachen insbesondere die adiabate Drosselung und die nicht isentrope Verdichtung eine Begrenzung der Gütezahl. Daher werden Verfahren angewandt, die den realen Prozess dem Carnotprozess annähern; man spricht von einer Carnotisierung. Es wird eine Teilmenge des flüssigen Kältemittels vor dem Expansionsventil entnommen und in den Bereich des Verdichters eingespritzt, an dem etwa das mittlere Druckniveau zwischen der Hoch- und Niederdruckstufe herrscht. Der Verlauf der Verdichtungskurve im Log-p-h-Diagramm zwischen den Punkten 1, 2', 3 nähert sich dem Verlauf der Isentropen an. Die Überhitzung des Kältemittels nach der Verdichtung am Punkt 2 ist bei gleichem Druckniveau bei der Einspritzung geringer. Eine Voraussetzung für die Anwendung dieses Verfahrens ist die Bauart des Verdichters: Bei Schrauben- und Scrollverdichtern kann diese Methode angewandt werden.
Optimierung der Wärmeübertrager
Die Wärmeübertrager sollten für möglichst geringe Temperaturdifferenzen zwischen der Primär- und Sekundärseite ausgelegt sein. Zur Vermeidung von Druckverlusten und Verschlechterung des Wärmeübergangs sollten verschmutzende Flächen der Wärmetauscher regelmäßig gesäubert werden (z. B. Rohranordnung der luftbeaufschlagten Verdampfer). Auf der Verflüssigerseite sind niedrige Vorlauftemperaturen anzustreben. Im Falle einer Gebäudeheizung ist der Anschluss einer Fußboden-, Wand- oder Deckenheizung die optimale Lösung. Bei Bestandsgebäuden kann auch durch Tausch von Heizkörpern die Heizfläche vergrößert werden, etwa wenn Gussheizkörper durch groß dimensionierte Plattenheizkörper ersetzt werden.
An den Heizkörpern sollte ein hydraulischer Abgleich vorgenommen werden, so dass alle Heizkörper entsprechend ihrer Dimensionierung mit dem optimalen Wasservolumenstrom versorgt werden. Damit kann oft die Vorlauftemperatur reduziert werden, da auch Heizkörper mit langem Rohrleitungsverlauf mit der optimalen Wassermenge versorgt werden.
Reduzierung der Vorlauftemperatur
Um noch günstige COP-Werte und Jahresarbeitszahlen der Wärmepumpe zu erzielen, sollte die Vorlauftemperatur möglichst auch an den kältesten Tagen nicht über 50 °C liegen. Die Verflüssigungstemperatur von einstufigen Wärmepumpen ist begrenzt, da durch die steigende Temperatur das Kältemaschinenöl im Verdichter thermisch vercrackt. Sollten höhere Temperaturen erforderlich sein, muss das zu heizende Medium noch mit einem elektrischen Heizstab nacherhitzt werden. Bei dieser direkten elektrischen Beheizung entspricht die erzeugte Wärmeenergie genau der eingesetzten elektrischen Energie (COP=1).
Mittlerweile (2022) sind zweistufige Wärmepumpen auf dem Markt, die deutlich höhere Verflüssigungstemperaturen ermöglichen (80 °C), die allerdings physikalisch bedingt einen deutlich schlechteren COP-Wert aufweisen und technisch aufwändiger sind.
Jahresarbeitszahl
Ein Maß für die Effizienz einer Wärmepumpe ist die Jahresarbeitszahl (JAZ), sie berechnet sich nach folgender Formel:
Sie beschreibt das Verhältnis der Nutzenergie Q in Form von Wärme zur aufgewendeten Verdichterenergie P in Form von Strom über ein Jahr.
Dabei geht es nicht nur um das Wärmepumpenaggregat selbst, sondern die Anwendung in einer konkreten Umgebung, also einem konkreten Haus in dem dort herrschenden Klima. Die Jahresarbeitszahl ist der Quotient von Jahresheizwärmeabgabe und Jahreselektroenergieaufnahme. Je nach Bilanzierungskreis werden die Verluste wie Wärmeabgabe von Speichern und Pumpenenergie einbezogen oder nicht. Je höher die Jahresarbeitszahl, desto effizienter arbeitet die Wärmepumpe. Typische JAZ zur Gebäudeheizung liegen im Intervall von 2,5 bis 6,4. Die JAZ einer geplanten Heizanlage kann rechnerisch abgeschätzt werden, hierfür gibt es Normen und Tools.
In die Jahresarbeitszahl gehen alle Betriebszustände ein; Übergangszeiträume mit relativ hohen Außentemperaturen und niedrigen Vorlauftemperaturen führen zu hohen COP-Werten, während bei Zeiträumen mit niedrigen Außentemperaturen höhere Vorlauftemperaturen notwendig sind, um den notwendigen Wärmestrom über die Heizkörper an den Raum zu übertragen. In diesen Zeiträumen liegt der COP deutlich ungünstiger.
An dem Beispiel einer Wärmepumpe für ein Einfamilienhaus mit einem Heizenergiebedarf von 150 kWh/(m²⋅a) werden für verschiedene Anordnungen der Verdampfer folgende Jahresarbeitszahlen angegeben:
Luft/Wasser-Wärmepumpe (JAZ = 2,5)
Sole/Wasser-Wärmepumpe (JAZ = 3,6)
Wasser/Wasser-Wärmepumpe (JAZ = 5)
Die Nutzenergie übersteigt in allen Anordnungen die aufgewendete Verdichterenergie.
Hinsichtlich des Kältekreislaufes und des Heizkreislaufes gibt es noch Optimierungsmöglichkeiten. Das Kältemittel kann nach der Verflüssigung bei der hohen Temperatur für die Vorwärmung des Brauchwassers bei niedrigeren Temperaturen genutzt werden. Mit dieser Maßnahme kann der COP erhöht werden, da die nutzbare Wärme zunimmt.
Der Heizungswasserkreislauf kann mit Wärmespeichern ausgerüstet werden, damit die Wärmepumpe bei niedrigen Außentemperaturen nicht an den kältesten Tagesstunden betrieben werden muss.
Wirtschaftlichkeit
Mit Hilfe der Jahresarbeitszahl können die wirtschaftlichen Gesichtspunkte für den Einsatz einer Wärmepumpe mit einer herkömmlichen Heizung, z. B. Gas, verglichen werden. Falls der Strompreis für die Wärmepumpe (in €/kWh) höher als der Gaspreis (in €/kWh) multipliziert mit der Jahresarbeitszahl dividiert durch den Wirkungsgrad der Gasheizung ist, ist die Wärmepumpe nicht wirtschaftlicher als eine Gasheizung. Bei dieser Betrachtung sind die Investitionskosten nicht berücksichtigt.
Nachteil von Wärmepumpen gegenüber Heizthermen ist der höhere apparative Aufwand. Besonders kostenintensiv sind wirkungsvolle Verdampfer (Erdwärmesonden, erdverlegte Flächenverdampfer) durch die damit verbundenen Erdarbeiten. Für erdverlegte Verdampferrohre ist eine Fläche erforderlich, die dem Doppelten der Wohnfläche entspricht. Dies kann in dicht gebauten Gebieten kaum realisiert werden, außerdem muss das Erdreich bis auf eine Tiefe von 1 m ausgehoben werden. Die Verlegung von Erdsonden bedarf der Zustimmung der Behörde. Daher kann in den meisten Anwendungsfällen nur eine Luft/Wasser-Wärmepumpe installiert werden. Hinsichtlich der Auswahl des Aufstellungsortes muss der Schallpegel des Lüfters und des Verdichters berücksichtigt werden. Der Kältekreislauf muss regelmäßig auf Dichtigkeit durch einen Kälte-Sachkundigen geprüft werden. Wiederum entfallen bei Einsatz der Wärmepumpe die Kosten für einen Schornsteinfeger.
Nachhaltigkeit
In der Abbildung 11 ist die Ausnutzung der fossilen Energie für Erzeugung von Heizwärme dargestellt. Bei dem derzeitigen Energiemix der Kraftwerke in Deutschland wird die Hälfte des Stroms mit fossilen Brennstoffen und die andere Hälfte aus regenerativen Quellen gewonnen (die Atomkraft wird hier vernachlässigt). Der Wirkungsgrad sehr hochwertiger Kraftwerke (GuD-Kraftwerk) liegt über 50 %; bei Kohlekraftwerken um die 40 %. Für Wärmepumpen ist es wünschenswert, einen möglichst hohen Anteil regenerativ erzeugten Stroms im Strommix zu erreichen.
Kältemittel (Arbeitsgase)
Von 1930 bis zum Anfang der 1990er Jahre waren die Fluorchlorkohlenwasserstoffe (FCKW) die bevorzugten Kältemittel. Sie kondensieren bei Raumtemperatur unter leicht handhabbarem Druck. Sie sind nicht giftig, nicht brennbar und reagieren nicht mit den üblichen Werkstoffen. Wenn FCKW freigesetzt werden, schädigen sie jedoch die Ozonschicht der Atmosphäre und tragen zum Ozonloch bei. In Deutschland wurde daher im Jahr 1995 der Einsatz von Fluorchlorkohlenwasserstoffen verboten. Die als Ersatz verwendeten Fluorkohlenwasserstoffe (FKW) schädigen nicht die Ozonschicht, tragen jedoch zum Treibhauseffekt bei und sind im Kyoto-Protokoll als umweltgefährdend erfasst. Als natürliche Kältemittel gelten reine Kohlenwasserstoffe wie Propan oder Propylen, wobei deren Brennbarkeit besondere Sicherheitsmaßnahmen erforderlich macht. Anorganische, nicht brennbare Alternativen wie Ammoniak, Kohlendioxid oder Wasser wurden ebenfalls für Wärmepumpen eingesetzt. Aufgrund spezifischer Nachteile haben sich diese Kältemittel nicht im größeren technischen Maßstab durchsetzen können. Ammoniak (NH3) und Kohlendioxid (CO2) werden generell in industriellen Kühlanlagen wie Kühlhäusern und Brauereien eingesetzt. CO2 ist anstelle von Fluorkohlenwasserstoffen für die Klimatisierung von Fahrzeugen angedacht und wird bereits von ersten Herstellern eingesetzt (Stand 2017).
Bauarten
Wärmepumpen werden in zwei Bauarten angeboten, der Monoblock- und der Splitwärmepumpe. Die Monoblockwärmepumpe ist eine kompakte Ausführung, bei der alle Kältemittel beaufschlagten Komponenten (Verdampfer, Verdichter, Verflüssiger, Expansionsventil) in einem Maschinengehäuse angeordnet sind, das zumeist im Freien aufgestellt wird. Da der Kältekreislauf werksmäßig erstellt und gefüllt wird, ist nur ein Anschluss an die Wasserleitungen des Heizungssystems erforderlich. Bei den Verbindungsrohrleitungen müssen Wärmedämmung und Frostschutzmaßnahmen beachtet werden. Die Monoblockanlage ist etwas preisgünstiger als die Splitanlage.
Luft-Wärmepumpen sind darüber hinaus auch in der von Klimageräten bekannten Splitbauweise erhältlich. Sie bestehen aus einer Außen- sowie mindestens einer Inneneinheit, welche durch Kältemittelleitungen miteinander verbunden sind. Die Außeneinheit enthält den Verdampfer mit dem Luftgebläse sowie meistens auch den Verdichter und damit alle Bauteile, die im Betrieb Geräusche verursachen. In der Inneneinheit - bei Multisplit-Anlagen auch mehreren - befindet sich hingegen nur der Verflüssiger. Außerdem ist die Steuerungs-Einheit meist an der Inneneinheit angeschlossen. Da die Aggregate mit den Kältemittelrohrleitungen verbunden sind, entfallen Maßnahmen zum Frostschutz. Da allerdings am Kältemittelkreis gearbeitet wird muss und ggf. Kältemittel aufzufüllen ist, darf die Inbetriebnahme nur von einem Kältesachkundigen durchgeführt werden.
Abtauen und Kühlbetrieb
Beim Betrieb des lufterwärmten Verdampfers tritt das Problem auf, dass auf den Wärmeübertragungsflächen Wasser aus der Luftströmung kondensieren kann. Wenn die Sattdampftemperatur im Verdampfer unter 0 °C fällt, vereisen die Übertragungsflächen und der Wärmeaustausch wird schlechter und versagt bei durchgehendem Eisfilm. Dies kann schon bei einer Außentemperatur einige Grad über 0 °C auftreten, da die Sattdampftemperatur des Kältemittels unter der Außentemperatur liegen muss, um einen Wärmeübergang aufrechtzuerhalten. Die effektivste Methode ist die Heißgasabtauung. Dabei wird der Prozesskreislauf umgekehrt, indem ein 4-2-Wegeventil auf der Saug- und Druckseite des Verdichters installiert wird. Im normalen Wärmepumpenbetrieb strömt das verdichtete warme Gas durch den Verflüssiger und gibt die Verdampfungsenthalpie an das Heizungssystem ab. Die Wärmeaufnahme erfolgt durch den lufterwärmten Verdampfer bei niedrigem Arbeitsdruck. Für die Abtauung wird das Heißgas zuerst auf den Verdampfer geleitet, der nunmehr als Verflüssiger fungiert. Die hohe Temperatur der Wärmeübertragungsflächen sorgt für ein effektives Abtauen, das nach einem kurzen Zeitraum abgeschlossen ist. Bei dem Zustand wird dem Verflüssiger Wärme entzogen, der jetzt als Verdampfer wirkt. Die Wärme für das Abtauen wird somit dem Heizungssystem entzogen, das jetzt als Wärmesenke wirkt. Diese Schaltung der Funktionsumkehrung von Verflüssiger und Verdampfer ist auch geeignet, die Wärmepumpe als Kälteanlage für die Raumkühlung zu nutzen. Da allerdings im Kühlbetrieb bei größeren Temperaturdifferenzen zur Raumtemperatur Kondenswasser an den nun als Kühlkörper genutzten Heizkörpern anfallen kann und diese nicht für das Auffangen von Kondensat ausgelegt sind, kann diese Betriebsweise nur eingeschränkt genutzt werden.
Beispielwerte
Das untere Temperaturniveau einer Wärmepumpe liegt bei 10 °C (= 283,15 K), und die Nutzwärme wird bei 50 °C (= 323,15 K) übertragen. Bei einem idealen reversiblen Wärmepumpenprozess, der Umkehrung des Carnotprozesses, würde die Leistungszahl bei 8,1 liegen. Real erreichbar ist bei diesem Temperaturniveau eine Leistungszahl von 4,5. Mit einer Energieeinheit Exergie, die als mechanische oder elektrische Leistung eingebracht wird, können 3,5 Einheiten Anergie aus der Umgebung auf das hohe Temperaturniveau gepumpt werden, so dass 4,5 Energieeinheiten als Wärme bei 50 °C Heizungs-Vorlauftemperatur genutzt werden können. (1 Einheit Exergie + 3,5 Einheiten Anergie = 4,5 Einheiten Wärmeenergie).
In der Gesamtbetrachtung müssen aber der exergetische Kraftwerkwirkungsgrad und die Netzübertragungsverluste berücksichtigt werden, welche einen Gesamtwirkungsgrad von ca. 35 % erreichen. Die benötigte 1 kWh Exergie erfordert einen Primärenergieeinsatz von 100 / 35 × 1 kWh = 2,86 kWh. Wenn die Primärenergie nicht im Kraftwerk eingesetzt, sondern direkt vor Ort zur Beheizung genutzt wird, erhält man bei einem Feuerungswirkungsgrad von 95 % – demnach 2,86 kWh × 95 % = 2,71 kWh thermische Energie.
Mit Bezug auf das oben aufgeführte Beispiel kann im Idealfall (Leistungszahl = 4,5) mit einer Heizungswärmepumpe das 1,6fache und bei einer konventionellen Heizung das 0,95fache der eingesetzten Brennstoffenthalpie als Wärmeenergie umgesetzt werden. Unter sehr günstigen Randbedingungen kann so bei dem Umweg Kraftwerk → Strom → Wärmepumpe eine 1,65-fach höhere Wärmemenge gegenüber der direkten Verbrennung erreicht werden.
Am Prüfstand wird bei einer Grundwassertemperatur von 10 °C und einer Temperatur der Nutzwärme von 35 °C eine Leistungszahl von bis zu COP=6,8 erreicht. In der Praxis wird allerdings der tatsächlich über das Jahr erreichbare Leistungswert, die Jahresarbeitszahl (JAZ) inkl. Verluste und Nebenantriebe, von nur 4,2 erzielt. Bei Luft/Wasser-Wärmepumpen liegen die Werte deutlich darunter, was die Reduzierung des Primärenergiebedarfs mindert. Unter ungünstigen Bedingungen – etwa bei Strom aus fossilen Brennstoffen – kann mehr Primärenergie verbraucht werden als bei einer konventionellen Heizung, in der Regel (für JAZ > 2,5) aber nicht viel mehr. Ein solcher Einsatz von Strom zur Heizung ist im Hinblick auf den Klimaschutz und volkswirtschaftlich dann weder besonders effizient noch besonders ineffizient, wird aber mit zunehmendem Anteil erneuerbarer Energien an der Stromerzeugung immer sinnvoller.
Eine Wärmepumpe mit einer JAZ > 3 gilt als energieeffizient. Allerdings werden laut einer Studie bereits bei dem Strommix aus dem Jahr 2008 schon ab einer JAZ von 2 Kohlendioxidemissionen eingespart, mit weiterem Ausbau der Erneuerbaren Energien sowie dem Ersatz älterer Kraftwerke durch modernere und effizientere steigt das Einsparpotential, auch bestehender Wärmepumpen, weiter an.
Eine Untersuchung in Mittel- und Nordeuropa eingesetzter Wärmepumpen kommt zu dem Schluss, dass in milden bis kalten Klimazonen bis unter dem Gefrierpunkt mit einer Leistungszahl COP von 2 bis 3 zu rechnen ist. Die analysierten Luftwärmepumpen in Regionen bis −30 °C wiesen eine COP von 1,5 auf.
Datenblätter
In den Datenblättern zu den diversen Wärmepumpenerzeugnissen sind die Leistungsparameter jeweils auf Medium und Quell- und Zieltemperatur bezogen; zum Beispiel:
W10/W50: COP = 4,5,
A10/W35: Heizleistung 8,8 kW; COP = 4,3,
A2/W50: Heizleistung 6,8 kW; COP = 2,7,
B0/W35: Heizleistung 10,35 kW; COP = 4,8,
B0/W50: Heizleistung 9 kW; COP = 3,6,
B10/W35: Heizleistung 13,8 kW; COP = 6,1
Nach mehreren gemessenen COP-Werten am Wärmepumpen-Testzentrum (WPZ) Buchs. Angaben wie W10/W50 bezeichnen die Eingangs- und Ausgangstemperaturen der beiden Medien. W steht für Wasser, A für Luft (englisch air) und B für Sole (englisch brine), die Zahl dahinter für die Temperatur in °C. B0/W35 ist beispielsweise ein Betriebspunkt der Wärmepumpe mit einer Soleeintrittstemperatur von 0 °C und einer Wasseraustrittstemperatur von 35 °C.
Wärmepumpe mit Öl- oder Gasmotorantrieb
Ein deutlich höherer thermischer Wirkungsgrad kann erreicht werden, wenn die Primärenergie als Gas oder Öl in einem Motor zur Erzeugung technischer Arbeit zum direkten Antrieb des Wärmepumpenverdichters genutzt werden kann. Bei einem exergetischen Wirkungsgrad des Motors von 35 % und einer Nutzung der Motorabwärme zu 90 % kann ein gesamtthermischer Wirkungsgrad von 1,8 erzielt werden. Allerdings muss der erhebliche Mehraufwand gegenüber der direkten Beheizung berücksichtigt werden, der durch wesentlich höhere Investitionen und Wartungsaufwand begründet ist. Es gibt jedoch bereits Gaswärmepumpen am Markt (ab 20 kW Heiz-/Kühlleistung aufwärts), welche mit Service-Intervallen von 10.000 Stunden (übliche Wartungsarbeiten für Motor) und alle 30.000 Betriebsstunden für den Ölwechsel auskommen und so längere Wartungsintervalle haben als Kesselanlagen. Zusätzlich ist zu bemerken, dass bestimmte Hersteller von motorgetriebenen Gaswärmepumpen diese in Serienproduktion herstellen, welche in Europa auf eine Lebensdauer von mehr als 80.000 Betriebsstunden kommen. Dies ist der Fall aufgrund des ausgeklügelten Motorenmanagements, der niedrigen Drehzahlen und der optimierten Geräteprozesse.
Die Niedertemperatur-Wärmeerzeugung mit einer Wärmepumpe, deren Verdichter durch einen Verbrennungsmotor angetrieben wird, ist gegenüber einer Verbrennung im Heizkessel zwar sehr effektiv, aber es wird ausschließlich fossiler Brennstoff eingesetzt. Damit dürfte diese Bauart unter dem Gesichtspunkt der Reduzierung von CO2-Emissionen und dem starken Anstieg der Brennstoffkosten an Bedeutung verlieren.
Geschichte
Die Geschichte der Wärmepumpe begann mit der Entwicklung der Dampfkompressionsmaschine. Sie wird je nach Nutzung der zu- oder der abgeführten Wärme als Kältemaschine oder als Wärmepumpe bezeichnet. Ziel war noch lange Zeit die künstliche Eiserzeugung zu Kühlzwecken. Dem aus den USA stammenden Jacob Perkins ist 1834 der Bau einer entsprechenden Maschine als erstem gelungen. Sie enthielt bereits die vier Hauptkomponenten einer modernen Wärmepumpe: einen Kompressor, einen Kondensator, einen Verdampfer und ein Expansionsventil.
Lord Kelvin sagte die Wärmepumpenheizung bereits 1852 voraus, indem er erkannte, dass eine „umgekehrte Wärmekraftmaschine“ für Heizzwecke eingesetzt werden könnte. Er erkannte, dass eine solche Heizeinrichtung dank des Wärmeentzuges aus der Umgebung (Luft, Wasser, Erdreich) weniger Primärenergie benötigen würde als beim konventionellen Heizen. Aber es sollte noch rund 85 Jahre dauern, bis die erste Wärmepumpe zur Raumheizung in Betrieb ging. In dieser Periode wurden die Funktionsmuster der Pioniere auf der Basis einer rasch fortschreitenden wissenschaftlichen Durchdringung insbesondere auch durch Carl von Linde und des Fortschritts der industriellen Produktion durch verlässlichere und besser ausgelegte Maschinen ersetzt. Die Kältemaschinen und -anlagen wurden zu industriellen Produkten und im industriellen Maßstab gefertigt. Um 1900 lagen die meisten fundamentalen Innovationen der Kältetechnik für die Eisherstellung und später auch die direkte Kühlung von Lebensmitteln und Getränken bereits vor. Darauf konnte später auch die Wärmepumpentechnik aufbauen.
In der Periode vor 1875 wurden Wärmepumpen erst für die Brüdenkompression (offener Wärmepumpenprozess) in Salzwerken mit ihren offensichtlichen Vorteilen zur Holz- und Kohleeinsparung verfolgt. Der österreichische Ingenieur Peter von Rittinger versuchte 1857 als erster, die Idee der Brüdenkompression in einer kleinen Pilotanlage zu realisieren. Vermutlich angeregt durch die Experimente von Rittinger in Ebensee, wurde in der Schweiz 1876 von Antoine-Paul Piccard von der Universität Lausanne und dem Ingenieur J. H. Weibel vom Unternehmen Weibel-Briquet in Genf die weltweit erste wirklich funktionierende Brüdenkompressionsanlage mit einem zweistufigen Kompressor gebaut. 1877 wurde diese erste Wärmepumpe der Schweiz in der Saline Bex installiert. Um 1900 blieben Wärmepumpen Visionen einiger Ingenieure. Der Schweizer Heinrich Zoelly schlug als erster eine elektrisch angetriebene Wärmepumpe mit Erdwärme als Wärmequelle vor. Er erhielt dafür 1919 das Schweizer Patent 59350. Aber der Stand der Technik war noch nicht bereit für seine Ideen. Bis zur ersten technischen Realisierung dauerte es noch rund zwanzig Jahre. In den USA wurden ab 1930 Klimaanlagen zur Raumkühlung mit zusätzlicher Möglichkeit zur Raumheizung gebaut. Die Effizienz bei der Raumheizung war allerdings bescheiden.
Während und nach dem Ersten Weltkrieg litt die Schweiz an stark erschwerten Energieimporten; in der Folge baute sie ihre Wasserkraftwerke stark aus. In der Zeit vor und erst recht während des Zweiten Weltkriegs, als die neutrale Schweiz vollständig von kriegführenden faschistisch regierten Ländern umringt war, wurde die Kohleknappheit erneut zu einem großen Problem. Dank ihrer Spitzenposition in der Energietechnik bauten die Schweizer Firmen Sulzer, Escher Wyss und Brown Boveri in den Jahren 1937 bis 1945 rund 35 Wärmepumpen und nahmen sie in Betrieb. Hauptwärmequellen waren Seewasser, Flusswasser, Grundwasser und Abwärme. Besonders hervorzuheben sind die sechs historischen Wärmepumpen der Stadt Zürich mit Wärmeleistungen von 100 kW bis 6 MW. Ein internationaler Meilenstein ist die in den Jahren 1937/38 von Escher Wyss gebaute Wärmepumpe zum Ersatz von Holzöfen im Rathaus Zürich. Zur Vermeidung von Lärm und Vibrationen wurde ein erst kurz zuvor entwickelter Rollkolbenkompressor eingesetzt. Diese historische Wärmepumpe beheizte das Rathaus während 63 Jahren bis ins Jahr 2001. Erst dann wurde sie durch eine neue, effizientere Wärmepumpe ersetzt. Zwar wurden durch die erwähnten Firmen bis 1955 noch weitere 25 Wärmepumpen gebaut. Die in den 1950er und 1960er Jahren laufend fallenden Erdölpreise führten dann aber zu einem dramatischen Verkaufseinbruch für Wärmepumpen. Im Gegensatz dazu blieb das Geschäft im Brüdenkompressionsbereich weiterhin erfolgreich. In anderen europäischen Ländern wurden Wärmepumpen nur sporadisch bei gleichzeitigem Kühlen und Heizen (z. B. Molkereien) eingesetzt. In Deutschland wurde 1968 die erste erdgekoppelte Wärmepumpe für ein Einfamilienhaus in Kombination mit einer Niedertemperatur-Fußbodenheizung von Klemens Oskar Waterkotte realisiert.
Das Erdölembargo von 1973 und die zweite Erdölkrise 1979 führten zu einer Verteuerung des Erdöls um bis zu 300 %. Diese Situation begünstigte die Wärmepumpentechnik enorm. Es kam zu einem eigentlichen Wärmepumpenboom. Dieser wurde aber durch zu viele inkompetente Anbieter im Kleinwärmepumpenbereich und den nächsten Ölpreisverfall gegen Ende der 1980er Jahre jäh beendet. In den 1980er Jahren wurden auch zahlreiche von Gas- und Dieselmotoren angetriebene Wärmepumpen gebaut. Sie waren allerdings nicht erfolgreich. Nach einigen Betriebsjahren hatten sie mit zu häufigen Pannen und zu hohen Unterhaltungskosten zu kämpfen. Demgegenüber setzte sich im Bereich größerer Wärmeleistung die als „Totalenergiesysteme“ bezeichnete Kombination von Blockheizkraftwerken mit Wärmepumpen durch. So wurde an der ETH Lausanne nach dem Konzept von Lucien Borel und Ludwig Silberring durch Sulzer-Escher-Wyss 1986 eine 19,2-MW-Totalenergieanlage mit einem Nutzungsgrad von 170 % realisiert. Als größtes Wärmepumpensystem der Welt mit Meerwasser als Wärmequelle wurde 1984–1986 durch Sulzer-Escher-Wyss für das Fernwärmenetz von Stockholm ein 180-MW-Wärmepumpensystem mit 6 Wärmepumpeneinheiten zu je 30 MW geliefert. Die Palette der Wärmequellen wurde erweitert durch thermoaktive Gebäudeelemente mit integrierten Rohrleitungen, Abwasser, Tunnelabwasser und Niedertemperatur-Wärmenetze.
1985 wurde das Ozonloch über der Antarktis entdeckt. Darauf wurde 1987 mit dem Montreal-Protokoll eine weltweite konzertierte Aktion zum rigorosen Ausstieg aus den FCK-Kältemitteln beschlossen. Dies führte zu weltweiten Notprogrammen und einer Wiedergeburt von Ammoniak als Kältemittel. Innerhalb von nur vier Jahren wurde das chlorfreie Kältemittel R-134a entwickelt und zum Einsatz gebracht. In Europa wurde auch die Verwendung brennbarer Kohlenwasserstoffe wie Propan und Isobutan als Kältemittel vorangetrieben. Auch Kohlenstoffdioxid gelangte vermehrt zum Einsatz. Nach 1990 begannen die hermetischen Scrollkompressoren die Kolbenkompressoren zu verdrängen. Die Kleinwärmepumpen wurden weniger voluminös und wiesen einen geringeren Kältemittelinhalt auf. Der Markt für Kleinwärmepumpen benötigte aber noch einen gewissen „Selbstreinigungseffekt“ und konzertierte flankierende Maßnahmen zur Qualitätssicherung, bevor gegen Ende der 1980er Jahre ein erfolgreicher Neustart möglich wurde.
Ab 1990 begann eine rasante Verbreitung der Wärmepumpenheizung. Dieser Erfolg fußt auf technischen Fortschritten, größerer Zuverlässigkeit, ruhigeren und effizienteren Kompressoren sowie besserer Regelung – aber nicht weniger auch auf besser ausgebildeten Planern und Installateuren, Gütesiegeln für Mindestanforderungen und nicht zuletzt auch auf einer massiven Preisreduktion. Dank Leistungsregulierung durch kostengünstigere Inverter und aufwändigere Prozessführungen vermögen heute Wärmepumpen auch die Anforderungen des Sanierungsmarktes mit hoher energetischer Effizienz zu erfüllen.
In Deutschland sind mindestens 75 Prozent der Bestandsgebäude für die Versorgung mit einer Wärmepumpe geeignet (Stand: 2022). In die Eignungsanalyse nicht einbezogen ist das Potenzial für Grundwasser-Wärmepumpen. Im gleichen Jahr deckten Wärmepumpen 60 Prozent des Wärmebedarfs in Norwegen ab.
Richtlinien und Normen
Für Wärmepumpen ist eine Vielzahl europäischer Normen erstellt worden. Diese beschäftigen sich mit Sicherheitsaspekten, um die Übereinstimmung mit den europäischen Richtlinien nachzuweisen, und mit Aspekten der Leistungsprüfung, um Geräte vergleichen zu können. Wärmepumpenanlagen sind nach den europäischen Richtlinien Maschinen und Druckgerätebaugruppen. Daher muss die Wärmepumpenanlage nach der Maschinenrichtlinie 2006/42/EG und ab einer bestimmten Größe auch die Druckgeräte (Komponenten: hermetische Verdichter, Wärmetauscher, Sammler, Rohrleitungen) sowie die Druckgeräte-Baugruppe nach der Druckgeräterichtlinie 2014/68/EU zertifiziert werden. Der Nachweis wird durch die Vorlage des Zertifikates und der CE-Kennzeichnung erbracht.
Die Normenreihe EN 378 Kälteanlagen und Wärmepumpen – Sicherheitstechnische und umweltrelevante Anforderungen ist eine europäische Normenreihe. Der Teil 2 ist nach der Maschinenrichtlinie 2006/42/EG und der Druckgeräterichtlinie 2014/68/EU mandatiert. Wärmepumpen, die nach der aktuellen Ausgabe der Norm gefertigt sind, erfüllen die in den Anhängen aufgeführten Teile der europäischen Norm.
In der EN 14276-1 werden Anforderungen an Druckbehälter und in der EN 14276-2 Anforderungen an Rohrleitungen für Kälteanlagen und Wärmepumpen unter Bezug auf die Druckgeräterichtlinie aufgeführt.
Die Normenreihe EN 14511 Luftkonditionierer, Flüssigkeitskühlsätze und Wärmepumpen für die Raumheizung und Raumkühlung sowie Prozess-Kühler mit elektrisch angetriebenen Verdichter beschreibt die Prüfungen und Prüfverfahren.
Die EN 15879-1 hat den Titel Prüfungen und Leistungsmessungen von erdreichgekoppelten Direktübertragungs-Wärmepumpen mit elektrisch angetriebenen Verdichtern zur Raumheizung und/oder Kühlung.
Die Normenreihe EN 12903 beinhaltet u. a. Prüfverfahren für gasbefeuerte Sorptionsgeräte.
Siehe auch
Wärmepumpen-System-Modul
Literatur
Tom Fuhse, Markus Winter: Wärmepumpen Technologie. Leicht verständlicher Ratgeber für den effizienten Betrieb von Wärmepumpenanlagen. Kleinstadt Fachbuch- und Medienverlag, Bamberg 2022, ISBN 978-3-949926-11-2.
Karl-Josef Albers (Hrsg.): Recknagel – Sprenger – Albers: Taschenbuch für Heizung und Klimatechnik: einschließlich Trinkwasser- und Kältetechnik sowie Energiekonzepte. Bd. 1 + 2., 80. Auflage. ITM InnoTech Medien, Kleinaitingen 2020, [Ausgabe 2021/2022], ISBN 978-3-96143-090-1 [2 Bände in einem Set].
Maake–Eckert [= Walter Maake, Hans-Jürgen Eckert]: Pohlmann – Taschenbuch der Kältetechnik. / [Zurückgehend auf Walther Pohlmann]. Bd. 1: Grundlagen und Anwendung., Bd. 2: Arbeitstabellen und Vorschriften. C. F. Müller, Karlsruhe 2000, ISBN 3-7880-7310-1 [2 Bände in einem Set].
Marek Miara et al.: Wärmepumpen: Heizen – Kühlen – Umweltenergie nutzen. (= BINE-Fachbuch). Fraunhofer IRB Verlag, Stuttgart 2013, ISBN 978-3-8167-9046-4 (Grundlagen mit Schwerpunkt Anlagentechnik, Monitoringerfahrungen, aktuelle Technologie).
Klaus Daniels: Gebäudetechnik: Ein Leitfaden für Architekten und Ingenieure. VDF, Zürich 2000, ISBN 3-7281-2727-2.
Thorsten Schröder: Wärmequellen für Wärmepumpen. 2. Auflage. Dortmunder Buch, Dortmund 2016, ISBN 978-3-945238-13-4.
Martin Kaltschmitt, Wolfgang Streicher: Regenerative Energien in Österreich. Grundlagen, Systemtechnik, Umweltaspekte, Kostenanalysen, Potenziale, Nutzung. Vieweg + Teubner, Wiesbaden 2009, ISBN 978-3-8348-0839-4.
Jürgen Bonin: Handbuch Wärmepumpen. Planung und Projektierung. Herausgegeben von DIN, Beuth Verl., Berlin/Wien/Zürich 2012, ISBN 978-3-410-22130-2.
Walter Grassi: Heat Pumps: Fundamentals and Application, Green Energy and Technology. Springer International, Cham (Schweiz) 2018, ISBN 978-3-319-62198-2.
Wüstenrot Stiftung (Hrsg.): Wärmepumpen in Bestandsgebäuden. Möglichkeiten und Herausforderungen beim Eigenheim. Forschungsstelle für Energiewirtschaft (FfE) München, Ludwigsburg 2022, ISBN 978-3-96075-027-7. Online verfügbar (PDF)
Weblinks
Wärmepumpen-Marktplatz NRW (Energieagentur NRW)
Agentur für Erneuerbare Energie: Intelligente Verknüpfung von Strom- und Wärmemarkt. Die Wärmepumpe als Schlüsseltechnologie für Lastmanagement im Haushalt. Renews Spezial, Nov. 2012 (PDF; 2,2 MB)
Wärmepumpe: Eine kritische BUND-Analyse | Memento archive org 3. Februar 2020
Wärmepumpen: Die Heiztechnik-Alternative (FIZ Karlsruhe / BINE Informationsdienst)
Wärmepumpen-Feldtests (Fraunhofer ISE)
Vergleich: Luftwärmepumpe oder Erdwärmepumpe
Chris Baraniuk: Wie Wärmepumpen zukunftsfähig werden in Spektrum.de vom 13. September 2023
Einzelnachweise
Verdichter
Wärmeübertrager
Kältetechnik
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Q131313
| 85.179277 |
12061
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https://de.wikipedia.org/wiki/Depression
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Depression
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Die Depression ( von ) ist eine psychische Störung. Als Erkrankung wird sie von der Psychiatrie den affektiven Störungen zugeordnet. Typische Symptome einer Depression sind gedrückte Stimmung, häufiges Grübeln, das Gefühl von Hoffnungslosigkeit und ein verminderter Antrieb. Häufig verloren gehen Freude und Lustempfinden, Selbstwertgefühl, und das Interesse am Leben insgesamt. Leistungsfähigkeit und Lebensqualität sind dadurch oft beeinträchtigt. Die Krankheitsursachen sind bislang wenig verstanden, vor allem der biologische Pathomechanismus (ursächlich wirkende Kausalkette von Körpervorgängen). Psychotherapie und Antidepressiva gehören zum standardmäßigen medizinischen Behandlungsangebot.
Die klinische Depression unterscheidet sich von Trauer oder einer vorübergehend niedergeschlagenen, deprimierten Stimmungslage (Dysphorie) durch eine unverhältnismäßig lange Dauer und Schwere. Als ernste, oft folgenreiche Erkrankung entzieht sie sich der Beeinflussung durch Willenskraft oder Selbstdisziplin des Betroffenen. Die Depression stellt eine wesentliche Ursache für Arbeitsunfähigkeit oder Frühverrentung dar und ist der Auslöser für rund die Hälfte der jährlichen Selbsttötungen in Deutschland.
Verbreitung
In einer internationalen Vergleichsstudie von 2011 wurde die Häufigkeit von Depressionen in Ländern mit hohem Einkommen verglichen mit der in Ländern mit mittlerem und niedrigem Einkommen. Die Lebenszeitprävalenz betrug in der ersten Gruppe (zehn Länder) 14,9 % und in der zweiten Gruppe (acht Länder) 11,1 %. Das Verhältnis von Frauen zu Männern war ungefähr 2:1.
Eine Metaanalyse von 26 Studien mit Daten von 60.000 Kindern der Jahrgänge 1965–1996 ergab für die Altersgruppe unter 13 eine Prävalenz von 2,8 % und für die Altersgruppe 13–18 eine von 5,6 % (Mädchen 5,9 %, Jungen 4,6 %).
Die Krankheitslast durch Depressionen, etwa in Form von Arbeitsunfähigkeiten, stationären Behandlungen und Frühverrentungen, ist in Deutschland in den letzten Jahren stark angestiegen. Es wird angenommen, dass sich die tatsächliche Krankheitshäufigkeit deutlich weniger gravierend verändert hat und das vermehrte Auftreten durch eine bessere Erkennung und weniger Stigmatisierung von Menschen mit psychischen Störungen herrührt. Auch die mit der Zeit niedrigschwelliger gewordenen Diagnose-Kriterien für eine psychische Störung werden als Teilursache kritisch diskutiert. Ergebnisse von Langzeitstudien auf der anderen Seite sprechen jedoch eher für einen echten Anstieg, der mit verschiedenen gesellschaftlichen Einflussfaktoren in Zusammenhang gebracht wird.
Auch in Deutschland scheinen nach Krankenkassendaten jüngere Generationen gefährdeter zu sein, im Laufe ihres Lebens an einer psychischen Störung zu leiden. Die durchschnittliche Arbeitsunfähigkeitsdauer der versicherten Erkrankten belief sich im Jahr 2014 laut Angaben der Techniker Krankenkasse auf 64 Tage (im Vergleich: bei allen Diagnosen durchschnittlich 13 Tage). Von den zehn Gruppen mit den höchsten Erkrankungsraten gehören sieben dem Berufsbereich Gesundheit, Soziales, Lehre und Erziehung an. Mit Abstand führen Mitarbeiter in Callcentern die Liste an; gefolgt von Alten- und Krankenpflegern, Erziehern und Kinderbetreuern, Mitarbeitern der öffentlichen Verwaltung und Beschäftigten im Bewachungsgewerbe. Vergleichsweise wenig anfällig sind Hochschullehrer, Software-Entwickler und Ärzte. Frauen sind fast doppelt so oft betroffen wie Männer. Von 2000 bis 2013 hat sich die Zahl der verordneten Tagesdosen von Antidepressiva fast verdreifacht. In regionaler Hinsicht führen Hamburg (1,4 Arbeitsunfähigkeitstage pro versichertem Arbeitnehmer), Schleswig-Holstein und Berlin (je 1,3 Tage) die Liste an. In Hamburg sind 9,2 Prozent der gesamten Arbeitsunfähigkeitstage durch Depression bedingt. In Süd- und Ostdeutschland sind die Raten im Durchschnitt geringer. Bei Studierenden, die bisher als relativ gesunde Gruppe galten, sind inzwischen nach Angaben der Barmer GEK 17 Prozent (etwa 470.000 Menschen), vor allem ältere, von einer psychiatrischen Diagnose betroffen.
Anzeichen
Symptome
Im Jahre 2011 wurde von mehreren Fachgesellschaften wie der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) eine Versorgungsleitlinie zum Thema Depression erarbeitet. Sie empfiehlt, zur Diagnose nach ICD-10 zwischen drei Haupt- und sieben Zusatzsymptomen zu unterscheiden.
Diagnostische Symptome
Die Hauptsymptome sind:
gedrückte, depressive Stimmung: Die Depression ist charakterisiert durch Stimmungseinengung oder bei einer schweren Depression (englisch major unipolar depression) das „Gefühl der Gefühllosigkeit“ bzw. das Gefühl anhaltender innerer Leere.
Interessensverlust und Freudlosigkeit: Verlust der Fähigkeit zu Freude oder Trauer; Verlust der affektiven Resonanz, das heißt, die Stimmung des Patienten ist durch Zuspruch nicht aufzuhellen.
Antriebsmangel und erhöhte Ermüdbarkeit: Ein weiteres typisches Symptom ist die Antriebshemmung. Bei einer schweren depressiven Episode können Betroffene in ihrem Antrieb so stark gehemmt sein, dass sie auch einfachste Tätigkeiten wie Körperpflege, Einkaufen oder Abwaschen nicht mehr verrichten können.
Die Zusatzsymptome sind:
verminderte Konzentration und Aufmerksamkeit
vermindertes Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen (Insuffizienzgefühl)
Schuldgefühle und Gefühle von Minderwertigkeit
Negative und pessimistische Zukunftsperspektiven
Suizidgedanken oder -handlungen: Schwer Betroffene empfinden oft eine völlige Sinnlosigkeit ihres Lebens. Häufig führt dieser qualvolle Zustand zu latenter oder akuter Suizidalität.
Schlafstörungen
verminderter Appetit
Mögliche weitere Symptome
Ferner kann zusätzlich ein somatisches Syndrom vorliegen, wenn mindestens vier der folgenden Symptome eindeutig feststellbar sind:
mangelnde Fähigkeit, emotional auf die Umwelt zu reagieren
Interessen- oder Freudeverlust an normalerweise angenehmen Aktivitäten
frühmorgendliches Erwachen: Der Schlaf ist gestört in Form von vorzeitigem Erwachen, mindestens zwei Stunden vor der gewohnten Zeit. Diese Schlafstörungen sind Ausdruck eines gestörten 24-Stunden-Rhythmus. Die Störung des chronobiologischen Rhythmus ist ebenfalls ein charakteristisches Symptom.
Morgentief: Häufig geht es dem Kranken vormittags besonders schlecht. Bei einer seltenen Krankheitsvariante verhält es sich umgekehrt: Es tritt ein sogenanntes „Abendtief“ auf, das heißt, die Symptome verstärken sich gegen Abend und das Einschlafen ist erschwert oder erst gegen Morgen möglich.
psychomotorische Hemmung oder Agitiertheit: Die Hemmung von Bewegung und Initiative geht häufig mit innerer Unruhe einher, die körperlich als ein Leidgefühl wahrgenommen wird und sehr quälend sein kann (stumme Exzitation, lautlose Panik).
deutliche Appetitlosigkeit
Gewichtsabnahme
auch kann sich das sexuelle Interesse vermindern oder erlöschen (Libidoverlust).
Depressive Erkrankungen gehen gelegentlich mit körperlichen Symptomen einher, sogenannten Vitalstörungen, und Schmerzen in ganz unterschiedlichen Körperregionen, am typischsten mit einem quälenden Druckgefühl auf der Brust. Während einer depressiven Episode ist die Infektionsanfälligkeit erhöht. Beobachtet wird auch sozialer Rückzug, das Denken ist verlangsamt (Denkhemmung), sinnloses Gedankenkreisen (Grübelzwang), Störungen des Zeitempfindens. Häufig bestehen Reizbarkeit und Ängstlichkeit. Hinzukommen kann eine Überempfindlichkeit gegenüber Geräuschen.
Wie eine Übersichtsarbeit von 2019 hervorhebt, können zu den Beeinträchtigungen bei Depressionen zusätzlich zu affektiven Merkmalen auch kognitive Merkmale betroffen sein wie Kontrollvorgänge (Exekutivfunktionen), Lernen, Gedächtnis, Verarbeitungsgeschwindigkeit und Aufmerksamkeit. Der Fokus bei der Auseinandersetzung mit Depressionen liege jedoch in der Regel auf affektiven Merkmalen, obwohl insbesondere Aufmerksamkeitsstörungen sich sehr negativ auf das Funktionieren im Alltag auswirke. Im Gegensatz zu anderen Symptomen der Depression verbessere sich die Aufmerksamkeit bei den meisten Patienten durch aktuelle Behandlungsformen, insbesondere SSRIs, nicht. Medikamente, die hingegen auf Katecholamine abzielen (z. B. Dopamin, Noradrenalin), können einer verbesserten Aufmerksamkeitsspanne zugutekommen.
Schweregrad
Der Schweregrad wird nach ICD-10 gemäß der Anzahl der Symptome eingeteilt:
leichte Depression: zwei Hauptsymptome und zwei Zusatzsymptome
mittelschwere Depression: zwei Hauptsymptome und drei bis vier Zusatzsymptome
schwere Depression: drei Hauptsymptome und fünf oder mehr Zusatzsymptome
Geschlechtsunterschiede
Die Symptomatik einer Depression kann sich je nach Geschlecht auf unterschiedliche Weise ausprägen. Bei den Kernsymptomen sind die Unterschiede gering. Während bei Frauen eher Phänomene wie Mutlosigkeit und Grübeln verstärkt zu beobachten sind, gibt es bei Männern deutliche Hinweise darauf, dass eine Depression sich auch in einer Tendenz zu aggressivem Verhalten niederschlagen kann. In einer Studie von 2014 wurden die unterschiedlichen Ausprägungen bei Frauen und Männern mit Unterschieden bei den biologischen Systemen der Stressreaktion in Verbindung gebracht.
Bei Kindern und Jugendlichen
Das Erkennen von Depressionssymptomen bei Vorschulkindern ist inzwischen relativ gut erforscht, erfordert jedoch die Beachtung einiger Besonderheiten. Entsprechendes gilt für Schulkinder und Jugendliche. Bei Kindern liegt die Prävalenz von Depression etwa bei drei Prozent, bei Jugendlichen bei etwa achtzehn Prozent. Die Symptome sind bei Kindern und Jugendlichen oft nur schwer zu erkennen, da sie von alterstypischen Verhaltensweisen überlagert werden. Dies erschwert die Diagnostik.
Für Kinder und Jugendliche gelten die gleichen Diagnoseschlüssel wie für Erwachsene. Allerdings können bei Kindern eine ausgesprochene Verleugnungstendenz und große Schamgefühle vorliegen. In einem solchen Fall kann Verhaltensbeobachtung und die Befragung der Eltern hilfreich sein. Auch die familiäre Belastung in Hinblick auf depressive Störungen sowie anderen Störungen sollte in den Blick genommen werden. Im Zusammenhang mit Depression wird oft eine Anamnese des Familiensystems nach Beziehungs- und Bindungsstörungen sowie frühkindlichen Deprivationen oder auch seelischen, körperlichen und sexuellen Misshandlungen erstellt.
Zu den weiteren diagnostischen Schritten kann auch eine Befragung der Schule oder des Kindergartens hinsichtlich der Befindlichkeit des Kindes oder Jugendlichen zählen. Häufig wird auch eine orientierende Intelligenzdiagnostik durchgeführt, welche eine eventuelle Über- oder Unterforderung aufdecken soll. Spezifische Testverfahren für Depression im Kindes- und Jugendalter sind das Depressions-Inventar für Kinder und Jugendliche (DIKJ) und der Depressions-Test für Kinder (DTK).
Diagnose
Da die Depression eine sehr häufige Störung ist, sollte sie bereits vom Hausarzt erkannt werden, was aber nur in etwa der Hälfte aller Fälle gelingt. Manchmal wird die Diagnose erst von einem Psychiater, von einem Arzt für psychosomatische Medizin und Psychotherapie oder von einem psychologischen Psychotherapeuten gestellt. Wegen der besonderen Schwierigkeiten der Diagnostik und Behandlung von Depressionen im Kindesalter sollten Kinder und Jugendliche mit einem Verdacht auf eine Depression grundsätzlich von einem Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie oder von einem Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten untersucht werden.
Verbreitete Verfahren zur Einschätzung des Schweregrades einer depressiven Episode sind die Hamilton-Depressionsskala (HAMD), ein Fremdbeurteilungsverfahren, das Beck-Depressions-Inventar (BDI), ein Selbstbeurteilungsverfahren, und das Inventar depressiver Symptome (IDS), welches in einer Fremd- und einer Selbstbeurteilungsversion vorliegt.
Mitunter wird eine Depression von einer anderen Erkrankung überdeckt und nicht erkannt.
In der ICD-10 fallen Depressionen unter den Schlüssel F32.–- und werden als „depressive Episode“ bezeichnet. Im Falle sich wiederholender Depressionen werden diese unter F33.– klassifiziert, bei Wechsel zwischen manischen und depressiven Phasen unter F31.–. Die ICD-10 benennt drei typische Symptome der Depression: depressive Stimmung, Verlust von Interesse und Freude sowie eine erhöhte Ermüdbarkeit. Entsprechend dem Verlauf unterscheidet man im gegenwärtig verwendeten Klassifikationssystem ICD-10 die depressive Episode und die wiederholte (rezidivierende) depressive Störung.
Fragebogen
Laut S3-Leitlinie für unipolare Depression werden als Screening folgende Fragebögen empfohlen:
Fragebogen zum Wohlbefinden (WHO-5)
Gesundheitsfragebogen für Patienten (PHQ-D)
Allgemeine Depressionsskala (ADS).
Eine weitere Möglichkeit der schnellen Erfassung einer möglichen depressiven Störung ist der so genannte Zwei-Fragen-Test.
Folgende Fragebögen werden in der Leitlinie zur Verlaufsdiagnostik empfohlen, also um zu ermitteln, inwiefern die Therapie anspricht und die Symptomatik sich verbessert:
Fragebögen zur Selbstbeurteilung:
PHQ-D mit dem Depressionsmodul PHQ-9;
der Depression Screening Questionnaire (DIA-DSQ);
das Beck-Depressions-Inventar (BDI oder BDI-II);
die Hospital Anxiety and Depression Scale (HADS);
Geriatrische Depressionsskala (GDS);
Fragebogen zur Depressionsdiagnostik nach DSM-IV (FDD-DSM-IV).
Fragebögen zur Fremdbeurteilung:
Hamilton-Depression-Rating-Skala (HDRS);
Bech-Rafaelsen-Melancholie-Skala (BRMS);
Montgomery–Åsberg Depression Rating Scale (MADRS).
Differentialdiagnostik
Depressive Symptome treten auch im Rahmen anderer psychischer Störungen auf, die von der Depression (ICD-10 F32.--) als eigenständige Erkrankung differentialdiagnostisch abzugrenzen sind:
Dysthymie
Bipolare Störung
Borderline-Persönlichkeitsstörung
Anpassungsstörung
chronisches Erschöpfungssyndrom
Abhängigkeitssyndrom durch psychotrope Substanzen
Perniziöse Anämie, Vitamin-B12-Mangel
Erkrankung der Schilddrüse
sonstige Anämie
Fruktosemalabsorption
Unterschiedliche Formen
Gegenwärtig ist das Diagnose-Schema nach ICD-10 in der medizinischen Praxis verbindlich. Die Schwere der Depression wird dort durch die Begriffe leichte, mittelgradige und schwere depressive Episode unterschieden, bei letzterer noch mit dem Zusatz mit oder ohne psychotische Symptome (siehe auch: Diagnose).
Nach dem ICD-10-Diagnose-Schema wird die chronische Depression nach Schwere und Dauer eingestuft in Dysthymie oder rezidivierende (wiederholte) Depression. Hier ist das DSM-5 genauer, da zu bestehenden chronischen depressiven Verstimmungen noch phasenweise zusätzliche Depressionen hinzukommen können. Innerhalb der DSM-5 wird dies dann „double depression“ genannt. Dort wurde jedoch auch der Ausschluss von Trauerreaktionen als Diagnosekriterium aufgehoben.
Organische Depression (ICD-10 F06.3 – „Organische affektive Störungen“) nennt man ein depressives Syndrom, das durch eine körperliche Erkrankung hervorgerufen wird, beispielsweise durch Schilddrüsenfunktionsstörungen, Hypophysen- oder Nebennierenerkrankungen, Schlaganfall oder Frontalhirnsyndrom. Nicht zur organischen Depression zählten hingegen Depressionen im Gefolge von hormonellen Umstellungen, z. B. nach der Schwangerschaft oder in der Pubertät. „Eine depressive Episode muss … von einer organischen depressiven Störung unterschieden werden. Diese Diagnose ist (vorrangig) zu stellen, wenn die Störung des Affekts sehr wahrscheinlich als direkte körperliche Folge eines spezifischen Krankheitsfaktors (z. B. Multiple Sklerose, Schlaganfall, Hypothyreose) angesehen wird.“ Dies gibt dem weiterbehandelnden Arzt Hinweise, dass eine somatische Erkrankung als Ursache der Depression zugrunde liegt und bei der Diagnostik und Behandlung zu berücksichtigen ist (und nicht die Depression die Ursache funktioneller oder psychosomatischer Beschwerden ist).
Historische Formen
Die Entwicklung der Klassifikationssysteme und die verschiedenen Erscheinungsformen der Depression haben zu Bezeichnungen geführt, die heute nicht mehr gebräuchlich sind und in den modernen Klassifikationssystemen nicht verwendet werden.
Die reaktive Depression wurde als Reaktion auf ein aktuell belastendes Ereignis verstanden und wird heute als mögliches Symptom einer Anpassungsstörung (ICD-10: F43.2) diagnostiziert.
Der Begriff endogene Depression umfasste ein depressives Syndrom ohne erkennbare äußere Ursache, das meist auf veränderte Stoffwechselvorgänge im Gehirn und genetische Veranlagungen zurückgeführt wurde (endogen bedeutet innen entstanden). Heute wird sie im klinischen Alltag als eine Form der Affektiven Störung betrachtet.
Die neurotische Depression oder Erschöpfungsdepression wurde ursächlich auf länger andauernde belastende Erfahrungen in der Lebensgeschichte zurückgeführt.
Als Sonderform der Depression wurde die anaklitische Depression (Anaklise = Abhängigkeit von einer anderen Person) bei Babys und Kindern angesehen, wenn diese allein gelassen oder vernachlässigt wurden. Die anaklitische Depression äußere sich durch Weinen, Jammern, anhaltendes Schreien und Anklammern und könne in psychischen Hospitalismus übergehen.
Als larvierte Depression, auch maskierte oder somatisierte (≠ somatische) Depression genannt, wurde eine Depression bezeichnet, bei der körperliche Beschwerden das Krankheitsbild prägen. Die depressive Symptomatik bleibt unterschwellig. Beschwerdeschilderungen in Form von Rückenschmerzen, Kopfschmerzen, Beklemmungen in der Brustregion, Schwindelempfindungen und vieles mehr sind beschrieben. Die Häufigkeit der gestellten Diagnose „maskierte Depression“ betrug in der Hausarztpraxis bis zu 14 %. Das Konzept, das in den 1970er bis 1990er Jahren große Verbreitung fand, wurde inzwischen aufgegeben, wird aber von einigen Ärzten, entgegen der Empfehlung, noch heute verwendet.
Die zur depressiven Symptomatik gehörende innere Unruhe führte zu Erscheinungsformen, die unter agitierter Depression subsumiert wurde. Dabei werde der Patient von einem rastlosen Bewegungsdrang, der ins Leere lief, getrieben, wobei zielgerichtete Tätigkeiten nicht möglich seien. Der Kranke gehe umher, könne nicht still sitzen und auch Arme und Hände nicht still halten, was häufig mit Händeringen und Nesteln einhergehe. Auch das Mitteilungsbedürfnis sei gesteigert und führe zu ständigem, einförmigen Jammern und Klagen. Die agitierte Depression wurde bei älteren Menschen vergleichsweise häufiger beobachtet als in jüngerem und mittlerem Alter.
Etwa 15–40 % aller depressiven Störungen wurden als atypische Depressionen bezeichnet. „Atypisch“ bezog sich auf die Abgrenzung zur endogenen Depression und nicht auf die Häufigkeit dieses Erscheinungsbildes einer Depression. In einer deutschen Studie aus dem Jahr 2009 betrug der Anteil atypischer Depressionen 15,3 %. Bei Patienten mit atypischer Depression wurde im Vergleich zu den anderen depressiven Patienten ein höheres Risiko ausgemacht, auch an somatischen Angstsymptomen, somatischen Symptomen, Schuldgedanken, Libidostörungen, Depersonalisation und Misstrauen zu leiden.
Als Spät-/Involutionsdepression galt eine Depression, die erstmals nach dem 45. Lebensjahr auftrat und deren Prodromalphase deutlich länger war als bei den Depressionen mit früherem Beginn. Frauen seien von der Spätdepression häufiger betroffen (gewesen) als Männer. Sie grenze sich u. a. von früher auftretenden Depressionen durch ihre längere Phasendauer, mehr paranoide und hypochondrische Denkinhalte, eine relative Therapieresistenz sowie eine erhöhte Suizidgefahr ab.
Hiervon unterschieden wurde die Altersdepression, die nach dem 60. Lebensjahr erstmals auftrete. Die Bezeichnung Altersdepression allerdings sei irreführend, da sich eine depressive Episode im Alter nicht von der in jungen Jahren unterscheide, jedoch bei Älteren häufiger Depressionen als bei Jüngeren auftreten.
Ursachen
Die Ursachen depressiver Störungen sind komplex und nur teilweise verstanden. Es existieren sowohl anlagebedingte als auch erworbene Anfälligkeiten (Prädispositionen) zur Ausbildung einer Depression. Erworbene Anfälligkeiten können durch biologische Faktoren und durch lebensgeschichtliche soziale oder psychische Belastungen ausgelöst werden.
Biologische Einflüsse
Genetik
Depressive Störungen treten familiär gehäuft auf. Das Risiko selbst an einer Depression zu erkranken ist bei Verwandten ersten Grades etwa 50 % höher als normal. Bei eineiigen Zwillingen (gleiche genetische Ausstattung) lag das Risiko ebenfalls zu erkranken bei 50 %, bei zweieiigen Zwillingen nur bei 15-20 %. Leidet die Mutter unter Depressionen ist das Risiko für das Kind, im Laufe seines Lebens ebenfalls an einer Depression zu erkranken, erhöht, wobei unklar bleibt, welchen Anteil hier die Gene oder die innerfamiliären Umweltfaktoren haben. Ferner besteht zwischen genetischen Faktoren und Umweltfaktoren eine Gen-Umwelt-Interaktion. So können genetische Faktoren z. B. bedingen, dass ein bestimmter Mensch durch eine große Risikobereitschaft sich häufig in schwierige Lebenssituationen manövriert. Umgekehrt kann es von genetischen Faktoren abhängen, ob ein Mensch eine psychosoziale Belastung bewältigt oder depressiv erkrankt. Auch wird vermutet, dass Genvarianten, die von Neandertalern abstammen, die Ausprägung einer Depression beeinflussen können. Der Anteil solcher Gene liegt bei den heute in Europa lebenden Menschen bei 2,5 bis 4 %. Man geht davon aus, dass affektive Störungen auch durch nachträgliche (epigenetische) Veränderungen auf verschiedenen Genen (mit-)verursacht werden. Bestimmte Genabweichungen, die für die Entstehung von Depression ausschlaggebend sind, konnten jedoch bislang trotz umfangreicher Suche nicht gefunden werden.
Neurophysiologie
Nach der Einführung von Reserpin als Arzneimittel in den 1950er Jahren wurde die Beobachtung gemacht, dass einige Patienten depressive Symptome zeigten, nachdem sie damit behandelt worden waren. Dies wurde auf die Senkung von Neurotransmittern im Gehirn zurückgeführt. Als gesichert gilt, dass die Signalübertragung insbesondere der monoaminergen Neurotransmitter Serotonin, Dopamin und Noradrenalin beteiligt ist. Auch weitere Signalsysteme sind involviert, und ihre gegenseitige Beeinflussung ist hochkomplex. Obwohl monaminerg beeinflussende Medikamente (Antidepressiva) depressive Symptome verändern können, bleibt unklar, inwieweit diese Transmittersysteme ursächlich an der Entstehung von Depressionen beteiligt sind. So spricht auch etwa ein Drittel der Patienten nicht oder nur unzureichend auf Medikamente an, die monoaminerge Systeme beeinflussen.
Jahreszeit
Die sogenannte Winterdepression (als Untergruppe aller saisonal auftretender Störungen, zusammengefasst englisch Seasonal Affective Disorders – SAD) wird als eine unzureichende Anpassung an Jahresrhythmen und an die jahreszeitlichen Veränderungen des Tagesrhythmus aufgefasst. Daran beteiligt sind mehrere Faktoren, unter anderem die jahreszeitlichen Schwankungen bei der Bildung von Vitamin D durch Sonnenlicht. Auch die antidepressive Wirksamkeit von Therapien, die cirkadiane Systeme beeinflussen, wie Lichttherapie, Schlafentzug oder Lithiumtherapie deutet auf Zusammenhänge hin. Ungeklärt ist, ob ein gestörtes circadianes System die Depression verursacht oder die Depression Ursache des geänderten circadianen Systems ist oder andere Kombinationen verantwortlich sind.
Infektionen
Auch chronische Infektionen mit Krankheitserregern wie Streptokokken (früher auch das Virus der Bornaschen Krankheit) stehen in Verdacht, Depressionen auslösen zu können. Die depressiven Syndrome bei schweren Infektionen oder anderen schweren Erkrankungen können nach heutigem Kenntnisstand durch Entzündungsprozesse und die dabei wirksamen Zytokine vermittelt und als bezeichnet werden.
Medikamente und Drogen
Depressive Syndrome können durch die Einnahme oder das Absetzen von Medikamenten oder psychotropen Substanzen verursacht werden. Die Unterscheidung zwischen einer substanzinduzierten Depression und einer von Medikamenteneinnahme unabhängigen Depression kann schwierig sein. Grundlage der Unterscheidung ist eine durch einen Psychiater erhobene ausführliche Krankengeschichte.
Medikamente, die am häufigsten depressive Symptome verursachen können, sind Antikonvulsiva, Benzodiazepine (vor allem nach Entzug), Zytostatika, Glucocorticoide, Interferone, Antibiotika, Statine, Neuroleptika, Retinoide, Sexualhormone und Betablocker. Als Medikamente mit potentiell depressionsauslösender Wirkung wurden z. B. Diazepam, Cimetidin, Amphotericin B und Barbiturate identifiziert.
Ein depressives Syndrom wird häufig auch als typische Entzugserscheinung nach Drogenkonsum beobachtet. Auch beim Absetzen des Dopingmittels Anabolikum im Kraftsport kann es zu einem depressiven Syndrom kommen. Da es sich dabei um illegalen Substanzgebrauch handelt, ist die Bereitschaft von Sportlern oft gering, sich beim Absetzen einem Arzt anzuvertrauen.
Hormonelle Empfängnisverhütung
Die Einnahme hormoneller Kontrazeptiva kann zu Stimmungsschwankungen führen und eine Veränderung der Stimmung ist ein häufiger Grund dafür, dass deren Einnahme beendet wird. Formale depressive Symptome hingegen, werden zwar in den Packungsbeilagen hormoneller Kontrazeptiva als mögliche unerwünschte Nebenwirkung genannt, die Datenlage bezüglich eines kausalen Zusammenhangs zwischen der Einnahme von Kontrazeptiva und dem Auftreten depressiver Verstimmungen bleibt jedoch unklar. Frauen sollte laut der aktuellen Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe (DGGG) geraten werden, sich im Falle von Stimmungsschwankungen oder depressiven Symptomen während einer hormonellen kontrazeptiven Behandlung mit ihrem Arzt in Verbindung zu setzen. Die Einnahme von hormonellen Kontrazeptiva führt nicht zu einer Verschlechterung bereits existierender Depressionen.
Schwangerschaft
Nach einer groß angelegten britischen Studie sind etwa zehn Prozent aller Frauen von Depressionen während der Schwangerschaft betroffen. Nach einer anderen Studie sind es in der 32. Schwangerschaftswoche 13,5 Prozent. Die Symptome können extrem unterschiedlich sein. Hauptsymptom ist eine herabgesetzte Stimmung, wobei dies nicht Trauer im engeren Sinn sein muss, sondern von den betroffenen Patienten auch oft mit Begriffen wie „innere Leere“, „Verzweiflung“ und „Gleichgültigkeit“ beschrieben wird. Psychosomatische körperliche Beschwerden sind häufig. Es dominieren negative Zukunftsaussichten und das Gefühl der Hoffnungslosigkeit. Das Selbstwertgefühl ist niedrig. Die depressive Symptomatik in der Schwangerschaft wird oft von schwangerschaftstypischen „Themen“ beeinflusst. Dies können etwa Befürchtungen in Bezug auf die Mutterrolle oder die Gesundheit des Kindes sein.
Wochenbett
Zum Stimmungstief der Mutter im Wochenbett nach einer Geburt („Baby-Blues“) werden verschiedene mögliche neuroendokrinologische Ursachen diskutiert. Mit einer oft zitierten Häufigkeit von ungefähr 10 bis 15 Prozent ist diese sogenannte postnatale Depression weit verbreitet. Allerdings zeigte ein Vergleich von 143 Studien mit Daten aus 40 Staaten, dass die tatsächlichen Häufigkeiten im Bereich von 0 bis 60 % liegen, was mit großen sozioökonomischen Unterschieden in Verbindung gebracht wurde. So war die Häufigkeit in Singapur, Malta, Malaysia, Österreich und Dänemark sehr gering, dagegen in Brasilien, Guyana, Costa Rica, Italien, Chile, Südafrika, Taiwan und Südkorea sehr hoch. Die Symptome können Niedergeschlagenheit, häufiges Weinen, Angstsymptome, Grübeln über die Zukunft, Antriebsminderung, Schlafstörungen, körperliche Symptome und lebensmüde Gedanken bis hin zur Suizidalität umfassen.
Psychologische Einflüsse
Erlernte Hilflosigkeit
Nach Seligmans Depressionsmodell werden Depressionen durch Gefühle der Hilflosigkeit bedingt, die auf unkontrollierbare, aversive Ereignisse folgen. Entscheidend für die erlebte Kontrollierbarkeit von Ereignissen sind die Ursachen, auf die die Person ein Ereignis zurückführt.
Nach Seligman führt die Ursachenzuschreibung unangenehmer Ereignisse auf interne, globale und stabile Faktoren zu Gefühlen der Hilflosigkeit, die wiederum zu Depressionen führen. Mittels Seligmans Modell lässt sich die hohe Komorbidität zu Angststörungen erklären: Für alle Angststörungen ist es charakteristisch, dass die Personen ihre Angst nicht oder sehr schlecht kontrollieren können, was zu Hilflosigkeits- und im Verlauf der Störung auch zu Hoffnungslosigkeitserfahrungen führt. Diese wiederum sind, laut Seligman, ursächlich für die Entstehung von Depressionen.
Kognitionen als Ursache
Im Zentrum von Aaron T. Becks kognitiver Theorie der Depression stehen kognitive Verzerrungen der Realität durch den Depressiven. Ursächlich dafür sind, laut Beck, negative kognitive Schemata oder Überzeugungen, die durch negative Lebenserfahrungen ausgelöst werden. Kognitive Schemata sind Muster, die sowohl Informationen beinhalten als auch zur Verarbeitung von Informationen benutzt werden und somit einen Einfluss auf Aufmerksamkeit, Enkodierung und Bewertung von Informationen haben. Durch Benutzung dysfunktionaler Schemata kommt es zu kognitiven Verzerrungen der Realität, die im Falle der depressiven Person zu pessimistischen Sichtweisen von sich selbst, der Welt und der Zukunft führen (negative Triade). Als typische kognitive Verzerrungen werden u. a. willkürliche Schlüsse, selektive Abstraktion, Übergeneralisierungen und Über- oder Untertreibungen angesehen. Die kognitiven Verzerrungen verstärken rückwirkend die Schemata, was zu einer Verfestigung der Schemata führt. Unklar ist jedoch, ob kognitive Fehlinterpretationen, bedingt durch die Schemata, die Ursache der Depression darstellen oder ob durch die Depression kognitive Fehlinterpretationen erst entstehen. Für Depressionen bei Kindern und Jugendlichen wurden bisher kaum Hinweise dafür gefunden, dass kognitive Fehlinterpretationen die Ursache für Depression darstellen.
Emotionale Intelligenz
Die Vertreter des Konzepts der emotionalen Intelligenz stehen Aaron T. Beck nahe, gehen aber über ihn hinaus. Daniel Goleman sieht bei depressiven Teenagern zwei folgenreiche emotionale Defizite: Erstens zeigen diese, wie auch Beck beschreibt, eine Tendenz, Wahrnehmungen negativ, also depressionsverstärkend, zu interpretieren. Zweitens fehlt ihnen aber auch ein solides Können in der Handhabung zwischenmenschlicher Beziehungen (Eltern, Peergroup, Sexualpartner). Kinder, die depressive Neigungen haben, ziehen sich bereits in sehr jungem Alter zurück, weichen Sozialkontakten aus und verpassen dadurch soziales Lernen, das sie später nur noch schwer nachholen können. Goleman beruft sich u. a. auf eine Studie, die Psychologen der University of Oregon in den 1990er Jahren an einer High School in Oregon durchgeführt haben.
Verstärkerverlust
Nach dem Depressionsmodell von Lewinsohn, das auf der operanten Konditionierung der behavioristischen Lerntheorie beruht, entstehen Depressionen aufgrund einer zu geringen Rate an unmittelbar mit dem Verhalten verbundener Verstärkung. Nach Lewinsohn hängt die Menge positiver Verstärkung von der Anzahl verstärkender Ereignisse, von der Menge verfügbarer Verstärker und von den Verhaltensmöglichkeiten einer Person ab, sich so zu verhalten, dass Verstärkung möglich ist. Im weiteren Verlauf kann es zu einer Depressionsspirale kommen, wenn Betroffene sich aufgrund der Interesselosigkeit sozial zurückziehen und der Verlust an Verstärkern wiederum zu einer weiteren Verschlechterung der Stimmung beiträgt. Dieser Entwicklung müsse dann durch Verhaltensänderungen im Sinne einer „Anti-Depressionsspirale“ entgegengewirkt werden. Das entsprechende Konzept ist die Grundlage für die Verhaltensaktivierung in der Behandlung.
Stressoren und Traumata
Anhaltende Stressbelastungen wie etwa Armut können Depressionen auslösen. Auch frühe Traumata können spätere Depression bedingen. Da die Hirnreifung bei Kindern noch nicht abgeschlossen ist, können traumatische Erlebnisse das Entstehen einer schweren Depression im Erwachsenenalter begünstigen.
Brown und Harris (1978) berichteten in ihrer als Klassiker geltenden Studie an Frauen aus sozialen Brennpunkten in London, dass Frauen ohne soziale Unterstützung ein besonders hohes Risiko für Depressionen aufweisen. Viele weitere Studien haben seitdem dieses Ergebnis gestützt. Menschen mit einem kleinen und wenig unterstützenden sozialen Netzwerk werden besonders häufig depressiv. Gleichzeitig haben Menschen, die erst einmal depressiv geworden sind, Schwierigkeiten, ihr soziales Netzwerk aufrechtzuerhalten. Sie sprechen langsamer und monotoner und halten weniger Augenkontakt, zudem sind sie weniger kompetent beim Lösen interpersonaler Probleme.
Mangelnde soziale Anerkennung
Der Medizinsoziologe Johannes Siegrist hat auf der Grundlage umfangreicher empirischer Studien das Modell der Gratifikationskrise (verletzte soziale Reziprozität) zur Erklärung des Auftretens zahlreicher Stresserkrankungen (wie Herz-/Kreislauf-Erkrankungen, Depression) vorgeschlagen.
Gratifikationskrisen gelten ebenso wie Mobbing als großer psychosozialer Stressfaktor. Gratifikationskrisen können vor allem in der Berufs- und Arbeitswelt, aber auch im privaten Alltag (z. B. in Partnerbeziehungen) als Folge eines erlebten Ungleichgewichtes von wechselseitigem Geben und Nehmen auftreten. Sie äußern sich in dem belastenden Gefühl, sich für etwas engagiert eingesetzt oder verausgabt zu haben, ohne dass dies gebührend gesehen oder gewürdigt wurde. Oft sind solche Krisen mit dem Gefühl des Ausgenutztseins verbunden. Mobbing ist hingegen durch das Erleben von direkter oder versteckter sozialer Ausgrenzung gekennzeichnet. In diesem Zusammenhang kann es bei beiden Formen zu heftigen negativen Emotionen kommen, die bei einem Andauern auch zu einer Depression führen können.
Folgen von elterlichen Depressionen
Eine Depression bei einem Familienmitglied wirkt sich auf Kinder aller Altersgruppen aus. Elterliche Depression ist ein Risikofaktor für Depressionen von deren Kindern. Beispielsweise kann es zu einer sog. transgenerationalen Weitergabe kommen. Viele Studien haben die negativen Folgen der Interaktionsmuster zwischen depressiven Müttern und ihren Kindern belegt. Bei den Müttern wurde mehr Anspannung und weniger verspielte, wechselseitig belohnende Interaktion mit den Kindern beobachtet. Sie zeigten sich weniger empfänglich für die Emotionen ihres Kindes und weniger bestätigend im Umgang mit dessen Erlebnissen. Außerdem boten sich den Kindern Gelegenheiten zum Beobachten depressiven Verhaltens und depressiven Affektes. André Green (1983) beschreibt in seinem Konzept der emotional „toten Mutter“, dass eine Depression die Folge davon sein könnte, dass in wichtigen Entwicklungsphasen eine emotionale Antwort der Eltern fehlte. Zugleich weist er auf die Gefahr hin, durch Schweigen während einer klassischen Psychoanalyse (Abstinenz) diese Beziehung zu wiederholen.
Unterdrückung eigener Interessen (Aggressionshemmung)
Karl Abraham (1912) beobachtete bei Depressionen eine Aggressionshemmung, was auch von Melanie Klein aufgenommen wurde. Daraufhin wurde zunächst angenommen, diese Aggressionshemmung kann ursächlich für die Depression sein. Zum Teil wurde sowohl innerhalb als auch außerhalb der Psychoanalyse das Auftreten von Aggression als positives Zeichen interpretiert. Stavros Mentzos geht jedoch davon aus, dass nicht eine sinnlose aggressive Entladung die Depression mildern kann, sondern eine die eigenen Interessen berücksichtigende Lösung eines inneren Konflikts.
Evolutionsbiologische Ursachentheorien
Das Risiko einer Depression ist weltweit so beträchtlich, dass für manche Vertreter der evolutionären Psychologie eine nützliche evolutionäre Anpassung wahrscheinlicher erscheint als ein isoliertes Krankheitsgeschehen. Es wird diskutiert, ob Depressionen eine biologisch nützliche Anpassung im Laufe der Evolution sein könnten. Viele vorteilhafte Funktionen wie das Kommunizieren von Hilfebedarf, das Signalisieren von Unterordnung in einem Hierarchiekonflikt, das Loslassen unerreichbarer Ziele oder die Regulierung von Engagement werden angeführt. Als Beispiele werden Situationen genannt, in denen depressive Gestimmtheit ein Überlebensvorteil sein könne, etwa durch Vermeidungsreaktion in einer gefährlichen oder aussichtslosen Situation. Der zu beobachtende Anstieg von diagnostizierten Depressionen wurde auch mit neuzeitlichen Lebensbedingungen, speziell gesellschaftlichen Faktoren und Konkurrenz in Verbindung gebracht. Der evolutionäre Vorteil einer depressiven Reaktion könne auch in der Vermeidung von schädlicher Überforderung und Stressbelastung liegen.
Neuere Thesen vermuten auch einen möglichen Nutzen von Depressionen bei der Bewältigung von Infektionskrankheiten. Krankheitsverhalten, wie es typischerweise durch Infektionen hervorgerufen wird, beinhalte oft Rückzug und depressive Stimmung, die eine bessere Ausrichtung der vorhandenen Energien auf die Immunabwehr der Infektionen ermögliche.
An die These, dass depressive Symptome eine sinnvolle Anpassungsreaktion auf widrige Situationen darstellten, wird die Frage geknüpft, inwieweit eine Unterdrückung der Symptome durch Antidepressiva sinnvoll sei. Gegen evolutionsbiologische Depressionsthesen wird angeführt, dass eine Neigung zur Selbsttötung dagegen spräche, dass eine langanhaltende depressive Reaktion nicht sinnvoll wäre, dass Trauerreaktionen auf Verlust nicht als Niederlage aufgefasst werden könne.
Behandlung
Depressionen können bei der Mehrheit der Patienten erfolgreich behandelt werden. Im Vordergrund stehen die medikamentöse Behandlung mit Antidepressiva und die Psychotherapie. Weitere Therapieverfahren, z. B. Lichttherapie, Wachtherapie, Sport- und Bewegungstherapie, Elektrokonvulsionstherapie ergänzen die Behandlungsmöglichkeiten. Die aktuelle nationale Behandlungsleitlinie wertet bei mittelschweren bis schweren depressiven Perioden Antidepressiva als gleichwertig mit einer Psychotherapie. Bei schweren Depressionen wird eine Kombination von Psychotherapie und antidepressiver Medikation empfohlen.
Durchgeführt wird die Psychotherapie von psychologischen Psychotherapeuten, von ärztlichen Psychotherapeuten, von Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten, von Heilpraktikern für Psychotherapie. Häufig erfolgt parallel dazu die Gabe von Antidepressiva durch den Hausarzt oder Psychiater. Die Behandlung erfolgt ambulant oder stationär in psychiatrischen Kliniken bzw. Fachkrankenhäusern.
Stationäre Behandlung
Bei hohem Leidensdruck und einem nicht zufriedenstellenden Ansprechen auf ambulante Therapie und Psychopharmaka – insbesondere jedoch bei drohendem Suizid – ist eine Behandlung in einer psychiatrischen Klinik in Erwägung zu ziehen. Die stationäre Behandlung dauert in der Regel vier bis acht Wochen und bietet dem Patienten eine Tagesstruktur sowie die Möglichkeit intensiverer psychotherapeutischer und medizinischer Maßnahmen. Häufig ist auch die medikamentöse Einstellung, beispielsweise bei der Lithiumtherapie, ein Grund für einen Krankenhausaufenthalt. Dabei ist es auch möglich, sich in einer Tagesklinik tagsüber intensiv behandeln zu lassen, die Nacht aber zu Hause zu verbringen. Psychiatrische Kliniken haben in der Regel offene und geschlossene Stationen, wobei Patienten auch auf geschlossenen Stationen in der Regel Ausgang haben.
Stationäre Depressionsbehandlungen sind in den letzten Jahren sehr viel häufiger geworden. Die Häufigkeit einzelner Krankenhausbehandlungen aufgrund wiederholter (rezidivierender) Depressionen ist zwischen 2001 und 2010 auf mehr als das 2,8fache angestiegen. Der Anstieg der Zahl an Aufnahmen relativiert sich jedoch, wenn man die gleichzeitige Verkürzung der durchschnittlichen Verweildauer im Krankenhaus berücksichtigt. Depressionen verursachten nach Daten der Barmer GEK im Jahre 2010 über sechs Prozent aller Krankenhaustage und liegen damit mit großem Abstand an der Spitze aller Diagnosen. Nach Entlassung aus dem Krankenhaus kommt es bei etwa 30–40 % der Patienten innerhalb eines Jahres zur erneuten stationären Aufnahme.
Psychotherapie
Zur Behandlung der Depression kann ein breites Spektrum psychotherapeutischer Verfahren wirksam eingesetzt werden (Übersicht über evaluierte Therapieverfahren bei Hautzinger, 2008). Hierzu gehören die kognitive Verhaltenstherapie, tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie und die analytische Psychotherapie. Auch die Gesprächspsychotherapie, die Gestalttherapie, metakognitive Therapie nach Wells sowie metakognitives Training können zur Behandlung eingesetzt werden. Neuere integrative Ansätze zur Behandlung chronischer bzw. rezidivierender Depressionen sind das Cognitive Behavioral Analysis System of Psychotherapy (CBASP) sowie die Achtsamkeitsbasierte Kognitive Therapie (englisch Mindfulness Based Cognitive Therapy, MBCT). Seit einigen Jahren kommen auch zunehmend Online-Therapieprogramme (Onlineberatung) zum Einsatz (z. B. iFightDepression).
Verhaltenstherapie
Die verhaltenstherapeutische Behandlung der Depression wird heutzutage auf der Grundlage der Kognitiven Verhaltenstherapie durchgeführt. In der Therapie sollen die depressionsauslösenden Denkmuster und Verhaltensmuster herausgearbeitet werden, um sie anschließend Schritt für Schritt zu verändern. Zusätzlich wird der Patient zu größerer Aktivität motiviert, um seine persönlichen Verstärkermechanismen wieder zu aktivieren und um die erwiesen positiven Wirkungen größerer körperlicher Aktivität auf die Stimmung zu nutzen.
Tiefenpsychologische Therapie
In der tiefenpsychologischen Behandlung sollen durch die Aufdeckung und Bearbeitung unbewusster psychischer Konflikte und verdrängter Erfahrungen die zugrundeliegenden Ursachen für die Erkrankung bewusst gemacht werden. Die im Laufe der Therapie für den Patienten wahrnehmbar werdenden, zugrundeliegenden Motive, Gefühle und Bedürfnisse sollen dadurch in das aktuelle Leben integrierbar werden.
Hinsichtlich der Unterschiede in der Wirksamkeit verschiedener Psychotherapien lassen sich keine pauschalen Empfehlungen geben, sodass hier die Präferenzen, Hauptbeschwerden und auslösende oder aktuell belastende Faktoren des Patienten bei der Auswahl des therapeutischen Verfahrens berücksichtigt werden sollten. Auch die aktuelle nationale Behandlungsleitlinie beinhaltet keine Empfehlung zu spezifischen Psychotherapieverfahren, sondern verweist auf Evidenztabellen mit unterschiedlichen Forschungsergebnissen. Allerdings heißt es dort: „In spezifischen Reviews wurden psychotherapeutische Behandlungsverfahren, die speziell auf die Therapie der Depression abgestimmt sind (z. B. kognitive Verhaltenstherapie oder Interpersonelle Psychotherapie bzw. psychodynamische Psychotherapie), als gleich wirksam wie Antidepressiva beschrieben.“ Für die Akuttherapie gilt laut nachfolgendem Abschnitt Effektivität psychotherapeutischer Verfahren in der Akuttherapie: „Die meisten Belege für eine psychotherapeutische Monotherapie liegen für leichte und mittelgradige depressive Störungen vor. Bei mittelschweren bis schweren depressiven Episoden ist eine Differenzialindikation erforderlich.“
Medikamente
Die Wirksamkeit von Antidepressiva ist stark abhängig vom Schweregrad der Erkrankung. Während bei mildem und mäßigem Schweregrad die Wirksamkeit fehlend oder gering ist, ist sie bei schwerer Depression deutlicher. Bei den schwersten Formen profitieren bis zu 30 % der behandelten Patienten über die Placeborate hinaus von Antidepressiva. Ein Drittel bis die Hälfte der Patienten spricht nicht auf die Medikation an nach einer mehrwöchigen Behandlung mit einem ersten Antidepressivum. Metaanalysen weisen darauf hin, dass antidepressive Medikamente in ihrer Wirksamkeit von Patient zu Patient große Unterschiede zeigen und in manchen Fällen eine Kombination verschiedener Medikamente Vorteile haben kann. In der Wahrnehmung der (Fach-)Öffentlichkeit wird die Wirksamkeit von Antidepressiva eher überschätzt, da Studien, in denen das Antidepressivum besser als ein Placebo abschnitt, sehr viel häufiger in Fachjournalen publiziert werden, als solche, in denen das Antidepressivum einem Placebo nicht überlegen war.
Unerwünschte Nebenwirkungen sind mit der Einführung der Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI, siehe unten) in den 80er Jahren deutlich zurückgegangen, jedoch weiterhin zu beachten.
Die Therapietreue (Compliance) der Patienten bei der Anwendung der Medikamente ist wie bei anderen psychiatrischen Medikamenten relativ gering. Nur etwa die Hälfte bleibt in der akuten Phase dabei, und hiervon wiederum nur etwa die Hälfte auch in der Nachfolgephase. Verschiedene Strategien zur Verbesserung dieser Situation wurden wissenschaftlich verglichen. Aufklärende Gespräche alleine waren nicht effektiv. Umfangreiche begleitende Maßnahmen, z. B. auch über Telefon, waren hier erforderlich.
Die bekanntesten Antidepressiva lassen sich in drei Gruppen einteilen (siehe unten). Weitere Antidepressiva einschließlich Phytopharmaka wie Johanniskraut finden sich im Artikel Antidepressiva. Im Falle schwerer Depressionen ohne Ansprechen auf einzelne Antidepressiva werden teilweise Augmentationen mit weiteren Antidepressiva, Neuroleptika, Stimulanzien oder Phasenprophylaktika verordnet. Neuere Studien weisen auf eine Einsatzmöglichkeit von Ketamin in Akutfällen.
Selektive Wiederaufnahmehemmer
Diese Wirkstoffe hemmen die Wiederaufnahme der Neurotransmitter Serotonin, Noradrenalin oder Dopamin in die Präsynapse. Direkte Wirkungen auf andere Neurotransmitter sind bei diesen selektiven Wirkstoffen deutlich schwächer ausgeprägt als bei trizyklischen Antidepressiva.
Die selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI) werden bei Depressionen heute am häufigsten eingesetzt. Sie wirken ab einer Einnahmedauer von zwei bis drei Wochen. Sie hemmen (weitgehend) selektiv die Wiederaufnahme von Serotonin an der präsynaptischen Membran, wodurch eine „relative“ Vermehrung des Botenstoffs Serotonin bei der Signalübertragung erzielt wird. Ähnlich wirken Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer (SNRI), welche zusätzlich die Wiederaufnahme von Noradrenalin in die Präsynapse vermindern. Von vergleichbarem Wirkmechanismus sind Noradrenalin-Dopamin-Wiederaufnahmehemmer und selektive Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer, welche die Wiederaufnahme von Noradrenalin, bzw. Noradrenalin und Dopamin hemmen. SSRI und SNRI (z. B. Reboxetin) unterscheiden sich in ihrem Nebenwirkungsprofil.
SSRIs werden seit ca. 1986 eingesetzt; seit 1990 sind sie die am häufigsten verschriebene Klasse von Antidepressiva. Wegen des nebenwirkungsärmeren Profils, vor allem in Bezug auf Kreislauf und Herz, werden sie häufig verordnet. Relativ häufige Nebenwirkungen sind jedoch Verdauungsstörungen, erhöhtes Risiko innerer Blutungen, sexuelle Dysfunktion und Anorgasmie.
Trizyklische Antidepressiva
Die trizyklischen Antidepressiva (z. B. Trimipramin, Amitriptylin) wurden bis zum Aufkommen der Serotonin-Wiederaufnahmehemmer am häufigsten verschrieben. Es handelt sich um eine relativ große Gruppe von Substanzen, die sich in ihren Wirkungen und vor allem in ihren Kombinationsmöglichkeiten mit anderen Klassen von Antidepressiva markant unterscheiden und daher fundiertes Wissen erfordern. Hauptnachteil sind deren ausgeprägte auftretende Nebenwirkungen (z. B. Mundtrockenheit, Verstopfung, Müdigkeit, Muskelzittern und Blutdruckabfall), wobei es besser verträgliche Ausnahmen gibt (z. B. Amoxapin, Maprotilin). Bei älteren und bei durch Vorerkrankungen geschwächten Menschen ist daher Vorsicht geboten. Zudem wirken einige Trizyklika häufig zunächst antriebssteigernd und erst danach stimmungsaufhellend, wodurch es zu einem höheren Suizidrisiko in den ersten Wochen der Einnahme kommen kann. In den USA müssen sie zusammen mit SSRI einen diesbezüglichen Warnhinweis tragen.
Monoaminooxidase-Hemmer (MAO-Hemmer)
MAO-Hemmer wirken durch Blockieren der Monoaminoxidase-Enzyme. Diese Enzyme spalten Monoamine wie Serotonin, Noradrenalin und Dopamin – also Neurotransmitter (Botenstoffe zwischen den Nervenzellen im Gehirn) – und verringern dadurch deren Verfügbarkeit zur Signalübertragung im Gehirn. Die MAO-Hemmer hemmen diese Enzyme, wodurch sich die Konzentration der Monoamine und damit der Neurotransmitter erhöht und die Signalübertragung zwischen den Nervenzellen verstärkt wird.
MAO-Hemmer werden in selektiv oder nichtselektiv sowie reversibel oder irreversibel unterteilt. Selektive Inhibitoren der MAO-A (z. B. Moclobemid, reversibel) hemmen nur den Typ A der Monoaminoxidase und zeigen eine antidepressive Wirkung. Sie sind im Allgemeinen gut verträglich, unter anderem mit deutlich weniger Störungen bei Verdauungs- und Sexualfunktionen als bei SSRI. Allerdings müssen Patienten, die nichtselektive, irreversible MAO-Hemmer einnehmen, eine strenge, tyraminarme Diät halten. In Verbindung mit dem Verzehr bestimmter Lebensmittel, wie z. B. Käse und Nüssen, kann die Einnahme von nichtselektiven irreversiblen MAO-Hemmern zu einem gefährlichen Blutdruckanstieg führen. Selektiv MAO-B-hemmende Wirkstoffe (z. B. Selegilin, irreversibel) werden in erster Linie in der Parkinson-Behandlung eingesetzt. Nichtselektive MAO-Hemmer (z. B. Tranylcypromin, irreversibel) hemmen MAO-A und MAO-B und werden in der Behandlung von (therapieresistenten) Depressionen und Angststörungen eingesetzt. Irreversible MAO-Hemmer binden die MAO-A bzw. MAO-B dauerhaft. Um die Wirkung aufzuheben, muss das betroffene Enzym vom Körper erst neu gebildet werden, was Wochen dauern kann. Reversibilität besagt, dass das Medikament nur schwach an die MAO bindet und MAO-A bzw. MAO-B spätestens mit dem Abbau des Medikaments wieder intakt freigibt.
Ketamin
Bei depressiven Notfällen (Suizidgefährdung) bestätigten mehrere Studien eine schnelle antidepressive Wirkung von Ketamin, einem Antagonisten am Glutamat-NMDA-Rezeptorkomplex. Studienergebnisse zeigten bei einmaliger Gabe eine signifikante Besserung über einen Zeitraum von bis zu sieben Tagen. Es gibt Empfehlungen zur niedrigdosierten Verordnung, welche im Gegensatz zum Gebrauch als Anästhetikum oder Dissoziativum kaum Nebenwirkungen zeigt. Die pharmakologische Wirkung bei Depressionen wird durch (2R,6R)-Hydroxynorketamin, einem Metaboliten des Ketamins, ausgelöst. Im Gegensatz zu Ketamin und Norketamin ist Hydroxynorketamin als Anästhetikum und Dissoziativum inaktiv und produziert keine Rauschzustände. Im März 2019 hat die Food and Drug Administration ein Nasenspray mit dem Ketamin-Derivat Esketamin zur Behandlung von behandlungsresistenten Depressionen zugelassen. Seit Dezember 2019 ist das Mittel (Spravato) auch in der europäischen Union zur Behandlung der behandlungsresistenten Depression zugelassen.
Kombinationstherapie
Bei Patienten, deren Depression sich nicht durch Pharmakotherapie verbessert, und die bereit sind, mögliche Nebenwirkungen in Kauf zu nehmen, kann eine Kombination von Antidepressiva sinnvoll sein. Allerdings wird die Kombination nur für ganz bestimmte Wirkstoffe empfohlen. Dies gilt für die Kombinationen von Mianserin oder Mirtazapin einerseits mit einem SSRI oder einem trizyklischen Antidepressivum andererseits.
Lithium
Lithium wird in erster Linie bei therapieresistenten Depressionen, zur Phasenprophylaxe bei wiederkehrenden Depressionen, zur Verbesserung der Wirkung bei Nichtansprechen auf Antidepressiva (Augmentation) oder als Monotherapie in Akutphasen, und zur Reduzierung einer Suizidgefahr eingesetzt. Aufgrund möglicher schwerer Nebenwirkungen muss eine Lithiumeinnahme streng überwacht werden.
Phytotherapeutika
Phytotherapeutika, also pflanzliche Arzneimittel wie Johanniskrautextrakte, werden bei leichten und mittelschweren Depressionen häufig verschrieben und eingenommen. Wirkung und Nebenwirkungen sind aber nicht abschließend geklärt.
Lichttherapie
Die aktuelle Behandlungsleitlinie empfiehlt Lichttherapie bei Depressionen, die einem saisonalen Muster folgen. Etwa 60–90 % der Patienten profitierten von einer Lichttherapie nach etwa zwei bis drei Wochen. Nach früheren Ergebnissen war Lichttherapie ebenfalls bei nicht jahreszeitlich bedingten Depressionen wirksam. Dabei sollten die Patienten – um einen Effekt zu gewährleisten – täglich für mindestens 30 Minuten in eine spezielle Lichtquelle schauen, die weißes Vollspektrumlicht von mindestens 10.000 Lux abgibt. Es werden 10.000 Lux für 30–40 Minuten als anfängliche Dosis empfohlen, wenigstens zwei bis vier Wochen jeden Morgen und zwar so rasch wie möglich nach dem Erwachen. Nach einer von der Cochrane Collaboration veröffentlichten systematischen Übersichtsarbeit von 2015 können keine Schlussfolgerungen zur Wirksamkeit von Lichttherapie zur Prävention (Verhütung) neuer depressiver Episoden gezogen werden.
Stimulationsverfahren
Insbesondere bei schweren und über lange Zeit gegen medikamentöse und psychotherapeutische Behandlung resistenten Depressionen kommen gerade in jüngerer Zeit wieder stärker Stimulationsverfahren zum Einsatz, deren Wirkmechanismen jedoch noch weitgehend unklar sind.
Das häufigste diesbezüglich eingesetzte Verfahren ist die Elektrokonvulsionstherapie (EKT). In der Epilepsie-Behandlung war aufgefallen, dass bei Patienten, die gleichzeitig an einer Depression litten, nach einem epileptischen Anfall auch eine Verbesserung der Stimmung auftrat. Die Elektrokonvulsionstherapie wird in Narkose durchgeführt und stellt dann, wenn Medikamente und Psychotherapie bei schweren Depressionen nicht wirken, eine mögliche Alternative dar. Signifikante Kurzzeiteffekte konnten nachgewiesen werden. Im Einzelnen noch ungeklärte Wirkungen bei schwerer Depression werden auch mit einem Rückgang der Neigung zum Suizid und verminderten Selbsttötungen in Zusammenhang gebracht. Es gibt Hinweise auf die Beeinflussung neuroendokrinologischer Mechanismen.
Im Versuchsstadium befinden sich weitere Stimulationsverfahren wie die Magnetkrampftherapie (ein Krampf wird mittels starker Magnetfelder induziert), die Vagusnerv-Stimulation (ein Schrittmacher sendet elektrische Impulse an den Vagusnerv; in den USA als Therapieverfahren zugelassen), die Transkranielle Magnetstimulation (Gehirnstimulation durch ein Magnetfeld außerhalb des Kopfes), die Transkranielle Gleichstromapplikation (tDCS) (schwachelektische Gehirnstimulation durch den Schädelknochen). Nachweise zur Wirksamkeit dieser Verfahren liegen bislang (Stand Dezember 2015) noch nicht vor.
Digitale Gesundheitsanwendung (DiGA)
Seit einigen Jahren gibt es so genannte Digitale Gesundheitsanwendungen (DiGA), u. a. zur Therapieunterstützung von erwachsenen Patienten mit Depressionen und depressiven Verstimmungen. Dabei handelt es sich um Medizinprodukte, die nach Prüfung durch das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) als DiGA zugelassen und in das entsprechende DiGA-Verzeichnis aufgenommen wurden. DiGAs können vom behandelnden Arzt oder Psychotherapeuten auf Rezept verordnet werden.
Bewegung
Eine Form der unterstützenden therapeutischen Maßnahmen ist die Sporttherapie. Wenn Sport im gesellschaftlichen Zusammenhang stattfindet, erleichtert er eine Wiederaufnahme zwischenmenschlicher Kontakte. Ein weiterer Effekt der körperlichen Betätigung ist das gesteigerte Selbstwertgefühl und die Ausschüttung von Endorphinen. Positive Effekte des Joggings bei Depressionen sind empirisch durch Studien nachgewiesen; 1976 wurde das erste Buch unter dem Titel The Joy of Running zu diesem Thema veröffentlicht.
Krafttraining beispielsweise konnte in einer Studie für alte Patienten (70+ Jahre) als wirksam erwiesen werden. Nach 10 Wochen angeleiteten Trainings war ein Rückgang der depressiven Symptome im Vergleich zu einer Kontrollgruppe (die nicht trainiert, sondern angeleitet gelesen hatte) feststellbar. Der Effekt war für einen Teil der Testpersonen auch zwei Jahre nach Ende des geführten Trainings noch nachweisbar.
Es existiert eine Vielzahl von methodisch robusten Studien über den Nutzen von Sport und Bewegung bei Depression. Diese zeigen beispielsweise, dass Sport (unter Anleitung, zuhause) gegen Depression gleich wirksam ist wie eine medikamentöse Therapie (Sertralin) oder Placebo-Medikation. Eine Metaanalyse von 2013 bewertet den Effekt zurückhaltender, unterstreicht aber den präventiven Effekt, da „moderate Bewegung im aeroben Bereich von mindestens 150 Minuten pro Woche […] mit einem merklich geringeren Risiko für die Entwicklung einer Depression in Zusammenhang“ steht. Ist das Ziel nicht die Prävention, sondern die Behandlung der Depression, ist laut einer Metaanalyse von 2019 einen Monat lang jede Woche dreimal 45 min Sport notwendig für eine Stimmungsverbesserung.
Ernährung
Eine ausgewogene und gesunde Ernährung ist für gesunde Menschen wichtig und für Menschen mit Erkrankungen, ob physisch oder psychisch, umso wichtiger. Bei einer Depression mit Appetitverlust gilt es, diese besonders zu beobachten. Für eine antidepressive Wirkung bestimmter Nahrungsergänzungsmittel oder Diäten gibt es keine wissenschaftlichen Belege.
Es gibt bis heute widersprüchliche Ergebnisse zu der Wirkung von Omega-3-Fettsäuren im Bezug auf die Depression, unter anderem wird hierfür der Publikationsbias verantwortlich gemacht. Eine Supplementierung mit Omega-3-Fettsäuren wird deshalb in keiner Leitlinien-Behandlung empfohlen.
Die alternativmedizinische „orthomolekulare Medizin“ versucht außerdem über die Aminosäuren Tyrosin, Phenylalanin und Tryptophan bzw. 5-HTP (Oxitriptan) Depressionen günstig zu beeinflussen. Jedoch fehlen wissenschaftliche Belege für eine positive Wirkung gerade von Tryptophangaben (z. B. in Form von Nahrungsergänzungsmitteln).
Schlafhygiene
Depression wirkt sich auf die Qualität des Schlafes aus (s. o.). Umgekehrt gilt, dass eine Verbesserung des Schlafes (Schlafhygiene) sich bessernd auf eine Depression auswirken kann. Dazu gehören regelmäßige Zu-Bett-geh-Zeiten, der Verzicht auf Monitor-Licht am Abend, angepasste Beleuchtung, Abdunklung der Schlafräume und weitere Maßnahmen.
Schlafentzug
Partieller (teilweiser) Schlafentzug in der zweiten Nachthälfte oder gar vollständiger Schlafentzug in einer Nacht ist die einzige antidepressive Therapie mit positiven Wirkungen bei ca. 60 % der Patienten noch am gleichen Tag. Der antidepressive Effekt ist jedoch selten anhaltend. Meistens kehren die depressiven Symptome bereits nach der nächsten Erholungsnacht wieder. Bis zu 15 % der Patienten in klinischen Studien zeigten jedoch eine anhaltende Verbesserung nach völligem Schlafentzug. Die nationale Behandlungsleitlinie empfiehlt, dass die Wachtherapie auf Grund ihrer relativ leichten Umsetzbarkeit, Nichtinvasivität, Kosteneffizienz und raschen Wirkung in bestimmten Fällen als ergänzendes Therapieelement erwogen werden sollte.
Meditation
Klinische Studien deuteten darauf hin, dass achtsamkeitsbasierte Meditation in der Behandlung von Depression der psychiatrischen Leitlinientherapie (kognitiv-behaviorale Therapie) gleichwertig sei. Dies gelte insbesondere für den Einsatz als zusätzliche Therapie und zur laufenden Nachsorge ehemaliger Patienten.
Meditation wirkt dem für Depression typischen Grübelzwang entgegen, indem die bewusste Aufmerksamkeitssteuerung trainiert wird. Weiterhin werden Veränderungen in der Emotionswahrnehmung, Emotionssteuerung, kognitiven Bewertung und Belohnungsverarbeitung als antidepressive Wirkmechanismen diskutiert. Dies geht einher mit durch Meditationsübungen veränderter Hirnaktivität in Amygdala, Präfrontalem Cortex und Hippocampus, Regionen, die mit Emotionsverarbeitung in Verbindung stehen.
Die Wirksamkeit der Achtsamkeitsbasierten Kognitiven Therapie (MBCT) zur Rückfallprävention von Depressionen ist durch aktuelle Metaanalysen ausreichend belegt und wurde deshalb als Therapieempfehlung in die S3-Leitlinie/NVL Unipolare Depression aufgenommen. Durch Übungen zur Achtsamkeit (mindfulness) wird die Aktivierung depressionsfördernder Gedanken, Gefühle und Körperempfindungen rechtzeitig erkannt, sodass die Betroffenen sich bewusst hilfreichen Maßnahmen zuwenden können, die einen Rückfall verhindern.
Ein Review verglich 15 Studien zur Wirksamkeit von Entspannungs-Techniken zur Reduktion von Depression und Ängsten bei älteren Erwachsenen (älter als 60 Jahre). Gegen Depressionen wirkte progressive Muskelentspannung am stärksten (siehe Tabelle). Zur Verringerung von Angst eignete sich hingegen Musiktherapie am stärksten, mit deutlichem Abstand gefolgt von Yoga.
Die Tabelle zeigt die Wirksamkeit verschiedener Techniken zur Verringerung von Depression bei Älteren (älter als 60) gemäß einer Übersichtsstudie.
Akupunktur
In einer Übersichtsstudie von 2019 zeigte Akupunktur klinisch signifikante Verringerungen der Schwere von Depressionen. Es wurde dabei eine Korrelation zwischen der Anzahl der durchgeführten Akupunkturbehandlungen und dem Grad der Verringerung der Depression gefunden. Wie die Studienautoren jedoch selbst anmerken, ist die Übertragbarkeit der Ergebnisse von der chinesischen Bevölkerung auf andere Bevölkerungsgruppen unklar, da die Mehrheit der Studien in China durchgeführt wurde, und in China eine höhere Behandlungsfrequenz und Anzahl von Behandlungen angewendet werden. Die Studie kam zu dem Schluss, dass Akupunktur eine Ergänzung zur üblichen Behandlung und zur Standardmedikation mit Antidepressiva sein kann.
Prognose
Depressive Grunderkrankung
Depressive Episoden klingen oft im Laufe der Zeit ab, unabhängig davon, ob sie behandelt werden oder nicht. Ambulante Patienten auf einer Warteliste zeigen innerhalb weniger Monate eine 10–15%ige Reduktion der Symptome, wobei etwa 20 % nicht mehr die Kriterien für eine depressive Störung erfüllen. Die mediane Dauer einer Episode wurde auf 23 Wochen geschätzt, wobei in den ersten drei Monaten die Erholungsrate am höchsten war. Zu einer Chronifizierung der Depression kommt es bei 15 bis 25 % der Patienten.
Die meisten behandelten Patienten berichten über Restsymptome trotz scheinbar erfolgreicher Behandlung. Restsymptome, die bei vorübergehendem oder dauerhaftem Nachlassen der Erkrankung auftreten, haben einen starken prognostischen Wert. Es scheint einen Zusammenhang zwischen diesen Restsymptomen und Vorzeichen einer erneuten Erkrankung zu geben. Es wird daher für behandelnde Ärzte empfohlen, dass das Konzept der Genesung auch psychisches Wohlbefinden beinhalten sollte.
Von Personen, die nie verheiratet waren oder nicht mehr verheiratet sind, kann angenommen werden, dass sie möglicherweise eine geringfügig schlechtere Prognose haben als Verheiratete oder in Partnerschaft lebende Personen. Auch das gleichzeitige Auftreten einer Persönlichkeitsstörung bei einer Depression hat einen negativen Einfluss auf das Behandlungsergebnis. Eine Persönlichkeitsstörung steht etwa doppelt so häufig mit einem schlechten Behandlungsergebnis für die Depression in Verbindung wie bei einer Person ohne Persönlichkeitsstörung.
Therapieresistenz
Bei einer Pharmakotherapie spricht man am häufigsten von Therapieresistenz, wenn durch eine Behandlung mit mindestens zwei unterschiedlich wirkenden Antidepressiva in angemessener Dosierung über eine Dauer von jeweils mindestens vier Wochen sich die Symptome nicht verbessern. Bei einer Psychotherapie liegt eine Therapieresistenz vor, wenn innerhalb von mindestens 2 bis 3 Monaten die Symptome nicht um 50 bis 70 Prozent zurückgegangen sind. Neben dieser pauschalen Definition kann Therapieresistenz aber auch detaillierter mit Abstufungen definiert werden.
Bis zu einem Drittel depressiver Patienten sind bei Psychotherapie therapieresistent. Ein Drittel bis die Hälfte spricht nach einer ersten mehrwöchigen Behandlung nicht auf die Medikation an. Mehr als die Hälfte der Patienten erreicht auch nach acht Wochen medikamentöser Behandlung keine Vollremission. Wenn sich durch Medikamenteneinnahme nach zwei bis vier Wochen keinerlei Besserung zeigt, sinkt die Wahrscheinlichkeit, dass sich das ändert.
Suizidgefahr
Man geht davon aus, dass rund die Hälfte der Menschen, die einen Suizid begehen, an einer Depression gelitten haben. Im Jahre 2010 verübten in Deutschland rund 7000 Menschen mit Depression Suizid. Bei der Depression handelt es sich daher um eine sehr ernste Störung, die umfassender Therapie bedarf.
Begleitende Gesundheitsrisiken
Durch häufig ungesünderen Lebensstil leiden Patienten mit Depressionen vermehrt an Folgen von Rauchen, Bewegungsmangel, Ernährungsfehlern und Übergewicht. Zudem gibt es Hinweise darauf, dass unregelmäßige Medikamenteneinnahmen auch ein kardiovaskuläres Risiko darstellen, wodurch eine höhere Anfälligkeit für Schlaganfälle besteht. Dies trifft vor allem für Frauen im mittleren Alter zu.
Die Depression selbst ist ein Risikofaktor für die Entwicklung einer koronaren Herzkrankheit. Als Ursachen hierfür kommen Einflüsse der Depression auf die Steuerung der Hormonregulation in der Nebenniere, Einflüsse auf Immunsystem und Hämostase, aber auch ein ungesünderer Lebensstil oder Nebenwirkungen von Antidepressiva in Frage. Bei einem Patienten mit koronarer Herzkrankheit erhöht die Depression wiederum das Risiko auf einen Myokardinfarkt auf das Drei- bis Vierfache. Weiterhin ist das Risiko eines tödlichen Herzinfarkts erhöht. Studien zeigen, dass trotzdem bei Patienten mit Myokardinfarkt die Depression vielfach unbehandelt bleibt. Eine Behandlung der Depression würde günstige Effekte auf die Heilungsaussichten der Patienten haben.
Gesellschaftliche Dimension
Volkswirtschaftliche Relevanz
Im Jahr 2015 sind im Gesundheitswesen 8,7 Milliarden Euro Kosten entstanden (5,8 Milliarden für Frauen und 2,9 Milliarden für Männer). Schätzungen aus dem Jahr 2008 ergeben Kosten in Deutschland von insgesamt zwischen 15,5 Milliarden Euro und 22,0 Milliarden Euro. Diese Kosten setzen sich aus den direkten Kosten im Gesundheitssystem und den indirekten Kosten wie „Verlust an Produktivitätspotential infolge von Morbidität und Mortalität“ zusammen. Im Jahr 2018 waren nur 12,1 % der Betroffenen, die sich in ambulanter Behandlung befanden, krankheitsbedingt arbeitsunfähig. Frauen und Männer sind im Mittel gleichhäufig betroffen. Menschen mit einer depressiven Episode fallen eher langfristig aus (mehr als sieben Kalenderwochen), wodurch die durchschnittliche Falldauer bei 12,9 Tagen pro Fall liegt und somit teilweise die Diagnosen bösartige Neubildungen (Krebs) und Herz-Kreislauf-Erkrankungen übertrifft.
Stigmatisierung
Bei der Stigmatisierung von Depressiven wurden in empirischen Studien sowohl kulturell übergreifende Muster als auch kulturelle Unterschiede festgestellt. So war das Stigma sowohl in Australien als auch Japan bei Depressionen im Allgemeinen geringer als bei Schizophrenie. Das Vorhandensein von Suizidgedanken hatte keinen großen zusätzlichen Einfluss. In Australien war jedoch fast ein Viertel der Befragten der Meinung, dass eine Person mit Depressionen „sich wieder einkriegen“ könne, wenn sie dies möchte. Die japanischen Zahlen waren weit höher als die von Australien. Fast die Hälfte der Befragten in Japan war der Meinung, dass eine Person mit Depressionen „sich wieder einkriegen kann“. Ein weiteres Ergebnis war, dass 17 % der Australier und 27 % der Japaner sagten, dass sie niemandem erzählen würden, wenn sie an Depressionen leiden, und 30 % der Australier und 58 % der Japaner meinten, dass sie nicht jemanden wählen würden, der eine Depression hat.
Staatliche Maßnahmen
Zur Verbesserung der Rahmenbedingungen hat das Gesundheitssystem seit den 1990er Jahren verschiedene Modellprojekte initiiert. Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales hat den „Schutz der Gesundheit bei arbeitsbedingter psychischer Belastung“ zu einem Hauptziel der gemeinsamen deutschen Arbeitsschutzstrategie ab 2013 erhoben. Das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) hat 2012 das Forschungsprojekt Deprexis zu den Möglichkeiten der Online-Therapie in Auftrag gegeben, was möglicherweise einen Weg darstellen könnte, um Versorgungslücken und lange Wartezeiten auf einen Therapieplatz zu überbrücken.
Die Behandlung depressiver Erkrankungen wurde 2006 als Gesundheitsziel verankert. Zu den Teilzielen gehören Aufklärung, Prävention und Rehabilitation.
Gesetzliche Krankenkassen sind verpflichtet, gemeinnützige Organisationen im Bereich Selbsthilfe zu fördern, im Jahr 2011 betrug diese Förderung insgesamt rund eine halbe Million Euro.
Private Organisationen
Vereine, gemeinnützige GmbH (gGmbH) und Stiftungen befassen sich mit dem Thema Depression. Die Angebote setzen an folgenden Punkten an:
Aufklärung, Interessensvertretung und Vernetzung – hierfür setzen sich beispielsweise das Deutsche Bündnis gegen Depression e. V. oder die Deutsche Depressionsliga ein. 2011 führten diese Organisationen zusammen mit der Stiftung Deutsche Depressionshilfe und Suizidprävention den Patientenkongress Depression ein. Patientenkongresse gibt es für unterschiedlichste Themen, beispielsweise auch Demenz oder Krebs – Ziele sind in der Regel Information und Austausch zwischen Patienten, Wissenschaftlern und Interessensvertretern.
Individuelle Beratung – wird u. a. von lokalen Bündnissen gegen Depression oder Selbsthilfeorganisationen angeboten. Betroffene und Angehörige können sich bei diesen Organisationen informieren, sich mit Menschen in ähnlichen Situationen austauschen oder auch in Akutsituationen um Hilfe bitten, beispielsweise bei der Telefonseelsorge oder dem SeeleFon.
Selbsthilfe – Selbsthilfegruppen sind kein Ersatz für Therapien, aber sie können eine begleitende Hilfe darstellen. Selbsthilfegruppen können als lebenslange Begleitung und Rückzugsorte dienen. Einige Gruppen erwarten keine Voranmeldung, sodass Betroffene spontan bei akuten depressiven Phasen Hilfe suchen können. Als niedrigschwelliges Angebot haben sich Selbsthilfegruppen im ambulanten Bereich etabliert und leisten einen wichtigen Beitrag. In Krankenhäusern und Reha-Kliniken helfen sie Betroffenen, ihre Eigenverantwortung zu stärken und Selbstvertrauen zu erlangen.
Mediale Verarbeitung
Film
Schattenzeit, Dokumentarfilm (2009)
Helen, Film (2009)
Der Biber, Film (2011)
Melancholia, Film (2011)
Cake, Film (2014)
Das dunkle Gen, Dokumentarfilm (2015)
Nicht mehr neben der Spur, Dokumentarfilm (2020)
Öffentliche Wahrnehmung
Bekannte deutschsprachige Personen, die sich in den letzten Jahren – oft in Form von Buchpublikationen – über ihre Erfahrungen mit depressiven Erkrankungen geäußert haben, sind u. a. Maxi Gstettenbauer, Cathy Hummels, Oliver Kahn, Benjamin Maack, Nova Meierhenrich, Tobi Katze, Kurt Krömer, Till Raether, Nico Semsrott, Schlecky Silberstein, Margarete Stokowski, Torsten Sträter, Ronja von Rönne, Nora Tschirner, Heinz Strunk oder Kathrin Weßling. Der Fernsehmoderator Harald Schmidt moderiert seit Juni 2021 den Podcast Raus aus der Depression von NDR Info, in dem er Prominente zu ihrer Erkrankung interviewt und den Psychiater Ulrich Hegerl zu einer wissenschaftlichen Einschätzung befragt.
Siehe auch
Acedia
Dysphorie
E-Mental-Health
NotJustSad, ein Hashtag, unter dem Betroffene auf Twitter über ihre Depressionserkrankungen berichten
Onlineberatung
Literatur
Das Ärztliche Zentrum für Qualität in der Medizin (ÄZQ) stellt in seinen Nationalen Versorgungsleitlinien (NVL) mit der Langfassung ihrer S3-Leitlinie nach den Abschnitten über Grundlagen, Diagnostik, Therapie und Methodik eine umfangreiche Literaturliste über unipolare Depressionen mit über 1.500 wissenschaftlichen Literaturstellen zur Verfügung. Unabhängig davon finden sich u. a. Einführungen, psychoanalytische Schriften und Ratgeberliteratur.
Einführungen
Michael Bauer, Anne Berghöfer, Mazda Adli (Hrsg.): Akute und therapieresistente Depressionen. Pharmakotherapie – Psychotherapie – Innovationen 2., vollständig überarbeitete und erweiterte Auflage. Springer, Berlin 2005, ISBN 3-540-40617-4.
Tom Bschor (Hrsg.): Behandlungsmanual therapieresistente Depression: Pharmakotherapie – somatische Therapieverfahren – Psychotherapie. Kohlhammer, Stuttgart 2008, ISBN 978-3-17-019465-6.
Martin Hautzinger: Kognitive Verhaltenstherapie bei Depressionen. 7. Auflage. Beltz, Weinheim 2013, ISBN 978-3-621-28075-4.
Clark Lawlor: From Melancholia to Prozac: A history of depression. Oxford University Press, Oxford 2012, ISBN 978-0-19-958579-3.
Rainer Tölle, Klaus Windgassen: Psychiatrie: Einschließlich Psychotherapie. 17., überarbeitete und ergänzte Auflage. Springer, Berlin/Heidelberg 2014, ISBN 978-3-642-54699-0.
Psychoanalytische Schriften
Ratgeberliteratur
Barbara Bojack: Depressionen im Alter: ein Ratgeber für Angehörige. Psychiatrie-Verlag, Bonn 2003, ISBN 3-88414-359-X.
Depression erkennen und behandeln. Informationsbroschüre für Patienten und Angehörige, herausgegeben vom Bundesverband für Gesundheitsinformation und Verbraucherschutz – Info Gesundheit. medcom, Bonn 2013, ISBN 978-3-931281-50-2.
Pia Fuhrmann, Alexander von Gontard: Depression und Angst bei Klein- und Vorschulkindern: Ein Ratgeber für Eltern und Erzieher. Hogrefe, Göttingen 2015, ISBN 978-3-8017-2627-0.
Gunter Groen, Wolfgang Ihle, Maria Elisabeth Ahle, Franz Petermann: Ratgeber Traurigkeit, Rückzug, Depression: Informationen für Betroffene, Eltern, Lehrer und Erzieher. Hogrefe, Göttingen 2012, ISBN 978-3-8017-2382-8.
Ulrich Hegerl, Svenja Niescken: Depressionen bewältigen: Die Lebensfreude wiederfinden. 3. Auflage. TRIAS, Stuttgart 2013, ISBN 978-3-8304-6781-6.
Ruedi Josuran, Verena Hoehne, Daniel Hell: Mittendrin und nicht dabei: Mit Depressionen leben lernen (= Econ. Band 71021). Econ-Taschenbuch-Verlag, München 2002, ISBN 3-548-36428-4.
Anke Rohde: Postnatale Depressionen und andere psychische Probleme: Ein Ratgeber für betroffene Frauen und Angehörige. Kohlhammer, Stuttgart 2014, ISBN 978-3-17-022116-1.
Larissa Wolkenstein, Martin Hautzinger: Ratgeber Chronische Depression. Informationen für Betroffene und Angehörige. Hogrefe, Göttingen 2015, ISBN 978-3-8444-2516-1.
S3-Leitlinien
Nationale Versorgungsleitlinie Unipolare Depression. Programm für Nationale Versorgungsleitlinien (NVL), Stand 16. November 2015 awmf.org.
Behandlung von depressiven Störungen bei Kindern und Jugendlichen. Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie (DGKJP), Stand 1. Juli 2013, gültig bis 30. Juni 2018 awmf.org
Weblinks
Depression – redaktionell betreute Linksammlung im Gemeinschaftsprojekt Psychlinker des Leibniz-Zentrum für Psychologische Information und Dokumentation und der Saarländischen Universitäts- und Landesbibliothek
Was ist eine Depression? Informationsportal Neurologen und Psychiater im Netz, herausgegeben von mehreren deutschen und schweizerischen Berufsverbänden und Fachgesellschaften.
Leitliniensynopse für ein DMP Depressionen. Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen, IQWiG-Berichte, Nr. 502, 4. April 2017.
Heike Le Ker: Körper und Psyche: Wie Entzündungen Depressionen auslösen. In: Spiegel Online, 17. April 2015.
Labordiagnostik
IMD Labor Berlin – Diagnostkinformation Nr. 242: Genetische Veränderungen des Neurotransmitter-Haushaltsprädisponieren für depressive Symptomatiken. (PDF; 199 kB) imd-berlin.de; abgerufen am 31. März 2021.
Depression – Diagnostik per Bluttest. (Nach einer Mitteilung der Medizinischen Universität Wien; aus der Zeitschrift Fortschritte der Neurologie und Psychiatrie. Band 82, Nr. 6, Juni 2014, S. 303 doi:10.1055/s-0034-1381274) thieme.de; abgerufen am 31. März 2021.
Einzelnachweise
Affektive Störung
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Q42844
| 186.930651 |
99123
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https://de.wikipedia.org/wiki/Seek%C3%BChe
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Seekühe
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Die Seekühe (Sirenia) sind eine Ordnung pflanzenfressender Säugetiere mit heute noch vier lebenden Arten. Sie werden zur Überordnung der Afrotheria gezählt; unter den heute noch lebenden Tieren sind die Elefanten ihre nächsten Verwandten. Neben den Walen und den Robben sind Seekühe das dritte größere Taxon meeresbewohnender Säugetiere (Meeressäuger). Anders als Robben haben sie keine zur Bewegung an Land geeigneten Gliedmaßen. Im Gegensatz zu Walen halten Seekühe sich stets in Küstennähe, sogar im Süßwasser, und oft in sehr flachem Wasser auf.
Merkmale
Äußere Anatomie
Seekühe sind massige Tiere mit einem zylindrischen Körper. Die rezenten Arten erreichen Körperlängen von 2,50 bis vier Metern, Stellers Seekuh (Hydrodamalis gigas), die im 18. Jahrhundert innerhalb von nur 27 Jahren nach ihrer Entdeckung ausgerottet wurde, wurde sogar bis 8 Meter lang. Dabei variiert das Gewicht bei den rezenten Arten zwischen 250 und maximal 1500 Kilogramm. Die Vorderbeine der Tiere sind zu Flossen umgewandelt, die Hinterbeine sind gänzlich rückgebildet. Eine Rückenfinne wie bei den meisten Walen gibt es nicht, der Schwanz ist zu einer waagerechten Flosse umgebildet. Dabei bildet ein umgebildeter Hautmuskel, der dorsale Musculus panniculus carnosus, den Hauptschlagmuskel der Schwanzflosse. Die Form der Schwanzflosse ist das deutlichste äußere Unterscheidungsmerkmal zwischen den zwei rezenten Familien. Während Gabelschwanzseekühe eine halbmondförmige Fluke besitzen, ist sie bei den Rundschwanzseekühen kreis- oder spatenförmig.
Die Schnauze ist deutlich vom Kopf abgesetzt und stumpf. Sie ist von harten Tasthaaren umgeben. Die Nasenlöcher liegen auf der Oberseite der Schnauze. Verglichen mit dem Rumpf ist der Kopf verhältnismäßig groß, das Gehirn zählt aber mit einem Gewicht von nur 250 bis 350 Gramm im Verhältnis zur Körpergröße zu den kleinsten, die man unter Säugetieren finden kann.
Die Haut ist sehr dick und faltig, wobei bei den heute noch lebenden Seekühen, die in tropischen Gewässern leben, die Epidermis sehr dünn ist. Stellers Seekuh hatte dagegen als Anpassung an die polaren Gewässer eine sehr dichte Epidermis mit bis zu 7,5 Zentimetern Dicke, der sie auch den Namen „Borkentier“ verdankte. Das Fell der Seekühe ist auf wenige Borsten im Bereich der Mundöffnung sowie einzelne Haare am Rumpf beschränkt, Embryonen haben dagegen noch ein vollständiges Haarkleid, und auch bei Neugeborenen sind deutlich mehr Haare vorhanden als bei den ausgewachsenen Tieren.
Bau des Skeletts
Wie bei den Walen kam es auch bei den Seekühen zu einer starken Pachyostose, also einer Dickenzunahme der Knochen des Skeletts, sowie einer Verdichtung der Knochensubstanz, indem die Haversschen Kanäle sowie die Markhöhle reduziert wurden. Das Skelett, und damit das gesamte Tier, wurde dadurch schwerer und der statische Auftrieb im Wasser verringert, zugleich sind die Knochen weniger flexibel und brechen leichter. Der Schädel besitzt eine sehr stark verlängerte, durch das Praemaxillare gebildete Schnauzenregion (Rostrum), welche beim Dugong noch zusätzlich vorn nach unten abgeknickt ist. Die Jochbogen sind sehr breit und liegen relativ hoch am Schädel. An diesen inseriert die sehr massive Kaumuskulatur mit dem großen Musculus masseter. Die Nasenöffnungen liegen sehr weit nach hinten verschoben auf der Dorsalseite des Schädels. Der hintere Teil des Schädels, der aus Hirn- und Schläfenregion gebildet wird, ist vergleichsweise klein.
Die Bezahnung ist bei den einzelnen Taxa unterschiedlich. Bei den Rundschwanzseekühen sind die Schneidezähne zurückgebildet, bei den Dugongs bildet der erste Schneidezahn bei den Männchen einen kurzen Stoßzahn, beim Weibchen bleibt er im Kiefer. Die Eckzähne fehlen bei allen rezenten Arten ganz. Der Zahnwechsel erfolgt wie bei den Elefanten horizontal (Horizontaler Zahnwechsel), dies hat sich in beiden Gruppen allerdings unabhängig voneinander entwickelt. Dabei wachsen die Backenzähne (Prämolaren und Molaren) nacheinander aus dem Kiefer aus und werden an der Vorderkante abgenutzt. Bei den fossilen Stammgruppenvertretern ist das Gebiss noch vollständig erhalten, und damit war nur ein normaler Zahnwechsel möglich. Der vordere Teil des Gaumens ist mit Hornplatten ausgekleidet, die vermutlich beim Fressen helfen. Auch die kurze Zunge ist verhornt.
Die Anzahl der Wirbel ist je nach Art unterschiedlich. Die Rundschwanzseekühe besitzen als einzige Säugergruppe neben dem Hoffmann-Zweifingerfaultier (Choloepus hoffmanni) nur sechs Halswirbel, der Dugong und auch die ausgestorbene Stellers Seekuh haben sieben Halswirbel. Darauf folgen 17 (Trichechus, Hydrodamalis) oder 19 (Dugong) Brustwirbel und zwei (Trichechus) bzw. vier bis fünf (Dugong) Lendenwirbel. Die Rudimente des Beckens sind nicht oder nur durch ein Band mit der Wirbelsäule verbunden, entsprechend ist nur ein Sakralwirbel vorhanden. Der Schwanz besteht aus 22 bis 24 (Trichechus) bzw. 28 bis 29 (Dugong) Schwanzwirbeln.
Das Becken ist bis auf ein Rudiment vollständig reduziert, dabei handelt es sich um eine Spange des Sitzbeins, die im Muskelgewebe eingebettet ist. Die Hinterextremitäten fehlen vollständig. Die Vorderextremitäten sind zu paddelähnlichen Flossen umgebildet. In der Schulter ist das Schlüsselbein (Clavicula) reduziert, und das Schulterblatt (Scapula) kann dreieckig (Trichechus) oder sichelförmig (Dugong) sein. Die Hand besitzt fünf knöcherne Fingerstrahlen, die in Muskulatur eingebettet sind, und alle Gelenke sind im Gegensatz zu denen der Flossen der Wale beweglich.
Innere Anatomie
Die Lunge nimmt bei den Seekühen, wie bei den anderen Säugern auch, den gesamten Raum oberhalb des Zwerchfells ein. Dieses ist jedoch sehr stark in die horizontale Ebene gestreckt und reicht dabei bis kurz vor die Beckenrudimente, wodurch die Lunge im Rückenbereich liegt. Durch diese Lage wird der Auftrieb, der durch die luftgefüllten Lungen erzeugt wird, über die Horizontalebene der Tiere verteilt, was es ihnen ermöglicht, stabil im Wasser zu liegen und zu schwimmen. Das Herz liegt in Kopfnähe zwischen den Lungen und besitzt wie das der Elefanten einen tiefen Einschnitt zwischen den beiden Ventrikeln an der Herzspitze. Dadurch ist es zweizipfelig – ein Merkmal, das sich nur bei ihnen und den Rüsseltieren findet und ihre Verwandtschaft begründet (Autapomorphie).
Der Magen-Darm-Trakt besteht aus einem einkammerigen Magen mit anschließendem Zwölffingerdarm (Duodenum), der eine große Ausbuchtung, die Ampulla duodeni, besitzt, sowie einem daran anschließenden Darm, der etwa das 20-Fache der Körperlänge des Tieres ausmacht. Der Magen und die Ampulla dienen vor allem der Speicherung der aufgenommenen und sehr gut durchgekauten Nahrung, die eigentliche Verdauung findet im anschließenden Darm statt. Die Nahrung braucht im Schnitt fünf Tage, bis sie fertig verdaut ist und ausgeschieden wird.
Die Eierstöcke der Weibchen befinden sich nahe der Bauchwand. Die Gebärmutter ist zweihörnig (Uterus bicornis), wodurch die beiden Hälften durch eine Scheidewand (Septum) getrennt sind. Auch die Hoden der Männchen liegen im Bauchraum, der Penis liegt unter der Bauchhaut in einer eigenen Penisfalte. Die Muskulatur des Penis setzt am Sitzbeinrudiment des Beckens an.
Verbreitung und Lebensraum
Die Verbreitungsgebiete der heute lebenden Seekühe überschneiden sich nicht und liegen teilweise sehr weit voneinander entfernt. So findet man die einzige heute noch lebende Art der Gabelschwanzseekühe (Dugongidae), den Dugong (Dugong dugon), ausschließlich an Meeresküsten des Indischen Ozeans, einschließlich des Roten Meeres, und des südwestlichen Pazifischen Ozeans vor. Die Arten der Rundschwanzseekühe (Trichechidae) leben zum einen im Golf von Mexiko vor den Küsten Floridas und den südöstlichen USA, den Küsten Mittelamerikas und der Karibischen Inseln sowie den nördlichen Küsten Südamerikas (Karibik-Manati, Trichechus manatus), daneben im Gebiet des Amazonas in Südamerika (Amazonas-Manati, Trichechus inunguis) und schließlich an den Küsten Westafrikas zwischen dem Senegal und dem nördlichen Angola und in den dortigen Flusssystemen wie dem Niger und anderen westafrikanischen Flüssen (Afrikanischer Manati, Trichechus senegalensis).
Während alle heute noch lebenden Arten in tropischen Gewässern leben, lag der Lebensraum der ausgestorbenen Stellerschen Seekuh in den polaren Gewässern des Beringmeeres.
Lebensweise
Sowohl über die Lebensweise als auch über das Sozialverhalten der Seekühe ist nur sehr wenig bekannt. Sie leben im Normalfall einzeln oder in kleinen Familienverbänden, manchmal kommt es auch zur Bildung größerer Gruppen mit mehreren hundert Tieren. Dabei gibt es kaum soziale Bindungen mit Ausnahme der Mutter-Kind-Beziehung, die etwa zwei Jahre andauert. Ein Tag-Nacht-Rhythmus ist nicht ausgeprägt, diese Tiere können sowohl am Tag als auch in der Nacht aktiv sein. Die Kommunikation erfolgt vor allem akustisch und taktil. Zwischen Mutter und Kind kommt es zu so genannten Mutter-Kind-Duetten, die in einem Frequenzbereich von 600 bis 6.000 Hertz erfolgen.
Seekühe bewegen sich stets langsam treibend und schwimmend. Dabei kommen ausgewachsene Seekühe etwa alle ein bis fünf Minuten an die Wasseroberfläche, um zu atmen. Ausgedehntere Tauchgänge können bis etwa 20 Minuten dauern. Außer dem Menschen haben Seekühe nur sehr wenige natürliche Feinde. Dazu gehören in den Meeresgebieten vor allem größere Haie und der Große Schwertwal, in den Flüssen vor allem Krokodile und in Südamerika zusätzlich der Jaguar.
Ernährung
Seekühe ernähren sich vorwiegend pflanzlich, ihre Nahrung besteht aus Seegras, Algen und anderen Wasserpflanzen sowie für sie erreichbaren Blättern von Mangrovenbäumen. Manatis brauchen etwa 90 Kilogramm pflanzliche Nahrung an einem Tag, sie sind im Schnitt täglich sechs bis acht Stunden mit Fressen beschäftigt. Während die Manatis vor allem im Bereich der Wasseroberfläche fressen und die Süßwasserarten vor allem Wasserhyazinthen und Grasinseln auch von oben abweiden, fressen Dugongs ausschließlich am Meeresboden. Stellers Seekuh ernährte sich vor allem von Tang.
Unklar ist, in welchem Ausmaß sie auch tierische Nahrung zu sich nehmen. Wohl unbeabsichtigt verzehren sie mit der pflanzlichen Nahrung auch kleine Wirbellose, welche die Tiere mit Protein versorgen. Es gibt Berichte, wonach Tiere in Gefangenschaft mit Begeisterung Fische gefressen haben. In Jamaika wurden Karibik-Manatis beobachtet, die Fische aus Netzen geholt und verzehrt haben.
Fortpflanzung und Entwicklung
Bei den Seekühen gibt es weder eine zeitlich begrenzte Paarungszeit noch ein spezifisches Paarungsverhalten. Das Weibchen hat mehrfach im Jahr einen Eisprung und verpaart sich im Wasser mit mehreren Männchen, wobei keine Rivalenkämpfe ausgetragen werden. Die Zygote bettet sich zentral in die Gebärmutter ein. Die Versorgung des Embryos bzw. Fötus erfolgt über eine Gürtelplazenta (Placenta zonaria). Das Jungtier wird nach etwa 12 bis 14 Monaten Tragezeit im Wasser geboren und schwimmt direkt aktiv zur Wasseroberfläche. Es wiegt zu diesem Zeitpunkt zwischen 10 und 30 Kilogramm. Während der folgenden 18 Monate wird das Jungtier von der Mutter gesäugt, danach bleibt es noch einige Monate im direkten Umfeld der Mutter. Mit sechs bis zehn Jahren werden Seekühe geschlechtsreif, insgesamt erreichen Manatis ein Lebensalter von etwa 40 Jahren und Dugongs eines von 60 Jahren.
Stammesgeschichte
Erste bekannte seekuhartige Fossilien stammen aus dem frühen Eozän Ungarns und sind etwa 50 Millionen Jahre alt. Es handelte sich um vierbeinige Pflanzenfresser, die sich noch an Land bewegen konnten, aber wahrscheinlich bereits hauptsächlich im flachen Wasser lebten. In den kommenden Jahrmillionen waren Seekühe sehr erfolgreich, wie zahllose Fossilienfunde aus den Randbereichen der Tethys belegen. So konnten Fossilien vor allem an den Küsten des heutigen Nordamerika und Europa sowie Nord- und Ostafrika, Indien, Pakistan und Java gefunden werden. Schon bald hatten sich die Hinterbeine der Tiere zurückgebildet, dafür entwickelte sich eine horizontale Schwanzflosse.
Während des Eozäns bildeten sich die Seekuhfamilien der Prorastomidae (†), der Protosirenidae (†) und der Gabelschwanzseekühe. Die Rundschwanzseekühe entstanden je nach Lehrmeinung ebenfalls am Ende des Eozäns oder erst im Miozän (vor etwa 23 Mio. Jahren). Von den beiden erstgenannten Familien findet sich bereits im Oligozän (vor 23 bis 34 Mio. Jahren) keine Spur mehr, so dass es seither nur noch die rezenten Familien der Gabel- und Rundschwanzseekühe gibt. Im Miozän und Pliozän (bis vor etwa 2 Mio. Jahren) waren Seekühe sehr viel häufiger und artenreicher als heute. Vermutlich war der Klimawandel des Pleistozäns mit seinen Eiszeiten verantwortlich dafür, dass sie heute nur noch eine Restgruppe mit wenigen Arten sind.
Systematik
Seekühe haben mit den Rüsseltieren gemeinsame, landlebende Vorfahren und bilden entsprechend die Schwestergruppe dieser Tiere. Das Taxon, das sich aus diesen beiden Gruppen bilden lässt, wird als Tethytheria bezeichnet, da sich diese Gruppe evolutionär am Rande der Tethys entwickelte. Begründet wird die Monophylie der Tethytheria durch eine Reihe von Merkmalen, darunter das Fehlen von Schweißdrüsen, das auf einen semiaquatischen Vorfahren der frühesten Elefanten und Seekühe hinweist.
Als nächste Verwandte der Tethyteria werden die Schliefer diskutiert, wobei diese Diskussion noch nicht vollständig abgeschlossen ist. Zusammen mit diesen und einigen ausgestorbenen Taxa bilden sie das Taxon der Paenungulata, die aufgrund molekulargenetischer Daten in die Überordnung der Afrotheria eingeordnet werden. Innerhalb der Säugetiere ergeben sich entsprechend folgende Verwandtschaftsverhältnisse:
Innerhalb der Seekühe lassen sich zwei Familien unterscheiden:
die Gabelschwanzseekühe (Dugongidae) umfassen heute nur noch eine lebende Art, den Dugong (Dugong dugon). Bis vor etwa 250 Jahren gab es noch eine weitere, heute aber ausgestorbene Art, Stellers Seekuh (Hydrodamalis gigas).
die Rundschwanzseekühe (Trichechidae), auch Manatis genannt, umfassen drei Arten in einer Gattung, den Karibik-Manati (Trichechus manatus), den Amazonas-Manati (Trichechus inunguis) und den Afrikanischen Manati (Trichechus senegalensis). Auf eine weitere Art in einem Nebenfluss des brasilianischen Rio Aripuanã, eine „Zwergseekuh“ mit einer Körperlänge von etwa 1,30 Metern, gibt es Hinweise, eine wissenschaftliche Bestätigung steht allerdings bislang aus.
Gefährdung und Schutz
Alle Arten der Seekühe wurden für den Fleischbedarf von den Bewohnern der Küsten ihrer Verbreitungsgebiete gejagt. Dies ist vor allem für die indigenen Völker der nord- und mittelamerikanischen Küsten dokumentiert. Dabei wurden das Fleisch als Nahrung und die Haut und andere Körperteile für weitere Zwecke genutzt. William Dampier, der als britischer Freibeuter und Reisender bekannt wurde, beschrieb in seinen Reiseberichten 1681 das Karibik-Manati aus dem Golf von Mexiko sowie aus den Flüssen Panamas. Dort schilderte er außerdem die Jagd auf die Tiere durch die Miskito und die anschließende Nutzung des Fleisches als Nahrung sowie der derben Haut als Ruderriemen und als Pferdepeitschen. Dabei ist allerdings keine übermäßige Bejagung bekannt, die Jagd erfolgte im Regelfall für den aktuellen Bedarf. Im Gegensatz dazu wurden Stellers Seekühe von ihrer Entdeckung an durch Robbenjäger verfolgt und in großen Stückzahlen getötet. Die letzten Tiere verschwanden 1768, nur 27 Jahre nach ihrer Entdeckung durch Georg Wilhelm Steller.
Heute werden alle vier lebenden Arten von der IUCN als gefährdet geführt. Die größte Gefährdung geht heute jedoch nicht mehr von einer Bejagung aus, sondern, vor allem für den Karibik-Manati, durch Sportboote, die den Tieren mit ihren Schrauben schwere Verletzungen beim Überfahren zufügen können. Vor allem vor den US-amerikanischen Küsten im Golf von Mexiko wurden aus diesem Grund Schutzgebiete angelegt und durch deutlich sichtbare Schilder kenntlich gemacht; Motorbootverkehr ist in diesen Gebieten nicht erlaubt.
Eine weitere Bedrohung ist das Vordringen des Menschen in ihren Lebensraum; aufgrund ihres Stoffwechsels benötigen Seekühe zur Deckung ihres Energiebedarfs eine immense Menge an Wasserpflanzen und damit verbunden eine entsprechende Wasserqualität, die durch Erschließung ihrer Rückzugsgebiete immer mehr abnimmt. Besonders die Flüsse in Südamerika und Afrika werden immer stärker getrübt und mit Umweltgiften verseucht, pflanzenreiche Rückzugsgebiete werden selten.
Seekühe in Mythologie, Kunst und Literatur
Immer wieder werden die Seekühe mit den Sirenen oder Meerjungfrauen in der griechischen Mythologie in Zusammenhang gebracht. Da jedoch keine Seekuhart im Mittelmeer und damit im Umfeld der Griechen lebt, ist dieser Zusammenhang ausgeschlossen. Vielmehr gab es bereits zu Zeiten der Babylonier, die Zugang zum Verbreitungsgebiet der Dugongs im Roten Meer hatten, Beschreibungen von Fischmenschen, darunter etwa dem Gott Oannes sowie der Göttinnen Atargatis und Derketo, die sich auch bei den Griechen in Form der Nereiden und Tritonen wiederfanden.
Den ersten Zusammenhang zwischen den Seekühen und den mythischen Meerwesen schaffte offensichtlich Christoph Kolumbus, der im Golf von Mexiko auf Karibik-Manatis stieß und diese als Meerjungfrauen beschrieb. Es wird vermutet, dass diese Assoziation vor allem durch die nahezu brustständigen Zitzen und das auf die Entfernung durch die frontal stehenden Augen menschlich wirkende Gesicht bedingt war. Tatsächlich kann man Seekühe aus der Ferne für badende Menschen halten, der Sirenengesang passt allerdings nicht zu den Seekühen. In seinem Logbuch vermerkte Kolumbus 1493, dass die Sirenen der Karibik weniger schön als bei Horaz seien.
Jules Verne griff die Beschreibung der Seekuh als Meerjungfrau in seinem Werk 20.000 Meilen unter dem Meer auf, bei dem die Protagonisten einem riesigen weiblichen Dugong begegnen und ihn als Meerjungfrau identifizieren. In dem Roman wird der Dugong gejagt und harpuniert, schleift danach das Boot (ein Dingi der Nautilus) hinter sich her und attackiert und zerstört nachfolgend das Boot. Auch in Die geheimnisvolle Insel wird der Dugong als aggressives und gefährliches Tier beschrieben, das einen Hund attackiert, danach jedoch selbst Opfer eines größeren Meeresbewohners wird.
Der bekannte Kryptozoologe Bernard Heuvelmans versuchte die Darstellungen der Seekühe als Meerjungfrauen zu erklären und schrieb 1990:
Vor allem Stellers Seekuh erscheint nach ihrer Ausrottung immer wieder in Büchern und Geschichten. So beschreibt etwa Rudyard Kipling in seiner Geschichte Die weiße Robbe aus dem Dschungelbuch, wie die Hauptfigur Kotick auf ihrer Reise eine Gruppe weidender Riesenseekühe trifft, die ihn zu einem wunderschönen Strand führen. Jeremias Gotthelf verwendete in seinem Buch Uli der Pächter folgendes Bild: „nun kam er auf die Glungge wieder gefahren, wie eine gejagte Seekuh durch das Schilf fährt“. Ludwig Büchner verwendet in seinem Werk Kraft und Stoff die Ausrottung von Stellers Seekuh als Argument, um ein zweckbewusstes Handeln der Natur zu verneinen.
Film
Die letzten Paradiese: Geheimnisvolle Welt der Seekühe. Dokumentation, 2004, 45 Min., ein Film von Hans Jöchler, Produktion: Bayerisches Fernsehen.
Einzelnachweise
Literatur
Martin S. Fischer: Sirenia, Seekühe. In: W. Westheide, R. Rieger: Spezielle Zoologie. Teil 2. Wirbel- oder Schädeltiere. Spektrum Akademischer Verlag, München 2004, ISBN 3-8274-0307-3.
Ronald M. Nowak: Walker’s Mammals of the World. Johns Hopkins University Press, Baltimor 1999, ISBN 0-8018-5789-9.
J. Ripple, D. Perrine: Manatees and Dugongs of the world. Voyagour Press, Stillwater 1999. ISBN 0-89658-528-X.
Ann Forsten, Phillip M. Youngman: Hydrodamalis gigas. In: Mammalian Species. The American Society of Mammalogists, New York 1982,165 (pdf; 278 kB).
Sandra L. Husar: Trichechus senegalensis. In: Mammalian Species. The American Society of Mammalogists, New York 1978,89 (PDF; 407 kB).
Sandra L. Husar: Trichechus inunguis. In: Mammalian Species. The American Society of Mammalogists, New York 1977,72 (pdf; 411 kB).
Sandra L. Husar: Trichechus manatus. In: Mammalian Species. The American Society of Mammalogists, New York 1978,93 (pdf; 642 kB).
Sandra L. Husar: Dugong dugon. In: Mammalian Species. The American Society of Mammalogists, New York 1978,88 (pdf; 861 kB).
Weblinks
Sirenian International (englisch)
Zerbrechliche Meeresriesen. Seekühe haben extrem brüchige Knochen, wissenschaft.de, 21. März 2005
„Sleek? Well, No. Complex? Yes, Indeed.“ New York Times, 29. August 2006, mit Audio-Dia-Schau (2:37 Min.)
„Die Seekuh ist zwar groß, fett und faul – aber nicht dumm“, Süddeutsche Zeitung, 29. August 2006, Kurzfassung des NYT-Artikels
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Q25431
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200953
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https://de.wikipedia.org/wiki/Gujarat
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Gujarat
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Gujarat (; ) ist ein indischer Bundesstaat mit einer Fläche von 196.024 km² und 60,4 Millionen Einwohnern (Volkszählung 2011). Hauptstadt des Staates ist Gandhinagar, die wirtschaftlich bedeutendste Stadt ist Ahmedabad.
Geografie
Lage
Gujarat grenzt an die indischen Bundesstaaten Rajasthan (Norden), Madhya Pradesh (Osten) und Maharashtra (Südosten) sowie an die pakistanische Provinz Sindh im Nordwesten und das Arabische Meer im Süden. Drei der vier Gebiete des Unionsterritoriums Dadra und Nagar Haveli und Daman und Diu werden von Gujarat vollständig umschlossen. Das vierte dieser Gebiete liegt zwischen Gujarat und Maharashtra.
Küsten, Berge und Flüsse
Gujarat besitzt eine Küstenlänge von ungefähr 1600 Kilometer, mehr als alle anderen indischen Bundesstaaten. Die Küste umfasst unter anderem den Golf von Kachchh und den Golf von Khambhat, welche die Halbinsel Kathiawar begrenzen. Eine bemerkenswerte Salzmarschlandschaft bildet der Rann von Kachchh an der pakistanischen Grenze. Obwohl andere bekannte Gebirgsketten Nordindiens (Aravalli-, Vindhya- und Satpura-Gebirge) noch mit einem Zipfel in Gujarat liegen, ist der höchste Bergstock Gujarats der Girnar (1117 Meter). Wichtigster Fluss Gujarats ist der im südlichen Aravalli-Gebirge entspringende und durch die Millionenstadt Ahmedabad fließende Sabarmati, aber auch die aus Zentralindien kommenden Flüsse Mahi, Narmada und Tapti münden in den Golf vom Khambhat.
Tier- und Pflanzenwelt
Gujarat ist der letzte natürliche Lebensraum für Löwen außerhalb Afrikas (Asiatischer Löwe Panthera leo persica). Zählungen im Jahre 2005 ergaben, dass die kleine Population an Löwen im Gir-Nationalpark wieder gewachsen ist, eine Auswirkung der Bemühungen der Regierung für einen Schutz gegen Wilderer.
Größte Städte
(Stand: Volkszählung 2011)
Bevölkerung
Demografie
Laut der indischen Volkszählung 2011 hat Gujarat 60.383.628 Einwohner. Damit ist Gujarat gemessen an der Einwohnerzahl der neuntgrößte Bundesstaat Indiens. Die Bevölkerungsdichte beträgt 308 Einwohner pro Quadratkilometer und ist damit niedriger als der Durchschnitt Indiens (382 Einwohner pro Quadratkilometer). Die Einwohnerzahl Gujarats ist stark ansteigend: Zwischen 2001 und 2011 nahm sie um 19,2 Prozent zu. Damit liegt die Wachstumsrate über dem Landesdurchschnitt von 17,6 Prozent im Vergleichszeitraum. 42,6 Prozent der Einwohner Gujarats leben in Städten. Der Urbanisierungsgrad ist damit deutlich höher als der Landesdurchschnitt von 31,2 Prozent.
79,3 Prozent der Einwohner Gujarats können lesen und schreiben (Männer 87,2 Prozent, Frauen 70,7 Prozent). Die Alphabetisierungsrate liegt damit über dem Landesdurchschnitt von 74,0 Prozent (Stand jeweils Volkszählung 2011).
Minderheiten
Die Einwohner Gujarats bezeichnen sich als Gujarati. Eine Minderheit unter der Bevölkerung des Bundesstaates stellen die Adivasi (Angehörige der indigenen Stammesbevölkerung). Die indische Volkszählung 2001 klassifiziert 14,8 Prozent der Einwohner Gujarats als Angehörige der Stammesbevölkerung (scheduled tribes). Die größte Gruppe stellen dabei die Bhil, die fast die Hälfte der Adivasi-Bevölkerung Gujarats ausmachen. Der Rest verteilt sich auf eine Reihe kleinerer Stämme. Die Adivasi konzentrieren sich vor allem auf die Berggegenden im Osten Gujarats. In den Distrikten Dang, Narmada, Dahod und Valsad stellen sie die Bevölkerungsmehrheit.
Bevölkerungsentwicklung
Zensusbevölkerung von Gujarat seit der ersten indischen Volkszählung im Jahr 1951.
Mädchentötungen und geschlechtsspezifische Abtreibungen
Gujarat galt und gilt neben dem indischen und dem pakistanischen Punjab und Haryana als eine Hochburg der Mädchentötungen (weiblicher Infantizid) und selektiver Abtreibungen. Schon 1817 wurde von der britischen Kolonialverwaltung berichtet, dass im verzweigten Clan der Maharadschas der Jadega-Rajputen häufig nur männliche Nachkommen überlebten. Die Gründe dafür waren rein ökonomischer Art: Es ging reichen Landeigentümern vor allem darum, die Aufsplitterung des Landbesitzes zu verhindern. Die Tötungen betrafen vor allem legitime Kinder, nicht die von Konkubinen, da diese nicht erbberechtigt waren. Heute häufen sich Todesfälle von Mädchen im ersten Lebensjahr in den Städten. Sie verhalten sich etwa wie 3:2 zu den Todesfällen von Jungen; damit ist heute das ungleiche Verhältnis in den Städten sogar deutlich stärker ausgeprägt als auf dem Land, was zeigt, dass die Problematik trotz relativen Reichtums des Provinz und anhaltendem Modernisierungsprozess immer noch besteht.
Sprachen
Die Hauptsprache Gujarats ist das Gujarati, nach dessen Sprachgrenzen der Bundesstaat 1960 gebildet wurde. Es gehört zur Gruppe der indoarischen Sprachen und wird in einer eigenen Schrift, der Gujarati-Schrift, geschrieben. Nach der Volkszählung 2001 wird Gujarati von 84,5 Prozent der Einwohner Gujarats als Muttersprache gesprochen. 4,8 Prozent der Bevölkerung sprechen Bhili, die Sprache des Adivasi-Volks der Bhil. Vor allem unter Einwanderern aus anderen Landesteilen ist Hindi, die meistgesprochene Sprache Indiens, verbreitet, seine Sprecher machen 4,7 Prozent der Bevölkerung aus. 1,9 Prozent der Einwohner Gujarats werden als Sindhi-Muttersprachler verzeichnet, hierunter fallen auch die Sprecher des in der Kachchh-Region verbreiteten Kachchhi-Dialekts. Marathi, die Sprache des Nachbarbundesstaates Maharashtra, wird von 1,5 Prozent der Bevölkerung gesprochen. Unter den Muslimen Gujarats ist teilweise Urdu verbreitet, dessen Sprecher 1,2 Prozent der Bevölkerung ausmachen.
Alleinige Amtssprache Gujarats ist das Gujarati. Englisch ist wie in ganz Indien als Verkehrs- und Bildungssprache präsent.
Religionen
Die große Mehrheit der Einwohner Gujarats sind Hindus. Nach der Volkszählung 2011 stellen sie 89 Prozent der Bevölkerung. Die größte Minderheit sind die Muslime mit knapp 10 Prozent der Bevölkerung. Kleinere Minderheiten stellen Jainas mit 1,0 Prozent und Christen mit 0,5 Prozent. Eine numerisch sehr kleine, aber historisch bedeutende Minderheit stellen die Parsen dar.
Geschichte
Vom 8. bis zum 13. Jahrhundert wurde das Land nacheinander von drei miteinander verwandten hinduistischen Dynastien regiert: Chavda, Solanki, Vaghela. Um 1300 wurde es von den Moslems erobert, und im 15. und 16. Jh. existierte dort das Sultanat Gujarat. 1576 wurde das Sultanat von Akbar I. erobert und in das Mogulreich eingegliedert.
Nachdem sich der Bundesstaat Bombay 1956 um das gesamte Gebiet des heutigen Maharashtras vergrößerte, wurde Bombay entlang der Sprachgrenze am 1. Mai 1960 in die Bundesstaaten Gujarat und Maharashtra geteilt.
Am 26. Januar 2001 erschütterte ein Erdbeben der Stärke 7,7 die Region. Etwa 20.000 Menschen starben und 200.000 wurden verletzt. Die wirtschaftliche Entwicklung des Gebietes wurde um ein Jahrzehnt zurückgeworfen.
Am 27. Februar 2002 wurden bei einem Anschlag auf einen Zug mit hinduistischen Pilgern mindestens 57 Menschen getötet, darunter 25 Frauen und 15 Kinder. In der Folge kam es zu gewalttätigen Ausschreitungen zwischen Hindus und Moslems, bei denen nach offiziellen Schätzungen 254 Hindus und 790 Muslime getötet wurden. Die Ausschreitungen zählen zu den schlimmsten und brutalsten seit der indischen Unabhängigkeit, insbesondere Frauen wurden Opfer von Verstümmelungen, Folter und Massenvergewaltigungen.
Politik
Politisches System
Die Legislative Gujarats besteht aus einem Einkammernparlament, der Gujarat Legislative Assembly oder Gujarat Vidhan Sabha. Die 182 Abgeordneten des Parlaments werden alle fünf Jahre durch Direktwahl bestimmt. Das Parlament hat seit 1970 seinen Sitz in der Hauptstadt Gandhinagar, die nach der Gründung des Bundesstaates Gujarat als Planstadt angelegt wurde. Zuvor war Ahmedabad von 1960 bis 1970 Interimshauptstadt gewesen.
Der Chief Minister (Regierungschef) Gujarats, wird vom Parlament gewählt. An der Spitze des Bundesstaats steht jedoch der vom indischen Präsidenten ernannte Gouverneur (Governor). Seine Hauptaufgaben sind die Ernennung des Chief Ministers und dessen Beauftragung mit der Regierungsbildung. Seit Juli 2019 bekleidet Acharya Devvrat dieses Amt. Höchster Gerichtshof Gujarats ist der High Court of Gujarat mit Sitz in Ahmedabad.
Gujarat stellt 26 Abgeordnete in der Lok Sabha, dem Unterhaus des indischen Parlaments, und elf in der Rajya Sabha, dem indischen Oberhaus.
Parteien
Gujarat wird bereits seit 1997 durchgängig von der hindu-nationalistischen Partei Bharatiya Janata Party (BJP) regiert. Von 2001 bis 2014 bekleidete der BJP-Politiker Narendra Modi das Amt des Chief Ministers. Modi ist wegen seiner Rolle während der schweren Unruhen zwischen Hindus und Muslimen in Gujarat, die während seiner Regierungszeit im Jahr 2002 mehr als 1000 Menschenleben forderten, umstritten, brachte es aber wegen des wirtschaftlichen Erfolgs Gujarats unter seiner Regierung zu großer Popularität. Er konnte seine Partei zu drei aufeinanderfolgenden Wahlsiegen im Bundesstaat führen und wurde nach dem Wahlsieg der BJP 2014 zum gesamtindischen Premierminister gewählt. Nach dem Aufstieg Modis zum Premierminister übernahm seine Parteikollegin Anandiben Patel das Amt des Chief Ministers von Gujarat. Sie trat jedoch Anfang August 2016 von ihrem Amt zurück (offiziell aus Altersgründen). Danach wurde ihr Parteikollege Vijay Rupani Chief Minister.
Bei der Parlamentswahl in Gujarat im Dezember 2012 gewann die BJP 115 von 182 Wahlkreisen. Als wichtigste Oppositionskraft folgte der Indische Nationalkongress (INC) mit 61 Mandaten. Die Regionalpartei Gujarat Parivartan Party (GPP), die der frühere BJP-Politiker und Chief Minister Keshubhai Patel kurz vor den Wahlen gegründet hatte, kam auf zwei Sitze. Weiterhin waren im Parlament die beiden überregionalen Parteien Nationalist Congress Party (NCP) und Janata Dal (United) (JD(U)) mit zwei bzw. einem Abgeordneten sowie ein unabhängiger Kandidat vertreten. Die folgende Wahl 2017 wurde erneut von der BJP gewonnen, mit allerdings geringerer Mehrheit als 2012. Am 11. September 2021 trat Vijay Rupani als Chief Minister zurück. Sein Nachfolger im Amt wurde Bhupendra Patel.
Bei der Parlamentswahl in Gujarat am 1. und 5. Dezember 2022 konnte die BJP ihre parlamentarische Mehrheit ausbauen und gewann mit 52,5 % der Wählerstimmen 156 der 182 Wahlkreismandate (85,7 %). Die Kongresspartei erhielt mit 27,7 % der Stimmen 17 Mandate. Als neue politische Kraft zeigte sich die „Anti-Korruptions-Partei“ Aam Aadmi Party (AAP), die bei 12,9 % Stimmenanteil fünf Wahlkreise gewann. Die Samajwadi Party (SP) gewann ein Mandat und drei Mandate gingen an parteilose Bewerber.
Bei der gesamtindischen Parlamentswahlen 2014 und 2019 konnte die BJP an ihre vorigen Erfolge in Gujarat anschließen: sie gewann in dem Bundesstaat jeweils alle 26 Wahlkreise.
Verwaltungsgliederung
Distrikte
Der Bundesstaat Gujarat ist in folgende 33 Distrikte untergliedert (Einwohnerzahl, Fläche und Bevölkerungsdichte nach der Volkszählung 2011):
*: nach 2011 gegründete Distrikte
Entwicklung der Distrikteinteilung
Während des Bestehens von Gujarat vergrößerte sich die Anzahl der Distrikte von anfänglich 17 auf 33.
1964: Bildung des Distrikts Gandhinagar aus Teilen der Distrikte Ahmedabad und Mehsana
1966: Bildung des Distrikts Valsad aus Teilen des Distrikts Surat
2. Oktober 1997:
Bildung des Distrikts Anand aus Teilen des Distrikts Kheda
Bildung des Distrikts Dahod aus Teilen des Distrikts Panchmahal
Bildung des Distrikts Narmada aus Teilen der Distrikte Bharuch und Vadodara
Bildung des Distrikts Navsari aus Teilen des Distrikts Valsad
Bildung des Distrikts Porbandar aus Teilen des Distrikts Junagadh
2000: Bildung des Distrikts Patan aus Teilen der Distrikte Banaskantha und Mehsana
2. Oktober 2007: Bildung des Distrikts Tapi aus Teilen des Distrikts Surat
15. August 2013:
Bildung des Distrikts Aravalli aus Teilen des Distrikts Sabarkantha
Bildung des Distrikts Botad aus Teilen der Distrikte Ahmedabad und Bhavnagar
Bildung des Distrikts Chhota Udepur aus Teilen des Distrikts Vadodara
Bildung des Distrikts Devbhumi Dwarka aus Teilen des Distrikts Jamnagar
Bildung des Distrikts Mahisagar aus Teilen der Distrikte Kheda und Panchmahal
Bildung des Distrikts Morbi aus Teilen der Distrikte Rajkot, Surendranagar und Jamnagar
Bildung des Distrikts Gir Somnath aus Teilen des Distrikts Junagadh
Wirtschaft
Mit einem Pro-Kopf Bruttoinlandsprodukt von 106.831 Rupien (2.337 US-Dollar) im Jahre 2015 lag Gujarat auf Platz 6 von 29 indischen Bundesstaaten. Die Entwicklungsindikatoren des Staates liegen generell im indischen Durchschnitt oder darüber. In der Regierungszeit von Narendra Modi, der von 2001 bis 2014 Chief Minister von Gujarat war und dann Premierminister von Indien wurde, galt der Bundesstaat als einer der wirtschaftlich dynamischsten des Landes.
Mit einem Wert von 0,651 erreicht Gujarat 2015 den 16. Platz unter den 29 Bundesstaaten Indiens im Index der menschlichen Entwicklung. Der indische Durchschnittswert liegt bei 0,624.
Erneuerbare Energien
In Gujarat gibt es ca. 458 km offene Hauptkanäle. Inklusive aller Seitenarme beläuft sich die Kanallänge aktuell auf 19.000 km. Nach Fertigstellung des SSNNL-Kanalnetzes wird dieses ca. 85.000 km umfassen. Einige offene Kanäle für die Trinkwasserversorgung wurden in einem Pilotprojekt mit Solarmodulen überdeckt. Der indische Bundesminister für erneuerbare Energien, Farooq Abdullah unterstützte das innovative Projekt in der Presse.
Das größere Dorf Modhera im Distrikt Mehsana wurde bis 2022 in einem Modellprojekt zum ersten rein durch Sonnenenergie versorgten Dorf Indiens ausgebaut.
Weblinks
Offizielle Webseite der Regierung von Gujarat
2002 Gujarat violence in der englischsprachigen Wikipedia; über Ausschreitungen in Gujarat
Arundhati Roy: Essay über die Hintergründe der Ausschreitungen in Gujarat (Mai 2002, englisch)
Eric Töpfer: Land und Leute in Gujarat. suedasien.info
Einzelnachweise
Indischer Bundesstaat
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Q1061
| 697.121016 |
939382
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https://de.wikipedia.org/wiki/Tainan
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Tainan
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Tainan () ist die älteste und mit rund 1,9 Millionen Einwohnern sechstgrößte Stadt Taiwans. Die im Südwesten Taiwans liegende Stadt ist eine der sechs regierungsunmittelbaren Städte des Landes.
Geschichte
Archäologische Ausgrabungen im Stadtbezirk Zuozhen legen nahe, dass die Region des heutigen Tainan seit mindestens 20.000 bis 31.000 Jahren bewohnt ist. Der einheimische Siraya-Stamm beherrschte die Region im 16. Jahrhundert. Das Sakam-Volk des Sinkan-Substammes bewohnte das Gebiet der heutigen Stadt. Andere sirayanische Stämme, darunter die Soelangh, Mattauw und Baccloangh, besiedelten die Umgebung.
Tainan wurde in den 1620er-Jahren wegen der günstigen Hafenlage als niederländische Kolonialstadt errichtet. Frühe holländische Kolonisten hatten versucht, Macau und die Penghu-Inseln zu kontrollieren, konnten sich jedoch nicht halten. Im Juli 1622 segelte daher der Textilhändler Cornelis Reyersz von der Niederländischen Ostindien-Kompanie nach Taiwan, um einen geeigneten Standort zur Errichtung eines Handelspostens zu finden. 1624 gründete er auf der sandigen Halbinsel Tayouan (das heutige Anping, welches ein Bezirk von Tainan ist) eine kleine Festung namens „Orange“. Das Fort wurde dann erweitert und in Fort Zeelandia umbenannt. Die Siedlung war ursprünglich als Stützpunkt und Basis für einen Angriff auf die spanischen Rivalen und als Handelsposten zwischen China und Batavia in Indonesien konzipiert. Während der Amtszeit von Pieter Nuyts (1627–1629) kam es zwischen den niederländischen und japanischen Händlern zu Feindseligkeiten, was dazu führte, dass Nuyts von einem japanischen Händler, Hamada Yahee, als Geisel genommen wurde. 1662 vertrieb Zheng Chenggong die niederländische Garnison und 1684 wurde Tainan (unter dem Namen Taiwan-Fu, „Regierung Taiwans“) die Hauptstadt der Präfektur Taiwan.
Damals gab es im Bereich des heutigen Tainan die Taijiang-Lagune (), die durch eine lange Nehrung vom offenen Meer abgeschirmt war, und Fort Zeelandia lag an einer der Lagunen-Ausfahrten. Nach einem Sturm und einer großen Überflutung im Jahr 1823 änderte der Fluss Zengwen seinen Lauf, was zur Folge hatte, dass große Mengen Sediment in die Lagune eingetragen wurden und diese allmählich verlandete. Als Überreste des einstigen ‚Binnenmeeres‘ existieren heute noch die Sicao-Lagune im Bezirk Annan, die Qigu-Lagune im gleichnamigen Bezirk und die Kunshen-Lagune im Südbezirk.
Erst im 19. Jahrhundert wurde Taipeh im Norden der Insel Hauptstadt. Während der Zeit der japanischen Herrschaft in Taiwan (1895–1945) wurde Tainan zunehmend im Wachstum von dem weiter südlich gelegenen Kaohsiung (1895–1945: Takao), dessen Hafen und Industrie systematisch ausgebaut wurden, überflügelt. Ab dem 1. Oktober 1920 war Tainan Verwaltungssitz der Präfektur Tainan. Nach Ende der japanischen Herrschaft und der Übernahme der Insel Taiwan durch die Republik China wurde die Präfektur am 7. Januar 1946 in den Landkreis Tainan transformiert. Die Städte Tainan und Chiayi wurden aus dem Landkreis ausgegliedert und erhielten den Status von kreisfreien Städten. Am 25. Oktober 1950 wurden vom Landkreis Tainan die nördlichen Anteile als neue Landkreise Chiayi und Yunlin abgespalten. Die Grenzen von Stadt und Landkreis Tainan blieben danach unverändert, bis der Landkreis am 25. Dezember 2010 aufgelöst und an die Stadt angegliedert wurde. Diese erhielt danach den Status einer regierungsunmittelbaren Stadt. Alle bisherigen Landkreisgemeinden erhielten den Status von Stadtbezirken.
Am 6. Februar 2016 war die Stadt von dem Erdbeben in Kaohsiung 2016 betroffen, das zu Schäden an Bauten und Infrastruktur führte und 116 Menschenleben forderte.
Tainan ist heute eine moderne Großstadt, die unter anderem die Cheng-Kung-Nationaluniversität beherbergt. Bei aller Modernität ist die Vergangenheit hier noch überall lebendig: Alte Tempel, Überreste von mehr als 300 Jahre alten Forts und Gebäude aus der Zeit der japanischen Herrschaft zeugen sowohl von der Verbundenheit Taiwans mit der chinesischen Kultur als auch von der wechselhaften und vielfältigen Geschichte der Insel.
Geographie
Das Gebiet der Stadt wird begrenzt vom Landkreis Chiayi im Norden und der Stadt Kaohsiung im Süden und Osten. Im Nordwesten grenzt sie an die Formosastraße. Der westliche Teil gehört zur intensiv landwirtschaftlich genutzten Jianan-Ebene, der größten Ebene Taiwans. Östlich schließt sich eine Hügellandschaft an, im äußersten Osten befinden sich Ausläufer des Alishan-Gebirges. Das Küstengebiet ist von zahlreichen Lagunen und Kanälen durchzogen. Im Küstenbereich hat Tainan Anteil am Taijiang-Nationalpark.
Klima
Die Jahresmitteltemperatur beträgt etwa 24 °C und der Jahresniederschlag liegt bei 1700 mm. Das Klima Tainans ist stark durch den Südwest-Monsun geprägt, der in den Sommermonaten Mai bis August den meisten Regen bringt. Der Nordost-Monsun, der in den Monaten Oktober bis März weht, verliert dagegen seine Regenwolken schon an der Nordwestküste Taiwans bzw. im Zentralgebirge. Im Ergebnis sind die Sommer in Tainan subtropisch bis tropisch warm und regenreich, die Wintermonate milde und trocken. Die Taifun-Saison, in der tropische Stürme auftreten können, dauert von Juli bis Oktober.
Verkehr
Die wichtigsten Verkehrsachsen Westtaiwans durchqueren Tainan. Tainan verfügt über einen Bahnhof mit Zugverbindungen nach Norden (Keelung/Taipeh/Taichung) und Süden (Kaohsiung, Pingtung). Die Taiwanische Hochgeschwindigkeitsbahn (THSR) verläuft außerhalb des Stadtzentrums. Der einzige Bahnhof liegt nahe dem Technologiepark Tainan im südlichen Stadtbezirk Guiren (Expresszüge halten nicht).
Autobahnen und Express-Straßen verbinden Tainan mit anderen Orten auf Taiwan. Tainan hat einen Seehafen und mehrere kleinere Fischereihäfen zur Formosastraße.
Ein Militärflugplatz bei der Stadt wird auch als ziviler Flughafen Tainan genutzt und von lokalen Fluggesellschaften wie TransAsia Airways angeflogen.
Administrative Gliederung
Am 25. Dezember 2010 wurde der umliegende Landkreis Tainan in die Stadt Tainan eingegliedert. Dadurch wurde die Einwohnerzahl von knapp 800.000 auf knapp 1,9 Millionen mehr als verdoppelt, die Stadtfläche von 175,6 km² auf 2.191 km² mehr als verzehnfacht.
Die vergrößerte Stadt Tainan ist in 37 Bezirke () eingeteilt. Sechs Bezirke gehören zu der im Südwesten des Stadtgebiets gelegenen „Kernstadt“ und weitere 31 Bezirke sind aus den zuvor eigenständigen Städten und Gemeinden des Landkreises Tainan hervorgegangen.
Wirtschaft
Im Stadtgebiet von Tainan gibt es insgesamt sechs Fischereihäfen (): zwei im Bezirk Beimen (Heliao () und Beimen ()), zwei im Bezirk Jiangjyun (Jiangjyun () und Qingshan ()), und je einer im Bezirk Qigu (Xiashan ()) und im Bezirk Annan (Sihcao ()). Außerdem fungiert auch der Hafen Anping () als Fischereihafen.
Universitäten und Hochschulen
Tainan ist Sitz mehrerer Universitäten und Hochschulen.
Cheng-Kung-Nationaluniversität (NCKU)
Süd-Taiwan-Universität für Naturwissenschaft und Technik (STUST)
Christliche Chang-Jung-Universität (CJCU)
Kun-Shan-Universität (KSU)
Nationaluniversität Tainan (NUTN)
Nationale Kunstuniversität Tainan (TNNUA)
Technische Universität Tainan (TUT)
Fernost-Universität (FEU)
Kang-Ning-Universität (UKN)
Chia-Nan-Universität für Pharmazie und Naturwissenschaft (CHNA)
Chung-Hwa-Universität für Medizintechnik (HWAI)
Nan-Jeon-Universität für Naturwissenschaften und Technik (NJU)
Shoufu-Universität Taiwan (TSU)
Tempel
Einige der mehr als dreihundert Tempel Tainans zählen zu den am besten erhaltenen Beispielen traditioneller chinesischer Kultur in Taiwan. Bedeutende Tempel sind unter anderem der Konfuzius-Tempel in der Nanmen-Straße aus dem Jahre 1665, der Kuanti-Tempel in der Yungfu-Straße, in dem Beamte der Qing-Dynastie feierliche Riten zu Ehren des Kriegsgottes abhielten, und der benachbarte Tempel der großen Himmelskaiserin, von dem es heißt, er habe die schönsten Tempelschnitzereien in ganz Taiwan, sodann der Wufei-Tempel in der Wufei-Straße, der den fünf Konkubinen gewidmet ist, die lieber mit ihrem Prinzen sterben wollten und Selbstmord begingen als sich der neuen Qing-Dynastie zu ergeben, und schließlich an der Kaishan-Straße der Schrein des Zheng Chenggong (Koxinga), eines Getreuen der Ming-Dynastie, der im Jahre 1661 die Holländer aus Taiwan vertrieb.
Die beiden neueren Tempel am Hirschohrtor sind einmal der Matsu-Tempel (erbaut 1684, mit seinem um etwa dieselbe Zeit entstandenen Bildnis der Göttin) und zum anderen der Tempel der heiligen Mutter, ein eindrucksvoller Gebäudekomplex, der von den besten Künstlern Taiwans geschaffen wurde.
Partnerstädte
Tainan hat offizielle Kontakte zu vielen Städten oder anderen staatlichen Verwaltungseinheiten im In- und Ausland aufgenommen. Es werden Schwesterstädte und Freundschaftsstädte unterschieden. Im Folgenden sind beide mit Datum des Abschlusses des Abkommens aufgeführt.
Schwesterstädte
Freundschaftsstädte
Museen
Chimei Museum
Söhne und Töchter der Stadt
Jen-Hsun Huang (* 1963), Unternehmer
Enzo (* 1973), taiwanischer Autor und Illustrator von Bilderbüchern
Wang Shi-ting (* 1973), Tennisspielerin
Wang Chien-ming (* 1980), Baseballspieler (Washington Nationals)
Huang Yi-Hua (* 1984), Tischtennisspielerin
Huang Liang-chi (* 1992), Tennisspieler
Tzuyu (* 1999), taiwanische Popsängerin und Mitglied der südkoreanischen Girlgroup Twice
Weblinks
Offizielle Website der Stadt (englisch)
Einzelnachweise
Ort auf Taiwan
Regierungsunmittelbare Stadt in der Republik China
Ort mit Seehafen
Millionenstadt
Ehemalige Hauptstadt (China)
Hochschul- oder Universitätsstadt
Gegründet 1624
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Q140631
| 126.185771 |
11464
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https://de.wikipedia.org/wiki/Infektionskrankheit
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Infektionskrankheit
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Eine Infektionskrankheit, Infektionserkrankung oder Ansteckungskrankheit (auch ansteckende Krankheit) ist eine durch Krankheitserreger (Bakterien, Pilze oder Viren) hervorgerufene Erkrankung bei Menschen, Tieren oder Pflanzen. Sie ist aber nicht einer Infektion gleichzusetzen, da nicht jede Infektion zwangsläufig zu einer Erkrankung führt.
Infektionskrankheiten zeigen ein breites Spektrum von zeitlichen Verläufen und Symptomen. Diese sind für den Erreger oftmals spezifisch. Sie können hochakut in wenigen Tagen entstehen oder sich über Wochen, Monate und manchmal Jahre hinweg langsam entwickeln. Es gibt lokalisierte – also auf konkrete Körpergebiete beschränkte – und generalisierte Infektionskrankheiten. Einige laufen bei einer nicht immungeschwächten Person nahezu unbemerkt (inapparent) ab oder äußern sich nur in leichten, unspezifischen Störungen des Allgemeinbefindens, oder bis hin zu hochgradiger Erschöpfung (Prostration). Andere Krankheiten entwickeln ein hochdramatisches Krankheitsbild. Auf diese meist schwer verlaufenden, septischen Infektionskrankheiten reagiert der Körper mit einem als systemisches inflammatorisches Response-Syndrom bezeichneten Reaktionsmuster, zu dem Fieber, beschleunigter Puls, erhöhte Atemfrequenz, auch Durst und Ruhebedürfnis gehören. Tödliche Ausgänge beruhen meist auf einem Kreislaufversagen.
Ausschlaggebend für den Verlauf und die Prognose einer Infektionskrankheit ist die Fähigkeit des Immunsystems, den Erreger zu eliminieren. Die Medizin hält für viele erregerbedingte Krankheiten spezifische Gegenmittel bereit (Antibiotika gegen Bakterien, Antimykotika gegen Pilze und Virostatika gegen Viren). Gegen einige Erreger gibt es die Möglichkeit der vorbeugenden Impfung. Aber auch heute können manche Infektionskrankheiten nicht definitiv geheilt werden.
Mit den grundsätzlichen Mechanismen von Infektionen und Infektionskrankheiten (wie Inkubation, Übertragbarkeit, Epidemiologie und Immunität) befassen sich die Infektiologie, die Infektionsbiologie und die Immunologie. Behandelt werden Infektionskrankheiten von der klinischen Infektiologie.
Geschichte
Äußerlich sichtbare Verletzungen werden schon seit der Jungsteinzeit erkannt und behandelt. Bei inneren Erkrankungen oder Seuchen ohne erkennbare Ursache suchte man übernatürliche Quellen und betrachtete sie als Werk erzürnter Götter. Die Heilungsversuche konzentrierten sich daher auf Beschwörungen, Gebete und Opfergaben.
Durch die Paläopathologie konnten Knochenveränderungen durch die Infektionskrankheiten Tuberkulose (bei ägyptischen Mumien) und Lepra (bei mittelalterlichen Relikten) festgestellt werden. An der Mumie von Ramses II. (13. Jh. v. Chr.) konnten Pockennarben diagnostiziert werden.
Hippokrates von Kos (460–377 v. Chr.) gilt als Begründer der Lehre von den Miasmen, den giftigen Ausdünstungen des Bodens, die mit der Luft fortgetragen und so zur Weiterverbreitung von Krankheiten beitragen sollten. Gemeinsam mit der Miasmentheorie wuchs auch das Wissen um die Kontagiosität. Die Übertragung eines unbelebten Stoffes von einem kranken auf einen gesunden Menschen sollte die Krankheit zum Ausbruch bringen.
Die Idee von lebenden Krankheitserregern taucht erstmals im 1. Jahrhundert v. Chr. auf. Marcus Terentius Varro (* 116 v. Chr.) meinte, dass die Luft der Sümpfe verderblich sei, weil sie von winzigen Tierchen geschwängert wäre, die in die Nase, in den ganzen Körper eindrängen. Erst durch die Erfindung des Mikroskops gelang der direkte Nachweis. Antoni van Leeuwenhoek (1632–1723) fand, dass die Puppen der Flöhe von winzigen Milben angegriffen werden. Der Jesuit Athanasius Kircher (1601–1680) veröffentlichte die Entdeckung massenhaft kleinster Würmer, die er in der Luft, im Wasser, im Boden, in Milch, Käse, faulen Pflanzenteilen sowie im Blut und im Eiter Pestkranker gefunden hatte. Die Bedeutung der Mikroorganismen als Krankheitsverursacher blieb jedoch noch verborgen. Diese Rolle wurde erstmals im 19. Jahrhundert bei einer durch das Bacterium prodigiosum (Serratia marcescens) hervorgerufenen „Speisekrankheit“ erkannt.
1720/21 führte Antoine Déidier (1670–1746) während einer Pestepidemie die ersten Übertragungsversuche einer ansteckenden Krankheit auf Tiere durch.
Gegen Ende des 18. Jahrhunderts befand sich der Disput zwischen den zwei medizinischen Schulen in einer Hochphase. Auf der einen Seite standen die Kontagionisten, die die Auffassung vertraten, Krankheiten könnten durch kleine lebende Erreger übertragen werden, auf der anderen Seite die Antikontagionisten, die weiterhin Miasmen als Ursache von Seuchen ansahen. Durch die Forschungen von Robert Koch, der ab 1891 das Institut für Infektionskrankheiten in Berlin leitete, und Louis Pasteur konnten die Kontagionisten diese Auseinandersetzung mit der Bestätigung ihrer Annahmen beenden. Pasteur entdeckte die bakteriologischen Ursachen von Gärung und Fäulnis. Zudem konnte er gängige Vorstellungen von Spontanzeugung experimentell widerlegen.
In den Industrieländern haben Infektionskrankheiten stark an Bedeutung verloren. Hauptgrund dafür sind ein verändertes Gesundheitsbewusstsein, Hygiene, Reihenimpfungen und ein Repertoire von potenten Gegenmitteln. Weltweit stellen sie aber trotzdem noch die häufigste Todesursache dar. Während die Pocken in den 70er Jahren ausgerottet werden konnten und die Eliminierung der Kinderlähmung in den nächsten Jahren erwartet wird, sind Infektionskrankheiten wie Aids und Tuberkulose weltweit weiter auf dem Vormarsch.
Seit 1972 wurden folgende Erreger von Infektionskrankheiten neu erkannt:
1972 Small round structured viruses (SRSVs) jetzt: Caliciviren, (Durchfall)
1973 Humane Rotaviren – Durchfall (weltweit)
1975 Astroviren – Durchfall
1975 Parvovirus B19 – Erythema infectiosum; aplastische Krise bei chronischer hämolytischer Anämie
1976 Cryptosporidium parvum – Akute Enterokolitis
1977 Ebola-Virus – Ebola-hämorrhagisches-Fieber
1977 Legionella pneumophila – Legionellose
1977 Hantaan-Virus – Hämorrhagisches Fieber mit renalem Syndrom
1977 Campylobacter spp. – Durchfall
1980 Humanes T-lymphotropes Virus 1 (HTLV-1) – Adulte T-Zell-Leukämie/Lymphom; Tropische Spastische Paraparese
1982 Humanes T-lymphotropes Virus 2 (HTLV-2) – neurologische Erkrankungen?
1982 Borrelia burgdorferi – Lyme-Krankheit
1983 Humanes Immundefizienz-Virus Typ I (HIV-1) – Erworbenes Immundefizienzsyndrom (AIDS)
1983 Escherichia coli O157 (EHEC) – Diarrhoe; hämorrhagische Kolitis; Hämolytisches urämisches Syndrom
1983 Helicobacter pylori – Gastritis; gastrische Ulcera; erhöhtes Risiko des gastrischen Karzinoms
1988 Humanes Herpesvirus 6 (HHV-6) – Drei-Tage-Fieber (= Exanthema subitum, Roseola infantum)
1989 Ehrlichia spp. – Humane monozytäre Ehrlichiose
1989 Hepatitis-C-Virus (HCV) – Hepatitis C
1989 Guanarito-Virus – Venezolanisches hämorrhagisches Fieber
1990 Humanes Herpesvirus 7 – Exanthema subitum; Pityriasis rosea
1990 Hepatitis-E-Virus (HEV) – Hepatitis E
1992 Vibrio cholerae O139:H7 – neue Variante assoziiert mit epidemischer Cholera
1992 Bartonella henselae – Katzenkratzkrankheit; Bazilläre Angiomatose
1993 Sin-Nombre-Virus – Hantavirus Lungensyndrom („Four corners disease“)
1993 sog. Hepatitis-G-Virus (HGV) jetzt GB-Virus C – kein Krankheitswert
1994 Sabia-Virus – Brasilianisches hämorrhagisches Fieber
1994 Humanes Herpesvirus 8 (HHV-8) – Kaposi-Sarkom; primäres Lymphom der Körperhöhlen; Castleman-Krankheit
1994 Hendra-Virus, (früher Equines Morbillivirus) – Pneumonie; Enzephalitis
1996 Prionprotein – Transmissible spongiforme Enzephalopathien (TSE)
1997 Influenza-A-Virus (H5N1) – neue aviäre Variante (Hongkong)
1997 sog. Transfusion-transmitted virus (TTV) jetzt: Torqeno-Teno-Virus – keine Erkrankung
1998 Nipah-Virus – Enzephalitis
2003 SARS-assoziiertes-Corona-Virus (SARS-CoV) – Schweres Akutes Respiratorisches Syndrom (SARS)
2020 SARS-CoV-2 – COVID-19
Verursacher von Infektionskrankheiten
Das die Krankheit verursachende Agens, der Krankheitserreger, ist bei den Infektionskrankheiten in der Regel ein parasitärer Mikroorganismus oder ein Virus. Der Erkrankte wird auch als Wirt bezeichnet.
Am weitaus häufigsten sind einzellige kernlose Bakterien der unterschiedlichsten Gruppen. Mit ihnen befasst sich die Bakteriologie. Bakterielle Erkrankungen sind zum Beispiel die typische Lungenentzündung, Hirnhautentzündung, Lyme-Borreliose, Tuberkulose, Typhus, Flecktyphus, Brucellose, Cholera, Pest, Q-Fieber und etliche andere.
Einzeller mit Kern werden als Protozoen bezeichnet und in der Parasitologie erfasst. Zu den von ihnen hervorgerufenen Krankheitsbildern gehören Malaria, Toxoplasmose und die tropische Schlafkrankheit.
Pathogene Pilze sind der Gegenstand der klinischen Mykologie, diese können als einzellige Hefen oder als Mehrzeller auftreten. Aspergillose und Candidose sind Beispiele für Pilzerkrankungen.
Mit den höher entwickelten krankheitsverursachenden Gewebetieren wie Würmern (zum Beispiel bei der Trichinellose) oder Arthropoden beschäftigt sich ebenfalls die Parasitologie.
Einige wenige einzellige Algen können ebenfalls Infektionen verursachen. Am bedeutendsten darunter sind die Prototheken, die Erreger der Protothekose.
Viren sind ein Sonderfall, da sie nur einige Merkmale von Lebewesen aufweisen; sie werden daher anders klassifiziert. Mit ihnen befasst sich die Virologie. Viruserkrankungen sind die klassischen Kinderkrankheiten ebenso wie der Schnupfen, Grippe, Viruspneumonie, Hepatitis B und AIDS.
Schließlich gibt es auch Krankheitserreger, die keine Erbinformationen in Form von DNA oder RNA besitzen: die früher als slow virus infections bezeichneten Prionenerkrankungen werden durch entartete Proteine verursacht, sogenannte Prione. Prionenerkrankungen sind unter anderem die Creutzfeldt-Jakob-Krankheit und die möglicherweise auf den Menschen übertragbare Rinderkrankheit BSE.
Die Gefährlichkeit einer Infektionskrankheit ist abhängig von der so genannten Virulenz des Erregers. Ob und in welcher Schwere eine Infektion auch zu einer Infektionskrankheit führt, hängt neben vielen anderen Faktoren von der Zahl der aufgenommenen Erreger (minimale Infektionsdosis) ab.
Infektionsmöglichkeiten und Übertragungswege
Grundsätzlich unterscheidet man Primärinfektionen, also Erstinfektionen, bei denen der Organismus den ersten Kontakt mit einem Krankheitserreger hat, von Sekundärinfektionen: hier wird der bereits infizierte Körper zusätzlich mit einem anderen Keim infiziert. Es liegt dann also eine Doppelinfektion vor. Eine solche zusätzliche Infektion kann das Immunsystem vor erhebliche Probleme und auch an Therapie und Medikation besondere Anforderungen stellen. Bildet ein viraler Infekt die Grundlage für einen weiteren, nun bakteriellen Infekt des gleichen Organsystems, bezeichnet man dies in der Medizin und Bakteriologie auch als Superinfektion. Im engeren Sinn versteht man in der Virologie unter Superinfektion eine erneute Infektion mit demselben Erreger bei noch bestehender Primärinfektion und unvollständiger Immunität.
Unterscheidung nach Infektionsverlauf
transiente Infektion
siehe Artikel Hit and Run.
persistente Infektion
siehe Artikel Infect and persist.
Unterscheidung nach Herkunft der Erreger
Eine endogene Infektion ist eine Infektion bei geschwächtem Immunsystem durch die körpereigene, normalerweise völlig harmlose Flora in Form eines Erregereinbruchs z. B. auf der Haut oder aus Magen, Darm und Lunge in den eigenen Körper (wie eine Wundinfektion durch eigene Kolibakterien). Diese Erreger sind fakultativ pathogen (d. h., dass sie nur unter solchen Bedingungen Krankheitszeichen hervorrufen). Die exogene Infektion ist eine Infektion durch Infektionserreger aus der Umgebung. Ein Sonderfall der exogenen Infektion ist die nosokomiale Infektion, die im Krankenhaus, in einer Arztpraxis oder einer anderen medizinischen Einrichtung mit einem vergleichbaren Keimspektrum erworben wurde. Derartige Infektionen zeichnen sich dadurch aus, dass die typischen bakteriellen Erreger aus dem Bereich Arztpraxis oder Krankenhaus – wie beispielsweise Pseudomonaden – häufig eine hohe Resistenz gegenüber gebräuchlichen Antibiotika zeigen. Um der Zunahme der Resistenzen Einhalt zu gebieten, wurden viele Krankenhäuser inzwischen verpflichtet, Präventionsmaßnahmen nach wissenschaftlichen Erkenntnissen umzusetzen. Als iatrogene Infektion wird die durch unbeabsichtigtes Einbringen von Krankheitserregern bei der Durchführung medizinischer Eingriffe, sei es durch einen Arzt oder anderes medizinisches Fachpersonal, beim Personal selbst oder dem Patienten verursachte Infektion bezeichnet.
Vier bedeutende Infektionswege werden bei der exogenen Infektion unterschieden: Tröpfcheninfektion über Aerosole in der Luft, Kontakt- oder Schmierinfektionen (zum Beispiel fäkal-oral), parenterale Infektionen durch Geschlechtsverkehr, Blutkonserven oder verunreinigte Injektionskanülen und schließlich durch sogenannte Vektoren (Überträger, beispielsweise blutsaugende Insekten) verbreitete Infektionen.
Direkte Infektionen geschehen von Mensch zu Mensch ohne Zwischenschritte, indirekte Infektionen benötigen einen Überträger zwischen den Wirten, das können die genannten Insekten, Trinkwasser, Nahrung oder gemeinsam benutzte Gegenstände sein. Zoonosen sind Infektionskrankheiten, die auch oder sogar hauptsächlich bei Tieren vorkommen und von diesen direkt (Kontakt) oder indirekt (z. B. über Kuhmilch) auf den Menschen übertragen werden.
Unterscheidung nach Eintrittspforte der Erreger
Enterale Infektion
Eine enterale Infektion ist eine Infektion, bei der die Krankheitserreger über den Darm als Eintrittspforte in den Organismus eingedrungen sind. Der gesamte Verdauungstrakt (Mund, Rachen, Speiseröhre, Magen und der gesamte Darm) wird als das Innere eines Tunnels betrachtet, das selbst nicht zum Körperinneren gezählt wird. Der exakte Ort, an dem die Infektionserreger in das eigentliche Körperinnere eindringen, gilt als Eintrittspforte.
fäkal-orale Infektion
Erreger aus dem Darm oder aus Fäkalien gelangen durch den Mund in den Organismus, z. B. durch verunreinigtes Trinkwasser.
Parenterale Infektion
Bei dieser Infektionsart handelt es sich im ursprünglichen Sinn um eine Infektion, bei der die Krankheitserreger „nicht“ über den Darm in den Organismus eingefallen sind. Im medizinischen Sprachgebrauch wird parenteral gleichbedeutend mit „direkt ins Blut“ verwendet. Es werden hierbei noch folgende weitere Infektionswege abgegrenzt:
perkutane Infektion
Die Erreger gelangen über die Haut in den Organismus.
permuköse Infektion
Die Erreger gelangen über die Schleimhäute in den Organismus.
Inhalationsinfektion
Die Erreger gelangen über die Atemwege in den Organismus.
urogenitale Infektion
Die Erreger gelangen über den Harntrakt in den Organismus.
genitale Infektion
Die Erreger gelangen über die Geschlechtsorgane in den Organismus.
intrauterine Infektion
Die Erreger gelangen während der Schwangerschaft in den Körper des ungeborenen Kindes.
Unterscheidung nach Ausdehnung der Infektion
Bei einer Lokalinfektion verbleiben die Erreger dort, wo sie den Körper zuerst infiziert haben (Eintrittspforte). Sie verursachen nur an dieser Stelle Symptome, ohne sich im Organismus weiter zu verteilen. Unter einer generalisierten Infektion versteht man eine Infektionskrankheit, bei der die Erreger sich zuerst an einer Eintrittspforte (z. B. im Darm) vermehren und dann über das Blut zu ihren eigentlichen Manifestationsorganen gelangen. Das sind oft die Leber (mit Schwellung der Leber), Milz (mit Splenomegalie), lymphatische Organe, die Haut oder das Nervensystem. An der Eintrittspforte sind die Erreger dann nicht mehr nachweisbar. Bei einer fokalen Infektion (Herdinfektion) tritt nach einer räumlich begrenzten Erregerübertragung durch Bakterien, besonders durch Streptokokken, nachfolgend eine (sekundäre) Erkrankung auf. Die Erreger gelangen von dem Ausgangsherd, der durch die lokale Infektion im Körper entstanden ist, mit Verzögerung durch septische Metastasierung oder schubweise Ausschüttung aus diesem Ausgangsherd über den Blutkreislauf in entferntere Körperregionen oder Organe und verursachen dort entzündliche oder auch allergische Krankheitsabläufe. Eine systemische Infektion ist eine Infektion, bei der sich die Erreger durch Einschwämmung per Blutbahn über ein gesamtes Organsystem (beispielsweise das Zentralnervensystem, etwa bei Meningitis, Poliomyelitis, Enzephalitis, Tollwut, Botulismus, Tetanus und Listeriose) oder den ganzen Organismus ausbreiten.
Unterscheidung nach anderen systematischen Gesichtspunkten
Die vertikale Infektion ist eine Infektion von einem Wirt zu seinen Nachkommen. Dabei werden pränatale oder intrauterine Übertragungen vor der Geburt von perinatalen Infektionen während der Geburt und postnatalen Infektionen unmittelbar nach der Geburt unterschieden. Unter einer horizontalen Infektion versteht man in Abgrenzung zur vertikalen Infektion die Übertragung auf andere Populationsmitglieder.
Epidemiologie
Am weitaus häufigsten sind Virusinfektionen und bakterielle Infektionen, aber auch Pilzinfektionen, Infektionen durch Protozoen oder Wurminfektionen kommen weltweit millionenfach vor. Prionenkrankheiten sind beim Menschen sehr viel seltener. Einige Krankheiten sind nur in bestimmten Regionen endemisch, so kommen Tropenkrankheiten in der Regel nur in wärmeren Klimazonen vor. Bei ihnen ist oftmals auch die Verbreitung des übertragenden Vektors entscheidend. Infektionskrankheiten wie die Grippe (Influenza) häufen sich saisonal. Im Abstand von Jahren oder Jahrzehnten treten dabei größere Epidemien auf.
Auch von historischen Krankheiten wie der schwarzen Pest sind Epidemien überliefert. Eine Epidemie, die länderübergreifend oder sogar weltweit auftritt, heißt Pandemie.
Schätzung der Häufigkeit von tödlichen Infektionen laut WHO
Dies sind grobe Schätzungen, die auch genau in ihrer Definition hinterfragt werden müssen. An der akuten Hepatitis stirbt man eher selten. Die Folgen einer chronischen Hepatitis C (Leberzirrhose, Leberkrebs) sind in Asien aber eine recht häufige Todesursache.
Symptome
Typische Symptome einer Infektionskrankheit sind Entzündungen, also Rötungen (auch Exantheme), Schwellungen, evtl. mit Juckreiz oder Schmerz und lokaler oder allgemeiner Erwärmung (Fieber). Dazu kommen organspezifische Abwehrerscheinungen oder Funktionsstörungen wie Störungen der Atmung. Häufig sind Atemwegsinfektionen mit Husten, Heiserkeit (bei Kehlkopfentzündung), Schnupfen, Schluckbeschwerden bei Mandelentzündung, bei Lungenentzündung evtl. Auswurf. Auch vasomotorisch bedingte Kopfschmerzen können als häufige Teilerscheinung der Störung des Allgemeinbefindens (Prostration) auftreten. Am zweithäufigsten sind Darminfektionen mit Durchfall, evtl. Krämpfen und Schmerzen, sie können sich auf die Leber ausweiten und eine Gelbsucht verursachen. Andere Beispiele wären Infektionen an der Haut oder an den Harnwegen. Auch Karies ist eine Infektionskrankheit.
Die Symptomatik einer Infektionskrankheit hängt also zum einen mit der Schadwirkung des Erregers zusammen, zum anderen aber auch mit der Reaktion des Immunsystems. Entsprechend sind Infektionen bei Menschen mit schwachem Immunsystem oft gefährlich unauffällig und schwer zu diagnostizieren, weil Fieber, Krankheitsgefühl und Entzündungsparameter im Blut fehlen.
Typische Notfälle sind eine Hirnhautentzündung, eine schwere Sepsis (z. B. Waterhouse-Friderichsen-Syndrom), eine Nierenbeckenentzündung bei Säuglingen. Schleichend, aber auch gefährlich ist eine Herzklappenentzündung oder eine Herzmuskelentzündung. Vor allem bei geschwächtem Immunsystem (Immunsuppression, AIDS, Alter) kann auch eine Lungenentzündung oder jede andere Infektion lebensbedrohend sein.
Diagnostik
Eine wichtige Voraussetzung zur Bekämpfung einer Infektionskrankheit ist eine genaue Diagnose, d. h. das Erkennen des Erregers und seiner Eigenschaften. Zur Diagnose und Prognose hilfreich ist die Kenntnis der bei Infektionskrankheiten regelmäßig auftretenden Veränderungen des Blutbildes. In Fällen mit bedrohlichem Krankheitsverlauf kann eine genaue Diagnose bei einer schweren Infektionserkrankung allerdings nicht abgewartet werden, sondern es wird mit Antibiotika oder Antimykotika eine Therapie begonnen, die alle wahrscheinlichen Erreger, wie z. B. zunächst Bakterien und Pilze, treffen soll (kalkulierte Therapie). Deuten jedoch alle Anzeichen auf Viren als Erreger, ist ggf. der sofortige Einsatz von Virostatika erforderlich.
Viele Bakterien und auch Pilze lassen sich auf Blutagar oder ähnlichen Nährmedien anzüchten. Außerdem kann man sie nach Färbung (z. B. Gram-Färbung) unter dem Lichtmikroskop betrachten. Bei Viren oder intrazellulären Bakterien wäre dazu eine Zellkultur bzw. ein Elektronenmikroskop nötig. Für den klinischen Einsatz praktikabler sind oft modernere Methoden, die in Labors durchgeführt werden. Bei molekularbiologischen Methoden weist man Erbinformation des Erregers z. B. mittels der Polymerase-Kettenreaktion nach. Bei immunologischen Methoden weist man Antikörper nach, die das Immunsystem gegen spezifische Oberflächenstrukturen, sog. Antigene bildet, oder man benutzt umgekehrt Antikörper, um Antigene des Erregers nachzuweisen. Es gibt auch andere charakteristische Bestandteile bestimmter Erreger, die man nachweisen kann (z. B. Hämagglutinin). Tierversuche sind heute nur noch in Ausnahmefällen erforderlich, z. B. bei Tetanus. Tuberkulose wird auch durch Hauttests diagnostiziert (Tine-Test, Mendel-Mantoux-Test).
Prävention und Therapie
Hygiene und Impfungen haben maßgeblich zur Verringerung von Infektionskrankheiten beigetragen. Im medizinischen Bereich sind routinemäßig Maßnahmen der Basishygiene, zum Beispiel Händedesinfektion, Barrieremaßnahmen wie Mund-Nasen-Schutz, Flächendesinfektion und Abfallentsorgung, sowie die Verwendung von keimarmem bzw. sterilem Material vorgesehen. Welche Hygienemaßnahmen bei den verschiedenen Infektionserkrankungen anzuwenden sind, um deren Weiterverbreitung zu vermeiden, schreibt die Kommission für Krankenhaushygiene und Infektionsprävention (KRINKO) in ihrer Empfehlung „Infektionsprävention im Rahmen der Pflege und Behandlung von Patienten mit übertragbaren Krankheiten“ fest (Stand: September 2015). Diese sind auch für die Behandlung und Pflege von COVID-19-Patienten grundlegend. Um die Infektionsprävention und den Arbeitsschutz in Kliniken wirksam aufzustellen, arbeiten Krankenhaushygieniker, Hygiene-Fachkräfte und Abfallbeauftragte eng zusammen.
Auf der anderen Seite beachtet man heute die Widerstandsfähigkeit des Organismus und seines Immunsystems stärker. Die Infektanfälligkeit lässt sich durch gesunde Ernährung, ausreichenden Schlaf, regelmäßige Bewegung, rechtzeitige ärztliche Behandlung und Vermeidung von Stress (siehe Cortisol) mindern. Eine großangelegte Studie aus dem Jahr 2019 belegte, dass Frauen mit Kindern im Vergleich zu kinderlosen Frauen eine um fast 2/3 reduzierte Wahrscheinlichkeit, an einer Infektion zu sterben, aufwiesen. Männer mit Kindern wiesen eine ähnliche, wenn auch etwas geringere Reduktion der Sterbewahrscheinlichkeit auf.
Die ambulante und klinische Versorgung von Patienten mit Infektionskrankheiten erfolgt im Rahmen der haus- oder fachärztlichen Behandlung. Bei Infektionen mit Erregern, bei denen im stationären Bereich die Gefahr der Übertragung besteht, werden die Patienten in Isolierzimmern oder -stationen untergebracht und behandelt. Bei hochansteckenden Infektionen ist unter Umständen eine Unterbringung auf einer Sonderisolierstation angezeigt. Solche Quarantänemaßnahmen können im Rahmen der Gefahrenabwehr behördlich angeordnet werden.
Eine der ältesten infektiologischen Abteilungen ist die Medizinische Klinik mit Schwerpunkt Infektiologie und Pneumologie der Charité in Berlin: Die Klinik wurde 1891 von Robert Koch gegründet. Hier ist der einzige deutsche Lehrstuhl für klinische Infektiologie und die größte deutsche Sonderisolierstation für hochansteckende Krankheiten angesiedelt. 1900 wurden das Bernhard-Nocht-Institut und die dazugehörige Klinik in Hamburg speziell zur Behandlung von Tropenkrankheiten gegründet.
Wenn notwendig und möglich, werden Infektionskrankheiten mit Antibiotika, Virostatika, Antimykotika oder Antihelminthika bekämpft. Schwere Infektionsherde müssen manchmal chirurgisch saniert werden. In der evidenzbasierten Medizin gilt die Wirkung pflanzlicher Heilmittel als begrenzt und in ernsthaften Erkrankungsverläufen als nicht ausreichend.
Siehe auch
Liste von Epidemien und Pandemien
Henle-Koch-Postulate
Parasiten des Menschen
Infektionsschutzgesetz
Literatur
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Martin Exner: Die infektionsepidemiologische Bedeutung von Helicobacter pylori mit besonderer Berücksichtigung von unbehandelten Brunnenwasser als Infektionsreservoir. In: Hygiene und Medizin. Band 29, Nr. 11, 2004, S. 418–422, .
Christian Conrad: Krankenhaushygiene damals und heute – was hat sich geändert? In: Hygiene und Medizin. Band 29, Nr. 6, 2004, S. 204 ff.,
Michael K. Faulde: Ratten und Mäuse – unterschätzte Überträger und Reservoire gefährlicher Infektionskrankheiten? In: Hygiene und Medizin. Band 29, Nr. 6, 2004, S. 206–216.
W. Hoffmann: Die Infektionskrankheiten und ihre Verhütung (= Sammlung Göschen. Band 327). 2., verbesserte und erweiterte Auflage. De Gruyter, Berlin/ Leipzig 1920.
Stefan H. E. Kaufmann: Wächst die Seuchengefahr?: Globale Epidemien und Armut; Strategien zur Seucheneindämmung in einer vernetzten Welt. Unter Mitarbeit von Susan Schädlich. Hrsg. von Klaus Wiegandt. [Forum für Verantwortung]. Fischer-Taschenbuch, Frankfurt a. M. 2008, ISBN 978-3-596-17664-9.
M. Klude, U. Seebacher, M. Jaros: Potenzielle Gefährdung von Mensch und Umwelt durch Desinfektionsmittel in der Krankenhaushygiene: Eine vergleichende Bewertung. In: Krankenhaus Hygiene und Infektionsverhütung. Band 24, Nr. 1, 2002, , S. 9–15.
Helge Kampen: Vektor-übertragene Infektionskrankheiten auf dem Vormarsch? Wie Umweltveränderungen Krankheitsüberträgern und -erregern den Weg bereiten. In: Naturwissenschaftliche Rundschau. Band 58, Nr. 4, 2005, , S. 181–189.
Werner Köhler: Infektionskrankheiten. In: Werner E. Gerabek, Bernhard D. Haage, Gundolf Keil, Wolfgang Wegner (Hrsg.): Enzyklopädie Medizingeschichte. De Gruyter, Berlin/ New York 2005, ISBN 3-11-015714-4, S. 667–671.
Karl-Heinz Leven: Die Geschichte der Infektionskrankheiten. Von der Antike bis ins 20. Jahrhundert. (= Fortschritte in der Präventiv- und Arbeitsmedizin. Band 6). ecomed, Landsberg am Lech 1997, ISBN 3-609-51220-2.
Kurt-Martin Mayer: Parade der Keime. Deutschlands Seuchenexperten reihen erstmals Infektionserreger nach deren Gefährlichkeit. In: FOCUS. Heft 10, 2007, S. 44 (betr. vom Robert Koch-Institut in Berlin erarbeitete Rangfolge von 85 Infektionserregern)
Kurt-Martin Mayer: Neues in der Luft. Wärme liebende Krankheitserreger wandern nach Deutschland ein. Eine Malaria-Katastrophe ist nicht zu befürchten, aber sonst …. In: FOCUS. Heft 14/2007, S. 42/43 (Fälle von Borreliose, FSME, Hanta-Fieber, Q-Fieber, Malaria, Dengue-Fieber, West-Nil-Fieber, Babesiose, Vibrio vulnificus).
Max Micoud: Die ansteckenden Krankheiten. In: Jean-Charles Sournia, Jacques Poulet, Marcel Martiny, Richard Toellner, Peter Hucklenbroich et al.: Illustrierte Geschichte der Medizin. Band I–IX, Andreas, Salzburg 1980–1982; Sonderauflage in sechs Bänden, Andreas, Salzburg 1986, Band IV, S. 2184–2235.
Clark Donald Russell: Eradicating Infectious Disease: Can We and Should We? In: Frontiers in Immunology. 11. Oktober 2011, doi:10.3389/fimmu.2011.00053.
Karl Sudhoff: Elf ansteckende Krankheiten vor 1300. In: Mitteilungen zur Geschichte der Medizin und der Naturwissenschaften. Band 16, 1917, S. 132–134.
Karl Sudhoff: Die acht ansteckenden Krankheiten einer angeblichen Baseler Ratsverordnung vom Jahre 1400. In: Sudhoffs Archiv. Band 21, 1929, S. 219–227.
Karl Wurm, A. M. Walter: Infektionskrankheiten. In: Ludwig Heilmeyer (Hrsg.): Lehrbuch der Inneren Medizin. Springer-Verlag, Berlin/ Göttingen/ Heidelberg 1955; 2. Auflage ebenda 1961, S. 9–223.
Weblinks
Infektionskrankheiten. Berlin-Institut
Zusammenfassungen über verschiedene Infektionskrankheiten durch das RKI
Durch Impfen vermeidbare Infektionskrankheiten – Informationen der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung über Infektionen bei Kindern im Alter von 0–6 Jahren
SurvStat@RKI – Aktuelle Statistiken zu meldepflichtigen Infektionskrankheiten in Deutschland
repetitorium-infektiologie.de Skript zum Thema „Infektionskrankheiten“
BURDEN of Resistance and Disease in European Nations – Die Bestimmung der finanziellen Bürde von Antibiotikaresistenz in Europa
Einzelnachweise
Immunologie
Mikrobiologie
Medizinische Mykologie
Medizinische Parasitologie
Virologie
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Q18123741
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52420
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https://de.wikipedia.org/wiki/Kriminologie
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Kriminologie
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Kriminologie (zusammengesetzt aus und -logie von dem griechischen und lateinischen Wort -logia; von altgr. λόγος lógos, ‚Wort‘, auch: ‚Lehre‘,) bedeutet wörtlich übersetzt Lehre vom Verbrechen. Die Kriminologie bedient sich verschiedener Bezugswissenschaften wie Rechtswissenschaften und Psychiatrie, Soziologie und Pädagogik, Psychologie, Ethnologie und Anthropologie, sowie in den letzten Jahrzehnten verstärkt der Wirtschaftswissenschaft, um die Erscheinungsformen der Kriminalität zu beschreiben bzw. zu untersuchen.
In Deutschland ist die universitäre Kriminologie weitgehend den rechtswissenschaftlichen Fakultäten angegliedert. In angloamerikanischen und skandinavischen Ländern sind Kriminologen dagegen überwiegend den sozialwissenschaftlichen Fachbereichen zugeordnet.
Kriminologie ist von der Kriminalistik, der Lehre von den Mitteln und Methoden der Verbrechensbekämpfung, abzugrenzen.
Geschichte und Strömungen der Kriminologie
Die systematische Beschäftigung mit Kriminalität beginnt im 18. Jahrhundert im Rahmen der Aufklärung. Der Begriff Kriminologie kommt erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auf. Laut Hans-Dieter Schwind soll er von Paul Topinard stammen, nachweislich verwendet wurde er erstmals von Raffaele Garofalo als Titel seines 1885 veröffentlichten Werkes Criminologia.
Die klassische Schule
Die sogenannte „klassische Schule“ begründet noch kein eigenständiges Fach Kriminologie. Die Thematisierung der Kriminalität erfolgt nicht aus der Sicht von Experten, sondern aus der einzelner Universalgelehrter. Aus deren Sicht ist das Verbrechen eine allgegenwärtige Versuchung für alle Menschen. Der Frage, warum einige Menschen dem Verbrechen verfallen und andere nicht, wird nicht nachgegangen.
Hauptvertreter und Begründer des „Klassischen Schule“ ist Cesare Beccaria. Der Mailänder veröffentlichte 1764 eine Schrift mit dem Titel Dei delitti e delle pene (deutsch: Von den Verbrechen und von den Strafen), die bald ins Französische und Deutsche übersetzt wurde und europaweit eine Debatte über Strafgesetzgebung und Kriminalpolitik entfachte. Beccarias Argumentation basiert auf der Annahme der Aufklärung, dass alle Menschen gleich und frei seien. Für das Kriminalitätsverständnis folgt daraus, dass im Prinzip jeder Mensch fähig ist, eine Straftat zu begehen und es keine individuellen Ursachen jenseits der freien Entscheidung dafür gibt. Damit werden mögliche täterorientierte Erklärungen der Delinquenz verworfen. Als Ursache von Kriminalität benennt Beccaria besonders eine unvernünftige Gesetzgebung, die die Zahl der mit Strafe bedrohten Handlungen vermehrt statt sie zu vermindern. Als weitere Ursachen nennt er eine korrupte Rechtsprechung, unzureichend geregelte Strafverfahren und die Begünstigung des Denunziatentums durch geheime Anklagen. Somit sind die Ursachen für Kriminalität im Kriminaljustizsystem selbst angelegt. Zudem prangert er in seiner Schrift die Nutzlosigkeit und Ungerechtigkeit der Todesstrafe und der Folter an.
Laut Karl-Ludwig Kunz und Tobias Singelnstein folgt für die von Beccaria geprägte „Klassische Schule“ die Notwendigkeit einer rechtsstaatlichen Mäßigung der Strafgewalt aus Nützlichkeitserwägungen. Es werde einem „ökonomischen Kalkül des Strafens“ gefolgt, das dessen Wirksamkeit und soziale Akzeptanz erhöhen soll. Es soll nicht mehr maßlos gestraft werden, sondern gerade so viel, wie ausreicht, um Delikte zu verhindern. Das sei die Grundlage für ein sozialtechnisch bestimmtes, präventionsbezogenes und effizienzorientiertes Strafrecht. Diese Entwicklungslinie wurde besonders von Jeremy Bentham im Rahmen des britischen Utilitarismus weiter verfolgt. Im Bemühen um höchste technologische Strafeffizienz schlug er das Panopticon vor, einen Gefängnisbau, der totale Überwachung ermöglicht.
Als weitere Impulsgeber der „Klassischen Schule“ nennt Bernd-Dieter Meier den Engländer Samuel Romilly, der die Abschaffung der Todesstrafe für Diebstahl und Bettelei durchsetzt, den englischen Gefängnisreformer John Howard und Paul Johann Anselm von Feuerbach, der sich ebenfalls für die Abschaffung der Todesstrafe aussprach, die Abschaffung der Folter durchsetzte und unter dessen Einfluss in Bayern das erste moderne Strafgesetzbuch entstand.
Die positivistische Schule
Als eigenständiges Wissenschaftsgebiet entstand die Kriminologie im Rahmen des Positivismus im 19. Jahrhundert. Der ist durch die Annahme geprägt, dass die Bestimmungsgründe menschlichen Handelns nicht aus der Entscheidungsfreiheit ableitbar sind, sondern dass das menschlichen Handeln allgemeinen Gesetzen (Ursachen) folgt, die erfahrungswissenschaftlich erkannt werden können. Um welche Ursachen es geht, ist in der positivistischen Kriminologie des 19. und 20. Jahrhunderts umstritten. Es entstanden drei Hauptrichtungen: die italienische (kriminalanthropologische) Schule, die französische (kriminalsoziologische) Schule und die Marburger Schule, die kriminalanthropologische und kriminalsoziologische Ursachen verknüpft.
Die italienische (kriminalanthropologische) Schule
Hauptvertreter der kriminalanthropologischen Schule war der italienische Mediziner Cesare Lombroso; er wird weithin als Begründer der Kriminologie angesehen. Obwohl seine frühen Thesen als vollständig widerlegt gelten, war er der erste, der seine theoretischen Aussagen auf Basis von umfangreichen Studien entwickelte und einen strikt erfahrungswissenschaftlichen Ansatz zugrunde legte.
Lombroso glaubte feststellen zu können, dass sich Straftäter in vielen physischen und psychischen Anomalien von anderen Menschen unterscheiden. Er deutete diese als Ausdruck des atavistischen, degenerierten Entwicklungsstandes der Verbrecher. Dieser Entwicklungszustand hindere sie, sich an die Regeln der zivilisierten Gesellschaft anzupassen. Diese empirischen Befunde wurden später nicht bestätigt. Sie litten zudem an der Einseitigkeit des Forschungsinteresses, sozialen Ursachen maß Lombroso in seinen frühen Arbeiten keine Bedeutung zu. Erst später räumte er ein, dass nur etwa ein Drittel der Straftäter „geborene Verbrecher“ seien und in den übrigen Fällen soziale Faktoren wirkten. Auch Enrico Ferri, der zunächst Lombrosos Ausgangsthese teilte, setzte sich später für die Berücksichtigung sozialer Faktoren ein. Raffaele Garofalo, der der Kriminologie ihren Namen gab, vertrat die These, dass derjenige, der das „natürliche Verbrechen“ begehe, ein spezieller anthropologischer Typ sei, der an einem Mangel an uneigennützigem Empfindungsvermögen leide.
Als „natürliche Verbrechen“ definierte Garofalo nur Handlungen, die elementaren menschlichen Regungen zuwiderlaufen. Sie sind die eigentlichen Verbrechen und damit der Gegenstand der Kriminologie. Sie bilden den eigentlichen Bereich des Verbrechens, nur sie seien Gegenstand der Kriminologie.
Die französische (kriminalsoziologische) Schule
Von der französischen Schule der Kriminologie wurde der kriminalanthropologische Ansatz abgelehnt und die gesellschaftlichen Entstehungsbedingungen von Kriminalität in den Mittelpunkt gestellt. Wichtige Impulse für diese Sichtweise kamen von den in vielen europäischen Ländern entstehenden kriminalstatistischen Datensammlungen. Pioniere der Kriminalstatistik waren André-Michel Guerry und Adolphe Quetelet; sie nannten ihre Forschungsdisziplin Moralstatistik.
Führende Theoretiker der französischen Schule waren Alexandre Lacassagne und Gabriel Tarde. Lacassagne vertrat die These, Nährboden der Kriminalität sei das Milieu. Von ihm stammt der Satz: „Jede Gesellschaft hat die Verbrecher, die sie verdient.“ Tarde sah die Hauptursache von Kriminalität in der Nachahmung und postulierte, dass ein Verbrecher nur das nachahmen könne, was andere ihm vorgemacht hätten. Daraus folgerte er: „Jedermann ist schuldig mit Ausnahme des Kriminellen.“
Laut Kunz/Singelnstein formulierten diese frühen Studien eher Programmansätze als prüfbare Annahmen. Sie verfolgten keine spezifisch-kriminalpräventiven Ziele, sondern wollten private karitative Bemühungen von Abstinenzverbänden und Besserungsvereinen sowie die staatliche Benachteiligtenhilfe fördern.
Eine besondere Rolle hat Émile Durkheim, der Ende des 19. Jahrhunderts die Kriminalsoziologie begründete. Im Gegensatz zu den positivistischen Kriminologen fragte er nicht nach den Ursachen des Verbrechens als individuellem Verhalten. Er betrachtete die Funktion des Verbrechens für die Gesellschaft und die Umstände, die die Entwicklung gesellschaftlicher Kriminalitätsraten beeinflussten. Für ihn war das Verbrechen keine zu bekämpfende sozialpathologische Erscheinung, sondern ein normales Element der modernen Industriegesellschaft, das sich aus der Sozialstruktur erklärte. Eine normale und notwendige Erscheinung sei das Verbrechen für jede Gesellschaft, so erläutert Durkheim in seinem 1895 veröffentlichten Werk Die Regeln der soziologischen Methode (Les règles de la méthode sociologique), weil es keine Gesellschaft gebe, in der keine Kriminalität existiere. Normal sei Kriminalität, weil es immer Menschen gebe, die Normen verletzten und strafbare Handlungen begingen. Notwendig sei es, weil es zur Stärkung und Weiterentwicklung der kollektiven Normentwicklung beitrage.
Der Umstand, dass es in jeder Gesellschaft Verbrechen gibt, ist für Durkheim nicht erklärungsbedürftig. Erhebliche Veränderungen des Kriminalitätsaufkommens müssten jedoch analysiert werden. Eine Gesellschaft gerät in den Zustand der Anomie, wenn es durch Veränderungen im gesellschaftlichen Gefüge, etwa durch Modernisierungsprozesse, zum Zusammenbruch der rechtlichen und sozialen Normen kommt. Durkheim entwickelte seine Überlegungen zur Anomie 1897 in seiner Schrift über den Selbstmord (Le suicide). Von späteren Theoretikern, insbesondere der nordamerikanischen Kriminologie – und dort Robert K. Merton – wurden seine Überlegungen auch auf die Erklärung des Verbrechens übertragen.
20. Jahrhundert bis Gegenwart
Die von Lombroso und seiner Schule begründeten anlagebedingten Erklärungsansätze wurden im 20. Jahrhundert durch die Adoptions- und die Zwillingsforschung sowie die weniger populäre sogenannte „Phosphattheorie“ (verstärkte Aggressionsbereitschaft durch übermäßigen Konsum phosphathaltiger Fleischprodukte) fortgesetzt. Ferner wurde zeitweilig von der Existenz eines sogenannten Mörderchromosoms ausgegangen (überzähliges Y-Chromosom oder XYY-Syndrom), dessen Kausalität für das Begehen von Verbrechen jedoch wissenschaftlich widerlegt werden konnte.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts setzten sich zunehmend solche Stimmen durch, welche die Verbrechensursachen nicht ausschließlich in den Anlagen des Menschen vermuteten, sondern vielmehr auch die Umwelt als Ursache mit einbezogen.
In diesem Zusammenhang entwickelte sich die von Franz von Liszt aufgestellte sogenannte Anlage-Umwelt-Formel, wonach er das Verbrechen als Resultat der Eigenart des Täters und den diesen zur Tatzeit umgebenden äußeren Einflüssen beschrieb.
Während der Zeit des Nationalsozialismus wurde solche anlagebedingten Theorien missbraucht um rassespezifische Verfolgungs- und Tatbestandteilsmerkmale in die Strafrechts- und Strafprozesspraxis einzuführen, was sich etwa in der Ausweitung strafrechtlicher Sanktionen auf Familienangehörige des Straftäters (siehe auch Sippenhaftung) widerspiegelte. Eine weiter Kategorie wurde in diesen Jahren mit der Handhabung eines sogenannten Vorbeugungstatbestandes und der Verfolgung von „Tätern“ auf Grund rassischer und sozialer Herkunft, Rechtspraxis.
Heutzutage gibt es eine Vielzahl sehr unterschiedlicher Erklärungsansätze. Diese lassen sich grob einteilen in:
täterorientierte Theorien
gesellschaftsorientierte Theorien
multifaktorielle Ansätze (zu den einzelnen Theorien siehe auch Kriminalitätstheorien)
In der kritischen Kriminologie wird, entsprechend der Doppeldeutigkeit des lateinischen Begriffsursprungs crimen, was sowohl Beschuldigung, als auch Verbrechen bedeuten kann, unter „Kriminalität“ die Gesamtheit der Aktionen und Interaktionen zwischen den für Rechtsetzung und -durchsetzung zuständigen Institutionen einerseits und den für Rechtsbruch verantwortlichen und von Rechtserleidung betroffenen Individuen andererseits verstanden.
Vertreter des sich seit den 1950er Jahren formierenden (in Deutschland z. B. Fritz Sack und Peter-Alexis Albrecht) gehen davon aus, dass Kriminalität ubiquitär (d. h. allgemein verbreitet) sei und lediglich gewisse Schichten der Gesellschaft seitens des Gesetzgebers sowie der Strafverfolgungsbehörden als Verbrecher „herausselektiert“ – und damit etikettiert – würden.
In bewusster Abgrenzung zur ätiologisch orientierten Kriminologie erklären die Anhänger des Etikettierungsansatzes die Entstehung von Kriminalität nicht dadurch, dass sie sie kausal auf in der Person des Täters oder in der gesellschaftlichen Struktur gelegene Ursachen zurückführen. Kriminalität ist dieser Ansicht zufolge vielmehr das Ergebnis eines gesellschaftlichen Zuschreibungsprozesses. Teile des Labeling-Approaches sind dem (strafrechtlichen) Abolitionismus zuzuordnen (einer Strömung, welche die Abschaffung jeglicher Art von Freiheitsentzug fordert).
Aufgabengebiet und Arbeitsweise
Der Begriff der Kriminologie ist vom Begriff der Kriminalistik zu unterscheiden. Beide Wissenschaften können als Hilfswissenschaft der jeweils anderen betrachtet werden. Während primäres Ziel der Kriminologie die abstrakte (also nicht auf einen bestimmten Fall bezogene) Erkenntnisgewinnung über die Ursachen und Erscheinungsformen von Kriminalität ist, beschäftigt sich die Kriminalistik mit der konkreten – praxisbezogenen – Fragestellung der Verhütung (Prävention), Bekämpfung und Aufklärung von Straftaten.
Zentrale Betrachtungspunkte der Kriminologie sind das Verbrechen, der Verbrecher, das Verbrechensopfer sowie die Verbrechenskontrolle.
Kriminologie umfasst insbesondere die Kriminalitätstheorien (darunter auch die Kontrolltheorien, welche der Frage nachgehen, warum Menschen sich konform verhalten – also nicht kriminell werden); zur Kriminologie muss weiterhin auch der Bereich der Sinnhaftigkeit von Strafe gestellt werden.
Betrachtet man Kriminalität als Massenerscheinung, benutzt die Kriminologie auch die bekannten Kriminalstatistiken. Diese haben dann auch erheblichen Anteil an der praktizierten Kriminalpolitik, die sich mit leicht zu vermittelnden Zahlen besser verbreiten lässt, als Hinweise auf komplizierte Untersuchungen. Zentrale Begriffe hierbei sind das Hellfeld und das Dunkelfeld.
Problematisch ist in diesem Zusammenhang stets die begrenzte Aussagekraft der Statistiken.
Viktimologie
Die Viktimologie ist die Lehre von Opfern durch Straftaten.
Siehe auch
Kriminologe (darin auch Hinweise zu Ausbildungsgängen)
Liste deutschsprachiger Kriminologen
Literatur
Lehrbücher und Gesamtdarstellungen
Geschichte der Kriminologie
Weblinks
Kriminologie-Lexikon Online
Links zu kriminalstatistischen und kriminologischen Informationsquellen – Konstanzer Inventar
Linksammlung Kriminologie (Universität Tübingen)
KrimDok, Literaturdatenbank (Universität Tübingen)
KrimOJ – Kriminologie – Das Online Journal (Open Access)
Einzelnachweise
Wissenschaftliches Fachgebiet
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Q161733
| 245.506152 |
15852
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https://de.wikipedia.org/wiki/Ger%C3%A4usch
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Geräusch
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Geräusch (verwandt mit „Rauschen“) ist ein Sammelbegriff für alle Hörempfindungen, die nicht als Klang, Ton, Tongemisch, Zusammenklang oder Klanggemisch bezeichnet werden können. Ein Geräusch hat keine exakt bestimmbare Tonhöhe. Ursache für ein Geräusch sind über elastische Körper vermittelte Schwingungsvorgänge, die in der Regel unregelmäßig, nicht periodisch verlaufen und sich in ihrer Struktur zeitlich ändern können.
Charakterisierung
Zur näheren Beschreibung eines Geräusches spielen u. a. der zeitliche Verlauf, seine Tonalität (das Klangspektrum), die Störwirkung und seine Herkunft eine Rolle. Viele Geräusche haben spezielle Bezeichnungen (siehe auch :Kategorie:Geräusch).
Die Lautsphärenforschung klassifiziert als Bestandteile einer Lautsphäre grundsätzlich drei unterschiedliche Arten von Geräuschen: Grundtöne, Signallaute und Orientierungslaute.
Grundtöne sind Geräusche, die von der Landschaft, der Tierwelt, der Umwelt (Verkehr usw.) und dem Wetter bestimmt werden und daher rasch zu Hörgewohnheiten werden.
Signallaute sind klar konturierte Geräusche, mit deren Hilfe Botschaften übermittelt werden können (zum Beispiel Jagdhornklänge, Glockenläuten, Sirenen).
Orientierungslaute schließlich sind charakteristische Geräusche, die zwar keine spezielle Botschaft übermitteln, aber Eigenschaften besitzen, die sie für einen Menschen identifizierbar und beachtenswert machen: zum Beispiel das anschwellende Geräusch eines LKW oder das Geklimper eines Klaviers.
Geräusche vor allem von technischen Geräten haben einen historischen Kontext, da Produktion und Nutzung der Geräte auf spezifische Zeiträume beschränkt sind.
Zeitlicher Verlauf
Nach der Art des zeitlichen Verlaufs lassen sich zeitlich stationäre und instationäre Geräusche unterscheiden.
Ein stationäres Geräusch ändert seinen Charakter über eine längere Zeit nicht oder nur sehr wenig. Beispiele sind: Geräusch eines Wasserfalls, fallender Regen, Geräusch eines Lüfters.
Zeitlich instationäre Geräusche ändern ihren Charakter mit der Zeit oder sind nur für kurze Zeit vorhanden. Beispiele: Hundebellen, Hammerschläge, Geräusch eines aufheulenden Motors.
Tonalität und Spektrum
Das Spektrum eines Geräusches beschreibt, welche Frequenzanteile im Geräusch enthalten sind. Es lassen sich tonale und rauschartige breitbandige Geräusche unterscheiden.
Bei einem tonalen Geräusch dominiert eine Frequenz. Deshalb lässt sich eine Tonhöhe zuordnen. Beispiele sind: Pfeifen einer Dampflok, Propellergeräusch, Panflöte.
Breitbandige Geräusche haben keine dominierende Frequenz. Oft sind aber bestimmte Frequenzbereiche stärker ausgeprägt, so dass eine Klangfarbe zugeordnet werden kann.
Der Übergangsbereich zwischen Geräusch und Ton wird aus der Perspektive von Geräuschen als Tonhaltigkeit bezeichnet und betrifft besonders periodisch arbeitende Maschinen.
Störwirkung
Von einem Geräusch kann eine psychische Störung ausgehen. Die Störwirkung eines Geräusches hängt in erster Linie davon ab, ob es erwünscht bzw. gewollt ist. So kann z. B. ein und dasselbe Geräusch (etwa ein Motorengeräusch oder das Rauschen analoger Tontechnik) als angenehm und erwünscht oder aber als störend empfunden werden. Unerwünschte Geräusche werden als Lärm bezeichnet. Die Störwirkung nimmt vor allem mit der Lautstärke zu. Aber auch steigende Tonalität (ein tonales Geräusch ist störender), mit steigender Instationarität (ein zeitlich schwankendes Geräusch stört mehr) und mit dem Informationsgehalt (z. B. bei Sprache oder Musik) kann eine Störwirkung erhöhen.
In einigen Fällen werden vormals störende Geräusche nach Umdeutung synthetisch erzeugt, womit vormals das störende Geräusch reduzierende Aspekte konterkariert werden:
Eigentlich wünschenswert leise Elektroautos werden mit Motorgeräuschen betrieben, um die Sicherheit im Verkehr durch bessere Hörbarkeit auszugleichen.
Eigentlich störgeräuschfreie digitale Tonaufnahmen werden im Nachhinein mit dem Rauschen von analoger Tontechnik beziehungsweise dem Knistern von Schallplatten versehen oder die Tonhöhe wird in der Art eines Magnettonbands mit sich nicht mit konstant fortbewegender Vorschubgeschwindigkeit geändert, z. B. beim Low Fidelity.
Als Geräusch bezeichnete Schalle sind häufig nicht zweckgebunden, wie Heizungsgebläse, Spülmaschinen und Blätterrauschen. Trotzdem können auch Musik oder eine Ansprache von Unbeteiligten in der Umgebung sehr wohl als Geräusch bzw. sogar als Lärm wahrgenommen werden.
Herkunft
Geräusche können sowohl außerhalb (Regelfall) als auch innerhalb des Gehörs entstehen.
Innerhalb des Gehörs entstehende Geräusche werden in der Regel als Fehlfunktion desselben interpretiert. Ein Beispiel sind sogenannte Ohrgeräusche (Tinnitus).
Außerhalb des Gehörs entstehende Geräusche haben eine physikalische Ursache, meistens eine Luft- oder Körperschallquelle. Nach der Entstehung lassen sich hier unterscheiden:
aerodynamische Schallerzeugung (z. B. bei Lüftern, Windgeräusche, Blasinstrumente)
mechanische Schallerzeugung (z. B. Hammerschlag, Bremsenquietschen, Schlaginstrumente)
thermodynamische Schallerzeugung (z. B. Schweißbrenner, Explosion)
unbekannte Herkunft der Schallerzeugung, Beispiele: Brummton-Phänomen (z. B. Stuttgart), Bloop, Train, Julia und Upsweep
Siehe auch
Lautheit
Lärminstrument
Ruhestörung
Stille
Tonalität (Musik)
Zimmerlautstärke
Literatur
Jürgen H. Maue, Heinz Hoffmann, Arndt von Lüpke: 0 Dezibel plus 0 Dezibel gleich 3 Dezibel. Schmidt, Berlin 2003, ISBN 3-503-07470-8.
Weblinks
Einzelnachweise
Umweltschutz
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Q179448
| 111.236998 |
11981
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https://de.wikipedia.org/wiki/Antik%C3%B6rper
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Antikörper
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Antikörper (Immunglobuline, im internationalen Sprachgebrauch auch Immunoglobulin, veraltet Gammaglobulin) sind Proteine (Eiweiße) aus der Klasse der Globuline, die in Wirbeltieren als Reaktionsprodukt von besonderen Körperzellen (Plasmazellen) auf bestimmte Stoffe (als Antigene bezeichnete Substanzen) gebildet (synthetisiert) werden. Antikörper stehen im Dienste des Immunsystems. Antikörper werden von einer Klasse weißer Blutzellen, den Plasmazellen, auf eine Reaktion der B-Lymphozyten hin, produziert.
Als Antigene wirken fast ausschließlich Makromoleküle oder an Partikel gebundene Moleküle, zum Beispiel Lipopolysaccharide an der Oberfläche von Bakterien. Ein bestimmtes Antigen induziert in der Regel die Bildung nur weniger, ganz bestimmter, dazu passender Antikörper, die über spezifische, nicht-kovalente Bindung zumeist nur diesen Fremdstoff erkennen (dass auch verwandte Ziele erkannt werden können, hat man sich z. B. bei der Pockenschutzimpfung zunutze gemacht: Die vom Körper gegen die harmlosen Kuhpocken gebildeten Antikörper erkennen auch für Menschen pathogene Pockenviren). Die spezifische Bindung von Antikörpern an die Antigene bildet einen wesentlichen Teil der Abwehr gegen die eingedrungenen Fremdstoffe. Bei Krankheitserregern (Pathogenen) als Fremdstoffen kann die Bildung und Bindung von Antikörpern zur Immunität führen. Antikörper sind zentrale Bestandteile des Immunsystems höherer Wirbeltiere.
Antikörper werden, wie 1948 von der schwedischen Immunologin Astrid Fagraeus erstmals beschrieben wurde, von einer Klasse weißer Blutzellen (Leukozyten) sezerniert, die als Effektorzellen beziehungsweise Plasmazellen bezeichnet werden und differenzierte B-Lymphozyten darstellen. Sie kommen im Blut und in der extrazellulären Flüssigkeit der Gewebe vor und „erkennen“ meist nicht die gesamte Struktur des Antigens, sondern nur einen Teil desselben, die sogenannte antigene Determinante (das Epitop). Die spezifische Antigenbindungsstelle des Antikörpers bezeichnet man als Paratop. Die Antikörper erzeugen beim Kontakt mit dem Antigen die sogenannte humorale Immunantwort (humorale Abwehr).
Struktur von Antikörpern
Da einige Aminosäurereste Zuckerketten tragen, zählen Antikörper zu den Glykoproteinen. Jeder Antikörper besteht aus zwei identischen schweren Ketten (engl. , H) und zwei identischen leichten Ketten (engl. , L), die durch kovalente Disulfidbrücken zwischen den Ketten (sogenannte Zwischenketten-Disulfide) zu einer Ypsilon-förmigen Struktur miteinander verknüpft sind. Die leichten Ketten (auch: Leichtketten) bestehen aus jeweils einer variablen und einer konstanten Domäne. Bezeichnet werden diese als VL und CL. Die schweren Ketten (auch: Schwerketten) hingegen haben jeweils eine variable und drei (IgG, IgA) bzw. vier (IgM, IgE) konstante Domänen. Bezeichnet werden diese analog als VH und CH1, CH2, CH3.
Die variablen Domänen einer leichten und einer schweren Kette zusammen bilden die Antigenbindungsstelle. Die Konstantdomäne CH2 besteht u. a. auch aus einer Kohlenhydratkette, die eine Bindungsstelle für das Komplementsystem bildet. Die Konstantdomäne CH3 ist die Fc-Rezeptor-Bindungsstelle zur Opsonierung. Die variablen Domänen bilden ihrerseits verschiedene charakteristische Paratope aus, die zusammen einen Idiotyp bilden.
Die beiden Leichtketten sind je nach Organismus und Immunglobulin-Subklasse entweder vom Typ κ oder λ und bilden zusammen mit dem oberhalb der Gelenkregion (engl. , auch: Scharnierregion) liegenden Anteil der Schwerketten das antigenbindende Fragment Fab (engl. ), welches enzymatisch mit Hilfe von Papain von dem darunterliegenden kristallisierbaren Fragment Fc (engl. ) abgespaltet werden kann. Die außergewöhnliche Variabilität der Antigenbindungsstellen (engl. , CDR) erreicht der Organismus vermittels der V(D)J-Rekombination.
Papain spaltet oberhalb der Zwischenketten-Disulfidbrücken der beiden Schwerketten zueinander. Man erhält so zwei Fab-Fragmente und ein vollständiges Fragment Fc. Pepsin hingegen spaltet unterhalb der Disulfidbrücken. Die Gelenkregion bleibt zwischen beiden Fab-Fragmenten erhalten. Man nennt dieses Fragment dann F(ab)2. Pepsin und Plasmin spalten auch das Fc-Fragment zwischen der zweiten und dritten Domäne des konstanten Teils der Schwerkette.
Rein von der Struktur her betrachtet, kommen in allen Antikörperdomänen allgemein evolutionär konservierte (universelle) Strukturmotive vor, die mit Intra-Ketten-Disulfidbrücken stabilisiert sind und ausgeloopte Schleifen entlang eines stabförmigen Rückgrats bilden. Dieses Schleifenmotiv (Loops, auch Immunoglobulin-like domain) ist universell und findet sich in allen Immunglobulinen, Antikörpern, Immunadhäsinen und auch im Haupthistokompatibilitätskomplex, in T-Zell-Rezeptoren, CD4-Rezeptoren, weiteren CD-Zellberflächenproteinen, Signalmolekülen und fast allen übrigen Immunmolekülen. Diese molekulare Verwandtschaft verdeutlicht die gemeinsame evolutionäre Abstammung vieler der im Immunsystem beteiligten Moleküle, die zusammenfassend auch als Immunglobulin-Superfamilie bezeichnet werden.
Antigen – Antikörper – Bindung
Antikörper binden mit ihrer A(ntigen)B(indungs)-Region (Paratop) das Epitop des Antigens relativ spezifisch, analog dem Schlüssel-Schloss-Prinzip. Es passiert jedoch nicht selten, dass, metaphorisch dargestellt, ein zweiter oder dritter Schlüssel existiert, der in das Antikörper-„Schloss“ passt, aufgrund der (zufällig) ähnlichen oder identischen Konfiguration des Epitops. Mit sehr geringer Wahrscheinlichkeit kann das auch eine körpereigene Struktur sein. Auf diesem Phänomen beruhen manche Autoimmunerkrankungen.
Die Bindung zwischen Epitop und Immunglobulin ist nicht-kovalent und unterliegt dem Massenwirkungsgesetz. Eine effektive Agglutination, das heißt eine Verklumpung durch Ausbildung großer Komplexe, ist daher nur bei etwa gleicher Anzahl von Epitopen und Bindungsstellen möglich. Bei großen Abweichungen nach oben oder unten bleiben die Komplexe in Lösung; trotzdem tritt meist eine Neutralisation der Wirkung der Antigene ein. Gegen mehrere Virusstämme wirksame neutralisierende Antikörper werden als breitneutralisierende Antikörper bezeichnet, z. B. Breitneutralisierende Anti-HIV-Antikörper. Die Anzahl an Bindungsstellen auf einem Antikörper wird als Valenz bezeichnet und variiert je nach Antikörper-Subtyp. Während die meisten Antikörpersubtypen wie IgG zwei Bindungsstellen aufweisen, besitzen IgA vier Bindungsstellen und IgM zehn Bindungsstellen.
Antikörper als B-Zell-Rezeptoren
Membranständige Antikörper (als B-Zell-Rezeptoren (BCR) bezeichnet) können B-Zellen aktivieren, wenn sie durch Antigene quervernetzt werden. Die B-Zelle nimmt daraufhin den Immunkomplex durch Endozytose auf, verdaut das Antigen proteolytisch und präsentiert über MHC-Klasse-II-Moleküle (Peptide mit 13–18 Aminosäuren) Fragmente davon auf ihrer Zelloberfläche. Wenn die präsentierten Fragmente auch (parallel auf anderen professionellen Antigen-präsentierenden Zellen oder auf ebendieser B-Zelle) von einer CD4-T-Zelle (T-Helferzellen) erkannt werden, stimuliert diese T-Zelle die B-Zelle, was weitere Reifungsprozesse (somatische Hypermutation, Klassenwechsel) und Proliferation zu Antikörper-sezernierenden Plasmazellen oder/und zu B-Gedächtniszellen auslöst. Diese Reifungsprozesse finden innerhalb von Keimzentren (germinal center) in den sekundären lymphatischen Organen (Milz, Lymphknoten) statt und werden unter dem Begriff der Keimzentrumsreaktion (germinal center reaction) zusammengefasst.
Der B-Zell-Rezeptor ist, mit Ausnahme eines kleinen Teils am Carboxylende der schweren Kette, mit dem Antikörper der jeweiligen B-Zelle identisch. Der B-Zell-Rezeptor besitzt dort eine hydrophobe, in der Zellmembran verankerte Sequenz, der Antikörper dagegen eine hydrophile Sequenz, die seine Sekretion bewirkt. Die beiden Formen entstehen durch alternative RNA-Prozessierung.
Wirkungsweisen von sezernierten Antikörpern
Sezernierte Antikörper wirken durch verschiedene Mechanismen:
Der einfachste Wirkmechanismus ist die Neutralisation von Antigenen, messbar in einem Neutralisationstest. Dadurch, dass der Antikörper das Antigen bindet, wird dieses blockiert und kann beispielsweise seine toxische Wirkung nicht mehr entfalten, oder andere Wechselwirkungen des Antigens mit Körperzellen werden verhindert, z. B. das Eindringen von Bakterien oder Viren in Zellen oder Gewebe.
Ein weiterer Mechanismus ist die Opsonisierung („schmackhaft machen“), das Einhüllen von Krankheitserregern und Fremdpartikeln mit Antikörpern zur Markierung für das Immunsystem. Wenn ein Antikörper beispielsweise an ein Antigen bindet, das sich auf der Oberfläche eines Bakteriums befindet, markiert er damit gleichzeitig das Bakterium, denn die konstante Region des Antikörpers, der an sein Antigen gebunden hat, wird von Phagozyten erkannt, die als Fresszellen das Bakterium aufnehmen und verdauen können.
Eine dritte Wirkungsweise ist, dass Antikörper das Komplementsystem aktivieren. Dies sind IgM (als Monomer) und auch nach Bindung eines IgG ausgebildete Oligomere von IgG, mit verstärkter Aktivierung durch IgG-Hexamere. Das führt zu einer Perforation der markierten Zelle.
Antikörper, die an körpereigene Zellen binden, können NK-Zellen aktivieren, welche diese Zellen dann abtöten. Dieser Prozess wird auch als antikörperabhängige zelluläre Zytotoxizität (ADCC) bezeichnet.
Dadurch, dass ein Antikörper zwei Antigenbindungsstellen aufweist, kann es zur Agglutination kommen.
Bei Adenoviren wurde ein als intrazellulärer Antikörper-vermittelter Abbau bezeichneter Wirkmechanismus beschrieben.
Verschiedene Klassen von Antikörpern
Bei den meisten Wirbeltieren gibt es fünf verschiedene Klassen (Isotypen) von Immunglobulinen, die anhand ihrer unterschiedlichen Gen-Abschnitte für die konstanten Teile der Schwerkette eingeteilt werden. Darüber hinaus gibt es einige Klassen, die nur in einzelnen Tiergruppen zu finden sind. Die verschiedenen Isotypen kommen in verschiedenen Kompartimenten des Körpers vor und haben unterschiedliche Aufgaben.
Immunglobulin A
Immunglobulin A (IgA) wird auf allen Schleimhäuten der Atemwege, der Augen, des Magen-Darm-Trakts, des Urogenitaltrakts sowie über spezielle Drüsen rund um die Brustwarze von Müttern sezerniert und schützt dort vor Pathogenen (auch das Neugeborene). Sezerniertes IgA kommt in Form von Homodimeren vor; die beiden Anteile sind durch das Joining-Peptid verbunden.
Immunglobulin D
Immunglobulin D (IgD) wird durch alternatives Spleißen der IgM/IgD-Prä-mRNA zusammen mit IgM als B-Zell Rezeptor (BCR) auf reifen, naiven (antigenunerfahrenen) B-Zellen membranständig präsentiert. IgD sind 170–200 kDa große Monomere und nur in geringen Mengen in sezernierter Form in Blut und Lymphe vorhanden (weniger als 1 %). Von Plasmazellen wird IgD nicht sezerniert, und in freier Form schnell abgebaut. Es wirkt als Antigenrezeptor bei der von Antigen stimulierten Vermehrung und bei der Differenzierung der B-Zellen.
Immunglobulin E
Immunglobulin E (IgE) vermittelt den Schutz vor Parasiten, wie z. B. pathogenen Würmern, und ist an Allergien beteiligt. IgE sind 190 kDa große Monomere. Es wird durch Fc-Rezeptoren auf Mastzellen sowie basophile und eosinophile Granulozyten mit hoher Affinität gebunden. Aus diesem Grund ist nahezu alles IgE membrangebunden, im Blut ist es praktisch nicht vorhanden. Bei Antigenkontakt wird es quervernetzt, was zur Ausschüttung von Histamin, Granzymen etc. durch die Mastzellen (Mastzelldegranulation – hier greifen Allergiemedikamente, die die Mastzellen „stabilisieren“) und Granulozyten führt (allergische Sofortreaktion, anaphylaktische Reaktion).
Immunglobulin G
Immunglobuline G (IgG) sind 150 kDa große Monomere mit einem Sedimentationskoeffizient von 7S. Diese Antikörperklasse wird erst in einer späten Abwehrphase, etwa 3 Wochen nach Infektion, gebildet und bleibt lange erhalten. Der Nachweis zeigt eine durchgemachte Infektion oder eine Impfung an.
Die immunisierende Funktion beruht auf zwei antigengebundenen IgG, die das Komplementsystem aktivieren. Der Fc-Rezeptor vermittelt Phagozytose.
Ein Beispiel ist anti-Masern-IgG, gegen das Masernvirus gerichtete Antikörper der IgG-Klasse, als Zeichen einer gegenwärtigen oder früheren Infektion oder Impfung. Die Rhesusfaktor-D-Antikörper sind ebenfalls von diesem Typ, was zu Komplikationen bei einer Schwangerschaft führen kann, da Immunglobulin G plazentagängig ist. Auch ohne Komplikation wird IgG im mütterlichen Blut aktiv durch die Plazenta(barriere) in den Fötus transportiert und sorgt nachgeburtlich für einen ersten Schutz vor Infektionen.
IgGs werden in folgende Subklassen unterteilt: IgG1-IgG4 (Mensch) bzw. IgG1, IgG2, IgG2b und IgG3 (Maus).
Krankheiten mit einem angeborenen oder erworbenen Antikörpermangel betreffen oft IgG. Bildet der Körper gegen eigene Körperbestandteile Antikörper, so genannte Autoantikörper, spricht man von einer Autoimmunkrankheit.
Pharmakokinetik
Immunglobuline sind nach intravenöser Verabreichung in der Blutbahn des Empfängers unmittelbar und vollständig bioverfügbar. Sie verteilen sich relativ rasch zwischen Plasma und extravaskulärer Flüssigkeit; nach etwa drei bis fünf Tagen wird ein Gleichgewicht zwischen intra- und extravaskulärem Kompartiment erreicht. Die In-vivo-Halbwertszeit von IgG bei Patienten mit primärem Antikörpermangelsyndrom beträgt 35 Tage. Die Halbwertszeit von IgG kann jedoch von Patient zu Patient variieren, vor allem bei Patienten mit primären Immunmangelsyndromen. Immunglobuline und IgG-Komplexe werden in den Zellen des mononukleären phagozytischen Systems abgebaut.
Pharmakologie
Immunglobulin G besitzt ein breites Antikörperspektrum gegen verschiedene infektiöse Erreger. Opsonisierung und Neutralisierung von Mikroben und Toxinen durch spezifische Antikörper wurden nachgewiesen. IgG-Antikörper werden aus Plasma von mindestens 1000 Spendern hergestellt; die Subklassenverteilung entspricht der des humanen Plasmas. Durch entsprechende Dosierungen können erniedrigte IgG-Serumspiegel auf Normalwerte angehoben werden. Der Wirkmechanismus bei anderen Anwendungsgebieten als der Substitutionstherapie ist noch nicht vollständig erforscht, schließt jedoch immunmodulatorische Wirkungen ein. Die Fertigprodukte sind auf einen schwach sauren pH-Wert eingestellt. Nach Verabreichung hoher Dosen von IgG wurde keine Veränderung des Blut-pH-Wertes gemessen. Die Osmolalität von Fertigarzneimitteln liegt nahe an den physiologischen Werten (285–295 mOsmol/kg).
Präklinische Daten zur Sicherheit
Immunglobuline sind normale Bestandteile des menschlichen Körpers. Die akute Toxizität beim Tier ist nicht festzulegen, da das zu verabreichende Volumen oberhalb der tolerierbaren Grenze läge. Tierstudien über chronische Toxizität und Embryotoxizität sind nicht möglich, da diese durch die Bildung von Antikörpern gegen Humanproteine gestört werden. Klinische Erfahrungen haben keine Hinweise auf kanzerogene oder mutagene Effekte geliefert. Deswegen wurden experimentelle Untersuchungen am Tier nicht für notwendig erachtet.
Immunglobulin M
Immunglobulin M (IgM) ist die Klasse von Antikörpern, die bei Erst-Kontakt mit Antigenen gebildet wird und zeigt die akute Infektionsphase einer Krankheit an, beispielsweise anti-Masern-IgM, gegen das Masernvirus gerichtete Antikörper der IgM-Klasse als Zeichen einer frischen Infektion. Daher ist ein rezenter Anstieg von IgM generell ein wichtiger Hinweis für eine durchgemachte Erstinfektion.
IgM ist ein Pentamer (Oligomer) aus fünf Untereinheiten von je 180 kDa. Diese Untereinheiten sind durch das cysteinreiche, 15 kDa große Joining Peptide (J-Kette) verbunden. Die Molekularmasse des IgM-Pentamers beträgt 970 kDa, der Sedimentationskoeffizient 19S. Da IgM 10 Bindungsstellen für Antigene hat, führen diese Antikörper zu einer starken Agglutination. Der Antigen-Antikörperkomplex von IgM-Pentameren aktiviert den klassischen Weg des Komplementsystems, weiterhin werden die AB0-Blutgruppen von IgM-Antikörpern erkannt. 10 % des Gesamt-Ig macht IgM aus.
Immunglobulin W
Immunglobulin W (IgW) wurde erst 1996 in einer Haiart entdeckt. Aufgrund dessen wurde ursprünglich angenommen, dass es nur in Knorpelfischen vorkommt. 2003 wurde IgW jedoch auch in Lungenfischen, einer Klasse der Knochenfische, nachgewiesen. IgW besitzt wahrscheinlich einige Eigenschaften eines hypothetischen Ur-Immunglobulins und ist deshalb vor allem für die Forschung zur Evolution des Immunsystems von Interesse.
Immunglobulin Y
Immunglobulin Y (IgY) auch Chicken IgG, Egg Yolk IgG oder 7S-IgG genannt, ist in Hühnern das funktionelle Äquivalent zu IgG und ähnelt diesem in seiner Struktur. Es ist in hohen Konzentrationen in Hühnereiern zu finden. Für die Verwendung für bioanalytische Zwecke in Immunassays bietet IgY verschiedene Vorteile gegenüber IgG.
Anwendung von Antikörpern in der Medizin
Aus Tieren gewonnene Antikörper (Antiseren) werden als Therapeutikum für verschiedenste Zwecke eingesetzt. Ein wichtiges Beispiel ist die Verwendung als passiver Impfstoff.
Intravenöse Immunglobuline (IVIG) sind zugelassen zur Substitutionsbehandlung bei verschiedenen angeborenen oder erworbenen Störungen der Antikörperbildung (z. B. bei chronisch lymphatischer Leukämie, Multiplem Myelom oder nach allogener hämatopoetischer Stammzellentransplantation) sowie zur Immunmodulation bei einigen Autoimmunerkrankungen (z. B. Immunthrombozytopenie, Guillain-Barré-Syndrom) und Erkrankungen unbekannter Ätiologie (z. B. Kawasaki-Syndrom). Die Querschnitts-Leitlinien der Bundesärztekammer zur Therapie mit Blutkomponenten und Plasmaderivaten erwähnen darüber hinaus die Off-Label-Anwendung in verschiedenen Indikationen. Zu den lange bekannten möglichen seltenen Nebenwirkungen von IVIG-Präparaten zählen reversible hämolytische Reaktionen. Diese werden vermutlich ausgelöst durch Antikörper gegen Blutgruppenantigene (Isoagglutinine), die in den IVIG-Präparaten enthalten sein können. Im März 2013 thematisierte die Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft (AkdÄ) in ihrer Drug Safety Mail Meldungen von schweren hämolytischen Reaktionen nach intravenöser Gabe von Immunglobulinen.
Außerdem werden spezifische monoklonale Antikörper seit neuestem in der Medizin therapeutisch eingesetzt. Hauptanwendungsgebiet ist die Hämatologie und Onkologie, daneben werden sie auch in der Behandlung von Autoimmunerkrankungen wie Multipler Sklerose, Rheumatoider Arthritis (RA) oder CIDP (chronische inflammatorische demyelisierende Polyneuropathie), AIDP (akute inflammatorische demyelisierende Polyneuropathie), MMN (Multifokale motorische Neuropathie) und verwandten neuromuskulären Erkrankungen eingesetzt. Hierbei erkennen diese Antikörper pro-inflammatorische Zytokine wie Interleukin-1 oder Lymphotoxin-α. Antikörper gegen den B-Zell-Oberflächenmarker CD20 erkennen zwar nur naive (antigenunerfahrene) und Gedächtnis-B-Zellen, jedoch keine Plasmazellen (CD20neg), dennoch ist auch diese Therapie relativ erfolgreich. Damit stellen Antikörper eine Medikamentenklasse dar, die erstmals in der Lage ist, spezifisch in die entzündlichen Vorgänge einzugreifen (Biologicals).
Auch dienen Antikörper/T-Zell-Rezeptoren in jüngster Zeit zur gentechnischen Erzeugung von chimären Antigen-Rezeptoren (CAR), d. h. Zwittermolekülen, die halb aus einem Antikörper-Arm gegen eine Tumorzelle, halb aus einem Arm zum Anlocken z. B. einer Killer-T-Zelle bestehen. Dies findet Anwendung in der spezifischen Krebsbekämpfung durch CAR-T-Zell-Therapie, wobei gegen etwaige Nebenwirkungen einer solchen Therapie in die CAR-Moleküle auch Suizidschalter eingebaut werden. Das Suizidelement (oft künstliche Dimerisierungsdomänen aus ganz anderen Proteinen) kann durch externes Verabreichen von kleinmoleküligen Arzneistoffen, wie Tacrolimus, aktiviert werden und führt so zum Absterben der CAR-T-Zelle und zum molekularen An/Abschalten der Therapie.
In der Immunszintigrafie werden Antikörper auch dazu verwendet bestimmte Zielstrukturen, beispielsweise Tumorzellen, im Körper ausfindig zu machen. Dazu wird an den Antikörper ein meist sehr kurzlebiges Radionuklid gekoppelt. Mittels Szintigrafie oder Positronen-Emissions-Tomographie kann man dann feststellen, wo sich der Antikörper bzw. dessen Zielstruktur (Target) genau befindet.
Früher war der konstante Teil der Antikörper noch murinen (aus der Maus) Ursprungs, was zu Abstoßungsreaktionen durch das Immunsystem führen konnte. Um dieses Problem zu umgehen, werden neuerdings sogenannte humanisierte Antikörper verwendet. Herkömmliche monoklonale Antikörper enthalten neben der die Spezifität gegen humane Antigene vermittelnden variablen Region immer noch Proteinbestandteile der Maus, die das menschliche Immunsystem möglicherweise als fremdartig abstößt. Mit Hilfe molekularbiologischer Verfahren werden deshalb die murinen Teile der konstanten Abschnitte entfernt und durch baugleiche konstante Teile menschlicher Antikörper ersetzt. Die konstanten Abschnitte der Antikörper spielen für die spezifische Bindung des monoklonalen Antikörpers keine Rolle. Der so entstandene monoklonale Antikörper wird als „humanisierter monoklonaler Antikörper“ bezeichnet und wird vom Immunsystem des Menschen nicht mehr abgestoßen. Humanisierte Antikörper werden in einer Kultur aus Hamster-Ovarialzellen hergestellt, weshalb ihre Produktion sehr viel aufwändiger und deshalb auch teurer als die Produktion in Mikroorganismen ist.
Bei der Radioimmuntherapie ist eine ionisierende Strahlungsquelle mit möglichst kurzer Reichweite an einen Antikörper gekoppelt. Zum Einsatz kommen hier vor allem kurzlebige Beta-, seltener Alphastrahler, mit kurzer Reichweite im Gewebe.
Bei der Impfstoffentwicklung gegen variable Pathogene werden breitneutralisierende Antikörper (bnAb) untersucht, die gegen mehrere Stämme eines Virus wirksam sind, beispielsweise breitneutralisierende Anti-IAV-Antikörper und breitneutralisierende Anti-HIV-Antikörper.
Anwendung von Antikörpern in der Biologie
Die hohe Spezifität, mit der Antikörper ihr Antigen erkennen, macht man sich in der Biologie zu Nutze, um das Antigen, in den allermeisten Fällen ein Protein, sichtbar zu machen. Die Antikörper sind entweder direkt mit einem Enzym (setzt ein Substrat in Farbe oder Chemolumineszenz um), mit Fluoreszenzfarbstoffen oder mit radioaktiven Isotopen gekoppelt (gelabelt) oder werden mit einem Sekundärantikörper, der an den ersten (Primärantikörper) bindet und entsprechend gelabelt ist, nachgewiesen.
Abzyme
Immunfärbungen, darunter:
FACS: Quantifizierung von Zellen mittels fluoreszenzgekoppelter Antikörper gegen Antigene auf der Zelloberfläche, im Zytoplasma oder im Zellkern
Immunohistochemie: Nachweis eines Antigens auf einer Zelloberfläche, im Zytoplasma oder im Zellkern mittels Antikörpern auf Gewebsdünn- (Cryo- oder Paraffin-) schnitten und damit indirekter Nachweis von Zelltypen, Differenzierungsstadien etc.
In-situ-Hybridisierung
Western Blot
ELISA: Quantifizierung von Antigenen oder Antikörpern im Serum, Zellkulturüberständen etc. mittels enzymgekoppelter Antikörper
ELISPOT: Nachweis von antikörper- oder antigensezernierenden Zellen (Plasmazellen, zytokinsezernierende Zellen) mittels enzymgekoppelter Antikörper
EMSA: Beim Nachweis des gebundenen Proteins mittels Supershift
Immunpräzipitation
Chromatin-Immunpräzipitation
Affinitätschromatographie
Schnelltests:
Corona-Schnelltest
Drugwipe-Test
Schwangerschaftstest
Gewinnung von Antikörpern
Monoklonale Antikörper
Ein monoklonaler Antikörper ist gegen genau ein spezifisches Epitop eines Antigens gerichtet. Zunächst müssen, wie bei der polyklonalen Antikörperherstellung beschrieben, Tiere immunisiert und dann deren Plasmazellen (aus Milz oder Lymphknoten) gewonnen werden. Da die Plasmazellen die Fähigkeit zur Zellteilung verloren haben, muss zuerst eine Verschmelzung mit Tumorzellen erfolgen. Die so entstandenen Zellhybriden (Hybridom-Technik) erhalten von den Plasmazellen die Eigenschaft, einen bestimmten Antikörper zu produzieren und zu sezernieren und von der Tumorzelle die Fähigkeit, in Kultur sich theoretisch unendlich oft teilen zu können und somit theoretisch unendlich lange zu leben. Durch mehrfaches Vereinzeln (Klonieren) wird ein Stamm von Zellen gewonnen, der auf eine einzelne Hybridoma-Zelle und somit auf eine einzelne Plasma-Zelle zurückgeht.
Die so erhaltenen Zelllinien können nun in Kultur unendlich stark expandiert werden und damit auch theoretisch unendlich große Mengen Antikörper produzieren. Da alle Zellen auf eine einzige Zelle zurückzuführen sind, handelt es sich bei allen Zellen einer Kultur um identische Kopien ein und derselben Zelle. Aufgrund dessen produzieren auch alle Zellen einen bestimmten, identischen Antikörper, der sich hinsichtlich seiner Eigenschaften (z. B. Bindungsstelle am Antigen, Stärke der Bindung etc.) genau definieren lässt und in theoretisch unbegrenzter Menge herstellbar ist.
Rekombinante Antikörper
Rekombinante Antikörper werden in vitro hergestellt, das heißt ohne Versuchstier. Rekombinante Antikörper werden typischerweise aus Genbibliotheken hergestellt, die für die Herstellung der Antikörper in Mikroorganismen geeignet sind. Die Auswahl des richtigen (= spezifisch bindenden Antikörpers) erfolgt dabei nicht durch das Immunsystem eines Tieres/Menschen, sondern durch einen Bindungsschritt im Reagenzglas. Rekombinante Antikörper können auf vielfältige Weise angewendet werden, da sie einfach verändert werden können, denn ihre Erbsubstanz ist bekannt. So kann ihre Bindungsstärke oder Stabilität verbessert werden oder es können Eiweiße mit anderen Funktionen angehängt werden, z. B. zur Erzeugung von bispezifischen Antikörpern oder Immuntoxinen.
Polyklonale Antiseren
Polyklonale Antiseren sind eine Mischung aus verschiedenen gegen diverse Epitope gerichteten Antikörpern. Zunächst muss das Antigen, gegen das der Antikörper gerichtet sein soll, ausgewählt und produziert werden. Dies kann auf verschiedene Weisen erreicht werden, zum Beispiel, indem ein Protein isoliert, ein Peptid in vitro synthetisiert oder das Protein als ganzes rekombinant in Bakterien hergestellt wird. Anschließend wird das Protein einem Tier eingespritzt, dessen Immunsystem dann Antikörper gegen das Protein bildet. Dieser Vorgang heißt „Immunisierung“. Als Antikörper-Produzenten werden besonders Mäuse, Ratten und Kaninchen, aber auch Ziegen, Schafe und Pferde verwendet. Die Immunisierung wird mehrfach wiederholt. Nach ein paar Wochen kann das polyklonale Antiserum entnommen werden. Darin sind verschiedene durch die Immunisierung gebildete, gegen das Antigen gerichtete Antikörper enthalten, die sich im erkannten Epitop unterscheiden können.
Pathologie
Als Hypogammaglobulinämie wird der Mangel an Antikörpern und als Agammaglobulinämie ihr völliges Fehlen bezeichnet. Ein Zuviel an Antikörpern bezeichnet man als Hypergammaglobulinämie.
Die Diagnose einer Störung der Antikörper wird in der Regel durch die Eiweißelektrophorese des Blutserums gestellt. Eventuell muss diese noch durch eine Immunelektrophorese ergänzt werden.
Ursachen einer ausgeprägteren Hypogammaglobulinämie können u. a. sein:
angeborener Mangel (am häufigsten sind der angeborene Immunglobulin-A-Mangel oder ein Mangel an einer der vier Subklassen von Immunglobulin G)
Erkrankungen mit Störungen der Lymphozyten:
Leukämien
maligne Lymphome
Ursachen einer ausgeprägteren Hypergammaglobulinämie können u. a. sein:
chronische Entzündungen
Erkrankungen mit Störungen der Lymphozyten:
maligne Lymphome, z. B. Plasmozytom/Multiples Myelom oder Morbus Waldenström
Leberzirrhose
Modifizierte Antikörper
Durch Proteindesign wurden verschiedene Derivate von Antikörpern mit teilweise veränderten Eigenschaften erzeugt, z. B. F(ab)2-Fragmente, Fab-Fragmente, scFv-Fragmente, Einzeldomänenantikörper oder Mikroantikörper.
Literatur
Jean Lindenmann: Origin of the Terms ‘Antibody’ and ‘Antigen’. In: Scandinavian journal of immunology. Band 19, Nummer 4, April 1984, S. 281–285, , PMID 6374880.
Weblinks
Einzelnachweise
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https://de.wikipedia.org/wiki/NUTS
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NUTS
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NUTS () bezeichnet eine hierarchische Systematik zur eindeutigen Identifizierung und Klassifizierung der räumlichen Bezugseinheiten der amtlichen Statistik in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union.
Sie lehnt sich eng an die Verwaltungsgliederung der einzelnen Länder an. In der Regel entspricht eine NUTS-Ebene einer Verwaltungsebene oder einer räumlichen Aggregation von Verwaltungseinheiten. Eine vergleichbare Systematik gibt es auch in den EFTA- und CEC-Ländern.
Diese Systematik wurde 1980 vom Europäischen Amt für Statistik in Luxemburg entwickelt, um regionale Raumeinheiten innerhalb Europas auch international statistisch vergleichen zu können. NUTS-Regionen sind die Grundlage für die quantitative Beurteilung von Regionen durch die EU. Im Rahmen der Regionalpolitik werden Fördermittel konkreten NUTS-Regionen (vor allem NUTS-3-Regionen) zugewiesen.
Aufbau und Funktion
Hintergrund
Die Verwaltungseinheiten differieren:
in ihrer nationalen Hierarchiestufe (z. B. Bundesländer, Regionen, Bezirke usw.)
in ihrer Größe (Fläche, Einwohner)
in ihrer Benennung (z. B. Brussel/Bruxelles) (auch Namensdopplungen)
in ihrer Ausdehnung durch Gebietsstandsveränderungen (z. B. Fusionen und Spaltungen)
Daher ist eine hierarchische und eine eindeutige Identifizierung notwendig.
Hierarchieebenen
Geostatistische Daten (z. B. Bevölkerungsdichte, Bruttoinlandsprodukt) basieren immer auf einer Bezugsfläche. Um eine Vergleichbarkeit annähernd zu gewährleisten, können nur Bezugsräume gleicher Hierarchiestufe betrachtet werden. NUTS erreicht dies durch die Definition von vier regionalen Hierarchieebenen und zwei lokalen/kommunalen Hierarchieebenen:
NUTS 0
(Nationalstaaten)
NUTS 1
… größere Regionen/Landesteile
NUTS 2
… mittelgroße Regionen, Millionenstädte
NUTS 3
… kleinere Regionen, teils schon Großstädte
Die früheren Ebenen NUTS 4 bzw. NUTS 5 wurden mit der im Juli 2003 in Kraft getretenen Verordnung umbenannt in LAU 1 bzw. LAU 2 (Local Administrative Units). Sie stellten eine – gewissermaßen unverbindliche – zusätzliche statistische Ergänzung zum NUTS-System dar. Seit 2017 gibt es nur noch eine LAU-Ebene.
LAU
Gemeinden, Kommunen
Verwaltungseinheiten als Basis
„Verwaltungseinheit“ bezeichnet ein geografisches Gebiet mit einer Verwaltungsbehörde, die befugt ist, innerhalb des gesetzlichen und institutionellen Rahmens des Mitgliedstaats administrative und strategische Entscheidungen zu treffen.
Die NUTS-Ebene, der eine Verwaltungseinheit zuzuordnen ist, wird anhand von Bevölkerungsgrenzen bestimmt (dies sind Richtwerte, die im Einzelfall auch über- oder unterschritten werden können):
Für Staaten, die insgesamt kleiner sind als die jeweiligen Grenzwerte, werden die Ebenen 1 bis allfällig 3 systematischerweise mit dem Gesamtstaat belegt.
Zuordnungsmethodik
Jeder EU-Mitgliedstaat, Beitrittskandidatenstaat und die EFTA-Staaten werden über eine zweistellige Buchstabenkombination eindeutig bestimmt (z. B. DE für Deutschland). Diese Codierung entspricht mit Ausnahme von Griechenland (EL statt GR) dem Standard ISO 3166-1 alpha-2 für die weltweit eindeutige Codierung von Nationalstaaten und Regionen. Gleichzeitig ist dies der NUTS-0-Code.
Für die Identifizierung von Territorien der Hierarchieebenen NUTS 1 bis NUTS 3 werden je nach Ebene ein bis drei Stellen an den Landescode angehängt. Teilregionen einer größeren Einheit „erben“ die erste Stelle des NUTS-Codes dieser größeren Region und erhalten eine weitere Stelle. Dabei werden die dazugehörigen Raumeinheiten (meist alphabetisch nach Regionsnamen) mit den Ziffern 1 bis 9 durchnummeriert, ggf. wird mit Buchstaben weitergezählt. Die „0“ wird nicht vergeben und dient stattdessen als Platzhalter.
Ein einzeln stehender NUTS-Code kann demnach über Hierarchiestufe sowie Zugehörigkeit zu größeren Raumeinheiten Auskunft geben. Mittels Nachschlagewerk kann die Region eindeutig benannt werden.
Beispiel für den NUTS-Code DED2B (= Kamenz):
Es handelt sich um eine NUTS-3-Region, da zweistellige Landeskennung DE und weitere drei Stellen.
Die NUTS-3-Region DED2B gehört zur NUTS-2-Region DED2, zur NUTS-1-Region DED und zur NUTS-0-Region DE.
Die NUTS-3-Region Kamenz gehört zur NUTS-2-Region Dresden, zur NUTS-1-Region Sachsen und zur NUTS-0-Region Deutschland.
Aktualisierung
Die Systematik wird regelmäßig dem aktuellen Gebietsstand der Territorien angepasst. Die aktuell geltenden NUTS-Codes sind seit dem 1. Januar 2016 gültig, die ab dem 1. Januar 2021 voraussichtlich geltenden Änderungen hat Eurostat bereits veröffentlicht. Bei einer Gebietsstandsänderung oder Veränderung der räumlichen Zuordnung zu größeren Gebietseinheiten kommt es zur Vergabe neuer NUTS-Codes.
NUTS-Gliederungen nach Staat
Deutschland
NUTS 1: 16 Länder
NUTS 2: 38 Regionen. Dabei handelt es sich um:
19 Regierungsbezirke in den Ländern Baden-Württemberg (4), Bayern (7), Hessen (3) und Nordrhein-Westfalen (5)
10 ehemalige Regierungsbezirke: in Rheinland-Pfalz drei Regierungsbezirke, die 2000 aufgelöst wurden, in Niedersachsen vier Regierungsbezirke, die 2005 aufgelöst wurden und jetzt als Statistische Regionen bezeichnet werden, und in Sachsen 3 Regierungsbezirke, später Direktionsbezirke, die 2012 aufgelöst wurden
9 Länder, die auf dieser Ebene nicht weiter untergliedert werden: die „Stadtstaaten“ Berlin, Hamburg und Bremen, sowie die „Flächenländer“ Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Schleswig-Holstein, Sachsen-Anhalt, Saarland und Thüringen (Sie sind somit gleichzeitig NUTS-1-Regionen und NUTS-2-Regionen.)
NUTS 3: 401 Landkreise/Kreise und kreisfreie Städte bzw. in Baden-Württemberg Stadtkreise
LAU: 11.130 Gemeinden (früher: LAU 1: Gemeindezusammenschlüsse wie Samtgemeinden, Verwaltungsgemeinschaften oder Verwaltungsverbände, aber auch Einheitsgemeinden, LAU 2: Gemeinden und gemeindefreie Gebiete)
Stand: 30. November 2018
Österreich
NUTS 1: 3 Gruppen von Bundesländern
NUTS 2: 9 Bundesländer
NUTS 3: 35 Gruppen von Bezirken
LAU: 2.098 Gemeinden
Stand: 1. Jänner 2019
Schweiz
Die Schweiz ist zwar kein EU-Mitglied, aber das Schweizer Bundesamt für Statistik hat NUTS-Regionen abgegrenzt:
NUTS 1: Schweiz insgesamt
NUTS 2: die 7 Grossregionen, zu denen jeweils mehrere Kantone zusammengefasst wurden, ohne dabei einzelne Kantonsteile unterschiedlichen Regionen zuzuordnen, wie sich das geographisch eigentlich aufdrängen würde. Beispiel: der Kanton Solothurn ist gänzlich dem Espace Mittelland zugeordnet, obwohl ein wesentlicher Teil gar nicht im Mittelland liegt, sondern in der Nordwestschweiz.
NUTS 3: die 26 Kantone
Nationale Äquivalente
Bei Ländern mit deutscher Amtssprache wird die amtliche deutsche Bezeichnung genannt; bei anderen mehrsprachigen Ländern nur eine Sprachvariante (ohne nichtlateinische Schreibung; in Klammern genannt sind verbreitetere Übertragungen ins Deutsche)
Die zweite Spalte stellt die Sortierung nach Mitgliedern (EU) – Assoziierte (EFTA) – Beitrittskandidaten (CC) her.
Zahlen in runden Klammern geben die Anzahl von Untergruppen an, zum Beispiel besteht die NUTS-2-Ebene in Belgien aus zehn Provinzen + Brüssel-Hauptstadt (10+1=11).
Quellen: EUROSTAT: EU-Staaten, EU-Kandidaten und EFTA-Staaten (nicht-EU)
Anmerkungen:
Siehe auch
Local administrative unit – LAU
ISO 3166 – Codierung für Raumeinheiten
UN/LOCODE, eine Systematik für Ortsschlüssel der Vereinten Nationen
Amtlicher Gemeindeschlüssel, die Systematik der Statistischen Ämter in Deutschland und Österreich
Hierarchical administrative subdivision codes
Literatur
Regions in the European Union. Nomenclature of territorial units for statistics – NUTS 2006/EU-27. (PDF; 5,5 MB) Eurostat, 2007 edition, Office for Official Publications of the European Communities, Luxembourg 2007, ISBN 978-92-79-04756-5, – zu den Grundlagen und mit den Änderungen 2003 zu 2007
Weblinks
. In: EUR-Lex.
Eurostat: Correspondence between the NUTS levels and the national administrative units (Stand 2020)
Liste der NUTS Codes Ebene 1 bis 3 von 2016 mit Änderungen zu 2013, simap.ted.europa.eu
Diána Haase: Gemeinsame Klassifikation der Gebietseinheiten für die Statistik (NUTS). In: Kurzdarstellungen zur Europäischen Union, europarl.europa.eu, April 2014.
NUTS – Systematik der Gebietseinheiten für die Statistik, Eurostat (deutsch)
Geschichtliche Entwicklung der NUTS-Gliederungen, Eurostat (deutsch)
Administrative units / Statistical units. GISCO Geodata (öffentliche GIS-Daten)
nutscode.de – Suchmaschine für die NUTS-Codes in Deutschland
Rechtsquellen
(Abl. L 154 vom 21. Juni 2003, S. 1).
(Übersicht zur Verordnung (EG) Nr. 1059/2003 und verbundenen Rechtsakte)
Einzelnachweise
Amtliche Statistik
Abkürzung
Geostatistik
Humangeographie
Regionales Gliederungssystem
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Q193083
| 276.359339 |
734197
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https://de.wikipedia.org/wiki/Dagestan
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Dagestan
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Die Republik Dagestan () ist seit 1991 eine russische Republik im Nordkaukasus im südlichen Teil Russlands. Es ist die flächengrößte und bevölkerungsreichste der russischen Kaukasusrepubliken. Vorgänger des multinationalen Föderationssubjekts war die Dagestanische ASSR im Rahmen der Russischen SFSR. Der Name bedeutet „Bergland“ in den Turksprachen.
Geographie
Dagestan setzt sich aus einem flachen Nordteil, der Nogaiersteppe, dem Kaukasusvorland sowie einem gebirgigen Südteil zusammen. Der höchste Berg ist mit 4466 Meter der Bazardüzü (Basardjusi) an der Grenze zu Aserbaidschan, an das die Republik im Süden grenzt. Im Südwesten grenzt Dagestan an Georgien, im Westen an Tschetschenien und im Norden an Kalmückien und die Region Stawropol. Im Osten besitzt es eine lange Küste am Kaspischen Meer. Die wichtigsten Flüsse sind der Terek, der Sulak und der Samur, der Grenzfluss zu Aserbaidschan. In Dagestan liegt der südlichste Punkt der Russischen Föderation. Die Region ist wichtig für den Transitverkehr von Russland nach Aserbaidschan und in den Iran.
Klima
Das Klima ist in den niedrigen Teilen sehr mild und im Sommer meist sehr trocken.
Im Norden Dagestans herrschen steppenartige Verhältnisse.
Bevölkerung
Die russische Volkszählung registrierte im Jahr 2010 2.910.249 Einwohner. Dagestan gehört zu den russischen Regionen mit dem stärksten Bevölkerungszuwachs; 1989 lebten noch rund 1,8 Millionen Menschen in Dagestan. 2002 lebten ca. 56 Prozent der Bevölkerung unter der Armutsgrenze; somit gehört Dagestan zu den ärmsten Republiken der Russischen Föderation. Auch das BIP pro Kopf ist eines der niedrigsten in der Föderation: pro Kopf kommt man auf 16.470 Rubel (ungefähr 593,51 US-$ oder 435,60 € bei dem damaligen Wechselkurs).
Sprachen
Dagestan ist ein überaus vielsprachiges Land – wenn man die innereurasische Grenze am Kaukasus festlegt, sogar die vielsprachigste Region Europas. Linguisten zählen fast 30 einheimische (autochthone) Sprachen und nahezu 80 Dialekte, die innerhalb einiger (jedoch nicht aller) Sprachen, z. B. innerhalb der darginischen Sprachgemeinschaft, so unterschiedlich sind, dass einige Linguisten solche Dialekte als gesonderte Sprachen betrachten. Ein Teil dieser Sprachen wird nur in wenigen Dörfern, in seltenen Fällen nur innerhalb eines Dorfes gesprochen. Die meisten einheimischen Sprachen gehören zur nordostkaukasischen Sprachfamilie, die sich im zerklüfteten Bergland stark ausdifferenziert hat. Die drei häufigsten nordostkaukasischen Sprachen sind Awarisch, Darginisch und Lesgisch.
Dazu kommen drei größere Turksprachen (Kumykisch, Aserbaidschanisch und Nogaisch) sowie das dem Persischen nahestehende Tatisch und, in einigen Terekkosaken-Dörfern in der nördlichen Steppe bereits seit dem 16. Jahrhundert verbreitet, das Russische.
Trotz der sprachlichen Eigenständigkeit vieler Landstriche und Dorfgemeinschaften lebten diese nie völlig isoliert. Der Fernhandel über Derbent zwischen Persien/Aserbaidschan und der Krim bzw. Osteuropa, politische Bündnisse und besonders die bis ins 20. Jahrhundert übliche halbnomadische Fernweidewirtschaft, bei der die meisten Dorfbewohner ihre Viehherden aus dem Bergland auf gepachtete Winterweiden im Vorland oder aus dem Vorland auf Sommeralmen im Kaukasus begleiteten, führten zu regelmäßigen Kontakten zwischen verschiedensprachigen Gemeinschaften.
Als mündliche Verkehrssprachen dienten dabei früher Kumykisch, um Derbent auch Aserbaidschanisch. Für die schriftliche Kommunikation (Briefe) und auch nichtreligiöse Literatur (z. B. Lyrik, Geschichtswerke) wurde, stärker als in anderen nicht–arabischsprachigen islamischen Regionen, die Fremdsprache Arabisch verwendet. Seit dem 19. Jahrhundert übernahm Russisch die Rolle der mündlichen und schriftlichen Verkehrssprache.
Wurden mehrere der oben genannten Sprachen traditionell in arabischer Schrift geschrieben, so wurde unter sowjetischer Herrschaft in den 1920er Jahren zunächst eine lateinische Orthografie festgelegt, ehe diese bereits ein Jahrzehnt später wiederum durch die Schreibung in kyrillischen Buchstaben ersetzt wurde.
Trotz des Rückgangs der russischen Bevölkerung in Dagestan hat die russische Sprache nicht an Bedeutung verloren. Sie dient als Verkehrssprache zwischen den Ethnien und ist besonders in größeren Städten auch zunehmend die bevorzugte Alltagssprache der jüngeren Generation, unabhängig von deren ethnischer Herkunft. Dies hängt unter anderem damit zusammen, dass Russisch in gemischtethnischen Gebieten, vor allem an den höheren Schulen und Hochschulen die führende Unterrichtssprache ist.
Nationalpolitik
Bis ins 20. Jahrhundert war die Identität der Dagestaner nicht mit der eigenen Sprache verknüpft. Sie identifizierten sich mit der Dorfgemeinschaft, die viele organisatorische und juristische Angelegenheiten gemeinsam regelte und mit den Gemeindebünden mehrerer Dörfer und den Fürstentümern, deren Grenzen nicht den Sprachgrenzen entsprachen, sondern nur Teile der Sprachgebiete umfassten oder verschiedensprachige Dörfer und Gebiete vereinten. Erst die sowjetische Politik der Korenisazija, nach der möglichst jeder in seiner Muttersprache alphabetisiert werden sollte und regionale Traditionen und Historien bewusst zur Nationalgeschichte und Nationalkultur umgedeutet wurden, verankerte Identifikationen mit der eigenen sprachlich-kulturellen Ethnie (offiziell „Nationalität“ genannt) in der Bevölkerung. Im vielsprachigen Dagestan stieß diese Politik an Grenzen, nur die zahlreicher verwendeten Sprachen wurden zu offiziell anerkannten Schrift- und Schulsprachen erhoben. Die Sprecher der andischen und didoischen Sprachen und des Artschinischen wurden zur Nationalität der Awaren gezählt und auf Awarisch unterrichtet, von den südlichen lesgischen Sprachen oder Samursprachen wurden nur Lesgisch und Tabassaranisch als offizielle Schriftsprachen anerkannt, erst 1992 auch Rutulisch, Aghulisch und Zachurisch.
In der letzten sowjetischen Volkszählung 1989 stellte die Sowjetunion auf der oben geschilderten Kategorisierung der Bevölkerung 14 in Dagestan vorhandene „Nationalitäten“ fest, ferner 32 „ethnische Gruppen“ sowie schließlich „Andere“, die zahlenmäßig zu klein oder durchmischt waren.
Die so verbreitete Betonung nationaler Identitäten führten in den 1990er Jahren zur Bildung zahlreicher nationalistischer Volksfronten mit bewaffneten Formationen, deren Anführer durch das Schüren der Konflikte oft eigene Machtambitionen verwirklichen wollten. Diese gefährliche Lage konnte gegen Ende des Jahrzehntes durch eine Konkordanz- und Kompromisspolitik weitgehend entschärft werden, die einige Streitfragen löste. Während bei einer Umfrage 1994 in der Hauptstadt Machatschkala noch 52 % ihre Bereitschaft bekundeten, für die eigene Volksgruppe in den bewaffneten Konflikt zu ziehen, glaubten bei einer Umfrage 2013 nur noch 2,8 % der Befragten, dass interethnische Spannungen die Stabilität Dagestans gefährden könnten.
Volksgruppen
Zu den einheimischen Ethnien mit nordostkaukasischen Sprachen gehören rund 77 % der Bewohner. Darunter sind mit den Awaren, Darginern, Lesgiern, Laken und Tabassaranen Volksgruppen mit jeweils deutlich über 100.000 Menschen. Zur Gruppe der Turkvölker gehören die Kumyken, Aserbaidschaner und Nogaier. Sie zählen zusammen über 600.000 Personen und somit etwas mehr als ein Fünftel der Gesamtbevölkerung.
Die früher zahlreichen Taten, Juden und Bergjuden (in Dagestan meistens alternative Selbstbezeichnungen derselben Bevölkerungsgruppe tatischer Sprache und jüdischer Religion mit autochthonen bergjüdischen Traditionen, was die Schwankungen in der Statistik erklärt) sind großteils abgewandert, vorwiegend nach Israel. Der Anteil der in Dagestan lebenden Russen ging ebenfalls stark zurück, sowohl auf Grund einer niedrigeren Geburtenrate, als auch auf Grund von Abwanderung durch die schlechtere Wirtschafts- und Sicherheitslage. Waren Anfang der 1960er-Jahre rund 20 % der Bevölkerung Dagestans Russen (zur Mehrheit seit dem 19. Jahrhundert, teilweise in der Stalinzeit angesiedelt), sind es heute weniger als 4 % (rund 104.000 Menschen). Inzwischen hat sich ihre Zahl jedoch etwas stabilisiert. Fast alle anderen Volksgruppen verzeichneten einen stetigen Zuwachs.
Die größeren Städte Dagestans verfügen in der Regel über eine gemischte Bevölkerung und ziehen Migranten aus den ländlichen Teilen Dagestans an. Die meisten Volksgruppen leben allerdings bis heute in ihren traditionellen Siedlungsgebieten, in denen sie die Mehrheit der Bevölkerung bilden, während sie in anderen Teilen Dagestans fast gar nicht vertreten sind. Viele der Rajons in Dagestan wurden so angelegt, dass sie, zumindest weitgehend, mit traditionellen Siedlungsgebieten der einheimischen Völker übereinstimmen und daher oft über eine ethnisch homogene Bevölkerung verfügen. So leben etwa die Nogaier hauptsächlich im Nogaiski rajon in Norddagestan, wo sie 87 % der Bevölkerung ausmachen. Aserbaidschaner sind hauptsächlich in und um Derbent herum ansässig, während sich das Hauptsiedlungsgebiet der Awaren im Südwesten Dagestans findet. Tschetschenen leben in und um Chassawjurt und Lesgier in den südlichsten Rajons an der Grenze zu Aserbaidschan.
In sowjetischer Zeit begann schon im Bürgerkrieg eine verstärkte Ansiedlung von Bergbewohnern im Vorland, um die dicht bevölkerten Berggebiete zu entlasten und die rebellische Bevölkerung besser kontrollieren zu können, was ab 1928 verstärkt betrieben wurde und wobei auch die traditionelle Winterweidewirtschaft ganzer Dörfer während der Zwangskollektivierung verboten wurde und feste Wohndörfer der Bergethnien im Bergland oder Vorland verpflichtend wurden. Ca. 1944–53 folgt eine Reihe weiterer, meist zwangsweise Dorfumsiedlungen, oft von Stalin selbst angeordnet. Seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, verstärkt ab Ende der 1960er-Jahre kamen dazu zahlreiche individuelle Umzüge aus den wenig durch Infrastruktur erschlossenen Bergdörfern in besser entwickelte Teile Dagestans, besonders die Städte. Besonders in den von Russen, Nogaiern, Kumyken und Aserbaidschanern bewohnten Gebieten Dagestans am Rand des Gebirges führte die Ansiedlung von Awaren, Darginern und anderen Bergbewohnern zu einer Änderung der Bevölkerungszusammensetzung und es entstand ein komplexes ethnisches Mosaik im Gebirgsvorland, was in den 1990er Jahren auch zu Spannungen und Übergriffen zwischen nationalistischen Bewegungen der Kumyken, Nogaier und Aserbaidschaner und denen der Gebirgsethnien führte, diese Konflikte ebbten Ende des Jahrzehntes weitgehend ab, teilweise konnten sie durch politische Kompromisse gelöst werden.
Die Russen in Dagestan lebten traditionell in den großen Städten, besonders im Großraum Machatschkala-Kaspijsk, wo sie bis Anfang der 1960er-Jahre die Bevölkerungsmehrheit bildeten. Ihr zweites Zentrum in Dagestan bildete die Stadt Kisljar im nördlichen Landesteil, mit den angrenzenden Bezirken Tarumowka und Kisljarski rajon. Dieses Gebiet, das erst 1938 an Dagestan angeschlossen wurde und bis dahin zur Region Stawropol gehörte, ist der einzige Teil Dagestans in dem Russen auch in ländlichen Gebieten traditionell die Mehrheit bildeten. Die dortige russische Bevölkerung führte ihre Herkunft meist auf die Terekkosaken zurück und konnte auf eine wesentlich längere Siedlungsgeschichte in der Region verweisen als die in den Industrie- und Großstädten lebenden Russen, die oft erst Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts zugezogen waren. Durch starke Zuwanderung aus den Gebirgsregionen Dagestans verloren die Russen aber auch in ihren traditionellen Siedlungsgebieten um Kisljar Anfang der 1980er-Jahre die Bevölkerungsmehrheit. In der Stadt Kisljar selbst bildeten sie noch bis etwa 2000 die Bevölkerungsmehrheit und sind bis heute die größte Volksgruppe der Stadt.
Bis zu Beginn des Zweiten Weltkriegs gab es in Dagestan auch eine kleine Minderheit Russlanddeutscher. Die Mehrheit von ihnen waren Mennoniten, Siedlungsschwerpunkt war die Region um Babajurt, wo es über 40 deutsche Siedlungen gab und Deutsche 1939 über 10 % der Bevölkerung ausmachten. 1941 wurden 7306 Deutsche aus Dagestan nach Sibirien deportiert, nahezu die gesamte Minderheit. Nur ein kleiner Teil von ihnen kehrte ab 1956 wieder in ihre alte Heimat zurück. 2010 lebten weniger als 200 Deutsche in Dagestan.
Wichtige ethnische Gruppen in Dagestan sind nach den Volkszählungen von 1926 bis zur Gegenwart:
Religion
94 Prozent der Bevölkerung Dagestans sind ethnische Muslime und etwa zehn Prozent aller Muslime Russlands leben hier. Hauptvertretung der Muslime ist die Geistliche Verwaltung der Muslime Dagestans (Duchownoje uprawlenije Musulman Dagestana; DUM Dagestana). Sie ist Rechtsnachfolgerin der „Geistlichen Verwaltung der Muslime des Nordkaukasus“ (Duchownoje uprawlenije Musulman Sewernowo Kawkasa; DUM SK), die während der sowjetischen Zeit für den gesamten Nordkaukasus zuständig war, und wird seit 1998 von Achmad Magomedowitsch Abdulajew geleitet. Die wichtigste islamische Bildungseinrichtung Dagestans ist die „Nordkaukasische Islamische Universität Mukhammed ʿArip“ in Machatschkala, die 1999 eröffnet wurde.
Nach Angaben des Mufti von Machatschkala wurden in Dagestan ab 1986 wieder neue religiöse Stätten gebaut: 1595 neue Moscheen, 132 Madrassas und 17 islamische Universitäten zur Ausbildung von Imamen. Auch einstige Moscheen wurden seither wieder ihrem alten Zweck entsprechend genutzt.
Traditionell ist der dagestanische Islam stark vom Sufismus geprägt. Seit den frühen 1990er Jahren hat aber auch das Wahhabitentum viele Anhänger in Dagestan. In einzelnen Bergdörfern der Republik gab es Prozesse der Einführung der Scharia als gesetzliche Grundlage. Die Volksversammlung der Republik Dagestan reagierte darauf im September 1999 mit der Verabschiedung eines „Gesetzes über das Verbot wahhabitischer und anderer extremistischer Aktivitäten auf dem Territorium der Republik Dagestan“.
Verwaltungsgliederung
Dagestan ist in zehn Stadtkreise und in 41 Rajons (Landkreise) eingeteilt.
Siehe auch: Verwaltungsgliederung der Republik Dagestan
Städte
Im russischen Vergleich hat Dagestan einen geringen Anteil städtischer Bevölkerung (43 %). Weitere Großstädte neben der Hauptstadt Machatschkala sind Chassawjurt, Derbent und Kaspijsk. Insgesamt gibt es in der Republik zehn Städte und 19 Siedlungen städtischen Typs.
Geschichte
Frühzeit
Die Region war schon in vorgeschichtlicher Zeit besiedelt. Das Römische Reich und Persien stritten um die Vorherrschaft. Um die nördlichen Völker fernzuhalten, wurde die Kaukasische Mauer errichtet. Schließlich wurde das Flachland persische Provinz, die Einwohner des inneren Dagestans blieben freie Bergvölker unter eigenen Khanen. Vom vierten bis ins siebte Jahrhundert herrschten dann die Sassaniden. Im siebten Jahrhundert eroberten die Araber das Gebiet und die meisten Völker konvertierten zum Islam. Alanen, Chasaren, die Goldene Horde und die Mongolen unter Timur Lenk wechselten sich mit der Herrschaft ab.
Im 16. und 17. Jahrhundert gab es eine Reihe unabhängiger Khanate in der Region, bevor die Region in den Streit zwischen Russland, dem Osmanischen Reich und Persien geriet (vergleiche auch Geschichte Aserbaidschans).
Zarenreich
Im Jahr 1801 nahm Russland von Georgien Besitz und war in diesem Zusammenhang bestrebt, den gesamten Nordkaukasus unter Kontrolle zu bringen. 1813 kam der Oblast Dagestan an Russland, 1830 rückten Truppen unter Oberbefehl von Feldmarschall Iwan Paskewitsch in Dagestan ein und sicherten sich 1831–1832 zunächst das Küstengebiet, durch welches die Straße nach Persien führt. Der Widerstand der lokalen Bevölkerung gegen die russische Besetzung zog sich allerdings noch bis in die 1860er Jahre hin. Der Islam-Gelehrte Ghazi Muhammad, der das in Dagestan herrschende Gewohnheitsrecht bekämpfte und zur Anwendung der Scharia aufrief, begründete in Dagestan ein eigenes Imamat und nahm den Kampf gegen Russland auf. Er fiel bei der russischen Einnahme seines Heimatdorfes Gimra im Oktober 1832. Unter ihm und seinem indirekten Nachfolger Imam Schamil verbreitete sich die Sufi-Bruderschaft der Naqschbandīya unter den Bergvölkern Dagestans. Gestützt auf seine Murīden aus der Naqschbandīya-Bruderschaft, führte Imam Schamil den Kampf gegen die Russen fort und konnte auch die awarische Chanfamilie verdrängen. Erst mit der Unterwerfung Imam Schamils 1859 kam Dagestan vollends in den Besitz der Russen.
Allerdings kam es während des Russisch-Osmanischen Krieges (1877–1878) erneut zu einem Aufstand in Dagestan, bei dem der Naqschbandī-Scheich ʿAbd ar-Rahmān as-Sughūrī (1792–1881) eine führende Rolle spielte. Sein Schüler Abū Muhammad al-Kikunī (1835–1913), der an dem Aufstand ebenfalls aktiv teilnahm, wurde nach Irkutsk deportiert, konnte jedoch von dort fliehen und wanderte mit seinen Anhängern ins Osmanische Reich aus.
Das Dagestan des 19. Jahrhunderts erstreckte sich vom östlichen Abhang des Kaukasus bis zum Kaspischen Meer und wurde im Norden von der Oblast Terek (Terskaja oblast), im Süden von den Gouvernements Tiflis und Baku begrenzt. Es hatte 1881 eine Fläche von 29.637 km² und 526.915 Einwohner, 1897 571.200 Einwohner.
Die Sowjet-Epoche
Mit der Gründung der Sowjetunion entstand 1921 die Autonome Sozialistische Sowjetrepublik (ASSR) Dagestan.
Moscheen duldete Stalin nicht in Dagestan; von den 1917 noch 1700 existierenden Moscheen bestand 1940 keine einzige mehr; sie wurden in kommunistische Kulturzentren umgewandelt, geschlossen oder abgerissen. In der Sowjetzeit wurde in Dagestan, besonders in Machatschkala, Rüstungsindustrie angesiedelt.
Mit Auflösung der Sowjetunion 1991 wurden Dagestan weiterreichende Autonomierechte als „Republik“ zugestanden.
In der Russischen Föderation
Politik
Am 24. April 1990 wurde Magomedali Magomedow Staatsratsvorsitzender (er blieb dies bis 2006). Magomedow war Darginer.
Aufgrund der Konflikte, die in den benachbarten Regionen Georgien, Abchasien, Ossetien, Tschetschenien, Armenien und Aserbaidschan ab den frühen 1990er Jahren eskalierten, erkannten die Führer Dagestans trotz anfänglicher Unabhängigkeitsbestrebungen, dass ihre noch viel stärker fragmentierte Gesellschaft durch Separatismus nichts zu gewinnen hatte, und setzten auf eine integrative Lösung, bei der Dagestan in Russland verblieb.
Am 26. Juli 1994 wurde die Verfassung von Dagestan verabschiedet, die am 10. Juli 2003 durch eine neue Verfassung ersetzt wurde. Charakteristikum der ersten Verfassung war der Staatsrat neben dem Parlament, in den jede der 14 anerkannten Nationalitäten Dagestans einen Vertreter wählte und der einen Vorsitzenden als Staatspräsident wählte. In der jüngeren Verfassung wurde der Staatsrat durch einen einheitlichen Präsidenten ersetzt, welcher 2006–18, wie alle Vorsitzenden russischer Föderationssubjekte, nicht mehr von unten gewählt, sondern auf Vorschlag der russischen Zentralregierung ernannt wurde.
Im Jahr 2006 wurde Muchu Aliew, ein ethnischer Aware zum Präsidenten Dagestans ernannt. Er blieb Präsident bis zu seiner Absetzung im Februar 2010.
Von Februar 2010 bis Januar 2013 war Magomedsalam Magomedow, der Sohn des ehemaligen Präsidenten Magomedali Magomedow, Präsident Dagestans. Er gehört der darginischen Volksgruppe an. Im Januar 2013 wurde er von Ramasan Abdulatipow abgelöst, der wiederum ein Aware ist. Als Experte für interethnische Fragen und religiöse Konflikte genoss Abdulatipow in Moskau lange Zeit einen guten Ruf. Bei seinem Amtsantritt schrieb das neue Staatsoberhaupt die Bekämpfung der Korruption und Clanstrukturen auf die Fahnen. Er entließ gleich mehrere örtliche Verwaltungschefs. Für große Schlagzeilen sorgte u. a. die Absetzung von Said Amirow, dem langjährigen Bürgermeister der dagestanischen Hauptstadt Machatschkala, der womöglich als mächtigste und einflussreichste Persönlichkeit in der ganzen Republik galt. Der im Juni 2013 festgenommene Amirow wurde den russischen Ermittlungsbehörden überstellt und nach einem politisch motivierten Gerichtsprozess zu 10 Jahren Haft verurteilt.
Im Oktober 2017 wurde Ramasan Abdulatipow durch Wladimir Wassiljew ersetzt. Ab Januar 2018 begann das neue Staatsoberhaupt mit umfassenden Umstrukturierungsmaßnahmen, u. a. mit der Erneuerung des Regierungskabinetts. Nachdem der Bürgermeister und Chefarchitekt von Machatschkala wegen des Amtsmissbrauchs festgenommen wurden, erfolgte Anfang Februar 2018 unter dem Verdacht der Korruption und Unterschlagung von staatlichen Geldern die Inhaftierung des Republikchefs Abdusamad Gamidow, zweier seiner ehemaligen Stellvertreter Schamil Isajew und Rajuddin Jusufow, sowie des vormaligen Bildungsministers Schachabbas Schachow. Auf Vorschlag von Wasiljew wurde am 6. Februar der ehemalige Wirtschaftsminister Tatarstans, Artjom Sdunow, zum neuen Premierminister von Dagestan ernannt.
Die letzten beiden Präsidenten Dagestans, Wladimir Wassiljew und Sergej Melikow haben keinen biographischen Bezug zu Dagestan mehr, sondern kommen aus dem russischen Sicherheitsapparat. Melikow war 2016–19 erster stellvertretender Kommandant der dem russischen Präsidenten direkt unterstellten Nationalgarde Russlands („Rossgwardia“).
Wahlen in Dagestan sind traditionell von groben Fälschungen geprägt. Bei den Wahlen zum Parlament Dagestans vom 13. März 2011 betrug die offizielle Wahlbeteiligung 84,84 % der wahlberechtigten Bevölkerung, inoffiziell wird jedoch von einer Wahlbeteiligung von 20 % gesprochen.
Bei den Parlamentswahlen vom März 2011 erhielt die Partei Einiges Russland mit 65,21 % die meisten Stimmen, gefolgt von Gerechtes Russland mit 13,68 %, den Patrioten Russlands mit 8,39 %, den Kommunisten mit 7,27 %, Gerechte Sache mit 5,09 % und der russisch-nationalistischen Partei LDPR mit 0,05 %. Es gilt eine Fünf-Prozent-Hürde, die zu einem Mandat berechtigt, jedoch erst bei Überwinden einer Sieben-Prozent-Hürde wird eine Partei bei der Verteilung der Mandate berücksichtigt. Die regierungsnahe Partei Gerechte Sache erhielt nach der Auszählung von 99 % der Stimmen nur 3,69 % aller Stimmen, gemäß dem offiziellen Resultat jedoch 5,09 %, und damit ein Mandat im Parlament. Dies lässt starke Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Wahlergebnisses aufkommen.
Zivilgesellschaft und Menschenrechte
Obwohl in Dagestan eine relativ freie Presse und eine breite Berichterstattung über lokale Ereignisse stattfindet – dies ganz im Gegensatz zu Föderationssubjekten Russlands wie beispielsweise Tschetschenien – sind das Recht auf Leben, das Recht auf Religionsausübung und das Recht auf freie Meinungsäußerung und andere Menschenrechte oft nicht gewährleistet. Gläubige Muslime sehen sich unkalkulierbarer Verfolgung ausgesetzt, indem sie an der Religionsausübung gehindert werden, beispielsweise durch Schließung von Moscheen. Es kommt regelmäßig zu außergerichtlichen Hinrichtungen und zur Entführung von nicht angeklagten Personen durch die Staatsorgane, und zu von staatlicher Seite fabrizierten willkürlichen Anklagen gegen Journalisten unter dem Vorwand der Extremismusbekämpfung.
Kriegerische Ereignisse und Terrorakte
Mitte der 1990er Jahre wurde Dagestan zunehmend in den Tschetschenienkrieg hineingezogen. Guerilla-Kämpfe haben seither einige Hundert Todesopfer auf Seiten der Regierungstruppen wie der Rebellen, aber auch von Zivilisten gefordert.
Bereits 1996 versuchten tschetschenische Rebellen durch eine Geiselnahme im dagestanischen Perwomaiskoje den Abzug russischer Truppen aus Tschetschenien zu erzwingen. Weitere Entführungen mit oft kriminellem Hintergrund folgten: Regelmäßig wurden Ausländer in Dagestan entführt, verschleppt und dann von Tschetschenien aus bis zum jeweiligen Freikauf als Geiseln gehalten. Erst durch das völlige Ausbleiben von Ausländern änderte sich die Sicherheitslage zum Positiven.
Am 21. August 1998 wurde Saidmuhammad Abubakarow, ein einflussreicher Mufti und Gegner der Radikalislamiten in seinem Auto in Machatschkala in die Luft gesprengt.
Im August 1999 marschierten Kämpfer des Rebellenführers Schamil Bassajew in Dagestan ein, um das Gebiet zum Teil eines islamischen Emirats zu machen. Sie wurden bereits nach wenigen Wochen von der russischen Armee vertrieben. (Siehe Dagestankrieg)
Am 27. August 2003 fiel Magomedsaleh Gusajew, Minister für Außenbeziehungen Dagestans einem Attentat der Extremisten zum Opfer.
Anfang 2005 ließen Aufständische zwei Züge entgleisen und sabotierten mehrere Gas-Pipelines. Einen Monat später wurde der stellvertretende Innenminister, Generalmajor Magomed Omarow, in Machatschkala ermordet.
Vom 15. bis 22. Juli 2008 führten die russischen Streitkräfte ein Großmanöver mit rund 8000 Soldaten, 700 gepanzerten Fahrzeugen sowie 30 Kampfflugzeugen und Hubschraubern in Dagestan durch.
2009 erschoss ein Scharfschütze den Innenminister.
Im Jahr 2010 entfielen, wie in den Vorjahren, die meisten der Opfer der kriegerischen Konflikte im Nordkaukasus auf die Republik Dagestan. Bei Kampfhandlungen, Terroranschlägen und Entführungen wurden 378 Menschen getötet und 307 verletzt. Im Laufe des Jahres 2010 kam es in Dagestan zu 112 Terroranschlägen, weitere 42 Terroranschläge wurden von den Ordnungskräften verhindert. Des Weiteren kam es zu 148 bewaffneten Zwischenfällen und 18 Entführungen. Insgesamt 22 Mal wurde der „Antiterror-Zustand“ (KTO) ausgerufen.
2012 schickte Russland 30.000 zusätzliche Soldaten nach Dagestan, um das Gebiet zu befrieden.
Nachdem im Jahr 2016 mindestens 204 Menschen Opfer von bewaffneten Auseinandersetzungen geworden waren – darunter 140 Tote und 64 Verletzte –, sank diese Zahl im Jahr 2017, nach den öffentlich zugänglichen Daten zu schließen, massiv auf noch 47 Tote und 8 Verletzte. Unter den Toten waren im Jahr 2016 80 % sogenannte „Kämpfer“ zu verzeichnen, im Jahr 2017 81 %.
Wirtschaft
Zu den wichtigsten Wirtschaftszweigen zählen die Ölförderung, Energieerzeugung und Lebensmittelverarbeitung. Generell ist die Republik weniger industrialisiert als andere Regionen Russlands. Die wichtigste Schwerindustrie war bis zum Ende der Sowjetunion die Rüstungsindustrie, die nach deren Ende praktisch stillgelegt wurde. Aufgrund der gebirgigen Lage spielt die Landwirtschaft eine untergeordnete Rolle, einen gewissen Stellenwert nimmt das traditionelle Handwerk ein.
Traditionell wird wenig Getreide (vorwiegend Hirse) produziert, eine große Rolle spielt die Schafzucht. Abgesehen von Öl ist das Land an Bodenschätzen eher arm.
Durch eine staatliche Tourismusagentur soll der Tourismus in Dagestan gefördert werden. Es wird nach Investoren für Tourismuskomplexe am Kaspischen Meer sowie in den Gebirgsregionen Dagestans gesucht, wo unter anderem ein Skisportzentrum errichtet werden soll. Möglichkeiten für die Entwicklung des Tourismus böten sich insbesondere im Alpinismus, Skitourismus, sowie Ethnotourismus.
Bereits seit 2007 existiert der Skiort Tschindirtschero beim Dorf Ginta im Rajon Lewaschi, der Heimat des seit 2010 amtierenden Präsidenten Magomedow. Der Tourismusort ist nach dem gleichnamigen Berg bei Ginta benannt. Als Investoren für Tschindirtschero traten die mehrheitlich dagestanischen Geschäftspartner des in Moskau ansässigen Unternehmens „Rinko Aljans“, das im Umfeld der Ölförderung tätig ist, in Erscheinung.
Die Einkünfte der Republik Dagestan betrugen im Jahr 2017 98,4 Milliarden Rubel, die Ausgaben 95,03 Milliarden Rubel, das Profizit betrug somit über 3 Milliarden Rubel. Die wichtigsten Ausgabeposten waren die Sozialpolitik mit 30,9 % der Ausgaben, die Bildung mit 27,5 % und die regionale Wirtschaft mit 17,3 %. Auch das Budget der Republik Dagestan für 2018 sieht ein Profizit von über 700 Millionen Rubeln vor.
Kultur
Sehenswürdigkeiten
Zu den herausragendsten Sehenswürdigkeiten Dagestans zählt das alte Derbent, die mit über 5000 Jahren älteste Stadt Russlands. In Derbent befindet sich die Festung Narin-Kala, die zum Unesco-Welterbe zählt; die alten Thermen von Derbent, die Moschee aus dem 8. Jahrhundert und die alten Stadtteile, Magale genannt.
In den Bergen Dagestans befinden sich zahlreiche herausragende Bergdörfer, Aule, deren berühmteste das Juwelierdorf Kubatschi, das Töpferdorf Balchar, die Herkunftsaule der Seiltänzer Zowkra und Kumuch sowie die Aule Sogratl, Unzukul und Gunib sowie Tschoch sind.
Das Dorf Kurusch gilt – abhängig von der Definition der Innereurasischen Grenze – als höchstgelegenes Dorf Europas und zugleich als die am weitesten südlich gelegene Siedlung Russlands. Hinter Kurusch erhebt sich der über 4000 Meter hohe Berg Schalbus-Dag, dessen Besteigung gemäß lokaler Tradition alle Sünden abwäscht, weswegen er als Pilgerberg gilt.
In der Nähe von Gunib und Tschoch befindet sich das auch Schamils Sibirien (in Anlehnung an die Tradition Schamils, Unbotmäßige dorthin in die Verbannung zu schicken) genannte, nun unbewohnte, Dorf Gamsutl. Obwohl in den 1950er–1960er Jahren bereits elektrifiziert, wanderte die Bevölkerung von Gamsutl in den 1970er Jahren in die Städte und andere Rajone ab.
In der Sowjetzeit gab es in Dagestan einen regen Tourismus, einerseits an die Strände des Kaspischen Meeres, andererseits in die Bergregionen. Mittlerweile ist der Tourismus jedoch beinahe zum Erliegen gekommen, und es existieren – insbesondere in den abgelegenen Regionen – kaum mehr Hotels oder Unterkünfte.
Feste und Brauchtum
Essen und Trinken
Urbetsch – Paste aus Samen und Kernen, Verwendung als Brotaufstrich und Basis für gleichnamige Süßspeise
Musik
Im Zentrum der traditionellen Musik Dagestans steht bei den meisten Volksgruppen die Vokalmusik, in der überwiegend männliche Sänger Heldenepen und historische Ereignisse zu einfachen melodischen Phrasen vortragen. Als Begleitung für den Männergesang der Awaren (kalul kutschdul) und einigen anderen Völkern dient vor allem die zweisaitige, gezupfte Langhalslaute tamur (auch pandur). Frauen singen manchmal im Duett, häufiger pflegen sie lyrische Liebeslieder (rokul ketsch). Weitere Musikinstrumente der Awaren sind die Stachelfiedel chagana, das Einfachrohrblattinstrument lalu, das Doppelrohrblattinstrument lalabi und die Rahmentrommel chchergilu. Die Darginer spielen die Zupflaute tschungur (namensverwandt mit der georgischen tschonguri) und die agatsch kumuz, eine viersaitige Variante der tamur. Letztere gehört auch zum Instrumentarium der Kumyken, zusammen mit der Schnabelflöte sybyzgi und dem Harmonikainstrument argan.
Ein typischer Rhythmus der Volksmusik besteht aus unregelmäßig abwechselnden 6/8- und 3/4-Takten. Im ganzen Land ist der schnelle Volkstanz Lesginka verbreitet. Die Lesginka ist nur einer von zahlreichen Tänzen der Lesgier und heißt bei ihnen chkadardaj makam („Springtanz“). Die Lesgier im Süden Dagestans haben einige stilistische Elemente aus der aserbaidschanischen Musik übernommen, unter anderem die Tradition des Aschug, des mit dem türkischen Aşık verwandten epischen Sängers. Aus der türkisch-zentralasiatischen Musiktradition stammen die Langhalslauten tar, saz, die Spießgeige kemancha sowie die unterschiedlichen Doppelrohrblattinstrumente yasti balaban (vgl. balaban) und zurna. Die zurna gehört zusammen mit einer Zylindertrommel zu einem in Asien (davul und zurna) und auf dem Balkan (tapan und zurla) weit verbreiteten Instrumentalensemble, das auch in ganz Dagestan bei Familienfeiern für Unterhaltung sorgt.
Die erste in der westlichen klassischen Musik ausgebildete Komponistin aus Dagestan war Dschennet Dalgat (1885–1938). International bekannt gewordene, dagestanische Komponisten sind Gotfrid Aliewitsch Gasanow (1900–1965), Sergej Agababow (1926–1959), Nabi Dagirow (* 1921) und Murad Kazlaew (* 1931).
Nationalhymne
2016 wurde die bisherige Nationalhymne „Dagestan, du heiliges Vaterland“ durch die neue Hymne der Republik Dagestan mit dem Titel „Eid“ ersetzt.
Kultureinrichtungen
Zu den wichtigsten Museen in Dagestan zählt das Republikanische Museum (Kraevedceskij muzej) in Machatschkala sowie – als Gesamtensemble – die Altstadt von Derbent.
Sowohl Machatschkala, wie auch Derbent, besitzen zahlreiche Theater; neben russischsprachigen Theatern existieren auch Theater der zahlenmäßig stärkeren Völker Dagestans: kumückische, awarische, lakische, tabassaranische und darginische Theater.
Literatur
Vladimir Bobrovnikov, Amir Navruzov, Shamil Shikhaliev: "Islamic Education in Soviet and post-Soviet Daghestan" in Michael Kemper, Raoul Motika und Stefan Reichmuth (eds.): Islamic Education in the Soviet Union and Its Successor States. Routledge, London, 2010. S. 107–167.
Sir A. T. Cunynghame: Travels in the eastern Caucasus, on the Caspian and Black seas, especially in Daghestan, and on the frontiers of Persia and Turkey, during the summer of 1871. London 1872.
Moshe Gammer (ed.): Islam and Sufism in Daghestan. Tiedekirja, Helsinki, 2009.
Rasul Gamzatovich Gamzatov: My Hearth and Home is Dagestan. Makhachkala 2010.
Michael Kemper: Herrschaft, Recht und Islam in Daghestan. Von den Khanaten und Gemeindebünden zum Dschihad-Staat. Reichert Verlag, Wiesbaden 2005, ISBN 978-3-89500-414-8.
Günter Linde; Semjon Apt: Kaukasisches Mosaik. VEB Brockhaus, Leipzig 1971.
Nansen, Fridtjof: Durch den Kaukasus zur Wolga. F. A. Brockhaus, Leipzig 1930.
Clemens P. Sidorko: Dschihad im Kaukasus. Antikolonialer Widerstand der Dagestaner und Tschetschenen gegen das Zarenreich (18. Jahrhundert bis 1859). Reichert Verlag, Wiesbaden 2012, ISBN 978-3-89500-571-8.
Roman A. Silantjew: Islam w sowremennoj Rossii, enziklopedija. Algoritm, Moskau, 2008. S. 288–305.
Weblinks
Offizielle Webseite der Republik Dagestan
Seite über Dagestan mit länderkundlichen Informationen, Forum, Fotos und Social Network – in russischer Sprache
Uwe Halbach/ Manarsha Isaeva: Dagestan: Russlands schwierigste Teilrepublik. Politische und religiöse Entwicklung am "Berg der Sprachen". Berlin 2015.
Staatliche Tourismusagentur Dagestans, auf Russisch und Englisch
Dagestanisches Newsportal, auf Russisch und Englisch
Englischsprachige und russischsprachige Kurznachrichten von Kawkasski Usel aus Dagestan
Einzelnachweise und Anmerkungen
Föderationssubjekt der Russischen Föderation
Region im Kaukasus
Islam in Russland
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Q5118
| 592.391111 |
4743750
|
https://de.wikipedia.org/wiki/UTC%2B12
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UTC+12
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UTC+12 ist eine Zonenzeit, welche den Längenhalbkreis 180° Ost als Bezugsmeridian hat. Auf Uhren mit dieser Zonenzeit ist es zwölf Stunden später als die koordinierte Weltzeit und elf Stunden später als die MEZ. Die direkt östlich angrenzende Zonenzeit mit UTC−12 verwendet denselben Bezugsmeridian auf der anderen Seite der Datumsgrenze. Die beiden Zonenzeiten weisen einen Zeitunterschied von 24 Stunden auf. Deshalb gilt die gleiche Uhrzeit, aber ein um einen Tag unterschiedliches Datum. Es ist auf dortigen Uhren daher 13 Stunden früher als die MEZ und zwölf Stunden früher als die Koordinierte Weltzeit.
Geltungsbereich
Ganzjährig
Banaba
Gilbertinseln
(USA)
(Frankreich)
Normalzeit (Südliche Hemisphäre)
(ausgenommen Chatham-Inseln)
Siehe auch
UTC−12
Zeitzonen in Neuseeland
Einzelnachweise
UTC32
es:Huso horario#UTC+11:30, L†
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Q7105
| 3,292.846213 |
99641
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https://de.wikipedia.org/wiki/Abruzzen
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Abruzzen
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Die Abruzzen ( Singular ) sind eine Region Italiens mit Einwohnern (Stand ). Sie grenzen im Norden an die Region Marken, im Westen an die Region Latium, im Süden an die Region Molise und im Osten an die Adria.
Obwohl die zentral auf der Apenninhalbinsel gelegene Region geographisch eher zu Mittelitalien gehört, gilt sie aus historischen Gründen als die nördlichste Region Süditaliens. Vom Mittelalter bis ins 19. Jahrhundert gehörte die Region zum Herrschaftsgebiet Siziliens und später Neapels und war wirtschaftlich und kulturell an die Regionen Unteritaliens angebunden.
Geographie
Entlang der Adria erstreckt sich ein flacher Küstenstreifen (ca. 150 km), der in eine Hügellandschaft übergeht. Diese Gebiete nehmen etwa ein Drittel der Fläche der Region ein. Zwei Drittel werden durch den Abruzzischen Apennin geprägt. Der Anstieg geht im Gebirgsmassiv Gran Sasso d’Italia bis auf fast 3000 Meter, der Corno Grande stellt hierbei die höchste Erhebung des kontinentalen Italiens südlich der Alpen dar.
Die Abruzzen vereinigen die drei geographischen Aspekte Italiens: Küste, Hügelland und Berge.
Nationalparks
Rund ein Drittel der abruzzesischen Fläche steht unter Naturschutz. Von allen italienischen Regionen haben die Abruzzen den größten Anteil an Naturschutzgebieten, darunter das älteste des Apennin, den Abruzzesischen Nationalpark im Süden.
Im Norden und um die Hauptstadt L’Aquila erstreckt sich der sehr große Gran-Sasso-Nationalpark, etwas weiter im Süden liegt der Maiella-Nationalpark, und im Westen mit unberührter Natur der Regionalpark Sirente-Velino.
Der Nationalpark Gran Sasso (1500 km²) besteht aus zwei Bergketten, dem schroffen Gran-Sasso-Massiv und den sanfteren Monti della Laga. Der Gran Sasso, der „Große Fels Italiens“, besteht aus einer wilden Landschaft, geprägt von gezackten Gipfeln, Kämmen und senkrecht abfallenden Wänden. Zum Massiv gehört das Corno Grande, mit 2912 m höchster Gipfel des Apennin. Während die vielen Spitzen der östlichen Seite und die spektakulären, steil aufsteigenden Kalksteinwände dem Massiv einen hochalpinen Aspekt verleihen, erinnert die westliche Seite mit dem Hochplateau Campo Imperatore (ca. 1600 m Höhe) mehr an Landschaften der inneren Mongolei. Daher kommt der Ausdruck „kleines Tibet“. Das Campo Imperatore ist knapp 30 km lang und etwa acht Kilometer breit. Den alpinen Charakter des Gran-Sasso-Massivs unterstreicht auch die Tatsache, dass am Corno Grande der südlichste Gletscher Europas, der Calderone-Gletscher, zu finden ist. Weiter im Norden beeindrucken der See Campotosto und das „Tal der hundert Wasserfälle“.
Der Nationalpark Majella umfasst 860 km². Das Maiella-Massiv erreicht mit dem Monte Amaro eine Höhe von 2795 m. Die Hänge sind reich an Wäldern und Quellen und im Sommer sattgrün. Die Maiella besteht aus Kalkstein. Man kann 61 Gipfel zählen. Die meisten von ihnen sind einfach zu besteigen. Mit über 1800 unterschiedlichen Pflanzen ist dies ein Paradies für Gebirgsbotaniker aus aller Welt. Im Frühling gibt es eine entsprechende Blütenpracht zu bewundern. Der Apenninwolf (Canis lupus italicus) wurde in den 1970er Jahren zum ersten Mal in Europa mit einem vorbildlichen Projekt in den Abruzzen unter Schutz gestellt. Auch der Braunbär (Ursus arctus marsicanus), der Steinadler sowie Gämsen und der Wanderfalke sind wieder anzutreffen. Fischotter, die als Bioindikatoren für intakte Ökosysteme dienen, sind hier heimisch.
Der Regionalpark Sirente-Velino wird von zwei gleichnamigen Bergmassiven gebildet und liegt westlich des Gran Sasso im Landesinneren. Das Klima ist kontinentaler, da die zwei Meere (Adria und Tyrrhenum) weiter entfernt liegen. Daher sind die Winter kälter als in den anderen Parks. Die Gipfel bleiben häufig bis in den späten Frühling hinein schneebedeckt. Auch hier bieten die steilen Wände des Sirente Schluchten (Gole di Celano), Plateaus und interessante Karstformationen (Höhlen von Stiffe) zahlreiche Exkursionsmöglichkeiten. Die geschützte Lage des Gebirges hat an vielen Orten die Zeit stillstehen lassen. So gibt es eine Reihe von Dörfern und kleinen Städten mit Türmen und Schlössern, die unbeschadet die letzten Jahrhunderte überstanden haben. Ferner legen die Ausgrabungen von Alba Fucens und Peltunium Zeugnis der römischen Expansion um 400 n. Chr. ab. Sehenswert sind aber auch die Kirche von Santa Maria in Valle Porcianeta, das Schloss von Celano und die zahlreichen Zeugnisse der Weidekultur wie die „Pagliare“.
Das Symbol des Nationalparkes der Abruzzen, des südlichsten und ältesten der Region, ist der Braunbär (orso bruno marsicano). Der Park umfasst ca. 440 km² sowie eine ähnlich große Fläche von geschützten Arealen in der unmittelbaren Nachbarschaft. In ihm leben ca. 100 Exemplare des Braunbären, 50 Wölfe, 500 Gämsen, Damwild sowie einige Luchse und Fischotter. In dem benachbarten Naturreservat von Penne wird an verschiedenen ökologischen Projekten und wissenschaftlichen Studien gearbeitet. In den 1960er Jahren wurden einige schwere Bausünden begangen, deren Folgen dem Park stark zusetzten und die zeitweilig zu einem Einfall italienischer Touristen führten. Seit den 1970er Jahren erholt sich der Park langsam von den Fehlern der Vergangenheit.
In allen Parks sind sogenannte „Aree faunistiche“, kleine didaktische Reservate, eingerichtet. In diesen Bereichen werden einige der sonst schwer zu beobachtenden Wildtiere zu Lehr- und Zuchtzwecken gehalten sowie verletzte Exemplare gepflegt. In den abgetrennten Arealen lassen sich die entsprechenden Arten mit etwas Geduld in einer weitgehend natürlichen Umgebung beobachten.
Die wichtigsten Flüsse der Region sind:
Tronto
Pescara
Sangro
Tirino
Tordino
Salto
Vomano
Wappen
Beschreibung: Ein grüner Schräglinksbalken teilt Weiß und Blau, wobei die weiße Farbe für die verschneiten Berge, die Grüne für die Hügel und die Blaue für das angrenzende Meer steht.
Geschichte
Neben den natürlichen Ressourcen einer zum Großteil noch intakten Bergwelt verfügen die Abruzzen über eine jahrtausendealte Geschichte, deren Spuren in allen Teilen der Region anzutreffen sind: prähistorische Höhlen, vorrömische und römische Ausgrabungen, romanische Kirchen und Städtchen aus der Zeit der Renaissance sowie zahlreiche Burgen und Schlösser, malerische Bergdörfer und schmucke Städte.
Die vorrömischen Bewohner der Eisenzeit werden der Mitteladriatischen Kultur zugerechnet. Im Altertum war der Großteil der Abruzzen von den Samniten bewohnt, welche in jahrzehntelangem Ringen von den Römern unterworfen wurden. Ein weiteres Volk dieser „italischen“ (= vorrömischen) Zeit sind die Picener; ein bekanntes Fundstück aus einem Gräberfeld der Picener oder Sabiner ist die Statue „Der Krieger von Capestrano“.
Nach dem Untergang des Weströmischen Reiches blieben weite Teile der Küstenlandschaft bis ins Mittelalter hinein byzantinisch. Das übrige Gebiet der Abruzzen war Teil des langobardischen Herzogtums Spoleto. Langobarden und Byzantiner wurden durch Normannen vertrieben, die das Gebiet der heutigen Abruzzen im 12. Jahrhundert mit ihrem süditalienischen Königreich Sizilien vereinigten. Unter den Staufern, die das Königreich erbten, wurde das Herzogtum Spoleto Teil des Kirchenstaates. Nach der Teilung des Königreichs Sizilien am Ende des 13. Jahrhunderts wurden die unteritalienischen Abruzzen von Neapel aus verwaltet und gehörten danach zum Königreich Neapel, nach dem Wiener Kongress ab 1816 zum Königreich beider Sizilien. Seit 1861 gehörte das Gebiet zum neugeschaffenen Königreich Italien. Die Grenzen der Region veränderten sich häufig, zuletzt 1963, als die Provinz Campobasso aus der damaligen Region Abruzzi e Molise ausgegliedert und die eigenständige Region Molise gebildet wurde.
Die Region wurde früh christianisiert, so dass zahlreiche Kirchen entstanden. Einige sind zwar noch relativ unbekannt, aber stellen Schätze der italienischen Kunstgeschichte dar, wie z. B. die Basilika von Collemaggio in L’Aquila, die Abteikirche San Clemente a Casauria in Castiglione a Casauria und die Basilika San Giovanni in Venere in Fossacesia.
Historisch bedeutende Städte sind:
Atri (TE)
Celano (AQ)
Chieti
Civitella del Tronto (TE)
Giulianova (TE)
Guardiagrele (CH)
L’Aquila (AQ)
Lanciano (CH)
Sulmona (AQ)
Teramo
Vasto (CH)
Auch viele ländliche Gemeinden sind sehenswert, wie:
Pescocostanzo (AQ)
Penne (PE)
Salle (PE)
Castelli (TE)
Verwaltungsgliederung
Die Region Abruzzen besteht aus folgenden vier Provinzen:
Tourismus
In den letzten zehn Jahren ist der Tourismus in der Region im Aufwind. Einige Landstriche im Landesinneren, die reich an Schlössern, Burgen und Kastellen sind, haben den Spitznamen „Abruzzoshire“ (in Anlehnung an das „Chiantishire“) verdient. Im Vergleich zu anderen, touristischeren Regionen Italiens sind die Abruzzen immer noch ein Geheimtipp.
Die Region hat 21 Skigebiete mit 368 km Pisten. Roccaraso und Campo Felice sind die bestausgestatteten Skigebiete (vor allem Abfahrtski). Es herrscht zwar weniger Tourismus als in den italienischen Alpen, aber die Abruzzen weisen oft mehr Schnee auf als die norditalienischen Gebiete. Auch für den Langlauf haben die Abruzzen ein gutes Angebot, vor allem auf dem Campo Imperatore.
Eine besondere Stellung nehmen die Abruzzen für Wanderer und Bergsteiger und für den sanften Tourismus ein. Die meisten Gebiete in den Nationalparks und in den Bergen bieten eine große Auswahl an gekennzeichneten Wanderwegen ohne Touristenströme. Von den spektakulären (auch auf sicheren Wegen) erreichbaren Gipfeln hat man einen eindrucksvollen Blick auf die Monti della Laga und Monti Sibillini (im Norden), das Majella-Massiv, die Höhen des Abruzzen-Nationalparks und die Gruppe des Velino und Sirente (im Westen).
An der Adriaküste gibt es vor allem in der nördl. Hälfte der Region eine Reihe von größeren Badeorten. Südlich von Pescara ist der Badetourismus dagegen noch nicht so stark erschlossen.
Wirtschaft
Geschichte
In der Renaissance florierte die Wirtschaft der Abruzzen durch den Handel mit Wolle. Einige Städte im Landesinneren, vor allem im Bereich des Gran Sasso, waren wohlhabend. Die wirtschaftlichen Beziehungen reichten bis nach Florenz mit der Familie der Medici (in Santo Stefano di Sessanio ist immer noch das Medici-Wappen am Stadttor zu sehen). Es entstanden schmucke Städte und zahlreiche Kirchen.
Nachdem der Handel mit Wolle im 18. und 19. Jahrhundert an Bedeutung verlor, verarmten die Abruzzen. Viele Einwohner verließen die Bergregionen, um auszuwandern, u. a. nach Australien und Amerika. Die Auswanderungswelle hielt bis zu den 1970er Jahren an. Seit den 1950er Jahren erholt sich die Wirtschaft der Region jedoch mit einem konstanten Wachstum allmählich. Die Abruzzen sind heute „die erste Region des Mezzogiorno“.
Gegenwart
Die Wirtschaft basiert heute hauptsächlich auf Industrie und Dienstleistung. Starke Sektoren sind die Pharma- und Elektronikindustrie sowie Biomedizin und Nuklearphysik. Auch der Tourismus spielt heute eine wichtige Rolle: während sich an der Küste vor allem der Meertourismus entwickelt hat, wird der Öko- und Individualtourismus in den Bergen immer wichtiger.
Die Landwirtschaft spielt eher eine Nebenrolle, bzw. ist stark modernisiert worden und bietet qualitativ hochwertige Produkte für eine schmale Klientel. Die steilen Hänge des Berglandes der Abruzzen bieten seit Jahrhunderten Weideland für Schafe. Die Weidekultur hat bis zum 17./18. Jahrhundert zum Wohlstand der Bergregion beigetragen. Heute spielt sie eine untergeordnete Rolle. Die Region produziert jedoch einen weithin bekannten Wein (Montepulciano d’Abruzzo) und eines der qualitativ hochwertigsten Olivenöle Italiens (insbesondere aus den Ortschaften San Giovanni Theatino und Moscufo).
Im Vergleich mit dem BIP der EU (ausgedrückt in Kaufkraftstandards) erreicht die Region 2015 einen Index von 87 (EU-28:100). Mit einem Wert von 0,890 erreichen die Abruzzen Platz 13 unter den 20 Regionen Italiens im Index der menschlichen Entwicklung. Im Jahr 2017 betrug die Arbeitslosenquote 11,7 %.
Politik
Bei der Parlamentswahlen in Italien 2022 waren die Wähleranteile in Abruzzen für den Senat folgende: Fratelli d’Italia 27,2 %, Movimento 5 Stelle 18,7 %, Partito Democratico 16,1 %, Forza Italia 12,1 %, Lega 8,3 %, Azione - Italia viva - Calenda 6,1 %, Alleanza Verdi e Sinistra 2,6 %, Più Europa 2,0 %, Italexit 1,9 %, Unione popolare 1,6 %, Italia sovrana e popolare 1,3 %, Noi moderati 0,6 %, Impegno civico Luigi Di Maio 0,6 %, Vita 0,4 %, Alternativa per l‘italia - no Green pass 0,3 %.
Küche
Die abruzzesische Küche vereinigt oft in einem Gericht den Geschmack des Meeres und der Berge („Mare e Monti“). So sind hier Kombinationen von Meeres- bspw. mit Hülsenfrüchten in Form u. a. von Suppen und Eintöpfen nicht selten anzutreffen. Aber vor allem die Frische der Produkte (meistens aus Eigenproduktion) charakterisiert die abruzzesische Küche als eine unverfälschte und schmackhafte Gaumenfreude.
Die Abruzzen sind das Reich des Peperoncinos, des Safrans und – wenn auch in geringerem Maße – der Trüffel. Vor allem der Peperoncino spielt in der lokalen Küche eine zentrale Rolle. Traditionell wird ein Sugo mit Tomaten, Bauchspeck, Peperoncino und Pecorino zubereitet. Eine weitere Spezialität sind kleine Spieße aus Lamm (Arrosticini), welche auf einem eigens für diese Spieße gefertigten Grill zubereitet werden.
Berühmt sind auch die Teigwaren der Abruzzen. Die Nudeln werden traditionell von Hand hergestellt und sind von hoher Qualität. Eines der Regionalgerichte sind die „Maccheroni alla Chitarra“, die mit dem so genannten Gitarrenholz, ähnlich einer Zither oder einem Webrahmen, hergestellt werden. Eine besondere Stellung nehmen die Wurstwaren ein, wie z. B. die „Ventricina“.
Feste/Folklore
Kaum ein Besuch in den Abruzzen kommt ohne eine „sagra“ (Fest mit einem kulinarischen Thema) und ein spektakuläres Feuerwerk aus. Tatsache ist, dass in den Abruzzen oft und gerne gefeiert wird. Die vielen religiösen Feste sind auf zahlreiche heidnische Bräuche zurückzuführen. So entzünden die Bewohner von Fara Filiorum Petri am 16. Januar die „Farchie“ (riesige Schilfrohrbündel). In Sulmona gibt es die Osterprozession, und in Cocullo das Schlangenfest mit unzähligen echten Schlangen, die die Zukunft voraussagen sollen. Loreto Aprutino feiert den Schutzpatron San Zopito mit einem geschmückten Ochsen, in Popoli wird die Wehrhaftigkeit der Abruzzen mit einem Wettkampf im traditionellen Bogen- und Armbrustschießen – eingebettet in eine mittelalterliche Sagenliebesgeschichte – aufgeführt, und vieles mehr.
Literatur
Ekkehart Rotter, Roger Willemsen: Abruzzen Molise. DuMont Verlag, Ostfildern 2002, ISBN 3-7701-6612-4.
Weblinks
Offizielle Website der Region
Das Standardwerk von Otto Lehmann-Brockhaus als „Living book“
Einzelnachweise
Italienische Region
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Q1284
| 281.121385 |
103149
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https://de.wikipedia.org/wiki/Kontinentalklima
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Kontinentalklima
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Als Kontinentalklima (auch Landklima) werden Klimatypen außerhalb der Tropen beziehungsweise innerhalb der Jahreszeitenklimate bezeichnet, deren jährlicher Temperaturverlauf durch den Einfluss großer Landflächen eine Schwankungsbreite der monatlichen Durchschnittstemperaturen von über 20 °C auszeichnen. Das konkrete Ausmaß dieses Wertes wird als (thermische) Kontinentalität bezeichnet. Zuweilen wird davon die hygrische Kontinentalität unterschieden, die auf den typischen Wasserhaushalt kontinentaler Gebiete Bezug nimmt: Er ist durch eine geringe Luftfeuchtigkeit, ein sommerliches Niederschlagsmaximum und geringe Bewölkung gekennzeichnet.
In den Mittelbreiten sind heiße Sommer und kalte Winter dafür typisch. Das Kontinentalklima wird allgemein dem Seeklima (oder ozeanischen/maritimen Klima) gegenübergestellt. Verglichen mit letztgenanntem erhalten Regionen mit Kontinentalklima nur geringen Niederschlag – Trockenklimate entstehen dadurch in der Regel jedoch nicht, zumeist herrschen humide Bedingungen vor.
Kontinentale Klimate finden sich nur in außertropischen Klimazonen, weil die für kontinentale Klimate bestimmende große Schwankung im Temperaturverlauf des Jahresgangs in den Tropen nicht vorkommt. Jahreszeitlich bedingte Temperaturschwankungen sind dort unabhängig von der Entfernung zu den Ozeanen nur gering ausgeprägt.
Je weiter man ins Innere eines Kontinents kommt, desto geringer wird der ausgleichende Einfluss der Meere, die aufgrund der hohen spezifischen Wärmekapazität des Wassers einen enormen Wärmespeicher darstellen, während die Wärmekapazität des Erdbodens durch den Wärmewiderstand und fehlende Vermischung von der Oberfläche abgekoppelt ist. Gleichzeitig sinkt sowohl die Zahl der Wolken als auch der Feuchtigkeitsgehalt der Atmosphäre stark. Es gibt verschiedene Vorschläge, das Maß der Kontinentalität in Form von Kontinentalitätsgraden zu indizieren oder zu quantifizieren.
An Gebirgen auf dem Weg vom Meer ins Kontinentinnere sinkt die Windgeschwindigkeit, zudem werden die Wolken zum Aufsteigen gezwungen (Steigungsregen) und können durch die folgende Abkühlung nicht mehr so viel Wasserdampf halten. Asien hat durch seine große Ausdehnung und die stark gegliederte Landschaft Anteil an mehreren Klimazonen, doch am meisten am Kontinentalklima. Zwischen den extremen Sommern und Wintern liegen – oft nur kurze – Übergangsjahreszeiten. Groß sind auch die täglichen Temperaturgegensätze. Der Kältepol liegt im Nordosten Sibiriens (sowohl Oimjakon als auch Werchojansk), doch sind die Winter auch in Zentralasien wegen der geringen Bewölkung und nächtlicher Abstrahlung kalt. Dort, wo die großen Wüsten weit nach Norden reichen, dürften die größten Temperaturunterschiede im Tages- und Jahresverlauf auftreten. Demgegenüber stehen Süd- und Südostasien unter dem Einfluss des Monsuns, der einen Zyklus von feuchten und trockenen Jahreszeiten bewirkt. Auslöser sind die winterkalten Landmassen Nordasiens, wo sich ausgeprägte Hochdruckgebiete entwickeln können.
Aufgrund der vergleichsweise kleinen Landmassen der Südhalbkugel (mit Ausnahme des antarktischen Kontinents) finden sich in Südamerika und Südafrika nach der Festlegung von Siegmund und Frankenberg nur schmale Streifen eines schwach ausgeprägten Kontinentalklimas.
Auch global betrachtet machen Kontinentalklimate fast 80 % der außertropischen und über 50 % aller Klimate aus.
Literatur
Weblinks
Einzelnachweise
Klimatyp
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Q185005
| 4,878.140609 |
483684
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https://de.wikipedia.org/wiki/Juba
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Juba
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Juba (alternative deutsche Schreibweise Dschuba; [], ) ist die Hauptstadt des Südsudan und des Bundesstaates Central Equatoria.
Lage
Die Stadt liegt im Süden des Südsudan am westlichen Ufer des Nils, der hier Bahr al-Dschabal und flussabwärts Weißer Nil genannt wird.
Administrative Gliederung
Das Stadtgebiet ist in drei Abschnitte aufgeteilt, die jeweils ihre eigenen Verwaltungen besitzen:
Juba: im Nordosten, umfasst den Kernbereich der Stadt
Kator: im Südwesten
Munuki: im Nordwesten
Regierungssitz
In Juba befindet sich auch der Sitz der südsudanesischen Regierung und des Parlaments, das aus einem Unterhaus, der Nationalen Legislativversammlung und einem Oberhaus, dem Rat der Staaten, besteht.
Bevölkerung
Konkrete Zahlen über die genaue Einwohnerzahl Jubas liegen nicht vor. Schätzungen gehen von mehr als 500.000 Einwohnern aus.
Bevölkerungsentwicklung:
Die Bari stellen in Juba die stärkste Ethnie. Etwa die Hälfte der Einwohner der Stadt bekennt sich zum katholischen Glauben.
Geschichte
1922 gründete eine kleine Anzahl von Griechen Juba am nördlichen Ufer des Weißen Nils. Die Griechen waren zuvor aus dem Osmanischen Reich geflohen und errichteten neben dem heute als Gewerbebezirk bekannten Bereich der Stadt solche Gebäude wie das Paradise Hotel, die Residenz des norwegischen Konsuls sowie verschiedene, heute z. B. als Banken genutzte Gebäude. Diese Bauten waren bis in die 1940er Jahre die einzigen in Massivbauweise errichteten Gebäude der Stadt. Auf ihrem Höhepunkt bestand die griechische Gemeinde der Stadt aus 10.000 Personen.
Am 12. und 13. Juni 1947 fand in Juba die Sudan Administration Conference statt, die als Juba-Konferenz in die Geschichte einging. Auf dieser Konferenz beschlossen Briten und Vertreter des Nordsudan die Vereinigung von Nord- und Südsudan, ohne dass eigene Vertreter von Südsudan anwesend waren.
Am 8. und 9. Juli 1965 wurde in Juba ein Massaker verübt; bei Übergriffen auf Repräsentanten der südsudanesischen Elite wurden insgesamt 1400 Menschen getötet.
Am 2. Februar 1977 kam es zu einer Meuterei von Regierungstruppen in Juba. Juba lag im umkämpften Gebiet des Sezessionskrieges im Südsudan.
Aufgrund des Friedensabkommens zwischen Khartum und der SPLA wurde Juba 2005 an die Truppen der SPLA übergeben. Seitdem war Juba Hauptstadt der autonomen Region Südsudan, nachdem Rumbik in den Jahren zuvor übergangsweise diese Aufgabe übernommen hatte.
Nach dem Tod von John Garang, dem Führer der SPLA, brachen am 1. und 2. August 2005 Unruhen in der Stadt aus, bei denen hauptsächlich sudanesische Araber das Ziel von Gewalttaten wurden, weil ein Teil der Bevölkerung vermutete, dass die Regierung in Khartum am Tod Garangs beteiligt gewesen sei. Dabei wurden sudanesische Araber verfolgt und getötet sowie ihre Geschäfte und Häuser geplündert und zerstört. Es kamen 15 Menschen ums Leben und mehrere hundert wurden verletzt. Als Folge verließen viele sudanesische Araber am 3. August 2005 die Stadt.
John Garang wurde am 6. August 2005 in einem Mausoleum nahe der Allerheiligen-Kathedrale in Juba beigesetzt. Unter den Trauergästen waren der südafrikanische Präsident Thabo Mbeki, der sudanesische Präsident Umar al-Baschir und der neue Anführer der SPLA Salva Kiir. Letztere betonten dabei erneut, dass sie an dem Friedensplan vom Januar 2005, der den 21 Jahre andauernden Sezessionskrieg in Südsudan beendete, ohne Abstriche festhalten wollten.
Am 9. Juli 2011 wurde Juba zur Hauptstadt des neu gegründeten Südsudans. Die Feierlichkeiten hierzu fanden am John-Garang-Mausoleum-Platz statt.
Am 2. September 2011 beschloss die Regierung, dass in einigen Jahren Ramciel zur neuen Hauptstadt werden solle.
Vom 8. bis zum 11. Juli 2016 war Juba Schauplatz heftiger Kämpfe zwischen verfeindeten Kräften der SPLA und SPLA-IO. Die zahlreiche Todesopfer fordernden Auseinandersetzungen führten zum Ende des Friedensabkommens, das den seit 2013 tobenden Bürgerkrieg zwischen Präsident Salva Kiir und seinem Rivalen Riek Machar vorübergehend beigelegt hatte.
Infrastruktur
Juba-Brücke über den Nil im Süden der Stadt, die eine Verbindung mit dem östlichen Ufer und mit Uganda über die Grenzstadt Nimule erlaubt
Flusshafen am Nil, der seit dem 21. August 2007 auch über einen Kran verfügt. Dieser wurde durch japanische Entwicklungshilfe ermöglicht.
Allerdings wird von lokalen Geschäftsleuten und Transportfirmen bezweifelt, dass die Kapazität des neuen Krans ausreicht, die Transportbedürfnisse der Region zu befriedigen.
Flughafen Juba
Sportstadion, in der Nähe des Nils
Die Juba-Brücke ist die einzige Brücke über den Nil zwischen Kusti im Sudan (etwa 260 km südlich von Khartum) und dem 350 km flussaufwärts in Uganda liegenden Pakwach.
Im Januar 2013 hat Japan eine Unterstützung in Höhe von 91 Mio. US$ für eine neue Brücke und von 29 Mio. US$ für den Ausbau des Hafens zugesagt.
Bildung
In der Stadt befindet sich die älteste Hochschule des Südsudan, die Universität Juba. Ein Großteil des Lehrbetriebs wurde wegen des Bürgerkrieges ab 1989 nach Khartum verlegt.
2009 wurde die St. Mary’s University Juba durch das katholische Erzbistum Juba gegründet.
Religion
Juba ist Sitz des römisch-katholischen Erzbistums Juba mit der Kator-Kathedrale. Die Allerheiligenkathedrale von Juba gehört zur anglikanischen Kirche im Südsudan.
Klimatabelle
Töchter und Söhne der Stadt
Santino Kenyi (* 1993), Mittelstreckenläufer
Weblinks
Einzelnachweise
Hauptstadt eines Bundesstaates im Südsudan
Hauptstadt in Afrika
Ort in Afrika
Hochschul- oder Universitätsstadt
Ort am Nil
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Q1947
| 214.224169 |
44422
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https://de.wikipedia.org/wiki/Moderne
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Moderne
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Moderne bezeichnet historisch einen Umbruch in zahlreichen Lebensbereichen gegenüber der Tradition, bedingt durch Industrielle Revolution, Aufklärung und Säkularisierung. In der Philosophiegeschichte fällt der Beginn der Moderne mit dem Skeptizismus der Vordenker der Aufklärung (Montaigne, Descartes, Spinoza) zusammen. Die Moderne folgt als Teil der Neuzeit auf die Frühe Neuzeit und dauert je nach Definition bis in die Gegenwart an oder endete im zwanzigsten Jahrhundert.
Wortgeschichte
Ein früher Nachweis des Wortes in seiner lateinischen Form modernus findet sich in einem Rundschreiben des Papstes Gelasius I. aus dem 5. Jahrhundert, in dem der Ausdruck für die Zeit steht, die der Schreiber selbst noch erlebt hat.
Bernhard von Chartres (genannt Sylvestris, 1080–1167) gebraucht das Wort in ähnlichem Sinn, doch allgemeiner für Zeitgenossenschaft, und beschreibt das Verhältnis von moderni zu antiqui hinsichtlich der Wissenschaften als eine Lage, die er um 1120 im Gleichnis der Zwerge auf den Schultern von Riesen darstellt:
Das lateinische Wort modernus (‚neu, neuzeitlich, gegenwärtig, heutig‘) stammt vom lateinischen Adverb modo (‚gerade, eben erst, jüngst‘). Später entlehnt aus dem Französischen (moderne und moderniser), erscheint es im Deutschen als Fremdwort seit 1727 in der Bedeutung von neu als Gegensatz zu alt, antik. Modernité wird als Substantiv erstmals 1849 von Chateaubriand verwendet (in einem abwertenden Sinne) und 1859 maßgeblich von Charles Baudelaire aufgegriffen. Im Deutschen verwendet Eugen Wolff den Ausdruck die Moderne erstmals 1886 auf „moderne Kunst“ bezogen.
„Die Moderne“ ist, seitdem der Begriff im Zuge des Naturalismus in Deutschland eingeführt wurde, der inhaltlich umrissenen Bedeutung nach immer vage gewesen. Zumeist wurde damit jede neu aufkommende Stilrichtung oder Kunstgattung bezeichnet.
Heute wird das Adjektiv modern umgangssprachlich häufig nicht in der oben genannten Bedeutung eines historischen Umbruchs verwendet, sondern abgewandelt synonym zu „modisch“, also im Sinne von „der Mode entsprechend“, daneben im Sinne von „zeitgenössisch“. Der Ausdruck Modernität wird häufig auch gleichbedeutend mit bloßer Fortschrittlichkeit oder Aktualität verwendet. Das als Ismen-Bildung zu sehende Wort Modernismus bezeichnet spezielle Phänomene verschiedener Themengebiete.
Begriff der Moderne
Der Ausdruck Moderne wird in unterschiedlicher Bedeutung gebraucht. Er bezeichnet historisch den Begriff einer Epoche, daneben werden in Kunst, Musik, Film und Architektur bestimmte Stilrichtungen so benannt, und darüber hinaus steht Moderne für ein Konzept der Philosophie.
Moderne als Epoche
In der Querelle des Anciens et des Modernes (1687) war „Moderne“ noch ein Gegenbegriff zu „Antike“. Erst im 19. Jahrhundert wurde es üblich, mit dem Wort Moderne die Gegenwart von der Vergangenheit allgemein abzugrenzen. In der Philosophie fällt die Moderne mit der Aufklärung zusammen. Der landläufigste Begriff für die Moderne bezeichnet die Folgezeit nach der industriellen Revolution mit all ihren gesellschaftlichen Konsequenzen wie Urbanisierung, Arbeiterstand, Massenindustrie usw. In einem gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Kontext wird diese Epoche als Gründerzeit bezeichnet, deutet also auf einschneidende Veränderungen um 1900 und in der (zunächst nicht näher abgegrenzten) Folgezeit. Mit dem landläufigen Moderne-Begriff ist etwa derselbe geschichtliche Zeitpunkt und dessen Folgezeit gemeint, aber in Bezug auf eine geistige Sphäre (Philosophie, Literatur, Künste). Moderne ist also eine Geistesepoche, zeitgleich und in gegenseitiger Bedingung mit der Gründerzeit.
Die Epoche der Moderne in diesem Sinne wird nach manchen – umstrittenen – Theorien etwa im mittleren bis späten 20. Jahrhundert durch eine Postmoderne abgelöst (in Abgrenzung zum Begriff Posthistoire), also in einer gewissen geistigen Gegenströmung, in der sich eine Skepsis gegen die modernen Konzepte ausdrückt (Gegenmoderne). Als stilkundlichen Begriff verwendet man dann den Ausdruck „Klassische Moderne“ für ein abgeschlossenes Zeitalter.
Weitere Ansätze wollen zudem zwischen einer „Ersten“ und einer Zweiten Moderne differenzieren. „Vorbereitende“ Entwicklungsstufen der Moderne, in denen man Ursachen vermutet, werden bisweilen als Protomoderne bezeichnet.
Über den landläufigen Begriff (s. o.) hinaus wird, je nach Kontext (Kultur/Gesellschaft, Politik, ethnologischer Raum, Kunst), der Beginn „der“ Moderne sehr verschieden angesetzt: Geistesgeschichtlich mit der Renaissance etwa ab dem 15. Jahrhundert, ökonomisch mit der Industrialisierung des mittleren 18. Jahrhunderts, politisch mit der Französischen Revolution Ende des 18. Jahrhunderts (politische Moderne) und dem Nationalismus des frühen 19. Jahrhunderts, in der Literatur- und der Kunstgeschichte als ästhetische Moderne mit dem beginnenden, als Stil mit dem ausgehenden 19. Jahrhundert. Nach Jürgen Osterhammel wurden „die intellektuellen Grundlagen der Moderne […] bereits während der Frühen Neuzeit in Europa gelegt, frühestens im Zeitalter Montaignes, spätestens in der Aufklärung.“
Moderne als philosophisches Konzept
Der Moderne-Begriff kann zudem als ein offenes philosophisches Motto aufgefasst werden, wo es also weniger um konkrete Datierungen in dieser oder jener Hinsicht geht, sondern um die Frage danach, wie überhaupt das Wesen einer Moderne zu fassen und zu definieren sei und welche Erkenntnisse sich hieraus ableiten ließen.
Anfang der Moderne
Der Begriff der Moderne geht tendenziell weit über einen Epochenbegriff – wie etwa den des Mittelalters – hinaus. Das historische Einsetzen der Moderne ist dabei stets eine Frage theoretischer Interessen und Grundlagen. Bezeichnend dafür ist eine schwer eindämmbare Rückdatierung. Das entspricht eher dem Phänomen „Ende der Antike“, das sich auch nur behelfsmäßig an Eckdaten festmachen lässt (so Erwin Panofsky).
Aus einer zunehmend kulturwissenschaftlichen – allerdings beschränkten, da eurozentristischen – Sicht, verschiebt sich das Einsetzen der Moderne mit jeweils guten Gründen rückwärts. Die vorgeschlagenen Anfänge reichen dabei vom Zusammenbruch des Realsozialismus und einem „Ende der Geschichte“ über die Erschütterungen durch den Ersten Weltkrieg, die Industrialisierung des 19. Jahrhunderts bis – wenn auch seltener – zum Beginn der Neuzeit mit dem Humanismus und der Reformation zurück. Meist jedoch wird der Beginn zwischen dem späten 18. und mittleren 19. Jahrhundert angesetzt – und damit mit der Zeit des Übergangs von einem feudalistischen zu einem bürgerlichen Gesellschaftsmodell datiert.
In einem gewissen Sinne steht die Moderne dabei, neben der Überwindung des Mittelalters, auch in einer Auseinandersetzung und Abgrenzung zur Neuzeit: Nach einer Wiedergeburt der Antike, nach der sich die Renaissance benennt, orientiert sich die Moderne nicht mehr an historischen Vorbildern. Diese große Wende im Denken vollzog sich erst gegen Ende der Aufklärung, spürbar wurde sie erst im Laufe des 19. Jahrhunderts. Der Umbruch prägte die auf einen ästhetischen Klassizismus folgende Stimmung im Sturm und Drang und in der Romantik. Schon Goethe bemerkte revolutionäre Änderungen in Politik und Kriegsführung, als er nach der Kanonade von Valmy der antirevolutionären Kampagne in Frankreich sagte:
In den Jahren der Gründerzeit gibt es aber trotz sozialer und wirtschaftlicher Auf- und Umbruchstimmung einen nochmaligen Rückgriff auf antike und mittelalterliche Konzepte (Historismus). Daher wird auch, in Unterscheidung zu einer politischen Moderne und ästhetischen Moderne, die als Reaktion auf den Historismus folgende, heute schon klassische Moderne deutlich später angesiedelt.
Ende der Moderne
Die Reflexion auf die Erschütterung traditioneller Werte bildet aber weitgehend den Kern aller Theorien zur Moderne. Ausnahmen bilden etwa Konzepte, nach denen Traditionswandel fester Bestand aller menschlichen Entwicklung sei, oder die die Entwicklung als solche nicht anerkennen. Charakteristisch für den Begriff der Moderne, insbesondere im Unterschied zur Postmoderne, ist zudem die Ersetzung der Tradition durch neue „Versprechen“, die einen geänderten, aber erneut gefestigten Wertekatalog oder Bezugsrahmen vorgeben. Dieser Standpunkt erklärt also den Moderne-Begriff zu einem unhaltbaren Konzept.
Zweite Moderne und Spätmoderne
Der Soziologe Ulrich Beck hat den Begriff der Zweiten Moderne popularisiert. Bereits sein erstes Buch – Risikogesellschaft – trug den Untertitel Auf dem Weg in eine andere Moderne. Als theoretischen Begriff kennzeichnet Beck mit Zweiter Moderne den Ausbruch aus dem kategorialen Rahmen der Industriegesellschaft mit dem dazugehörigen national begrenzten Wohlfahrtsstaat durch eine Politik der Globalisierung und der Öffnung zur Weltgesellschaft.
Ein weiterer Ansatz, den Begriff der Moderne kritisch zu reflektieren, ist es, ihn aus dem Kontext der europäischen Geschichte zu lösen. Andreas Heuer unterscheidet hierfür die Begriffe europäische Moderne und Welt-Moderne. Aus historischer Sicht, im Gegensatz zu einer systematischen soziologischen Betrachtungsweise, würde Ulrich Becks Begriff der Zweiten Moderne konkreter an die verschiedenen, zum Teil andauernden Veränderungsprozesse einer Welt-Moderne geknüpft, die nicht mehr einseitig aus der historischen Entstehung der europäischen Moderne zu verstehen sind. Die Veränderungen außerhalb Europas – in Asien, Lateinamerika, der arabischen Welt und in Afrika – sind auch aus den jeweiligen besonderen historischen Entwicklungen zu verstehen. Dort entwickeln sich neben gleichen bzw. ähnlichen Entwicklungen in Politik, Gesellschaft und Kultur unterschiedliche Ausdrucksformen von Moderne. Hieraus entsteht die Forderung, sich diesen Entwicklungen anhand des Begriffs Welt-Moderne zu öffnen
Diese Entwicklungen zu einer Welt-Moderne vollziehen sich aber auch innerhalb der Gesellschaften. Nach Charles Taylor werden alle Gesellschaften in „zunehmendem Maße multikulturell und zugleich durchlässiger. Beide Entwicklungen vollziehen sich nebeneinander. Durchlässigkeit bedeutet, dass die Gesellschaften offener für multinationale Wanderungsbewegungen sind; immer mehr Menschen innerhalb dieser Gesellschaften führen ein Leben in der Diaspora, dessen Mitte woanders liegt.“ Welt-Moderne ist, anders als der Begriff Postmoderne, eine offenere Formulierung für Entwicklungen weltweit, die mit dem generellen Begriff der Moderne verbunden werden können. Damit wäre Moderne nicht, wie es in Europa gedeutet wird, ein Begriff, der zur Erfassung einer historischen Entwicklung in Europa dient, die bereits abgeschlossen ist.
Für den Kultursoziologen Andreas Reckwitz findet in der Spätmoderne seit den 1970er Jahren ein gesellschaftlicher Strukturwandel statt, der darin besteht, dass die soziale Logik des Allgemeinen mit Prozessen gesellschaftlicher Rationalisierung ihre Vorherrschaft verliert an die soziale Logik des Besonderen mit Prozessen der Kulturalisierung und Affektintensivierung.
Fachspezifische Bestimmung
Literatur
Dies spiegelt sich auch in der literarischen Moderne nach Beginn des 20. Jahrhunderts wider, wobei das Experimentieren mit neuen literarischen Techniken im Vordergrund steht (siehe auch Experimentelle Literatur). Einen Einfluss auf diese Erschütterung des traditionellen Weltbildes nahmen auch geistesgeschichtliche Entwicklungen wie Max Plancks Quantentheorie, Sigmund Freuds Untersuchung Die Traumdeutung von 1900 und die Relativitätstheorie Albert Einsteins von 1905. So ist der Bewusstseinsstrom, eine fragmentierte Weltsicht, die Relativierung von Ansichten und Perspektivenwechsel ein Kennzeichen in modernen Romanen und Novellen (Arthur Schnitzler, James Joyce, Virginia Woolf). Weiterhin sind Subjektivierung und Psychologisierung der Wirklichkeitserfahrung, das Zurücktreten der vermittelnden Erzählinstanz, ästhetische Selbstreflexivität und die Wiedergabe subjektiver Wahrnehmungs- und Bewusstseinsvorgänge kennzeichnend. Dabei ist die Raum- und Figurendarstellung oft perspektivisch durchbrochen und die Ereignischronologie wird dem subjektiven Zeitempfinden untergeordnet. Dies schlägt sich auch in der Großstadtlyrik nieder.
Nicht wenige Ansätze verlegen den Beginn der literarischen Moderne in den Zeitraum der Romantik, da diese bereits frühmoderne Anzeichen vorwegnimmt: Absage an die tradierte Poetik der Antike, ein neues Künstler-Kunstwerk-Verhältnis etc. Allerdings wird das Substantiv der „Moderne“ sowie ein allgemeines Moderne-Empfinden tatsächlich erst um 1890 semantisch virulent. Als moderne Bewegungen verstehen sich insbesondere die Naturalisten, die Expressionisten und die Wiener Moderne sowie die Dekadenz. Bereits Baudelaire hatte 1863 einen nicht-trivialen Erklärungsansatz für Modernität gegeben: Die Modernität ist das Vorübergehende, das Entschwindende, das Zufällige, ist die Hälfte der Kunst, deren andere Hälfte das Ewige und Unabänderliche ist.
Zu den herausragenden Werken der literarischen Moderne gehören in Europa Rainer Maria Rilkes Roman Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge (1910) und seine Gedichtzyklen Duineser Elegien (1923) und Die Sonette an Orpheus (1922), die Romane und Erzählungen Franz Kafkas, Alfred Döblins Berlin Alexanderplatz (1929), Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften (1930–1952), Hermann Brochs Die Schlafwandler (1931–1932), Wolfgang Koeppens Tauben im Gras (1951), Marcel Prousts A la recherche du temps perdu (1913–1927), T. S. Eliots The Waste Land (1922, Das wüste Land) und Four Quartets (1944), Ezra Pounds Cantos (1917–1970), Virginia Woolfs Mrs. Dalloway (1925) und James Joyce’ Ulysses (1922) und Finnegans Wake (1923–1939) und in Nordamerika William Faulkners Schall und Wahn und Absalom, Absalom! wie auch das erzählerische Werk Ernest Hemingways und die Gedichte William Carlos Williams’ und Allen Ginsbergs. All diesen Werken sei laut Encarta ein Stil eigen, der auf jeweils spezifische Art und Weise die Zersplitterung von Erfahrungswelten reflektiert und nach neuen Formen des Ausdrucks suche.
Der Mainstream der Moderne nach Ende des Ersten Weltkriegs war dementsprechend durch die Betonung der subjektiven Erfahrung und die Technik des Bewusstseinsstroms geprägt. Das rief schon früh eine Gegenströmung hervor, die sich nicht wie die konservative Kritik an der Moderne einfach auf die Tradition berief, sondern ein Synthese anzielte, indem sie versuchte, die Kontinuität in der Diskontinuität herzustellen. Ihre Vertreter brachen mit dem Realismus und der Romantik des 19. Jahrhunderts, forderten aber ein ernsthaftes Bemühen um die Neubegründung einer „klassischen“ Form, die sich dem rein Subjektiven, Irrationalen und Formlosen widersetzt. Dazu zählten Ezra Pound, T. S. Eliot, der eine Depersonalisierung der Kunst im Sinne des völligen Zurücktretens der Subjektivität des Autors hinter dem Kunstwerk forderte, und Wyndham Lewis.
Die literarische Moderne war nicht auf Europa beschränkt. So markierte der Modernismo ab Ende des 19. Jahrhunderts nach Rubén Darío das emanzipierte Heraustreten einer lateinamerikanischen Literatur, der vor allem auf Spanien, aber auch andere Länder Europas zurückwirkte.
Kunstgeschichte
Kunsthistorisch betrachtet ist dies die Epoche, die im 20. Jahrhundert in Europa mit den revolutionären Werken der Fauves, Kubisten, Futuristen, Vortizisten, Expressionisten und Avantgardisten ihren Höhepunkt fand, zunächst in der Malerei, Bildhauerei, der Neuen Musik und mit Theateraufführungen. Ihr Ende wurde in (West-)Europa durch die Machtergreifung der Nationalsozialisten in Deutschland erzwungen (vgl. „entartete Kunst“, „entartete Musik“). Wenigen Künstlern gelang es, die Ästhetik der Moderne in der Inneren Emigration weiterzuentwickeln. Viele der verfolgten Protagonisten flohen zunächst nach Frankreich, später in die Vereinigten Staaten und nach Israel, wo im Exil die weitaus meisten künstlerischen und architektonischen (Spät-)Werke der Moderne entstanden.
Der Begriff „ästhetische Moderne“ nach Theodor W. Adorno betrifft die Abkehr vom jahrhundertealten Kanon, die schon um 1800 bezüglich formaler Prinzipien wie Perspektive, Proportionsregeln, Goldener Schnitt und anderer Bildsymmetrien beginnt, etwa bei den Malern Philipp Otto Runge oder Caspar David Friedrich, und sich als Prozess über die folgenden, teils auch wieder konservativen Phasen im Sinne einer ästhetischen Umdeutung früherer Formalismen erstreckt.
Der Begriff Klassische Moderne bezeichnet die Vielfalt heute noch als bahnbrechend angesehener avantgardistischer Stilrichtungen in den bildenden Künsten am Ende der Belle Époque und danach bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts (siehe Die Kunstismen). Maler wie beispielsweise Henri Matisse, André Derain, Pablo Picasso, Georges Braque, Max Beckmann, Franz Marc, Paul Klee und Piet Mondrian sind ihre typischen Vertreter. In Russland bildet sich eine russische Moderne, zu der man – neben Literaten, Komponisten oder dem Ballett-Impresario Djagilew – auch Marc Chagall und Wassily Kandinsky rechnet. Die Moderne der Architektur umfasst einen Stilkomplex, zu denen Architekten wie Frank Lloyd Wright, Henry van de Velde, Le Corbusier, Ludwig Mies van der Rohe, Ernst May, Konrad Wachsmann oder Oscar Niemeyer gerechnet werden. Das deutsche Bauhaus hat sich als kulturelle Keimzelle der Moderne hervorgetan. In Österreich gilt dies insbesondere für den Architekten Adolf Loos und die Architekten und Vertreter angewandter Kunst, die die Wiener Werkstätte bildeten.
Während in Russland zunächst auch die Bolschewiki und in Italien die Faschisten wenigstens in der bildenden Kunst und insbesondere in der Architektur Konzepte der Moderne aufgriffen (so etwa im italienischen razionalismo), bekämpften die deutschen Nationalsozialisten diese größtenteils als „entartet“. Auch Stalin war kein Anhänger der Moderne; seine Präferenzen in Kunst und Architektur lagen beim Sozialistischen Realismus und Klassizismus.
Musik
In der Musik lässt sich der zeitliche Beginn der Moderne auf das 20. Jahrhundert datieren. In diesem Zusammenhang spricht man zwar auch von Neuer Musik (Musica nova, Musica viva, zeitgenössische Musik, Avantgarde), aber da dieser Begriff schon für frühere Epochen verwendet wurde – Ars nova um 1320 (Musik des Mittelalters), Ars nova um 1430 (Musik der Renaissance), Musica nova um 1600 (Barockmusik), neue Musik um 1750 (Galante Musik, Vorklassik), neue Richtung um 1820 (Romantik) – scheint eine Abgrenzung davon sinnvoll zu sein. Kennzeichnend für den Begriff einer musikalischen Moderne wären demnach zwei wesentliche Merkmale: zum einen ein nie zuvor in der Musikhistorie so radikal formulierter Bruch mit der Geschichte (von der Aufgabe der Tonalität bei Schönberg bis zur völligen Aufgabe des gesamten überlieferten Musik- und Werkbegriffs etwa bei John Cage) und zum anderen ein bis dahin ungekannter Stilpluralismus. Letzterer führte dann allerdings auch dazu, dass der Bruch doch nicht so radikal ausfiel wie postuliert. Große Teile etwa der Opern- und Konzertpraxis blieben davon so gut wie unberührt. Als Gründe für den auch das 21. Jahrhundert kennzeichnenden Stilpluralismus werden „die reiche Präsenz der eigenen Vergangenheit, die erweiterte Kenntnis der Musik anderer Völker und die Verfügbarkeit von Musik auf Schallplatte und Tonband“ genannt. Demnach ist die musikalische Moderne also gekennzeichnet durch ein Nebeneinander von Altbewährtem und Neu(tönend)em, durch eine (im Idealfall kreative) Koexistenz.
Soziologie
In der Soziologie hat Ferdinand Tönnies in seinem Werk Geist der Neuzeit 1935 die Moderne mit der Neuzeit gleichgesetzt und ihr Wesen damit erklärt, dass die Mentalität der „Gemeinschaft“ zurücktritt und durch die Mentalität der „Gesellschaft“ verdrängt wird (vgl. auch Tönnies’ Hauptwerk Gemeinschaft und Gesellschaft. 1887). Die Wurzeln einer so verstandenen Moderne reichen bis ins Mittelalter. Nach Tönnies hat eingehend der Strukturfunktionalismus daran gearbeitet, die Moderne mit der sozialen Differenzierung in eins zu setzen. Der Soziologe Gerhard Schulze beschreibt in Die beste aller Welten das Steigerungsspiel als entscheidendes Merkmal der Moderne.
Als Vorteil dieser Ansätze wird gesehen, dass man dann auch analytisch über den „Beginn der Moderne“ in z. B. Japan oder China sprechen kann, ohne dass dort damals von „Moderne“ gesprochen worden wäre. Das war, wie oben erwähnt, auch in Europa bis etwa 1850 nicht der Fall.
Der Beginn der Moderne wird historisch häufig auf die Französische Revolution gelegt. So sieht der US-amerikanische Soziologe Daniel Bell den Hereinbruch der Moderne mit dem Jahr 1789, andere den Anfang ihres allmählichen Entstehens in den folgenden Jahrzehnten.
Als wesentliche Elemente der Moderne werden angesehen:
Die Säkularisierung
Aufklärung
die Industrialisierung, auch Industrielle Revolution genannt, insbesondere der Übergang von der manuellen, handwerklichen Fertigung zu Massenproduktion durch Maschinen, damit auch die Ablösung der absolutistischen Staatsform (Ancien Régime) durch Kapitalismus und Demokratie.
der Fortschrittsglaube, d. h. die Vorstellung, dass die materiellen Errungenschaften des Menschen unbegrenzt wachsen (fortschreiten) könnten.
die Rationalität, d. h. der Glaube an die Vernunft und die Vorherrschaft rationaler Überlegungen.
die Autonomie gesellschaftlicher Bereiche, wie Ethik, Politik, Recht und Wirtschaft, Kunst und Literatur (siehe Emanzipation).
die Individualisierung in Anbetracht einer Modernisierung in Richtung des westlichen Individualismus. Besonders geprägt ist dieser Individualismus durch die Industrielle Revolution in England, den Wirtschaftsliberalismus, die Amerikanische Unabhängigkeitsbewegung und die Bürgerliche Revolution in Frankreich. Auf der anderen Seite geschieht mit dem Beispiel der Oktoberrevolution in Russland eine Modernisierung unter dem Prinzip des Kollektivismus.
Man muss sich zum Verständnis der Moderne deutlich machen, dass alle diese Elemente, die vielen von uns heute als selbstverständlich erscheinen, keineswegs immer und überall vorherrschende Überzeugungen waren und sind. Epochen lassen sich am besten dadurch kennzeichnen, was die Menschen dieser Epoche ohne Nachfragen als selbstverständliche „Wahrheiten“ und Grundüberzeugungen akzeptieren. Diese Selbstverständlichkeiten ändern sich im Laufe der Zeit. Zu den Änderungen von Selbstverständlichkeiten siehe z. B. die Paradigmen-Theorie von Thomas S. Kuhn.
Neben der zeitlichen Dimension sollte auch die räumliche Begrenzung der Moderne betrachtet werden. Auch wenn moderne Einflüsse heute in allen Kulturen festzustellen sind, so ist das beispielsweise in Asien vorherrschende zirkulare Denken dem aus der Bibel herkömmlichen linearen Denken des westlichen Fortschrittsglaubens deutlich entgegengesetzt. Ebenso haben verschiedene Aspekte der Moderne in unterschiedlichem Maße Einzug in anderen Kulturen/Ländern gehalten. Hier wird meist zwischen kultureller, technischer, geistiger (manchmal auch politischer und lebensweltlicher) Moderne unterschieden. Es herrscht kein Konsens darüber, ob bzw. inwieweit diese unterschiedlichen Aspekte langfristig getrennt voneinander existieren können.
Den kulturellen Höhepunkt erreicht die Moderne in Europa und Nordamerika in der Zeit vor und zwischen den beiden Weltkriegen.
Die Moderne hat einerseits universalistischen Anspruch, der insbesondere in der universellen Erklärung der Menschenrechte geäußert wird, andererseits ist sie in ihrer praktischen Umsetzbarkeit von nationalstaatlichen und anderen Grenzziehungen und Ausgrenzungen abhängig. Die verschiedenen nationalistischen Tendenzen des 19. und 20. Jahrhunderts werden vielfach als der Moderne entgegengesetzt betrachtet. Dies mag für die Moderne als Kunstbegriff zutreffen. Im epochengeschichtlichen Sinn jedoch ist der Nationalismus ein fester Bestandteil der Moderne, da er erst in dieser Zeit auftritt.
Literatur
Zygmunt Bauman: Moderne und Ambivalenz. Das Ende der Eindeutigkeit. Hamburger Edition, Hamburg 2005, ISBN 3-936096-52-X.
Christian Demand: Die Beschämung der Philister. Wie die Kunst sich der Kritik entledigte. zu Klampen, Hamburg 2007, ISBN 978-3-934920-32-3 (Erstauflage 2003).
Christof Dipper: Max Weber, Ernst Troeltsch und die 'Entdeckung der Moderne'. In: Dieter Schott u. a. (Hrsg.): Das Jahr 1913. Aufbrüche und Krisenwahrnehmungen am Vorabend des Ersten Weltkriegs. Transcript Verlag, Bielefeld 2014, ISBN 978-3-8376-2787-9.
Walter Fähnders: Avantgarde und Moderne 1890–1933. Metzler, Stuttgart/ Weimar 1998, ISBN 3-476-01451-7.
Peter Gay: Modernism: The Lure of Heresy. W. W. Norton, New York 2007, ISBN 978-0-393-05205-3 (deutsche Ausgabe: Die Moderne. Eine Geschichte des Aufbruchs. S. Fischer, Frankfurt am Main 2008, ISBN 978-3-10-025911-0)
Anthony Giddens Konsequenzen der Moderne. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1995. (Engl.: The Consequences of Modernity. Polity Press, Cambridge 1990.)
Hans Ulrich Gumbrecht: Art. „Modern“, „Moderne“, „Modernität“. In: Otto Brunner, Werner Conze, Reinhart Koselleck (Hrsg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Band 4, Stuttgart 1978, S. 93–131.
Jürgen Habermas: Der philosophische Diskurs der Moderne. Zwölf Vorlesungen. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1989, ISBN 3-518-28349-9.
Dirk Kemper: Ästhetische Moderne als Makroepoche. In: Silvio Vietta, Dirk Kemper: Ästhetische Moderne in Europa. Grundzüge und Problemzusammenhänge seit der Romantik. Fink, München 1998, S. 1–56 (gem. mit Silvio Vietta).
Helmuth Kiesel: Geschichte der literarischen Moderne. Sprache, Ästhetik, Dichtung im zwanzigsten Jahrhundert. Beck, München 2004, ISBN 3-406-51145-7.
Jürgen Klein: On Modernism. Peter Lang, Berlin/ Brüssel/ Lausanne/ New York/ Oxford 2022, ISBN 978-3-631-87869-9.
Yahya Kouroshi: Alternative Modernen: Literatur in autoritären Regimen. Simin Daneshvar – Mercè Rodoreda – Christa Wolf. Bielefeld 2014, ISBN 978-3-8376-2622-3.
Klaus Lichtblau: Transformationen der Moderne. Philo, Berlin 2002, ISBN 3-8257-0252-9.
Niklas Luhmann: Beobachtungen der Moderne. Verlag der Sozialwissenschaft, Wiesbaden 2006, ISBN 3-531-32263-X.
Armin Nassehi: Der soziologische Diskurs der Moderne. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2006, ISBN 3-518-58452-9.
Detlev Peukert: Max Webers Diagnose der Moderne. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1989, ISBN 3-525-33562-8.
Andreas Reckwitz: Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne. Suhrkamp, Berlin 2017, ISBN 978-3-518-58706-5
Ferdinand Tönnies: Geist der Neuzeit. In: Lars Clausen (Hrsg.): Ferdinand Tönnies Gesamtausgabe. Band 22: 1932–1936: Geist der Neuzeit. Schriften. Rezensionen. Erstauflage 1935. De Gruyter, Berlin/ New York 1998.
Jörg Traeger: Kopfüber. Kunst am Ende des 20. Jahrhunderts. Beck, München 2004, ISBN 3-406-51538-X.
Peter Wagner: A Sociology of Modernity: Liberty and Discipline. Routledge, London 1993, ISBN 978-0-415-08186-3.
Peter Wagner: Theorizing Modernity. Inescapability and Attainability in Social Theory. SAGE, London 2001, ISBN 978-0-7619-5147-6.
Peter Wagner: Modernity as Experience and Interpretation: A New Sociology of Modernity. Polity Press, London 2008, ISBN 978-0-7456-4218-5.
Wolfgang Welsch: Unsere postmoderne Moderne. 7. Auflage. Akademie Verlag, Berlin 2002, ISBN 3-05-003727-X.
Weblinks
Christopher Alan Bayly: Die Entstehung der modernen Welt. In: Le Monde diplomatique. Nr. 7969, 12. Mai 2006. Übersetzt von Niels Kadritzke. Abgerufen am 9. Februar 2010.
Christof Dipper: Moderne, Version: 2.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 17. Januar 2018
Einzelnachweise
Politische Philosophie
Historisches Zeitalter
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Q11084414
| 111.901475 |
8403898
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https://de.wikipedia.org/wiki/Guern%C3%A9siais
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Guernésiais
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Guernésiais, auch bekannt als Dgèrnésiais oder englisch als , ist die auf Guernsey gesprochene Varietät der normannischen Sprache. Es wird auf der Insel auch als „Patois“ bezeichnet. Als eine Langue d’oïl hat es seine Wurzeln im Lateinischen, erfuhr aber im Laufe der Geschichte starke Einflüsse von der altnordischen und englischen Sprache.
Es besteht mit geringen Schwierigkeiten gegenseitige Verständlichkeit mit dem Jèrriais der Nachbarinsel Jersey und weiteren normannischen Varietäten der Normandie. Guernésiais ist am engsten angelehnt an den normannischen Dialekt von La Hague auf der Halbinsel Cotentin.
Das Guernésiais wurde weniger vom Französischen beeinflusst als das Jèrriais, dafür mehr von Englischen, was in modernen Wort-Importen wie le bike oder le gas-cooker resultiert.
Es gibt eine reiche Tradition von Poesie in der Sprache Guernseys. Das Liedgut wird beeinflusst vom Meer, von farbenfroher Rhetorik, traditioneller Folklore sowie der Naturschönheit der Insel. Der größte Dichter der Insel war George Métivier (1790–1881), ein Zeitgenosse Victor Hugos, der einheimische Dichter beeinflusste und inspirierte, ihre traditionellen Werke zu drucken und zu veröffentlichen. Métivier vereinte einheimische Orts- und Tiernamen, traditionelle Sprichwörter und mündlich übermittelte Fragmente mittelalterlicher Dichtung, um seine Rimes Guernesiaises (1831) zu gestalten. Denys Corbet (1826–1910) wurde als „letzter Poet“ des Guernésiais erachtet und veröffentlichte in Zeitungen und privaten Sammlungen seinerzeit viele Gedichte in der ursprünglichen Inselsprache.
Das aktuelle Wörterbuch des Guernésiais, das den Titel Dictiounnaire Angllais-Guernesiais trägt und im April 1967 von der Société Guernesiaise herausgegeben und 1982 überarbeitet wurde, wurde von Marie de Garis (1910–2010) geschrieben. De Garis erhielt 1999 den MBE-Titel für ihr Werk.
Status
Der Zensus von 2001 ergab, dass 1327 Einwohner (davon 1262 auf der Insel geboren) und somit 2 % der Bevölkerung die Sprache fließend beherrschen, während 3 % sie vollständig verstehen. 70 %, also 934 dieser 1327 Einwohner, die die Sprache fließend zu sprechen vermögen, sind über 64 Jahre alt. Unter den jungen Einwohnern können nur 0,1 % perfekt Guernésiais sprechen. 14 % der Bevölkerung geben an, die Sprache etwas zu verstehen.
L’Assembllaïe d'Guernesiais, ein 1957 gegründeter Verein der Guernésiais-Sprecher, gibt eine Zeitschrift heraus. Les Ravigoteurs, ein weiterer Verein, veröffentlichte ein Bilderbuch und eine Kompaktkassette für Kinder.
Die Waldschule (engl. forest school, ein Schulkonzept für Unterricht im Freien) veranstaltet einen jährlichen Sprecher-Wettbewerb für Grundschüler im Alter von sechs Jahren.
Das jährliche Eisteddfod bietet eine Möglichkeit für Aufführungen in der Sprache, und Radioprogramme und Zeitungen bringen regelmäßige Beiträge.
Es gibt etwas Unterricht in der Sprache in freiwilligen Kursen auf Guernsey.
Es gibt Abendschulen (Stand 2013).
Mittagskurse werden vom Guernsey Museum angeboten (Stand 2013).
Guernésiais ist (gemeinsam mit Jèrriais, Irisch, Schottisch-Gälisch, Walisisch, Manx und Scots) von der britischen und irischen Regierung anerkannte Regionalsprache.
Sowohl das BBC Local Radio von Guernsey als auch die Guernsey Press bieten gelegentliche Kurse an.
Ein Sprachentwicklungsbeamter (engl. Guernsey language development officer) wurde zu Januar 2008 ernannt.
Es gibt wenige Rundfunkprogramme auf Guernésiais, das lokale Channel Television ignoriert die Sprache weitgehend, und es werden nur gelegentliche Kurzsendungen im BBC Radio Guernsey ausgestrahlt, meist für Lernende.
Trotz der klaren historischen Entwicklung der normannischen Sprachen ordnen viele das Guernésiais nicht als eigenständige Sprache ein, sondern halten es für einen französischen Dialekt. Da die Schrift auf der des Französischen basiert, können Frankophone vieles vom geschriebenen Guernésiais verstehen.
Die Gründung einer eigenen Sprachkommission (engl. ) wurde am 7. Februar 2013 bekanntgemacht als eine Regierungsinitiative zur Bewahrung der Sprachkultur.
Geschichte
Der auf Guernsey lebende Dichter George Métivier (1790–1881) – genannt der „Burns von Guernsey“ – schrieb als erster ein Wörterbuch der normannischen Sprache auf den Kanalinseln, das Dictionnaire Franco-Normand (1870). Dies etablierte die erste Standardorthographie, die später modifiziert und modernisiert wurde. Unter seinen Poesiewerken finden sich die Rimes Guernesiaises, die 1831 veröffentlicht wurden.
Prinz Louis Lucien Bonaparte veröffentlichte 1863 eine Übersetzung des Gleichnisses vom vierfachen Ackerfeld auf Guernésiais als Teil seiner philologischen Recherchen.
Wie Métivier veröffentlichte auch Tam Lenfestey (1818–1885) Gedichte in lokalen Zeitungen und in Buchform.
Denys Corbet (1826–1909) bezeichnete sich selbst als draïn rimeux – den letzten Dichter, aber die Dichtkunst bestand fort. Corbet ist in erster Linie bekannt für seine Gedichte, insbesondere die Erzählung L'Touar de Guernesy, eine schelmische Reise durch die Parishes von Guernsey. Als Herausgeber des französischsprachigen Blattes Le Bailliage schrieb er außerdem Feuilletons auf Guernésiais unter dem Pseudonym Badlagoule („Plaudertasche“). 2009 richtete die Insel eine spezielle Corbet-Ausstellung im Forest Parish als Begehung seines hundertsten Todestages aus, in deren Rahmen eine zeitgenössische Porträt-Malerei Corbets vom Künstler Christian Corbet, einem Cousin von Denys Corbet, enthüllt wurde.
Thomas Martin (1839–1921) übersetzte die Bibel ins Guernésiais, des Weiteren die Schauspiele von William Shakespeare, zwölf Schauspiele von Pierre Corneille, drei von Thomas Corneille, 27 von Molière, 20 von Voltaire und Der spanische Student von Henry Wadsworth Longfellow.
Thomas Henry Mahy (1862–1936) schrieb ab 1916 Dires et Pensées du Courtil Poussin, eine regelmäßige Kolumne in La Gazette Officielle de Guernesey. Eine Sammlung davon wurde 1922 als Heft veröffentlicht. Er veröffentlichte bis zum Beginn der 1930er Jahre weiterhin gelegentlich Dichtungen und Prosa.
Thomas Alfred Grut (1852–1933) veröffentlichte 1927 Des lures guernesiaises, ebenfalls eine Sammlung von Zeitungskolumnen. Er übersetzte außerdem einige der Jèrriais-Geschichten von Philippe Le Sueur Mourant ins Guernésiais.
Marjorie Ozanne (1897–1973) schrieb Geschichten, die zwischen 1949 und 1965 in der Guernsey Evening Press publiziert wurden. Einige frühere Werke fanden sich in den 1920er Jahren in La Gazette de Guernesey.
Métiviers Wörterbuch wurde abgelöst durch Marie de Garis’ (1910–2010) Dictiounnaire Angllais-Guernésiais; die erste Ausgabe kam 1967 heraus, folgende 1969, 1973 und 1982.
Als die Kanalinseln im Zweiten Weltkrieg von Deutschland besetzt wurden, erfuhr das Guernésiais eine kleine Renaissance. Viele Einwohner wünschten nicht immer von den Deutschen verstanden zu werden, die teils des Englischen mächtig waren.
Victor Hugo setzte Guernésiais-Wörter in einigen seiner Inselnovellen ein. In „Die Arbeiter des Meeres“ (frz. Les Travailleurs de la mer) führt er das Guernésiais-Wort pieuvre für Kraken ein – das standardfranzösische Wort wäre poulpe.
P'tites Lures Guernésiaises, eine Sammlung von Kurzgeschichten auf Guernésiais und Englisch verschiedener Schriftsteller, wurde 2006 herausgegeben.
Phonologie
Die Metathese des /r/ ist verbreitet im Guernésiais, wie auch im Sercquiais und Jèrriais.
Weitere Beispiele sind pourmenade (Promenade), persentaïr (Präsent), terpid (Tripod).
Verben
aver – haben (Hilfsverb)
oimaïr – lieben (regelmäßige Konjugation)
Beispiele
Siehe auch
Sarnia Cherie
Sercquiais
Literatur
Weblinks
Julia Sallabank: Guernesiais today. BBC
La Société Guernesiaise
Einzelnachweise
Guernsey
Langues d’oïl
Kultur (Kronbesitzungen)
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Q56428
| 99.141936 |
422348
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https://de.wikipedia.org/wiki/Brennholz
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Brennholz
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Mit Brennholz oder Feuerholz wird Holz bezeichnet, das zum Heizen oder Kochen genutzt wird.
Trockenes Holz wird zur Verbrennung in einem Nutzfeuer verwendet. Es ist der älteste Brennstoff der Menschheit und wird seit etwa 400.000 Jahren genutzt. Während man im 20. Jahrhundert in den Industrieländern von der Brennholznutzung zugunsten von Brennmitteln mit höherer Energiedichte und geringeren Preisen abkam, wird seit Beginn des 21. Jahrhunderts wieder zunehmend Wärme mit Brennholz gewonnen. In Entwicklungsländern wird zum Kochen – zur Vermeidung von Rauch bei offenen Feuerstellen – anstelle von grünem frischem Holz oft von Köhlern hergestellte Holzkohle verwendet.
Brennholz oder Feuerholz sind weitgefasste umgangssprachliche Begriffe für „Energieholz“, welcher der Oberbegriff für die verschiedenen Handelsformen, wie zum Beispiel „Ofenfertiges Stückholz“, „Scheitholz“ und „Brennreisig“ ist. Holzpellets und Holzbriketts bestehen auch aus Holz, zählen aber umgangssprachlich nicht zum Brennholz. Hierbei ist die erhaltene Struktur entscheidend.
Von zentraler Bedeutung für den Wert von Brennholz ist der Heizwert. Weitere relevante Eigenschaften können die Brenndauer sowie die Optik und der Geruch beim Verbrennen sein.
Eigenschaften
Heizwert
Da Holz ein Naturprodukt ist, unterliegt sein Aufbau und seine Zusammensetzung Schwankungen. Das kann sich auch auf den Heizwert pro Masse (zum Beispiel in kWh/kg) oder pro Volumen (zum Beispiel in kWh/Kubikdezimeter) auswirken.
Beim Heizwert pro Masse (kWh/kg oder MWh/t) spielt die unterschiedliche Dichte der Holzarten keine Rolle. Wichtig ist jedoch der Wasseranteil, er wird angegeben als Wassergehalt w%.
Der Heizwert von feuchtem Holz ergibt sich aus dem Heizwert der in ihm enthaltenen Trockenmasse, von welchem die Energie abgezogen werden muss, die zum Verdampfen des Wasseranteils benötigt wird. Die Verdampfungsenthalpie von Wasser beträgt 0,63 Kilowattstunden pro Kilogramm. Hinzu kommt ein Verlustanteil durch die Wärmekapazität des Wassers und des Dampfes, der von der Abgastemperatur abhängt. Brennwertkessel gewinnen beide Verlustanteile nahezu zurück, da der Dampf weitgehend wieder kondensiert und die Abgastemperatur niedrig ist.
Absolut trockenes Laubholz hat einen Heizwert von etwa 5 kWh/kg. Der Heizwert von Nadelholz liegt mit 5,2 kWh/kg aufgrund der anderen chemischen Zusammensetzung (höherer Harzanteil) des Holzes etwas höher.
Biologische Abbauprozesse durch Pilze und Insekten (z. B. durch ungeeignete Lagerung) können bei Brennholz zu einem Verlust von Trockenmasse und Heizwert führen.
Aus der Beispielrechnung ergibt sich, dass die Abnahme des massebezogenen Heizwertes mit zunehmendem Wasseranteil hauptsächlich auf der Verringerung des Trockenmasseanteils und erst zweitrangig auf der zunehmenden Verdampfungsenthalpie des Wassers beruht, welche die Energieausbeute beim Verbrennen verringert.
Der Wirkungsgrad der Feuerstätte und deren Eignung, feuchtes Holz zu verfeuern, gehen ebenfalls in die Effizienz ein. Es werden 30 Prozent bei offenen Kaminen und über 80 Prozent bei Kaminöfen erreicht.
Heizöläquivalent und Energiedichte
Als Heizöläquivalent bezeichnet man die Heizölmenge, die den gleichen Heizwert wie die vorgegebene Brennstoffmenge hat. Da der Brennholz-Heizwert vom Wassergehalt abhängt, muss dieser zu jeder Heizwertangabe mit angegeben werden. „Absolut trockenes“ Holz (= atro) mit 0 Prozent Wassergehalt ist nicht durch natürliche Trocknung, sondern nur durch technische Trocknung erreichbar. Der Endpunkt der natürlichen Trocknung ist der Zustand „lufttrocken = lutro“ mit etwa 15 Prozent Wassergehalt. Das Heizöläquivalent kann benutzt werden, wenn man den Holzeinkauf mit den Kosten der äquivalenten Heizölmenge vergleichen will. Zu beachten ist dabei allerdings, dass der Heizwert je Raummeter (Rm) einer Holzart eine starke Schwankungsbreite besitzt, die aus der Schwankungsbreite der Holzdichte und der Schwankungsbreite des Umrechnungsfaktors Festmeter (Fm, m³) nach Raummeter resultiert. Untenstehende Tabelle enthält den Mittelwert des Heizwertes je Raummeter einer Holzart.
Ein Raummeter trockenes Laubholz ersetzt etwa 200 Liter Heizöl oder 200 m³ Erdgas. Nadelhölzer haben dagegen einen leicht höheren Heizwert je Gewichtseinheit, nehmen aber aufgrund ihrer geringeren Massedichte mehr Raum ein und brennen schneller ab.
Anzünden
Anzündhilfen sind trockene Holzspäne, Zweige, Fidibus (Zündhilfe), Kohlenanzünder (Trockenspiritus) oder mit Paraffin getränkte Holzwolle. Aufgrund der schlechten Wärmeleitfähigkeit des Holzes, verbunden mit dem dadurch schnellen Erreichen des Flammpunktes des Holzes beziehungsweise ausgasender Holzbestandsteile (Terpene bei Nadelholz, ätherische Öle bei Birken- oder Buchenholz, Wachsdampf bei Zündhilfen) entzünden sich die Spanhölzer schnell und setzen in der Folge gröbere Scheithölzer in Brand.
Werden die Scheithölzer oben auf die Zündhilfe geschichtet, kommt es eventuell zu einer unvollständigen Verbrennung, bei der aus dem Scheitholz ausgasende Holzbestandteile unverbrannt den Schornstein verlassen. Wird das Feuer auf den dicken Scheithölzern entfacht, dann werden deren ausgasende flüchtige organische Verbindungen durch die Brandzone geleitet, was zu vollständigerer Verbrennung führt und es werden daher weniger Schadstoffe emittiert. Daher wird letztere Variante empfohlen, um Rauch- und Rußemission zu verringern, obwohl dazu mehr Anzündmaterial benötigt wird.
Verbrennung
Die Holzverbrennung ist ein zweistufiger Vorgang mit Vergasung des Holzes als erstem und Oxidation von Gasen und Holzkohle als zweitem Teilprozess.
Bei der Verbrennung von Holz laufen folgende Teilprozesse
zum Teil gleichzeitig und zum Teil nacheinander ab:
Erwärmung des Brennstoffs durch Rückstrahlung von Wärme aus Flamme, Glutbett und Feuerraumwänden sowie infolge Durchströmung mit heißem Abgas
Verdampfung leichtflüchtiger Holzbestandteile (Terpene und so weiter)
Trocknung durch Verdampfung und Abtransport des Wassers (ab 100 °C)
Zersetzung des Holzes durch Temperatureinwirkung (ab 250 °C)
Vergasung des Holzes mit Primärluft zu Gasen und festem Kohlenstoff (ab 250 °C)
Vergasung des Kohlenstoffs (ab 500 °C)
Oxidation der brennbaren Gase zu Kohlenstoffoxiden (Kohlenmonoxid und Kohlendioxid) und Wasser bei Temperaturen ab 700 °C bis rund 1500 °C (maximal rund 2000 °C)
Wärmeabgabe der Flamme an die umgebenden Wände und den neu zugeführten Brennstoff
Alle trocknenden und verdampfenden Vorgänge führen zur Temperaturverminderung der Flamme beziehungsweise des Abgases, das heißt zur Heizwertverminderung des Brennstoffes.
In einer Holzfeuerung erfolgt die Freisetzung dieser Stoffe durch Vergasung des Holzes (bei Luftmangel, das heißt Verbrennungsluftverhältnis Lambda < 1) im Glutbett. Dazu wird „Primärluft“ zugeführt. Bei der Erwärmung werden 80 bis 90 Gewichtsprozent der trockenen Holzmasse als Gase freigesetzt. In erster Linie sind das Kohlenmonoxid (CO), Wasserstoff (H2) und Kohlenwasserstoffe (CmHn). Der restliche Feststoffanteil bleibt als Asche zurück, setzt sich als Ruß ab oder wird in Form von Partikeln an die Umwelt abgegeben.
Anschließend werden die Gase mit Verbrennungsluft vermischt und in der Brennkammer in einer langen Flamme verbrannt. Für den Ausbrand der Gase wird in der Regel „Sekundärluft“ zugeführt. Da die Gase in einer langen Flamme ausbrennen, wird Holz als langflammiger Brennstoff bezeichnet. Die Holzkohle im Glutbett brennt dagegen langsam und mit geringer Flammenbildung ab (unter Bildung von mehr Kohlenmonoxid im Abgas).
Öfen „mit oberem Abbrand“ können austretende Gase eher abkühlen und unvollständig verbrennen, bei Öfen „mit unterem Abbrand“ werden die Gase durch das Glutbett geführt, dadurch intensiver erhitzt und vollständiger oxidiert.
Emissionen
Bei der Verbrennung werden als Hauptbestandteile Kohlendioxid (CO2) und Wasserdampf (H2O) freigesetzt. Holz enthält geringe Anteile an Stickstoff (≈900 mg/kg). Dieser wird – ebenso wie der in der Verbrennungsluft enthaltene Stickstoff – bei der Verbrennung teilweise zu Stickoxiden umgewandelt, die mit Wasser(dampf) zu Säuren weiterreagieren und die Umwelt belasten. Der darüber hinaus im Holz vorhandene Schwefel (≈120 mg/kg) wird überwiegend in der Asche gebunden, so dass nur wenig Schwefeldioxid emittiert wird.
Brennholz hat als nachwachsender Rohstoff den Vorteil, dass es nur den in CO2 umgesetzten Kohlenstoff freisetzt, der während des Wachstumes des Baumes zuvor aufgenommen wurde, während das in fossilen Energieträgern (Erdöl, Kohle, Erdgas) enthaltene CO2 bereits seit Jahrmillionen in der Erde lagert.
Je größer die Holzfeuchte ist, desto mehr Wärme wird für die Verdampfung dieses Wassers benötigt, dadurch – aber auch bei Luftüberschuss (aus dem Aufstellraum abgesaugte Nebenluft bei einem „offenen Kamin“) – kühlen die Flammen ab und es kommt zu „unvollständiger Verbrennung“, darunter versteht man einerseits eine unvollständige Oxidation und ebenso die Reduktion organischer Verbindungen oder von Kohlenstoffdioxid zu Ruß oder Holzteer. Auch Luftmangel (durch schlechten Kaminzug oder Absperren der Luftzufuhr) oder schlechte Verbrennungsführung (zu wenig Verwirbelung im Feuerraum) können zu unvollständiger Verbrennung führen. Dabei werden in unterschiedlichem Umfang neue Verbindungen gebildet und emittiert, beispielsweise:
sämtliche bereits oben genannten Verbindungen, die eben nicht verbrennen, sondern als ungenutzter flüchtiger Brennstoff über den Schornstein in die Umwelt abrauchen
Kohlenstoffmonoxid (CO)
Glanzruß (C)
Kohlenwasserstoffe (CxHy)
Wasserstoff (geringe Mengen, aus der Reduktion zu Ruß)
Aschefeinstäube
mineralische Stoffe
Kondensierbare Stoffe können an kalten Stellen kondensieren (Wärmetauscher bei Heizkesseln, lange Ofenrohre, im Kamin) und sich ablagern. Die Ablagerungen sind (auch wegen des Kondenswassers) klebrig, es bleiben daran Stäube hängen, die wiederum andere Stäube durch Zusammenballung und Verhakung anziehen.
Naturbelassenes Holz hat geringe Schwermetall- und Chlorgehalte; bei der Verbrennung von verunreinigtem Altholz können durchaus Schwermetalle (Arsen, Blei, Cadmium, Chrom, Kupfer, Nickel, Quecksilber, Zink und andere mehr) sowie Dioxine über Abgas und Asche emittiert werden. Gleiches gilt für Holzwerkstoffe wie Spanplatten oder Sperrholz, bei denen durch die verwendeten Klebstoffe, Beschichtungen oder Lackierungen Giftstoffe freigesetzt werden können.
Feinstaub
Neuere Untersuchungen zeigen, dass die Gesamtbelastung durch Feinstaub, der beim Verbrennen von Holz entsteht, die Summe der Feinstaubemissionen überschreitet, die bei der Kaftstoffverbrennung der in Deutschland zugelassenen Kraftfahrzeuge entstehen. Die jährlichen Feinstaubemissionen von Holzkleinfeuerungsanlagen betragen 18.600 Tonnen PM10. Die Emissionen von Holzheizungen können jedoch durch die Wahl geeigneter Kessel beeinflusst werden. Während die Kessel von Pelletheizungen und Hackschnitzelheizungen relativ niedrige Emissionen aufweisen, sind die mit Scheitholz betriebenen Einzelraumöfen besonders kritisch. Dirk Messner, der Präsident des Umweltbundesamt, schlug einen Abschied vom Heizen mit Holz in Haushalten vor, da dieses aus Luftqualitätsperspektive viel Schaden anrichtet.
Nach 15 Minuten rauchfrei: Bei korrektem Betrieb raucht das Feuer von Stückholzfeuerungen mit Abbrand von oben nach 15 Minuten nicht mehr. Ist kein Rauch sichtbar und sind keine Gerüche festzustellen, ist die Verbrennung optimal.
Das Schweizer Bundesamt für Umwelt (BAFU) gibt an, dass sich 80 % der Feinstaubemissionen durch die richtige Anfeuer-Methode vermeiden lassen. Das Ziel ist dabei, dass die bei Erhitzung aus dem Holz austretenden Gase durch die heisse Flamme hindurchströmen und dabei nahezu vollständig ausbrennen. 15 Minuten nach dem Anfeuern sollte kein Rauch und kein Geruch mehr wahrnehmbar sein:
Bei gewöhnlichen Öfen mit oberem Rauchabzug Holzscheite kreuzweise aufbauen und oben zunehmend dünnere Scheite verwenden, zwischen die eine Anzündhilfe gelegt wird. Anders als etwa bei einem Lagerfeuer soll das Feuer im Ofen wie eine Kerze von oben nach unten abbrennen.
Bei Sturzbrandöfen und Öfen mit seitlichem oder hinterem Abbrand wird die Anzündhilfe hingegen direkt vor der Öffnung, durch welche die Abgase den Feuerraum verlassen, platziert.
Allgemein gilt:
Frisch geschlagenes Holz soll 2 Jahre trocknen und vor der Verwendung noch 1 bis 2 Tage im Innenraum lagern, da angewärmtes Holz besser anbrennt.
Beim Nachlegen nur einzelne Scheiter oder Holzbriketts verwenden, die auf starke Glut gelegt werden, damit sie zügig anbrennen. In Speicheröfen nicht nachlegen.
Das Feuer soll nicht durch Schliessen der Luftzufuhr oder der Kaminklappe gedrosselt werden, da sich bei Sauerstoffmangel Kohlenmonoxid bilden kann und Verpuffungsgefahr besteht.
Luftklappen am Ofen erst schliessen, wenn die Glut kaum mehr sichtbar ist, damit der Ofen nicht zu rasch auskühlt. Kaminschieber am Rauchrohr erst schliessen, wenn keine Glut mehr erkennbar ist.
Holzarten
Zu Heizzwecken finden verschiedene Holzarten Verwendung. Zu unterscheiden ist hauptsächlich nach Heizwert, Brenndauer und Nutzungskomfort (Flammenbild, Geruch).
Pro Volumen (Raummeter) haben Laub- sowie Harthölzer einen deutlich höheren Heizwert als Laubweichhölzer oder Nadelhölzer. Pro Gewicht liegt aber der Heizwert von Nadelholz etwas über dem von Hartholz. Nadelholz brennt schneller und unter Entwicklung höherer Temperaturen ab als Hartholz. Das ist im Wesentlichen im höheren Harzgehalt begründet.
Für Heizzwecke ist meist eine kontinuierliche Wärmeentwicklung erwünscht. Vor allem die Verbrennungstechnik entscheidet darüber, welche Holzarten sich jeweils besser eignen. In modernen Holzvergaserkesseln zur reinen Wärmegewinnung können durch die hochtemperaturige Verbrennung alle Brennholzarten ohne Einschränkung optimal genutzt werden.
Für offene Kamine oder Kaminöfen eignen sich alle Laubharthölzer sehr gut als Energieträger. Sie brennen langsamer und anhaltender als Nadelholz, bilden aber etwas mehr Asche (Wartung). In größeren Anlagen kommt daher bevorzugt billigeres Nadelholz zum Einsatz.
Für Küchenöfen ist das schneller brennende Nadelholz erwünscht, da es schnell Wärme bereitstellt („Hochheizen“ eines kalten Ofens, direktere Regelung der Kochplattentemperatur). Es ist aber langflammiger und braucht daher mehr Flammraum und höhere Sauerstoffzufuhr. Daher sind Küchenöfen meist gänzlich anders konstruiert als Heizöfen.
Die verschiedenen Holzarten haben bei der Verwendung als Brennholz Vor- und Nachteile:
Fichte ist ein relativ schnell an- und abbrennendes Holz und eignet sich daher sehr gut zum Anbrennen. Häufig wird es auch in Grundöfen/Vergaserkesseln verwendet. In Europa ist Fichtenwald weit verbreitet und das Holz günstig zu erwerben. Für den offenen Kamin eignet es sich weniger, da aufplatzende Harzblasen zum Spritzen von Glut führen können.
Tanne brennt ähnlich schnell wie Fichte, verursacht aber durch die geringere Ausprägung von Harzblasen deutlich weniger Funkenflug. Tanne ist das klassische Brennholz des Alpenraums für offene Herdfeuer, ist aber kaum noch sortenrein zu erhalten.
Kiefer und Lärche sind – bei ähnlichem Brennverhalten – von weitaus besserer Qualität, spielen aber nur regional als Heizmittel eine Rolle.
Birke wird gerne für offene Kamine verwendet. Auch wenn oft Buche oder Esche an erster Stelle genannt werden, so ist doch Birkenholz ‚das‘ klassische Kaminholz, da es keine Funkenflug-verursachenden Harzblasen bildet und neben seinem schönen Flammenbild (recht hell, bläulich) wegen der (anstelle von harzigen Stoffen) überwiegend enthaltenen ätherischen Öle auch sehr angenehm riecht. Birkenholz brennt zwar etwas schneller ab als Buche oder Esche, aber deutlich langsamer als Nadelhölzer.
Buche gilt als ein gut geeignetes Kaminholz, da es ein schönes Flammenbild und gute Glutentwicklung aufweist. Zugleich zeigt es nur sehr geringe Funken(spritzer) und hat einen recht hohen Heizwert. Der Brennwert/Heizwert von Buchenholz wird oft als Referenzwert im Vergleich zu anderen Hölzern verwendet. Aufgrund des geschätzten Geruchs und Geschmacks wird zum Räuchern von Lebensmitteln meist Buchenholz verwendet. Buchenholz ist sehr begehrt und liegt daher im oberen Preisbereich. Allerdings ist es oft schwierig, gutes Buchenholz zu bekommen; gesunde Stämme werden meistens für Möbel oder Furniere verwendet. Als Brennholz sind oft nur Kronenholz (mit verhältnismäßig mehr Rinde, also weniger Brennwert und mehr Asche) oder stockige Stämme (mit schlechterem Brennwert) erhältlich.
Weiß- oder Hainbuche wird oftmals auch Buche genannt, hat aber mit Buchen (Fagaceae) nichts zu tun, sondern gehört zu den Birkengewächsen (Betulaceae). Weißbuche ist auch getrocknet sehr schwer und hat daher, bezogen auf das Volumen, (ebenso wie Eiche) einen besonders hohen Brennwert. Weißbuche hat ein schönes Flammenbild, wenig Funkenspritzer und brennt sehr lange. Es ist besonders schwer zu sägen und zu spalten.
Eiche ist einsetzbar in allen Öfen (Kachelofen, Kaminofen, Werkstattofen), die tatsächlich der Wärmegewinnung dienen. Für offene Kamine wird es nicht bevorzugt, da es zwar gute Glut, aber kein so schönes Flammenbild entwickelt. Der Heizwert ist noch etwas höher als der von Buche, und die Brenndauer ist sehr lang. Eichenholz enthält relativ viel Gerbsäure, die bei unsachgemäßem Abbrand (zu geringe Luftzufuhr) Abgasrohre angreift (Versottung). Es ist daher für Öfen gut geeignet, jedoch nicht für offene Kamine. Der Gerbstoffgehalt kann verringert werden, wenn das (bereits gespaltene) Holz zunächst im Freien ohne Abdeckung gelagert wird; durch Regen wird ein großer Teil der Gerbstoffe ausgewaschen.
Roteiche ist eine Baumart, die aus Amerika stammt und die erst vor etwa 250 Jahren in Europa eingeführt wurde. Roteiche ist mit Eiche nur wenig vergleichbar. Als Brennholz ist sie mit Buche vergleichbar. Roteiche ist schwer zu sägen und hat ein sehr hohes Gewicht. Sie lässt sich (bei gerade Stämmen) leicht spalten und sollte mindestens zwei Jahre getrocknet werden.
Esche hat einen ähnlichen Heizwert wie Buche und entwickelt neben der Birke das schönste Flammenbild. Es ist ähnlich gut geeignet für offene Kamine, da es ebenfalls kaum Funken spritzt. Eschenholz ist hart und zäh (leicht zu spalten aber schwer zu sägen) und dadurch ähnlich hochpreisig wie Buche.
Ahorn, Robinie und Ulme eignen sich gut als Kaminholz, sind aber auch sonst für alle Ofenarten geeignet. Der Brennwert liegt mit 4,1 kWh/kg etwas unter dem von Buche oder Eiche.
Linde hat einen niedrigen Brennwert pro Volumeneinheit, aber einen hohen Brennwert pro kg.
Die Laubhölzer Pappel oder Weide sind im Brennverhalten den Nadelhölzern ähnlich (eigentlich noch schlechter), da sie eine ähnlich geringe Energiedichte besitzen und relativ schnell abbrennen. In der Energiewirtschaft ist die Pappel jedoch in Hybridsorten durch ihr enorm rasches Wachstum eine sehr ökonomische Holzart. Sie wird als Hackschnitzel bevorzugt in Großfeueranlagen mit kontrollierter Brennstoffzufuhr genutzt, allerdings nur im Sommer, weil bei hohem Wärmebedarf dieser durch Pappel und Weide nicht erzielt werden kann.
Handel, Aufarbeitung und Lagerung
Handelsformen
Holz kann prinzipiell als Frischholz kurz nach dem Schnitt schlagfrisch oder aber trocken gekauft werden. Frisches Holz lagert mindestens einen, besser zwei Winter über. Je höher der Wassergehalt des Gehölzes ist, desto länger muss es lagern, um ohne Rauch- und mit möglichst wenig Rußbildung zu verbrennen.
Handelsformen sind zum Beispiel:
Rundholz, Blochholz (österr.): abgelängt aber ungespalten
Spaltholz, Meterscheiter: grob gespalten, etwa einmetrig abgelängt
Scheitholz, Brennscheitholz: etwa drittelmetrig abgelängt
Stückholz: ofenfertig, halbmetrig (50 cm), drittelmetrig (33 cm) und viertelmetrig (25 cm) abgelängt; es wird auch nur „Brennholz“ genannt, umfasst aber auch Holz zur Holzkohleherstellung
Brennreisig ist Holz, welches keine Derbholzstärke von 7 cm Durchmesser erreicht (Zweige und Äste)
Wellen sind Reisigbündel, die aus einer Mischung von Reisigholz und Stammholz bestehen und in einem Bündel, der Welle, zusammengebunden werden.
Brennholzmaße
Traditionell wird Brennholz im Raum- oder Volumenmaß gehandelt und verrechnet. Der Heizwert pro Volumen von Brennholz wird von unterschiedlichen Feuchtigkeitswerten viel geringfügiger beeinflusst als bei Maß nach Gewicht. Zudem kann der Endverbraucher das Volumen besser bestimmen als das Gewicht. Gängige Maße im deutschsprachigen Raum sind:
1 Festmeter (fm) = 1 m³ Holzmasse ohne Zwischenräume, wird berechnet aus Dicke und Länge der Stämme vor dem Spalten
1 Raummeter (rm) oder Ster (st) = 1 m³ aufgeschichtetes Rund- oder Scheitholz mit Zwischenräumen
1 Schüttraummeter (srm) = 1 m³ aufgeschüttete Holzscheite (in ofenfertigen Längen von üblicherweise 25 oder 33 cm)
Zur groben Umrechnung am Beispiel Buche kann folgende Tabelle dienen, bei anderen Holzarten ergeben sich geringe Abweichungen:
Historische Brennholzmaße
Verschiedene Maße für Brennholz waren verbreitet:
Das Klafter Brennholz wurde als 5 Fuß hoch und 5 Fuß breit gerechnet. Als Scheitlänge sollte es 3 Fuß haben. Man nannte es Nürnberger Werkmaß. Unter Berücksichtigung der Trocknung des Holzes war ein Scheit als Übermaß festgelegt. Das Klafter ohne Übermaß hatte 75 Nürnberger Kubikfuß, das waren 2,1066 Steren. Im Würzburger Regierungsblatt vom 6. November 1811 legte der Großherzog dieses Maß fest.
Ein Karren Brennholz in Würzburg war mit 4½ Fuß Breite und 5½ Fuß Höhe festgesetzt. Später war der Karren Brennholz 4 Fuß 19 Zoll nach dem alten Nürnberger Maß breit und hoch. Die Scheitlänge war dann 3 Fuß. Der Karren hatte nun 1,9685 Stere.
Ab 1822 wurde das Brennholz nach dem bayrischen ½ Klafter verkauft. Ein Meßrahmen enthielt 18 bayrische Quadratfuß. Im Königreich Bayern selbst war das Klafter mit 6 × 6 × 3½ Fuß definiert, das waren 3,1325 Steren oder 126 Kubikfuß.
Auch wurde Brennholz nach Faden und Reep ausgemessen. Nach dem Faden wurde mit 6 × 6 × 2 Fuß im lichten Rahmen gemessen. Ergebnis war 72 Kubikfuß oder 1,7442 französische Stere (Stert). Das Reep war größeren Mengen Holz vorbehalten. Die Länge betrug 2½ Fuß, also 2,45 Stert. Auch Grindelein war ein bayerisches Brennholzmaß. Im Brennholzhandel wurde das Klafter oder Meß in Viertel, Achtel und Ecklein (1/16) geteilt. Dem Isenburger Brennholzmaß waren 6 × 6 Schuh und 3½ Fuß Länge zugewiesen. Viele Brennholzmaße unterlagen regionalen Besonderheiten.
In Frankreich gab es die Voie de Paris, die Pariser Fuhre, die Corde, die dem Klafter geglichen hat, mit dem Corde de grand bois, dem Corde de port (Hafenklafter) und dem Corde d’ordonnance.
Aufarbeitung
Brennholz kann am besten als Meterholz zu Scheitholz aufgearbeitet werden und wird in dieser Form auch von der Forstwirtschaft angeboten. Ist das Meterholz für den Endverbraucher zu groß, wird es mit einer Säge (vorwiegend einer Wippsäge) auf die gewünschte Länge gebracht.
Für das Spalten von Brennholz per Hand werden zunächst, zum Beispiel mit der Motorsäge, Baumscheiben von etwa 30 cm abgeschnitten und im feuchten (frisch geschlagenen) Zustand gespalten. Wird das Holz zuerst getrocknet, was wegen der größeren Stücke erheblich länger dauert, ist es bei den meisten Arten sehr viel schwerer spaltbar. Beim Spalten ist es vorteilhaft, das Holz von oben nach unten zu spalten (Krone → Wurzel), weil dadurch weniger Kraft benötigt wird. Ein derber Merksatz lautet: „Das Holz reißt wie der Vogel scheißt.“
Zum Spalten kann man einen motorgetriebenen Holzspalter oder einen Spalthammer benutzen.
Arbeitssicherheit
Bei der Aufarbeitung von Brennholz ist aus Gründen der Arbeitssicherheit auf die Persönliche Schutzausrüstung (PSA-Forst) zu achten. Diese umfasst zum Beispiel Arbeitshandschuhe, Sicherheitsschuhe, Gehörschutz und Schutzbrille. Beim Einsatz von Motorsägen ist zudem eine Schnittschutzhose der entsprechenden Schutzkategorie anzulegen. Vor allem bei Arbeiten mit der Kreissäge, aber auch beim Holzspalter oder Spalthammer/Spaltaxt besteht ein erhöhtes Risiko für Unfälle. Bei der Verarbeitung anfallender Hartholzstaub (Buche, Eiche) kann krebserzeugende Wirkung haben.
Lagerung
Frisch geschlagenes Nadelholz hat eine Holzfeuchte von etwa 55 bis 70 Prozent (Wassergehalt 35 bis 41 Prozent), bei Laubhölzern liegt der Wert zwischen 70 und 100 Prozent (Wassergehalt 41 bis 50 Prozent). Daher sollte die Holzfeuchte durch Lagerung oder technische Trocknung auf den für die Verbrennung von Holz üblichen Restwert von unter 20 Prozent (Wassergehalt < 16 Prozent) gemindert werden. Ausschlaggebend für die Dauer der Trocknungslagerung ist zunächst die Ausgangsfeuchte des Holzes. Diese kann je nach Witterung und Baumart und eventueller Vorlagerung (Stammlagerung im Wald oder auf Rundholzplätzen) variieren. Üblicherweise reicht bei der korrekter Lagerungstrocknung ein Zeitraum von einem Jahr aus. In besonderen trockenen Frühjahren und Sommern werden ofenfertige Trocknungszustände bereits nach ca. 6-monatiger Lagerung erreicht. Die Holzfeuchte kann mit einem Feuchtigkeitssensor geprüft werden.
Die Art der Lagerung – zum Beispiel aufgeschichtet, geschüttet oder im Silo – hängt von der Verarbeitungsform des Brennholzes ab. Bei optimalen Bedingungen für Brennscheitholz (fein gespaltene und nicht zu lange Scheite in abgedeckten, dem Wind offenen Gitterboxen oder Brennholz-Containern im Freien) reichen manchmal auch schon sieben Monate. Sehr gut lagert Brennholz auch im Freien in einer Holzmiete oder unter einem Dach bei gleichzeitig guter Belüftung. Die zum Beispiel in Kellern und Garagen nicht vorhandene Winddurchströmung ist eine entscheidende Voraussetzung für das Trocknen, daher haben die früher üblichen Holzschuppen oft Wände aus Latten mit gewissem Abstand, der die Belüftung ermöglicht. An einer (idealerweise südlichen) Hauswand unter einem Vordach sollte man daher auch mindestens 5 bis 10 cm Abstand zur Hauswand halten.
Die technische Trocknung ermöglicht den Verzicht auf längere Lagerung, sie hat allerdings zum Nachteil, dass sich die Brenneigenschaften gegenüber dem langsam getrockneten Holz verschlechtern. Kammer- oder Trommeltrocknungsanlagen können in etwa einer Woche das Holz, abhängig von der Ausgangsfeuchtigkeit, auf die ideale Feuchte bringen. Um die Energieeffizienz und Wirtschaftlichkeit der Anlagen zu gewährleisten, wird häufig Abwärme anderer Einrichtungen genutzt.
Sonstiges
Die Einheit Kilogramm bekommt im Rahmen moderner Energiewirtschaft, der Hauszustellung auf Palette und in der Verwendung von getrockneten Presslingen (Holzpellets oder Holzbriketts) zunehmend Bedeutung. Beim Gewicht spielt das im Holz enthaltene Wasser (Restfeuchte, Wassergehalt) eine deutlich größere Rolle als beim Raummaß. Ein Kauf nach Gewicht sollte nur in Erwägung gezogen werden, wenn die Möglichkeiten des Wiegens sowie zur labortechnischen Überprüfung der Qualität (Zusammensetzung, Restfeuchte, Wassergehalt) gegeben sind.
Berechnungsgrundlage des Preises ist ab Wald, ab Waldstraße/Forststraße oder ab Lager (Selbstabholung, je nach Zugänglichkeit) oder frei Haus zugestellt, zunehmend aber auch im Einzelhandel, etwa in Baumärkten.
Der Fall eines von der Potsdamer Stadtverwaltung zum Bauwerk erklärten Brennholzstapels wurde überregional bekannt.
Siehe auch
Bioenergie
Biogener Brennstoff
Stack of wood
Energieholz
Literatur
Hans-Peter Ebert: Heizen mit Holz in allen Ofenarten. Ökobuch Faktum. 11., überarbeitete Auflage. Ökobuch, Staufen bei Freiburg 2006, ISBN 3-936896-21-6.
Agentur für Erneuerbare Energie: Hintergrundpapier Holzenergie, Februar 2014.
Fachagentur Nachwachsende Rohstoffe e. V. (FNR): Basisdaten – Bioenergie Deutschland (Stand August 2015). Gülzow 2011, als PDF (Ausgabe 2015/12. Auflage) erhältlich.
Fachagentur Nachwachsende Rohstoffe e. V.: Handbuch: Bioenergie-Kleinanlagen. Gülzow (2007), zweite, vollständig überarbeitete Auflage, ISBN 3-00-011041-0, als pdf erhältlich.
Bayerische Landesanstalt für Wald und Forstwirtschaft: Merkblatt 20: Scheitholz und Merkblatt 12: Der Energieinhalt von Holz, beide Stand Juli 2014.
Weblinks
'www.holzenergieonline.de' – Holzenergie: Scheitholz, Hackschnitzel und Pellets. Informationen der Bayerischen Landesanstalt für Wald und Forstwirtschaft
waldwissen.net: Vom Wald ins Haus – Insekten im Brennholz
Preisindex 2014/15 für Brennholz & weiterer holzbasierter Brennstoffe in Deutschland
Die Holzlüge, NDR – 45 Min vom 6. Oktober 2014 (YouTube)
Einzelnachweise
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Q35808
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https://de.wikipedia.org/wiki/Biologe
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Biologe
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Biologen analysieren und erforschen Strukturen und Vorgänge bei Menschen, Tieren, Pflanzen und Mikroorganismen. Dazu führen sie Experimente mit biochemischen, mikroskopischen oder biophysikalischen Verfahren durch. Im engeren Sinne sind Biologen Naturwissenschaftler mit Studium im Gebiet der Biowissenschaften. Als Interessenvertretung der Biologen versteht sich der Verband Biologie, Biowissenschaften und Biomedizin in Deutschland.
Biologiestudium
Studienplätze für einen Bachelor- oder Masterstudiengang im Fach Biologie werden in Deutschland von den einzelnen Universitäten vergeben. Studienplätze für den Biologie-Abschluss „Lehramt“ werden nur für Nordrhein-Westfalen von der Stiftung für Hochschulzulassung vergeben, ansonsten sind Bewerbungen unmittelbar an die Hochschulen zu richten. Da die deutschen Hochschulen grundsätzlich das Recht haben, eigene Auswahlkriterien für die Vergabe von Studienplätzen zu entwickeln, ist es für potentielle Bewerber zwingend nötig, sich über die jeweils gültigen Bewerbungsbedingungen des gewünschten Hochschulortes genau zu informieren, um die Chancen für eine Zulassung abschätzen zu können. Die Studierenden sind in Deutschland heute schätzungsweise zu mehr als 60 Prozent weiblich.
Für das Lehramtstudium im Fach Biologie empfiehlt die Bundesagentur für Arbeit als weiteres Fach das Studium der Chemie oder das Studium in einem anderen naturwissenschaftlichen Fach.
Geschichte
Vorläufer der Biologen waren die als Naturforscher bezeichneten Akademiker und Privatgelehrten, die teils Philosophie und/oder Medizin studiert hatten oder als „dilettantische Laien“ naturwissenschaftliche Forschung betrieben.
Bis in die 1970er-Jahre hatte die Ausbildung im Biologie-Grundstudium zwei Schwerpunkte: das Kennenlernen der Artenvielfalt und eine Schulung in den wichtigsten physiologischen Vorgängen der Zellen und der Organe von Tieren und Pflanzen. Später erlangten ökologische und neurobiologische Fragestellungen zunehmende Bedeutung und eröffneten Chancen für eine berufliche Tätigkeit.
Heute sind die typischen Tätigkeiten vor allem die Teilbereiche Genetik, Gentechnik, Mikrobiologie und Molekularbiologie. Für Biologen ist es ein Problem, dass Arbeitsplätze in Industrie und Handel an promovierte Bewerber mit Berufserfahrung und niedrigem Lebensalter vergeben werden, Biologen aber häufig unmittelbar nach dem Studium allenfalls an Forschungseinrichtungen eine Chance haben, zu promovieren; dort erwerben sie aber in der Regel keine – von Industrie und Handel erwünschten – betriebswirtschaftlichen Kenntnisse.
Einer Statistik für Baden-Württemberg zufolge (Stand: Januar 2021) beträgt der Frauenanteil unter den Absolventen eines Erststudiengangs im Fachgebiet Biologie 70,3 %, während der Frauenanteil unter den Professorinnen und Professoren in der Biologie 29,6 % beträgt.
Arbeitsmarkt
Einer Statistik aus dem Jahr 2004 zufolge haben damals rund zwei Drittel aller Absolventen eines Biologie-Studiengangs in den Bereichen Schule, Hochschule und Forschung gearbeitet, die Mehrzahl davon als Lehrer an öffentlichen Schulen.
Die Chance, nach der akademischen Ausbildung eine „dauerhafte“ Beschäftigung außerhalb des Lehramts zu finden, ist für Biologen in Deutschland seit vielen Jahren allerdings relativ gering. Jedes Jahr bewerben sich rund 7000 neue jobsuchende Absolventen um eine Stelle (Stand: Februar 2019), die zudem noch mit Chemikern und Mathematikern im Wettbewerb um Jobs stehen. Häufig muss daher anfangs eine befristete Beschäftigung inkauf genommen oder dauerhaft auf freiberuflicher Basis gearbeitet werden.
In der Privatwirtschaft konkurrieren Biologen bei Bewerbungen um eine Stelle ferner mit Biochemikern, Ärzten und Pharmazeuten und sind häufig im Nachteil, weil das Ausbildungsprofil der Biologen vergleichsweise weniger stark konturiert ist. Im Vorteil sind Biologen, die zum Beispiel im Nebenfach Pharmazie bzw. Pharmakologie studiert oder betriebswirtschaftliche Kenntnisse erworben haben, fundierte EDV- und Fremdsprachenkenntnisse sowie Auslandsaufenthalte vorweisen können. Ernsthafte Konkurrenz für Biologen sind ferner die meist wesentlich praxisnäher ausgebildeten Biologisch-technischen Assistenten.
Dauerhafte Beschäftigung finden Biologen oftmals in Nischen wie denen des Pharmaberaters, im Bereich der klinischen Prüfung von Arzneimitteln, als Produktmanager in Pharmaunternehmen, als Wissenschaftliche Dokumentare sowie im Bereich der Museumspädagogik und des Wissenschaftsjournalismus. Auch für die Wartung und Reparatur technischer Apparaturen im Auftrag der Herstellerfirmen werden Biologen beschäftigt, da sie die technische Seite der Geräte beherrschen und Labor-Arbeitsabläufe kennen.
Das Einstiegsgehalt von Biologen / Abschluss Bachelor liegt im öffentlichen Dienst bei ca. 2900 Euro brutto pro Monat, für Biologen / Abschluss Master bei ca. 3800 Euro brutto im Monat; in Unternehmen kann das Einstiegsgehalt deutlich höher sein. Auf lange Sicht können fest angestellte, promovierte Biologen sowohl in Unternehmen als auch im öffentlichen Dienst mit einem Gehalt von bis zu 70.000 Euro pro Jahr rechnen (Stand: März 2019).
Siehe auch
Bedeutende Paläontologen
Liste bedeutender Biologen
:Kategorie:Biologe, Verzeichnis der Biografien von Biologen
Literatur
Verband Biologie, Biowissenschaften und Biomedizin in Deutschland (Hrsg.): Perspektiven: Berufsbilder von und für Biologen und Biowissenschaftler. 10., komplett überarbeitete Auflage, 2018, ISBN 978-3-9810923-3-2.
Weblinks
Informationen rund um die schulische, berufliche und universitäre Ausbildung auf den Webseiten des Verband Biologie, Biowissenschaften & Biomedizin in Deutschland.
VBIO – Verband Biologie, Biowissenschaften & Biomedizin in Deutschland.
Einzelnachweise
Freier Beruf (Deutschland)
Hochschulberuf
sl:Biolog
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Q864503
| 325.77482 |
30939
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https://de.wikipedia.org/wiki/Frankophonie
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Frankophonie
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Der Begriff Frankophonie (oft auch Francophonie) ist auf zwei Bedeutungsebenen zu verstehen: Einerseits wird als Frankophonie die Gesamtheit der französischsprachigen (frankophonen) Territorien, also der französische Sprachraum bezeichnet. Zu diesem Sprachraum zählen mindestens solche Territorien, in denen Französisch offizielle Sprache ist (32 Staaten), sowie Territorien, in denen Französisch Muttersprache der Bevölkerungsmehrheit ist.
Andererseits wird auch die Organisation internationale de la Francophonie (OIF; auf Deutsch ‚Internationale Organisation der Französischsprachigkeit‘), der 57 Mitgliedstaaten angehören, oft als die Frankophonie bezeichnet. Unterschieden wird im Französischen durch die Schreibweise. Der Sprachraum wird als la francophonie bezeichnet, die Organisation als la Francophonie.
Die OIF schließt neben Frankreich unter anderem auch zahlreiche ehemalige französische Kolonien ein, die heute noch mehr oder weniger kulturellen, sprachlichen und jedenfalls politischen Kontakt zur ehemaligen Kolonialmacht pflegen und/oder in denen Frankreich im Krisenfall als Schutz- und Ordnungsmacht auftritt. Die OIF wird daher auch als französisches Pendant des britischen Commonwealth gesehen. Spätestens mit der Aufnahme von Staaten wie Moldau und Bulgarien, die weder historisch noch sprachlich-kulturell einen unmittelbaren Bezug zu Frankreich haben, zeigt diese Organisation ihren geopolitischen Charakter.
In den insgesamt 61 OIF-Mitgliedsterritorien und den 26 Territorien mit OIF-Beobachterstatus lebten 2018 etwa 300 Millionen Französischsprecher (einschließlich Nicht-Muttersprachler). Generalsekretärin der OIF ist die ruandische Politikerin Louise Mushikiwabo.
Entwicklung
Bereits 1880 wurde der Begriff Frankophonie vom Geographen Onésime Reclus (1837–1916) zum ersten Mal verwendet.
Internationalen Durchbruch erreichte die Organisation internationale de la Francophonie (OIF) vor allem unter dem Vorsitz des ehemaligen UNO-Generalsekretärs Boutros-Ghali 1997 bis 2002.
Die Regierung Chirac/de Villepin hatte den Kampf gegen die Vorherrschaft des Englischen auf ihre Fahne geschrieben. Der damalige Kulturminister Renaud Donnedieu de Vabres trieb zwei Dinge voran: einen französischsprachigen weltweiten Nachrichtensender (nach dem Muster von CNN) und eine spezielle Suchmaschine (allgemein und zur Digitalisierung von Büchern). Während das erste Projekt zuerst den Anschein machte zu scheitern, ist das sowohl auf Französisch als auch auf Arabisch und Englisch empfangbare France 24 inzwischen auf Sendung gegangen. Aber auch für sein zweites Projekt gewann Kulturminister de Vabres eine (zurückhaltende) Unterstützung anderer Europäer. Es fehlt allerdings an Geld.
Im Jahr 2013 erlaubte die Kulturministerin Geneviève Fioraso den Unterricht auf Englisch in einigen Lehrveranstaltungen von staatlichen Universitäten, nachdem private (Wirtschafts-)Hochschulen sowie die Grandes Écoles schon seit Jahren eine entsprechende Ausnahmegenehmigung nutzten. Der Erlass führte, wie stets bei solchen Anlässen, zu einer mit hohen Tönen geführten Debatte über die Bedeutung der Frankophonie heute. Mitglieder der Académie française sprachen von „beispielloser Verarmung und Marginalisierung“ des Französischen, andere Professoren beschworen das „Ende der französischen Universalkultur“, Frankreich werde zu einer „Provinz unter sprachlicher Vormundschaft“. Eine andere Stimme warnte: „Fioraso will erzwingen, dass in der Sprache der Wall Street gelehrt wird.“ Der Abgeordnete in der Nationalversammlung Pouria Amirshahi, Vertreter der außerhalb Frankreichs wohnenden Franzosen in Nord- und Westafrika, mahnte, es sei Frankreichs Mission, „die französische Sprache in der ganzen Welt zu verteidigen“. Andere meinten, der Plan verstoße gegen das Toubon-Gesetz zum Schutz der Frankophonie von 1994. Fioraso blieb jedoch erfolgreich.
Aus Anlass der Buchmesse Frankfurt 2017 betonten 52 Autoren, dass die französische Sprache allen sie Sprechenden weltweit gehört, nicht nur den Franzosen. Sie nahmen damit einen ähnlichen Appell von 2007 wieder auf:
Eine Fachorganisation der Frankophonie ist die Association internationale des maires francophones.
Mitglieder der OIF
Im Folgenden sind die Mitgliedsländer der Organisation internationale de la Francophonie nach Kontinent und Mitgliedsstatus aufgelistet (Stand 2018).
Europa
Vollmitglieder und assoziierte Mitglieder (A)
Beobachtende Funktion
Nord- und Südamerika
Vollmitglieder
Beobachtende Funktion
Anmerkung: Französisch-Guyana hat keinen eigenen Sitz in der OIF
Afrika
Vollmitglieder und assoziierte Mitglieder (A)
Beobachtende Funktion
Asien
Vollmitglieder und assoziierte Mitglieder (A)
Beobachtende Funktion
Ozeanien
Vollmitglieder und assoziierte Mitglieder (A)
unter den französischen Überseegebieten:
(A)
Beantragte und zurückgezogene Mitgliedschaft
Im Jahr 2016 beantragte Saudi-Arabien die Mitgliedschaft. Kurz vor dem Entscheid am Gipfel von Erewan 2018 zogen die Saudis den Antrag jedoch zurück.
Zur Verbreitung der französischen Sprache
Einige Daten zur Nutzung der französischen Sprache:
Über 900.000 Sprachlehrer unterrichten Französisch weltweit.
Französisch ist
Amtssprache bzw. eine von mehreren offiziellen Amtssprachen in 32 Staaten.
die zweithäufigste Muttersprache der EU-Bürger (nach Deutsch).
die zweithäufigste angewendete Sprache (19 %) in den Behörden der EU (nach Englisch mit 41 %)
die dritthäufigste Internetsprache innerhalb der EU (nach Englisch und Deutsch).
Französisch ist unter anderem die Amtssprache bei folgenden internationalen Organisationen:
Vereinte Nationen sowie viele ihrer Unterorganisationen
Europarat
Europäischer Gerichtshof
Welthandelsorganisation (WTO)
Internationale Arbeitsorganisation (ILO)
Weltgesundheitsorganisation (WHO)
Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD)
Weltorganisation für geistiges Eigentum (WIPO)
Organisation des Nordatlantikvertrags (NATO)
Weltpostverein (UPU, Union Postale Universelle)
Internationales Olympisches Komitee (IOK)
Die 57 OIF-Staaten repräsentieren:
8,1 % der Weltbevölkerung
29 % der UNO-Mitgliedstaaten
4,2 % der weltweiten Bruttonationaleinkommens (2010)
Literatur
Jürgen Erfurt: Frankophonie: Sprache – Diskurs – Politik. Uni-Taschenbücher UTB M, Francke, Tübingen 2005, ISBN 3-8252-2645-X
Georg Glasze: The Discursive Constitution of a World-spanning Region and the Role of Empty Signifiers: the Case of Francophonia. In: Geopolitics, Jg. 12, H. 4, 2007, S. 656–679. PDF (884 kB).
Georg Glasze: Die diskursive Konstitution der Frankophonie als „internationale Gemeinschaft“ und „geokultureller Raum“, in: Paul Reuber, Iris Dzudzek, Anke Strüver (Hrsg.): Die Politik räumlicher Repräsentationen. Beispiele aus der empirischen Forschung. Reihe: Forum Politische Geographie, 6. 2011, S. 73–108. PDF (1,6 MB).
Kian-Harald Karimi: La dernière ressource de notre grandeur. Die Frankophonie zwischen imperialer Vergangenheit und postkolonialer Zukunft, in: Susanne Stemmler, Gesine Müller (Hrsg.): Raum – Bewegung – Passage. Postkoloniale frankophone Literaturen. Reihe: Edition Lendemains. Gunter Narr, Tübingen 2009, ISBN 3-8233-6515-0, S. 15–31
Kian-Harald Karimi: Une francophonie des cultures comme modèle d’un ordre multipolaire et multilingue, in: Ute Fendler, Hans-Jürgen Lüsebrink, Christoph Vatter (Hrsg.): Francophonie et globalisation culturelle. Politique, Médias, Littératures. Reihe: Studien zu den frankophonen Literaturen außerhalb Europas, 30. IKO-Verlag für Interkulturelle Kommunikation, Frankfurt 2008, ISBN 3-88939-888-X, S. 17–38
Hans Jürgen Lüsebrink u. a. Hgg.: Écrire en langue étrangère. Interférences de langues et de cultures dans le monde francophone. Reihe: Les cahiers du centre de recherche en littérature québécoise, no 28. Éd. Nota bene & IKO-Verlag, 2002, ISBN 2-89518-103-9 (Sammelband mit ca. 20 Autoren, auch online)
Ursula Reutner (Hrsg.): Manuel des francophonies. de Gruyter, Berlin 2017, ISBN 978-3-11-034670-1
Weblinks
Organisation internationale de la francophonie, OIF (bis 2005: Agence internationale de la francophonie, AIF)
, nur bis 2005, damals eine Abteilung der AIF, zahlreiche Unterseiten, wichtig zur Geschichte
Agence universitaire de la Francophonie (AUF)
, Aix-Marseille Université
Francophonie Dresden e. V.
"La plume francophone." Les littératures du monde francophones, Website in Französisch über Schriftsteller der Francophonie
Post-Francophonie? von Olivier Milhaud, in EspacesTemps.net, Revue indisciplinaire de sciences sociales, 7. August 2006
Le Harem linguistique de la France? Rezension, von Olivier Milhaud, in EspacesTemps.net, 1. Juni 2006. Eine Rezension über: Ariane Poissonnier, Gérard Sournia: Atlas mondial de la Francophonie. Du culturel au politique. Autremont, Paris 2006 (mit Bibliographie)
Office québécois de la langue française in Quebec, OQLF, Staatliches Sprachförderungsprogramm des Bundesstaats, Charta von 1977 (2002), Links zu vielen Dokumenten zur kanadischen Francophonie
Einzelnachweise
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Q1003588
| 135.663795 |
16230
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https://de.wikipedia.org/wiki/M
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M
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M bzw. m (gesprochen: []) ist der 12. Buchstabe des klassischen Alphabets und der 13. Buchstabe des modernen lateinischen Alphabets. Er ist ein Konsonant. Der Buchstabe M hat in deutschen Texten eine durchschnittliche Häufigkeit von 2,53 %. Er ist damit der 14.-häufigste Buchstabe in deutschen Texten.
Das Fingeralphabet für Gehörlose bzw. Schwerhörige stellt den Buchstaben M dar, indem die Hand nach unten zeigt, während der Zeige-, Mittel- und Ringfinger nach unten gestreckt sind. Der Daumen verschwindet hinter den Fingern, und der Handrücken weist nach vorne.
Herkunft
In der protosinaitischen Schrift stellt der Buchstabe eine Wellenlinie dar und steht für Wasser. Im phönizischen Alphabet wurde daraus der Buchstabe Mem (Wasser). Zur besseren Schreibung – von rechts nach links – wurde die Wellenlinie rechts mit einem Anstrich versehen. Mem stand für den Lautwert [m]. Der Lautwert des Buchstabens blieb bei allen späteren Übernahmen des Alphabets durch andere Völker gleich.
Das Mem wurde in das griechische Alphabet als My übernommen. Zu Beginn wurde es ebenso wie Mem mit einem Anstrich geschrieben, bis zum klassisch-griechischen Alphabet wurde allerdings auch die linke Seite nach unten gezogen. Möglicherweise ist dafür der Wechsel der Schreibrichtung auf von links nach rechts verantwortlich, allerdings kommt auch ein Wechsel der Schreibwerkzeuge als Ursache in Frage.
In das etruskische Alphabet wurde noch die frühgriechische Variante des Buchstabens übernommen, die Mem ähnelt. Die Lateiner übernahmen erst die etruskische Variante.
Zitat
Siehe auch
م, der arabische Buchstabe Mīm
מ oder ם, der hebräische Buchstabe Mem
M (für Military), Symbol auf der Briefmarkenserie der AM-Ausgabe
Überstrich für m̅
Weblinks
http://www.wam.umd.edu/~rfradkin/alphapage.html
http://www.ancientscripts.com/greek.html
Belege
Lateinischer Buchstabe
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Q9933
| 363.997583 |
848912
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https://de.wikipedia.org/wiki/Suzer%C3%A4nit%C3%A4t
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Suzeränität
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Der Begriff der Suzeränität ( „Oberhoheit, Oberherrschaft, Lehnsherr“, als Parallelbildung zu souverain von frz. sus „hinauf, in der Höhe“ abgeleitet, das auf das gleichbedeutende , verkürzt aus subversum, zurückgeht) wurde in der Frühen Neuzeit parallel zum Begriff der Souveränität entwickelt und bezeichnet die Oberhoheit eines Staates über einen anderen, der über eine begrenzte, unvollkommen ausgebildete Souveränität verfügt.
Begriffsgeschichte
Der Anlass für die Begriffsbildung liegt darin, dass in vor- und frühneuzeitlichen Staatswesen die Ausübung der Staatsmacht angesichts des geringen Organisationsgrades und der langsamen, unvollkommenen Kommunikationswege auf bestimmte Gegenstände beschränkt blieb. In der Regel war dies die ökonomische Ausbeutung durch Erhebung von Abgaben und die Bereitstellung von Menschen und Sachmitteln für militärische Konflikte. Die Regelung der sonstigen Bedürfnisse wurde lokalen und regionalen Faktoren (Gouverneuren, Kommunen, beruflichen und religiösen Korporationen, Grundherren usw.) überlassen. Insbesondere bei außereuropäischen imperialen Großreichen wie in den Fällen des Osmanischen Reichs, des Reichs der Mandschu oder des Mogulreichs, kam hinzu, dass deren Herrschaftsbereich auch Gebiete mit völlig andersgearteten kulturellen Traditionen beinhaltete und in etlichen Fällen die bestehenden Herrschaftsstrukturen im Wesentlichen unangetastet blieben. Dabei beließen Eroberer die unterworfenen Eliten in ihren Stellungen und begnügten sich über die vorbeschriebenen Leistungen hinaus mit der gegebenenfalls ritualisierten, formellen Anerkennung ihrer Oberherrschaft verbunden mit einem Treueversprechen. In der Staatsrechtslehre des 19. Jahrhunderts wurden solche Verbindungen als Staatenstaat bezeichnet. Als dann im 19. Jahrhundert die Entwicklung moderner staatlicher Strukturen in diesen Großreichen unabweisbar wurde, stieß man damit einerseits auf die in ihrem Zentrum bereits bestehenden staatlichen Strukturen, die zum modernen Staat weiterentwickelt werden sollten, andererseits auf die fortbestehenden regionalen Instanzen oder auch neue aufständische Bewegungen, die ihrerseits eine Staatlichkeit anstrebten. Im Falle des Mogulreichs traf dessen Auflösung mit der Expansion der britischen Kolonialmacht zusammen, welche die Nachfolge der Großmoguln in Anspruch nahm und so auch das staatsrechtliche Konstrukt der Suzeränität übernahm.
Eine historische Definition für Suzeränität aus dem angelsächsischen Rechtskreis lautet: : „[…] ,suzerainty‘ is a term applied to certain international relations between two sovereign States whereby one, whilst retaining a more or less limited sovereignty, acknowledges the supremacy of the other.“ (deutsch: „,Suzeränität‘ ist ein Begriff, angewandt auf bestimmte internationale Beziehungen zwischen zwei souveränen Staaten, wobei einer bei mehr oder weniger begrenzter Souveränität die Oberhoheit des anderen anerkennt.“) Diese Rechtsfigur wurde einerseits zur Beschreibung der Abhängigkeit der indischen Fürstenstaaten von Britisch-Indien (mit dem Repräsentanten der britischen Krone als Kaiser von Indien) im ausgehenden 19. Jahrhundert verwendet, andererseits zur Beschreibung der Abhängigkeit der dem Osmanischen Reich tributpflichtigen Staaten, als welche im 19. Jahrhundert auch die sich emanzipierenden neu entstehenden Nationalstaaten organisiert wurden. Im Falle des Mandschu-Reiches diente er der Bezeichnung der Abhängigkeit der Außenbesitzungen in Zentralasien, Korea und Südostasien im Gegensatz zu den chinesischen Kernprovinzen.
Der Begriff der Suzeränität war dabei oft von diplomatischen Usancen abhängig. So standen Rumänien und dessen Vorläufer, die Fürstentümer Moldau und Walachei, sowie Serbien bis zum Frieden von San Stefano (1878), ferner die Republik der Ionischen Inseln (de facto bis zum Frieden von Tilsit 1807), und die Republik Ragusa unter der Suzeränität des Osmanischen Reiches, das Fürstentum Samos und das Khedivat Ägypten aber unter dessen Souveränität.
Abgrenzung zu anderen Modellen des Souveränitätsverzichtes
Solche Abhängigkeitsverhältnisse sind in der Gegenwart nicht mehr existent. Zwar gibt es zahlreiche Staaten, deren insbesondere auswärtige Angelegenheiten von einem anderen Staat wahrgenommen werden, z. B. Liechtenstein, Andorra und die Cook-Inseln. Ein weiteres Beispiel ist das Verhältnis zwischen Monaco und Frankreich. Die Berechtigung des wahrnehmenden Staates folgt hierbei aber nicht aus einer rechtlichen Überordnung dieser Staaten – eine solche Über- und Unterordnung widerspräche der souveränen Gleichheit aller Staaten –, sondern aus einer völkerrechtlichen Gestattung, die jederzeit widerrufen werden kann. Dennoch wird der jeweilige Oberstaat solcher Verhältnisse in der Völkerrechtswissenschaft gelegentlich noch als Suzerän bezeichnet. Auch informelle Abhängigkeitsverhältnisse werden nicht der Suzeränität zugerechnet. So war Liechtenstein seit 1806 ein souveränes Fürstentum. Sein Landesherr aber war zugleich und in erster Linie ein Angehöriger des österreichischen und böhmischen Hochadels und in dieser Eigenschaft mit dem österreichischen Kaisertum verbunden und residierte bis nach dem Ersten Weltkrieg nicht im Hauptort seines Staates, in Vaduz, sondern in der kaiserlichen Residenzstadt Wien. Gleichfalls sind abhängige Territorien, Nebenländer und dergleichen kein Fall von Suzeränität, weil hier keine geteilten, miteinander konkurrierenden staatlichen Gewalten existieren, so wie bei den britischen Kronbesitzungen Isle of Man und den Kanalinseln.
Allerdings ist der Begriff Suzeränität immer noch Bestandteil des geltenden Rechts, da er sich in einigen nach wie vor in Kraft befindlichen völkerrechtlichen Verträgen findet, so z. B. in Art. 2 des Übereinkommens über die Sklaverei von 1926, in Art. 1 des Warschauer Abkommens über die Beförderung im internationalen Luftverkehr von 1929 und in Art. 2 des Abkommens über die internationale Zivilluftfahrt von 1944.
Beispiele
Das Osmanische Reich war Suzerän Rumäniens und von dessen Vorläufern, den Fürstentümern Moldau und Walachei, sowie Serbiens bis zum Frieden von San Stefano (1878).
China war in der zweiten Hälfte des 18. und im 19. Jahrhundert Suzerän Tibets.
Das Russische Kaiserreich kann als Suzerän des Emirats Buchara und des Khanats Chiwa angesehen werden.
Literatur
Okamoto Takashi (Hrsg.): A World History of Suzerainty. A Modern History of East and West Asia and Translated Concepts. Toyo Bunko, Tokyo 2019, ISBN 978-4-8097-0300-3
Weblink
Einzelnachweise
Verfassungsrecht
Völkerrecht
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Q463573
| 123.810057 |
46560
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https://de.wikipedia.org/wiki/Rouen
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Rouen
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Rouen [] (, , altfränkisch/althochdeutsch Rodomo, Rudaburg, altenglisch Roðem, altnordisch Ruþaborg) ist eine Gemeinde und Hafenstadt mit Einwohnern (Stand ) im Norden Frankreichs. Sie ist der Sitz der Präfektur des Départements Seine-Maritime, der Region Normandie und des Erzbistums Rouen, des Primas der Normandie und des Kommunalverbands Métropole Rouen Normandie.
Geografie
Rouen liegt in Nordfrankreich am Unterlauf der Seine, etwa 80 Kilometer landeinwärts, 110 Kilometer nordwestlich von Paris und 68 Kilometer südöstlich von Le Havre auf einer mittleren Höhe von 77 Metern über dem Meeresspiegel. Die Mairie steht auf einer Höhe von 15 Metern über Null. Nachbargemeinden von Rouen sind Mont-Saint-Aignan im Norden, Bois-Guillaume und Bihorel im Nordosten, Bonsecours im Südosten und Le Petit-Quevilly im Südwesten. Das Gemeindegebiet hat eine Fläche von 2138 Hektar. Der Cailly, der Robec und die Aubette sind Nebenflüsse der Seine, die auf dem Stadtgebiet in die Seine münden.
Die Gemeinde ist einer Klimazone des Typs Cfb (nach Köppen und Geiger) zugeordnet: Warmgemäßigtes Regenklima (C), vollfeucht (f), wärmster Monat unter 22 °C, mindestens vier Monate über 10 °C (b). Es herrscht Seeklima mit gemäßigtem Sommer.
Bevölkerung
Rouen hat Einwohner (Stand ). Die Geburtenrate in Rouen betrug in den Jahren von 1999 bis 2009 13,8 Promille, die Sterberate 8,2 Promille. Die Anzahl der Haushalte betrug im Jahr 2009 67.558, davon waren 60.271 Hauptwohnsitze, 1.202 Zweitwohnsitze und 6.085 Wohnungen standen leer.
Geschichte
Erste Besiedlung
Für die Jungsteinzeit lassen sich ab dem 9. bis 6. Jahrtausend v. Chr. erste Spuren menschlicher Besiedlung nachweisen. Ackerbau und Viehzucht sind in der Zeit ab dem 5. Jahrtausend v. Chr. nachgewiesen. Die hier befindliche Allée couverte von Mauny ist das einzige Galeriegrab im Département Seine-Maritime. In den 1990er Jahren entdeckte man den Einbaum von Rouen.
Gallo-Römische Zeit
Während der gallo-römischen Zeit (52 v. Chr. bis 486) war Rouen unter dem Namen Rotomagus die civitas des keltischen Stammes der Veliocasses. Vom römischen Straßennetz lässt sich der Cardo maximus noch in den Straßen rue Beauvoisine, rue des Carmes und der rue Grand-Pont wiederfinden. Er kreuzte mit dem weniger sichtbaren Decumanus bei der Kathedrale. Ein Amphitheater lag am nördlichen Ende der rue Jeanne d’Arc in der Nähe des Jeanne-d’Arc-Turmes. Seit dem 4. Jahrhundert ist die Stadt Bischofssitz. Die Liste der Erzbischöfe von Rouen wurde im Mittelalter bis in das 3. Jahrhundert zurück rekonstruiert. Der erste urkundlich belegte Bischof von Rouen ist Avitianus. Er nahm im Jahr 314 am Konzil von Arles teil.
Mittelalter
Ab dem Jahr 841 wurde Rouen von Wikingern überfallen. Im Jahre 911 erhielt ein Jarl (Fürst) der Wikinger namens Rollo im Vertrag von Saint-Clair-sur-Epte vom französischen König Karl dem Dritten die spätere Normandie als Grafschaft Rouen zum Lehen. Rouen wurde zur Hauptstadt.
Um 1160 schenkte Kaiserin Mathilde Rouen die Pont de Pierre, die erste Brücke über die Seine in der Stadt.
1204 wurde Rouen, das damals unter der Herrschaft des englischen Königs Johann Ohneland stand, während eines Französisch-Englischen Kriegs durch die Truppen des französischen Königs Philipp-August erobert.
Am 19. Januar 1419 während des Hundertjährigen Krieges (1337–1453) eroberte Heinrich V. von England die Stadt Rouen und unterstellte die Normandie der britischen Krone. In diesem Zusammenhang wurde Jeanne d’Arc verurteilt und am 30. Mai 1431 auf dem Scheiterhaufen verbrannt. 1449 wurde Rouen durch Karl VII. für Frankreich zurückerobert.
Neuzeit
Reformation
Die Bewohner von Rouen nahmen die Ideen der Reformatoren Martin Luther (1483–1546) und Johannes Calvin (1509–1564) positiv auf. Die Hafenstadt war offen für Veränderungen. Zu Beginn des 16. Jahrhunderts war Rouen zu einem wichtigen Hafen des Handels mit Brasilien geworden. Die Stadt war wohlhabend, das Bildungsniveau relativ hoch und der Anteil der Lese- und Schreibkundigen ebenfalls. Auch einige der in Rouen verstärkt ausgeübten Handwerksberufe erforderten ein gewisses Maß an Bildung, zum Beispiel die Goldschmiedekunst. Die Schriften Luthers wurden daher von relativ vielen Einwohnern gelesen, und Rouen wurde eine Hochburg des Protestantismus. Bis etwa 1545 war die protestantische Gemeinde von Rouen evangelisch-lutherisch, danach calvinistisch.
1528 wurde im Verlauf der Reformation Bilder beschädigt. Im selben Jahr wurde Pierre Bar als erster Protestant in Rouen unter dem Vorwurf der Häresie auf dem Marktplatz verbrannt. Die protestantischen Schriften wurden daraufhin heimlich verbreitet, trotzdem wurden bis 1550 weitere Protestanten als Häretiker angeklagt. In den Jahren 1541, 1545 und 1551 wurden vereinzelt religiöse Kunstwerke, besonders Statuen, beschädigt.
1550 besuchte König Heinrich II. die Stadt, um den Protestantismus zu bekämpfen. Dennoch erreichte die Ausbreitung des Protestantismus erst danach, 1561, ihren Höhepunkt. 20 Prozent der Einwohner waren zu dieser Zeit Protestanten, was etwa 15.000 Personen entspricht. Die Eroberung Rouens, das von Montgomery verteidigt wurde, war 1562 einer der ersten Erfolge, welche die katholische Partei in den Hugenottenkriegen davontrug. Heinrich IV. belagerte Rouen 1591–92 vergebens und erhielt es erst 1594 durch Kapitulation.
Der Puy namens Confrérie de la Conception de Notre Dame (‚Bruderschaft von Mariä Empfängnis‘) wurde im 12. Jahrhundert als religiöse Gemeinschaft gegründet, entwickelte sich aber im Laufe der Jahrhunderte zu einer literarischen Gruppe. Der Puy bestand bis zur Französischen Revolution (1789–1799). In den Jahren 1521 und 1522 verfasste der Puy zahlreiche Kampfschriften gegen die Werke Luthers.
1557 wurde die erste offizielle calvinistische Kirche eingerichtet, nachdem seit 1546 inoffizielle Treffen im Süden Rouens stattgefunden hatten. Sie bestand bis zur Aufhebung des Edikts von Nantes mit dem Edikt von Fontainebleau im Jahr 1685. Die Stadt, die 1633 von einem schweren Orkan verwüstet worden war, verlor infolge der Aufhebung des Edikts von Nantes drei Viertel ihrer 80.000 Einwohner durch Auswanderung.
Moderne
1774 wurde Rouen von einer großen Feuersbrunst heimgesucht. 1793 erhielt Rouen während der Französischen Revolution den Verwaltungsstatus einer Gemeinde und 1801 durch die Verwaltungsreform unter Napoleon Bonaparte das Recht auf kommunale Selbstverwaltung.
Während der Julirevolution von 1830 kamen zahlreiche Abteilungen bewaffneter Einwohner Rouens nach Paris, um Karl X. zur Räumung Frankreichs zu nötigen. 1843 wurde die Eisenbahnlinie Paris–Rouen eröffnet.
Am 25. Februar 1848 wurden bei einem Tumult in Rouen die Fabrikstätten der englischen Spinnereien demoliert. Am 27. und 28. April 1848 fand hier ein Aufstand und Barrikadenkampf wegen der Wahlen statt.
Während des Deutsch-Französischen Krieges war Rouen vom 6. Dezember 1870 bis 22. Juli 1871 von preußischen Truppen besetzt.
Am 29. Oktober 1932 eröffneten die Inhaber des Pariser Kaufhauses Galeries Lafayette den ersten Monoprix-Laden, aus dem die große heutige französische Discounter-Warenhauskette hervorging.
Rouen vor und während des Zweiten Weltkriegs
Ab dem 12. April 1939 galt in Frankreich für alle männlichen Ausländer zwischen 20 und 40 Jahren eine Arbeitspflicht.
Im Zuge dieser Entwicklung wurden die Männer in sogenannten Compagnies de Travailleurs Étrangers (CTE, Fremdarbeiterkompagnien) zusammengefasst. In Rouen wurde zu diesem Zweck die CTE 139 stationiert, die von 1939 bis Juni 1940 bestand. Wer dort interniert wurde, ist nicht bekannt. Bekannt ist aber, dass im Mai 1940 auch deutsche Frauen, die bis dahin von Verhaftungen verschont geblieben waren, interniert wurden. Sie wurden in einer Ausstellungshalle in Rouen untergebracht. Alle diese Lager sollen im Juni 1940 in der Folge der Niederlage der französischen Armee aufgegeben worden sein.
Am 9. Juni 1940 besetzte die deutsche Wehrmacht Rouen. Sie konnte auch nicht dadurch aufgehalten werden, dass von französischer Seite vorher alle Brücken gesprengt und zur Abwehr ein Brand gelegt worden war. Dieser verwüstete weite Teile der Stadt südlich der Kathedrale, da die Deutschen den Feuerwehrleuten zwei Tage lang ein Eingreifen verweigerten.
Von Juni 1940 bis Ende August 1944 stand Rouen unter deutscher Besatzung. In dieser Zeit war die Stadt auch Standort mehrerer Lager für Kriegsgefangene. Von Oktober bis Dezember 1940 befand sich hier der Frontstalag 171 Bis August 1942 bestand auch noch ein Ilag, ein Internierungslager für Zivilisten aus Ländern, mit denen sich Deutschland im Krieg befand und die in Frankreich von der Besetzung überrascht worden waren.
Ein weiteres Lager, das Rouen zugeschrieben wird, sich aber tatsächlich in Sotteville-lès-Rouen befand, und zwar auf dem Gelände einer früheren Pferderennbahn, dem heutigen Parc du Champ des Bruyères, war ein sogenanntes Heilag, ein Heimkehrerlager. Dorthin wurden Anfang Oktober 1941 1.500 britische Soldaten verlegt, die zuvor in Deutschland gefangen gehalten worden waren und gegen duetsche Kriegsgefangene in England ausgetauscht werden sollten. Der für den Zeitraum 4. bis 7. Oktober 1941 angesetzte Austausch wurde jedoch von den Deutschen abgesagt. Das Lager selber bestand bis April 1943.
Am 8. Februar 1942 verkündete der Chef des Militärverwaltungsbezirk A in Nordwestfrankreich in St. Germain, Generalleutnant Friedrich von der Lippe (* 13. Mai 1879 in Berlin; † 6. Dezember 1956 in Krefeld), folgende „Bekanntmachung an die Bevölkerung“:
Ob es zu diesen Vergeltungsmaßnahmen kam, ist nicht überliefert. Die Fondation pour la Mémoire de la Déportation vermeldet lediglich für 1944 die Inhaftierung politischer Gefangener im Maison d'arrêt im Prison Bonne Nouvelle. Sie seien als Widerstandskämpfer kommunistischer, terroristischer oder subversiver Aktivitäten beschuldigt worden.
Am 19. April sowie in der Semaine rouge (Rote Woche, 30. Mai–5. Juni 1944) fanden schwere Bombardierungen durch alliierte Luftstreitkräfte statt, die vor allem die Seine-Brücken und den Güterbahnhof Sotteville-lès-Rouen zum Ziel hatten. Der Angriff im April hatte 816 Tote und 20.000 weitere Opfer in der Stadt zur Folge; am 30. Mai 1944 wurden 140 Menschen unter dem Hôtel des Douanes verschüttet.
Vor der Befreiung der Stadt am 30. August 1944 zogen sich die deutschen Truppen in Richtung Seine zurück. 50.000 Soldaten überquerten laut einer Studie des britischen Heeresdienstes von 1945 hier die Seine. Ebenso wurden auch 4.000 Fahrzeuge auf das rechte Ufer gebracht. Das gelang mit Hilfe eniger Fähren und dank einer teilweise wiederhergestellten Brücke.
Die deutschen Truppenkonzentrationen blieben den Alliierten nicht verborgen, und es kam um den 25. August herum zu abermaligen Bombadierungen von Rouen und seinen Kais. 1.700 Fahrzeuge der deutschen Wehrmacht wurden zerstört oder blieben am linken Ufer der Seine zurück. 300 deutsche Soldaten wurden auf einem Feld in der Nähe der Kais begraben.
Anlässlich einer Gedenkveranstaltung zur Befreiung von Rouen lautete 2015 die Bilanz: „1944 waren es die anglo-kanadischen Truppen, die Rouen befreiten. Eine Stadt, deren historisches Zentrum während des vierjährigen Krieges durch Brände und 25 Bombenangriffe zerstört wurde.“
Rouen nach dem Zweiten Weltkrieg
In den Jahren 1948 bis 1955 wurden die Brücken und der Bahnhof durch Marcel Lods wiedererbaut. Die Innenstadt wurde nach Plänen Jacques Grébers wiederaufgebaut, die dieser bereits in den 1940er Jahren nach dem großen Brand beim Einmarsch der deutschen Wehrmacht entwicklet hatte. In der Rue Saint Denis befindet sich eine Gedenktafel zu Ehren von René Dufour, der ebenfalls eine wichtige Rolle beim Wiederaufbau von Rouen spielte.() Nach dem Krieg war beschlossen worden. die Kais zu erhöhen. Dies führte zu starken Verzögerungen beim Wiederaufbau der Stadt, der sich über zwei Jahrzehnte erstreckte. Dadurch bedingt, „war der Wiederaufbau Rouens im Gegensatz zu anderen Städten in der Normandie kein Modell für eine städtebauliche Stimmigkeit“.
Städtepartnerschaften
Kultur und Sehenswürdigkeiten
Überblick
Rouen ist mit zwei Blumen im Conseil national des villes et villages fleuris („Nationalrat der beblümten Städte und Dörfer“) vertreten. Die „Blumen“ werden im Zuge eines regionalen Wettbewerbs verliehen, wobei maximal vier Blumen erreicht werden können.
Seit 2003 trägt Rouen die Bezeichnung Ville amie des enfants (kinderfreundliche Stadt), die von der UNICEF Frankreich verliehen wird. Außerdem trägt die Stadt die offizielle Bezeichnung „Französische Stadt der Kunst und der Geschichte“.
In Rouen gibt es 10 Bibliotheken, 8 künstlerische Schulungsstätten, 26 Theatersäle, 11 Museen und 7 sozio-kulturelle Zentren.
Kulinarisch ist Rouen durch die Ente auf Rouener Art bekannt, zu der auch die Sauce rouennaise gereicht wird. Als Ausgangsprodukt ist die große Entenrasse Rouener Ente (Canard rouennais) mit einem Schlachtgewicht von 2,5 bis 3 kg ideal.
Bauwerke
Stadtmauer und Wohnhäuser
Rouen war im Spätmittelalter und der Renaissance mit etwa 40.000 Einwohnern eine Großstadt nach europäischen Maßstäben, von der noch zahlreiche und bedeutende kirchliche und profane Bauten erhalten geblieben sind. Eine Stadtmauer umschloss ein großes Areal; sie ist weitgehend verschwunden, aber am Verlauf der ringförmig geführten Straßen noch ablesbar. Seit dem 19. Jahrhundert wurden diese Bauwerke der Altstadt Vieux Rouen zunehmend als Kunstwerke entdeckt und in zahlreichen Bildern festgehalten. Victor Hugo hat die Stadt als Stadt der hundert Kirchtürme bezeichnet. Allerdings wurden im 19. Jahrhundert verschiedene Boulevards als neue breite, gerade Straßenachsen durch das unregelmäßige Netz der mittelalterlichen Gassen geschlagen. Weitere Bauwerke wurden durch Bombardements während des Zweiten Weltkriegs beschädigt oder zerstört, vor allem im Bereich zwischen Kathedrale und Seine, wo Neubauten der Nachkriegszeit das Stadtbild prägen. Dennoch sind heute noch an die zweitausend Fachwerkhäuser aus der Zeit seit dem Spätmittelalter erhalten.
Religiöse Bauwerke
Die gotische Kathedrale von Rouen wurde um 1180 im Westen als Ersatz eines älteren Bauwerkes begonnen. Um 1235/1237 war der Bau mit dem Chor im Osten vollendet. Ab ca. 1280 wurden die Querhausfassaden erneuert. Die Westfassade entstand ab den 1370er Jahren und wurde um 1450 fertiggestellt. Das Bauwerk inspirierte Claude Monet zu dem berühmten gleichnamigen Bilderzyklus.
Die Kirche Saint-Ouen ist eine 1318 begonnene ehemalige Abteikirche im gotischen Stil von 130 Metern Länge. Sie beherbergt eine der größten Orgeln Aristide Cavaillé-Colls, eingeweiht am 17. April 1890 durch Charles-Marie Widor.
Die Kirche Saint-Maclou wurde ab 1436 an der Stelle eines älteren Gotteshauses im Stil der Flamboyant-Gotik (Spätgotik) neu errichtet. 1521 fand die Kirchweihe statt. Die Sakristei wurde 1535 gebaut. Das Innere des Chorraums wurde von 1775 bis 1782 neu gestaltet. Von 1868 bis 1871 wurde der Kirchturm restauriert. Der Chor wurde im Zweiten Weltkrieg stark beschädigt und formgetreu wieder aufgebaut. Die Kirche wurde 1840 als Monument historique klassifiziert und damit unter Denkmalschutz gestellt.
Die spätgotische reformierte Kirche St-Éloi.
Synagoge
Weltliche Bauwerke
Der Turm Jeanne d’Arc ist als Donjon einer der letzten Reste der um 1200 erbauten Burg. Hier wurde Jeanne d’Arc 1431 von den Richtern verhört. Im 19. Jahrhundert erhielt der Turm seinen oberen Abschluss mit dem hölzernen Wehrgang.
Der große Uhrenturm (frz. Le Gros Horloge), eine große astronomische Uhr aus dem 14. Jahrhundert, ist eine beliebte Sehenswürdigkeit direkt in der Innenstadt.
Das Hôtel du Bourgtheroulde wurde 1486–1531 als schmuckreiche Renaissancearchitektur erbaut und beherbergt seit 2010 ein Luxushotel
Das Pest-Beinhaus L’aître Saint-Maclou: das 1348 angelegte Beinhaus ist von mit Schnitzereien von Totentanzszenen verzierten Holzgalerien (um 1530) umschlossen. Die Gebäude beherbergen heute Kunstateliers.
Le Palais de Justice: Der Justizpalast, ab 1509 von R. Leroux erbaut, ist das größte nichtsakrale gotische Gebäude Europas. Unter dem Hof wurde das älteste jüdische Bauwerk Frankreichs entdeckt (um 1100).
Am Place du Vieux-Marché wurde am 30. Mai 1431 Jeanne d’Arc verbrannt. Seit 1979 steht am Platz die Kirche Ste-Jeanne-d’Arc, die auch die Kirchenfenster der 1944 zerstörten Kirche St-Vincent aus dem 16. Jahrhundert aufnahm.
Am Place de la Pucelle wurde beim Bau eines Parkhauses eine eingefasste Quelle aus dem 2. bis 3. Jahrhundert entdeckt. Eine Rekonstruktion dieser Quelle kann in der Eingangshalle des Gebäudes der EDF besichtigt werden.
Museen
Le Secq des Tournelles: im Museum Le Secq des Tournelles befindet sich eine weltweit einmalige Sammlung von Schmiedestücken (Werkzeuge und Schlösser)
Musée des Beaux-Arts: Gemälde aus dem 15. bis 20. Jahrhundert (unter anderem Caravaggio, Velázquez, Géricault, Delacroix, Dufy, Boudin und Monet)
Musée de la Céramique: Keramikmuseum im Hotel d’Hocqueville
Musée maritime fluvial et portuaire: Museum über die Geschichte des Hafens von Rouen und die Seefahrt
Panorama XXL: In einer eigens erbauten Rotunde auf der rechten Uferseite der Seine werden seit dem 20. Dezember 2014 die monumentalen Rundbilder des Künstlers Yadegar Asisi gezeigt.
Das Historial Jeanne d’Arc öffnete 2015 im Bischofspalast von Rouen seine Pforten, an dieser Stelle wurde die französische Nationalheldin Jeanne d’Arc verurteilt und rehabilitiert. Anhand szenischer Video-Installationen werden das Leben der Johanna und der Rehabilitierungsprozess dargestellt.
Das Musée Flaubert et d'histoire de la médecine (Museum Flaubert und der Geschichte der Medizin) ist im Geburtshaus Gustav Flauberts im alten Krankenhaus (Hôtel-Dieu) untergebracht. Es stellt einerseits Mobiliar und Gebrauchsgegenstände aus dem Umfeld Flauberts und andererseits medizinische Apparate und Gebrauchsgegenstände aus dieser Zeit aus (Flauberts Vater war Leiter des Krankenhauses). Unter anderem ist Loulou, Flauberts Papagei, zu sehen. Die Ausstellung wird mit Texten von und zu Flaubert vervollständigt.
Von September 2019 bis September 2021 fand nördlich von Rouen die Ausstellung La Forêt Monumentale statt, für die 14 Künstler monumentale Werke entlang eines 4 km langen Waldwegs errichteten.
Sport und Freizeit
Sporteinrichtungen
6 Stadien, darunter das Stade Robert-Diochon, das allerdings auf dem Gebiet der Nachbargemeinde Le Petit-Quevilly liegt.
15 Sporthallen, darunter die 2012 eröffnete Kindarena.
4 Schwimmbäder
1 Eislaufhalle
Einer der ältesten und bekanntesten Sportvereine der Stadt ist der 1896 gegründete FC Rouen.
Die Dragons de Rouen sind der lokale Eishockeyclub. Obwohl Frankreich ein Fußball-Land ist, ist der Eishockeyclub, der in der höchsten französischen Spielklasse spielt, in Rouen sehr beliebt.
Jedes Jahr finden in Rouen Anfang Mai als internationales Ereignis die 24 heures motonautiques (24-Stunden-Rennen) statt. Es ist das weltweit einzige Motorbootrennen über diese Zeitdauer.
Rouen war am 22. Juli 1894 Zielort der ersten Automobilwettfahrt der Welt, dem Rennen Paris–Rouen. Von 1950 bis 1993 existierte in unmittelbarer Nähe der Stadt mit dem teilpermanenten Kurs von Rouen-les-Essarts eine der wichtigsten Motorsport-Rennstrecken Frankreichs.
Rouen war 2012 Zielort der 4. Etappe der Tour de France 2012 sowie zuvor 19 mal Start-, Ziel- beziehungsweise Etappenort des Radrennens.
Freizeit
Am 19. September 2020 wurde der Parc du Champ des Bruyères eröffnet. Bei ihm handelt es sich um den größten Landschaftspark in der Agglomeration Rouen. Der Park befindet sich auf dem Gelände einer ehemaligen Pferderennbahn, wo sich während der deutschen Besatzung ein sogenanntes Heilag, ein Heimkehrerlager, befand, in dem britische Kriegsgefangene auf ihren Austausch mit in England internierten deutschen Kriegsgefangenen warteten.
Regelmäßige Veranstaltungen
Das Festival du cinéma nordique (Festival des nordischen Films) wurde von 1988 bis 2010 jedes Jahr im März veranstaltet. Es wurden vor allem Spielfilme aus den nordischen und baltischen Ländern gezeigt.
Die Armada Rouen oder schlicht Armada ist eine Veranstaltung für Großsegler und andere Schiffe. Sie findet alle vier bis fünf Jahre an der Seine statt und dauert ungefähr zehn Tage.
Wirtschaft und Infrastruktur
Im Jahr 2009 waren 52,2 Prozent der Erwerbstätigen in der Gemeinde beschäftigt, die anderen waren Pendler. 14,5 Prozent der Arbeitnehmer waren arbeitslos. 0,1 Prozent der Arbeitnehmer waren in der Landwirtschaft beschäftigt, 4,2 Prozent waren Händler, Handwerker oder Unternehmer, 33,4 Prozent waren Angestellte und 14,2 Prozent Arbeiter.
Verkehr
Das Straßennetz von Rouen ist 210 Kilometer lang, davon sind 16 Kilometer Radwege.
ÖPNV
Vom Hauptbahnhof von Rouen (Gare de Rouen-Rive-Droite) fahren Züge Richtung Paris, Le Havre, Dieppe, Caen, Lyon, Marseille, Amiens und Lille. Dessen Empfangsgebäude, ein Jugendstilgebäude, stammt von 1928.
Die Stadtbahnlinie ist etwa 19 Kilometer lang und hat zwei Abzweige: Boulingrin–Georges Braque und Boulingrin–Technopole. In der Innenstadt (rechtes Seineufer) fährt sie 1,8 Kilometer unterirdisch (→ Straßenbahn Rouen).
Neben der Stadtbahn gibt es noch einige Omnibuslinien. Außerdem gibt es ein spurgeführtes Omnibussystem (TEOR).
Unterirdische Stationen der Stadtbahn Rouen: Joffre-Mutalite, Theatre des Arts (Kunsttheater), Palais de Justice (Justizpalast), Gare rue verte und Beauvoisin (übersetzt: Schöner Nachbar)
Hafen
Rouen befindet sich zwischen Paris und dem Atlantik beziehungsweise dem Ärmelkanal (La Manche) – die Gezeiten sind noch wahrnehmbar.
Der Hafen befindet sich 80 Kilometer von der Flussmündung entfernt. Gleichwohl ist er zugleich Fluss- und Seehafen. Die maximale Schiffslänge beträgt 260 Meter bei maximal etwa 150.000 Tonnen.
Bei Einbeziehung aller Schiffsgrößen ist Rouen der 28. europäische Hafen und der fünfte Frankreichs (nach Marseille Europort, Hafen Le Havre, Dunkerque, Saint-Nazaire). Es ist der größte europäische Getreidehafen und der größte französische Hafen für Mehl und Düngemittel. Vor allem durch die Ende 2012/Anfang 2013 stillgelegte Raffinerie Petit-Couronne kam auch Öltransportverkehr zustande.
Alle vier bis fünf Jahre kommen mehrere Millionen Besucher zur Schiffsschau (Armada) der weltgrößten Segelschiffe. Die 2008 eingeweihte Seinebrücke Gustave Flaubert gilt mit einer Gesamthöhe von 86 Metern als höchste Hubbrücke Europas und dritthöchstes Bauwerk der Stadt.
Bildung
An der Universität Rouen studieren etwa 24.000 Personen. In Rouen gibt es darüber hinaus vierzehn Collèges, 25 Grundschulen, 29 École maternelles und siebzehn Gymnasien.
Die Stadt beherbergt auch die École supérieure d’ingénieurs en génie électrique, eine Hochschule für Elektrotechnik, und UniLaSalle, eine landwirtschaftliche Ingenieurschule.
Persönlichkeiten
Söhne und Töchter der Stadt
Personen, die im Ort gewirkt haben
Ansbert von Rouen, Bischof von Rouen und Kanzler des westfränkischen Reiches
Pierre Cauchon (1370–1442), Bischof von Beauvais, führte in Rouen den Prozess gegen Jeanne d’Arc
Augustin Marlorat (1506–1562), französischer Reformator und Märtyrer, der in Rouen hingerichtet wurde
Jacques Guillaume Thouret (1746–1794), Anwalt und Revolutionär wurde 1789 durch den Dritten Stand von Rouen in den letzten Generalstand des Ancien Régime gewählt
Ambroise Louis Garneray (1783–1857), Maler und Kupferstecher, wurde 1833 Direktor des Museums in Rouen
Raymond Duchamp-Villon (1876–1918), Maler und Bildhauer, wurde in Damville in der Nähe von Rouen geboren, hatte 1905 Ausstellungen in Rouen
Max Schirschin (1921–2013), Fußballspieler und Fußballtrainer
Jacques Anquetil (1934–1987), fünfmaliger Sieger der Tour de France, wurde in Mont-Saint-Aignan geboren und starb in Rouen
Literatur
Weblinks
Offizielle Website (französisch)
Website zur Geschichte und Kunst von Rouen (französisch)
Das Fremdenverkehrsamt (französisch)
Rouen in der Base Mémoire des Ministère de la culture (französisch)
Rouen in Frankreich: Der Platz der brennenden Jungfrau, Artikel von Horst Heinz Grimm in Spiegel Online, 12. März 2012
AJPN – Anonymes, Justes et Persécutés durant la période Nazie dans les communes de France: Rouen en 1939-1945
Thierry Chion: Libération de 1944 : quand les Alliés ont bombardé les Allemands sur les quais de Rouen, actu.fr, 7. Oktober 2018
Richard Plumet: Rouen se souvient de sa libération le 30 août 1944, france3 auf francetvinfo.fr, 30. August 2015. Über diese Webseite sind Videos zugänglich, die eindrucksvoll die Zerstörung von Rouen, die Befreiung und den Wiederaufbau zeigen. Ein weiteres Video über den Abzug der Deutschen und die letzten Bombadierungen gibt es hier:
Le départ des troupes allemandes au Petit-Quevilly, les derniers bombardements de Rouen rive gauche (mit englischen Untertiteln)
Einzelnachweise
Ort in der Normandie
Motorboot-Rennstrecke
Hauptstadt einer französischen Region
Präfektur in Frankreich
Mitglied der Ehrenlegion (Stadt)
Ort an der Seine
Hochschul- oder Universitätsstadt in Frankreich
Ortsname keltischer Herkunft
Ort mit Seehafen
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Q30974
| 213.456663 |
10805
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https://de.wikipedia.org/wiki/Epithel
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Epithel
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Das Epithel [] (, ‚über‘ und , ‚Brustwarze‘) ist eine biologische Sammelbezeichnung für Deck- und Drüsengewebe. Es handelt sich um ein- oder mehrlagige Zellschichten, die alle inneren und äußeren Körperoberflächen der vielzelligen Organismen bedecken (Ausnahme: Gelenkkapseln und Schleimbeutel des Bewegungsapparates).
Das Epithel ist neben Muskel-, Nerven- und Bindegewebe eine der vier Grundgewebearten von Tieren.
Aufbau
Epithelien sind durch die Basalmembran klar vom Bindegewebe getrennt und enthalten keine Blutgefäße.
Eine weitere allen Epithelzellen gemeinsame Eigenschaft ist ihre Polarität:
Die äußere, apikale Seite ist dem Äußeren (z. B. bei der Haut) oder dem Lumen (z. B. beim Darm oder den Drüsen) zugewandt.
Die basale Seite ist über eine Basallamina mit dem darunterliegenden Gewebe verbunden.
Die Polarität von Epithelzellen ist zudem durch strukturelle und funktionelle Unterschiede von apikaler und basaler Membran der Epithelzellen geprägt. Man spricht in diesem Zusammenhang auch von einer apikalen und basolateralen Domäne.
Des Weiteren besitzen Epithelzellen einen Haftkomplex (Schlussleistenkomplex) bestehend aus Zonula occludens (Tight junction), Zonula adhaerens (Adhaerens junction) und Desmosom (Macula adhaerens). Der Haftkomplex stellt zum einen eine physiko-chemische Barriere dar und verbindet zum anderen angrenzende Epithelzellen miteinander.
Die Zellen liegen dicht beieinander und sind reich an Zellkontakten. Demzufolge besitzt das Gewebe nur kleine Interzellularräume mit entsprechend wenig Interzellularsubstanz.
Mit Hilfe der Emperipolesis durchdringen andere Zellen die Epithelien.
Einteilung der Epithelien
Epithelien sind auf vielfältige Weise und je nach Organ spezifisch differenziert. Zunächst kann man Oberflächenepithelien und Drüsenepithelien unterscheiden:
Oberflächenepithelien haben vor allem Schutzfunktion (z. B. die Haut). Sie können Stoffe aufnehmen (Resorption, z. B. Darmschleimhaut) und bilden eine Barriere, die das jeweilige Organ von der Umgebung abgrenzt (vor allem durch die bereits erwähnten Zellkontakte, die Tight junctions).
Drüsenepithelien bestimmen die Funktion aller Drüsen (Sekretion, Exkretion). Sie produzieren Sekrete aller Art (unter anderem in Speicheldrüsen und Schweißdrüsen oder in der Darmschleimhaut).
Für die Unterscheidung der zahlreichen Epitheltypen hat es sich bewährt, zwei Merkmale hervorzuheben: Zum einen die Zahl der Zellschichten und zum anderen die Form der Zellen in der oberflächlichen Zellschicht (siehe unten).
Einschichtige Epithelien
Einfache Epithelien
einschichtiges Plattenepithel: Solche Epithelien dienen vor allem der glatten Auskleidung innerer Oberflächen. Da sie sehr dünn sind, ermöglichen einschichtige Plattenepithelien einen Stoffaustausch (z. B. Gasaustausch in den Lungenbläschen). Beispiele:
Endothel (epitheliale Auskleidung der Blut- und Lymphgefäße)
Mesothel (Pleura-, Perikard-, Peritonealepithel (seröse Häute))
einschichtiges isoprismatisches Epithel (auch kubisches Epithel): Die Epithelzellen haben nahezu würfelförmige Gestalt. Diese größeren Zellen sind stoffwechselmäßig aktiv und übernehmen aktive Transportaufgaben im Sinne einer Sekretion/Resorption. Beispiele:
Nierentubuli
Glandula submandibularis (Speicheldrüsen)
Gallengänge
Eierstock-Epithel
einschichtiges hochprismatisches Epithel („Zylinderepithel“ oder auch „Säulenepithel“): Längliche, säulenförmige Zellen übernehmen mit regem Stoffwechsel Barriere- und Transportfunktionen. Beispiele:
Magenschleimhaut
Darmschleimhaut
Eileiter
Gallenblase
Hodenkanälchen
Mehrreihige Epithelien
Auch das mehrreihige Epithel ist noch einschichtig, alle Zellen sind wie beim einschichtigen Epithel auf der Basallamina verankert, aber nicht alle erreichen das Lumen. Hochprismatische Zellen erfüllen die eigentliche Funktion, während kleine Basalzellen als Reserve für untergegangene Zellen bereitstehen. Die Zellkerne liegen so in unterschiedlicher Höhe und bilden dadurch scheinbare Schichten (Reihen).
Flimmerepithel in der Luftröhre und den übrigen Luftwegen bis einschließlich der Segmentbronchien.
Samenleiter
Nebenhodengänge
Ohrtrompete
Mehrschichtige Epithelien
Im mehrschichtigen Epithel liegen viele (mehr als zehn) Zellschichten übereinander. Es lässt sich grundsätzlich eine Dreiteilung vornehmen: In der basalen Schicht, die an der Basallamina verankert ist, finden Zellteilungen statt. Die Zellen steigen auf und differenzieren in einer Mittel- oder Intermediärschicht auf spezifische Weise. Schließlich erreichen sie die Oberflächen- oder Superfizialschicht.
mehrschichtiges Plattenepithel: Dieses Epithel ist von großer Bedeutung und findet sich überall dort, wo die mechanische Belastung groß ist. Zytoskelett und Zellkontakte sind auf diese Belastung abgestimmt. In Regionen, die ständig befeuchtet sind, bleibt das mehrschichtige Plattenepithel unverhornt, wo es der Luft ausgesetzt ist, verhornt es.
mehrschichtiges unverhorntes Plattenepithel:
Mundhöhle, Speiseröhre, Analkanal
Vagina
Hornhaut und Bindehaut des Auges
in der männlichen Harnröhre kurz vor der äußeren Mündung
mehrschichtiges verhorntes Plattenepithel: Als weitere Schutzfunktion kommt hier noch das Absterben und Verhornen der äußeren Zellschichten hinzu. Die Zellen sind massiv mit Desmosomen untereinander und mit Hemidesmosomen in der Basallamina verankert:
beim Menschen ist die Epidermis das einzige verhornende Plattenepithel
bei Wiederkäuern kommt es auch in Netzmagen, Blättermagen und Pansen vor
mehrschichtiges isoprismatisches Epithel: Ovarialfollikel, die das Stadium des Sekundärfollikels erreicht haben, besitzen ein solches Epithel.
zweischichtiges isoprismatisches Epithel: Diese Epithelform findet sich in den Ausführungsgängen der Schweißdrüsen. Auch der Ziliarkörper ist von einem solchen Epithel bedeckt, das allerdings Teil der Netzhaut ist.
mehrschichtiges hochprismatisches Epithel: Diese weniger häufige Epithelform ist vom wesentlich bedeutenderen mehrreihigen hochprismatischen Epithel zu unterscheiden. Sie kommt nur an drei Stellen des menschlichen Körpers vor:
in der männlichen Harnröhre in ihrem Verlauf von der Prostata bis kurz vor der äußeren Mündung
in Hauptausführungsgängen der großen Speicheldrüsen (zweischichtig)
im Fornix conjunctivae, einer Reservefalte der Bindehaut
Übergangsepithel („Urothel“)
Als Übergangsepithel („Urothel“) wird ein spezielles, je nach Blasenfüllung (respektive Dehnung des Urothels) mehrreihig bis mehrschichtiges Epithel der Harnwege (Nierenbecken, Harnleiter, Harnblase) bezeichnet. Hierbei sind besonders die Deck-/Schirm-/ umbrella cells von großer Bedeutung. Sie bilden die sogenannte Crusta, welche die Aufgabe des Harnsäureschutzes hat. Im Gegensatz zum Plattenepithel zeigt sich die obere Zellschicht eher kubisch.
Funktionen der Epithelien
Schutzfunktion
Das Epithel erfüllt im Grunde zwei verschiedene Schutzfunktionen: Zum einen der rein mechanische Schutz vor allem durch die mehrschichtigen Epithelien. So muss die Epidermis der Haut ausreichende Reißfestigkeit besitzen und darf sich nicht vom darunterliegenden Bindegewebe ablösen. Zum anderen muss das Epithel die inneren Körperöffnungen abdichten: Magen- und Darminhalt müssen kontrolliert verwertet werden (hochprismatisches Epithel), der Urin muss in Blase und Harnleiter bleiben (Übergangsepithel), die Blut-Hirn-Schranke muss gewahrt bleiben (Kapillarendothel). Natürlich müssen auch hier mechanische Belastungen ausgehalten werden, entscheidend für die Abdichtung sind aber die Tight junctions, die in solchen Zellen vermehrt auftreten.
Resorption
Unter Resorption versteht man den Transport von genau bestimmten Stoffen von apikal nach basal. Das klassische Beispiel ist die Resorption von Nährstoffen in der Darmschleimhaut. Die apikalen Oberflächen sind häufig differenziert, so kann eine Epithelienzelle ihre Oberfläche beispielsweise durch die Ausbildung zahlreicher Mikroplicae (Einfaltungen) oder Mikrovilli vergrößern. Die genauen Mechanismen (Transport, Phagozytose, Pinozytose, Lysosomen) sind Gegenstand anderer Artikel.
Immunantwort
Epithelien sind in der Regel die erste Kontaktzone des Körpers mit Infektionskeimen. Für einige Epithelien wie Darmschleimhaut und Epithelien der Luftwege wurde eine hohe immunologische Aktivierungsfähigkeit beschrieben.
Sekretion
Sämtliche Sekretionsvorgänge des Körpers geschehen von den Drüsenepithelien aus. Dementsprechend gibt es hier eine große Vielfalt, von der einzelnen Becherzelle der Darmschleimhaut über die Schweißdrüsen der Haut bis hin zu ganzen Organen wie den Speicheldrüsen oder der Bauchspeicheldrüse. Drüsen sind Organe aus spezialisierten Epithelzellen; sie dienen der Sekretion.
Man unterscheidet:
exokrine Drüsen, die ihre Sekrete durch einen Ausführungsgang an die Oberfläche bringen. Sie scheiden an inneren oder äußeren Oberflächen aus (z. B. Tränendrüse, Speicheldrüse, Schweißdrüse), und
endokrine Drüsen, die ihre Sekrete direkt an die umgebende Extrazellulärflüssigkeit abgeben und keinen Ausführungsgang besitzen. Häufig diffundieren die Sekrete (Hormone) anschließend in Blutgefäße und verteilen sich im ganzen Organismus (z. B. Schilddrüse, Hypophyse).
Auch den Sekretionsweg kann man unterscheiden, also
holokrin (Zelle zerfällt für die Sekretbildung, typisch für die Talgdrüsen der Haut),
apokrin (Vesikelabschnürung, z. B. laktierende Brustdrüse),
merokrin (durch Exozytose) und
ekkrin (durch Transporter),
wobei die letzten nach der Zusammensetzung des Sekrets unterteilt werden in
serös (dünnflüssig, eiweißhaltig, manchmal verdauungsenzymhaltig, enges Drüsenlumen, z. B. Ohrspeicheldrüse, Bauchspeicheldrüse),
mukös (zähflüssig, schleimig; dient der Bildung von Transportschleim, weites Lumen, z. B. Brunner-Drüsen im Duodenum) und
seromukös (gemischt – Sekret ist sowohl serös als auch mukös; dieser Fall ist der häufigste, z. B. Unterkieferspeicheldrüse).
Außerdem unterscheidet man intraepitheliale und extraepitheliale Drüsen:
Intraepitheliale Drüsen sind ins Deckepithel eingebettete Einzelzellen (z. B. die schleimbildende Becherzelle des Darmes).
Extraepitheliale Drüsen sind vielzellige Organe, die daher im Epithel selbst keinen Platz mehr haben und in die tieferen Gewebsschichten verlagert wurden. Sie bestehen aus Drüsenendstücken, die das Sekret bilden. Man unterscheidet tubulöse (schlauchförmige), alveoläre (blasenförmige) und azinöse (blasenförmig; jedoch dickere „Wand“ und kleineres Lumen) und Mischformen von extraepithelialen Drüsen. Schaltstellen nehmen das Sekret aus den Endstücken auf und leiten es in die Streifenstücke/Sekretrohre (aus Zylinderepithel); viele Sekretrohre sammeln sich zu den Nebenausführungsgängen, die in den Hauptausführungsgang münden, der schließlich das Sekret auf eine Epitheloberfläche, z. B. die Darmschleimhaut, abgibt.
Aber auch Epithelien ohne Drüsenfunktion können Hormonpeptide wie Neurolipin abgeben.
Omnipotenz
Aus Hautepithel lassen sich Stammzellen gewinnen, die primär für die Wundheilung der Haut von Säugetieren dienen.
Sinnesfunktion
Ein Großteil der menschlichen Sinneszellen ist in epitheliale Zellverbände eingebettet. Diese Konstruktion bietet sich an, da Epithelien als oberflächliche Zelllagen aufgrund ihrer Anordnung eine vermittelnde Position zwischen Innen und Außen einnehmen. Beispiele:
Das die Netzhaut (Retina) des Auges von der Aderhaut trennende Epithel enthält zur Abschirmung gestreuten Lichts Melanin und bildet eine Trennschicht (Blut-Retina-Schranke).
innere und äußere Haarzellen des Innenohrs, wobei im Fall der äußeren Haarzellen Sensorik und Längenänderung des Zellkörpers direkt gekoppelt sind
Riechschleimhaut (Riechepithel) in der Nasenschleimhaut
Geschmackszellen des Zungenrückens
Merkel-Zellen (Mechanorezeptoren), sowie Schmerz- und Temperaturrezeptoren in der Epidermis
Transportfunktion
Manche Epithelien besitzen zusätzlich Flimmerhärchen auf ihrer Oberfläche, welche eine Transportfunktion haben. Sie können mit ihrem kräftigen Schlag Fremdkörper aus dem Organismus ausschleusen.
Siehe auch
Neuroepithel
Epithelisierung
Ussing-Kammer (zur Messung von Epitheleigenschaften)
Weblinks
SIB: Animal epithelial cell – Interaktive Graphik von SwissBioPics
Einzelnachweise
Histologie
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Q41301
| 249.918679 |
310334
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https://de.wikipedia.org/wiki/Kommensalismus
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Kommensalismus
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Der Ausdruck Kommensalismus () wird für eine Form der Interaktion zwischen Individuen verschiedener Arten verwendet, die für Angehörige der einen Art positiv, für diejenige der anderen Art neutral ist. Der Ausdruck wird in verschiedenen Bereichen mit leicht unterschiedlicher Definition gebraucht.
In der ursprünglichen Definition, die auf die Arbeiten des belgischen Parasitologen und Paläontologen Pierre-Joseph van Beneden zurückgeht, ist ein Kommensale ein „Mitesser“, der für seine Ernährung auf einen Organismus einer anderen Art angewiesen ist, indem er an dessen Nahrung teilhat, diesen aber (im Gegensatz zum Parasitismus) nicht schädigt. Bei engem räumlichem Zusammenleben wird der gebende Organismus Wirt und der sich miternährende Kommensale genannt. Dem Wirt entstehen keine Vor- oder Nachteile. Nur der Kommensale ist Nutznießer des Zusammenlebens und ist meist vom Wirt abhängig. Der Kommensale ernährt sich meist von Abfallstoffen oder dem Nahrungsüberschuss des Wirtes, entzieht diesem aber keine lebensnotwendigen Substanzen.
Abgeleitet von dieser Bedeutung, wurde der Begriff auf jede Art von Interaktion zwischen zwei Arten übertragen, die für einen Partner neutral, für den anderen positiv ist. In diesem Falle kann es sich auch um eine Interaktion unabhängig von Nahrungsbeziehungen (Fachterminus: „trophische“ Beziehungen) handeln. Die nach positiven (+), negativen (−) und neutralen (0) Auswirkungen sortierten möglichen Beziehungen werden dabei in Form einer Interaktionsmatrix geordnet. Es ergeben sich fünf mögliche Beziehungspaare – bzw. sechs, wenn man den trivialen Fall berücksichtigen will, dass die Arten überhaupt nicht interagieren (Paarung 0/0). Kommensalismus ist dieser Definition gemäß die Paarung (+/0), d. h. positiv/neutral. Da zumindest ein Partner auch profitiert, stellt diese interspezifische Wechselbeziehung eine Form der Probiose dar. Die Beziehung wird hier nicht nach den Mechanismen (z. B. Nahrungsbeziehungen), sondern ausschließlich nach den Auswirkungen definiert. Diese Verwendung des Begriffs geht auf den einflussreichen amerikanischen Ökologen Warder Clyde Allee zurück.
Bei der Betrachtung von Säugetieren hat es sich eingebürgert, als Kommensalen solche Arten zu bezeichnen, die für ihre Ernährung direkt auf den Menschen und seine Vorräte angewiesen sind.
Mensch
Beim Menschen zählen jene Mikroorganismen zu den Kommensalen, die verschiedene Mikrobiotope als Ekto- oder Endokommensalen besiedeln und in ihrer Gesamtheit dort als die jeweilige Normalflora bezeichnet werden. Teilweise handelt es sich um Mutualismus, da viele der Mikroorganismen für ein den Menschen schützendes Milieu sorgen, was bei einem Ungleichgewicht der Flora gesundheitliche Probleme mit sich bringt. Dann können diese strenggenommen nicht zu den Kommensalen gezählt werden.
Das sind
auf der Haut die (nach Hautregion) unterschiedliche Hautflora,
in der Mundhöhle die Mundflora, die im Bereich der Zähne allerdings nicht vor den säurebildenden und Karies verursachenden Mikroorganismen schützt,
im oberen Atemtrakt die dortige physiologische Besiedlung mit Mikroorganismen,
im Darm die nach Darmabschnitt unterschiedlich verteilte Darmflora,
bei der Frau (in der Vagina) die altersabhängig unterschiedlich zusammengesetzte Scheidenflora.
Tiere
Ein typisches Beispiel für Kommensalismus sind z. B. die Aasfresser der Steppen und Wüsten, die größeren Jägern folgen. Gelegentlich können Kommensalen durch Massenauftreten oder Nahrungsknappheit zu indirekten Konkurrenten werden.
Der Bezug verlassener Wohnstätten durch andere Spezies ist ebenfalls eine Form des Kommensalismus. Spechte legen jedes Jahr neue Bruthöhlen an, die anschließend gern von anderen Höhlenbrütern wie Staren oder Käuzen belegt werden, wobei auch Kleinsäuger wie Siebenschläfer als spätere Nutzer in Frage kommen.
Der Bitterling nutzt für die Ablage seiner Eier und als Kinderstube für die Larven Muscheln, wie die Große Flussmuschel und die Große Teichmuschel. Während der kleine Karpfenfisch zwingend auf die Muscheln angewiesen ist, profitieren diese nicht, nehmen jedoch auch keinen Schaden.
Pflanzen
Ein bekanntes Beispiel ist die Verbreitung der Samenköpfe von Kletten, die sich mit ihren langen, mit Hakenspitzen versehenen Stacheln im Fell von vorbeikommenden Tieren oder auch in Kleidungsstücken von Menschen anheften und an anderer Stelle vom Träger abfallen oder abgezogen werden. Die zeitweilige Nutzung anderer Organismen als Transportmittel wird auch als Phoresie bezeichnet.
Einzelnachweise
Literatur
Pierre J. van Beneden: Die Schmarotzer des Thierreichs. (= Internationale wissenschaftliche Bibliothek. 18). Brockhaus, Leipzig 1876, (Digitalisat).
Claus D. Zander: Parasit-Wirt-Beziehungen. Einführung in die ökologische Parasitologie. Springer, Berlin u. a. 1998, ISBN 3-540-62859-2.
Siehe auch
Symbiose
Metabiose
Ökologische Beziehung
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Q191934
| 102.227907 |
116691
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https://de.wikipedia.org/wiki/Linksextremismus
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Linksextremismus
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Linksextremismus ist eine Sammelbezeichnung, mit der verschiedenste (v. a. marxistische und anarchistische) Gruppierungen zusammengefasst werden, die im Namen der sozialen Gleichheit die aktuelle staatlich-kapitalistische Gesellschaftsordnung ablehnen. Viele Definitionsversuche sehen die Trennlinie des Linksextremismus zum Linksradikalismus in der Akzeptanz von Gewalt und der Ablehnung des modernen Verfassungsstaates beziehungsweise der freiheitlich demokratischen Grundordnung Deutschlands. Der Begriffsbestandteil Extremismus ist eine Fremdzuschreibung. Als linksextremistisch eingeordnete Gruppen und Personen weisen diese Einordnung meist von sich, betonen teils ihre demokratische Grundeinstellung und bezeichnen sich anders, etwa als Angehörige der „radikalen Linken“.
Der Begriff Linksextremismus fand in Deutschland seit den 1970er Jahren zuerst beim Verfassungsschutz und später insbesondere in der Extremismusforschung Verbreitung, während er in anderen Teilen der Wissenschaft auf Grund vielfältiger Kritik abgelehnt wird. Dabei wird der Begriff als unscharf und damit missbrauchsanfällig genauso wie als normativ und für Wissenschaft und Präventionsarbeit ungeeignet kritisiert. In der Geschichtswissenschaft findet der Begriff deshalb selten Verwendung. Weiter wird von einigen Politikwissenschaftlern bemängelt, dass der Begriff eine Gleichsetzung der egalitären Ziele des Linksextremismus mit den antiegalitären Zielen des Rechtsextremismus suggeriere. Kritiker des Begriffs verwenden an seiner Stelle oft „Linksradikalismus“ oder „linke Militanz“. Der Verfassungsschutz in Deutschland beobachtet von ihm als Linksextremisten betrachtete Parteien, Presseerzeugnisse, Gewerkschaften, Gruppen und Einzelpersonen. Dabei sind Änderungen dieser Einschätzungen (teils nach Klagen oder öffentlichem Druck) häufig, Begründungen für diese bleiben jedoch aus. Terrororganisationen, wie die Rote Armee Fraktion oder die Bewegung 2. Juni, werden als linksextremistisch bezeichnet. Die Analysetauglichkeit des Begriffs wird von mehreren Politikwissenschaftlern bestritten.
Eine Kategorisierung als „linksextrem“ kann, wie der Fall des Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten zeigt, eine Organisation in ihrer Existenz bedrohen, auch wenn die Kategorisierung umstritten ist und zurückgezogen wird. Sie hat damit großen Einfluss auf die demokratische Willensbildung.
Grundlagen des Begriffs „Linksextremismus“
Seit den 1970er Jahren werden im deutschen Verfassungsschutzbericht Gruppen als „extremistisch“ bezeichnet, die als Gegner der Freiheitlich Demokratischen Grundordnung (FDGO) wahrgenommen werden. Seitdem hat sich in Deutschland auf der einen Seite eine Extremismusforschung herausgebildet, die eng mit Sicherheitsbehörden und ihren Definitionen verknüpft ist, auf der anderen Seite haben Wissenschaftler verschiedenster Richtungen den Begriff als wenig trennscharf, wertend, mit Rechtsextremismus gleichsetzend, für Präventionsarbeit und Geschichtswissenschaften nicht-hilfreich und in seinen Auswirkungen potentiell antidemokratisch kritisiert. Während einige Wissenschaftler, besonders aus der Extremismusforschung, an dem Begriff festhalten und die Kritik zurückweisen, sind andere dazu übergegangen die Begriffe „Linke Militanz“ oder Linksradikalismus an seiner Stelle zu verwenden. Fuhrmann weist in Extremismus & Demokratie zudem darauf hin, dass die Extremismusforschung in Deutschland auf wenige Lehrstühle begrenzt ist, teils personell mit den Sicherheitsbehörden verbunden ist und trotz ihrer randständigen wissenschaftlichen Bedeutung einen „vergleichsweise großen Einfluss auf den politischen Diskurs“ hat. So arbeitete auch der in diesem Artikel vielfach zitierte Autor Armin Pfahl-Traughber für den Verfassungsschutz.
Während die wissenschaftliche Verwendung des Begriffs „Linksextremismus“ demnach umstritten ist, wird der Begriff weiter von Sicherheitsbehörden in Deutschland, beispielsweise in den Verfassungsschutzberichten, genutzt. Das Bundesamt für Verfassungsschutz schreibt einleitend über „Linksextremisten“, dass diese „die freiheitliche demokratische Grundordnung beseitigen“ wollen und an ihre Stelle „ein kommunistisches System“ oder eine „anarchistische Gesellschaft“ etablieren wollen. Hierfür seien sie grundsätzlich bereit, auch Gewalt anzuwenden. Politische Handlungsfelder wie Antifaschismus oder Proteste gegen Gentrifizierung sind aus Sicht des Verfassungsschutzes für Linksextremisten „austauschbar“ und würden nur der „Umsetzung der ideologischen Vorstellungen dienen.“
Der Begriff Linksextremismus wird demnach von Sicherheitsbehörden und einigen Wissenschaftlern als Sammelbezeichnung für heterogene politische Strömungen, Gruppen und Menschen verwendet, die sich auf den Anarchismus oder auf den Marxismus beziehen. Anarchismus und Marxismus gemeinsam ist das Streben nach einer herrschafts- und klassenlosen Gesellschaft, sie unterscheiden sich jedoch in ihrer Perspektive auf den Staat: Während der Anarchismus den Staat als Herrschaftsinstrument ablehnt, will der Marxismus ihn nutzen, um die gemeinsame Utopie zu erreichen.
Anarchisten setzen sich dabei gegen jegliche Form von menschlicher Herrschaft über andere Menschen ein. Anstelle des Parlamentarismus fordern Anarchisten eine basisdemokratische Gesellschaft. Die Lehren des Anarchismus sind dabei älter als die des Marxismus und standen historisch immer wieder mit diesem im Konflikt. Der Anarchismus kennt eine Vielzahl von Strömungen (u. a. Individualistischer, Kollektivistischer, Kommunistischer und Anarchosyndikalismus).
Entsprechend der Vielfalt des Anarchismus bezieht sich eine Vielzahl theoretischer Strömungen auf die Lehren von Karl Marx. Zu diesen gehören neben der Sozialdemokratie auch kommunistische Denkschulen wie der Leninismus, der Stalinismus (bzw. Marxismus-Leninismus), Trotzkismus, Maoismus und das politische Denken Rosa Luxemburgs. Marx’ Werk findet dabei aber auch über politische Lager hinweg Anerkennung und hat bedeutende wissenschaftliche Anstöße gegeben. So kann die Berufung auf Marx selbst nicht als „linksextremistisch“ gelten. Armin Pfahl-Traughber meint jedoch, dass eine besonders dogmatische Orientierung an Marx’ Werk mit einer höheren Wahrscheinlichkeit einer „diktatorischen oder extremistischen“ Positionierung einhergehen könnte. Andere weisen darauf hin, dass eben diese mangelnde Trennschärfe des Begriffs dazu führen kann, dass demokratische Kritik am bestehenden System als linksextrem diffamiert und überwacht werden kann.
Obwohl sprachlich ein Unterschied zwischen linksextremistisch und linksextrem besteht, werden beide Wörter oft synonym verwendet.
Wissenschaftlicher Diskurs
Gesamtdarstellungen und Forschungsstand
Zum Forschungsbereich liegen mehrere politikwissenschaftliche Monografien vor. Ein zum Teil überholter und in Definition und Theorie lückenhafter, Band ist der von Patrick Moreau und Jürgen P. Lang (Linksextremismus. Eine unterschätzte Gefahr, 1996). 2002 erschien das Werk Handbuch des Linksextremismus durch Hans-Helmuth Knütter und Stefan Winckler. Dieses erfüllt nach Ansicht von Armin Pfahl-Traughber nicht die Voraussetzungen eines Handbuchs und wird eher als ein ideologisches Werk von „rechts außen“ eingeordnet. Definitionen und analytische Untersuchungen erfolgten zum Beispiel bei Harald Bergsdorf und Rudolf van Hüllen, die jedoch zunächst nur den Begriff linksextrem verwendeten, gelegentlich in Polemik verfielen und sehr auf die Partei Die Linke fokussierten. 2014 veröffentlichte der Politikwissenschaftler und Verfassungsschutzmitarbeiter Armin Pfahl-Traughber den einführenden Band: Linksextremismus in Deutschland.
Der aktuelle Forschungsstand umfasst den parteipolitischen, den subkulturellen, den terroristischen und den gesellschaftlichen Linksextremismus. Oft erfolgt ein Rückgriff auf Verfassungsschutzberichte des Bundes oder der Länder.
Empirische Untersuchungen zur Akzeptanz von Linksextremismus in der Bevölkerung sind rar und umstritten. Eine Studie (1984) des Instituts für Demoskopie Allensbach ergab, dass 12,4 Prozent der 18- bis 24-jährigen Linksextremisten seien. Weitere Erhebungen erfolgten durch die Konrad-Adenauer-Stiftung (2009 und 2012). Aufgrund von mangelhaften und fehlenden Erkenntnissen wurde 2014 durch Beschluss der Innenministerkonferenz (IMK) eine wissenschaftliche Studie in Auftrag gegeben. Klaus Schroeder und Monika Deutz-Schroeder von der FU Berlin veröffentlichten 2015 die empirische Studie Gegen Staat und Kapital – für die Revolution!. Von einigen Wissenschaftlern wird jedoch bezweifelt, ob sie wie behauptet linksextreme Einstellungen misst.
Übersicht: Wissenschaftlicher Diskurs in Deutschland
Die Extremismusforschung in Deutschland, die seit Mitte/Ende der 1980er Jahre lose über das von Uwe Backes und Eckhard Jesse herausgegebene Jahrbuch Extremismus & Demokratie verbunden ist, bezieht ihren Extremismusbegriff auf die normative „freiheitliche demokratische Grundordnung“ (FDGO) und schafft mit Demokratie und Extremismus ein „antithetisches Begriffspaar“.
1989 erweiterte Backes die obige Negativdefinition und formulierte Gemeinsamkeiten in der Ablehnung der FDGO. Er nannte dazu unter anderem Absolutheitsansprüche, Dogmatismus, Utopismus, Freund-Feind-Stereotype, Verschwörungstheorien, Fanatismus und Aktivismus. Auch der Politikwissenschaftler und Extremismusforscher Armin Pfahl-Traughber entwickelte eine ähnliche Systematik für extremistische Ideologien (links, rechts und religiös) mit folgenden Elementen: exklusiver Erkenntnisanspruch, dogmatischer Absolutheitsanspruch, essentialistisches Deutungsmonopol, holistische Steuerungsabsichten, deterministisches Geschichtsbild, identitäre Gesellschaftskonzeption, dualistisches Rigorosium und fundamentale Verwerfung.
Demgegenüber kritisierten Forscher wie Wolf-Dieter Narr (1980), Wolfgang Rudzio (1986), Manfred Funke (1986) und Christoph Kopke (2000) das Extremismusverständnis als „politischen Kampfbegriff“. Helga Grebing (1971), Hans-Gerd Jaschke (1994), Gero Neugebauer (2000) und Christoph Butterwegge (2010) sahen eine unschickliche Gleichsetzung von Begriffen. Jaschke (1991), Neugebauer (2000) und Butterwegge (2010) kritisierten weiterhin Defizite im analytischen Bereich.
Es erwiderten u. a. Backes und Jesse (2001) und Mathias Brodkorb (2011). Die Wissenschaftler argumentierten, dass es sich beim Extremismusbegriff weniger um einen Kampfbegriff als vielmehr um ein auch in anderen Diskursen angetroffenes politisches Schlagwort handle. Die aufgestellten Kriterien für die Kategorisierung wären hingegen hinreichend erklärt worden. Pfahl-Traughber warf den Kritikern vor, argumentationslose Einschätzungen getroffen zu haben. Auch werde keine Gleichsetzung oder Wertung betrieben, sondern es wurden lediglich „strukturelle Gemeinsamkeiten“ aufgezeigt. Weiterhin müssten in Zukunft weitere ursachenbezogenere Problemfelder analysiert werden, was jedoch nicht die Fixierung auf den demokratischen Verfassungsstaat nichtig mache.
Versuche einer wissenschaftlichen Definition und einer Abgrenzung des Begriffs
Nachdem der Begriff „Extremismus“ Anfang der 1970er Jahre das erste Mal im Verfassungsschutzbericht auftauchte, begannen in den Folgejahren Wissenschaftler den Begriff auch außerhalb von staatlichen Kontexten zu nutzen und zu definieren. Erstmals wurde der Begriff 1986 durch Horst Heimann im Lexikon des Sozialismus unter dem Doppelstichwort Linksradikalismus und Linksextremismus aufgeführt: „Politische Gruppierungen und Tendenzen, die in Abgrenzung zum Lr. wegen ihrer Bereitschaft zur Gewaltanwendung als Linksextremistisch zu kennzeichnen sind, entstanden in der Bundesrepublik erst in der Zerfallsphase der Studentenbewegung: militant anarchistische und maoistische Gruppen […], die […] RAF und die Revolutionären Zellen […].“ Seit diesem ersten Versuch einer Definition wurden eine Vielzahl von Definitionsversuchen gemacht, die die Verbindung einer linksradikalen Haltung mit der Offenheit für Gewalt zur Durchsetzung politischer Ziele und der Ablehnung eines „modernen Verfassungsstaates“, in Abgrenzung zum Linksradikalismus, für charakteristisch für „Linksextremisten“ halten. Andere Definitionsversuche verzichteten auf eine klare Abgrenzung der beiden Begriffe.
Im Folgenden sollen die Versuche einer wissenschaftlichen Definition des „Linksextremismus“ dargestellt werden. Dabei ist jedoch darauf hinzuweisen, dass der Begriff, wie auch der Extremismusbegriff insgesamt, nicht nur aufgrund seiner normativen Komponente umstritten ist und viele Forscher seine Verwendung ablehnen und stattdessen weltanschaulich neutrale Begriffe wie „Linke Militanz“ und Linksradikalismus verwenden.
Max Kaase sprach 1992 von einer Erweiterung des Rechts-Links-Spektrums und führte im Lexikon der Politik unter dem Stichwort Linksextremismus aus: „Linksextremismus […] beinhaltet ein radikaldemokratisches, egalitäres Verständnis von Politik, während der Rechtsextremismus einer antidemokratischen, antiegalitären Position entspricht.“ Gleichzeitig merkte er an, dass sich diese seiner Meinung nach „analytisch außerordentlich sinnvolle Unterscheidung zwischen Radikalismus und Extremismus bisher noch nicht durchsetzen konnte.“
Jesse betonte die Funktion des Begriffs „Linksextremismus“ als Sammelbezeichnung: „Unter die Sammelbezeichnung L. fallen Anarchisten, für die zentrale Organisationsformen generell von Übel sind, ‚autonome‘ Gruppierungen, die sich nicht an Autoritäten ausrichten und ein hohes Maß an Subjektivismus predigen – die Grenzen zum Terrorismus sind fließend – sowie verschiedenartige Spielarten des Kommunismus.“ Nachfolgend nahmen sich andere Nachschlagewerke einer Sammelbezeichnung an, verwiesen aber gleichzeitig auf die öffentliche Meinung und die Deutungshoheit staatlicher Institutionen (Bundesregierung/Verfassungsschutz) bei der Kategorisierung (2003) sowie die synonyme Verwendbarkeit mit dem Linksradikalismus (2001, 2007 und 2008).
Der Begriff Linksextremismus hat sich etabliert und wird nunmehr in jüngeren politikwissenschaftlichen (und auch kriminalistischen) Fachlexika in Bezug auf die verfassungsrechtliche und politische Sichtweise weitestgehend einheitlich verstanden, so heißt es im renommierten Wörterbuch zur Politik (3. Auflage, 2010): „L. [ist] die gesinnungsmäßig bekundete oder durch Einstellung und Verhalten zum Ausdruck gebrachte aktive Gegnerschaft zum demokratischen Verfassungsstaat, die meist mit Akzeptanz von Gewalt als Mittel der Politik kombiniert ist.“ Sozialwissenschaftlich gehe es um ein „radikales, egalitäres Verständnis von Politik“. Einige Wissenschaftler, wie die US-Amerikaner Seymour Martin Lipset und Earl Raab, meinen einen „am äußersten linken Flügel angesiedelten Antipluralismus und ideologischen Monoismus“ sowie eine „Nähe eines Teils der Anhänger des L. zum Terrorismus“ zu erkennen. Die Definition im Kleinen Lexikon der Politik (2011) lautet: „[Linksextremismus] ist nach allg. Auffassung als Sammelbegriff für Einstellungen am äußersten linken Ende des Rechts-Links-Spektrums polit. Orientierungen. Linksextremisten lehnen (wie auch Rechtsextremisten) den bestehenden demokratischen Verfassungsstaat und die vorhandene Gesellschaftsordnung ab.“ Auch im Politiklexikon (2011) wird der „Linksextremismus“ durch Klaus Schubert als eine „fundamentale, politisch-ideologische Ablehnung des modernen demokratischen Verfassungsstaates durch Personen oder Gruppen, die der äußersten Linken des politischen Spektrums zugerechnet werden“ definiert. Er führt fort, dass Linksextremismus „Gewalt gegen Personen und Sachen als Mittel der politischen Auseinandersetzung“ akzeptiere und anwende. Im Kriminalistik-Lexikon (4. Auflage, 2011) ist zu lesen, dass Linksextremismus ein „aus einer fundamentalistischen Grundeinstellung […] resultierendes Handeln [sei], das ideologisch in unterschiedlicher Weise von marxistischen, linkssozialistischen und rätekommunistischen, teils aus libertären und autonomen Auffassungen […] bestimmt ist. [Wie auch der Rechtsextremismus] ist der L. bereit zur Erreichung seiner Zielsetzungen gegen die Verfassung zu verstoßen.“
Pfahl-Traughber definierte 2014 Linksextremismus als „eine Sammelbezeichnung für alle politischen Auffassungen und Bestrebungen, die im Namen der Forderung nach einer von sozialer Gleichheit geprägten Gesellschaftsordnung die Normen und Regeln eines modernen demokratischen Verfassungsstaates ablehnen.“ Er betont darüber hinaus, dass nicht die Ziele (nämlich die soziale Gleichheit), sondern die angewandten Mittel im Zentrum der Definition von Linksextremismus steht.
In einem Dossier der Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) zum Thema Linksextremismus hieß es bis 2020, dass sozialistische und kommunistische Bewegungen „im Unterschied zum Rechtsextremismus […] die liberalen Ideen von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ teilen, aber auf ihre Weise uminterpretieren. Diese Formulierung, die auf den Politikwissenschaftler Hans-Gerd Jaschke zurückgeht, wurde von verschiedenen Medien kritisiert. Die Bild-Zeitung schrieb von „Verharmlosung des Kommunismus“. Daraufhin intervenierte das Bundesministerium des Innern unter Horst Seehofer, dem die Fachaufsicht über die bpb obliegt, und setzte schließlich durch, dass in dem Dossier nun keine wissenschaftliche Definition mehr angeboten wird, sondern die der Sicherheitsbehörden. Dies wurde als Angriff auf die Unabhängigkeit der bpb kritisiert.
Das Politiklexikon der Bundeszentrale für politische Bildung definiert Linksextremismus als „Ablehnung des modernen demokratischen Verfassungsstaates“ durch die „äußerste Linke“. Linksextremisten akzeptieren laut dem Politiklexikon Gewalt „als Mittel der politischen Auseinandersetzung“ oder wenden sie selbst an. Die Definition ist dabei unscharf zum Linksradikalismus abgegrenzt, der laut demselben Lexikon auf eine eventuell gewalttätige „radikale Veränderung der politischen Ordnung“ abzielt.
Kritik des Begriffs „Linksextremismus“
Neben den Vertretern der Verwendung des Begriffs „Linksextremismus“ aus Wissenschaft und Sicherheitsbehörden gibt es eine Vielzahl von Kritikern, die die Verwendung des Begriffs aus unterschiedlichen Gründen ablehnen. Laut dem Politikwissenschaftler Eckhard Jesse ist der Begriff unter anderem deshalb umstritten, weil der Wortbestandteil -extremismus ganz unterschiedliche politische Richtungen fallen, die nur durch ihre Bereitschaft, mit Gewalt zu drohen oder sie anzuwenden, und durch ihre Gegnerschaft gegen den demokratischen Verfassungsstaat zusammengefasst würden. Max Fuhrmann vom Göttinger Institut für Demokratieforschung argumentiert, dass als linksextrem bezeichnete Menschen aufgrund der Vielfalt ihrer politischen Gesinnungen (von Tierrechtlern bis Stalinisten) kaum gemeinsame Einstellungen hätten. So fehle dem Begriff jegliche Trennschärfe, weshalb der Begriff so nicht wissenschaftlich nutzbar sei und die Gefahr der Vereinnahmung der Wissenschaft durch den Staat berge. In den Sozialwissenschaften werde er deshalb nur selten verwendet.
Auch die Bundesfachstelle Linke Militanz, die unter anderem vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend finanziert wird, lehnt die Verwendung des Begriffs „Linksextremismus“ ab. Sie kritisiert den Begriff als „sicherheitsbehördlich geprägt“ und verwendet an seiner statt den Begriff „linke Militanz“. Dieser bezieht sich nicht auf die umstrittene Extremismustheorie und fokussiert sich in seiner Definition auf einen kämpferischen „linksradikalen Habitus“ der linksradikale Ziele zu erreichen sucht.
Weiterhin wird kritisiert, dass der Begriff „Linksextremismus“ meist wertend und damit wenig wissenschaftlich ist. Indem er dem „Extrem“ die Mitte gegenüberstellt: Da das Extrem falsch ist, muss die Mitte gut sein. Als normativer Begriff wird er deshalb von vielen Wissenschaftlern abgelehnt. In der Geschichtsschreibung wird gewöhnlich der weltanschaulich neutrale Begriff Linksradikalismus verwendet, um die Geschichte der marxistischen und anarchistischen Linken zu untersuchen. Auch in der Präventionsarbeit stößt der Begriff auf Kritik: Er sei nicht hilfreich in der Identifikation von Problemen, stigmatisierend und zur präventiven Arbeit ungeeignet.
Handlungsfelder und Akteure des Linksextremismus
Dem Linksextremismus wird eine Vielzahl unterschiedliche Handlungsfelder zugerechnet. Dabei ist jedoch gerade der Umfang der als „linksextrem“ bezeichneten Handlungsfelder Teil der Kritik am Sammelbegriff „Linksextremismus“, unter dem von Tierrechts-Gruppen bis zu Stalinisten verschiedenste Strömungen zusammengefasst werden. Pfahl-Traughber meint, dass Linksextremisten ohne steuernden Einfluss sich u. a. an der Ohne mich-Bewegung, der Anti-Atomkraft-Bewegung, den Ostermärschen, der 68er-Bewegung, der Frauenbewegung, der Umweltbewegung, den Protesten gegen den NATO-Doppelbeschluss und der globalisierungskritischen Protesten beteiligt haben. In Abgrenzung von anderen Akteuren innerhalb der Bewegungen sieht er den Unterschied, dass Linksextremisten dabei die Überwindung sowohl des politischen, als auch des ökonomischen Systems anstreben, während andere Akteure lediglich auf eine Reform der Wirtschaftsordnung abzielen würden.
Während einige Verfassungsschutzämter auch die Tierrechtsbewegung und den Feminismus als Handlungsfelder des Linksextremismus ausmachen, zählt Pfahl-Traughber folgende Handlungsfelder zum Linksextremismus:
Anti-Atomkraft-Bewegung, insbesondere im Rahmen der Atommülltransporte in Deutschland
Antifaschismus, z. T. als „Nazi-Outing“
Antiimperialismus, z. B. Solidarität mit PKK
Antikapitalismus, als klassisches Handlungsfeld des Marxismus und Anarchismus, so auch Blockupy-Bewegung
Antimilitarismus, dabei teils unter Sabotage von Rüstungsunternehmen wie bei der „Kampagne Krieg beginnt hier!“
Antirepressionsarbeit, Versuch der Abwehr von Verfolgung durch staatliche Organe; Solidarität mit linken Straf-, teils auch Gewalttätern (u. a. Rote Hilfe, Anarchist Black Cross)
Antizionismus, gegen den Staat Israel (zum Teil Kooperationen mit Islamisten); vgl. abweichende Auffassung der Antideutschen
Egalitarismus, Gleichberechtigung aller Menschen (z. B. Frauen- und Transgenderbewegung)
Globalisierungskritik, so bei der „militanten Kampagne“ im Rahmen des G8-Gipfels in Heiligendamm 2007
Internationalismus
Proteste gegen Gentrifizierung, z. B. Brandstiftungen in Hamburg und Berlin (Netzwerk „Wir bleiben alle!“)
Umweltbewegung
Geschichte linksextremistischer Organisationen
Der Begriff "Linksextremismus" wird im Allgemeinen nicht zur Beschreibung historischer Phänomene genutzt. Dies ist auf die wertende Dimension des Begriffs zurückzuführen, die auf aktuelle Gegebenheiten Bezug nimmt: Linksextremismus ist als Gegnerschaft zum aktuellen staatlichen Wertekonsens ("moderner Verfassungsstaat") definiert, welcher sich unter dem Einfluss verschiedener dominierender politischer Kräfte über die Zeit gewandelt hat. Daher handelt es sich aus historischer Sicht nicht um einen feststehenden Begriff, sondern um einen, der sich auf die heutige Werteordnung ("freiheitlich-demokratische Grundordnung") bezieht und so nicht anwendbar ist. Historiker nutzen dementsprechend "inhaltliche Zuschreibungen" wie "sozialistisch", "sozialdemokratisch", "marxistisch", "kommunistisch" oder "anarchistisch".
Parteien
Historisch: Kommunistische Partei Deutschlands
Die Ursprünge des organisierten Linksextremismus in Deutschland liegen in der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD). Diese entstand 1919 unter Einbeziehung des marxistischen Spartakusbund als Abspaltung von der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD). Mitglieder der KPD beteiligten sich noch im selben Jahr am bewaffneten Spartakusaufstand in Berlin. Die Partei war seit ihrer Gründung an dem Versuch der Abwicklung des demokratischen Verfassungsstaates beteiligt und verfolgte folglich eine „extremistische Ausrichtung“. Die Zeit der Weltwirtschaftskrise sah die Partei als „revolutionäre Situation“ an, in der sie die SPD zum Hauptfeind erklärte. Den aufkommenden Nationalsozialismus lehnte sie zwar ab, erkannte aber das eigentliche Gefahrenpotenzial nicht. Ideologisch und organisatorisch war die KPD mehrheitlich an der Sowjetunion orientiert und trat schon früh der Kommunistischen Internationale bei. Der Vorsitzende Ernst Thälmann galt als „Stalins Mann in Deutschland“. Nach der Wiederzulassung in der Bundesrepublik opponierte sie mit Unterstützung aus der DDR gegen das „Adenauer-Regime“ und wurde schließlich 1956 unwiderruflich durch ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts als verfassungsfeindliche Partei verboten.
Deutsche Kommunistische Partei
Die 1968 gegründete DKP stieg nach Ansicht von Armin Pfahl-Traughber zur bedeutendsten linksextremistischen Partei auf und stellt eine Nachfolge-Organisation der KPD dar, weil sie sich auf ehemalige KPD-Mitglieder und linksintellektuelle Sympathisanten stützen konnte. Eine wichtige parteipolitische Arbeit lag in den Betrieben, bei Kampagnen und in der Zusammenarbeit mit Gewerkschaften. Bei den Wahlen konnte sie allerdings nur geringe Erfolge verbuchen. Laut Helga Grebing war sie nur „ein Stück legalen Agitationsbodens der DDR in der Bundesrepublik“. Der Parteivorsitzende Herbert Mies galt seinerzeit als „Befehlsempfänger“ der DDR. Mit der Wende und friedlichen Revolution in der DDR verlor die DKP 1990 die ideelle und finanzielle Stütze und einen Großteil ihrer Mitglieder.
K-Gruppen
Als maoistische Kaderparteien entstanden im Zuge der 68er-Bewegung erste K-Gruppen. Sie unterschieden sich inhaltlich und strategisch: traditionalistische (1.) sowie antiautoritäre und modernere (2.) Ausrichtung.
Kommunistische Partei Deutschlands/Marxisten-Leninisten (KPD/ML), KPD-Maoisten (KPD-AO) und Kommunistische Arbeiterpartei Deutschlands (KAPD)
Kommunistischer Bund Westdeutschland (KBW), Bund Westdeutscher Kommunisten (BWK) und Kommunistischer Bund (KB)
Viele Mitglieder dieser Organisationen, die oft im jungen Alter beigetreten sind, machten einen demokratischen Entwicklungsprozess durch und fanden sich später bei den Grünen wieder (vom KB spaltete sich Ende der 1970er Jahre die Gruppe Z ab).
Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands
Neben der DKP nimmt die Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands (MLPD) unter den linksextremistischen Parteien einen wichtigen Platz ein. An deren Gründung war federführend der Kommunistische Arbeiterbund Deutschlands (KABD) beteiligt. Hauptkritikpunkt der Partei war die Entstalinisierung nach dem XX. Parteitag der KPdSU (1956) und damit in ihren Augen der Verrat am „wahren Sozialismus“ aufgrund einer vermeintlichen „kleinbürgerlichen Denkweise“. Die Partei ist finanziell durch Spenden und Mitgliedsbeiträge außerordentlich gut ausgestattet und bis dato für viele Mitglieder eine Art „Ersatz-Familie“. Innerhalb des linken Spektrums ist sie allerdings wegen ihres Dogmatismus bis auf wenige Ausnahmen weitestgehend isoliert.
Terroristischer Linksextremismus
Mit der westdeutschen Studentenbewegung der 1960er Jahre etablierte sich eine starke, außerparlamentarisch oppositionelle linke Kraft in der Bundesrepublik. Die große Mehrheit der damaligen Studentengeneration griff zwar staatliche Institutionen, nicht aber den Rechtsstaat als solchen an. Teile der APO bildeten jedoch spätestens seit der Tötung von Benno Ohnesorg am 2. Juni 1967 durch einen Polizisten in Berlin Gruppen, die auf verschiedene Weise den „bewaffneten Kampf“ befürworteten, planten und ausübten. Zur ersten terroristischen Gruppe dieser Art avancierte die Tupamaros West-Berlin, die von 1969 bis 1970 bestand und als Vorläufer noch kommender galt.
Rote Armee Fraktion
Das bedeutendste linksterroristische Phänomen in Deutschland war das der Roten Armee Fraktion (RAF). Es bestanden personelle Kontinuitäten zur 68er-Bewegung, wenngleich sich eine Gleichsetzung verbietet. So beteiligten sich auch Andreas Baader und Gudrun Ensslin an den Kaufhaus-Brandstiftungen am 2. April 1968. Der 14. Mai 1970 galt dann als Gründungsdatum der Gruppe. Rekrutierungen erfolgten über das Sozialistische Patientenkollektiv (SPK), welches 1970 gegründet wurde. Die RAF steigerte ihre Gewaltaktionen in den 1970er-Jahren kontinuierlich. Neben einem konspirativen Vorgehen machte die RAF vor allem durch die Mai-Offensive auf sich aufmerksam. Im Sommer 1972 kam es zu einer großen Verhaftungswelle.
Ideologisch standen sie dem Marxismus-Leninismus und dem Maoismus nahe. Sie stützen sich auf das Konzept der „Stadtguerilla“, bei dem Methoden des Guerillakampfes aus der dritten Welt in die „Metropolen“ der deutschen Industriegesellschaft übertragen werden sollten. Man bezog sich u. a. auf die Fokustheorie Che Guevaras und das Vorgehen der Tupamaros in Uruguay:
Zu den Führungspersönlichkeiten der sogenannten „zweiten Generation“ der RAF gehörte zunächst Siegfried Haag und später Brigitte Mohnhaupt. 1975 kam es zur Geiselnahme von Stockholm. Den Höhepunkt bildete der Deutsche Herbst (1977) mit den Morden an Siegfried Buback, Jürgen Ponto und Hanns Martin Schleyer. Mehrere zum Teil tödliche Anschläge auf ziviles (u. a. Alfred Herrhausen) und militärisches Personal und Einrichtungen (u. a. Ramstein Air Base) sollten folgen – eine dritte Generation bildete sich heraus. Das damalige RAF-Umfeld wird heute auf über 2.000 Personen geschätzt. Lose internationale Verbindungen bestanden mit terroristischen Gruppen wie der Volksfront zur Befreiung Palästinas (Besuch von Ausbildungslagern in Palästina) und der französischen Action directe. Vereinzelte Unterstützung erfolgte durch die DDR. Offiziell wurde die RAF 1998 aufgelöst.
Bewegung 2. Juni
Eine weitere linksterroristische Vereinigung war die Bewegung 2. Juni, die 1971/72 entstand. Nach Armin Pfahl-Traughber stammten im Gegensatz zur RAF mehr Mitglieder aus dem Arbeiter- oder „Gammler-Milieu“. Auch sie erlangte öffentliche Aufmerksamkeit durch Entführungen (u. a. Peter Lorenz) und Anschläge auf staatliche Einrichtungen. Aufgrund der theoretischen Profillosigkeit verlor sie jedoch im linken Spektrum an Ansehen und löste sich unter Teilfortsetzung des „antiimperialistischen Kampfes“ in der RAF 1980 offiziell auf.
Revolutionäre Zellen
Aufgrund von Kritik an der RAF hinsichtlich ihres „elitären Avantgarde-Anspruch[s]“ und der Auswahl von Anschlagszielen entstanden in den 1970er Jahren die Revolutionären Zellen (RZ). Die Mitglieder agierten jedoch nicht im Untergrund („Feierabendterrorismus“), sondern organisierten sich in weitestgehend hierarchielosen Terrorzellen. Zentrale Figur war Wilfried Böse, der eine „populäre Guerilla“ schaffen wollte. Die Gruppe verübte Anschläge und Entführungen untermauert mit antiimperialistischen und antizionistischen Argumentationen. Aus der RZ entwickelte sich auch die linksterroristische Frauengruppe Rote Zora. Eine Flugzeugentführung unter Beteiligung von Mitgliedern der RZ wurde im Rahmen der Operation Entebbe durch israelische Sicherheitskräfte beendet. In den 1990er und 2000er Jahren kam es zu Verhaftungen und einem Auflösungsprozess der Gruppe.
Neuere Entwicklungen
Von 2001 bis 2009 war die linksmilitante militante gruppe (mg) aktiv. Sie verübte u. a. Anschläge gegen die Bundeswehr, die Bundespolizei und weitere staatliche Behörden. Darüber hinaus sprach sie Drohungen (über Kugeln per Post) aus. Die neueste Erscheinung sind die Revolutionären Aktionszellen (RAZ) mit Anknüpfungspunkten im Selbstverständnis an die 1970er Jahre. Ähnlich der mg, drohten sie 2011 dem Bundesinnenminister sowie Vertretern der Strafverfolgungsorgane und der Extremismusforschung.
Im Dresdner Linksextremismusprozess wurden im Jahr 2023 mehrere Personen wegen verschiedener Straftaten schuldig gesprochen und zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt.
Weitere linksextremistische Akteure
Unterschiedliche Organisationen
Eine wissenschaftlich weitgehend unerforschte linksextremistische Organisation ist die Marxistische Gruppe (MG). Ihr Handlungsumfeld waren die Hochschulen. Aus den Reihen der MG entstand 1992 auch das Theorieorgan GegenStandpunkt, das sich vor allem an Studenten und Akademiker richtet und zu deren Protagonisten u. a. Karl Held gehörte.
Zu den trotzkistisch ausgerichteten Gruppen zählen Linksruck (1993–2007) und marx21 (seit 2007), beides deutsche Ableger der International Socialist Tendency. Die Mitglieder (u. a. die heutigen Abgeordneten Christine Buchholz, Nicole Gohlke und ehemals auch Janine Wissler) traten kollektiv der Partei Die Linke bei, wo sie sich vor allem in der politischen Strömung Sozialistische Linke engagieren. Darüber hinaus existiert seit 1994 die Sozialistische Alternative, eine deutsche Sektion des Committee for a Workers’ International.
Die durch Intellektuelle unterstützte Vorgängerorganisation Rote Hilfe Deutschlands, gegründet 1924, stand der KPD nah. Deren Nachfolgeorganisation ist der mitgliederstarke linksextremistische Verein Rote Hilfe, in dem auch vereinzelt Sozialdemokraten Mitglied waren wie Franziska Drohsel.
Dem anarcho-syndikalistischen Milieu wird die 1977 gegründete Freie Arbeiterinnen- und Arbeiter-Union zugerechnet, einem Ableger der Internationalen ArbeiterInnen-Assoziation. Weiterhin wird die postautonome Interventionistische Linke vom Verfassungsschutz als linksextrem eingeordnet. Letztere tritt bei Aktionen auch mit gemäßigten Linken auf.
1947 gründeten von den Nationalsozialisten verfolgte Antifaschisten die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten (VVN-BdA). Die Organisation wurde von der Adenauer-Regierung als unvereinbar mit den Werten der Bundesrepublik gesehen, später wurde ihr vom Finanzamt die Gemeinnützigkeit wegen Nennung im bayrischen Verfassungsschutzbericht als "linksextrem" aberkannt, weshalb der VVN-BdA pleitezugehen drohte. Das Finanzamt revidierte unter öffentlichem Druck, unter anderem vom Auschwitz-Komitee, seine Haltung. Mittlerweile listet kein Verfassungsschutzbericht den VVN-BdA mehr als linksextremistisch. Der Fall illustriert die Bedeutung von Kategorisierungen von Gruppen als "linksextrem" und wie sich die Einschätzung je nach Geist der Zeit verändern kann.
Autonome Szene
Die autonome Szene entwickelte sich ursprünglich in Italien. Vorläufer in Deutschland waren die undogmatischen und dezentralen Spontis der 1970er und 1980er Jahre. Ab Anfang der 1980er Jahre spricht man in der Bundesrepublik Deutschland von Autonomen. Diese stehen geistig dem Anarchismus näher als dem Marxismus. Am weitesten organisiert war die sogenannte Antifaschistische Aktion/Bundesweite Organisation. Die Mitglieder der Szene bewegen sich in subkulturellen Kontexten und wahren zumeist auf Demonstrationen oft Anonymität. Im Spektrum sammeln sich ca. 6.000 Personen (abnehmend) jüngeren Alters mit Schwerpunkt auf Großstädte wie Berlin oder Hamburg. Der Szene zugehörige bekannte Kulturzentren sind z. B. die Rote Flora. Sie versuchten seit etwa 1980, die damals wachsende Friedensbewegung und die Atomkraftgegner im Sinne ihrer Ziele zu beeinflussen. Bei Demonstrationen verursachte der „schwarze Block“ nicht selten Sachbeschädigungen, und bei Gegendemonstrationen gegen Rechtsextremisten kam oft Gewalt („Militanz“) gegen Polizisten hinzu.
Seit dem Mauerfall 1989 kam es zu erheblichen Differenzen innerhalb der Szene. Es standen sich sogenannte „Antideutsche“ und „Antiimperialisten“ gegenüber. Erstere skandierten den Slogan „Nie wieder Deutschland“ und warfen der anderen Seite Antisemitismus vor. Im Mittelpunkt der Auseinandersetzung stand vor allem das feindschaftliche Verhältnis zu Israel innerhalb des Linksextremismus. Spätestens 1999 isolierten sich die Antideutschen im Milieu. Zwar kann ein linksextremistischer Antisemitismus nicht belegt werden, Israelfeindschaft mündet jedoch mitunter in Judenfeindschaft und vor allem eine „kritiklose Solidarität mit manchen Gegnern Israels“ im Nahen Osten kann gleichbedeutend sein mit der „Solidarität mit Antisemiten“. Ein gemeinsames Agieren von Linksextremen mit Rechtsextremen und Islamisten findet mitunter im Bereich des Antizionismus statt, wobei auch geopolitische Feindschaft gegenüber dem Westen als Anknüpfungspunkt dient. Ein solch informelles Bündnis einer Querfront war etwa bei einer Anti-Israel-Demonstration im Jahr 2014 in Zürich zu beobachten.
Klassische Publikationsorgane der autonomen Szene sind die Periodika radikal (gegründet 1976), interim (gegründet 1988) sowie CLASH (von 1989 bis 1994). Einen postautonomen Charakter weist die Zeitschrift arranca! (gegründet 1993) auf.
Antiimperialisten
Eine Sonderstellung nehmen laut Verfassungsschutz die Antiimperialisten ein. Diese neigen anders als Autonome dem revolutionären Marxismus und nicht dem Anarchismus zu. Von Kommunisten unterscheidet und mit Autonomen verbindet sie hingegen Gewalt nicht nur in einer revolutionären Situation, sondern unabhängig vom Zeitpunkt als legitimes Mittel anzusehen. Neben Marx werden auch Lenin und Mao als Vordenker rezipiert, wobei das Weltbild bei einigen Vertretern nicht über Ideologiefragmente hinausreicht. Aus antiimperialistischer Perspektive wurde bzw. wird Israel häufig als „Kolonialmacht“ gesehen, woraus eine Unterstützung bewaffneter palästinensischer Gruppen und oftmals eine antizionistische Grundeinstellung resultierten, wovon sich die Antideutschen distanzierten. Antiimperialisten gehören im Gegensatz zu traditionellen Kommunisten in der Regel keinen Parteien, sondern nur informellen Gruppen an. Ideologisch am marxistischen Antiimperialismus orientieren sind jedoch sowohl Antiimperialisten als auch traditionelle Kommunisten. Beispiele für antiimperialistische Gruppen sind der Jugendwiderstand, der Rote Aufbau Hamburg sowie die Sozialistische Linke. Der Verfassungsschutz rechnet dem antiimperialistischen Spektrum in Deutschland rund 900 Personen zu. Zu Zeiten der Roten Armee Fraktion wurde diese teilweise von Sympathisanten aus dem antiimperialistischen Milieu unterstützt.
Streitfall: Die Linke
Die Ursprünge der Partei Die Linke liegen unter anderem in der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED), der alleinregierenden Staatspartei in der DDR. Sie wurde 2007 durch Fusion der Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS) und der WASG gegründet. Sie distanzierte sich mehrfach von ihrer DDR-Vergangenheit und bekannte sich zum Demokratischen Sozialismus. Nach ihren Aussagen findet sich im Grundgesetz die Aufgabe eines solchen demokratischen Sozialismus wieder. Innerhalb der Partei existieren laut Einschätzung des Bundesamtes für Verfassungsschutz offen linksextremistische Strömungen wie marx21, Sozialistische Linke, Cuba Sí, Marxistisches Forum und Kommunistische Plattform (KPF). Der Verfassungsschutz beobachtete auch Bundestagsabgeordnete, musste jedoch nach einem Urteil des Bundesverfassungsgerichtes diese Beobachtung einstellen (siehe Beobachtung der Partei Die Linke durch den Verfassungsschutz). In der Vergangenheit wurden „offene Wahllisten“ wie die Linke Liste Nürnberg mit der DKP eingegangen. Solidaritätsbekundungen von Teilen der Partei erfolgen gelegentlich für den sozialistischen, autoritären Staat Kuba.
Während der Extremismusforscher Jesse (2008) der Partei einen „smarten Extremismus“ unterstellt und sie bis heute kritisiert, lehnen Wissenschaftler wie Richard Stöss oder Karl-Rudolf Korte diese Kategorisierung ab oder weisen auf einen demokratischen Entwicklungsprozess hin. Zu einer Einschätzung dazwischen kommen Bergsdorf und van Hüllen, die Die Linke als „weder eine einwandfrei extremistische noch eine klar demokratische Partei“ einordnen. Kleine Teile der Partei, insbesondere marx21, werden im Verfassungsschutzbericht weiter erwähnt. Die Partei selbst bezog bisher keine Stellung zu diesen Vorwürfen.
Linksextremismus aus Sicht staatlicher Akteure
Bis 1973 wurde von staatswegen der Begriff Linksradikalismus gebraucht. Um deutlich zu machen, „dass politische Aktivitäten oder Organisationen nicht schon deshalb verfassungsfeindlich sind, weil sie eine bestimmte nach allgemeinem Sprachgebrauch ‚radikale‘, das heißt eine bis an die Wurzel einer Fragestellung gehende Zielsetzung haben“, führte 1975 der damalige Bundesinnenminister Werner Maihofer (FDP) im Vorwort des Verfassungsschutzberichts von 1974 den Extremismusbegriff in den Sprachgebrauch staatlicher Behörden ein. Er ergänzte somit die bisherigen Termini um die konkrete Verfassungswidrigkeit. Da dadurch nach Einschätzung des Sozialwissenschaftlers Hubert Kleinert, ehemals führender Realpolitiker der Grünen, Gruppen aus dem Spektrum der Neuen Linken herausfallen würden, wird die Entscheidung heute im wissenschaftlichen Diskurs zum Teil in Frage gestellt, aber auch von Kritikern der Extremismusforschung für die Behörden akzeptiert.
Unter dem Begriff Linksextremismus versteht das Bundesministerium des Innern und für Heimat (BMI) im Verfassungsschutzbericht 2021:
Beobachtungsobjekte des Verfassungsschutzes in Deutschland
Eine Erwähnung finden derzeit (VS-Bericht 2018) dem Linksextremismus zugeordnete Aktionsfelder, Parteien, Gruppierungen und Publikationen:
Aktionsfelder: Antifaschismus, Antirepression, Digitale Repression, Kurdistansolidarität und Antigentrifizierung.
Gewaltorientierte Gruppen: Autonome, Postautonome Zusammenschlüsse, Interventionistische Linke (IL), … ums Ganze – kommunistisches Bündnis (uG), Perspektive Kommunismus (PK), Gruppe ArbeiterInnenmacht (GAM)
Strategische Formen der Gewalt: Konfrontative Gewalt, Klandestine Gewalt, Vertreter des Staates als Feindbild.
Kampagnen: „United we stand!“ der „Roten Hilfe e.V.“, „Ende Gelände“, „Das Rote Berlin“ der IL
Parteien: Deutsche Kommunistische Partei (DKP), Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands (MLPD), Sozialistische Gleichheitspartei (SGP).
Weitere Beobachtungsobjekte: Sozialistische Deutsche Arbeiterjugend (SDAJ), Jugendverband „Rebell“ der MLPD, Rote Hilfe e.V. (RH), Sozialistische Alternative (SAV), Kommunistische Plattform der Partei DIE LINKE (KPF), Sozialistische Linke (SoL), Arbeitsgemeinschaft Cuba Si (AG Cuba Si), Antikapitalistische Linke (AKL), Marxistisches Forum (MF), Geraer/Sozialistischer Dialog (GSoD), Marx21
Internetplattformen
Publikationen: Junge Welt (JW) und Publikationen oben genannter Gruppierungen.
Veranstaltungen der Szene.
Beendigung der Beobachtung durch den Verfassungsschutz
Der Verfassungsschutz hat eine Vielzahl von Beobachtungen, teils nach erfolgreichen Klagen, teils nach öffentlichem Druck und ohne weitere Erklärung eingestellt. So wurden insbesondere in konservativ geführten Bundesländern weite Teile der Partei Die Linke überwacht, während heute oft nur Teilgruppen der Partei, wie marx21 überwacht werden. Auch Einzelpersonen, wie der heutige thüringische Ministerpräsident Bodo Ramelow wurden überwacht. Seine Überwachung wurde erst durch ein Urteil des Verwaltungsgerichts Köln für unzulässig erklärt und beendet.
Entwicklung der Anzahl von Linksextremisten in Deutschland aus Sicht des Verfassungsschutzes
Das in Verfassungsschutzberichten ausgewiesene Personenpotenzial im Linksextremismus ist von 2000 bis 2010 leicht gesunken. Bei den gewaltorientierten Linksextremisten hat es sich seit 2000 leicht erhöht.
Messung politisch motivierter Straftaten und Gefährdungspotential
In Deutschland führt das Bundeskriminalamt (BKA) seit dem Jahr 2001 eine zentrale Statistik über Politisch motivierte Kriminalität. Aus einer linken Weltanschauung begangene Delikte werden dort in der Kategorie „Politisch motivierte Kriminalität – links“ (PMK-links) ausgewiesen. Abweichend von der Polizei führen die Verfassungsschutzbehörden Statistiken über extremistisch motivierte Straftaten. Als extremistisch motiviert gelten dabei Delikte, die sich gegen die freiheitlich demokratische Grundordnung richten. Da aus Sicht des Verfassungsschutzes nicht alle politisch motivierten Straftaten auch gleichzeitig extremistisch motiviert sind, weicht die Anzahl der in Verfassungsschutzberichten erwähnten Delikte regelmäßig von der Anzahl der Delikte in der Polizeilichen Kriminalstatistik ab.
Das Bundesamt für Verfassungsschutz sprach im Verfassungsschutzbericht 2020 und 2021 von einer „Radikalisierung“ und einem „hohe[n] Gefährdungspotenzial durch gewaltbereite Linksextremisten in Deutschland“, vor allem in den „Szeneschwerpunkten Berlin, Hamburg und Leipzig“. Die Angriffe würden „zielgerichteter und professioneller“, Opfer seien „zunehmend auch auf einer persönlichen Ebene betroffen“. Auch „Kontakte in lokale Kampfsportszenen“, die Teilnahme an Kampfsportveranstaltungen sowie die Veranstaltung eigener Events zum „Schutz vor einer Bedrohung durch politische Gegner“ seien bei Teilen der gewaltorientierten Szene festzustellen. Allerdings, so das Bundesamt, sei innerhalb der Szene „der Einsatz von Schusswaffen oder Sprengsätzen mit der Absicht einer gezielten Tötung der Opfer derzeit nicht festzustellen“.
Aussteigerprogramm für Linksextremisten
Seit Oktober 2011 existiert in Deutschland ein Aussteigerprogramm des Bundesamtes für Verfassungsschutz, welches Linksextremisten den Ausstieg aus der Szene ermöglichen soll. Auf diese Weise soll die Anzahl linksextremistisch motivierter Straf- und Gewalttaten reduziert werden. Ausstiegswillige können sich telefonisch über eine Hotline sowie per E-Mail beraten lassen. Zudem soll eine Beratung von Familienangehörigen und Freunden von Linksextremisten erfolgen.
Nach Meinung des Gewalt- und Konfliktforschers Peter Imbusch bräuchten Aktivisten aus der linken Szene im Gegensatz zu Aussteigern aus dem Islamismus und Rechtsextremismus auf Grund der Heterogenität und fehlender autoritärer Strukturen keinen persönlichen Schutz. Imbusch bewertet das Programm daher als symbolisch.
In einer Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der Fraktion Die Linke wurde bekannt, dass es binnen eines Jahres nach Einführung des Programms nur einen Aussteiger gegeben habe.
Das Deutsche Jugendinstitut e.V. (DJI) konnte in seinem 2014 veröffentlichten dritten Evaluationsbericht keinen Bedarf für ein flächendeckendes Präventionsprogramm erkennen. Laut einem Bericht des RBB vom Februar 2018 sind verschiedene Aussteigerprogramme für Linksextremisten gescheitert, da linke Aussteiger keine Sanktionen aus der Szene befürchteten und sich einfach zurückziehen könnten.
Europaweit
Auch in anderen EU-Staaten existieren linksextremistische Gruppierungen. Linksextremismus ist dort aufgrund der jeweiligen historischen Rahmenbedingungen unterschiedlich stark ausgeprägt. Die Kommunistischen Parteien sind politisch nicht einheitlich ausgerichtet und mitunter nicht zum extremistischen Spektrum zu rechnen, da reformistisch und realpolitisch orientiert. Einige Extremisten bilden gelegentlich Allianzen mit Demokraten und stoßen so in die Mitte vor. Es sei, so Backes (2011), ein intellektuell aufkommender „Neokommunismus“ und „Neoanarchismus“ zu beobachten. Bezüglich linksextremistisch motivierter Terroranschläge in der EU (2006–2009) sind insbesondere Spanien, Griechenland, Italien und Deutschland zu nennen. Obgleich der Terrorismus der 1970er Jahre überwunden ist, spricht Backes gleichzeitig von einer gewissen gewalttätigen „Renaissance“. Politisch motivierte Gewalt müsse als „komplexe Interaktionsdynamik“ verstanden werden und zwar zwischen Links- und Rechtsextremismus.
Dänemark
In Dänemark spielt der Extremismus eine vergleichsweise zu vernachlässigende Rolle. Die älteste Organisation dieser Art ist die Danmarks Kommunistiske Parti, gegründet 1919. Von dieser spalteten sich andere, sowohl extremistische als auch reformistische, Parteien ab. Eine weitere Bedeutung haben die gut organisierten und militant ausgerichteten autonomen Netzwerke, beispielsweise im Zusammenhang mit dem mittlerweile geschlossenen besetzten Gebäude Ungdomshuset in Kopenhagen.
Frankreich
In Frankreich werden traditionell zum Linksextremismus („extrême gauche“) überwiegend maoistische, trotzkistische und anarchistische Kräfte gerechnet. Die Kommunistische Partei Frankreichs (PCF) firmiert nicht unumstritten lediglich unter Linksradikalismus („gauche radicale“), da sie sich überwiegend zum Eurokommunismus bekennt und in der Vergangenheit in Regierungsbeteiligung war. Zu den nennenswerten linksextremistischen Parteien zählen beispielsweise die Trotzkisten Ligue communiste révolutionnaire (LCR) und Lutte Ouvrière (LO). Beide Parteien traten auch zu Präsidentschaftswahlen an.
1979 entstand die linksterroristische Action directe (AD). Sie verübte u. a. Anschläge auf staatliche Gebäude. Kontakte bestanden in dieser Zeit auch zur westdeutschen RAF. Ab 1983 begann die Gruppe Führungspersonen im französischen Militär und in der Wirtschaft zu ermorden, darunter General René Audran und Renault-Chef Georges Besse. Im Jahr 1987 konnten die Gründer der Gruppe festgenommen werden. Einzelne jüngere Anschläge auf den Schienenverkehr in Frankreich werden der autonomen Szene zugerechnet und werden nicht als Reinkarnation des französischen Linksterrorismus interpretiert.
Griechenland
Griechenland nimmt beim europäischen Linksextremismus aufgrund der sozioökonomischen Verhältnisse des Landes eine besondere Rolle ein. Politisch weitgehend erfolglos blieb die Kommunistische Partei Griechenlands (KKE).
Zwischen 1973 und 2000 existierte die Terrororganisation 17. November. Die in der Folge agierende Gruppe Epanastatikos Agonas (EA, „Revolutionärer Kampf“) bezeichnet sich als Nachfolgeorganisation des „17. November“. Weitere linksterroristische Organisationen waren Sechta Epanastaton („Sekte der Revolutionäre“) und die Verschwörung der Feuerzellen.
Darüber hinaus ist in der griechischen Hauptstadt (insbesondere im Stadtteil Exarchia) eine gewaltbereite autonome Szene etabliert.
Italien
Die Kommunistische Partei Italiens (KPI), gegründet 1921, galt seit ihrer Hinwendung zu eurokommunistischer und parlamentarischer Politik in den 1970er Jahren mehrheitlich nicht mehr als linksextrem. Dieser Begriff war für weiter links stehende Parteien wie die ehemalige Democrazia Proletaria (DP) reserviert.
In Italien waren von 1970 bis 1988 die Roten Brigaden (BR) als linksterroristische Vereinigung aktiv. Diese Gruppe von etwa 60 aktiven Mitgliedern verübte vor allem Morde (ca. 86), Erpressungen und Banküberfälle. Bekanntestes Opfer war der Politiker Aldo Moro. Nach deren Niedergang in den 1980er Jahren wurde ab 1999 eine Nachfolgeorganisation unter dem Namen Neue Rote Brigaden (Nuove BR) gegründet. Ihnen werden u. a. tödliche Anschläge auf die Regierungsberater Massimo D’Antona und Marco Biagi zugeschrieben.
Derzeit gilt die informelle anarchistische Gruppierung Federazione Anarchica Informale (FAI), die ab 2003 Brief- und Paketbomben an nationale und internationale Organisationen wie die Europäische Zentralbank versandte, als linksextremistisch.
Österreich
Ähnlich wie in Deutschland das Bundesamt für Verfassungsschutz publiziert die Direktion Staatsschutz und Nachrichtendienst und vor ihr das 2021 aufgelöste Bundesamt für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung Verfassungsschutzberichte. Unter der Kategorie „Linksextremismus“ werden hier Strömungen gelistet, die „mit Gewaltakzeptanz und -befürwortung verbunden sind“ oder „bewusst Gesetzesbrüche einkalkulieren“. Eine Definition vom Begriff Linksextremismus erfolgt im Verfassungsschutzbericht nicht. Die als klein eingeschätzte Szene bestehe zum einen aus einem „marxistischen/leninistischen/trotzkistischen Bereich“ und einem „autonom-anarchistischen Spektrum“. Im Berichtsjahr 2020 wurden lediglich 38 Personen „im Zuge der Bekämpfung linksextremer Aktivitäten“ angezeigt.
Während der österreichische Verfassungsschutzbericht keine Parteien als linksextremistisch benennt, zählt Pfahl-Traughber die Kommunistische Partei Österreichs (KPÖ), die federführend im Widerstand gegen den Nationalsozialismus aktiv war, zum Kern des österreichischen Linksextremismus. Die Partei richtete sich nach dem Zweiten Weltkrieg antifaschistisch, aber nicht antiextremistisch aus, beteiligte sich an der Gründung der Zweiten Republik mit Regierungsverantwortung und konnte später vereinzelt Wahlerfolge erzielen. Vom Stalinismus distanzierte man sich spät, aber deutlich. So formulierte der Parteivorsitzende Mirko Messner: „Die KPÖ hat mit dem Stalinismus, der auch in der KPÖ nach 1945 vorherrschend war, radikal abgerechnet.“ Laut ihren Statuten tritt die KPÖ für eine „radikaldemokratische Reformpolitik […] mit einer revolutionären, die bestehende kapitalistische Gesellschaft überwindenden Perspektive“ ein. Ihr Ziel sei ein „Sozialismus demokratischen Charakters“.
Das Wahlbündnis Linke trat 2008 als eher unbedeutende Konkurrenz hinzu. Dieses besteht aus mehreren linksextremistischen Kleinparteien. Eine sich in gewaltbereiten Kontexten bewegende Gruppe stellt die autonome Szene dar, die u. a. durch Hausbesetzungen auf sich aufmerksam macht.
Polen
Die Kommunistische Partei Polens (KPP) mit marxistisch-leninistischer Ausrichtung wurde 2002 wiederbegründet.
Schweden
Aufgrund des Schwedischen Wohlfahrtsstaats spielt der Linksextremismus bisher nur eine untergeordnete Rolle, wenngleich verschiedene orthodox-kommunistische Strömungen mit im Laufe der Geschichte existierten. Zu den wichtigsten gehört die Kommunistische Partei (KP) und die Kommunistische Partei des Marxismus-Leninismus (KPML), die auch Verbindungen zur DKP hält. In Schweden sind darüber hinaus schwach organisierte autonome Gruppen wie die Antifaschistische Aktion (AFA) aktiv.
Schweiz
Auch der Schweizer Nachrichtendienst des Bundes (NDB) führt in seinen Lageberichten die Kategorie „Linksextremismus“. Dabei äußert sich der NDB nicht dazu, was er unter dem Schlagwort „Linksextremismus“ versteht. Nach Einschätzung des Nachrichtendienstes standen 2021 insbesondere Antikapitalismus, Antifaschismus und die kurdische Sache im Fokus gewalttätiger Linksextremisten. Dabei wurden 81 Gewalttaten gezählt (2020: 107).
Spanien
Die Ursprünge der extremen Linken in Spanien gehen auf die Partido Comunista de España (PCE), gegründet 1921 und verboten unter General Franco, zurück. Aufgrund ihrer späteren Ausrichtung am Eurokommunismus spielte sie eine „konstruktive Rolle“ bei der Transition. Sie kann heute daher nicht mehr dem harten Linksextremismus zugerechnet werden.
Ende der 1950er Jahre gewann die linksextremistisch, separatistisch baskisch-nationalistische Euskadi Ta Askatasuna (ETA) an Bedeutung. Sie verübte Anschläge, Entführungen und Morde. Der politische Arm, die Herri Batasuna (HB), wurde 2003 verboten. Auch weitere Nachfolgeorganisationen der HB wurden von spanischen Gerichten verboten.
Tschechien
In Tschechien blieb die Nachfolgepartei der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei, die Kommunistische Partei Böhmens und Mährens (KSČM), reformunwillig. Die KSČM zeichnet sich durch „Konservatismus“ und „Orthodoxie“ aus. Sie hat allerdings viele Wähler und ist die dominierende linksextremistische Kraft des Landes.
Indien
Neben Bestrebungen in Europa sind auch weltweite linksextremistische Phänomene zu beobachten. So wird der militante Maoismus in Indien, der heute im Wesentlichen durch die Naxaliten getragen wird, von den indischen Politikwissenschaftlern Bidyut Chakrabarty (University of Delhi) und Rajat Kumar Kujur (Sambalpur University) als „Reinkarnation“ des Linksextremismus („ultra-left wing extremism“) im 21. Jahrhundert bezeichnet. Die Bewegung gilt als „größte Gefahr für die innere Sicherheit des Landes“.
Siehe auch
Beobachtung der Partei Die Linke durch den Verfassungsschutz
Linksextremismus im Internet
Linksfaschismus (politischer Kampfbegriff)
Dokumentationen
Auch in Print, Film und neuen Medien wurde in der Vergangenheit Linksextremismus thematisiert. Die Feuilletons kritisieren einzelne Produktionen zum Teil als „sozialromantisch“. Eine Analyse ergab, dass in der Literatur zu den Subkulturen vorrangig historische Betrachtungen vorliegen.
Stefan Aust, Helmar Büchel: Die RAF. Zweiteilige Dokumentation. NDR, Deutschland 2007.
Robert Gordon: Am linken Rand. Dokumentation. Am Schauplatz (ORF), Deutschland 2010.
Mosco Boucault: Sie waren die Terroristen der Roten Brigaden. Dokumentation. arte, Frankreich 2011.
Literatur
Einführende Monografien
Patrick Moreau, Jürgen P. Lang: Linksextremismus. Eine unterschätzte Gefahr (= Schriftenreihe Extremismus & Demokratie, Band 8). Bouvier Verlag, Bonn 1996, ISBN 3-416-02543-1.
Harald Bergsdorf, Rudolf van Hüllen: Linksextrem – Deutschlands unterschätzte Gefahr? Zwischen Brandanschlag und Bundestagsmandat. Ferdinand Schöningh Verlag, Paderborn 2011, ISBN 978-3-506-77242-8.
Armin Pfahl-Traughber: Linksextremismus in Deutschland. Eine kritische Bestandsaufnahme. Springer VS, Wiesbaden 2014, ISBN 978-3-658-04506-7.
Klaus Schroeder, Monika Deutz-Schroeder:
Gegen Staat und Kapital – für die Revolution! Linksextremismus in Deutschland – eine empirische Studie. Peter Lang Verlag, Frankfurt/M. 2015. ISBN 978-3-631-66283-0.
Linksextreme Einstellungen und Feindbilder. Befragungen, Statistiken und Analysen. Peter Lang Edition. Frankfurt/M. 2016.
Der Kampf ist nicht zu Ende. Geschichte und Aktualität linker Gewalt. Herder, Freiburg 2019, ISBN 978-3-451-38298-7.
Jürgen P. Lang: Linksextremismus in Deutschland. In: Extremismusforschung. Handbuch für Wissenschaft und Praxis. Nomos Verlag, Baden-Baden 2018, ISBN 978-3-8487-1807-8 (Text online (pdf 0,7 MB)).
Wissenschaftlicher Diskurs
Ulrich Dovermann (Hrsg.): Linksextremismus in der Bundesrepublik Deutschland (= Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung. Band 1135). Mit Beiträgen von Uwe Backes, Udo Baron, Astrid Bötticher, Rainer Erb, Hans-Gerd Jaschke, Eckhard Jesse, Marie-Isabel Kane, Hubert Kleinert, Carsten Koschmieder, Gero Neugebauer, Richard Stöss, Armin Pfahl-Traughber. Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 2011, ISBN 978-3-8389-0135-0.
Einzelbetrachtungen
Parteien
Luke March: Parteien links der Sozialdemokratie in Europa. Vom Marxismus zum Mainstream? Friedrich-Ebert-Stiftung, Internationale Politikanalyse, Abteilung Internationaler Dialog, Berlin u. a. 2008, ISBN 978-3-86872-001-3 (PDF).
Viola Neu: Das Janusgesicht der PDS. Wähler und Partei zwischen Demokratie und Extremismus (= Extremismus und Demokratie. Band 9). Nomos Verlag, Baden-Baden 2004, ISBN 3-8329-0487-5.
Michael Roik: Extremismus und Demokratie. Die DKP und die demokratischen Parteien 1968–1984. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2006, ISBN 3-531-15061-8.
Tom Thieme: Hammer, Sichel, Hakenkreuz. Parteipolitischer Extremismus in Osteuropa. Entstehungsbedingungen und Erscheinungsformen (= Extremismus und Demokratie. Band 16). Nomos Verlag, Baden-Baden 2007, ISBN 978-3-8329-3036-3.
Eckhard Jesse, Jürgen P. Lang: Die Linke – der smarte Extremismus einer deutschen Partei. Olzog Verlag, München 2008, ISBN 978-3-7892-8257-7.
Sascha Dietze: Die Ideologie der Marxistisch-Leninistischen Partei Deutschlands (MLPD) (= Chemnitzer Beiträge zur Politik und Geschichte. Band 6). Lit Verlag, Berlin u. a. 2010, ISBN 978-3-643-10838-8.
Tom Mannewitz: Linksextremistische Parteien in Europa nach 1990. Ursachen für Wahlerfolge und -misserfolge (= Extremismus und Demokratie. Band 23). Nomos Verlag, Baden-Baden 2012, ISBN 978-3-8329-7553-1.
Ideologien und Aktionsfelder
Dieter Portner: Bundeswehr und Linksextremismus (= Geschichte und Staat. Band 198/199). Olzog Verlag, München u. a. 1976, ISBN 3-7892-7114-4.
Kristin Wesemann: Ulrike Meinhof. Kommunistin, Journalistin, Terroristin – eine politische Biografie (= Extremismus und Demokratie. Band 15). Nomos Verlag, Baden-Baden 2007, ISBN 978-3-8329-2933-6.
Viola Neu: Rechts- und Linksextremismus in Deutschland. Wahlverhalten und Einstellungen. Konrad-Adenauer-Stiftung, Sankt Augustin u. a. 2009, ISBN 978-3-940955-61-6 (PDF)
Karsten Dustin Hoffmann: „Rote Flora“. Ziele, Mittel und Wirkungen eines linksautonomen Zentrums in Hamburg (= Extremismus und Demokratie. Band 21). Nomos Verlag, Baden-Baden 2011, ISBN 978-3-8329-6996-7.
Jürgen P. Lang: Für eine bessere Welt? Linksextremistische Argumentationsmuster. Konrad-Adenauer-Stiftung, Sankt Augustin u. a. 2012, ISBN 978-3-942775-94-6 (PDF).
Rudolf van Hüllen: Definition und Dimension, Erscheinungsformen und Kernaussagen des Linksextremismus. Überlegungen zur Prävention von Linksextremismus (Teil 1). Konrad-Adenauer-Stiftung, Sankt Augustin u. a. 2012, ISBN 978-3-942775-63-2 (PDF)
Rudolf van Hüllen: Kommunikationsmethoden und Rekrutierungsstrategien im Linksextremismus. Überlegungen zur Prävention von Linksextremismus (Teil 2). Konrad-Adenauer-Stiftung, Sankt Augustin u. a. 2012, ISBN 978-3-942775-64-9 (PDF)
Viola Neu: Linksextremismus in Deutschland. Erscheinungsbild und Wirkung auf Jugendliche. Auswertung einer qualitativen explorativen Studie. Konrad-Adenauer-Stiftung, Sankt Augustin u. a. 2012, ISBN 978-3-942775-62-5 (PDF)
Bettina Blank: „Deutschland, einig Antifa“? „Antifaschismus“ als Agitationsfeld von Linksextremisten (= Extremismus und Demokratie. Band 28). Nomos Verlag, Baden-Baden 2014, ISBN 978-3-8487-0699-0.
Linksterrorismus
Bernhard Rabert: Links- und Rechtsterrorismus in der Bundesrepublik Deutschland von 1970 bis heute. Bernard & Graefe, Bonn 1995, ISBN 3-7637-5939-5.
Dominique Grisard: Gendering Terror. Eine Geschlechtergeschichte des Linksterrorismus in der Schweiz (= Reihe Politik der Geschlechterverhältnisse. Band 44). Campus, Frankfurt am Main u. a. 2011, ISBN 978-3-593-39281-3.
Irene Bandhauer-Schöffmann, Dirk van Laak (Hrsg.): Der Linksterrorismus der 1970er-Jahre und die Ordnung der Geschlechter (= Giessen contributions to the study of culture, Band 9). WVT – Wissenschaftlicher Verlag Trier, Trier 2013, ISBN 978-3-86821-486-4.
Gudrun Schwibbe: Erzählungen vom Anderssein. Linksterrorismus und Alterität. Waxmann, Münster u. a. 2013, ISBN 978-3-8309-2892-8.
Christian Lütnant: „Im Kopf der Bestie“ Die RAF und ihr internationalistisches Selbstverständnis (= Wissenschaftliche Beiträge aus dem Tectum-Verlag, Reihe Geschichtswissenschaft. Band 23). Tectum, Marburg 2014, ISBN 978-3-8288-3322-7.
Petra Terhoeven: Deutscher Herbst in Europa. Der Linksterrorismus der siebziger Jahre als transnationales Phänomen. Oldenbourg, München 2014, ISBN 978-3-486-71866-9.
Internationale Betrachtungen
Folgende englischsprachige Werke betrachten den gewalttätigen Linksextremismus in einzelnen Ländern:
David Moss: The politics of left-wing violence in Italy, 1969–85. St. Martin’s, New York 1989, ISBN 0-312-02814-8.
Raimondo Catanzaro: The Red Brigades and Left-wing Terrorism in Italy. Pinter Publishers, London 1991, ISBN 0-86187-893-0.
Yonah Alexander, Dennis A. Pluchinsky (Hrsg.): Europe’s red terrorists. The fighting communist organizations. Frank Cass & Co, Oxford 1992, ISBN 0-7146-3488-3.
Michael Y. Dartnell: Action Directe. Ultra Left Terrorism in France 1979–1987. Frank Cass & Co., London u. a. 1995, ISBN 0-7146-4566-4.
Gerrit-Jan Berendse, Ingo Cornils (Hrsg.): Baader-Meinhof Returns. History and Cultural Memory of German Left-wing Terrorism (= German monitor. Band 70). Rodopi, Amsterdam u. a. 2008, ISBN 978-90-420-2391-8.
Bidyut Chakrabarty, Rajat Kumar Kujur: Maoism in India. Reincarnation of Ultra-Left Wing Extremism in the Twenty-First Century (= Routledge Contemporary South Asia Series. Band 22). Routledge, Abingdon 2010, ISBN 978-0-415-54486-3.
D. Suba Chandran, P.R. Chari (Hrsg.): Armed Conflicts in South Asia. Growing Left-wing Extremism and Religious Violence. Routledge India, Neu-Delhi u. a. 2011, ISBN 978-0-415-61256-2.
Jahrbücher
Uwe Backes, Alexander Gallus, Eckhard Jesse (Hrsg.): Jahrbuch Extremismus & Demokratie. Nomos Verlag, Baden-Baden 2010 ff. (Ersterscheinung 1989)
Martin H. W. Möllers, Robert Chr. van Ooyen (Hrsg.): Jahrbuch öffentliche Sicherheit. Verlag für Polizeiwissenschaft, Frankfurt 2003 ff.
Armin Pfahl-Traughber (Hrsg.): Jahrbuch für Extremismus- und Terrorismusforschung. Fachhochschule des Bundes für Öffentliche Verwaltung, Brühl 2008 ff.
Weblinks
Bibliographie zur Linksextremismusforschung (BiblioLinX)
Dossier Linksextremismus bei der Bundeszentrale für politische Bildung
Thema Linksextremismus bei der Bayerischen Informationsstelle gegen Extremismus beim Bayerischen Landesamt für Verfassungsschutz
Thema Linksextremismus bei der Konrad-Adenauer-Stiftung
Einzelnachweise
Politische Ideologie
Politische Linke
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Q1129409
| 138.919326 |
8895
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https://de.wikipedia.org/wiki/Homosexualit%C3%A4t
|
Homosexualität
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Homosexualität („Gleichgeschlechtlichkeit“; von „gleich“ und „Sexualität“) bezeichnet je nach Verwendung sowohl gleichgeschlechtliches sexuelles Verhalten, erotisches und romantisches Begehren gegenüber Personen des eigenen Geschlechts als auch darauf aufbauende sexuelle Identitäten.
Übersicht
Homosexuelles Verhalten, homosexuelles Begehren und die sexuelle Identität fallen nicht zwingend zusammen und werden deshalb in der Forschung unterschieden. In der Umgangssprache werden diese Aspekte jedoch häufig vermischt oder miteinander gleichgesetzt. Sexuelle Handlungen zwischen Männern und zwischen Frauen wurden in verschiedenen Epochen und Kulturen ganz unterschiedlich behandelt: teils befürwortet und toleriert, teils untersagt und verfolgt. Eine besondere Rolle spielen dabei die drei Abrahamitischen Weltreligionen, deren Schriftgelehrte den sexuellen Verkehr zwischen Männern auf der Basis von Bibel, Tora und Koran in der Regel als Sünde betrachteten, auch wenn liberale Strömungen mit dieser exegetischen Tradition heute zunehmend brechen.
Gleichgeschlechtliche Liebe und Lust sind in allen Gesellschaften und historischen Epochen durch entsprechende Quellen nachweisbar. Dagegen gilt die Entstehung der sexuellen Identität – im Sinne einer klaren Festlegung des Individuums auf eine bestimmte sexuelle Orientierung – heute als das Resultat von Entwicklungen der modernen Gesellschaft. Diese setzten ungefähr im 18. Jahrhundert unserer Zeitrechnung ein und umfassen Aspekte wie das Städtewachstum, die Bürokratisierung und die kapitalistische Versachlichung sozialer Beziehungen. Parallel zur Herausbildung heterosexistischer Normen in der Mehrheitsgesellschaft entstanden nach und nach in fast allen europäischen Metropolen abgegrenzte „schwule“ Subkulturen, deren Angehörige schon bald zum Gegenstand polizeilicher Überwachung, staatlicher Verfolgung, krimineller Erpressung und teilweise auch gewaltsamer Übergriffe wurden.
Die erste fundierte Verteidigung der Homosexualität schrieb mit Eros. Die Männerliebe der Griechen (1. Band 1836, 2. Band 1838) der Schweizer Modist und Tuchhändler Heinrich Hössli. Er begründete diese mit seiner Überzeugung, dass diese Veranlagung angeboren sei. Der Begriff Homosexualität wurde 1869 durch den österreichisch-ungarischen Schriftsteller Karl Maria Benkert (Pseudonym: Karl Maria Kertbeny) erfunden. Zuvor hatte Karl Heinrich Ulrichs (1825–1895) die Begriffe Uranismus (bzw. Urning für männliche Homosexuelle, Urninde für weibliche Homosexuelle) verwendet und bekannt gemacht. Ulrichs forderte 1867 erstmals öffentlich – auf dem deutschen Juristentag in München vor 500 Mitgliedern – die Straflosigkeit homosexueller Handlungen. Es gab tumultartige Szenen, in denen seine Rede unterging.
Gegen Ende des 19. Jahrhunderts prägten Autoren aus dem Umfeld der modernen Sexualwissenschaft unsere heutigen Begriffe für Homo- und Heterosexualität, für die es, genau wie für den Begriff Sexualität selbst, in keiner Sprache bis dahin eine vergleichbare Entsprechung gab. Das internationale Vokabular zu diesem Thema stammt daher fast überall aus Wortneuschöpfungen und Lehnübersetzungen des letzten und vorletzten Jahrhunderts.
Zusätzlich zur Einteilung in Homo- und Heterosexuelle, hat man seit 1900 die Residualkategorie der Bisexualität eingeführt. Jedoch ist dieses Konzept seinerseits zur Basis einer selbst gewählten Identität geworden und produziert daher neue begriffliche Unklarheiten, wie etwa die Existenz von Menschen, die sich in Umfragen weder als homo- noch bisexuell einstufen, sich aber trotzdem vom eigenen Geschlecht in unterschiedlichem Grade erotisch angezogen fühlen.
Mit der Konstruktion homosexuellen Begehrens als Abweichung von einer unterstellten „heterosexuellen Norm“ war von Anfang an auch der Versuch einer ätiologischen (medizinischen/psychologischen) Erklärung verknüpft. Nach 150 Jahren Forschung gibt es unter Sexualwissenschaftlern immer noch keinen Konsens, welche Faktoren für die Ausbildung sexueller Präferenzen ursächlich sind. Genannt wurden unter anderem genetische, endokrinologische (hormonelle) und psychoanalytische Erklärungsmodelle, die meist wenig miteinander vereinbar sind und somit in Konkurrenz zueinander stehen. In der Forschung hat sich heute weitgehend eine Deutung durchgesetzt, die auf der gesicherten Beobachtung aufbaut, dass homosexuelles Verhalten eines Teils von Populationen in der höheren Tierwelt sehr weit verbreitet ist. Einer der neueren Erklärungsansätze ist, dass einem solchen Verhalten eine mögliche evolutionäre Funktion für den Abbau von Aggressionen und die soziale Integration bei komplexen, hochentwickelten Wirbeltiergesellschaften zukommt. Der gängigste Erklärungsansatz ist jedoch die Verwandtenselektion. Homosexuelles Verhalten von Teilen einer Population hochentwickelter Lebewesen ist demnach ein durch die natürliche Evolution entstandenes, in der belebten Natur weit verbreitetes und sinnvolle Funktionen erfüllendes Phänomen.
Kulturwissenschaftliche Interpretationen verweisen demgegenüber auf gesellschaftliche Prägungen, unter denen der Umgang mit dem gleichen Geschlecht quantitativ, aber vor allem durch seine soziale Bedeutung alle anderen Beziehungen dominiert. Dies sieht Peter Dinzelbacher etwa für die griechische Polis als Kriegergesellschaft gegeben.
Begriff
Etymologie und Verwendung
Die Bezeichnung „Homosexualität“ ist eine hybride Wortneubildung aus dem Jahr 1868, geprägt vom Schriftsteller Karl Maria Kertbeny (1824–1882, bürgerlich: Karl Maria Benkert) von altgriechisch homόs „gleich“, und lateinisch sexus „Geschlecht“. Gleichzeitig prägte er als Antonym die Bezeichnung Heterosexualität. Sprachlich überholt ist die Bezeichnung Homosexualismus, die ebenfalls von Kertbeny eingeführt, aber immer nur vereinzelt verwendet wurde.
Hintergrund für diese und andere Wortbildungen war, dass es in der Neuzeit bis Mitte des 19. Jahrhunderts keine überlieferte Bezeichnung für gleichgeschlechtliches Empfinden gab. Vier Jahre vor Kertbeny führte Karl Heinrich Ulrichs 1864 die Begriffe „Uranismus“, „Urning“ (männlich) und „Urninde“ (weiblich) ein. Zwei Jahre nach Kertbeny und noch vor dem Erscheinen der Psychopathia sexualis prägte Carl Westphal 1870 den Begriff der „conträren Sexualempfindung“. Bis kurz nach der Jahrhundertwende dominierten diese beiden Bezeichnungen die aktivistischen und medizinischen Diskurse.
Erst Richard von Krafft-Ebing sorgte ab 1886 mit seinem Werk Psychopathia sexualis für eine weite Verbreitung der Neubildung Homosexualität. Magnus Hirschfeld berichtet 1914, dass sich der Begriff „Homosexualität“ durchgesetzt habe.
Als problematisch empfand Hirschfeld dabei, dass unter dem Eindruck der Endung -sexuell das Wort vielfach nicht im Sinne gleichgeschlechtlichen Liebens erfasst und gebraucht wird, sondern im Sinne einer sexuellen Handlung. Tatsächlich handelt es sich hierbei um eine bis heute bestehende Polysemie (Mehrdeutigkeit). So wies Ernest Bornemann 1990 auf öffentliche Umfragen hin, nach denen die Mehrzahl der Deutschen den Begriff so versteht, dass Homosexualität weniger eine Orientierung als vielmehr den „Geschlechtsverkehr unter Männern“ bezeichnet.
Mit der beginnenden Lesben- und Schwulenbewegung wurde der Begriff vielfach abgelöst. Während Frauen den durchaus bereits eingeführten Begriff „Lesben/lesbisch“ als Eigenbezeichnung reklamierten, griffen die Männer den Begriff „Schwuler/schwul“ auf. Ursprünglich abwertend verwendet, wurde die Bezeichnung (vermutlich von schwül – „drückend heiß“, in dieser Bedeutung seit dem 18. Jahrhundert, „schwül“ als Parallelbildung zu „kühl“, oder von „Schwulität“ – „Schwierigkeit, Bedrängnis, peinliche Lage“) in den 1970er Jahren von der Schwulenbewegung als Kampfbegriff eingesetzt und gesellschaftsfähig gemacht. Der abwertend gemeinte Charakter des Wortes wurde jedoch nicht vollständig zurückgedrängt.
Seit 1900 wurde als Alternative die deutsche Übersetzung Gleichgeschlechtlichkeit ins Spiel gebracht, und zwar vor allem als Adjektiv. In juristischen und amtlichen Texten fand er häufig Verwendung. Auch in der Wissenschaft wird er vielfach angewandt. Da der Begriff „Homosexualität“ nämlich nicht nur eine sexuelle Praxis beschreibt, sondern auch eine spezifische Identität, die in Europa und Nordamerika ab dem 19. Jahrhundert als Konzept entstanden ist, wird für Epochen vor dem 19. Jahrhundert bzw. außerhalb Europas und Nordamerikas in der Wissenschaft meist von „gleichgeschlechtlich/same-sex“ gesprochen (z. B. bei Helmut Puff).
Englischsprachige Begriffe
Im englischsprachigen Raum hat die Lesben- und Schwulenbewegung dagegen das Wort gay (im nachträglichen Rückgriff auf seine ursprüngliche Bedeutung „fröhlich“ und „bunt“, die zwischenzeitlich vom 17. bis ins 20. Jahrhundert hinein allerdings von der Bedeutung „ausschweifend, unmoralisch“ verdrängt worden war) als Selbstbezeichnung durchgesetzt, um sich von dem damals noch abwertend gebrauchten Ausdruck queer („seltsam, komisch“) zu distanzieren.
Ursprünglich eine geschlechtsneutrale Bezeichnung, hat sich der Begriff – ähnlich wie das deutsche Wort schwul – in den 1970er Jahren auf Männer verengt, während sich gleichgeschlechtlich liebende Frauen im Zuge des lesbisch-feministischen Separatismus zunehmend als lesbians und dykes bezeichneten. Der Begriff gay hat sich auch in anderen Sprachen wie dem Französischen (gai) eingebürgert und findet als Lehnwort auch in Deutschland neuerdings wieder zunehmend Verwendung.
Anfang der 1990er Jahre kam es innerhalb radikalerer politischer Kreise zu einer Wiederaneignung des Wortes queer als Überbegriff für Lesben und Schwule, was dann meist Transpersonen mit einschließt. Dieser Begriff hat die Wörter gay und lesbian jedoch nicht verdrängt, sondern nur partiell ersetzen können. Durch Queer-Theorie erfuhr er eine ähnliche Internationalisierung wie vorher der Begriff gay.
Homosexuelle Identität als westliches Konzept
Bei der Idee, gleichgeschlechtliche Liebe und Sexualität sei an eine bestimmte Identität gekoppelt, handelt es sich um eine moderne, westlich geprägte Vorstellung. In fast allen Sprachen fehlen native Ausdrücke für homosexuelle Personen. Dies war früher auch im Westen so. John Henry Mackay veröffentlichte unter seinem Pseudonym Sagitta bereits 1906 die Bücher der „namenlosen Liebe“. Im ersten Band erklärt Mackay, dass es für diese Liebe immer noch keinen adäquaten Namen gibt, so dass er sie die „namenlose“ nennen müsse. Er legt dar, dass diese Liebe weder eine Angelegenheit der Kirche (Begriffe wie Sodomie, Unkeuschheit) noch des Staates, noch der Medizin (Homosexualität) sei, sondern allein der Natur und deshalb auch nur den Gesetzen der Natur unterstehe.
So gibt es beispielsweise im Arabischen keinen feststehenden Begriff für Lesben und Schwule. Der religiöse Begriff luti (, abgeleitet von der biblischen Figur Lots) entspricht etwa dem christlichen Terminus Sodomit und bezeichnet jemanden, der die vom Islam verbotene Handlung des Analverkehrs praktiziert. Er wird jedoch nicht im westlichen Sinn als Name für eine identitär fixierte Minderheit gebraucht. In Ägypten werden Beteiligte der in den 1990er Jahren entstandenen Homosexuellenszene von den Medien stattdessen als schaddh (, wörtlich „anormal“, „unregelmäßig“ oder „unnatürlich“; auch ) bezeichnet und diffamiert. Es gibt jedoch auch wertfreie Begriffe, die sich vom arabischen Wort ableiten – für Schwule und für Lesben –, wobei auch „Homosexualität“ an sich bedeutet.
In Simbabwe benutzt die 1990 gegründete Organisation GALZ (Gays and Lesbians of Zimbabwe) englische Termini, da die Differenz zwischen einem afrikanischen Konzept gleichgeschlechtlicher Beziehungen und einer westlichen Identität als Lesbe oder Schwuler von den damaligen Gründern, die mehrheitlich weiß und wenig politisiert waren, nicht verstanden wurde und die einzige Alternative in der Landessprache Shona der beleidigende Ausdruck ngochani gewesen wäre. Der Name blieb jedoch auch später erhalten, da internationale Menschenrechte auf der Basis einer sexuellen Identität leichter einzuklagen schienen.
In der afroamerikanischen Bevölkerung der USA hat sich während der 1990er Jahre in Abgrenzung von einer weißen Gay-Identität der Begriff Down-Low oder DL herausgebildet. Er leitet sich von der Wendung to be on the down low („es nicht an die große Glocke hängen“) ab. Um auch gleichgeschlechtlich liebende Männer ohne schwule Identität durch HIV-Präventionskampagnen zu erreichen, benutzen Aids-Organisationen mittlerweile den neutralen Terminus „Men who have Sex with Men“ (MSM). Diese kultur- und kontextsensitive Strategie hat sich mittlerweile auch auf internationalen Konferenzen durchgesetzt.
Verhalten, Orientierung und Identität
Demografische Häufigkeit
Schätzungen über die Häufigkeit von Homosexualität variieren beträchtlich und werden durch unterschiedliche, voneinander abweichende Definitionen des Gegenstands zusätzlich verkompliziert. Darüber hinaus ist anzunehmen, dass Umfragen durch die soziale Stigmatisierung der Homosexualität und die damit einhergehende Tendenz zum Verschweigen eher nach unten als nach oben verfälscht sind. So schätzten sich etwa in einer repräsentativen Emnid-Umfrage aus dem Jahr 2000 nur 1,3 bzw. 0,6 Prozent der in Deutschland lebenden Befragten als schwul bzw. lesbisch sowie 2,8 bzw. 2,5 Prozent als bisexuell ein. Gleichzeitig gaben aber 9,4 Prozent der Männer und 19,5 Prozent der Frauen an, sich vom eigenen Geschlecht erotisch angezogen zu fühlen. Im Jahr 2009 schätzten Forscher des Robert-Koch-Instituts sowie des Wissenschaftszentrum Berlin den Anteil der Männer in der Bundesrepublik, die Sex mit Männern haben, auf 2,5 bis 3,4 Prozent der Bevölkerung, was im Mittel 600.000 Personen entsprechen würde. Dem LGBT-Spektrum insgesamt ordneten sich in einer Online-Umfrage 2016 in Deutschland 7,4 Prozent der Befragten zu.
Bei einer im Jahr 2003 in Australien durchgeführten Umfrage bezeichneten sich 1,6 Prozent der Männer als homosexuell und 0,9 Prozent als bisexuell; 0,8 bzw. 1,4 Prozent der befragten Frauen gaben an, lesbisch bzw. bisexuell zu sein. In Kanada stuften sich bei einer 2003 durchgeführten Umfrage unter Männern und Frauen im Alter zwischen 18 und 59 Jahren 1,0 Prozent als homosexuell und 0,7 Prozent als bisexuell ein. In Großbritannien ergab eine Umfrage des Office for National Statistics aus dem Jahr 2011/2012, dass sich 1,1 Prozent aller befragten Personen als schwul oder lesbisch einschätzten, 0,4 Prozent bezeichneten sich als bisexuell, weitere 3,6 Prozent waren sich in Bezug auf ihre Orientierung unsicher. Laut einer repräsentativen Untersuchung des Center for Disease Control and Prevention (CDC) vom März 2011 bezeichnen sich 1,7 Prozent der amerikanischen Männer zwischen 15 und 44 Jahren als homosexuell. Gary J. Gates von der Universität Kalifornien untersuchte elf US-amerikanische und internationale Studien aus den letzten Jahren; danach ist der Anteil der sich als homosexuell und bisexuell identifizierenden Frauen und Männer in den USA 2004–2009 angestiegen. Im Schnitt lag der Anteil 2009 bei den nicht-heterosexuellen Frauen bei 3,3 % (1,1 % homosexuell) und 3,6 % bei den Männern (2,2 % homosexuell). Dies bedeutet in absoluten Zahlen, dass etwa 9 Millionen Amerikaner nicht heterosexuell sind. Laut der US-Studie National Health Interview Survey (NHIS) von 2013 bezeichneten sich 1,6 % der US-Bevölkerung als homosexuell und 0,7 % als bisexuell.
Was das tatsächliche Sexualverhalten angeht, kam der Kinsey-Report 1948 zu dem Ergebnis, dass 37 Prozent der männlichen US-Bevölkerung nach Beginn der Pubertät „zumindest einige physische homosexuelle Erlebnisse bis zum Orgasmus“ haben und weitere 13 Prozent „erotisch auf andere Männer“ reagieren, „ohne tatsächliche homosexuelle Kontakte“ zu unterhalten. Zusammengerechnet seien daher nur 50 Prozent der männlichen erwachsenen Bevölkerung ausschließlich heterosexuell und gar nur vier Prozent ausnahmslos – und über ihr gesamtes Leben hinweg – homosexuell.
Schon bei Kinsey war der Anteil von Homosexualität an der „Gesamt-Triebbefriedung“ nichts Festes, sondern hing in hohem Maße von der jeweiligen Klassenzugehörigkeit ab. So pflegten Angehörige der unteren Schichten in dieser Zeit wesentlich mehr homosexuelle Kontakte als das Bürgertum und die Eliten.
Jüngere Studien zeigen darüber hinaus, wie sehr diese Zahlen dem historischen Wandel unterliegen können. So gaben in einer Studie zur Jugendsexualität, die 1970 vom Hamburger Institut für Sexualforschung durchgeführt wurde, 18 Prozent der befragten 16- und 17-jährigen Jungen an, gleichgeschlechtliche sexuelle Erfahrungen gemacht zu haben. Zwanzig Jahre später waren es nur noch zwei Prozent – ohne dass sich der Anteil von Jungen mit heterosexuellen Kontakten dadurch signifikant erhöht hätte.
Der Sexualwissenschaftler Volkmar Sigusch erklärt diesen Einbruch gleichgeschlechtlicher Jugenderfahrungen u. a. mit der wachsenden öffentlichen Thematisierung von „Homosexualität“ und der damit verbundenen Befürchtung der Jungen, aufgrund solcher Handlungen „womöglich als ‚Schwuler‘ angesehen zu werden“. Allerdings verharrte der Anteil der Mädchen mit homosexuellen Kontakten im selben Zeitraum konstant bei sechs Prozent.
Ähnlich stellte auch die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) in ihrer repräsentativen Wiederholungsbefragung zwischen 1980 und 1996 eine Halbierung des Anteils 14- bis 17-jähriger Jungen fest, die angaben, „enge körperliche Erlebnisse“ mit dem eigenen Geschlecht gesammelt zu haben (von zehn auf fünf Prozent), während sich umgekehrt der Anteil der Mädchen, die von solchen Erlebnissen berichteten, zwischen 2001 und 2005 von acht auf 13 Prozent erhöhte.
Die tatsächliche Häufigkeit von homosexuellen Erfahrungen kann nicht überzeitlich und für alle sozialen Schichten einheitlich bestimmt werden. Gesellschaftliche und kulturelle Rahmenbedingungen beeinflussen die in Umfragen ermittelte Selbsteinschätzung zum Thema Homosexualität, sodass ein direkter Bezug auf die Tatsachenlage schwierig ist.
Coming-out
Bei vielen Personen, die sich eher zum eigenen Geschlecht hingezogen fühlen, kommt es im Laufe ihres Lebens zum sogenannten Coming-out. Mittlerweile wird dieser Prozess in zwei Phasen beschrieben: Im ersten Schritt steht das „Sich-bewusst-Werden“ oder „Sich-Selbst-Eingestehen“ im Vordergrund, also die Erkenntnis oder aber auch die Entscheidung, dass man für die gleichgeschlechtliche Liebe offen ist. Sie wird auch als inneres Coming-out bezeichnet. Die zweite Phase bezeichnet das „Sich-Erklären“, also den Schritt nach außen, das Coming-out bei Familie, Freunden oder Kollegen. Bei manchen geschieht dieser Prozess schon im jungen Alter, andere sind sich erst mit 40 oder mehr Jahren über ihre sexuelle Orientierung im Klaren.
Die meisten haben ihr Coming-out im Schulalter, also etwa zum Zeitpunkt der Pubertät. In diesem Alter trauen sich viele nicht, Hilfe von anderen zu erbitten, besonders dann, wenn sie bemerken, dass ihre Neigung gesellschaftlich nicht akzeptiert wird. Selbst die eigenen Eltern werden manchmal nicht darüber informiert. Das Coming-out kann manchmal in eine Lebenskrise führen, die sich bis hin zu suizidalen Absichten oder realisierter Selbsttötung steigern kann. Beratungsstellen in den größeren Städten und Info-Seiten im Internet versuchen diesen Menschen zu helfen, ihre Homosexualität anzunehmen. Die Suizidrate bei pubertierenden Homosexuellen ist deutlich höher als bei gleichaltrigen Heterosexuellen.
Situative Homosexualität
Unter dem soziologischen Begriff situationsbezogene Homosexualität ( situational homosexuality), die manchmal noch als „Pseudohomosexualität“ bezeichnet wird, versteht man gleichgeschlechtliche Handlungen von Personen, die nach standardmäßiger Definition keine homosexuelle, ja nicht einmal eine bisexuelle Orientierung haben, also heterosexuelle Sexualkontakte bevorzugen. Grundgedanke ist, dass die Aktivität nie passiert wäre, wenn sich die Menschen nicht in einer ungewöhnlichen Situation befunden hätten. Solche Männer werden auch der Gruppe der heterosexuellen Männer, die Sex mit Männern haben (englisch: Straight Men Who Have Sex with Men, SMSM) zugerechnet.
Situationsbedingte Homosexualität kommt vor allem in Umgebungen vor, in denen über längere Zeit nur Personen des gleichen Geschlechts leben. Als typische Orte gelten Haftanstalten, Erziehungsanstalten, Schiffe auf See, U-Boote, Bohrinseln, Kasernen, Klöster und Konvente, Internate, Sportteams auf Tournee und abgelegene Arbeitslager etwa bei Minen oder Großbauprojekten. Vor allem dort wird sie auch als Not-Homosexualität, Knasthomosexualität und während des Nationalsozialismus als Lagerhomosexualität bezeichnet. In der Wissenschaft spricht man manchmal auch von bisexuellem Sexualverhalten, homosexuellen Ersatzhandlungen oder experimenteller Homosexualität. Unter situative Homosexualität fällt auch oft mannmännliche Prostitution; diese ist Standardbeispiel für Pseudohomosexualität. Jugendliche gleichgeschlechtliche Handlungen werden nur in getrenntgeschlechtlichen Umgebungen dazugezählt, manchmal werden sie als Entwicklungshomosexualität bezeichnet. Einige Aspekte in dieser sonst eigenen Betrachtung von Jugendlichen sind aber der situativen Homosexualität sehr ähnlich.
Im Jahr 1826 berichtete Reverend Louis Dwight über die Verhältnisse in amerikanischen Gefängnissen. Dies ist der früheste Bericht über amerikanische Strafanstalten. Josiah Flynt beschrieb 1899 situationsbezogenen Sex bei den amerikanischen Hobos, mit denen er reiste. Hans Otto Henel beschrieb 1926 in Eros im Stacheldraht die Situation im Ersten Weltkrieg, was Karl Plättner zu seinem 1929 erschienenen Werk Eros im Zuchthaus inspirierte. Viele erotische Fantasien und Geschichten spielen in Settings mit situativer Homosexualität.
Nachdem viele Gesellschaften homosexuelle Identität und offen homosexuelles Leben ablehnen, ist es oft schwer herauszufinden, was hinter einer individuellen heterosexuellen Identität steckt. Manchmal kann auch sozialer Druck und internalisierte Homophobie zu einer solchen Identität führen. Möglicherweise würden sich mehr Menschen als bisexuell identifizieren, wenn es sowohl von der heterosexuellen wie auch der homosexuellen Gesellschaft stärker akzeptiert würde. Das Konzept der situativen Homosexualität wirft Fragen auf, inwiefern aktives Sexualverhalten interne Wünsche ausdrückt und durch externe Umstände beeinflusst wird. Sexuelle Orientierung ist ein sehr komplexes System mit vielen Zwischenstufen zwischen zwei Extremen oder auf zwei getrennten Skalen und genauer betrachtet sogar gleichzeitig auf mehreren emotionalen Ebenen. Die Entbehrung gegengeschlechtlicher Sexualkontakte wird von unterschiedlichen Personen verschieden bewältigt. Schon im späten 19. Jahrhundert erkannte man, dass manche Individuen niemals gleichgeschlechtliche Aktivität zeigen, egal wie lange und wie intensiv sie heterosexuellen Kontakt entbehren. Ebenso zeigen auch viele homosexuelle Menschen keine heterosexuelle Aktivität, auch wenn Homosexualität repressiv behandelt wird und praktisch nicht durchführbar ist. Grundsätzlich geht man davon aus, dass durch nicht der sexuellen Orientierung entsprechende Handlungen dieselbe nicht beeinflusst wird. Dazu nicht im Widerspruch zeigen kulturübergreifende Vergleiche, dass gleichgeschlechtliches Sexualverhalten in Situationen gegengeschlechtlicher Entbehrungen öfter vorkommt, vor allem bei Männern in ihrer sexuellen Hauptzeit.
In vielen Kulturen wird situationsbezogene Gleichgeschlechtlichkeit toleriert. Manche sozialen Analysten gehen davon aus, dass situative Homosexualität verwendet wird, um Homophobie und Biphobie zu bekräftigen, indem jenen, die homosexuelle Sexualkontakte in gleichgeschlechtlichen Umgebungen haben, erlaubt wird, sich weiter als heterosexuell zu definieren. Oft wird in solchen Umgebungen zwischen „echten Homosexuellen“ und jenen, die heterosexuell bleiben, unterschieden. Erstere sind sozial stigmatisiert, während ihr Partner es nicht ist. Durch diese Unterscheidung wird Homophobie bestärkt, obwohl gleichgeschlechtliche Aktivität toleriert wird. Auch wenn sie oft stillschweigend erwartet wird und zu einem gewissen Grad toleriert wird, wird trotzdem erwartet, dass sie versteckt bleibt. Wird sie öffentlich sichtbar, so wird sie bestraft, selbst wenn jeder davon gewusst hat. Der „echte Homosexuelle“ wird dabei oft härter bestraft als sein mutmaßlich heterosexueller Partner, welcher vorgeblich nur aus der Situation heraus handelt. Oft wird die Unterscheidung auch dadurch getroffen, wer beim Sex „aktiver/männlicher“ und wer „passiver/weiblicher“ Partner ist. Diese Anzeichen zeigten sich beispielsweise auch in Südeuropa und vor allem im Orient (Nordafrika bis Pakistan) mit streng getrenntgeschlechtlicher Gesellschaft, wohin viele Europäer vor der hier schon herrschenden starken Ablehnung „flüchteten“ und welcher hierzulande teilweise einen schlechten Ruf hatte. Erst in den 1960er Jahren änderte sich dort die Haltung, manchmal existieren aber noch alte Traditionen weiter oder flammen wieder auf.
Abgrenzung zu Transgeschlechtlichkeit
Während es bei Homosexualität um das Geschlecht des erotisch bevorzugten Partners geht, geht es bei Transpersonen um das Empfinden der eigenen Geschlechtsidentität (auch Transidentität, veraltend Transsexualität), die unabhängig von der sexuellen Orientierung ist. Beide sind aber Teile der mehrschichtigen sexuellen Identität.
Beziehungen zu Personen gleichen Identitätsgeschlechts werden dabei als homosexuell empfunden, solche zu Personen eines anderen Identitätsgeschlechts als heterosexuell, wobei die Quote der homo- oder bisexuell empfindenden Transpersonen weit höher liegt als die von Cisgender-Personen; je nach Schätzung sind dies mindestens ein Drittel. In älterer Fachliteratur findet sich noch der Gebrauch von Homo- bzw. Heterosexualität relativ zum ursprünglich zugewiesenen Geschlecht, also würde beispielsweise eine mit einem Mann verheiratete trans Frau als homosexuell beschrieben, konträr zu ihrem Empfinden, ein schwuler trans Mann als heterosexuell. In der neueren Literatur nimmt diese Verwendung kontinuierlich ab, in hauptsächlich sozialwissenschaftlich geprägten Texten ist er nicht mehr zu finden.
Aufgrund der ursprünglichen, als abwertend empfundenen Verwendung und aufgrund der Schwierigkeiten, gleich und verschieden genau zu definieren, bevorzugen viele trans Personen anstelle von homo- und heterosexuell als Selbstbezeichnungen schwul, lesbisch, queer und andere. Selten werden die (für den Begehrenden geschlechtsneutralen) Begriffe „Gynäkophilie“ oder „Androphilie“ verwendet.
Dass Homosexualität oft mit Transgeschlechtlichkeit und manchmal auch Intergeschlechtlichkeit in Verbindung gebracht wird, hat mehrere Gründe:
Früher bestand keine genaue Abgrenzung zwischen Homosexualität – Transvestitismus – Travestie – Transsexualität. Hirschfeld verwendete selten, aber in für das breite Publikum verfasste Broschüren und Bücher, die Bezeichnung Dritten Geschlecht und sprach allgemein von sexuellen Zwischenstufen. Später trennte er jedoch den Transvestitismus ab und dachte schon an eine Abtrennung der Transsexualität, was durch den Krieg erst in den 1950er Jahren in den USA weitergedacht wurde. Die Idee vom Dritten Geschlecht hat sich, wenn nicht in der Wissenschaft, so doch sozial bis mindestens in die 1970er Jahre gehalten. Heute werden als queer beide Gruppen, beziehungsweise alle Menschen, die dem heteronormativen Muster nicht entsprechen, verstanden.
In verschiedenen individuellen Biographien von transgeschlechtlichen oder intergeschlechtlichen Personen finden sich immer wieder verschieden lange Zeitabschnitte, in denen vermutet wird, homosexuell oder Transvestit zu sein, bis dies wieder verworfen wird und sich die wahre Ursache herauskristallisiert. So beispielsweise bei dem als Pseudohermaphrodit geborenen Skirennläufer Erik Schinegger, der glaubte, lesbisch zu sein; Chaz Bono, der 1990 ein Coming-out als lesbisch und 2008 als transgeschlechtlich hatte; und Christian Schenk.
Teile der lesbisch-schwulen Subkultur waren oft der einzige Ort, an dem Transmenschen in ihrem empfundenen Geschlecht sozial akzeptiert wurden. Ebenso konnten dort Transvestiten verkehren und mit der künstlerischen Travestie gibt es ebenfalls ein enges Verhältnis.
In Mitteleuropa schon selten, aber bei Zuwanderern aus dem islamischen Kulturkreis und aus den ehemaligen Ostblockländern noch öfter zu beobachten ist die Ichdystone Sexualorientierung, welche von der Transgeschlechtlichkeit abzugrenzen ist. Durch gesellschaftlich vorgegebene Skripte („man kann nicht dasselbe Geschlecht lieben“) können Menschen dazu gebracht werden, sich dem anderen Geschlecht zugehörig zu fühlen. Heute ist hierbei vor allem der Iran herausstechend, in dem homosexuelle Handlungen von Männern mit dem Tode bestraft werden, Transgeschlechtlichkeit aber als durch Operation behandelbare Krankheit gilt.
Recht
Rechtlicher Status
Weltweit werden derzeit (Stand: Mai 2012) Homosexuelle in 78 der 193 Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen strafrechtlich verfolgt, so etwa in Nigeria, Uganda, Tansania, Simbabwe, Angola, Jamaika, Belize und in den meisten islamischen Staaten, wobei in fünf dieser Länder – Iran, Jemen, Sudan, Saudi-Arabien und Mauretanien – sowie in Teilen Nigerias und Somalias die Todesstrafe für gleichgeschlechtlichen Verkehr vorgesehen ist. In Indien und dem Irak ist die rechtliche Lage unklar oder nicht überschaubar.
Aber auch in Teilen Europas, zum Beispiel in Russland, Belarus, Albanien und sogar in manchen der neuen EU-Länder ist die Lage der Menschenrechte derzeit bedenklich: So werden in Polen und Lettland Demonstrationen für Toleranz gegenüber Schwulen und Lesben von offiziellen Stellen verboten oder teilweise mit massiver Gewalt konfrontiert, die von den Kirchen und rechtsradikalen Nationalisten geschürt wird. In Polen wurden während der ersten PiS-Regierung unter Jarosław Kaczyński Forderungen einiger führender Politiker laut, Homosexuelle in Lager zu stecken bzw. aus Polen zu eliminieren; allerdings befasste sich der Sejm nicht damit. Im Frühjahr 2007 wurde über ein Gesetz beraten, das selbst die Erwähnung von Homosexualität durch Lehrer unter Strafe stellen sollte. So sollte laut dem Gesetzesprojekt auch Aufklärung darüber verboten werden, wie sich homosexuelle Männer vor Aids schützen können; Lehrer, die dagegen verstießen, sollten aus dem Schuldienst entlassen werden. Doch kam dieses Gesetzesprojekt nie zur Abstimmung und wurde mit der Abwahl Kaczyńskis im Herbst desselben Jahres gegenstandslos.
In der UNO versuchen der Vatikan und die islamischen Staaten gemeinsam, allein nur die Diskussion über die Menschenrechtslage für Schwule und Lesben zu verhindern. Für gewisses Aufsehen sorgte die Verhinderung bzw. Störung schwul-lesbischer Demonstrationen, Prides und Petitionsübergaben in Warschau, Riga und in Moskau durch die Polizei in den Jahren 2005, 2006 und 2007, wobei auch der parlamentarische Geschäftsführer und Bundestagsabgeordnete von Bündnis 90/Die Grünen Volker Beck kurzfristig verhaftet wurde.
Unabhängig von der Diskriminierung durch benannte gesellschaftliche Gruppen oder fehlenden Schutz durch staatlichen Eingriff, sind Schwule und Lesben auch häufig homophoben Angriffen ausgesetzt, die durch Menschen mit Angst vor der eigenen, latent vorhandenen Homosexualität ausgeübt werden. So zeigen wissenschaftliche Untersuchungen mit nach eigenem Bekunden heterosexuellen Männern, dass jene, die sich homophob äußerten, deutlich stärker auf gleichgeschlechtliche sexuelle Reize reagierten als solche, die sich nicht homophob geäußert hatten. Andere Untersuchungen legen nahe, dass Männer, die bezüglich dessen, was sie für typisch männliche Eigenschaften halten, dahingehend verunsichert werden, dass sie möglicherweise selbst nicht diesem Bild entsprechen, dies durch ausgeprägten Machismus und Aggression gegen Homosexuelle überkompensieren wollen.
Anerkennung von Partnerschaften
Die weitgehende rechtliche Gleichstellung von Lesben und Schwulen mit Heterosexuellen wird in der Lesben- und Schwulenbewegung überwiegend begrüßt, auch wenn es immer noch umstritten ist, ob man sich damit gesellschaftlich und beziehungsdynamisch den klassischen Normen der „bürgerlichen Ehe“ annähern möchte, bei denen einige noch meinen, Überbleibsel einer patriarchalen Gesellschaftsordnung zu finden, mit einer strengen Aufteilung von Geschlechtsrollen, die für eine gleichgeschlechtliche Beziehung nicht anwendbar wären.
Gesetzliche Regelungen für gleichgeschlechtliche Partnerschaften gibt es bereits in einer Reihe von Ländern. Mehrere Länder haben die Ehe für gleichgeschlechtliche Paare ermöglicht: Niederlande (2001), Belgien (2003), Spanien (2005), Kanada (2005), Südafrika (2006), Norwegen (2009), Schweden (2009), Portugal (2010), Island (2010), Argentinien (2010), Dänemark (2012), Neuseeland (2013), Uruguay (2013), Brasilien (2013), Frankreich (2013), Vereinigtes Königreich (2014), Irland (2015), Luxemburg, Homosexualität in den Vereinigten Staaten (2015, siehe hierzu Anerkennung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften in den Vereinigten Staaten), Kolumbien (2016), Finnland und Deutschland (2017). In Österreich und Australien ist die Eheöffnung für gleichgeschlechtliche Paare im Dezember 2017 beschlossen worden und wird in Österreich spätestens am 1. Januar 2019 und in Australien am 1. Januar 2018 in Kraft treten.
In vielen weiteren Ländern existieren registrierte Partnerschaften, die teilweise dieselben Rechtswirkungen wie die Ehe haben, teilweise jedoch auch geringere Rechte, wie z. B. die Eingetragene Lebenspartnerschaft in der Schweiz.
In Deutschland gibt es seit dem 1. August 2001 das Rechtsinstitut der Lebenspartnerschaft. Nach ihrer Verabschiedung durch den Bundestag meldeten einige Politiker Zweifel daran an; die unionsregierten Länder Bayern, Sachsen und Thüringen bemühten sich sogar um eine völlige Aufhebung des Gesetzes vor dem Bundesverfassungsgericht. Dieses stellte jedoch klar, dass einer vollständigen Gleichstellung mit der Ehe nichts im Wege stünde, da die Lebenspartnerschaft mit der Ehe schon allein deshalb nicht konkurriere, weil sie einen anderen Personenkreis betreffe.
Die Lebenspartnerschaft entspricht – was das Bürgerliche Gesetzbuch betrifft – weitestgehend der Ehe. Lediglich die gemeinschaftliche Adoption von nichtleiblichen Kindern ist nicht möglich. Lebenspartner können aber das leibliche Kind ihres Partners adoptieren (sogenannte Stiefkindadoption). Auf diese Weise können zwei Frauen oder zwei Männer rechtlich gemeinschaftliche Eltern von Kindern werden. Ebenso erlaubt wurde im Februar 2013 durch Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes die sukzessive Zweitadoption eines adoptierten Kindes. Auch in der gesetzlichen Kranken-, Pflege- und Rentenversicherung (unter anderem Witwenrente) sind Lebenspartner mit Ehegatten gleichgestellt. Sie leben – wie Ehegatten – im Güterstand der Zugewinngemeinschaft, wenn sie nichts anderes vereinbaren. Gleichbehandlung erfolgt nach der Trennung auch beim Unterhaltsrecht. Es gelten Befangenheitsvorschriften und Zeugnisverweigerungsrechte wie bei Eheleuten auch. Zudem ist ein Verlöbnis für Lebenspartner entsprechend dem Verlöbnis für Ehegatten rechtswirksam.
Im Bundesbeamtenrecht werden Lebenspartner rückwirkend ab 2001 (etwa Familienzuschlag oder Hinterbliebenenpension) gleichbehandelt. Hier erfolgte die Gleichstellung gegen den Widerstand der CDU/CSU-Fraktion im Bundestag und der unionsregierten Länder im Bundesrat durch Urteil des Bundesverfassungsgerichtes, das parlamentarisch gesetzlich danach umgesetzt wurde. Die Zuständigkeit für das Beamtenrecht ist inzwischen durch die Föderalismusreform auf den Bund für seine Beamten und auf die Bundesländer für die Landesbeamten übergegangen. Als erstes Bundesland hat Bremen seine verpartnerten Beamten und Richter mit seinen verheirateten Beamten und Richtern gleichgestellt; danach folgten Berlin, Hamburg, Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg, Rheinland-Pfalz, Saarland, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Sachsen-Anhalt, Schleswig-Holstein, Hessen, Baden-Württemberg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen und Bayern.
Im Zuge der Erbschaftsteuerreform wurden im Januar 2011 die eingetragenen Lebenspartnerschaften der Ehe gleichgestellt. Im Einkommenssteuerrecht (Einkommensteuer) werden seit 2013 Lebenspartner gleichbehandelt. Eine Angleichung bei der Einkommensteuer, im Rahmen des Ehegattensplittings erfolgte im Sommer 2013, nachdem zuvor ein Urteil des Bundesverfassungsgerichtes zugunsten homosexueller, verpartnerter Paare erging.
Radikalere Teile der Lesben- und Schwulenbewegung lehnen die Lebenspartnerschaft – als Ehe light verpönt – und die damit verbundene notwendige Sondergesetzgebung für Homosexuelle ab. Stattdessen fordern sie die Abschaffung der Ehe und plädieren für sogenannte „Wahlverwandtschaften“ auf Zeit.
Am 30. Juni 2017 beschloss der Bundestag die Öffnung der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare.
In der Schweiz wurde zuerst im Kanton Genf am 1. Mai 2001 eine PACS eingeführt, welche die Eintragung von homosexuellen wie auch heterosexuellen Partnerschaften ermöglichte. Am 22. September 2002 wurde im Kanton Zürich eine eingetragene Partnerschaft vom Stimmvolk mit 62,7 % Ja-Anteil genehmigt. Diese Regelung ging um einiges weiter als die Genfer Lösung und stellte eingetragene Lebenspartnerschaften Ehepaaren gleich, soweit dies in der Kompetenz des Kantons lag. Mit Beschluss des Kantonsparlaments vom 27. Januar 2004 führte auch der Kanton Neuenburg die registrierte Partnerschaft für unverheiratete Paare ein.
Am 5. Juni 2005 stimmte das gesamte Schweizer Stimmvolk über das Partnerschaftsgesetz (PartG) zur eingetragenen Partnerschaft ab. Es war das erste nationale Referendum über diese Frage weltweit. 58 % der teilnehmenden Stimmberechtigten stimmten dem Gesetz zu. Ziemlich homogene Mehrheiten gab es vor allem im Mittelland vom Kanton St. Gallen bis zum Kanton Genf; nicht nur Städte stimmten zu, sondern auch ländlichere Gebiete. Ablehnend verhielten sich vor allem ländlich-bäuerliche, katholische Kantone. Das Gesetz angenommen haben insgesamt 16,5 von 23 Kantonen. Die eingetragene Partnerschaft in der Schweiz schafft eine Gleichstellung mit der Ehe in Steuerfragen, Sozialleistungen, Erbrecht, Besuchsrecht, Zeugnisverweigerungsrecht etc. Es unterbindet aber ausdrücklich den Zugang zur Fortpflanzungsmedizin und die Adoption. Die eingetragene Partnerschaft in der Schweiz hat Auswirkungen auf den Zivilstand. Der Zivilstand ist nicht mehr „ledig“, sondern „in eingetragener Partnerschaft“. Das Gesetz trat am 1. Januar 2007 in Kraft.
In Österreich trat – nachdem im Herbst 2007 eine Perspektivengruppe der Koalitionspartei ÖVP und ein Teil des Parteivorstandes entschieden hatten, dass es ein Rechtsinstitut geben soll – am 1. Januar 2010 das Eingetragene Partnerschaft-Gesetz in Kraft. Nach einem Meinungsaustausch mit dem Juristen Helmut Graupner waren viele sogar für eine Öffnung der Ehe, was auch einer der Vorschläge an den Parteivorstand war. Laut Bundesparteiobmann und Vizekanzler Wilhelm Molterer diente die Schweiz als Vorbild.
Ein Gegenpol zu den Bestrebungen zur Gleichstellung homosexueller Beziehungen mit der Ehe findet sich in den Vertretern der Lebensformenpolitik. Das Aufwachsen von Kindern in gleichgeschlechtlichen Partnerschaften und die sich damit stellenden rechtlichen Fragen werden unter dem Begriff „Regenbogenfamilie“ diskutiert. Die Kinder stammen meist aus früheren Beziehungen, andere sind Pflege- oder Adoptionskinder, wurden durch künstliche Befruchtung oder heterologe (Heim)-Insemination mit Samen von persönlich bekannten oder anonymen Spendern gezeugt oder zwei Paare arrangieren eine Co-Elternschaft, Leihmütter kommen schon durch die rechtlichen Gegebenheiten eher selten zum Einsatz.
Arbeitsrecht
Mit der Verabschiedung der europäischen Richtlinien zur Antidiskriminierung im Arbeitsrecht sind Kündigungen und sonstige diskriminierende Maßnahmen aufgrund Bekanntwerdens der homosexuellen Identität von Mitarbeitern in der Privatwirtschaft sowie von Angestellten und Beamten im öffentlichen Dienst in den Mitgliedstaaten der EU unzulässig. Ausnahmen bestehen für weltanschauliche Organisationen und Vereinigungen. Diese können . Diese Regelungen haben mit § 8 Abs. 1 und § 9 des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes Eingang in deutsches Recht gefunden.
Entsprechend finden im deutschen Arbeitsrecht auch die ethischen Positionen der Kirchen und anderer Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften Anwendung. Für Homosexuelle bedeutet dies, dass sie von Organisationen oder Vereinen, bei denen die Ablehnung von Homosexualität oder homosexuellen Handlungen zum Ethos gehört, entlassen werden können.
In der römisch-katholischen Kirche wird gelebte Homosexualität als nicht mit dem christlichen Glauben vereinbar angesehen.
Angestellte der katholischen Kirche, welche sich offen zu ihrer Homosexualität bekennen, werden daher in der Regel entlassen. Ein solcher Widerspruch wird auch gesehen, wenn eine Gleichgeschlechtliche Lebenspartnerschaft nach dem Lebenspartnerschaftsgesetz eingegangen wird. Vergleichbar zu geschiedenen Kollegen, die erneut heiraten, erfolgt daher meist die Entlassung wegen Verletzung der Loyalitätspflichten als Arbeitnehmer.
So wurde im Jahr 2010 beispielsweise einer weiblichen Reinigungskraft eines katholischen Kindergartens des Bistums Essen gekündigt, weil sie eine eingetragene Lebenspartnerschaft mit einer Frau eingegangen war. In einzelnen kirchennahen katholischen Organisationen kann auch bereits ein Chatprofil bei einem Internetportal für Homosexuelle zu einer fristlosen Entlassung führen, wenn es der Organisationsleitung bekannt wird (siehe Kirchen als Tendenzbetrieb). Eine solche Kündigung hatte aber vor dem Arbeitsgericht Frankfurt keinen Bestand.
2005 hat der Heilige Stuhl ferner eine Instruktion veröffentlicht, in der Personen mit „tiefsitzenden homosexuellen Tendenzen“ und „Unterstützer einer homosexuellen Kultur“, als nicht geeignete Kandidaten für Weihämter, wie Priester oder Diakon, angesehen werden. Personen mit weniger „tiefsitzenden homosexuellen Tendenzen [die] Ausdruck eines vorübergehenden Problems wie etwa einer nicht abgeschlossenen Adoleszenz“ wären, sollten „mindestens drei Jahre vor der Diakonenweihe“ ausgeschlossen sein. Im Mai 2015 hob die Deutsche Bischofskonferenz die „Erklärung zur Unvereinbarkeit von Lebenspartnern nach dem Lebenspartnerschaftsgesetz“ vom 24. Juni 2002 auf.
Demgegenüber sind Beschäftigte, auch Pastoren, in den evangelischen Landeskirchen der EKD von einer arbeitsrechtlichen Kündigung oder Disziplinarmaßnahme nicht bedroht, wenn sie mit ihrem Partner oder ihrer Partnerin eine standesamtliche Lebenspartnerschaft eingehen oder ihre homosexuelle Identität in sonstiger Weise bekannt wird. In einigen Landeskirchen der EKD sind sie sogar besoldungsrechtlich zur Ehe gleichgestellt, was auch in der altkatholischen Kirche der Fall ist.
Gleichstellung im Militär
Insgesamt hat die Bundeswehr – nicht zuletzt durch den zunehmenden Anteil von Soldatinnen – ihr Bewusstsein für Sexualität weiterentwickelt. Dies begann Ende 2000 durch die Änderung der Führungshilfe für Vorgesetzte, Band 2, A.III.7. Darin wird verlangt, dass militärische Vorgesetzte im Blick auf sexuelle Minderheiten („Toleranz gegenüber anderen nicht strafbewehrten sexuellen Orientierungen“ also einschließlich transgeschlechtlicher Soldaten) aktiv „jeder Diskriminierung energisch entgegentreten“ müssen.
Auch mit dem im Rechtsrang höher stehenden Sexualerlass Umgang mit Sexualität in der Bundeswehr zur Zentralen Dienstvorschrift (ZDv) 14/3, Anlage B 173, ist eine Diskriminierung verboten worden. Mit der letzten Änderung im Juli 2004 ist nach jahrzehntelanger Ächtung homosexueller Vorgesetzter, die unter Billigung höchstrichterlicher Rechtsprechung mit Versetzungen und sogar Entlassungen rechnen mussten – wie etwa bei der Kießling-Affäre – ein liberalerer Umgang mit der Sexualität gewählt worden:
Eine weitere Änderung trat mit dem Soldatinnen- und Soldaten-Gleichbehandlungsgesetz (SoldGG) im Jahr 2006 in Kraft, durch das verboten sind, aber zusätzlich von diesem Maßstab der Nichtdiskriminierung auch der berufliche Erfolg abhängt, nämlich bei . Diese Einfügung ist wegen der Geltung der Grundrechtecharta rein deklaratorisch.
Künftig sind demnach grundsätzlich alle Beziehungsformen in den Privatbereich verwiesen. Homosexuelle Beziehungen können außer Dienst auch innerhalb militärischer Anlagen gepflegt werden, auch spielt der Dienstgrad der Beziehungspartner keine Rolle mehr. Soldatinnen und Soldaten in eingetragener Lebenspartnerschaft haben eine eigene Personenstandsbezeichnung (ELP) und sind berechtigt, Trennungsgeld zu erhalten.
Der Verein QueerBw vertritt die Belange homosexueller Menschen in der Bundeswehr.
Geschichte
Historische Anthropologie
Eine jüngere Generation von lesbisch-schwulen Soziologen, Philosophen und Historikern wie Mary McIntosh (The Homosexual Role, 1968), Michel Foucault (La Volonté de savoir, 1976), Alan Bray (Homosexuality in Renaissance England, 1982) oder gegenwärtig insbesondere David M. Halperin (How to do the History of Homosexuality, 2002) betrachtet Homosexualität nicht mehr als eine überzeitliche Essenz, sondern als eine Erfindung der europäischen Neuzeit. Damit ist nicht gemeint, dass Frauen und Männer an anderen Orten und zu anderen Zeiten keinen gleichgeschlechtlichen Sex gehabt hätten. Vielmehr beziehen die genannten Autoren die Position, dass unsere heutige Auffassung von Homosexualität als „Seinsweise“, die eine Minderheit von einer Mehrheit unterscheidet, eine verhältnismäßig junge Konstruktion sei.
Sodomitisches Laster
Das theologische Modell der Sodomie, das dem modernen Begriff der Homosexualität vorausging, steht zu diesem in einem deutlichen Gegensatz. Sodomie – als „widernatürlicher“ (Platon) Verkehr zwischen Männern, aber auch zwischen einem Mann und einer Frau – wurde als ein allgemeinmenschliches Laster angesehen und nicht einer bestimmten Kategorie von Personen zugeordnet. Foucault spitzte diesen Unterschied zu, indem er in einer berühmt gewordenen Sentenz behauptete: „Der Sodomit war ein Gestrauchelter, der Homosexuelle ist eine Spezies.“ (siehe auch Sodomiterverfolgung).
Neben dem Diskurs der Sodomie, der sich im Mittelalter vor allem auf den Akt des Analverkehrs bezog, gab es jedoch auch Begriffe, die eine positive Sichtweise ausdrückten, wie etwa den der Freundschaft.
Freundschaft als Lebensweise
„Freundschaft“ konnte fast zu allen Zeiten auch eine romantische Beziehung zwischen zwei Personen des gleichen Geschlechts bezeichnen. Küssen, Umarmen und Händchenhalten, das gemeinsame Schlafen in einem Bett (daher der altertümliche Begriff des „Bettgenossen“) ebenso wie leidenschaftliche Liebesbekundungen und Treueschwüre wurden unter Männern bis weit in die frühe Neuzeit und oft sogar noch am Beginn des 20. Jahrhunderts als völlig normal wahrgenommen. Unter Frauen ist das – seit Ende des 19. Jahrhunderts allerdings mit immer größeren Einschränkungen – teilweise auch heute noch der Fall. Die Semantiken (Bedeutungsinhalte) von Freundschaft und Liebe waren deshalb kaum voneinander zu unterscheiden. Das griechische Wort philos (φίλος) etwa kann sowohl ‚Freund‘ als auch ‚Geliebter‘ bedeuten.
Im Christentum wurden solche Beziehungen nur selten mit der „monströsen“ Figur des Sodomiten in Verbindung gebracht, und wenn, dann meist im Rahmen einer politischen Intrige (wie im Fall von Eduard II. oder dem mittelalterlichen Templerorden).
Geschworene Brüder
Die christliche Mystik lud, beeinflusst vom islamischen Sufismus, die Liebe zwischen Freunden sogar mit einer religiösen Bedeutung auf. Ebenso adaptierte das Christentum den sowohl im Gilgamesch-Epos wie in der jüdischen Bibel, aber auch im Satyricon für eine Liebesbeziehung zwischen zwei Männern verwendeten Begriff des „Bruders“ (Schwurbruderschaft). Zu deren Vereinigung hatte die orthodoxe Kirche den Ritus des „Brüdermachens“ (Adelphopoiesis) ausgearbeitet, der den beiden Freunden für ihre Liebe, die bis in den Tod anhalten sollte, zahlreiche Heiligenpaare als Vorbilder nannte. Dies schloss die parallele Eheschließung mit einer Frau jedoch nicht aus. Im lateinischen Westen, wo bis weit in die Neuzeit weder Eheleute noch geschworene Brüder (fratres iurati) der Segnung eines Priesters bedurften, sind zumindest eine Reihe von Grabmälern erhalten, in denen Männer- und später auch Frauenpaare miteinander bestattet wurden. Die Gravuren enthalten oft Symbole unsterblicher Liebe wie beispielsweise die Darstellung eines Kusses oder die Inschrift „Im Leben vereint, im Tode nicht getrennt“. Dass Schwurbruderschaften als von der Kirche akzeptierte gleichgeschlechtlicher Partnerschaften (d. h. inkl. genitaler Handlungen) in der Form der Adelphopoiesis legitimiert wurden, ist jedoch nicht haltbar. Der ursprüngliche Zweck der Adelphopoiesis war, eine geistige Verwandtschaft (wie bei einer Taufpatenschaft) herzustellen. Die Schwurbruderschaft muss aber tatsächlich auch von gleichgeschlechtlich Liebenden in Anspruch genommen worden sein, denn aus diesem Grund wurde dieser Ritus vom oströmischen Recht und von der orthodoxen Kirche später wieder abgeschafft, bzw. verboten.
Strafrechtliche Verfolgung
Bis zum Hochmittelalter galt der Analverkehr im christlichen Bereich als Sünde, aber noch nicht als Verbrechen; folglich drohte höchstens eine Kirchenbuße und ein zeitweiliger Ausschluss von der Eucharistie, aber noch keine weltlichen Maßnahmen. Vom 13. Jahrhundert bis zur Aufklärung wurde Analverkehr zwischen Männern dann in fast ganz Europa unter der Bezeichnung „Sodomie“ durch weltliche Gesetze mit dem Scheiterhaufen bedroht, hier wird noch von der Sodomiterverfolgung gesprochen. Zu größeren Verfolgungen und jeweils Hunderten von Hinrichtungen kam es während des Spätmittelalters in Norditalien und Spanien sowie während des gesamten 18. Jahrhunderts auch in England, Frankreich und den Niederlanden.
Die Ideen der Französischen Revolution führten in zahlreichen Staaten, die sich am französischen Code pénal orientierten, um 1800 herum zur Abschaffung aller Gesetze gegen die „widernatürliche Unzucht“ (so etwa in den Niederlanden, im Rheinland und in Bayern). Preußen wandelte 1794 mit der Einführung des Allgemeinen Landrechts die Todesstrafe in eine Zuchthausstrafe um. 1871 wurde der preußische Paragraph in das Reichsstrafgesetzbuch des Deutschen Reichs aufgenommen und als § 175 in der folgenden Zeit immer häufiger angewandt.
Wandel von der Straftat zur „psychischen Krankheit“
Großen Einfluss hatte zu dieser Zeit der deutsch-österreichische Psychiater und Rechtsmediziner Richard von Krafft-Ebing. Seine durch Kriminalfälle und in der Psychiatrie gewonnenen Forschungen stellten Homosexuelle als erblich belastete Perverse dar, die für ihre angeborene „Umkehrung“ des Sexualtriebes nicht verantwortlich seien und deshalb nicht in die Hände eines Strafrichters, sondern in die von Nervenärzten gehörten. Diesen erschloss er damit ein neues „Patientengut“ für Zwangsbehandlung und Forschungsexperimente.
In seinem Buch Psychopathia Sexualis (1886, das Buch wurde zu einem Standardwerk) definierte er die Homosexualität als angeborene neuropsychopathische Störung, also als eine erbliche Nervenkrankheit.
Diese Diagnose erlaubte es ihm, sich für eine vollständige Straffreiheit der Homosexualität auszusprechen, da Homosexuelle für ihre „Missbildung“ nicht selbst verantwortlich seien und die Homosexualität nicht ansteckend sei. Allerdings wurde Homosexualität dadurch erst pathologisiert und homosexuelle Menschen für unzurechnungsfähig erklärt. Obwohl Krafft-Ebing zu seiner Zeit als maßgebliche Instanz auf dem Gebiet der Gerichtsmedizin galt, blieb diese Theorie für die Straflosigkeit folgenlos, da vor allem kirchlich-konservative Kreise auf die moralische Ächtung der Homosexuellen nicht verzichten wollten.
Bis zur Reform des § 175 im Jahr 1969 arbeitete die Polizei dabei mit Spitzeln in der schwulen Subkultur und geheimen Rosa Listen, auf denen zahlreiche Namen von homosexuellen Männern verzeichnet waren. Da Homosexualität verfolgt und bis in die 1970er Jahre als psychische Erkrankung diagnostiziert wurde, konnten Homosexuelle auch auf unbestimmte Zeit freiheitsentziehend in einer forensischen Psychiatrie untergebracht werden. Ein Beispiel ist die „Behandlung“ des britischen Mathematikers und Computerpioniers Alan Turing im Jahr 1952, der wenig später starb, wahrscheinlich durch Suizid.
1990 hat die Weltgesundheitsorganisation (WHO) Homosexualität von der Liste psychischer Krankheiten gestrichen.
Verfolgung in der Zeit des Nationalsozialismus
Die Schätzungen hinsichtlich der Zahl der schwulen Männer, die während der Zeit des Nationalsozialismus in Konzentrationslagern ihr Leben lassen mussten, variieren erheblich. Die wohl verlässlichsten Zahlen stammen bis heute von Rüdiger Lautmann. Er schätzte die Zahl der in Konzentrationslager verschleppten homosexuellen Männer auf 10.000 bis 15.000. Von ihnen kamen etwa 53 % ums Leben. Der Grund für z. T. erheblich darüber hinausgehende Schätzungen liegt u. a. darin, dass nicht ermittelt werden kann, wie viele aus anderen Gründen ermordete Menschen homosexuell waren.
Einige Männer wurden trotz ihrer, dem NS-Regime bekannten Homosexualität geduldet. Zu nennen sind etwa Reichswirtschaftsminister Walther Funk, der 1946 wegen seiner Verbrechen zu lebenslanger Haft verurteilt wurde, und der schwule Bildhauer Arno Breker, der von Adolf Hitler und Joseph Goebbels auf die Gottbegnadeten-Liste der wichtigsten Künstler aus NS-Sicht gesetzt wurde und dort sogar auf die Sonderliste der „unersetzlichen Künstler“ kam. John C. Fout zeigte für Hamburg, dass 90 Prozent der Homosexuellen, die in Konzentrationslager oder Heilanstalten kamen, Arbeiter waren; nur die übrigen 10 Prozent waren der bürgerlichen Gesellschaftsschicht zuzuordnen.
In Deutschland gab es, im Gegensatz zu Österreich, kein Gesetz gegen die lesbische Liebe, lesbische Frauen wurden daher – anders als homosexuelle Männer – in Konzentrationslagern nicht durch einen Rosa Winkel o. ä. gekennzeichnet und auch nicht systematisch verfolgt. Trotzdem sind Fälle lesbischer Frauen bekannt, deren Lebensentwurf Anlass zur Verfolgung bot, sie wurden meist als „Asoziale“ deklariert und mussten im Konzentrationslager den schwarzen Winkel tragen. Einzelfälle in den Zugangslisten des Konzentrationslagers Ravensbrück kennzeichnen dies durch ergänzende Bemerkungen neben dem Haftgrund.
Rechtslage in der Nachkriegszeit
In der Bundesrepublik Deutschland bestand der § 175 bis 1969 in der von den Nationalsozialisten verschärften Fassung weiter, was vom Bundesverfassungsgericht 1957 als rechtmäßig anerkannt wurde. Die Artikel 2 und 3 des Grundgesetzes, welche die „freie Entfaltung der Persönlichkeit“ und die „Gleichberechtigung der Geschlechter“ garantieren, standen diesen Strafgesetzen allerdings gegenüber. Dieses gesetzgeberische Spannungsfeld bildete die Rahmenbedingungen für vornehmlich homosexuelle Männer, sich aktiv gegen die Kriminalisierung ihrer Sexualität zu wenden.
Das Frankfurt am Main der 1950er Jahre kann neben Hamburg – insbesondere vor dem Hintergrund des Aktivismus gegen die Kriminalisierung von männlicher Homosexualität in der jungen Bundesrepublik Deutschland – als Hochburg der Homophilenbewegung gesehen werden. So bemühte sich Hans Giese, der im April 1949 das Institut für Sexualforschung gegründet hatte, dort im Oktober 1949 um eine Neugründung des Wissenschaftlich-humanitären Komitees (WhK). Der Vereinsaktivist Hermann Weber wurde dessen erster Präsident. Der im selben Jahr von Heinz Meininger gegründete Verein für humanitäre Lebensgestaltung (VhL) trat dem WhK geschlossen bei. Bei den berüchtigten Frankfurter Homosexuellenprozessen 1950/1951, die maßgeblich von der Staatsanwaltschaft durch Instrumentalisierung des Kronzeugen Otto Blankenstein initiiert wurden, wandten sich einzelne Mitglieder des VhL, wie etwa der Rechtsanwalt Erich Schmidt-Leichner oder der Journalist Rudolf Eims, aktiv gegen die staatlichen Verfolgungen. Die genannte Prozessserie markiert einen frühen Höhepunkt der Verfolgung homosexueller Männer in der Bundesrepublik Deutschland und weist deutliche Kontinuitäten zur NS-Zeit auf, während sie allerdings auch unter den neuen Vorzeichen der Ära Adenauer stattfand.
Erst 1994 fiel er im Zuge der Rechtsangleichung mit der DDR weg. Während jener Zeit verurteilte Schwule wurden in Deutschland am 17. Mai 2002 durch den Bundestag symbolisch rehabilitiert. In der Deutschen Demokratischen Republik wurden einvernehmliche, homosexuelle Handlungen unter Erwachsenen schon seit Ende der 1950er Jahre nicht mehr rechtlich verfolgt.
In Österreich existierte der § 209 ÖStGB mit ähnlichem Wortlaut wie der § 175 StGB in Deutschland bis ins Jahr 2002, als er vom österreichischen Verfassungsgerichtshof aufgehoben wurde, und trat am 14. August 2002 außer Kraft. Dennoch wurde Österreich im Anschluss mehrfach vom EGMR, der ebenfalls ausdrücklich die Menschenrechtswidrigkeit des § 209 feststellte, verurteilt, da man es unterlassen hatte, menschenrechtswidrig Verurteilte zu rehabilitieren.
Homosexuelle Emanzipation
Erste Forderungen nach der urnischen Ehe wurden von Karl Heinrich Ulrichs 1867 auf dem deutschen Juristentag in München vor 500 Mitgliedern erhoben. Auch wenn sein Vortrag mit Spott und Ablehnung aufgenommen wurde, beginnt an diesem Tag die Geschichte der Homosexuellen-Emanzipation.
Der Beginn der organisierten homosexuellen Emanzipationsbewegung wird im Allgemeinen mit der Gründung des Wissenschaftlich-humanitären Komitees (WhK) durch den Berliner Arzt Magnus Hirschfeld im Jahr 1897 angesetzt. Es handelte sich dabei jedoch um eine Honoratiorenvereinigung, die nur etwa 500 Mitglieder umfasste und nach außen hin nicht als homosexuelle Bewegung in Erscheinung trat. Stattdessen warb sie ausschließlich mit wissenschaftlichen Argumenten für eine Streichung des § 175.
Zahlenmäßig weit bedeutsamer waren die nach 1919 gegründeten „Freundschaftsbünde“. Ihr Schwerpunkt lag in der Planung von Geselligkeitsveranstaltungen, umfasste jedoch auch politische und publizistische Aktivitäten sowie die Gewährleistung von Rechtsschutz für jene Mitglieder, die vom § 175 betroffen waren. Als Dachgruppen konkurrierten der im August 1920 gegründete Deutsche Freundschafts-Verband (DFV) und der im Mai 1922 entstandene Bund für Menschenrechte (BfM). Letzterer erwies sich in seiner Größenentwicklung als das bei weitem erfolgreichere Modell. Bereits 1924 zählte er über 12.000 Mitglieder; 1929, gegen Ende der Weimarer Republik, waren es sogar mehr als 48.000 Mitglieder. Ausländische angegliederte Gruppen soll es laut Angaben des Vereins in der Schweiz, in Österreich, in der Tschechoslowakei, in New York City, Argentinien und Brasilien gegeben haben. Mit der Zerschlagung der deutschen Homosexuellenbewegung durch die Nationalsozialisten Anfang ab 1933 und dem Zweiten Weltkrieg endeten diese Ansätze.
Eine Ausnahme bildet eine Schweizer Gruppe um Laura Thoma und Anna Vock mit ihrer 1932 gegründeten Zeitschrift Das Freundschaftsbanner, die als einzige in Europa während des Zweiten Weltkriegs durchgängig aktiv blieb. Aus ihr ging 1942 die von „Rolf“ (Karl Meier) unter dem Namen Der Kreis publizierte Zeitschrift hervor. Sie wurde nach dem Zweiten Weltkrieg Vorbild für viele neu entstehende Gruppen im In- und Ausland, die eine neue Bewegung initiierten. Dabei griffen die Vertreter meist auf den Begriff der Homophilie zurück, dementsprechend wird sie in der Regel als Homophilenbewegung abgegrenzt.
Ein neuer Schwerpunkt der Homophilenbewegung bildete sich bald in den Vereinigten Staaten. Im Frühjahr 1951 gründete Harry Hay, Mitglied der CPUSA, zusammen mit Bob Hull, Chuck Rowland, Dale Jennings und Rudi Gernreich die Mattachine Society. 1955 entstand unter Führung von Del Martin und Phyllis Lyon die Lesbenorganisation Daughters of Bilitis. Beide Gruppen bezeichneten sich als homophil, um sich der Reduzierung von Homosexualität auf den Akt des Beischlafs zu entziehen. Unter dem Druck der McCarthy-Ära entpolitisierten sich diese Organisationen und wurden zu Debattierclubs, die in der Öffentlichkeit nicht in Erscheinung traten. Erst Mitte der 1960er Jahre fand mit Dick Leitsch (New York) und Frank Kameny (Washington) eine Neuorientierung an den Protestformen der schwarzen Bürgerrechtsbewegung statt.
Am 28. Juni 1969 kam es anlässlich einer Polizeirazzia in der New Yorker Schwulenbar Stonewall zu einem Aufstand in der Christopher Street, der drei Tage andauerte. Dieses Ereignis führte zu einer Radikalisierung zahlreicher Lesben und Schwuler. In Anlehnung an linke Bewegungen der damaligen Zeit gründeten sich gemischte Gruppen wie die Gay Liberation Front und die Gay Activists Alliance.
Am 1. Mai 1970 machte schließlich die Gruppe Radicalesbians auf sich aufmerksam, indem sie in New York den Zweiten Jahreskongress zur Vereinigung der Frauen mit einem geplanten Happening unterbrach. Das dort verteilte Manifest der frauenidentifizierten Frau begründete das sich für die Frauenbewegung als einflussreich erweisende Konzept des politischen Lesbianismus: Lesbischsein wurde nicht als eine sexuelle Orientierung, sondern als die einzig mögliche Strategie des Widerstands gegen patriarchale Bevormundung und Unterdrückung aufgefasst.
Diese politischen Strategien und Konzepte wurden in den 1970er Jahren auch nach Europa getragen und führten zu einer neuen, politisierteren Bewegung, der sogenannten Lesben- und Schwulenbewegung.
In der Bundesrepublik Deutschland gründeten sich nach der Liberalisierung des § 175 im Jahr 1969 und vor allem nach der Uraufführung des Films Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt von Rosa von Praunheim im Jahr 1971 immer mehr aktivistische Schwulengruppen. Dies wird als Beginn der deutschen Lesben- und Schwulenbewegung angesehen. Praunheim unterlegte die filmische Darstellung der Situation von Schwulen mit sozialkritischen Kommentaren und Texten, die er zusammen mit dem Soziologen Martin Dannecker und Drehbuchautor Sigurd Wurl verfasst hatte. Die erste bundesweite Fernsehausstrahlung 1973 in der ARD wurde zum Skandal, unter anderem auch, weil sich der Bayerische Rundfunk aus dem gemeinsamen Fernsehprogramm ausschaltete und den finnischen Spielfilm Benzin im Blut als Gegenprogramm ausstrahlte. Auch konservative, gesellschaftlich angepasste Homosexuelle lehnten den Film zum Teil ab. Die zunächst politisch linksorientierte, vor allem studentisch geprägte Emanzipationsbewegung schlug einen ganz neuen Kurs ein und setzte auf Sichtbarkeit in der Gesellschaft, um effektiver für ihre Rechte kämpfen und offener leben zu können.
Ähnlich wie in den USA trennten sich Lesben in der Bundesrepublik schon sehr früh von den männlich dominierten Schwulengruppen und engagierten sich stattdessen in der Frauenbewegung, wo gleichgeschlechtliche Liebe oft nicht nur anerkannt, sondern sogar präferiert wurde.
In den 1980er und 1990er Jahren kam es zu einer breiten Ausfächerung, aber auch zu einer fortschreitenden Entpolitisierung der homosexuellen Emanzipationsbewegung. Gleichzeitig fand eine Wiederannäherung von Lesben und Schwulen statt. Seit etwa Mitte der 1980er Jahre veranstalten sie gemeinsam in fast sämtlichen europäischen und amerikanischen Metropolen alljährliche Demonstrationen zur Erinnerung an den Stonewall-Aufstand. In den 1990er Jahren wurden daraus gewaltige Umzüge, die unter der Bezeichnung Christopher Street Day bzw. Gay Pride Parade in den Tagen zwischen Juni und Juli weltweit mehrere Millionen Menschen auf die Straße ziehen. Jedoch verbinden die Teilnehmer mit ihrer Anwesenheit nur noch selten eine konkrete politische Aussage. Entsprechende Gegenentwürfe zur Repolitisierung des CSD in Deutschland sind der Transgeniale CSD in Berlin-Kreuzberg und die Queerrr Street Days in Hamburg.
Eine neue Erscheinung bildet der Wunsch nach territorialer Abgrenzung von der Hetero-Welt, der häufig als Gay Nationalism bezeichnet wird. So wurde von einer Gruppe australischer Aktivisten am 14. Juni 2004 eine winzige Koralleninsel namens Cato besetzt und das Gay & Lesbian Kingdom of the Coral Sea Islands ausgerufen. Der neue Staat stellte sich ziemlich rasch als eine Mikronation unter vielen heraus, denn weder der Imperator Dale Parker Anderson noch sonst jemand war bereit, sich auf Cato niederzulassen. Die Unstimmigkeiten innerhalb der Führungsriege führten zur Zersplitterung der Bewegung in mehrere Gruppen.
Religion
HIV-Prävalenz
Die Prävalenz von HIV ist unter homosexuellen Männern bzw. Männer, die Sex mit Männern haben (MSM), höher als in der Gesamtbevölkerung. Als Ursache gilt, dass die Übertragungswahrscheinlichkeit des HI-Virus bei Analverkehr etwa 18 Mal höher ist als bei Vaginalverkehr. Als weitere Faktoren werden häufige Partnerwechsel sowie wechselnde Rollen beim Sex genannt. Das Risiko einer HIV-Infektion ist bei Analverkehr bei der empfangenden Person besonders hoch.
Nach Schätzungen des Robert Koch-Instituts und des Wissenschaftszentrums Berlin sind in Deutschland zwischen 4,9 und 6,7 Prozent der homosexuellen Männer in der Altersgruppe der 20- bis 59-Jährigen HIV-positiv. In Großstädten mit einer ausgeprägten Homosexuellen-Kultur sind es der Schätzung zufolge sogar zwischen 10 und 12 Prozent der Schwulen. Nach einer Studie der Johns-Hopkins-Bloomberg School of Public Health in Baltimore liegt der Anteil der HIV-Positiven bei MSM in den meisten westeuropäischen Staaten bei etwa sechs Prozent. Höhere Werte ermittelten die Forscher für die Karibik (25 Prozent), Afrika (18 Prozent) und Nordamerika (15 Prozent). Die vergleichsweise niedrige HIV-Prävalenz in Deutschland wird auf einen hohen Gebrauch von Kondomen zurückgeführt. Nach Angaben der Deutschen AIDS-Hilfe schützen sich in Deutschland 70 Prozent der Schwulen immer mit Kondomen sowie 20 Prozent fast immer.
Bis 2017 waren MSM in Deutschland aufgrund der höheren HIV-Prävalenz gänzlich von der Blutspende ausgeschlossen. Seit 2017 dürfen MSM Blut spenden, wenn sie 12 Monate keinen Geschlechtsverkehr mit einem Mann hatten. In Österreich besteht nach wie vor ein grundsätzliches Verbot der Blutspende.
Psychologie
Die psychiatrische Pathologisierung der Homosexualität begann Mitte des 19. Jahrhunderts. Homosexualität wurde in der Regel als Symptom einer inneren Verkehrung des Geschlechtsempfindens („konträre Sexualempfindung“, „Inversion“) aufgefasst. Eine besondere und zugleich ambivalente Rolle spielte dabei – seit ca. 1900 – die Psychoanalyse.
Sigmund Freud bezeichnete Homosexualität „als Abweichung der sexuellen Funktionen, hervorgerufen durch eine gewisse Stockung der sexuellen Entwicklung“ Als psychischen „Normalfall“ sah Freud die Bisexualität an; auch die Heterosexualität beruhe „auf einer Einschränkung der Objektwahl“. Mehrfach bezog er öffentlich Stellung gegen Kriminalisierung und Pathologisierung der Homosexualität. 1905 stellte er fest: „Die psychoanalytische Forschung widersetzt sich mit aller Entschiedenheit dem Versuch, die Homosexuellen als eine besonders geartete Gruppe von den anderen abzutrennen.“ Im Jahre 1921 widersprach er Ernest Jones, der einen homosexuellen Arzt nicht zur analytischen Ausbildung zulassen wollte. 1930 unterzeichnete er einen Appell an den Nationalrat zur Abschaffung der Strafbarkeit. Und 1935 schrieb er in einem Brief an eine Mutter, dass auch Homosexuelle – durch eine Analyse – zu „Harmonie, Seelenfrieden und volle[r] Leistungsfähigkeit“ gelangen können.
Seine Ansichten zum Thema resümiert er in dem Aufsatz „Über die Psychogenese eines Falles von weiblicher Homosexualität“ aus dem Jahr 1920. Darin wendet er sich gegen die Vorstellung, „vollentwickelte“ Homosexualität – mit dem Ziel der Wiederherstellung der „vollen bisexuellen Funktion“ – psychoanalytisch behandeln zu können. Dies sei „nicht viel aussichtsreicher als das umgekehrte“ – die Heilung von „vollentwickelter“ Heterosexualität –, „nur daß man dies letztere aus gut praktischen Gründen niemals versucht“. Entsprechende Therapieanstrengungen scheiterten zudem sehr häufig daran, dass homosexuelle Patienten nicht aus Unzufriedenheit mit ihrer Situation, sondern auf äußeren gesellschaftlichen Druck hin eine Therapie begännen:
Dennoch wurde Homosexualität erst 1973 von der American Psychiatric Association (APA) aus ihrem Krankheitenkatalog (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders, kurz: DSM, damalige Auflage DSM-II) gestrichen – nicht zuletzt aufgrund der Forschungsergebnisse von Evelyn Hooker. Zuvor galt Homosexualität als psychische Störung. Allerdings existierte von da an im DSM-II die „sexuelle Orientierungsstörung“, später im DSM-III „ich-dystone Homosexualität“ genannt, mit der ein Zustand anhaltenden Leidens an der eigenen Homosexualität diagnostiziert werden konnte. Im neuen, aktuellen DSM-IV-TR befindet sich eine Diagnosekategorie „nicht näher bezeichnete sexuelle Störung“, die auch ein „andauerndes und ausgeprägtes Leiden an der sexuellen Orientierung“ (302.9) beinhaltet. Die Streichung erfolgte 1973 gegen den Widerstand der American Psychoanalytic Association (APsaA), die dadurch erheblich an Renommee und Einfluss verlor, dann nach einem Generationswechsel neue Position bezog und sich 1991 entschuldigte:
Aus der von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) herausgegebenen International Classification of Diseases (ICD) wurde die Homosexualität (und deren Diagnoseschlüssel) erst mit der 1992 veröffentlichten ICD-10 entfernt (In der bis dahin gültigen neunten Ausgabe der ICD erschien Homosexualität unter dem Klassenkürzel 302.0 als eigene Krankheit). Dafür wurde dort das Störungsbild der ich-dystonen Sexualorientierung (F66.1) im Bereich der Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen aufgenommen. In der ICD-8 wurde Homosexualität bereits 1968 als umstrittenes Krankheitsbild dargestellt. Im Jahr 1980 hatte die Partei Die Grünen die Streichung des Krankheitsbegriffes aus den deutschen Registern der WHO gefordert.
In Psychoanalyse und Psychotherapie gibt es nach wie vor kontroverse Meinungen. Anhänger der Gay Affirmative Psychotherapy, die die internationale Mehrheitsmeinung vertreten, versuchen, den Umgang mit Homosexualität möglichst in das Menschsein zu integrieren. Im deutschen Sprachraum äußerten sich 2000 zwei Standardwerke klar und deutlich: Im Mertens/Waldvogel konstatierte Udo Rauchfleisch, dass Diskriminierung und Pathologisierung wissenschaftlich nicht vereinbar seien. Im Stumm/Pritz verlangte Wolfgang Till von der Psychotherapie „eine nichtpathologisierende, vorurteilsfreie Haltung zur Homosexualität“. Johannes Cremerius nannte (schon 1992) die Pathologisierung der Homosexualität und die Weigerung, Homosexuelle zur analytischen Ausbildung zuzulassen, als einen der wesentlichen Gründe für die Krise der Psychoanalyse.
Dazu entgegengesetzt gibt es eine immer kleiner werdende Minderheit von Medizinern bzw. Psychoanalytikern, die Homosexualität im Gegensatz zum DSM-IV und zur ICD-10 als „krankhafte und behandlungsbedürftige Störung“ sehen (Charles Socarides und Joseph Nicolosi).
Der Psychotherapeut Douglas Haldeman, der ehemalige Vorsitzende der American Psychological Association, ist der Meinung, Lesben und Schwule hätten zwar ein Recht auf Veränderung ihrer sexuellen Orientierung, sofern sie mit ihren sexuellen Orientierungen unzufrieden seien. Bisher ist jedoch keine funktionierende „Therapie“ bekannt, mit der langfristig die sexuelle Orientierung verändert werden konnte. Die sogenannte reparative Therapie bezeichnet Haldeman als „Pseudowissenschaft“. Die sexuellen Neigungen als solche bestimmen noch nicht die psychologische Identität eines Menschen, da dazu wesentlich die freie Stellungnahme gehört. Im Sommer 2008 erklärte die deutsche Bundesregierung im Bundestag, dass die reparative Therapie in der Fachwelt weitestgehend abgelehnt werde. Die deutsche Bundesregierung vertritt weder die Auffassung, dass Homosexualität einer Therapie bedarf, noch dass Homosexualität einer Therapie zugänglich ist. Auch Haldeman ist der Meinung, die sogenannte „reparative Therapie“ passe nicht in die moderne „mental health profession“ hinein, und sei „seit Jahren diskreditiert.“
Im Jahr 2013 veröffentlichte die Sexualwissenschaftlerin Sophinette Becker ihre Schrift Bisexuelle Omnipotenz als Leitkultur mit dem Untertitel Sexuelle Verhältnisse im gesellschaftlichen Wandel. Sich auf Becker beziehend berichtete Hemma Rössler-Schülein 2021, eine „stumme bisexuelle Potenz“ ermögliche eine „stabil-flexible Geschlechtsidentität“. Das bedeute, „eine sichere Geschlechtsidentität, verbunden mit der Fähigkeit zur Identifikation mit dem anderen Geschlecht, ebenso wie eine stabil-flexible sexuelle Orientierung“, was beispielsweise „Heterosexualität ohne Homophobie“ ermögliche.
Ursachen der Ausbildung der sexuellen Orientierung
Welche Faktoren beim Einzelnen zur Ausbildung einer bestimmten sexuellen Orientierung führen, ist ungeklärt. Grundsätzlich können bei der Entstehung der sexuellen Orientierung zwei Hauptthesen unterschieden werden:
Die sexuelle Orientierung ist schon vor der Geburt festgelegt.
Die sexuelle Orientierung wird erst durch gewisse Identifikationsprozesse in der frühen Kindheit oder auch besondere Abläufe in der Pubertätsphase ausgeprägt.
Außerdem werden Theorien vertreten, die eine Kombination dieser beiden Thesen darstellen.
Unter biologischen, evolutionären oder psychologischen Aspekten werden deshalb folgende Themen diskutiert:
Faktoren, die zu Homosexualität beim Menschen führen
Ist Homosexualität durch angeborene Faktoren bedingt oder beeinflussen diese die Ausbildung der Homosexualität?
Ist Homosexualität auch oder teilweise eine Willensentscheidung?
Obwohl sich der weit überwiegende Teil der Wissenschaft darin einig ist, dass Homosexualität keine Krankheit oder Paraphilie ist, wird diese immer noch vereinzelt, häufig von religiös orientierten Gruppierungen, als abnorm oder krankhaft eingestuft und eine „Heilung“ für sinnvoll und möglich gehalten; „Therapien“ werden diskutiert und auch ausprobiert. Zu nennen ist dabei vor allem die hochumstrittene, im Umfeld evangelikaler Christen in den USA entstandene Ex-Gay-Bewegung, die so genannte Konversionstherapien zur „Umpolung“ von Homosexuellen zu Heterosexuellen propagiert und anbietet. Diese Therapien werden von der medizinischen, psychologischen und psychiatrischen Fachwelt praktisch einhellig abgelehnt und als potenziell schädlich für die Betroffenen angesehen (siehe auch unten bei Beratungsstellen). Im US-Bundesstaat Kalifornien sind solche Therapien bei Minderjährigen seit September 2012 wegen ihres Schadpotenzials gesetzlich verboten.
Der wissenschaftliche Streit über die Ursachen homosexuellen Verhaltens ist sehr alt. Solange jedes homosexuelle Verhalten strafbar war, waren die Argumentationen in diesem Streit oft von dem Bestreben geleitet, entweder die „Unausweichlichkeit“ homosexuellen Verhaltens zu belegen und damit die Forderung nach dessen Straflosigkeit zu begründen oder aber es als freie Entscheidung für „moralischen Verfall“ zu kennzeichnen, dem mit Bestrafung entgegengewirkt werden müsse. Auch heutige Untersuchungen zeigen, dass Menschen, die von einer angeborenen sexuellen Orientierung ausgehen, eine tolerantere Haltung gegenüber Homosexuellen haben als jene, die es als persönliche Entscheidung sehen.
Teile der Lesben- und Schwulenbewegung distanzieren sich von Ursachenforschung. Die Erfahrung der letzten 150 Jahre zeigt, dass Wissenschaftler, Mediziner, Psychologen und andere sich für die Ursachen der Entwicklung sexueller Orientierungen, primär der homosexuellen Orientierung, interessiert haben. Als Teil dieser Studien haben viele versucht, Homosexuelle zu erkennen und sie zu „heilen“, wobei das behauptete Ergebnis nicht zwingend Heterosexualität sein musste. Viele homosexuelle Menschen befürchten deshalb, dass Ursachenforschung letztlich gegen sie eingesetzt werden soll, um Homosexualität als unnatürlich, abnormal oder krankhaft, beziehungsweise als Symptom einer Krankheit anzusehen. Vor allem bei Menschen bzw. Gruppierungen, die Homosexualität aus ideologischer, religiöser oder aus persönlicher Abneigung nicht tolerieren wollen, können solche Forschungen den Drang wecken, diese einzusetzen, um Homosexualität zu beseitigen oder zumindest Homosexuelle zu erkennen und zu isolieren. Solche Befürchtungen stützen sich u. a. auf Erfahrungen, die homosexuelle Männer in der Zeit des Nationalsozialismus machen mussten, in welchem man Homosexuelle mittels psychologischer Experimente erkennen und mit grausamen medizinischen Menschenversuchen „zu heilen“ beabsichtigte. Selbst Menschen, denen Schwule und Lesben sympathisch sind, und aktiv unterstützende Eltern homosexueller Kinder wollen meist heterosexuelle Kinder, und sei es nur aus Angst vor den potentiell negativen Folgen von Heterosexismus und Homophobie in der Gesellschaft. Zu beachten ist auch, dass Untersuchungsergebnisse nicht in der westlichen Welt verbleiben, sondern global verfügbar sind. An einer Universität in Singapur, wo damals gleichgeschlechtliche Akte mit lebenslanger Haft bestraft werden konnten, standen die Psychiater vor der Frage, ob ein präsymptomatischer Test ohne die Möglichkeit einer Behandlung angeboten werden dürfe. Während zu Zeiten Karl Heinrich Ulrichs (1825–1895) eine angeborene biologische Ursache als gegeben hingenommen werden musste, wäre heutzutage sogar ein „homosexuelles Gen“ potentiell per Pränataldiagnostik erkennbar und man könnte darauf mit selektiver Abtreibung oder Gentherapie reagieren. Befürworter eines Rechtes der Eltern auf Selektion sind beispielsweise Aaron S. Greenberg und J. Michael Bailey. Kulturell wurde das Thema im 1993 uraufgeführten Stück The Twilight of the Golds/Der letzte Gold von Jonathan Tolins behandelt, welches 1997 mit alternativem Ende verfilmt wurde.
Bisweilen wird kritisiert, dass die Erforschung der sexuellen Orientierung zu stark auf die Erforschung von Homosexualität ausgerichtet sei. Gelegentlich wird auch die Ursachenforschung zur Homosexualität an sich kritisiert. Hierin wird von diesen Kritikern eine Wertung oder Pathologisierung gesehen, die auf einen heteronormativen Blickwinkel zurückzuführen sei, der als soziokulturelles Konstrukt angesehen wird. Eine wertneutrale Forschung in diesem Bereich müsse das gesamte Spektrum der sexuellen Orientierungen im Blick haben. Biologische Ursachenforschung, die sich im Wesentlichen auf die gleichgeschlechtliche sexuelle Orientierung konzentriere, würde einen Rechtfertigungszwang für bestimmte Verhaltensweisen einschließen und Moralvorstellungen von „richtiger“ oder „falscher“ Sexualität transportieren.
Eine fundierte Zusammenfassung und Kritik der aktuelleren Ansätze und Untersuchungen zur männlichen Homosexualität lieferte etwa Robert Allen Brookey 2002 mit seinem Band Reinventing the Male Homosexual. The Power and Rhetorics of the Gay Gene.
Nach einem Schlaganfall kann es zu Persönlichkeitsveränderungen kommen. Neben üblichen, teilweise temporären Veränderungen, die als Defizit wahrgenommen werden, wie beispielsweise Depressionen, Apathie, Ängstlichkeit, Labilität und Impulsivität kann seltener vermeintlich ein fremder Akzent angenommen werden, sich der Kunststil ändern oder überhaupt erst sich ein künstlerisches Talent zeigen. Noch seltener soll es zu einer Veränderung der sexuellen Orientierung kommen können – in beide Richtungen:
Ein Mann war sich seit seiner Jugend seiner gleichgeschlechtlichen Anziehung bewusst, hatte gleichgeschlechtliche Erlebnisse und auch längere Zeit einen gleichgeschlechtlichen Partner. Mit 53 Jahren hatte er einen Schlaganfall; sechs Monate danach beklagte er erstmals eine Veränderung seiner Persönlichkeit, Interesse, Stimmungsschwankungen und heterosexuelle Bedürfnisse. Der Patient bezeichnet sich heute als bisexuell. Die Autoren der Fallstudie halten eine Änderung ausschließlich aufgrund des psychologischen Effektes der Erkrankung für unwahrscheinlich, da er im unmittelbaren sozialen Umfeld und der Familie trotz seiner homosexuellen Orientierung akzeptiert gewesen sei, berichten jedoch gleichzeitig von Alkoholproblemen und Depressionen des Patienten.
Der ehemalige Bankangestellte und Rugby-Spieler, mit nach der Selbstauskunft und Außenwahrnehmung durchwegs heterosexueller Orientierung, berichtet von ersten Veränderungen nach einem Schlaganfall. Er habe plötzlich andere Interessen entwickelt und interessiere sich nicht mehr für Rugby. Sein Freundeskreis und Lebensstil änderte sich; seine Arbeit empfand er als langweilig und erlernte den Beruf des Friseurs. Er entdeckte seine gleichgeschlechtlichen Gefühle und interessierte sich nach eigenem Bekunden fortan nicht mehr für Frauen. Sein Problem sei, dass ihm sein Freundes- und Bekanntenkreis nicht abnehmen würden, dass die Veränderungen durch den Schlaganfall verursacht seien.
Genetik
Der Zwillingsforscher Franz Josef Kallmann befragte in den 1950er Jahren männliche Zwillingspaare. Bei dieser Stichprobe ermittelte er, dass von 40 eineiigen und 45 zweieiigen männlichen Zwillingspaaren, von denen mindestens ein Bruder sich selbst als schwul bezeichnete, bei 100 Prozent der eineiigen Zwillinge der andere Bruder sich ebenfalls als schwul definierte und dass bei den zweieiigen Zwillingen diese in diesem Punkt der allgemeinen männlichen Bevölkerung glichen. Andere wie Willhart S. Schlegel fanden ähnliche genetische Komponenten der sexuellen Orientierung. Spätere Forschungsarbeiten der 1960er Jahre kamen zu verschiedenen Ergebnissen: Einige konnten einen Zusammenhang zur Zygozität finden, während andere keinen Unterschied zwischen eineiigen Zwillingen, zweieiigen Zwillingen und Adoptivgeschwistern feststellten.
Im Jahre 1993 brachte der US-amerikanische Forscher Dean Hamer einen genetischen Marker auf dem X-Chromosom mit Homosexualität in Verbindung. Die Annahme bestätigte sich zunächst, weil eineiige Zwillingsbrüder, die diesen Chromosomenabschnitt trugen, beide schwul waren. Spätere Forschungsarbeiten der gleichen Forschungsgruppe konnte dieser Zusammenhang allerdings nicht bestätigen. Eine Studie der Forschungsgruppe um Bailey et al. (1991 und 1993) hatte zum Ergebnis, dass eineiige Zwillinge häufiger beide homosexuell sind als zweieiige. Definierte sich ein eineiiger Zwilling als gleichgeschlechtlich orientiert, so stimmte dies zu etwa 50 Prozent mit der Selbstdefinition seines Zwillingsgeschwisters überein; bei zweieiigen Zwillingen waren es nur 20 bis 25 Prozent, deren angegebene sexuelle Orientierung übereinstimmte. Diese Arbeiten wurden, wie auch jene von Kallmann und Schlegel, als methodisch fehlerhaft kritisiert – so wurde die Zygozität der Zwillinge (eineiig oder zweieiig) nicht molekulargenetisch bestimmt, sondern anhand eines Fragebogens nach Gemeinsamkeiten und Unterschieden im Verhalten.
In einer Zwillingsstudie aus Schweden von 2008 wurden 3826 zwischen 1959 und 1985 geborene Zwillingspärchen untersucht, bei denen mindestens ein Zwilling
einen gleichgeschlechtlichen Sexualpartner hatte. Durch Vergleich zwischen eineiigen und zweieiigen Zwillingspärchen wurde statistisch analysiert, welche genetischen und Umweltfaktoren die Auswahl des Partnergeschlechts beeinflussen.
Einflussfaktoren (Konfidenzintervall in Klammern):
genetische Einflüsse ♂ 39 % (0–59) ♀ 19 % (0–49),
gemeinsame Umwelteinflüsse ♂ 0 % (0–46) ♀ 17 % (0–42),
individuelle Umwelteinflüsse ♂ 61 % (41–85) ♀ 64 % (51–78)
Bei allen Untersuchungen ist zu beachten, dass eine homosexuelle Neigung nicht immer sicher festgestellt werden kann. Manche Probanden verschweigen aus Scham eine ihnen bewusste homosexuelle Orientierung, andere sind sich ihrer noch nicht bewusst oder haben sie sich noch nicht eingestanden („inneres Coming-out“). Das führt dazu, dass die Zahl homosexuell empfindender Probanden in den Studien regelmäßig geringer erscheint, als sie tatsächlich ist. Erschwerend kommt hinzu, dass die Anzahl der Probanden in sämtlichen Studien nur gering war.
Nach einer Hypothese von William R. Rice, Urban Friberg und Sergey Gavrilets aus dem Jahr 2012 könnte die Entstehung der menschlichen Homosexualität durch epigenetische Vererbung verursacht sein. So würde bei einigen Individuen die sexuelle Präferenz der Mutter an den Sohn und die Präferenz des Vaters auf die Tochter übertragen. Das passiere dann, wenn die Epi-Marks bei den Genen, die für die sexuelle Ausrichtung verantwortlich sind, bei der Keimzelle erhalten blieben. So bilde dann beispielsweise ein Embryo zwar männliche Geschlechtsorgane aus, die sexuelle Ausrichtung auf das männliche Geschlecht wäre aber dieselbe wie bei der Mutter. Die Homosexualität des Menschen ist nach dieser Hypothese angeboren, ohne zwangsläufig in der DNA-Sequenz erkennbar zu sein. Die Hypothese erklärt, weshalb das Vorkommen von Homosexualität beim Menschen über die Zeit statistisch stabil bleibt. Nach dieser Hypothese entsteht die homosexuelle Prägung bei jedem Individualzyklus neu, und darum stirbt sie evolutionär nicht aus, obwohl die meisten homosexuellen Menschen keinen eigenen Nachwuchs haben. Die Autoren der Studie geben allerdings an, dass es sich nur um eine Hypothese handele, hingegen derzeit keine empirischen Befunde für einen Zusammenhang von Homosexualität und Epigenetik sprechen würden. Eine kritische Analyse der Studie von Rice et al. hat Heinz J. Voss vorgenommen.
Früheren Studien fehlte es oftmals noch an statistischer Trennschärfe. Ganna u. a. (2019) führten an 477.522 Personen eine genomweite Assoziationsstudie (GWAS) durch, in der fünf Loci identifiziert werden konnten, die in signifikantem Zusammenhang mit gleichgeschlechtlichem Sexualverhalten stehen. Insgesamt machten dabei alle getesteten genetischen Varianten 8 bis 25 % der Unterschiede des gleichgeschlechtlichen Sexualverhaltens aus. Sie überlappten sich nur teilweise zwischen Männern und Frauen. Auch ermöglichen sie keine aussagekräftige Vorhersage des Sexualverhaltens einer Person. Die genetischen Einflüsse überlappten sich teilweise mit denen einer Vielzahl anderer Merkmale, einschließlich der Risikobereitschaft und des Persönlichkeitsmerkmals „Offenheit für Erfahrungen“. Die Überschneidung mit genetischen Einflüssen auf andere Merkmale liefert Einblicke in die zugrundeliegende Biologie des gleichgeschlechtlichen Sexualverhaltens. Die Analyse verschiedener Aspekte der sexuellen Präferenz unterstreicht deren Komplexität und stellt die Gültigkeit von Kennzahlen zur Messung eines Kontinuums zwischen zwei Polen wie der Kinsey-Skala infrage. Insgesamt liefern die Ergebnisse von Ganna u. a. Einblicke in die Genetik des gleichgeschlechtlichen Sexualverhaltens und unterstreichen die Komplexität der Sexualität. Die Studie zeigt, dass genetische Einflüsse bei der Ausbildung von gleichgeschlechtlichem Sexualverhalten eine Rolle spielen, die Einflüsse jedoch nicht aussagekräftig genug sind, um Homosexualität anhand von Gentests feststellen zu können.
Endokrinologie
Eine Theorie, die auf Forschungsarbeiten des deutschen Endokrinologen und Sexualwissenschaftlers Günter Dörner zurückgeht, besagt, dass Stresshormone in der Schwangerschaft für Homosexualität verantwortlich seien. Bei männlichen Föten verhinderten sie, dass deren Gehirn, das zunächst keine Unterschiede zu einem weiblichen habe, durch bestimmte Hormone ein männliches Geschlecht bekomme. Diese das Gehirn modifizierenden Hormone „vermännlichen“ das Gehirn des männlichen Babys normalerweise in der Schwangerschaft in drei Phasen, von denen jede durch Stress gestört werden könne. Zur lesbischen Anlage findet sich eine analoge Aussage, nämlich, dass diese das Produkt von sehr „entspannten“ Müttern seien, deren Vermännlichungshormone mangels Stress seltener ausgeblieben seien.
Allerdings wenden Kritiker dieser und ähnlicher Theorien ein, dass es sich bei der Annahme, dass schwule Männer irgendwie „weiblicher“ sein müssten als heterosexuelle, oder lesbische Frauen „männlicher“, lediglich um ein heteronormatives Postulat handelt, welches keinesfalls bewiesen ist. Es erklärt ebenfalls nicht, warum schwule Männer einen anderen „verweiblichten“ Mann gegenüber einer „vermännlichten“ Frau als Partner bevorzugen sollten (siehe auch Straight Acting).
In einer Veröffentlichung der schwedischen Forscher Ivanka Savic und Per Lindström vom Karolinska-Institut in Stockholm in der Zeitschrift „Proceedings of the National Academy of Sciences“ wird von Unterschieden in der Gehirnstruktur von homosexuellen und heterosexuellen Menschen berichtet.
Darin wird beschrieben, dass die Gehirne von homosexuellen Frauen und heterosexuellen Männern eine ähnliche Asymmetrie aufweisen, da die rechte Hirnhälfte ein wenig größer ist als die linke. Bei homosexuellen Männern und heterosexuellen Frauen fanden sich keine solchen Größenunterschiede.
Weiterhin wird von unterschiedlich stark ausgeprägten Nervenzellverbindungen in der Amygdala, einem Teil des limbischen Systems, berichtet. Hier zeigten sich die gleichen Zusammenhänge wie bei den unterschiedlichen Gehirngrößen: In den Gehirnen von homosexuellen Frauen und heterosexuellen Männern waren die Amygdala-Verbindungen in der rechten Hirnhälfte stärker ausgeprägt als in der linken. Bei homosexuellen Männern und heterosexuellen Frauen waren die Amygdala-Verbindungen in der linken Hirnhälfte ausgeprägter. Diese lassen sich, so die Forscher, bereits bei Babys unmittelbar nach der Geburt nachweisen.
Genetische Unterschiede, so die Forscher, seien wahrscheinlich nicht für diese Unterschiede verantwortlich, ebenso wenig Wahrnehmung und erlerntes Verhalten. Welche Mechanismen für die unterschiedliche Entwicklung verantwortlich sind und, ob diese pränatal oder erst unmittelbar nach der Geburt eine Rolle spielen, ist nicht bekannt. Wilson/Rahman sprechen sich jedoch gegen die durch diese Studie implizierte Annahme aus, homosexuelle Männer hätten „weibliche“ Gehirne und homosexuelle Frauen „männliche“, was nur gängigen Stereotypen entspräche. Sie postulieren, homosexuelle wie heterosexuelle Menschen besäßen eine mosaikartige Gehirnstruktur, bestehend aus männlichen und weiblichen Anteilen.
Im Jahre 1996 veröffentlichten Anthony Bogaert und Ray Blanchard von der Brock University in Kanada eine Untersuchung, wonach statistisch gesehen jüngere Brüder eher homosexuell werden als ältere Brüder. Nach ihren Daten steigt die Wahrscheinlichkeit der Homosexualität bei jedem weiteren männlichen Nachkommen um ein Drittel. In einer Nachfolgeuntersuchung konnte Bogaert zudem belegen, dass dieser Effekt nicht nachträglich durch familiäre Verhältnisse (zum Beispiel Adoption) beeinflusst wird, sondern ein rein biologischer Effekt ist. Bogaert vermutet, dass beim Tragen des ersten männlichen Kindes gewisse unbekannte biochemische Prozesse bei der Mutter ausgelöst werden, die sich bei jedem weiteren männlichen Nachkommen verstärken und zu diesem Effekt führen.
Evolutionstheorie
Unter der Annahme, Homosexualität sei genetisch disponiert oder die Ausbildung sei genetisch mit beeinflusst, wird die Frage nach dem evolutionären Nutzen gestellt, da Eigenschaften, welche die Fortpflanzung einer Art verringern, als schädlich eingestuft werden. Da die als wahrscheinlich anzusehende Häufigkeit von Homosexualität als nicht vernachlässigbare Größe angesehen werden kann, wird in der Wissenschaft die Frage erörtert, ob Homosexualität oder homosexuelles Verhalten, gerade auch in sozial lebenden Arten, einen evolutionären Vorteil haben könnte oder aber die offensichtlichen Nachteile bezüglich der Vermehrungsraten durch andere Vorteile oder Verhaltensweisen kompensiert werden könnten.
Verschiedene Thesen und Untersuchungsergebnisse werden erörtert:
Der Verzicht auf eigene Kinder könnte durch Verwandtenselektion der Sippe dienen, da sie dafür sorgt, dass sich eine größere Anzahl von Menschen um die Nachkommen kümmern kann. Dies könnte bewirken, dass der Verzicht auf eigene Kinder auch der Mitversorgung der genetisch nahe verwandten Neffen und Nichten dient und somit auch den eigenen Genen den Fortbestand erleichtert (siehe auch Das egoistische Gen). Diese Theorie erklärt allerdings nicht den evolutionstheoretischen Nutzen der Homosexualität, da asexuelles Verhalten oder Veranlagung denselben Effekt hätten.
Weibliche Verwandte homosexueller Männer scheinen fruchtbarer zu sein. Eine Studie der Universität Padua kam zu dem Ergebnis, dass weibliche Verwandte mütterlicherseits mehr Nachkommen haben als der Durchschnitt. Unter der Voraussetzung, dass Gene, welche auch zur Ausbildung der Homosexualität beitragen, mütterlicherseits vererbt werden und auch für die höhere Fruchtbarkeit verantwortlich sind, könnte dies den Nachteil kompensieren oder sogar überkompensieren.
Homosexuelles Verhalten bei Tieren
Homosexuelles Verhalten tritt wissenschaftlichen Untersuchungen zufolge in unterschiedlichen Formen im Tierreich auf. Gleichgeschlechtliches Sexualverhalten (same-sex behavior, SSB) wurde bei über 1500 Tierarten festgestellt.
Verbände und Organisationen
International
ILGA – International Lesbian, Gay, Bisexual, Trans and Intersex Association
USA
Human Rights Campaign
National Gay Pilots Association (NGPA)
PFLAG – Parents, Families and Friends of Lesbians and Gays
Deutschland
Siehe auch Homosexualität in Deutschland#Vereine und Organisationen
Lesben- und Schwulenverband in Deutschland – größte Bürgerrechts-, Selbsthilfe- und Wohlfahrtsorganisation für Lesben und Schwule in Deutschland
Lambda – schwullesbischer Jugendverband Deutschlands
BEFAH – Bundesverband der Eltern, Freunde und Angehörigen von Homosexuellen
Maneo – schwules Überfalltelefon und Opferhilfe Berlin
Völklinger Kreis – Bundesverband schwuler Führungskräfte
Österreich
HOSI – Die Homosexuellen Initiativen Österreichs – Wien, Linz, Salzburg, Tirol, Vorarlberg
Rosalila PantherInnen Graz /Steiermark
identity queer – LesBiSchwule Gruppe an den Wiener Universitäten
Wiener Antidiskriminierungsstelle – Informationen der Stadt Wien für Lesben, Schwule und TransGenderpersonen
Rechtskomitee Lambda – Lobbygruppe zur Verbesserung der rechtlichen Situation
Courage-Beratung – PartnerInnen-, Familien- und Sexualberatung (Wien)
HoMed – Homosexuelle im Gesundheitswesen
Rosa Lila Villa – Lesben- und Schwulenhaus Wien
Jugendgruppe aqueerium/Steiermark
Jugendprojekt Liebeist./Steiermark
Schweiz
Pink Cross – Nationaler Dachverband der homosexuellen Männer in der Schweiz
LOS – Lesbenorganisation Schweiz
ediagonal – Nationaler Dachverband lesbischwuler Jugendorganisationen
Siehe auch: Homosexualität in der Schweiz, Geschichte der Homosexualität in der Schweiz
Luxemburg
Rosa Letzebuerg
Cigale: Centre d’Information GAy et LEsbien
Italien (Südtirol)
Centaurus – Schwul-lesbische Initiative Südtirol
Beratungsstellen
Es gibt in sehr vielen Städten Rosa Telefone, um betroffene Menschen und Angehörige zu beraten. Die Beratung erfolgt anonym. Die meisten haben bundeseinheitlich die Nummer 19446. In einigen Städten gibt es auch sogenannte Überfalltelefone für Opfer antihomosexueller Gewalt. Die meisten haben bundeseinheitlich die Nummer 19228.
Des Weiteren gibt es häufig Coming-out-Gruppen, auch speziell für Jugendliche.
Eine große Bedeutung hat mittlerweile die Onlineberatung. Sie wird von verschiedenen Trägern angeboten.
Beratungsstellen und Organisationen, die entgegen der in der Sexualwissenschaft und Psychologie weithin akzeptierten wissenschaftlichen Meinung an eine Veränderlichkeit der sexuellen Orientierung glauben und diese fördern wollen, sind eher selten. Sie gehören meist der sogenannten Ex-Gay-Bewegung an, die von christlichen Fundamentalisten in den Vereinigten Staaten als Teil eines „Kulturkampfs“ gegen die „Ausbreitung der Homosexualität“ gegründet wurde, inzwischen aber auch in Deutschland unter anderem durch die Laienseelsorgeorganisation Wuestenstrom vertreten ist. Aufgrund ihres „Potentials, Schaden zuzufügen“ (American Psychological Association) warnen viele größere psychologische und medizinische Fachverbände vor einer Teilnahme an solchen Programmen. Einige Teilnehmer solcher Programme sagen öffentlichkeitswirksam von sich, sie hätten Veränderungen in ihrer sexuellen Orientierung erfahren. Diese Veränderungen werden von Kritikern allerdings als unwahrscheinlich angesehen: Jeremy Marks, 14 Jahre lang einer der Wortführer der christlichen Ex-Gay-Bewegung in Großbritannien, hat seine Ansichten über die „Heilbarkeit“ von Homosexualität revidiert. Marks hat geäußert, dass er niemals in der Lage gewesen sei, seine sexuelle Orientierung oder die Orientierung anderer Menschen zu verändern. „Keiner der Menschen, die ich betreut habe, hat seine sexuelle Orientierung geändert, egal wie viel Mühe und Gebete er auch investiert hat“. Der ehrliche Weg bringe einen größeren Nutzen. – Selbst der wohl bekannteste Vertreter der Veränderungstheorie in Deutschland, Markus Hoffmann, Leiter der Laienseelsorgeorganisation Wüstenstrom, räumt ein, dass er auch nach längeren und erheblichen Veränderungsbemühungen immer noch homoerotische Gefühle hat. – Günter Baum, der Vorgänger von Markus Hoffmann als Leiter bei Wüstenstrom, sagt heute: „In all den Jahren bei Wüstenstrom hat sich an meinen schwulen Gefühlen nichts geändert. Ich habe mir wirklich viel Mühe gegeben“. Die Therapien seien wie eine Haartönung: „Man kann sich so viel Blond ins Haar schmieren wie man will – die eigentliche Haarfarbe kommt immer wieder durch“.
In wissenschaftlicher Hinsicht berufen sich viele dieser Gruppen auf eine vielkritisierte Studie von Robert L. Spitzer aus dem Jahr 2001. Spitzer selbst hat im Jahr 2012 die Studie zurückgezogen und die daran geäußerte Kritik weitgehend bestätigt. Der von der Ex-Gay-Bewegung häufig in ihrem Sinn zitierte Professor Gunter Schmidt, Sexualwissenschaftler, Sozialpsychologe und Psychotherapeut aus Hamburg, äußerte sich zur entsprechenden Verwendung eines seiner Aufsätze wie folgt:
Finanzielle Hilfe für Gruppen und Initiativen
Homosexuelle Selbsthilfe e. V.
Hannchen-Mehrzweck-Stiftung
Siehe auch
Liste queerfeindlicher Anschläge und Angriffe
Liste von Filmen mit homosexuellem Inhalt
Liste von Magazinen für homosexuelle Männer
Liste von Magazinen für homosexuelle Frauen
Homosexualität und Transgender in Cartoons und Kinderserien
Literatur
Homosexualität und Gesellschaft
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Homosexualität und Wirtschaft
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Gayle Rubin: Sites, Settlements, and Urban Sex: Archaeology And The Study of Gay Leathermen in San Francisco 1955–1995. In: Robert Schmidt, Barbara Voss (Hrsg.): Archaeologies of Sexuality. Routledge, London 2000, ISBN 0-415-22365-2.
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Gayle Rubin: Samois. In: Marc Stein (Hrsg.): Encyclopedia of Lesbian, Gay, Bisexual, and Transgender History in America. Charles Scribner’s Sons, 2003; leatherarchives.org (PDF)
Gayle Rubin: Leather Times. Samois, 2004; leatherarchives.org (PDF; 1,3 MB)
Weblinks
Engagierte Zärtlichkeit – schwul-lesbisches Online-Handbuch über Homosexualität
Sehr umfassender Link in englischer Sprache
Christoph Landolt: Sex wie ein Florentiner oder wie ein Winterthurer haben, in: Wortgeschichte vom 7. Juni 2013, hrsg. von der Redaktion des Schweizerischen Idiotikons – kleiner sprachgeschichtlicher Exkurs zu früheren Bezeichnungen
Einzelnachweise
Sexuelle Orientierung
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Q6636
| 442.999002 |
64757
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https://de.wikipedia.org/wiki/Gyeongsangnam-do
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Gyeongsangnam-do
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Gyeongsangnam-do (Süd-Gyeongsang) ist eine Provinz im Südosten von Südkorea. Im Norden grenzt sie an Gyeongsangbuk-do, im Osten an das Japanische Meer. Im Süden ist die Provinz begrenzt durch die Koreastraße, im Westen durch Jeollabuk-do und Jeollanam-do. Die Hauptstadt der Provinz ist Changwon. Die Provinz hat 3.438.676 Einwohner (Stand: 2019).
Geographie
Der größte Teil der weitgehend aus Flachland bestehenden Provinz wird vom Naktong Fluss und seinen Zuflüssen bewässert. Das Flussdelta Gimhae ist eine wichtige Kornkammer in Südkorea. Die höchste Erhebung im westlichen Gebirgsland ist mit 1915 Metern der Jirisan.
Es herrscht ein mildwarmes Klima mit durchschnittlichen Temperaturen zwischen 2 °C im Winter und 25 °C im August. Die jährliche Niederschlagsmenge beträgt im Mittel 1500 mm.
Wirtschaft
Landwirtschaftliche Produkte in Gyeongsangnam-do sind Reis, Bohnen, Kartoffeln und Gersten. Die Provinz ist bekannt für die Produktion von Baumwolle. Entlang der Südküste werden Sesam und Früchte angebaut. Meeresprodukte und Fischerei sind ebenfalls von Bedeutung.
Leichte Industrie findet sich in den Städten Jinju, Tongyeong und Samchonpo. Die bedeutende Schwerindustrie der Region (Schiffbau, Luftfahrt- und Automobilindustrie, Maschinenbau und Elektrotechnik) ist vor allem in den Städten Ulsan, Masan und Jinhae an der Südküste anzutreffen. Um das wie Ulsan eigenständig verwaltete Busan und Jinhae wurde eine Freihandelszone eingerichtet. Eine weitere Freihandelszone befindet sich bei Masan. Der Kreis Hadong und benachbarte Gebiete der Provinz Jeollanam-do gehören zum Entwicklungsprojekt Gwangyang-Bucht.
Tourismus
Der 802 erbaute Haein-Tempel zieht v. a. inländische Touristen an. Der Tempel liegt im Nationalpark des Gaya-san nahe der Grenze zu Gyeongsangbuk-do.
Verwaltungsgliederung
Gyeongsangnam-do ist in acht Städte und zehn Landkreise gegliedert.
Weblinks
Webseite der Provinz (englisch, andere Sprachen wählbar)
Einzelnachweise
Südkoreanische Provinz
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Q41151
| 203.753559 |
47690
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https://de.wikipedia.org/wiki/K.-o.-System
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K.-o.-System
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Das K.-o.-System (von , etwa „herausschlagen“ oder „außer Gefecht setzen“), seltener auch Einzelausscheidung ( im Unterschied zu , siehe Doppel-K.-o.-System) oder Pokalsystem (), ist eine Turnierform, die in Sportarten wie z. B. Tennis oder in Cup-Bewerben im Fußball angewendet wird, wobei der Verlierer einer Begegnung aus dem Turnier ausscheidet. Bei Wettbewerben, die nur teilweise im K.-o.-System ausgetragen werden, wird der entsprechende Abschnitt auch als K.-o.-Phase bezeichnet.
Ablauf eines K.-o.-Turniers
In jeder Spielrunde treffen jeweils 2 Teilnehmer aufeinander. Die Sieger der Erstrundenspiele steigen in die zweite Runde auf, die Verlierer scheiden aus. Die Sieger der Zweitrundenspiele treffen in der dritten Runde aufeinander, während die Verlierer wiederum ausscheiden usw. Zuletzt bleiben zwei Teilnehmer übrig, die im Finale um den Turniersieg kämpfen.
Das K.-o.-System funktioniert am besten, wenn die Zahl der Teilnehmer eine Zweierpotenz darstellt, also 2, 4, 8, 16, 32 usw. Ansonsten erhalten einige Teilnehmer in der ersten Runde ein Freilos (). Mit jeder Runde halbiert sich die Anzahl der Teilnehmer. Im Achtelfinale sind es 16, im Viertelfinale acht, im Halbfinale (auch Semifinale) vier und im Finale nur noch zwei Teilnehmer.
Gleichzeitig ist das K.-o.-System diejenige Turnierform, welche die Anzahl der Spiele und Spielrunden minimiert: bei 22 = 4 Teilnehmern benötigt man 2 Runden, bei 23 = 8 Teilnehmern 3 Runden, bei 24 = 16 Teilnehmern 4 Runden usw. Die Anzahl der Spiele insgesamt ist um 1 kleiner als die Anzahl der Teilnehmer. Zum Beispiel müssen bei 32 Mannschaften insgesamt 31 Spiele gespielt werden. Ein weiterer Vorzug des K.-o.-Systems ist der einfache, leicht verständliche Aufbau.
Diese Turnierform erfüllt die meisten Anforderungen an eine Turnierform. Werden jedoch in der ersten Runde die Paarungen gelost, so kann es geschehen, dass bereits in der ersten Runde der beste Teilnehmer auf den zweitbesten trifft, d. h. beim einfachen K.-o.-System ist nicht gewährleistet, dass der zweitbeste Teilnehmer den zweiten Platz erreicht (vorausgesetzt in jeder Begegnung gewinnt der jeweilige Favorit).
Um zu vermeiden, dass bei Turnieren mit K.-o.-System die Favoriten bereits sehr früh aufeinandertreffen, werden die Teilnehmer gegeneinander gesetzt (). Bei einem Turnier mit 128 Teilnehmern spielt daher in der ersten Runde der beste Teilnehmer (Nr. 1) gegen Nr. 128, Nr. 2 gegen 127 usw. Gewinnen jeweils die Favoriten, so treffen in der zweiten Runde Spieler Nr. 1 auf Nr. 64, Nr. 2 auf Nr. 63 usw. Im Finale stehen einander die beiden Besten gegenüber.
Nachteile
Die Hälfte der Teilnehmer scheidet bereits in der ersten Runde aus. Dies hat zur Folge, dass schwächere Spieler/Teams kaum Turniererfahrung gewinnen.
Der Vorteil, dass das K.-o.-System die Anzahl der durchzuführenden Spiele minimiert, bedingt auch einen Nachteil: denn je weniger Spiele durchgeführt werden, desto größer ist der Einfluss des Zufalls, im Besonderen der Einfluss der vor Beginn eines Turniers notwendigen Auslosung. Das K.-o.-System ist daher nur geeignet, den/das beste(n) Spieler/Team zu ermitteln, nicht aber den zweitbesten, da durch die Auslosung der/das beste Spieler/Team bereits vor dem Finale auf den/das zweitbeste(n) treffen kann.
Bei Wettkämpfen, in denen Unentschieden häufig vorkommen, müssen Tie-Breakers angewendet werden, um einen Sieger zu ermitteln, diese sind sehr oft umstritten (z. B. beim Fußball Verlängerung, Golden Goal, Silver Goal, Elfmeterschießen, Wiederholungsspiele oder gar das Werfen eines Loses).
Weitere Bewertung
Der Vorteil eines Turniers nach K.-o.-System besteht darin, dass eine Entscheidung vergleichsweise schnell herbeigeführt wird (z. B. im Vergleich mit einem Rundenturnier). Eine einmalige Niederlage bedeutet demzufolge jedoch bereits das Ausscheiden aus dem Turnier. Daher wird dem Zufall bei diesem Turnierformat ein sehr hoher Einfluss beigemessen.
Das Setzen begünstigt die Favoriten, was von den übrigen Spielern als unfair empfunden wird. Ändern sich die Spielstärken der einzelnen Teilnehmer nur relativ langsam, so ergeben sich sehr viele gleiche Spielpaarungen in aufeinanderfolgenden Turnieren, und das ist für den Veranstalter wie auch für den Zuschauer unbefriedigend. Darüber hinaus hätte die Nr. 128, die stets gegen die Nr. 1 anzutreten hat, nie eine Möglichkeit sich zu verbessern.
Bei Tennis-Turnieren etwa wird daher eine Mischung aus Auslosen und Setzen angewendet. Bei Grand-Slam-Turnieren werden nur die Top-32-Spieler gesetzt: Spieler 1 wird auf Position 1, Spieler 2 auf Position 2 gesetzt, die Spieler 3 und 4 werden auf die Positionen 3 und 4 gelost, die Spieler 5 bis 8 werden auf die Positionen 5 bis 8 gelost, die Spieler 9 bis 16 auf die Positionen 9 bis 16 und die Spieler 17 bis 32 auf die Positionen 17 bis 32 gelost; alle übrigen Teilnehmer (also die Spieler 33 bis 128) werden gelost.
Beispiel
Die letzten drei Runden der French Open 2008/Dameneinzel wurden zwischen acht Spielerinnen ausgetragen:
Des Weiteren ist es für das Setzen unerlässlich, die Stärke der einzelnen Teilnehmer bereits im Voraus sehr genau einschätzen zu können, was wiederum sehr aufwändige und daher oft schwer nachvollziehbare Bewertungsmethoden erfordert (z. B. Elo-Zahl beim Schach, Weltrangliste beim Tennis).
Turnier-Varianten
Bei einem Turnier nach dem K.-o.-System gibt es folgende Preise: Der Sieger belegt den ersten Platz; der Verlierer des Finales belegt den zweiten Platz, die Verlierer der beiden Semifinalspiele belegen die beiden dritten Plätze. Manchmal tragen die Verlierer der Semifinalspiele untereinander ein „Kleines Finale“ aus, das Spiel um den dritten Platz oder Spiel um Platz drei.
Auf analoge Art können auch die Plätze 5 bis 8 bestimmt werden: Zuerst spielen jeweils zwei Verlierer der Viertelfinalspiele gegeneinander, sodann treffen die beiden Sieger aus diesen Partien aufeinander und spielen um die Plätze 5 und 6, während die Verlierer aus diesen Spielen eine Partie um die Plätze 7 und 8 austragen.
Prinzipiell lässt sich durch entsprechende zusätzliche Klassifikationsspiele eine durchgehende Reihung ermitteln, doch wird davon zumeist abgesehen; selbst die Durchführung eines Spiels um den dritten Platz ist keineswegs überall üblich.
Gelegentlich tragen die in der ersten Runde ausgeschiedenen Teilnehmer unter sich ein separates K.-o.-Turnier aus, dieses Turnier wird Trostrunde oder genannt. (Anmerkung: Dabei handelt es sich um ein eigenes Turnier und besteht selbst aus mehreren Runden). Es können auch mehrere Consolations gespielt werden: , und .
Die Trostrunden werden gelegentlich auch als Hoffnungslauf bezeichnet, manchmal ist es dem Gewinner dieser Runde gestattet, wieder ins Hauptturnier einzutreten: dies führt im Wesentlichen zum Double-knock-out-Format.
Beim Bergvall-System folgt nach dem Endspiel eine weitere K.-o.-Runde all der Teilnehmer, die zuvor im direkten Vergleich mit dem Turniersieger ausgeschieden sind. Damit soll sichergestellt werden, dass der zweite Platz tatsächlich vom zweitstärksten Teilnehmer des Turniers errungen wird. Nach demselben System können dann auch noch die weiteren Platzierungen ausgespielt werden.
Bei internationalen Fußball-Turnieren werden manchmal in jeder Runde zwei Spiele durchgeführt, um Vorteile durch das Heimrecht auszugleichen; in diesem Fall werden die Punkte bzw. Tore der beiden Spiele addiert. Bei einem Unentschieden kann die Auswärtstorregel angewendet werden.
Um die Entscheidung nicht durch ein einziges Spiel herbeizuführen, gibt es Varianten, bei denen derjenige die nächste Turnierrunde erreicht, der zuerst eine zuvor festgelegte Anzahl von Siegen erreicht. Mit anderen Worten: Man definiert den für das Weiterkommen benötigten Sieg neu; dieser ist eben erst nach mehreren Gewinnen in einzelnen Spielen erreicht. So bedeutet z. B. , dass derjenige die nächste Turnierrunde erreicht, der bei maximal fünf Begegnungen zuerst dreimal gewonnen hat – der Unterlegene kann dann nur auf maximal zwei Siege kommen. Dies wird beispielsweise beim Eishockey oder Basketball angewendet. Beim Tennis spielt man oder , d. h. derjenige Spieler kommt weiter, der als erstes drei bzw. zwei Sätze gewinnt.
Erlaubt eine Disziplin zwar das gleichzeitige Antreten mehrerer, jedoch nicht das gleichzeitige Antreten aller Teilnehmer (z. B. Kurzstreckenlauf, Schwimmsport, Poker), so lässt sich das K.-o.-System folgendermaßen variieren: Es werden mehrere Vorläufe durchgeführt; in jedem Vorlauf treten mehrere Teilnehmer im K.-o.-System gegeneinander an, von denen sich eine bestimmte Anzahl (oft die Hälfte) für die nächste Runde qualifiziert.
Bekannte Wettbewerbe, die im K.-o.-System ausgetragen werden, sind die nationalen Fußball-Pokalwettbewerbe, wie zum Beispiel der deutsche DFB-Pokal, der österreichische ÖFB-Cup oder der Schweizer Cup. In manchen Bewerben (z. B. UEFA-Cup, Champions-League-Qualifikation, manche nationalen Pokalwettbewerbe) spielen nicht alle Mannschaften bereits ab der ersten Runde mit, so dass die Teilnehmerzahl in den ersten Runden keine Zweierpotenz darstellt.
Eine weitere spezielle Variante des K.-o.-Systems findet man bei Kartenspielen, namentlich beim Preisschnapsen und Preiswatten.
In vielen Fällen wird eine Kombination aus K.-o.-System und Rundenturnier verwendet.
Zumeist wird der erste Abschnitt des Turniers als Rundenturnier mit mehreren Gruppen oder Ligen, ein weiterer als K.-o.-Turnier durchgeführt. Beispiele hierfür sind die Fußball-Weltmeisterschaft und Fußball-Europameisterschaft sowie die meisten europäischen Fußball-Pokalwettbewerbe. Hier werden die Mannschaften überwiegend in Gruppen von je 4 Mannschaften aufgeteilt. Zwischen den Mannschaften einer Gruppe spielt jeder gegen jeden. Dies wird als Gruppenphase, manchmal auch als Vorrunde bezeichnet. Die Gruppenersten und Gruppenzweiten spielen dann im K.-o.-System gegeneinander.
Mathematische Zusammenhänge
Bei einem K.-o.-Turnier, wo die Anzahl der Teilnehmer einer Zweierpotenz ist, also 2, 4, 8, 16, 32 usw., gibt es verschiedene Möglichkeiten dafür, welche der Teilnehmer in der ersten Runde gegeneinander spielen. Die Reihenfolge der Teilnehmer und der Spiele der ersten Runde wird dabei nicht berücksichtigt. Diese Anzahl steigt schneller als exponentiell mit der Anzahl der Teilnehmer:
Je nachdem, welcher der 2 Teilnehmer bei den Spielen jeweils gewinnt, gibt es verschiedene Turnierverläufe bei einem K.-o.-Turnier mit Teilnehmern.
Siehe auch
Doppel-K.-o.-System
Schweizer System
Rundenturnier
Weblinks
Klaus-Michael Becker: K.o.-System und Abwandlungen (PDF; 351,6 kB)
Beschreibung und Modellierung von Algorithmen für einfache und doppelte K.-o.-Systeme (englisch)
Sourcecode für ein Webprojekt mit JavaScript und JSON (englisch)
Einzelnachweise
Wettbewerbsmodus
Spielbegriff
ja:トーナメント方式#勝ち残り式トーナメント
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Q864897
| 105.096576 |
2524
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https://de.wikipedia.org/wiki/Jiddisch
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Jiddisch
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Jiddisch (jiddisch oder , wörtlich „jüdisch“; veraltet Jüdischdeutsch oder Judendeutsch genannt) ist eine annähernd tausend Jahre alte Sprache, die von aschkenasischen Juden in weiten Teilen Europas gesprochen und geschrieben wurde und von einem Teil ihrer Nachfahren bis heute gesprochen und geschrieben wird. Es ist eine aus dem Mittelhochdeutschen hervorgegangene westgermanische Sprache, die außer der hochdeutschen auch eine hebräisch-aramäische, eine romanische und eine slawische Komponente aufweist. Aus jüngerer Zeit stammen Einflüsse aus dem Neuhochdeutschen und je nach heutigem Wohnort der Sprecher auch solche aus dem Englischen, dem Iwrith und aus anderen Landessprachen. Jiddisch teilt sich in West- und Ostjiddisch. Letzteres besteht aus den Dialektverbänden Nordostjiddisch („litauisches Jiddisch“), Zentraljiddisch („polnisches Jiddisch“) und Südostjiddisch („ukrainisches Jiddisch“).
Die jiddische Sprache hat sich im Mittelalter zunächst im Zuge der Ostsiedlung, später auch infolge der durch Verfolgung bedingten Migration der Juden vom deutschsprachigen Gebiet aus in Europa verbreitet, besonders nach Osteuropa, wo schließlich das Ostjiddische entstand. Mit den Auswanderungswellen von Millionen osteuropäischer Juden im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert breitete sie sich dann westwärts aus und gelangte in die neuen jüdischen Zentren in Amerika und Westeuropa, später auch nach Israel.
Jiddisch war eine der drei jüdischen Sprachen der aschkenasischen Juden, neben dem weitestgehend der Schriftlichkeit vorbehaltenen Hebräisch und Aramäisch. Es wurde nicht nur als gesprochene, sondern auch als mit hebräischen Schriftzeichen geschriebene und gedruckte Alltagssprache verwendet. Eine ähnliche Rolle wie das Jiddische für die aschkenasischen Juden spielt für die sephardischen Juden das Judenspanisch.
Während Westjiddisch bereits im 18. Jahrhundert auszusterben begann, blieb Ostjiddisch die Alltagssprache der Mehrheit der Juden in Osteuropa, bis im Holocaust die jüdischen Zentren Kontinentaleuropas vernichtet wurden. Heute wird Jiddisch als Muttersprache noch von (oft betagten) Nachfahren osteuropäischer Juden, von einer kleinen, aber regen Anzahl so genannter Jiddischisten und ganz besonders von ultraorthodoxen aschkenasischen Juden gesprochen. Die Zahl der Muttersprachler wird auf maximal eine Million geschätzt.
Weil das Sprechen, Schreiben und kulturelle Schaffen auf Jiddisch seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert fast ausschließlich auf ostjiddischer Grundlage geschieht, versteht man heute unter Jiddisch faktisch Ostjiddisch, solange nicht ausdrücklich von Westjiddisch die Rede ist. In diesem Artikel steht folglich das Ostjiddische im Zentrum der Beschreibung.
Bezeichnungen
Jiddischsprecher, nach ihrer Eigenbezeichnung jid (Plural jidn) von Jiddisten Jidden genannt, bezeichnen das Jiddische als mame-loschn (, deutsch „Muttersprache“). Das deutsche Wort Jiddisch ist ein verhältnismäßig neues Kunstwort. Es ist eine Entlehnung aus dem englischen Yiddish, das seinerseits auf das von ostjüdischen Emigranten nach England mitgebrachte jiddische Wort jidisch zurückgeht. Jidisch (oder idisch) bedeutet im Jiddischen sowohl „jüdisch“ als auch „jiddisch“. Das sogenannte Judendeutsch ist eine dem Deutschen sehr ähnliche Variante des Westjiddischen und war die Umgangs- und Korrespondenzsprache der Mehrheit der deutschen Juden bis etwa zur Mitte des 19. Jahrhunderts.
Im Englischen ist das Wort Yiddish seit 1886 belegt, so zuerst in dem Roman Children of Gibeon von Walter Besant mit der Erklärung, dass es sich um eine aus Polnisch, Deutsch und Hebräisch gemischte Sprache handele, bald darauf dann aber auch durch gelegentliche Verwendung in sprachwissenschaftlichen Publikationen wie Alexander Harkavys Dictionary of the Yiddish Language (New York 1898) und Leo Wieners History of Yiddish Literature in the Nineteenth Century (London & New York 1899), wobei auch in solchen Fachpublikationen bis ins 20. Jahrhundert ältere Bezeichnungen wie Judaeo-German zunächst noch vorherrschend blieben.
Bei der Anglisierung des jiddischen Wortes jidisch wurde der Konsonant „d“ verdoppelt, um die Aussprache -i- zu erhalten und der sonst im Englischen naheliegenden Aussprache -ai- vorzubeugen. Von hier aus wurde das Wort in der Form „jiddisch“ auch ins Deutsche übernommen, wo es zuerst in Gustav Karpeles’ Geschichte der jüdischen Literatur (Berlin 1909, dort neben „jüdisch-deutsch“) und dann in Solomon Birnbaums Aufsatz Jiddische Dichtung (1913) erscheint. Dabei stand der Anglizismus jiddisch in Konkurrenz nicht nur zu den älteren Bezeichnungen, sondern auch zu der zuweilen aus dem Ostjiddischen direkt ins Hochdeutsche übernommenen Bezeichnung jidisch, wie sie z. B. im Untertitel „Übertragungen jidischer Volksdichtung“ zu der Sammlung Ostjüdische Liebeslieder (Berlin 1920) von Ludwig Strauss erscheint.
Es ist maßgeblich der Initiative Birnbaums und dem Einfluss seiner Praktischen Grammatik der Jiddischen Sprache (1918) sowie seiner zahlreichen Fachpublikationen und Lexikonartikel zuzuschreiben, dass sich Jiddisch (und auch im Englischen Yiddish) in der Folgezeit als fachsprachlicher Terminus etablierte, als Bezeichnung zunächst vorwiegend für das neuostjiddische, und dann umfassend für sämtliche Sprachperioden unter Einbeziehung des westlichen Jiddisch.
Geschichte
In der mittelhochdeutschen Periode entwickelten sich im deutschen Sprachgebiet spezifische Ausprägungen des Deutschen, die von Juden untereinander gesprochen und mit einem dafür angepassten hebräischen Alphabet geschrieben wurden. Charakteristisch sind eine Vielzahl von Entlehnungen aus dem meist nachbiblischen Hebräischen und dem Aramäischen sowie in geringem Maße auch einige Entlehnungen aus romanischen Sprachen.
Bedingt durch Antijudaismus und Judenverfolgung ab dem 11. Jahrhundert, besonders die Judenverfolgungen zur Zeit des Schwarzen Todes um 1348, wanderten Juden massenhaft aus dem deutschen Sprachgebiet nach Osteuropa aus, besonders in das Königreich Polen und das Großfürstentum Litauen. In der Folge kam es zu einer sprachlich getrennten Entwicklung: Das Jiddische im Westen entwickelte sich im Kontakt mit dem Deutschen weiter und ging schließlich im Zuge der jüdischen Aufklärung und der sprachlichen Assimilation deutscher Juden ab dem 18. Jahrhundert im Deutschen auf, während das Jiddische im Osten sich im Kontakt einerseits mit den ostmitteldeutschen Ausgleichsdialekten deutscher Siedler in Polen und andrerseits mit den westslawischen Sprachen weiterentwickelte. Man unterteilt das Jiddische deshalb in Westjiddisch und Ostjiddisch. Die Koterritorialität der slawischen Sprachen schlug sich so stark in lexikalischen Entlehnungen und der Übernahme morphologischer und syntaktischer Elemente nieder, dass Slawisch neben Deutsch, Hebräisch-Aramäisch und Romanisch zu den vier Kernkomponenten des Ostjiddischen gezählt wird.
Für den jiddischen Buchdruck war bis ins frühe 18. Jahrhundert das Westjiddische maßgeblich. Im späten 18. Jahrhundert hatten jedoch die ostmitteleuropäischen Druckorte die westmitteleuropäischen abgelöst, und infolgedessen sowie wegen der fortgeschrittenen Assimilation der Juden Deutschlands setzte sich das Ostjiddische als neuer Standard der jiddischen Sprache durch. Im 19. Jahrhundert wurden auch nicht-religiöse Publikationen immer zahlreicher. Es folgt eine bis zum Zweiten Weltkrieg andauernde Epoche, die oft als goldenes Zeitalter der jiddischen Literatur gewertet wird. Diese Periode fällt mit der Wiederbelebung des Hebräischen als gesprochene Sprache und der Wiedergeburt der hebräischen Literatur zusammen.
Mit der Massenauswanderung nach Nordamerika und England im späten 19. Jahrhundert expandierte das Jiddische in den englischen Sprachraum und wurde dort zunehmend durch Englisch als Kontaktsprache beeinflusst. Infolge der großen Anzahl jiddischsprachiger Einwanderer haben zahlreiche jiddische Wörter Eingang in den umgangssprachlichen Wortschatz des US-amerikanischen Englisch gefunden. Mit der jiddischen Ausgabe des Forward existiert in New York bis heute eine jiddisch geschriebene Zeitung (seit 2019 nur noch online), die auf diese Einwanderungswelle zurückgeht; weitere jiddische Blätter richten sich an das erst nach dem Zweiten Weltkrieg nach Amerika gekommene ultraorthodox-jüdische Bevölkerungssegment.
In der unabhängigen Ukrainischen Volksrepublik, die von 1917 bis 1920 existierte, gehörte Jiddisch zu den offiziellen Sprachen. Die Geschichte der Juden in der Sowjetunion verlief hingegen ambivalent. Einerseits betrieb die Sowjetunion unter der Herrschaft Josef Stalins eine aktive judenfeindliche Politik. Sie verfolgte die jüdische Religion, das Bibelstudium, die zionistische Bewegung und die hebräische Sprache. Andererseits wurden jiddische Sprache und Literatur zumindest bis zum Zweiten Weltkrieg offiziell gefördert. So war Jiddisch in den 1920ern und 1930ern neben dem Russischen, Weißrussischen und Polnischen einige Jahre lang Staatssprache in der weißrussischen Sowjetrepublik. Zwischen 1918 und 1923 wurden unter der Führung des Kriegsveteranen Simon Dimantstein jüdische Sektionen („Jewsekzija“) in der Kommunistischen Partei der Sowjetunion gebildet. Sie sollten eine „jüdische proletarische Kultur“ aufbauen, die nach den Worten Stalins „national in der Form und sozialistisch im Inhalt“ sein sollte. Es gab drei bedeutende jiddische Zeitungen: Der Emes („Die Wahrheit“, 1920–1939 in Moskau), Der Schtern (1925–1941 in der Ukraine) und Oktjabr („Oktober“, 1925–1941 in Weißrussland). Auch der Aufbau eines jiddischen Schulsystems wurde gefördert. 1932 besuchten 160.000 jüdische Kinder in der Sowjetunion eine jiddischsprachige Schule. Doch wegen des Mangels an höheren Ausbildungsmöglichkeiten in Jiddisch und der zunehmend minderheitenfeindlichen Politik Stalins wurden diese Schulen in den folgenden Jahren im ganzen Land geschlossen.
1925 wurde im damals polnischen Wilno das YIVO (Jidischer wißnschaftlecher inßtitut) als akademische Einrichtung zum Studium jiddischer und ostjüdischer Kultur eröffnet. Seit 1940 ist der Hauptsitz in New York; 1941 plünderten die Nazis den Sitz in Wilna. Auch in Kiew und Minsk wurden wissenschaftliche Institute zur Erforschung der jiddischen Sprache, Literatur und Kultur eingerichtet, die ihre Arbeiten auf Jiddisch publizierten.
1928 wurde die Jüdische Autonome Oblast (Hauptstadt: Birobidschan) in der östlichen Sowjetunion gegründet. Hier sollte Jiddisch als Amtssprache eingeführt werden, jedoch bildeten Jiddischsprachige dort nie die Bevölkerungsmehrheit. Seit dem Zerfall der Sowjetunion sind die meisten Juden der Jüdischen Autonomen Oblast nach Israel, Deutschland und in die USA ausgewandert; Jiddisch ist abgesehen von der Beschriftung einzelner öffentlicher Gebäude, Straßen und Denkmäler kaum mehr präsent.
1939 hatte Jiddisch nach verschiedenen Schätzungen 11 bis 13 Millionen Sprecher. Nach positiven Schätzungen war es nach Englisch und Deutsch und noch vor dem Niederländischen die drittgrößte germanische Sprache.
Heutige Verbreitung
Gemäß einer Schätzung von Ethnologue aus dem Jahr 2015 gibt es 1,5 Millionen Sprecher des Ostjiddischen. Worauf diese Zahl basiert, ist allerdings unklar. Heute gibt es in etlichen traditionalistischen, ultraorthodoxen chassidischen Gruppierungen wie besonders in New York (im Stadtteil Brooklyn) sowie in den New Yorker Vororten Kiryas Joel, New Square und Monsey, in Montreal sowie in dessen Vorort Kiryas Tosh, in London, in Manchester, in Antwerpen, in Jerusalem (etwa im Stadtteil Me'a Sche'arim) und in Bnei Brak sowie in gewissen ebenfalls ultraorthodoxen, aber nicht chassidischen Gemeinschaften in Jerusalem größere Sprechergruppen, die Jiddisch als Alltagssprache verwenden und an die nächste Generation weitergeben. Neben diesen Sprechern gibt es auch eine kleine säkulare Sprechergemeinschaft, die das Jiddische weiter pflegt, die teils aus sogenannten „Jiddischisten“ und teils aus ehemaligen Chassidim besteht. Realistischerweise rechnet man heute mit etwa einer halben Million bis 650.000–670,000 Personen, die es als Alltagssprache benutzen.
Westjiddisch hat gemäß Ethnologue heute angeblich etwas über 5.000 Sprecher. Diese Zahl ist allerdings interpretationsbedürftig und dürfte so gut wie ausschließlich Personen betreffen, die lediglich noch über Restkompetenzen des Westjiddischen verfügen und für die Jiddisch häufig ein Teil ihrer religiösen oder kulturellen Identität darstellt. Im schweizerischen Surbtal, dessen westjiddische Dialekte gemeinhin zu denjenigen gerechnet werden, die noch am längsten gesprochen wurden, ist Jiddisch als lebendige Sprache in den 1970er Jahren ausgestorben. Im Elsass, wo sich das Westjiddische wahrscheinlich am längsten gehalten hat, soll es noch zu Beginn des 21. Jahrhunderts einige wenige Sprecher dieser sprachlichen Varietät gegeben haben. Der Verlust dieser traditionellen Sprache ist in der Öffentlichkeit kaum zur Kenntnis genommen worden.
Lehrstühle sowie Lehrbeauftragte für Jiddistik gibt es heute an mehreren Universitäten, darunter in Düsseldorf und Trier. An weiteren Universitäten werden Sprachkurse und Übungen angeboten, meist im Rahmen der Judaistik.
Schrift
Jiddisch wird von rechts nach links mit dem hebräischen Alphabet geschrieben (Aljamiado-Schreibweise), das für die besonderen Zwecke dieser nicht-semitisch basierten Sprache angepasst worden ist. So stehen gewisse Zeichen, die im Hebräischen für Konsonanten gebraucht werden, im Jiddischen auch für Vokale. Deutsch- und slawischstämmige Wörter werden (mit ganz wenigen Ausnahmen) weitgehend phonetisch geschrieben, hebräisch- und aramäischstämmige (ebenfalls mit wenigen Ausnahmen) hingegen weitgehend wie im Hebräischen. Anders als Judenspanisch wird Jiddisch höchst selten in lateinischen Buchstaben geschrieben – in der Regel nur dann, wenn der Text sich an eine des Jiddischen nicht (voll) mächtige Leserschaft richtet.
Umschriften in lateinischer Schrift gibt es mehrere. Sie gelten als gleichwertig, wenn sie zwischen Zeichen und Laut eine Eins-zu-Eins-Entsprechung herstellen (d. h. für jeden Laut nur eine festgelegte Schreibweise zulassen) und damit problemlos ineinander überführt werden können. International verbreitet ist die vom YIVO entwickelte Transkription, die teilweise auf englischen Schreibgewohnheiten gründet. Im deutschen Sprachraum wird oft eine an die deutsche Orthografie angepasste Transkription bevorzugt, um das Lesen zu erleichtern; an die Stelle der englisch basierten Grapheme y, z, s, v, ts, kh, sh, zh, ay, ey, oy treten hier j, s, ß (oder ss), w, z, ch, sch, sh, aj, ej, oj. In der Sprachwissenschaft schließlich benutzt man statt einer Transkription häufig eine Transliteration, in der j, c, x, š, ž, č, aj, ej, oj den YIVO-Graphemen y, ts, kh, sh, zh, tsh, ay, ey, oy entsprechen.
Hebräische Schriftzeichen und lateinische Umschrift
Übersicht
Besonderheiten der Verwendung von Aleph und Ajin
Aufgrund der Schreibtradition des Hebräischen, in der Aleph und Ajin keine Vokale, sondern zwei ursprünglich verschiedene semitische Kehllaute darstellen, die in der modernen Aussprache zwar meist verstummt sind, aber dennoch weiterhin geschrieben werden, ergeben sich Besonderheiten für die Verwendung beider Buchstaben im Jiddischen:
Der Buchstabe Aleph steht im Jiddischen meist für /a/ oder /o/ (siehe Tabelle oben). Er steht außerdem als sogenannter schtumer alef („stummes Aleph“, א) prinzipiell am Anfang jeden Wortes, das mit einem Vokal beginnt – außer wenn dieser mit Ajin (ע) dargestellt wird, d. h. außer wenn entweder das Wort mit /e/ anfängt oder es sich um ein semitischstämmiges Wort handelt, dessen Anlaut aufgrund der orthografischen Regeln des Hebräischen mit Ajin geschrieben wird. Entsprechend schreibt man: אַלט (alt ‚alt‘), אָװנט (ownt ‚Abend‘), אײַז (ajs ‚Eis‘), אײ (ej ‚Ei‘), איז (is ‚ist‘), אױװן (ojwn ‚Ofen‘), און (un ‚und‘) – aber: ער (er ‚er‘), ענג (eng ‚eng‘). Zudem wird das Aleph (außer in der sowjetischen Rechtschreibungsvariante) innerhalb von Zusammensetzungen gebraucht, wenn das darin enthaltene Grundwort mit einem Vokal (außer /e/) beginnt, z. B. פֿאַראײן (farejn ‚Verein‘) und פֿאַראינטערעסירן (farintereßirn ‚interessieren‘).
In einer traditionelleren, außerhalb der YIVO-Orthografie stehenden Rechtschreibung wird Aleph auch als Lauttrenner (z. B. in רואיק ruik ‚ruhig‘, nach YIVO רויִק) und Buchstabentrenner (z. B. װאו wu ‚wo‘, nach YIVO װוּ, und װאוינען, wojnen ‚wohnen‘, nach YIVO װוּינען) verwendet; die YIVO-Rechtschreibung setzt in solchen Fällen Punktierungen ein.
Die Verwendung von Waw und Jod
Die doppelte Verwendung der Buchstaben Waw und Jod jeweils als Vokal und Konsonant geht ebenfalls auf das Hebräische zurück; siehe hierzu Mater lectionis.
Umschriften im Vergleichstext
Als Demonstration für die YIVO- und die deutsch basierte Umschrift sowie eine wissenschaftliche Transkription dienen im Folgenden zwei Sätze aus Awrom Sutzkewers Erzählung »Griner Akwarium«:
YIVO-Transkription: Ot di tsavoe hot mir ibergelozn mit yorn tsurik in mayn lebediker heymshtot an alter bokher, a tsedrumshketer poet, mit a langn tsop ahinter, vi a frisher beryozever bezem. S’hot keyner nit gevust zayn nomen, fun vanen er shtamt.
Deutsch basierte Transkription: Ot di zawoe hot mir ibergelosn mit jorn zurik in majn lebediker hejmschtot an alter bocher, a zedrumschketer poet, mit a langn zop ahinter, wi a frischer berjosewer besem. ß’hot kejner nit gewußt sajn nomen, fun wanen er schtamt.
Transliteration: Ot di cavoe hot mir ibergelozn mit jorn curik in majn lebediker hejmštot an alter boxer, a cedrumšketer poet, mit a langn cop ahinter, vi a frišer berjozever bezem. S’hot kejner nit gevust zajn nomen, fun vanen er štamt. (Der betonte und unbetonte /e/-Laut kann überdies nach ‹e› und ‹ə› unterschieden werden.)
Übersetzung: Eben dieses Vermächtnis hinterließ mir vor Jahren in meiner lebendigen Heimatstadt ein alter Junggeselle, ein verwirrter Dichter mit einem langen Zopf hinten, ähnlich einem Besen aus frischem Birkenreisig. Niemand kannte seinen Namen, seine Herkunft.
Merkmale jiddischer Dialekte
Die Verschiedenheit der Formen der Sprache berührt verschiedene Aspekte: Wortschatz, Phonetik, Morphologie und Syntax. Der deutlichste Unterschied zwischen Ost- und Westjiddisch sind die Anteile der Herkunftssprachen: eine stark slawische Komponente in den östlichen Dialekten, die in den westlichen Dialekten fast fehlt, und die etwas höhere Zahl Wörter, die aus dem Lateinischen stammen, im Westen. Der Hauptteil der Klassifizierung von Dialekten aber sind phonetische Unterschiede von Vokalen und zum Teil auch Konsonanten.
Vokalismus
Der Vokalismus der jiddischen Dialekte weist in allen Dialekten eine gesetzmäßige Alternation auf. Die konkrete Realisation eines Vokals variiert von Dialekt zu Dialekt. Max Weinreich, der ein diachrones System entwickelte, definierte zwei Hauptparameter, um die Vokale (A, E, I, O, U) historisch herleiten zu können:
1: Vokale, die kurz gewesen und geblieben sind;
2: Vokale, die lang gewesen und geblieben sind (in Dialekten mit Langdifferenzierung);
3: zunächst kurze Vokale, Vokale, die verlängert wurden;
4: historische Diphthonge;
5: spezielle Gruppe.
Der a-Vokal wird in allen jiddischen Dialekten außer dem Südostjiddischen wie „A1“ nach dem weinreichschen System realisiert.
Das andere System Bezeichnungen (vorgeschlagen von Mikhl Herzog) stimmt im Allgemeinen mit dem Ersteren überein, aber die Vokalqualität wird durch Ziffern bezeichnet: A = 1, E = 2, I = 3, O = 4, U = 5. a11 Die konkrete Diaphonemrealisation werden in kleinen Buchstaben mit den zwei Ziffern im Index geschrieben, z. B. a11 in allen Dialekten außer dem Südosten, wo es ɔ11 ist.
Die Realisierung von Diaphonemen in jiddischen Dialekten sind folgende:
„*“ kultivierte Sprache
Phonetik
Vokale
Jiddisch hat mit vielen ober- und besonders mitteldeutschen Dialekten zahlreiche Lautveränderungen gemeinsam: Entrundung der Hochzungenvokale mhd. ö > e, ü > i (bspw. mhd. jüde > jidd. jid), die Diphthongierung von mhd. bzw. regional-frühnhd. langem ê > ej, ô > ou bzw. im Ostjiddischen weiter > /oi/, œ (> ê) > ej (bspw. mhd. gên > jidd. gejn, mhd. brôt > jidd. brojt, mhd. schœne > jidd. schejn) oder die Verdumpfung des langen Zentralvokals mhd. â > ô/û (bspw. mhd. schlâfen > nordostjidd. schlofn, südjidd. schlufn).
Die Entwicklung von mhd. /ei/, /øː/ und /iu/ verlief allerdings nicht immer direkt zu den neujiddischen Lauten, sondern teilweise über die Zwischenstufen /ei/ > /eː/ > /ej/ (z. B. bein > bēn > bejn); /øː/ > /eː/ > /ej/ (schœne > schēn > schejn); /iu/ > /yː/ > /iː/ > /aj/ (z. B. niuwe > nü(we) > nĩ > naj).
Konsonanten
Das Jiddische reflektiert die hochdeutsche Lautverschiebung fast vollständig. Germanisches /p/ ist im Jiddischen in Wörtern wie schlafen, laufen, helfen, hoffen wie im Standarddeutschen zu /f/ verschoben: schlofn, lojfn, helfn, hofn. Wie im Ostmitteldeutschen ist auslautendes germanisches /p/ etwa in Kopf, Zopf, Topf jedoch unverschoben geblieben, es heißt hierfür jiddisch kop, zop, top und damit auch kepl, tepl (Köpfchen, Töpfchen). Im Fall von anlautendem /pf/ wie in Pfanne, Pfeffer, pfeifen, Pfeil, Pferd, Pflanze verhält sich Jiddisch ebenfalls wie das Ostmitteldeutsche und kennt Verschiebung von /p/ zu /f/: fan, fefer, fajfn, fajl, ferd, flanzn – anders als das Westmitteldeutsche, das hier /p/ bewahrt, und anders als das Oberdeutsche, das hier zu /pf/ verschoben hat. Inlautendes westgermanisches /p/ schließlich bleibt im Jiddischen als /p/ erhalten, etwa in epl, schepn (deutsch hingegen Apfel, schöpfen).
(ch) wird wie in vielen bairischen und alemannischen Dialekten auch nach hellen Vokalen wie (i), (ej), (aj) und nach (r) als ausgesprochen: licht .
Grammatik
Die jiddische Grammatik ist grundsätzlich deutschbasiert, weist aber auch zahlreiche Eigenentwicklungen auf und zeigt verschiedene slawische und gewisse hebräische Einflüsse.
Substantiva
Jiddisch kennt drei Genera (m., f., n.) und 4 Kasus (Nominativ, Genitiv, Dativ, Akkusativ). Dabei hat eine relativ weitgehende Reduktion der Endungen stattgefunden.
In den Dialekten kommen im Bereich Genus und Kasus bedeutende Abweichungen von der standardjiddischen Regelung vor. Im modernen chassidischen Jiddisch ist die Unterscheidung verschiedener grammatischer Geschlechter innerhalb weniger Generationen vollständig geschwunden.
Kasusflexion
Das Jiddische zeigt nur Reste von Kasusflexion beim Substantiv.
generelle Genitivendung ist -ß, und zwar unabhängig vom Geschlecht: dem manß buch, der frojß buch, dem kindß buch (das Buch des Mannes, der Frau, des Kindes). Der Gebrauch des Genitivs ist im Vergleich zum Deutschen allerdings stark eingeschränkt.
Spezialfälle sind:
der tate (Vater) – Genitiv dem tatnß, Dativ und Akkusativ dem tatn; ebenso: sejde (Großvater), rebe (chassidischer Rabbiner, traditioneller Schullehrer).
der mentsch (Mensch) – Genitiv dem mentschnß, Dativ und Akkusativ dem mentsch oder dem mentschn; ebenso: jid (Jude, jüdischer Mann).
di mame (Mutter) – Genitiv der mameß, Dativ der mame oder der mamen, Akkusativ di mame; ebenso: bobe (Großmutter), mume (Tante).
Personennamen haben im Dativ und Akkusativ grundsätzlich die Endung -(e)n, bei der Verbindung von Vor- und Nachname kommt die Endung nur dem Nachnamen zu: ich se Dowidn (ich sehe David), ich ken Arn Barnbojmen (ich kenne Aaron Birnbaum). Die Endung kann aus stilistischen Gründen allerdings auch wegfallen.
erstarrte Endungen kommen etwa vor in in, zum harzn (im, zum Herzen, in übertragener Bedeutung), in der emeßn (in Wahrheit), in der luftn (in der Luft), in der wochn (unter der Woche), far acht togn (vor acht Tagen), ba lajtn (unter anständigen Menschen).
Pluralbildung
Die Flexion der Substantiva weicht von derjenigen der deutschen Standardsprache zwar nicht im Grundsatz, wohl aber im Einzelfall stark ab. So sind Beugung mittels Umlautung sowie mittels {-n} viel verbreiteter als im Standarddeutschen (ersteres entspricht aber teilweise den Verhältnissen in den deutschen Mundarten); umgekehrt ist die deutsche Endung {-e} im Jiddischen unbekannt. Sodann kennt Jiddisch mit den Endungen {-ß} bzw. {-eß} und {-im} Morpheme, die dem Hebräischen entlehnt sind. {-im} kommt fast nur bei hebräischstämmigen Substantiven vor, erstere beide sowohl bei hebräisch- wie auch bei deutsch- und slawischstämmigen Wörtern. Die Schreibung von {-(e)ß} erfolgt bei hebräischstämmigen Wörtern nach der hebräischen, bei deutsch- und slawischstämmigen Wörtern nach der phonologischen Orthografie. Die Pluralbildung mittels {-im} ist sodann in der Regel mit Vokaländerung, manchmal mit konsonantischer Veränderung sowie oft mit Betonungsverschiebung von der ersten auf die mittlere Silbe verbunden.
Beispiele, die das oben Gesagte sowie die Unterschiede zwischen deutscher und jiddischer Flexion demonstrieren und auch zeigen, wie die aus verschiedenen Sprachen stammenden Endungen teilweise auch in den je anderen Komponenten eingesetzt werden (jeweils Singular – Plural):
schweßter (Schwester) – schweßter
tisch (Tisch) – tischn; hebräischstämmig: jam (Meer) – jamen; slawischstämmig: kojsch (Korb) – kojschn
tog (Tag) – teg;
gortn (Garten) – gertner; hebräischstämmig: kol (Stimme) – keler; slawischstämmig: ßod (Obstgarten) – ßeder
schtekn (Stecken) – schteknß oder mume (Tante, Muhme) – mumeß; hebräischstämmig: chaje (Tier) – chajeß; slawischstämmig: nudnik (Langweiler) – nudnikeß [ursprünglich semitische Endung; wird jedoch bei hebräischstämmigen Wörtern einerseits und deutsch- und slawischstämmigen Wörtern anderseits unterschiedlich geschrieben]
pojer (Bauer) – pojerim; hebräischstämmig: neß (Wunder) – nißim oder schetech (Gegend) – schtochim oder malbesch (Kleidungsstück) – malbúschim [ursprünglich semitische Endung]
Diminutivum I (Verkleinerung)
Hier wird im Singular -l angehängt; der Plural wird mit -lech gebildet: bet (Bett) – Dim. I betl, Plural betlech. Wenn möglich, ist Diminuierung mit Umlautung verbunden: hant (Hand) – Dim. I hentl.
Diminutivum II (Imminutiv)
Das Diminutiv II ist eine affektivere Variante des Diminutivs I. Im Singular wird -ele angehängt; der Plural mit -elech gebildet: bet (Bett) – Dim. II betele, Plural betelech. Wenn möglich, ist Diminuierung mit Umlautung verbunden: hant (Hand) – Dim. II hentele.
Artikel
Der unbestimmte Artikel, der nur im Singular vorkommt, lautet vor Konsonanten a, vor Vokalen an und wird nicht flektiert: a man, a froj, a kind (dt. ein/einem/einen Mann, eine/einer Frau, ein/einem Kind)
Der bestimmte Artikel wird im standardsprachlichen Jiddisch und seinen traditionellen Dialekten nach Genus, Kasus und Numerus flektiert. Im modernen chassidischen Jiddisch sind die verschiedenen Formen hingegen in einem einheitlichen de zusammengefallen, das als di oder auch der geschrieben wird; Genus und Kasus wurden aufgegeben.
Singular:
maskulin
der = dt. der (Nom.), z. B. der man der Mann
dem = dt. des (Gen.), dem (Dat.), den (Akk.), z. B. dem manß des Mannes, dem man dem Mann, den Mann
feminin
di = dt. die (Nom. und Akk.), z. B. di froj die Frau
der = dt. der (Gen. und Dat.), z. B. der frojß der Frau (Gen.), der froj der Frau (Dat.)
neutrum (im nordostjiddischen Dialekt unbekannt)
doß = dt. das (Nom. und Akk.), z. B. doß kind das Kind
dem = dt. des (Gen.), dem (Dat.), z. B. dem kindß des Kindes, dem kind dem Kind
Plural:
di für alle Genera und alle Kasus, z. B. di mener/frojen/kinder singen die Männer/Frauen/Kinder singen, ich gib doß buch di mener/frojen/kinder ich gebe das Buch den Männern/Frauen/Kindern
Adjektiva
Grundform
Die Flexion der Adjektiva unterscheidet sich von den deutschen Regeln grundlegend, indem sie (mit ganz wenigen Ausnahmen) nicht zwischen starker und schwacher Flexion unterscheidet.
Beispiele:
Nom. mask.: an alter man (dt. ein alter Mann), der alter man (der alte Mann)
Dat. fem.: an alter froj (dt. einer alten Frau, Dativ), der alter froj (dt. der alten Frau, Dativ)
Nom. ntr.: a klejn kind (dt. ein kleines Kind), aber: doß klejne kind (dt. das kleine Kind)
Steigerung
Der Komparativ endet auf -er, der Superlativ auf -ßt, zum Beispiel siß, sißer, zum sißtn (dt. süß, süßer, am süßesten).
Wie im Deutschen kann Umlaut auftreten, etwa
alt, elter, zum eltßtn (dt. alt, älter, am ältesten)
grob, greber, zum grebßtn (dt. dick [grob], dicker [gröber], am dicksten [am gröbsten])
grojß, greßer, zum greßtn (dt. groß, größer, am größten)
jung, jinger, zum jingßtn (dt. jung, jünger, am jüngsten).
Historisch einen anderen Hintergrund hat der Vokalwechsel in klejn, klener, zum klenßtn (dt. klein, kleiner, am kleinsten) und schejn, schener, zum schenßtn (dt. schön, schöner, am schönsten).
In einigen wenigen Fällen tritt Suppletion ein, beispielsweise gut, beßer, zum beßtn (dt. gut, besser, am besten).
Adverbia
Das Jiddische verfügt wie das Deutsche über eine große Zahl unflektierter Adverbia.
Verb
Das Jiddische kennt wie das Deutsche starke und schwache sowie eine kleine Zahl ganz unregelmäßiger Verben. Dazu tritt bei hebräischstämmigen Verben eine periphrastische Konjugation, die dem Deutschen unbekannt ist. Anders als das Deutsche kennt das Jiddische weder ein Präteritum noch einen Konjunktiv.
Beispiele (Infinitiv – 3. Person Singular Präsens – Partizip Perfekt):
starke Typen:
schrajbn (dt. schreiben) – schrajbt – geschribn
singen (dt. singen) – singt – gesungen
schlofn (dt. schlafen) – schloft – geschlofn
schwache Typen:
machn (dt. machen) – macht – gemacht
redn (dt. reden) – redt – geredt
ßtraschen (dt. drohen) – ßtraschet – geßtraschet
unregelmäßig:
hobn (dt. haben) – hot – gehat
weln (dt. wollen) – wil (Vollverb) / wel (Hilfsverb) – gewolt
periphrastisch:
mojde sajn (dt. zugeben) – is mojde – mojde gewen
Sehr ausgeprägt ist im Jiddischen sodann ein slawisch inspiriertes System von Aktionsarten. Diese Unterscheidungen sind vor allem im Jiddischen, das in slawischer Umgebung gesprochen wird, lebendig; im amerikanischen Jiddisch geht sie rasch verloren.
Beispiele:
schrajbn = dt. schreiben, als Zustand – onschrajbn = etwas schreibend abschließen: ich schrajb a buch = dt. ich bin daran, ein Buch zu schreiben, aber: ich hob ongeschribn a buch = das Buch ist fertig geschrieben
intereßirn sich = dt. sich interessieren, als Zustand – farintereßirn sich = dt. Interesse an etwas gewinnen
Das Perfekt wird standardjiddisch mit sajn (dt. sein) oder hobn (dt. haben) gebildet: er is gegangen, er hot gemacht, wobei die Verteilung der Hilfsverben vom (Nord- und Ost-)Deutschen abweichen kann: er is geschtanen, si is geschlofn (dt.: er hat gestanden, sie hat geschlafen). Der nordostjiddische Dialekt (ursprünglich in Litauen und Weißrussland gesprochen) kennt nur hobn als Hilfsverb.
Der jiddische Konditional wird mit wolt (ursprünglich zu weln, dt. wollen gehörig) plus Partizip Perfekt gebildet: er wolt geholfn (dt. er würde helfen / er hülfe).
Numeralia
Die Zahlen lateinisch transkribiert:
0 nul
1 ejnß
2 zwej
3 draj
4 fir
5 finf
6 sekß
7 sibn
8 acht
9 najn
10 zen
11 elf
12 zwelf
ab 13 drajzn läuft es analog zum Deutschen -zn; beachte aber: 14 ferzn; 15 fufzn
Ab 20 zwanzik kommt -unzwanzik
Nach 30 drajßik kommt -zik; beachte aber: 40 ferzik; 50 fufzik; 70 sibezik
100 hundert; 1000 tojsnt; 1000000 miljon
928.834 najn hundert acht un zwanzik tojsnt acht hundert fir un drajßik
Konjunktionen
Es gibt im Jiddischen nur eine sehr überschaubare Anzahl an Konjunktionen. Hiervon sind einige slawischen oder hebräischen Ursprungs. Die Konjunktionen haben keinen Einfluss auf den Modus oder die Stellung des Verbs.
Jiddische Kultur
Jiddische Literatur
Frühe überlieferte jiddischsprachige Zeugnisse sind religiöse Texte, das älteste vollständig erhaltene nicht religiöse jiddische Buch wurde zu Beginn des 16. Jahrhunderts verfasst. Die Anfänge der jiddischen Literatur lassen sich bis ins 13. Jahrhundert zurückverfolgen. Epen über Gestalten der Bibel, Heldenlieder aus germanischen Sagenkreisen, Fabeln, Volksbücher, religiöse Lern- und Gebrauchsliteratur oder die von den Abenteuererzählungen der italienischen Renaissance inspirierten Versromane des Elia Levita (1469–1549) zeigen die Vielfalt der älteren jiddischen Literatur. Eine weitere Blüte erlebte die jiddische Literatur seit dem 19. Jahrhundert. Die moderne jiddische Literatur entstand vor allem in Osteuropa. Als ihre Klassiker gelten Scholem-Jankew Abramowitsch, bekannt als „Mendele Mojcher-Sforim“ (1836–1917), Scholem Aleichem (1859–1916) und I. L. Peretz (1852–1915). In der Zeit zwischen den Weltkriegen konnte die literarische Produktion im Jiddischen mit der jeder anderen Weltsprache mühelos Schritt halten. Bedeutende literarische und künstlerische Zentren waren in jener Zeit Warschau, Wilna (heute: Vilnius) und New York. Zu den bedeutendsten jiddischen Autoren der Nachkriegszeit gehören der Dichter Avrom Sutzkever (1913–2010) und der Erzähler und Schriftsteller Isaac Bashevis Singer (1902–1991), dem 1978 der Nobelpreis für Literatur verliehen wurde.
Das „Bove-Buch“ von Elia Levita von 1507/1508, erste gedruckte Ausgabe 1541, ist das älteste vollständig erhaltene nicht religiöse jiddische Buch.
Ma'assebuch – eine Sammlung von mündlich überlieferter Literatur, erstmals 1602 in Basel von Konrad Waldkirch gedruckt.
Glikl bas Judah Leib (1645–1724) schrieb die erste erhaltene Autobiografie einer Frau in Deutschland. Ihre in westjiddischer Sprache geschriebenen Memoiren wurden inzwischen in viele Sprachen übersetzt.
Mendele Mojcher Sforim (1836–1917), auch „Mendele der Buchhändler“ genannt, gilt als Begründer der neuen jiddischen Literatur. Er zeichnete humorvoll und realistisch das Bild des ostjüdischen Milieus.
Jizchok Lejb Perez (1852–1915), Autor von Kurzgeschichten und Romanen, Gründer der Zeitschrift „Jiddische Bibliothek“ und Förderer der jiddischen Literatur und des jiddischen Theaters in Warschau
Scholem Alejchem (eigentlich Salomon Rabinovic, 1859–1916) gilt als einer der größten jiddischen Autoren. Seine „Geschichten Tewjes, des Milchhändlers“ wurden – nicht zuletzt durch das Musical „Anatevka“ – weltberühmt.
David Edelstadt (1866–1892), Dichter
Mordechaj Gebirtig (1877–1942), Autor und Komponist von jiddischen Liedern
Pinchas Kahanowitsch, literarisches Pseudonym Der Nister (1884–1950), vor allem als Autor des Epos „Die Gebrüder Maschber“ bekannt.
Jizchak Katzenelson (1886–1944), bekannt durch seine in einem Konzentrationslager geschriebene, beklemmende Ballade „Dos lid vunm ojsgehargetn jidischen folk“ („Das Lied vom ausgerotteten jüdischen Volk“)
Israel Joshua Singer (1893–1944), Autor von Novellen
Itzik Manger (1901–1969) beschreibt in seinen Gedichten und Balladen die Welt des osteuropäischen, nicht assimilierten Judentums, die mit der Vernichtung im Holocaust 1942–1945 untergegangen ist.
Isaac Bashevis Singer (1902–1991) erhielt 1978 den Nobelpreis für Literatur. Sowohl in seiner Nobel Lecture als auch in seiner Banquet Speech befasste er sich mit der besonderen Bedeutung, die die jiddische Sprache für ihn und sein Schreiben hat. Seine Familienromane und Kurzgeschichten schildern das Leben der Juden in Osteuropa im Zwiespalt zwischen Tradition und Moderne. Seine Kurzgeschichte Yentl, the Yeshiva Boy wurde 1983 von Barbra Streisand als Yentl verfilmt.
Rajzel Zychlinski (1910–2001), Lyrikerin.
Hirsch Reles (23. April 1913, Tschaschniki – 18. September 2004, Minsk)
Hirsch Glik (1922–1944), Dichter und Partisan aus Vilnius, bekannt durch die jiddische Partisanenhymne „Sog nit kejnmol, as du gejsst dem leztn weg“ („Sage niemals, dass du den letzten Weg gehst“)
Chava Rosenfarb, Chawa Rosenfarb (1923–2011), geboren in Łódź, lebte und starb in Kanada. Sie verfasste seit 1939 eine „Lodzer Trilogie“, etwa 1000 Seiten, die zuerst auf Englisch erschien („The tree of life“), 1972 in der Originalsprache und seit 2007 auch auf Französisch L’arbre de vie.
Oleksandr Bejderman (* 1949), Dichter aus Odessa
Boris Sandler (* 1950 in Belts, Bessarabien), Novellen und Romane
Jiddisches Theater
Jiddische Presse
Weltweit gibt es nach Erhebungen der Internationalen Medienhilfe (IMH) über 60 größere und kleinere jiddischsprachige Zeitungen, Zeitschriften und Radioprogramme (Stand 2021). Zu den Publikationen gehören beispielsweise Dos Jidisze Wort (Polen), The Forward (USA), Der Yidisher Tamtam (Frankreich) oder (heute hauptsächlich russisch) der Birobidshaner Schtern (Russland). In jüngster Zeit sind in den Vereinigten Staaten zahlreiche neue Publikationen charedischer (traditionell-orthodoxer) Juden auf den Markt gekommen (als Druck- oder Internetmedien), etwa Der Jid, Der Blat, Di Zajtung, Weker, Mejleß und Di charejdische Welt. Umgekehrt wurden in der jüngeren Vergangenheit auch manche jiddische Presseerzeugnisse eingestellt, so Di goldene Kejt (1995), Lezte Najeß (1998), Lebnßfragn (2014) oder der jiddischsprachige Teil des Algemejner.
Zur Geschichte der jiddischen Presse siehe die Artikel Newspapers and Periodicals in der YIVO Encyclopedia of Jews in Eastern Europe und Jiddische Presse weltweit auf dem Internetportal der Internationalen Medienhilfe (IMH).
Jiddischer Film
Aus dem jiddischen Theater entwickelte sich in Europa und den USA der jiddische Film. Seine Blütezeit erlebte er in den 1920er- und 1930er-Jahren in Europa und anschließend in den USA bis etwa in die 1950er-Jahre. Insgesamt entstanden so etwa 100 bis 200 Spielfilme. Zu den bekanntesten Regisseuren jiddischer Filme zählen Sidney M. Goldin und Joseph Seiden. Die Darsteller kamen häufig von bekannten jiddischen Theatergruppen. Mitunter waren auch Filmschaffende am jiddischen Film beteiligt, die auch in der regulären Filmindustrie Hollywoods bekannt waren. So etwa die Schauspielerin Molly Picon und der Regisseur Edgar G. Ulmer.
Bekannte jiddische Filme
Der Dybbuk. 1937 produziert nach dem gleichnamigen populären Theaterstück von Salomon An-ski, Polen 1937, mit Abraham Morewski, Ajzyk Samberg, Lili Liliana, Mojżesz Lipman, Leon Liebgold, Regie: Michał Waszyński.
Ost und West. Österreich 1923, mit Molly Picon, Jacob Kalich, Regie: Sidney M. Goldin.
A Briwele der Mamen. Polen 1938 mit Lucy Gehrman, Alexander Stein, Izchak Grundberg, Gertrude Bulman, Regie: Joseph Green.
Yidl mitn Fidl. Polen 1936, nach einem Buch von Konrad Tom, mit Molly Picon, Simche Fostel, Leon Liebgold, Max Bozyk. Regie: Joseph Green und Jan Nowina-Przybylski.
Tewje der Milchiker. USA 1939 mit Maurice Schwarz, Rebecca Weintraub, Miriam Riselle, Paula Lubelsky, Regie: Maurice Schwarz. Siehe auch Anatevka.
Iwan und Abraham. Weißrussland 1993, Regie: Yolande Zaubermann, mit Aleksandr Jakowlew und Roma Alexandrowitsch.
Menashe. USA 2017, Regie: Joshua Z. Weinstein, mit Menashe Lustig, Ruben Niborski, Yoel Weisshaus und Meyer Schwartz.
Wolkenbruchs wunderliche Reise in die Arme einer Schickse. Schweiz 2018, Regie: Michael Steiner, Drehbuch Thomas Meyer.
Unorthodox. Deutschland 2020; die Serie ist über weite Teile auf Jiddisch.
In Wien existierte in den 1920er Jahren eine unabhängige jiddische Filmszene. Der einzige in Deutschland produzierte Film in jiddischer Sprache ist Herbert B. Fredersdorfs von Holocaust-Überlebenden handelnder Spielfilm Lang ist der Weg (1948). Aus den neueren Hollywood-Filmen ist z. B. der Film der Gebrüder Coen A Serious Man zu nennen, der einen etwa fünfminütigen jiddischen Dialog enthält. 2013 drehte die Regisseurin Naomi Jaye Di Shpilke / The Pin, den ersten jiddischen Film Kanadas.
In der deutschen Synchronisation der Tragikomödie Zug des Lebens sprechen die dort vorkommenden Juden alle Jiddisch.
Die Internet Movie Database nennt Anfang 2006 174 internationale Filme mit jiddischem Dialog. Darin eingeschlossen sind allerdings auch solche Filme, die nur kurze Dialogszenen auf Jiddisch haben.
Jiddische Musik
Jiddische Lieder gibt es auf vielen Tonträgern. Zahlreiche Lieder, die heute als Volkslieder gelten, wurden in der zweiten Hälfte des 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts für das jiddische Theater geschrieben. Zu den Liedarten und bekannten Interpreten siehe auch unter Klezmer.
In den letzten Jahrzehnten erlebten Klezmer-Musik und andere traditionelle jüdische oder jiddische Musik eine Renaissance. In jüngerer Zeit erlangte der Klezmer, beeinflusst von Jazz und anderen Musikrichtungen, mit Bands wie The Klezmatics auch eine moderne Spielart.
Auch abseits des Klezmer brachte der spielerische Umgang mit dem umfangreichen Erbe jüdischer (und jiddischer) Musik- und Gesangstradition mitunter kuriose Ergebnisse hervor, wie etwa die Veröffentlichungen des kanadischen Produzenten und DJs socalled zeigen, der unter anderem Hip-Hop-Versionen traditioneller Lieder mit bekannten jüdischen Musikern der Gegenwart, darunter der Sänger Theodore Bikel, neu eingespielt hat.
Die Berliner Schauspielerin und Sängerin Sharon Brauner und der Berliner Bassist und Produzent Daniel Zenke (Lounge Jewels: Yiddish Evergreens) hüllten jiddische Evergreens in ein modernes musikalisches Gewand und würzten die Lieder mit Swing, Jazz und Pop sowie mit Balkan-Polka, Arabesken, südamerikanischen Rhythmen, mit Reggae, Walzer-, Tango- und Country-Elementen. Im israelischen Tel Aviv gibt es jiddischen Hip-Hop und Punk.
Erforschung und Sprachpflege
Institutionen
YIVO – Yidisher visnshaftlekher institut, New York
Das National Yiddish Book Center, Amherst, MA, ist im Bereich Literatur und Weiterbildung tätig. Seine Yiddish Book Center’s Spielberg Digital Yiddish Library hat zum Ziel, die gesamte jiddische Literatur online zu stellen.
Maison de la Culture Yiddish, Paris
Harashut leumit letarbut hayidish (Nazionale inßtanz far jidischer kultur / National Authority for Yiddish Culture), Tel Aviv.
Jiddistik – FB II an der Universität Trier (seit 1990).
Institut für Jüdische Studien der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Das Institut besteht
aus dem seit 1996 an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf existierenden Lehrstuhl für Jiddische Kultur, Sprache und Literatur (Marion Aptroot)
und dem Fach Jüdische Studien, das zum Wintersemester 2002/2003 von der Gerhard-Mercator-Universität Duisburg nach Düsseldorf verlagert wurde (2003: Dagmar Börner-Klein, Michael Brocke, Stefan Rohrbacher). Dies gilt als eine europaweit einmalige enge Verbindung von Jüdische Studien mit Jiddistik; Düsseldorf gilt seit der Verlagerung als einer der bedeutendsten universitären Standorte der Jüdischen Studien in Deutschland.
Das Moses Mendelssohn Zentrum für europäisch-jüdische Studien ist ein An-Institut der Universität Potsdam. Es ist maßgeblich am Studiengang „Jüdische Studien/Jewish Studies“ beteiligt. Seine Forschungsinteressen gelten der Geschichte, Religion und Kultur der Juden und des Judentums in den Ländern Europas. Das Moses Mendelssohn Zentrum hat eine öffentlich zugängliche Spezialbibliothek mit etwa 50.000 Bänden.
Die Abteilung für Jüdische Geschichte und Kultur der Ludwig-Maximilians-Universität München (LMU) bietet regelmäßig sowohl Jiddisch-Sprachkurse auf verschiedenen Niveaus als auch Seminare zur jiddischen Sprache und Kultur an. In München findet einmal im Jahr ein wissenschaftlicher Vortrag auf Jiddisch statt (Sholem Aleykhem Lecture), ein Unicum an europäischen Universitäten. Die Universitätsbibliothek der LMU und die Bayerische Staatsbibliothek halten eine der größten Jiddica-Sammlungen Deutschlands, zu denen altjiddische Manuskripte wie auch seltene osteuropäische Erstausgaben zählen.
Die Hochschule für Jüdische Studien (HfJS) ist eine 1979 gegründete private, staatlich anerkannte Hochschule in Heidelberg. Sie wird vom Zentralrat der Juden in Deutschland getragen und durch Bund und Länder finanziert. Sie kooperiert eng mit der Ruprecht-Karls-Universität und steht Bewerbern jeder Konfession offen.
Sprachkurse
Jiddische Sprachkurse finden an vielen Universitäten und sonstigen Institutionen statt, so etwa in New York, Paris, Vilnius, Warschau, Wien, Tel Aviv, Jerusalem und Birobidschan.
New York: Das Uriel Weinreich Program in Yiddish Language, Literature und Culture hat die längste Tradition. Es findet jeden Sommer statt, ist ein Gemeinschaftsprojekt von YIVO und Bard College (ursprünglich YIVO und Columbia University) und dauert sechs Wochen.
Brüssel, Paris, Strassburg: In diesen drei Städten finden abwechslungsweise Sommerkurse in jiddischer Sprache, Literatur und Kultur statt. Die Parizer zumerkursn fun yidisher shprakh un literatur werden im „Parizer yidish-tsenter“ abgehalten und dauern drei Wochen, die Strassburger Kurse organisiert das „Théâtre en l'Air – der LufTeater“ und dauern zwei Wochen.
Berlin: Das Summer Program of Yiddish Language and Literature in Berlin, erstmals abgehalten 2017, ist eine gemeinsame Unternehmung der Pariser Maison de la culture yiddish, der Freien Universität Brüssel und der Freien Universität Berlin.
Vilnius: Im Rahmen des Summer Program in Yiddish Language and Literature des Vilnius Yiddish Institute an der Universität Vilnius finden alljährlich vierwöchige Jiddisch-Kurse statt, wobei mit Gesangs-, Musik-, Tanz- oder Literaturkursen die jüdische Kultur nahegebracht wird. Daneben gibt es Exkursionen über die jüdische Geschichte der Stadt.
Warschau: Das vom Jiddischen Kulturzentrum jeweils im Juli durchgeführte International Summer Seminar in Yiddish Language and Culture dauert drei Wochen und legt ein besonderes Gewicht auf Geschichte und Gegenwart des polnischen Judentums.
Tel Aviv: Das Naomi Prawer Kadar International Yiddish Summer Program findet jeden Juni/Juli am „The Goldreich Family Institute for Yiddish Language, Literature, and Culture“ statt und dauert ebenfalls vier Wochen.
Jerusalem: Beit Ben Yehuda – International Meeting Centre bietet in Zusammenarbeit mit dem Lehrstuhl für Jiddisch an der Hebräischen Universität und dem Kulturzentrum von Jung Jidisch. Winterkurse an.
In Birobidschan, der Hauptstadt der Jüdischen Autonomen Region, führte das „Far Eastern Research Center for Jewish Culture and Yiddish“ zeitweilig Jiddischkurse durch.
In Deutschland bieten mehrere Volkshochschulen Jiddischkurse an, so die Hamburger Volkshochschule in Kooperation mit der Gedenk- und Bildungsstätte Israelitische Töchterschule Dr. Alberto Jonas-Haus und die jüdische Volkshochschule Berlin.
In Österreich bietet das Jüdische Institut für Erwachsenenbildung in Wien Kurse an. Auch an der Universität Salzburg können Jiddischkurse belegt werden.
Lesebeispiel
Das nachfolgende Beispiel ist der Beginn des ersten Buches Mose, auf hebräisch Bereschit bzw. in aschkenasischer Aussprache Bereyschis (deutsch ‚am Anfang‘), auf Genesis (deutsch ‚Schöpfung‘) genannt:
Siehe auch
Jiddischismus
Jiddismus
Liste deutscher Wörter aus dem Hebräischen
Literatur
Allgemeine Einführungen und Übersichten
Jacob Allerhand: Jiddisch. Ein Lehr- und Lesebuch. Mandelbaum, Wien 2002, ISBN 3-85476-055-8.
Marion Aptroot, Roland Gruschka: Jiddisch. Geschichte und Kultur einer Weltsprache. C. H. Beck Taschenbuch, München 2010, ISBN 978-3-406-52791-3; 2., durchgesehene Auflage ebd. 2023, ISBN 978-3-406-80406-9.
Jean Baumgarten: Le yiddish (= Que sais-je? Band 2552). Presse universitaire de France, Paris 1990, ISBN 2-13-044193-9 (französisch).
Otto F. Best: Mame-Loschen. Jiddisch – eine Sprache und ihre Literatur. Insel, Frankfurt am Main 1988, ISBN 3-458-15786-7.
Eckhard Eggers: Jiddisch. In: Thorsten Roelcke (Hrsg.): Variationstypologie. Ein sprachtypologisches Handbuch der europäischen Sprachen in Geschichte und Gegenwart. De Gruyter, Berlin / New York 2003, ISBN 978-3-11-016083-3, S. 98–120.
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Arnold Groh: Jiddisch Wort für Wort (= Kauderwelsch. Band 110). 4., überarbeitete und verbesserte Auflage. Reise Know-How, Bielefeld 2014, ISBN 978-3-8317-6401-3.
Christoph Gutknecht: Gauner, Großkotz, kesse Lola – Deutsch-jiddische Wortgeschichten. Berlin 2016, ISBN 978-3-86124-696-1.
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Salcia Landmann: Jiddisch. Das Abenteuer einer Sprache. Ullstein, Frankfurt am Main 1992, ISBN 3-548-34994-3 (1. Aufl. 1962).
Christoph Landolt: Jiddisch. In: Janet Duke (Hrsg.): EuroComGerm. Germanische Sprachen lesen lernen. Band 2: Seltener gelernte germanische Sprachen. Afrikaans, Färöisch, Friesisch, Jenisch, Jiddisch, Limburgisch, Luxemburgisch, Niederdeutsch, Nynorsk. Shaker, Düren 2019, ISBN 978-3-8440-6412-4, S. 127–160 und 298 (PDF).
Leo Rosten, Lutz-Werner Wolff: Jiddisch. Eine kleine Enzyklopädie. (Aktualisiert und kommentiert von Lawrence Bush, illustriert R. O. Blechman.) dtv 24327, München 2002, ISBN 3-423-24327-9. Neuausgabe als dtv 20938, München 2006, ISBN 978-3-423-20938-0.
Lea Schäfer: Yiddish. In: Oxford Research Encyclopedias / Linguistics, 2023. (Online, frei zugänglich.)
Josef Weissberg: Jiddisch. Eine Einführung. Peter Lang, Bern / Frankfurt am Main / New York / Paris 1988, ISBN 978-3-261-04069-5.
Grammatiken
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William B. Lockwood: Lehrbuch der modernen jiddischen Sprache. Mit ausgewählten Lesestücken. Buske, Hamburg 1995, ISBN 3-87118-987-1 (trotz des Titels als Grammatik angeordnet).
Rebecca Margolis: Basic Yiddish: A Grammar and Workbook. Routledge, London 2011, ISBN 978-0-415-55522-7.
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Ludoviko Lazaro Zamenhof: Gramatiko de la jida lingvo. Monda Asembleo Socia, Embres-et-Castelmaure 2019, ISBN 978-2-36960-176-0 (Esperanto).
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Gitl Schaechter-Viswanath, Paul Glasser (Hrsg.): Comprehensive English–Yiddish Dictionary. Indiana University Press, Bloomington 2016, ISBN 978-0-253-02282-0.
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Lehrmittel
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Gennady Estraikh: Intensive Yiddish. With grammar sections based on Dovid Katz’s ›Grammar of the Yiddish Language‹. Oksforder Yidish Press, Oxford 1996, ISBN 978-1-897744-07-9.
Lily Kahn: Colloquial Yiddish. Routledge, London 2011, ISBN 978-0-415-58022-9 (englisch, mit 2 CDs).
Miriam Hoffman: Key to Yiddish. Textbook for Beginners / schlißl zu jidisch. a lernbuch far onhejber. 2. Auflage. Columbia University, New Yor City 2011, ISBN 978-1-4611-7002-0.
Mordkhe Schaechter: Yiddish II. An Intermediate and Advanced Textbook. New York 1993, 4. Auflage 2004, ISBN 0-89727-052-5 (englisch, für Fortgeschrittene).
Uriel Weinreich: College Yiddish. YIVO, New York 1949, 6. Auflage 1999 (englisch), ISBN 978-0-914512-26-4.
Sheva Zucker: Yiddish. An Introduction to the Language, Literature & Culture. 2 Bände, Workmen’s Circle, New York 1994 und 2002, ISBN 1-877909-66-1, ISBN 1-877909-75-0
Auf Lernende ausgerichtet sind sodann die oben genannten Grammatiken von Katz (1987) und Lockwood (1995).
Dialektologie
Zoë Belk, Lily Kahn, Kriszta Eszter Szendroi: Complete Loss of Case and Gender Within Two Generations: Evidence from Stamford Hill Hasidic Yiddish. In: The Journal of Comparative Germanic Linguistics. Band 23 (2020), S. 271–326 (online).
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Ewa Geller: Warschauer Jiddisch. Niemeyer, Tübingen 2001, ISBN 3-484-23146-7.
Marvin Herzog: The Yiddish Language in Northern Poland. Its geography and history. Indiana Univ., Bloomington und Mouton & Co., The Hague 1965.
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Steffen Krogh: The Foundations of Written Yiddish among Haredi Satmar Jews. In: Marion Aptroot, Björn Hansen (Hrsg.): Yiddish Language Structures. Empirical Approaches to Language Typology (= Empirical Approaches to Language Typology. Band 52). Walter de Gruyter, Berlin / New York 2013, S. 63–103.
Gertrud Reershemius: Die Sprache der Auricher Juden. Zur Rekonstruktion westjiddischer Sprachreste in Ostfriesland. Harrassowitz, Wiesbaden 2007, ISBN 978-3-447-05617-5.
Lea Schäfer: Syntax and Morphology of Yiddish Dialects: Findings from the Language and Culture Archive of Ashkenazic Jewry (= Deutsche Dialektgeographie. Band 132). Olms, Hildesheim 2023, ISBN 978-3-487-16182-2.
Sprachatlanten
The Language and Culture Atlas of Ashkenazic Jewry / der jidischer schprach- und kultur-atlaß. Hrsg. von Vera Baviskar, Marvin Herzog u. a. Bd. 1 ff. Max Niemeyer, Tübingen 1992 ff.
Franz J. Beranek: Westjiddischer Sprachatlas. N. G. Elwert, Marburg/Lahn 1965.
Florence Guggenheim-Grünberg: Jiddisch auf alemannischem Sprachgebiet. 56 Karten zur Sprach- und Sachgeographie (= Beiträge zur Geschichte und Volkskunde der Juden in der Schweiz. Band 10). Juris Druck + Verlag, Zürich 1973, ISBN 3-260-03438-2.
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Leiser Wilenkin: Jidischer schprachatlas fun ßowetnfarband, afn grunt fun di dialektologische materialn, woß sajnen zunojfgesamlt geworn durch der schprachkomißje fun jidischn ßektor fun der wajßrußischer wißnschaft-akademje unter M. Wengerß onfirung. Minsk 1931.
Sprachgeschichte
Salomon Birnbaum: Die jiddische Sprache: ein kurzer Überblick und Texte aus acht Jahrhunderten. Buske, Hamburg 1997 (1. Auflage ebd. 1974), ISBN 3-87548-098-8.
Hans Blosen: Teilweise unorthodoxe Überlegungen zu einigen Problemen des Jiddischen. In: Friedhelm Debus, Ernst Dittmer: Sandberg 85. Dem Andenken von Heinrich Bach gewidmet. Wachholtz, Neumünster 1986, S. 161–187 [Überlegungen zur Herkunft und Entwicklung des West- und des Ostjiddischen].
Eckhard Eggers: Sprachwandel und Sprachmischung im Jiddischen. Lang, Bern / Frankfurt am Main / New York / Paris 1998, ISBN 978-3-631-32272-7. – Kritisch besprochen von Neil G. Jacobs im Journal of Germanic Linguistics 13, 2001 S. 68–76.
Gennady Estraykh: Soviet Yiddish. Language Planning and Linguistic Development. Oxford University Press, Oxford 1999, ISBN 978-0-19-818479-9 bzw. ISBN 0-19-818479-4.
Dovid Katz: Words on Fire. The Unfinished Story of Yiddish. Basic Books, New York 2004, ISBN 0-465-03728-3 (online).
Dov-Ber Kerler: The Origins of Modern Literary Yiddish. Clarendon Press, Oxford 1999, ISBN 0-19-815166-7 (über die Ablösung der westjiddischen durch die ostjiddische Druckersprache und damit über die Grundlagen des heutigen Standardjiddischen).
Steffen Krogh: Das Ostjiddische im Sprachkontakt. Deutsch im Spannungsfeld zwischen Semitisch und Slavisch (= Beihefte zum Language and Culture Atlas of Ashkenazic Jewry. Band 3). Niemeyer, Tübingen 2001.
Matthias Mieses: Die Entstehungsursache der jüdischen Dialekte. R. Löwit, Wien 1915; Helmut Buske, Hamburg 1979, Nachdruck der Ausgabe Wien 1915, ISBN 3-87118-392-X.
Matthias Mieses: Die jiddische Sprache: Eine historische Grammatik des Idioms der integralen Juden Ost- und Mitteleuropas. Harz, Berlin 1924.
Bettina Simon: Jiddische Sprachgeschichte: Versuch einer neuen Grundlegung. Jüdischer Verlag, Frankfurt 1988, überarb. Fassung Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag, Berlin 1999.
Sol Steinmetz: A Century of Yiddish in America. Yiddish and English. University of Alabama Press, Alabama 1986 (unter anderem über den Einfluss des Jiddischen auf das Englische Nordamerikas).
Max Weinreich: Geschichte fun der jidischer schprach, bagrifn, faktn, metodn. 4 Bände, YIVO, New York 1973. – Englische Übersetzung: History of the Yiddish Language. Chicago 1980 und New Haven 2008.
Paul Wexler: Two-tiered relexification in Yiddish (The Jews, Sorbs, Khazars and the Kiev-Polessian dialects). Mouton de Gruyter, Berlin 2002, ISBN 3-11-017258-5.
Weblinks
Jiddisch: Lautschrift (Wiktionary)
Allgemein
Basic Facts about Yiddish, hrsg. vom YIVO 1946, aufdatiert 2014.
Liste jiddischer Zeitungen, Zeitschriften, Radioprogramme und Theater weltweit
Abteilung für jiddische Kultur, Sprache und Literatur am Institut für Jüdische Studien der Universität Düsseldorf
Jiddistik im Fach Germanistik an der Universität Trier
The Yivo Encyclopedia of Jews in Eastern Europe
Hörprobe in Jiddisch (New York) und Vergleich mit anderen germanischen Sprachen
Liste jiddischer Rundfunksender. – Die Schrift ist hebräisch, aber die Links leicht als anklickbar zu erkennen. Von der gesprochenen Sprache versteht, wer Deutsch gut kann, nach kurzer Gewöhnung einen großen Teil.
Jiddische Sendungen im internationalen Programm des israelischen Rundfunks „Kan“ (Kan REKA)
Chaim Frank: Jiddisch: Die Mameloschn. Eine Sprache, ihr historischer und kultureller Hintergrund. (Vortrag, 1997)
Karl Veitschegger: Jiddisches im Deutschen
Yiddish Sources: Akademisches Portal/Linksammlung für jiddische Studien mit Bibliografie. Teil von WWW Virtual Library History Central Catalogue
Nachrichtensendung auf Jiddisch als Hörbeispiel
Bibliotheca Iiddica: jiddische Literatur vom 13. bis zum 20. Jahrhundert
(zweisprachig englisch-jiddisch)
Steven Spielberg Digital Yiddish Library
Sammlung jiddischer Drucke vom 16. bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts
kostenlose jiddische Software
The Origin of Standard Yiddish Pronunciation (Hershl Glasser)
Transkription und Typografie
Di jidische Schreibmaschinke: Jiddisch-Textkonverter
jiddische Tastatur online
Werkzeug für die Transliteration jiddischer Webseiten
Schreibtool für Jiddisch, unabhängig von Betriebssystem und Browser
Anmerkungen
Jüdische Sprache
Einzelsprache
Germanische Sprachen
Jüdische Kultur
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Q8641
| 818.328367 |
28837
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https://de.wikipedia.org/wiki/Meditation
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Meditation
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Meditation bezeichnet eine Gruppe von Geistesübungen, die in verschiedenen Traditionen seit Jahrtausenden überliefert sind. Ein wesentliches Element meditativer Techniken ist das bewusste Steuern der Aufmerksamkeit. Das Üben von Meditation soll nachhaltige positive Veränderungen im Denken, Fühlen und Wahrnehmen bewirken oder zu bestimmten religiös definierten Einsichten und Zuständen führen. Effekte von Meditationstraining auf Kognition, Emotionen, Hirnfunktion, Immunsystem, Epigenetik sowie auf die psychische Gesundheit sind wissenschaftlich belegt. Meditation ist ein zentrales Element in verschiedenen Religionen, insbesondere dem Buddhismus, wie auch im Hinduismus, Konfuzianismus und Christentum. Seit dem 20. Jahrhundert wird Meditation zunehmend auch in der westlichen Welt praktiziert und wissenschaftlich erforscht.
Etymologie
Das Wort Meditation stammt von zu „nachdenken, nachsinnen, überlegen“ von „denken, sinnen“. Es liegt ein etymologischer Bezug zum Stamm des lateinischen Adjektivs „mittlere[r, -s]“ vor.
Der Begriff Meditation wurde als Übersetzung für östliche spirituelle Praktiken eingeführt, die im Hinduismus und Buddhismus als dhyāna bezeichnet werden. Dies leitet sich von der Sanskritwurzel dhyai ab, die sowohl einen meditativen Zustand als auch die Praxis, die zu einem solchen führt, bezeichnet.
Definition und Merkmale
Der Begriff Meditation wird für eine Vielfalt von Praktiken in verschiedenen Kontexten verwendet. Obwohl Definitionen vorgeschlagen wurden, existiert eine allgemein akzeptierte präzise Begriffsbestimmung nicht.
In der wissenschaftlichen Literatur wurden stattdessen Merkmale von Meditation identifiziert. Demnach zeichnet sich Meditation dadurch aus, dass Aufmerksamkeit und Bewusstsein trainiert werden, dass eine definierte Technik angewendet wird, dass diskursives Denken in den Hintergrund tritt und dass der meditative Zustand durch den Meditierenden selbst und willkürlich herbeigeführt wird. Weitere typische Charakteristika von Meditation sind, dass sie regelmäßig und wiederholt geübt wird, um einen Zustand zu erlangen, der häufig als sehr erholsam, still und von erhöhter Wachsamkeit, sowie oft als glückselig bezeichnet wird.
Im modernen Sprachgebrauch wird Meditation oft ungenau verwendet und beinahe jede Tätigkeit, der irgendein positiver Effekt auf den Geist attestiert werden soll, wird Meditation genannt.
Meditation in religiösen Traditionen
Meditation ist in indischen Kulturen seit über 2.600 Jahren überliefert. Die frühesten Überlieferungen finden sich in den Upanishaden, welche bereits vor dem Buddhismus existierten.
Meditation im Buddhismus
Die meditative Schulung des Geistes ist neben dem Üben von ethischem Verhalten das zentrale Element der buddhistischen Lehre. In buddhistischen Texten wird Meditation mit den Pali-Worten Samadhi, Bhāvanā und Jhāna bezeichnet. Diese Begriffe wurden verschiedentlich als Kultivieren, Konzentration, Versenkung, Vereinigung, Verweilen, Sammlung und Stille übersetzt.
Nach buddhistischer Anschauung ist ein meditativ untrainierter Geist getrübt und verwirrt und daher nicht in der Lage, die Welt, sich selbst und insbesondere die Ursachen von Leid und Glück klar zu erkennen und zu verstehen. Ein untrainierter Geist neigt daher zu leidhaften Erfahrungen.
Ziel der Meditation im Buddhismus ist die Entwicklung von geistiger Stille, Freude und Klarheit als Voraussetzungen für die Entwicklung von Einsicht und Weisheit. Dabei werden positive Geisteszustände gezielt trainiert und schädigende Geisteszustände durch Einsicht gemindert.
Der Aspekt der Stille und Klarheit wird als Samadhi bezeichnet, die Funktion der Einsicht und Erkenntnis als Vipassana. Es wird gelehrt, dass Stille des Geistes (Samadhi) mit Freude und geistiger Klarheit einhergeht. Während prä-buddhistische Lehren Samadhi als höchstes Ziel der geistigen Entwicklung definierten, geht der Buddhismus darüber hinaus und lehrt die Geistesklarheit, die im Samadhi auftritt, zu nutzen, um die Realität eingehend zu untersuchen (Vipassana). Besondere Aufmerksamkeit erfahren dabei die Aspekte von Vergänglichkeit, Leidhaftigkeit und Nicht-Selbst. Tiefe Einsicht in die Realität der Welt führt nach Buddhistischer Auffassung zu einer Befreiung des Geistes von leidhaften Tendenzen und zum Erlangen bedingungslosen Wohlseins. Während die Entwicklung von Samadhi bereits zu einem vorübergehenden Wohlergehen und Nachlassen von Leidursachen führt, wird erst durch das Erkennen der subtilen Qualitäten der Realität (vgl. Erleuchtung) eine vollkommene, anhaltende und bedingungslose Befreiung des Geistes erreicht.
Gemäß der buddhistischen Lehre ist das Üben von ethischem Verhalten die Voraussetzung und das Fundament für die Entwicklung geistiger Stille. Dazu gehören neben dem Verzicht auf Gewalt und auf Rauschmittel das Üben von Ehrlichkeit, angemessener Sprache, sinnlicher Zurückhaltung und Großzügigkeit. Solches Verhalten schaffe die karmischen Bedingungen, unter denen der Geist friedlich werden könne. Ethisches Verhalten (Sila), geistige Stille (Samadhi) und Einsicht (Vipassana) verstärken sich gegenseitig und bilden gemeinsam die drei Pfeiler der buddhistischen Praxis. Dabei sind sowohl Samadhi als auch Vipassana Aspekte von Meditation.
Fortschritt in der Meditation vollzieht sich nach buddhistischer Vorstellung entlang von Stufen zunehmender Stille, Freude und Bewusstseins für alle geistigen Aktivitäten. Im Laufe des meditativen Trainings überwindet der Übende die Fünf Hindernisse für geistige Sammlung (Sinnliches Verlangen, Abneigung, Stumpfheit, Ruhelosigkeit, Zweifel) und entwickelt die Sieben Faktoren der Erleuchtung (Achtsamkeit, Unterscheidendes Verstehen, Energie, Freude, Stille, Sammlung, Gleichmut), sowie die Vier himmlischen Verweilzustände (Wohlwollen, Mitgefühl, Mitfreude und Gleichmut). In einigen buddhistischen Schulen werden darüber hinaus acht besondere Geisteszustände von außerordentlich tiefer Konzentration auf immer subtilere Meditationsobjekte gelehrt. Diese werden Jhanas genannt, was als Versenkungen übersetzt wurde. In fortschreitender Reihenfolge verweilt der Meditierende in den Jhanas bei körperlich empfundener Freude, emotionaler Freude, reiner Zufriedenheit, reiner Stille, Unendlichkeit des Raumes, Unendlichkeit des Bewusstseins, Nichtsheit und schließlich bei Weder-Wahrnehmung-noch-Nichtwahrnehmung. In vielen frühen Texten ist der Begriff Jhana (Dhyana) synonym mit Meditation selbst. Das Üben der Jhanas wird jedoch nicht von allen buddhistischen Schulen gelehrt.
Meditationstechniken sind in den verschiedenen buddhistischen Schulen vielfältig. Weit verbreitete grundlegende Praktiken sind das aufmerksame Verfolgen der Empfindungen des Atems (Vgl. Ānāpānasati) oder der körperlichen Empfindungen (Vgl. body scan). Auch dem Üben bestimmter positiver Emotionen (Mitgefühl, Wohlwollen, Mitfreude, Gleichmut) wird allgemein große Bedeutung beigemessen.
Der Überlieferung nach habe der historische Buddha die tiefsten Einsichten in die Natur der Welt und des Geistes (Vgl. Erwachen / Erleuchtung) während der Meditation erlangt. Dementsprechend zeigen Ikonen Buddha häufig in Meditationshaltung.
Das meditative Training des Geistes wird in buddhistischen Suttas u. a. verglichen mit dem Reinigen von Gold oder dem Zähmen eines wilden Tieres.
Buddhistische Mönche und Nonnen wenden oft mehrere Stunden täglich über viele Jahrzehnte für das Üben von Meditation auf, so dass einige von ihnen über 50.000 Stunden Meditationserfahrung aufweisen.
Meditation in anderen fernöstlichen Traditionen
Als organisierte Überlieferung lässt sich die Meditation am weitesten in den hinduistischen und buddhistischen Traditionen Indiens zurückverfolgen. Auch das chinesische Chan und das japanische Zen lassen sich auf meditative Zustände, die hier Jhana (im Sanskrit: Dhyana) genannt werden, zurückführen. Daoistische Meditation ist durch Konzentration, Innenschau und Visualisierungen geprägt; Ziel ist die Erlangung der Einheit mit dem Dao und die damit einhergehende physische oder spirituelle Unsterblichkeit.
Meditation im Yoga
Eine vielfältige und traditionsreiche Form der Meditation entwickelte sich im indischen Yoga. Insbesondere die Sutras im Raja Yoga prägen bis zur Gegenwart viele Meditationstechniken und bieten einen systematischen Weg zur Entwicklung der Meditation an, Dhyana. Als Beispiel sei B. K. S. Iyengar genannt, der sich bei der Erläuterung der Meditation auf den Raja-Yoga bezieht.
Erwähnenswert ist die im Yoga getroffene Unterscheidung zwischen der gegenständlichen Meditation und der nicht-gegenständlichen, der Saguna-Dhyana (saguna „mit Eigenschaften“) und der Nirguna-Dhyana (nirguna „ohne Eigenschaften“).
In den verschiedenen Yogabewegungen werden heute beide Meditationsformen angewandt, etwa bei Erling Petersen oder im Sivananda Yoga (Vedanta) Zentrum. Nach Sivananda ist beispielsweise die Meditation auf eine göttliche Gestalt eine konkrete Meditation, die Meditation auf das eigene Selbst hingegen eine abstrakte. Für die Praxis der nicht-gegenständlichen Meditation auf das Mantra Om fügt Vishnu Devananda Vorstellungen hinzu, die der Meditation auf Om anfangs eine Richtung geben sollen.
Selvarajan Yesudian hingegen gibt zur Meditation Leitgedanken vor. Er geht also von einem konkreten Objekt des Gedankens aus.
Christliche Traditionen
Im mittelalterlichen Christentum wurden die „geistlichen Übungen“ lectio (aufmerksame Lesung), meditatio (gegenstandfreie Anschauung), oratio (Gebet) und contemplatio (gegenständliche Betrachtung, Kontemplation) zur Sammlung des Geistes überliefert (siehe dazu ausführlich: Lectio divina). Besonders in den mystischen Traditionen sollte damit der Verstand und das Denken zur Ruhe kommen, um den „einen Urgrund“ freizulegen. Es wurden auch Anweisungen wie Die Wolke des Nichtwissens oder die Schriften der Teresa von Ávila veröffentlicht. Elemente meditativer Praxis finden sich bis heute in den Exerzitien von Ignatius von Loyola, einigen benediktinischen und franziskanischen Traditionen sowie in der Ostkirche im Hesychasmus.
Anthroposophische Tradition
Meditation ist auch ein wesentliches Element der von Rudolf Steiner begründeten Anthroposophie. Steiner beschreibt in seinem Werk verschiedene Techniken der Meditation als Selbstvertiefung und -verstärkung des Denkens, die sich der Konzentrationsmeditation zuordnen lassen. „Mit den meisten anderen Meditationsarten hat die anthroposophische Meditation das Ziel gemeinsam, die Trennung des sich als Subjekt erlebenden Menschen von einer als Objekt erfahrenen Welt zu überwinden. Im Unterschied aber zu den meisten Meditationsarten mit buddhistischem oder hinduistischem Hintergrund ging es Steiner […] darum, […] diesen Seinsgrund ganz konkret in den Erscheinungen und Qualitäten der Welt aufzusuchen. Ziel dieses Ansatzes ist es, dem Menschen ein spirituelles Verhältnis zur Welt und zu sich selbst zu ermöglichen […].“
Säkulare Meditation
Obwohl viele Techniken ihren Ursprung in Religionen finden, kann Meditation auch ohne jede religiöse Zugehörigkeit oder religiösen Kontext geübt werden. Etwa seit den 1970er Jahren werden von traditionellen Lehren inspirierte und an westliche Bedürfnisse angepasste Meditationsformen zunehmend in der westlichen Welt in säkularer Weise praktiziert. Ein wichtiger Beitrag zur Popularisierung von Meditation außerhalb von Religion wurde von Jon Kabat-Zinn geleistet, indem er seit etwa 1970 ein Meditationsprogramm für medizinische Zwecke (MBSR) entwickelte und verbreitete.
Techniken
Allgemeine Merkmale meditativer Techniken
Ein charakteristisches Merkmal meditativer Techniken ist das bewusste Lenken der Aufmerksamkeit auf ein bestimmtes Objekt des Denkens, der Wahrnehmung oder der Vorstellung (Meditationsobjekt). Dies kann beispielsweise die körperliche Empfindung des Atmens oder Gehens sein, die Visualisierung eines Symbols, der Klang eines Mantras oder der Wunsch, dass andere glücklich sein mögen. Typischerweise zielen die Techniken darauf ab, das gewählte Objekt möglichst kontinuierlich, lange und anstrengungslos in der Aufmerksamkeit zu halten.
Ein weiteres typisches Element meditativer Techniken ist die Bewusstheit dafür, welche Inhalte das Bewusstsein im gegenwärtigen Moment enthält (sogenanntes Meta-Bewusstsein). Beispielsweise könnte ein Meditierender bemerken, dass er gerade etwas Bestimmtes wahrnimmt oder fühlt.
Die vielfältigen Meditationstechniken unterscheiden sich zudem nach ihrer religiösen Herkunft, nach unterschiedlichen Richtungen oder Schulen innerhalb der Religionen und oft auch noch nach einzelnen Lehrern innerhalb solcher Schulen. In vielen Schulen werden abhängig vom Fortschritt der Meditierenden unterschiedliche Techniken gelehrt.
Anhand von umfänglicher Literatur und Interviews mit fortgeschrittenen Meditierenden konnten mindestens 52 distinkte Meditationstechniken identifiziert werden. Kurzbeschreibungen der 10 von erfahrenen Meditierenden am häufigsten genannten Techniken waren:
Im allgemeinen Sprachgebrauch wird unter Meditation oft nur die eine Form der Meditation in körperlicher Ruhe verstanden, so wie sie in Abbildungen des meditierenden Buddha symbolisiert wird. Nachfolgend werden jedoch auch einige Techniken genannt, die während einer körperlichen Aktivität, z. B. während des Gehens, durchgeführt werden.
Focused Attention und Open Monitoring
In der wissenschaftlichen Erforschung von Meditation wurden die einzelnen Techniken anfangs kaum unterschieden und verschiedenste Praktiken undifferenziert untersucht. Im Verlauf der Forschung wurde jedoch klar, dass unterschiedliche Techniken ganz unterschiedliche psychische Effekte entwickeln und mit ebenso unterschiedlichen Mustern von Hirnaktivitäten verbunden sind.
Eine grundlegende Gruppierung von Techniken, die sich seitdem in der Wissenschaft etabliert hat, ist die Unterscheidung von Focused Attention Meditation (FAM) und Open Monitoring Meditation (OMM). Dabei bezeichnet FAM Techniken, bei denen der Meditierende seine Aufmerksamkeit auf ein sehr begrenztes Objekt lenkt und es übt, sie dort zu halten. Ein prototypisches Beispiel für eine FAM Technik ist das Beobachten des Atems.
Um die Aufmerksamkeit bei dem gewählten Objekt zu halten, muss der Meditierende ständig seine Aufmerksamkeit selbst sowie ablenkende Inhalte in seinem Geist beobachten und überwachen (Engl. monitoring, Vgl. Metakognition). Bei open monitoring Techniken ist dieses kontinuierliche Beobachten der geistigen Aktivität selbst, jedoch ohne in diese einzugreifen, Gegenstand der Meditation. Der Meditierende beobachtet also, welche Gedanken, Gefühle, Impulse, Motivationen, Wahrnehmungen etc. von Moment zu Moment in seinem Geist auftreten, wie diese sich verändern und wieder verschwinden. OMM wird teilweise als gegenüber FAM fortgeschrittene Technik verstanden.
Anapanasati – Beobachten des Atems
Eine der ältesten und am weitesten verbreiteten Techniken ist das kontinuierliche Beobachten des Atems. Diese Technik wird bereits vor mehr als 2500 Jahren in buddhistischen Sutras beschrieben und dort Anapanasati (deutsch etwa: „Achtsamkeit mit dem Atem“) genannt.
Der Meditierende übt dabei, seine Aufmerksamkeit auf ein triviales Objekt, die körperliche Empfindung des Atmens, zu lenken und dort zu halten. Dabei begegnet er unvermeidbar der Tendenz des Geistes, immer wieder zu anderen interessanteren Inhalten, Gedanken, Erinnerungen, Gefühlen, Fantasien usw. abzuschweifen. Die Übung besteht darin, dies möglichst frühzeitig zu bemerken und sodann die Aufmerksamkeit auf die Empfindungen des Atmens zurückzulenken.
Auf diese Art entwickelt der Übende eine neutrale, nicht-bewertende Beobachtungshaltung auf die mentalen Vorgänge, denen er begegnet, sowie ein Meta-Bewusstsein dafür, wo sich seine Aufmerksamkeit gerade befindet. Allmählich können ablenkende Gedanken und Gefühle in den Hintergrund treten, sozusagen „leiser werden“, bis der Geist schließlich ganz still ist und für lange Zeit beim Atem verweilen kann.
Diese Technik erfordert – wie viele andere meditative Techniken – nicht allein willentliche Konzentration, sondern vor allem einen geschickten Umgang mit und die Entwicklung eines verständnisvollen Verhältnisses zu den natürlichen der meditativen Sammlung widerstrebenden Tendenzen des Geistes (Vgl. Fünf Hindernisse).
Samatha und Vipassana
Samatha und Vipassana sind zwei Begriffe aus dem Kontext des buddhistischer Meditation, die von verschiedenen Schulen unterschiedlich verstanden und erklärt werden. Zudem nennt auch die moderne, säkulare und im Westen weit verbreitete Meditationsschule von Goenka ihre Technik „Vipassana“.
Vereinfachend können Samatha und Vipassana als zwei Aspekte von Meditation verstanden werden. Dabei bezeichnet Samatha die Entwicklung von Stille (des Geistes) und Vipassana die Entwicklung von Einsicht (in die Natur der Dinge und insbesondere die Natur des Geistes). Während einige Autoren diese als distinkte Techniken oder Stufen der Meditation beschreiben, wird von anderen betont, dass beide untrennbare Aspekte ein und derselben Übung seien.
Metta – Loving-Kindness
Loving-Kindness-Meditation geht ebenfalls auf buddhistische Quellen zurück und wird in diesen zumeist Metta genannt. Buddha selbst empfahl diese Praxis als eine der wertvollsten Meditationen.
Dabei übt der Meditierende, positive Intentionen für sich selbst und andere Wesen (sowohl Menschen als auch nicht menschliche Lebewesen) zu generieren. Oft werden Sätze wie „mögest du glücklich sein“ oder „mögest du frei von Leid sein“ still rezitiert. Es können auch Strahlen von Wohlwollen, Liebe oder Energie zwischen dem Meditierenden und den anderen Wesen visualisiert werden. Häufig wird zunächst damit begonnen, Wohlwollen für jemanden zu generieren, der einem sympathisch ist (ein Freund), dann für einen Neutralen (einen Bekannten oder Fremden), und dann für jemanden, für den man unangenehme Gefühle hegt, der den Meditierenden enttäuscht hat oder ihm bedrohlich erscheint (ein Gegner oder ein Feind). Auf diese Weise wird die liebevolle Intention allmählich unabhängig von Bedingungen und wird auf immer mehr Wesen ausgeweitet.
Ziel dieser Technik ist eine tiefe Transformation sozialer Emotionen. Negative Emotionen, wie Angst vor Bewertung, Zurückweisung, Enttäuschung, Wut, Minderwertigkeitsgefühle und weitere werden durch Emotionen von Nähe und Verbundenheit ersetzt.
Die Übung von Loving-Kindness Meditation führt nachweislich zu verstärkten positiven Emotionen.
Es werden vier Subtypen von Metta unterschieden: Wohlwollen, Mitgefühl, Mitfreude und Gleichmut (Vgl. Brahmavihara).
Body Scan
Bei dieser Technik lenkt der Meditierende seine Aufmerksamkeit auf einen Teil seines Körpers und versucht, alle körperlichen Empfindungen in maximaler Deutlichkeit wahrzunehmen. Dabei durchwandert er nach und nach seinen Körper von einem Körperteil zu einem nächsten benachbarten (scan). Die Körperareale können dabei unterschiedlich groß oder klein sein (beispielsweise das ganze Gesicht, oder nur die Spitze der Nase) und unterschiedlich lange betrachtet werden, bevor zu einem weiteren Areal gewechselt wird.
Mindfulness-Based Stress Reduction, MBSR
Elemente der buddhistischen Achtsamkeitspraxis fanden Einzug in den westlichen Ansatz der Achtsamkeit (mindfulness). Daraus entstanden auch die Achtsamkeitsbasierte Stressreduktion (Mindfulness-Based Stress Reduction, MBSR) und Achtsamkeitsbasierte Kognitive Therapie (Mindfulness Based Cognitive Therapy, MBCT), welche wirksame und religionsfreie klinische Programme sind.
Zazen und Zen-Buddhismus
Die zentrale Praxis des Zen-Buddhismus ist die Meditation (坐禪, chinesisch: zuòchán, japanisch: Zazen / ざぜん). Das zentrale Anliegen dabei ist das Erleben des gegenwärtigen Augenblicks und des gegenwärtigen Bewusstseins („Erwachen“). Zazen kann im Lotossitz (Kekka-Fuza), im halben Lotossitz (Hanka-Fuza), im sogenannten Burmesischen Sitz oder im Fersensitz (Seiza) durchgeführt werden. Hilfsmittel sind im Zen das Sitzkissen (Zafu) mit der darunter liegenden Matte (Zabuton). Zazen hat aber kein definiertes Ziel und keine Bedeutung, die über das Sitzen selbst hinausgeht. Deshalb gibt es außer dem Hinweis auf Achtsamkeit traditionell kaum allgemeine Anweisungen. Zentral in der Lehrentwicklung des Zen-Buddhismus war die Vorstellung der Buddha-Natur: die Idee, dass der erwachte Geist eines Buddhas bereits in jedem fühlenden Wesen vorhanden ist.
Neben dem Kinhin (Gehmeditation), welches zwischen passiven Zazen-Zeiten praktiziert wird, wird im Zen auch in ganz unterschiedlichen Tätigkeiten eine achtsame meditative Haltung geübt, wie z. B. Sadō (oder Chadō) – der Weg der Teezeremonie (Teeweg), Shodō – der Weg der Schreibkunst, Kadō – der Weg des Blumenarrangements (auch: Ikebana), Suizen – das kunstvolle Spiel der Shakuhachi-Bambusflöte, Zengarten – die Kunst der Gartengestaltung, Kyūdō – die Kunst des Bogenschießens – oder Budō – der Kriegsweg.
Während eines Sesshin, dem gemeinsamen Meditieren in einem Zen-Kloster oder Trainings-Zentrum über längere Perioden, werden auch die alltäglichen Verrichtungen Samu (Abwasch, Reinigung, Garten etc.) in großer Geistesgegenwart, bestimmter Form und Achtsamkeit verrichtet.
Christliche Meditation – vita contemplativa
In den christlichen Traditionen gibt es unterschiedliche Anleitungen und Schritte zur Meditation und Kontemplation. Der „Weg zu Gott“ beginnt meist mit dem Studium der Schriften (lectio divina) und dem Gebet in Worten, gesprochen oder gedacht (oratio). Es folgt die gegenständliche Betrachtung, wo man bei Wenigem verweilt und dies wiederholt betrachtet (meditatio), und führt über zum Gebet der Ruhe, wo auch die Gedanken ruhen (contemplatio), bei der der Adept in die Wolke des Nichtwissens steigt. Das Ziel ist schließlich den meditativen Bewusstseinszustand und das normale Tagesbewusstsein gleichzeitig zu erfahren; es gibt keine Trennung mehr zwischen der vita activa und der vita contemplativa.
Transzendentale Meditation
Transzendentale Meditation ist eine von dem indischen Lehrer Maharishi Mahesh Yogi (1918–2008) und seinen Organisationen vermittelte Meditationstechnik. Aus ihrer Sicht ist die Transzendentale Meditation die authentische Meditationstechnik der vedischen Tradition, wiederbelebt von Maharishis Lehrer Brahmananda Saraswati (einstiger Shankaracharya von Jyotirmath) und vereinbar mit allen religiösen und weltanschaulichen Überzeugungen. Weltweit verbreitet wird sie seit Ende der 1950er Jahre. Hilfsmittel der Technik ist ein Wort, ein Mantra, das auf einfache, natürliche und anstrengungslose Weise zu benutzen sei, ohne Zuhilfenahme von Konzentration oder Kontemplation. Bei richtiger Anwendung erfahre der Meditierende tiefe Stille bei gleichzeitig erhöhter Wachheit. Mit fortschreitender Praxis stabilisiere sich neben Wachen, Traum und Tiefschlaf der „vierte Hauptbewusstseinszustand“: Ruhevolle Wachheit werde nunmehr 24 Stunden am Tag gemeinsam mit den drei Hauptbewusstseinszuständen erlebt. Von hier aus entwickelten sich höhere Bewusstseinszustände, die schließlich einmündeten in die auch sinnlich erfahrene Einheit von Selbst und Welt („Einheitsbewusstsein“). Transzendentale Meditation wird zweimal täglich jeweils 15 bis 20 Minuten bequem und aufrecht sitzend mit geschlossenen Augen geübt. Ein halbes Dutzend Fortgeschrittenentechniken sowie das „Transzendentale-Meditation-Sidhi-Programm“, das sich auf die alten Yogasutras Patanjalis beruft, ergänzen die Basistechnik.
Yoga
In der Tradition des Yoga unterstützen verschiedene Körperhaltungen und -übungen, Atemtechniken sowie Fasten und andere Arten der Askese die Meditation. Im Raja Yoga gelten Pratyahara (Zurückziehen der Sinne) und Dharana (Konzentration) als Vorstufen der Meditation (Dhyana). Hier bezeichnet Dhyana die notwendige Entwicklungsvorstufe zum Ishvara-Samadhi. Lange ruhig bewegungslos gehaltene Asanas sind bereits meditativ. Im Jnana Yoga wird Meditation als natürliches Sein angesehen und daher nicht explizit praktiziert.
Kampfkunst
Auch Kampfkünste können Gegenstand und Vehikel der Meditation sein: Besonders in den daoistischen Traditionen der inneren Kampfkünste (z. B. Taijiquan, Xingyiquan etc.) spielt der meditative Aspekt eine große Rolle. In manchen Stilen tritt dabei der kämpferische Ursprung fast völlig zurück. Auch in vielen der äußeren Kampfkünsten (z. B. Karate, Judo, Aikidō und auch Kinomichi) werden meditative Praktiken geübt bzw. deren Aspekt hervorgekehrt. So betont Kenei Mabuni, Sohn des Stilrichtungsgründers der Karate-Stilrichtung Shitō-Ryū, diesen Aspekt durch seine Aussage: Karate ist Zen in Bewegung.
Neuere fernöstlich inspirierte Meditationsmethoden
Zu den bekanntesten neueren aktiven Meditationsmethoden gehören die von Bhagwan Shree Rajneesh (Osho) in seinem Aschram in Pune (1970) für Menschen aus dem Westen entwickelten Meditationsmethoden. Vor der eigentlichen Meditationsphase sollen durch aktive Bewegung und verstärkte Atmung seelische und körperliche Spannungen abgebaut und das Gefühl für den eigenen Körper intensiviert werden. Bekannt sind die Dynamische Meditation, die Kundalini-Meditation, die Nadabrahma-Meditation und die Nataraj-Meditation.
In der Folge wurden im Rahmen der New-Age-Bewegung zahlreiche aktive Meditationsmethoden entwickelt, die oft als Musik-CD mit Bewegungsanleitungen oder Begleitbuch angeboten werden.
Geh-Meditation
Häufig dient auch eine körperliche Tätigkeit als ein Fokus einer Meditation. Die einfachste Tätigkeit, die so benutzt wird, ist wohl das Gehen, das sowohl in der christlichen Kultur (bei verschiedenen Mönchsorden etc.) als auch in der fernöstlichen, z. B. im Zen (dort bekannt als Kinhin), Anwendung findet. Bekanntester Vertreter dieser Meditationsform im Westen ist der aus Vietnam stammende, von 1971 bis 2018 in Frankreich lebende buddhistische Mönch Thích Nhất Hạnh.
Tanz
Tanzen kann wie bei einigen neueren fernöstlich inspirierten Meditationsformen Teil der Vorbereitung zur eigentlichen Meditation in Stille sein. In der orientalischen Tradition ist der Derwisch-Tanz im Sufismus, in der islamischen Mystik eine solche Vorbereitung zur meditativen Versenkung. Der Derwisch-Tanz führt zu einem Bewusstseinszustand mit Freiheit von Gedanken und körperlicher Zentriertheit, der günstige Voraussetzung für Meditation und hier für das Dhikr, das ununterbrochene Bewusstsein der Gegenwart Gottes, ist.
Klassische (griechische) Kreis-Tänze, langsam Schritt für Schritt ausgeführt, werden zwischendurch bei manchen Meditationsseminaren eingesetzt. Sie sollen den Meditierenden eine stärkere bewusste Verbindung mit dem eigenen Körper ermöglichen, die bei langen Meditationssitzungen mitunter abhandenkommen kann. Eine spezielle Form meditativer Tänze ist der sakrale Tanz.
Musik und Rezitation
Viele Schulen verwenden rhythmische Klänge und Musik, um die Meditation zu erleichtern. In der christlichen Tradition sind das insbesondere Choräle wie sie vor allem aus der Gregorianik bekannt sind. Das Rosenkranzgebet im Christentum hat meditative Aspekte, ebenso die Litaneien (u. a. die Allerheiligen-Litanei). Das aus der Ostkirche stammende Jesusgebet kann man als Achtsamkeitsübung bzw. -meditation verstehen. Dasselbe gilt für das Ruhegebet. Im Hinduismus und Buddhismus werden Mantras rezitiert – entweder lautlos, leise oder als Gesänge (Chanting). Die repetitiven Gebetsformen im Christentum, die im Kern Meditationswege darstellen, wie das Centering Prayer oder das Jesusgebet, arbeiten ebenso mit Mantras, weswegen man diesbezüglich von mantrischem Gebet sprechen kann.
Siehe auch: ACEM-Meditation, Benson-Meditation, Vocal meditation und Qigong
Körperhaltung
Die verschiedenen Techniken bevorzugen teilweise eine bestimmte Körperhaltung. Aufrechtes und entspanntes Sitzen, Positionen wie der Lotussitz, Seiza, und kniende Haltung sind im Buddhismus, Jainismus und Hinduismus verbreitet, obwohl auch andere Haltungen wie Liegen, Stehen und Gehen verwendet werden. Meditation in Asanas kommt in den yogischen Traditionen vor. Meditation wird im Zen-Buddhismus oft auch im Gehen (Kinhin), oder beim Ausführen einer einfachen Aufgabe, bekannt als Samu, geübt. Mehrere Meditationslehrer betonen, dass eine bestimmte oder strenge Körperhaltung nicht notwendig für das Erreichen tiefer Meditation ist.
Meditationsforschung
Meditation ist seit den 1970ern zunehmend Gegenstand wissenschaftlicher Forschung. Unter anderem untersuchen Psychologen, Neurobiologen und Mediziner die Wirkung von Meditation auf Psyche, Gehirn und psychische Gesundheit. Dabei werden u. a. Bildgebungsverfahren (fMRT, CT), Hirnstrommessungen (EEG), Gewebeproben, psychologische Leistungstests, Fragebögen und Interviews eingesetzt.
Die wissenschaftliche Aufmerksamkeit für Meditation ist seit den 1990er Jahren stark gewachsen. Frühere Studien wiesen häufiger methodische Schwächen auf, während spätere Studien oft methodisch solider sind. Beispielsweise gelten heute aktive Kontrollgruppen als Standard und die untersuchten meditativen Techniken werden genauer unterschieden. In Studien früherer Generation war dies häufig nicht der Fall. Auch die Untersuchungsinstrumente haben sich stark weiterentwickelt. So können heute beispielsweise Aktivierungen von einzelnen Hirnarealen während einer Meditation in Echtzeit gemessen werden.
Aus der neurobiologischen Betrachtung von Meditation ist das neue Forschungsfeld der kontemplativen Neurowissenschaften hervorgegangen.
Prominente Wissenschaftler und Institutionen
In Deutschland beschäftigen sich u. a. die Psychologen Ulrich Ott und Tania Singer mit der neurobiologischen Meditationsforschung. Seit 2001 richtet die Society for Meditation and Meditation Research e. V. (SMMR) jährlich interdisziplinäre Tagungen und Symposien aus. Das Mind and Life Institute ist eine internationale Forschungseinrichtung mit Sitz in den USA, die sich der Aufgabe widmet, die Wechselwirkung zwischen Meditation und Gehirn zu untersuchen.
Effekte von Meditation
Es wurden Wirkungen von Meditation auf körperliche, zellbiologische, epigenetische, hirnfunktionelle, hirnmorphologische, psychische und gesundheitliche Variablen untersucht und belegt.
Bei solchen Effekten ist zu unterscheiden zwischen akuten Zustands-Veränderungen (eng. state-effects), die in engem zeitlichen Zusammenhang zur Mediation auftreten und wieder verblassen, und dauerhaften Eigenschafts-Veränderungen (eng. trait-effects), die sich über lange Zeit entwickeln und auch in zeitlichem Abstand zur Meditation stabil bleiben.
Körperliche Effekte
Meditation kann zu veränderter vegetativer Spannung führen: z. B. zu einer Senkung des Blutdrucks, verlangsamtem Herzschlag, reduziertem Sauerstoffverbrauch und erniedrigtem Hautwiderstand.
Meditation führt zu einer verminderten Freisetzung von Kortisol nach externen Stressereignissen.
Meditation beeinflusst auch die Expression von Genen, beispielsweise werden während intensiver Meditationsretreats Gene für entzündungsfördernde Proteine, wie TNF-alpha, Cyclooxygenase, CRP oder Histon-Deacetylasen, heruntergeregelt.
Meditation führt zudem zu einem Schutz der Telomere, die bei Meditierenden im Vergleich zu Nicht-Meditierenden länger sind. Telomere sind DNA-Kappen an den Enden von Chromosomen. Kurze Telomere sind ein Biomarker für eine Verschlechterung der Gesundheit, zelluläre Alterung und Stress. Der Schutzeffekt ist abhängig von der Meditationserfahrung.
Auch epigenetische Marker, die sehr stark mit dem biologischen Alter und dem Risiko von Krankheiten korrelieren, werden durch Meditation positiv beeinflusst, was von Forschern als Verlangsamung der "Epigenetischen Uhr" (eng. epigenetic clock) bezeichnet wurde.
Psychische Effekte
Meditationstraining hat einen positiven Effekt auf ein breites Spektrum psychologischer Variablen wie Wahrnehmung, Aufmerksamkeit, verringerte emotionale Reaktivität, kognitiver Flexibilität, räumlich-visuelle Verarbeitung, die Gedächtnisleistung und Konzentrationsfähigkeit. Meditation ist dabei wirkungsvoller als Entspannungstechniken. Selbst nach relativ kurzen Zeiträumen von einigen Wochen lassen sich bereits kognitive Effekte nachweisen.
Nach intensiven Meditations-Retreats zeigen Probanden gesteigerte Selbstwirksamkeitserwartung, Mitgefühl für sich selbst und wahrgenommenen Lebenssinn sowie verringerte Werte für Neurotizismus.
Das Üben von Loving-Kindness-Meditation führt zu deutlich verstärkten positiven Emotionen bei den Meditierenden.
Eine besondere Wirkung von Meditation ist darüber hinaus eine Desidentifikation mit Gedanken und Gefühlen. Dieser Effekt wird in der Literatur Decentering (dt. etwa Dezentrierung) genannt. Decentering ist die Fähigkeit, Gedanken und Gefühle als vorübergehende Ereignisse im Geist und nicht als wahre Reflexionen der Realität und des Selbst zu betrachten. Decentering gilt als Träger gesundheitlicher Effekte in der Psychotherapie.
Effekte auf die Hirnfunktion und -anatomie
Durch Meditation werden spezifische Hirnregionen verändert, was als kontemplative Neuroplastizität bekannt ist. Bereiche des präfrontalen Kortex, des Hippocampus und der Insula sind bei Meditierenden gegenüber Nicht-Meditierenden stärker ausgeprägt. Diese Veränderungen sind abhängig von der Dauer der Meditationspraxis und markanter bei älteren Menschen, was auf einen durch Meditation gebremsten altersbedingten Hirnverlust hinweist.
In bildgebenden Studien zeigen unterschiedliche Meditationstechniken konsistent jeweils charakteristische Muster von Hirnaktivierung und -inhibition.
Eine bedeutsame neurologische Veränderung unter Meditation ist eine herabgesetzte Aktivität und stärkere Regulierung des Default Mode Network, einem Hirnnetzwerk, welches ichbezogenes Denken in Ruhe produziert. Aktivität dieses Netzwerks ist verbunden mit geringerer Präsenz und Zufriedenheit.
Auch die Amygdala zeigt bei Meditationserfahrenen veränderte Aktivität.
Meditative Zustände sind auch als Veränderung im Muster der Hirnwellen messbar. Beispielsweise wurde an tibetischen Mönchen mit langjähriger Meditationspraxis die größte jemals gemessene Synchronisierung von Gammawellen im linken Stirnlappen nachgewiesen.
Gesundheitliche Effekte
Frühe Studien zu gesundheitlichen Effekten von Meditation waren methodisch sehr mangelhaft. Beispielsweise wurden ganz verschiedene Praktiken wie Yoga, Taijiquan und Qigong als sogenannte Mind-Body-Interventions mit Meditation im engeren Sinne vermischt, Studienpopulationen waren klein oder es existierten keine geeigneten Kontrollgruppen. Unter Beachtung der methodischen Mängel ergaben sich dennoch Hinweise auf günstige Effekte von Meditation auf Bluthochdruck, Cholesterin-Spiegel und Herzfrequenz.
Die überwiegende Zahl der Studien verwendete Meditationsprogramme von einigen wenigen Sitzungen bis zu einigen Monaten Dauer. Es ist möglich, dass sich viele gesundheitliche Effekte erst nach längerem Training voll entwickeln und so in den bisherigen Untersuchungen noch nicht voll erfasst werden.
Für Herzinsuffizienz zeigen Studien günstige Effekte auf Belastbarkeit, Lebensqualität und verringerte Hospitalisierung. Meditation zeigt gute Wirkung auf Schmerzintensität und Häufigkeit von Kopfschmerzen und Migräne. Meditation könnte auch bei der Behandlung von Schlafstörungen wirksam sein.
Einige Autoren systematischer Übersichtsarbeiten bemängelten die methodische Qualität vieler früherer Studien, kamen jedoch zu dem Ergebnis, dass es Hinweise gibt, dass Achtsamkeitstraining sich günstig auswirkt auf verschiedene Aspekte psychischer Gesundheit, wie z. B. Stimmung, Lebenszufriedenheit, Emotionsregulation, und das Ausmaß psychischer Symptome.
Eine Verbesserung von Angstzuständen, Depressionen, Stress und Schmerzen durch Meditationstraining wurde auf höchstem Evidenzniveau belegt. Training in Achtsamkeitsmeditation kann vor Funktionsstörungen infolge hoher Stressbelastung schützen. Die Wirksamkeit der Achtsamkeitsbasierten Kognitiven Therapie (MBCT) zur Rückfallprävention von Depressionen ist ausreichend belegt und wurde deshalb als Therapieempfehlung in die S3-Leitlinie Depression aufgenommen.
Abgrenzungen
Ähnliche spirituell bedeutsame Bewusstseinszustände oder mystische Erfahrungen, wie sie in der Meditation angestrebt oder erfahren werden, werden auch durch Trance- und Ekstase-Techniken (Trancetanz), Holotropes Atmen oder psychotrope Substanzen gesucht. Die Meditation unterscheidet sich von solchen Praktiken zur Bewusstseinserweiterung wesentlich durch eine fast immer vorausgesetzte und unterstützte klare und wache Bewusstheit. In manchen Traditionen wie zum Beispiel in der christlichen Mystik oder im Vajrayana-Buddhismus gibt es auch fließende Übergänge zwischen Meditation und Tranceinduktion. Auch bei Formen des Gebets, wie sie im Judentum und Christentum praktiziert werden, sind transzendentale Erfahrungen möglich. Wesentliches Unterscheidungsmerkmal zwischen Gebet und Meditation ist die kommunikative Komponente in der Ansprache eines Höheren Wesens im Gebet und der systematischen Übung von geistigen Prozessen, insbesondere der Aufmerksamkeitskontrolle, in der Meditation.
Im Buddhismus, vor allem in seiner tantrischen Variante, und im Hinduismus gibt es spirituelle Praktiken der Anrufung, die dem Gebet sehr ähnlich sind, dort aber Meditation genannt werden.
Weitere Begriffsverwendung
Der Begriff ist auch für Texte verwendet worden, die Ergebnisse konzentrierten, in die Tiefe gehenden Nachdenkens darstellen, so etwa für Mark Aurels Selbstbetrachtungen oder Descartes’ Meditationen über die Grundlagen der Philosophie.
Meditationszentrum und Meditations-Retreat
Meditationszentren sind Orte, die eigens dafür geschaffen wurden, dass Besucher sich dort zu kürzeren oder längeren Meditationen niederlassen können. Sie können mit traditionellen oder sekulären Gruppen assoziiert sein. Auf dem Flughafen Amsterdam-Schiphol gibt es beispielsweise ein Meditationszentrum des Luchthavenpastoraat.
Ein Meditations-Retreat (deutsch: Meditations-Rückzug oder Klausur) ist ein Rückzug aus den Verpflichtungen und Gewohnheiten des Alltages um sich für eine bestimmte Zeit fast ausschließlich der Meditation zu widmen. Dauer des Retreats, Meditationstechniken, Intensität der täglichen Meditation, Regularien bzgl. Sprechen, Essen, Schlafen und sozialem Kontakt, Anleitung und religiöser Kontext variieren dabei und sind abhängig vom Ausrichter. Meditationsretreats sind auch unter buddhistischen Mönchen üblich, die sich beispielsweise in Südost-Asien alljährlich während der Regenzeit für drei Monate von sozialen Angelegenheiten zurückziehen um verstärkt zu meditieren. Weiterhin unterhalten viele tibetische Klöster abgelegene Meditationsorte und Einsiedeleien für die Mitglieder der Klostergemeinschaft und für fortgeschrittene Laienpraktizierende. Die übliche Dauer eines Langzeit-Retreats beträgt dort drei Jahre, drei Monate und drei Tage (lo gsum phyogs gsum), und es ist nicht ungewöhnlich, dass einige Meditierende längere Zeit in intensiver täglicher Praxis verbringen und manche sogar ihr ganzes Leben dem Retreat bzw. der Klausur widmen.
Literatur
Claudio Naranjo, Robert E. Ornstein: Psychologie der Meditation. Fischer, Frankfurt 1976, ISBN 3-436-02388-4.
14. Dalai Lama: Die Essenz der Meditation. Praktische Erklärungen zum Herzstück buddhistischer Spiritualität. Heyne, München 2005, ISBN 3-453-70014-7.
Jack Kornfield: Meditation für Anfänger. Arkana-Verlag, Freiburg im Breisgau 2005, ISBN 3-442-33733-X.
Sarah Shaw, Oxford Centre for Buddhist Studies: Buddhist meditation: an anthology of texts from the Pali Canon. Routledge Critical Studies in Buddhism, 2006, ISBN 1-134-24203-4 ().
Jes Bertelsen: Das Wesen des Bewusstseins – Meditation und Dzogchen. 2 Bände. Opus Verlag, Leopoldshöhe 2010 (Band 1: Meditation. ISBN 978-3-939699-02-6. Band 2: Dzogchen. ISBN 978-3-939699-03-3).
Helmut Brenner: Meditation – Die wichtigsten Ziele, Methoden und Übungen. Humboldt-Taschenbuchverlag Jacobi, München 1998. (Neuausgabe: Pabst, Lengerich 2010, ISBN 978-3-89967-648-8)
Ulrich Ott: Meditation für Skeptiker. O. W. Barth, München 2010, ISBN 978-3-426-29100-9.
Harold Piron, Renaud van Quekelberghe (Hrsg.): Meditation und Yoga. Klotz, Magdeburg 2010, ISBN 978-3-88074-025-9.
Jon Kabat-Zinn: Gesund durch Meditation. Full Catastrophe Living. Das vollständige Grundlagenwerk. Erste vollständige Ausgabe. Otto Wilhelm Barth, München 2011, ISBN 978-3-426-29193-1 (amerikanische Originalausgabe: New York 1990).
Peter Malinowski: Vielfalt Meditation. Springer-Verlag, 2018, ISBN 3-658-24568-9 ().
Miguel Farias, David Brazier, Mansur Lalljee: The Oxford Handbook of Meditation. Oxford University Press, 2021, ISBN 019880864X ().
M. C. Pascoe, M. de Manincor u. a.: Psychobiological mechanisms underlying the mood benefits of meditation: A narrative review. In: Comprehensive psychoneuroendocrinology. Band 6, Mai 2021, S. 100037, , PMID 35757358, (Review).
Weblinks
Einzelnachweise
Buddhismus
Hinduismus
Daoismus
Entspannungstechnik
Zen
Yoga
Kognitionswissenschaft
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Q108458
| 171.896503 |
3561789
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https://de.wikipedia.org/wiki/Outaouais
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Outaouais
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Outaouais [] ist eine Verwaltungsregion () im Südwesten der kanadischen Provinz Québec.
Sie ist weiter in vier regionale Grafschaftsgemeinden () sowie 75 Gemeinden, Reservate und gemeindefreie Gebiete unterteilt. Sitz der Verwaltung ist Gatineau.
Die Einwohnerzahl beträgt 382.604 (Stand: 2016).
2011 betrug die Einwohnerzahl 368.181 und die Landfläche 30.503,8 km², was einer durchschnittlichen Bevölkerungsdichte von 12,5 Einwohnern je km² entsprach. Mehr als zwei Drittel der Einwohner leben in Gatineau. Daher ist der übrige Teil mit 3,4 Einwohnern/km² nur spärlich besiedelt. 83,5 % der Einwohner sprechen Französisch und 14,8 % Englisch als Hauptsprache.
Im Norden grenzt Outaouais an die Region Abitibi-Témiscamingue, im Nordosten an Mauricie, im Osten an Laurentides, im Süden an die Provinz Ontario.
Vollständig innerhalb der Region liegt der Gatineau-Park.
Gliederung
Regionale Grafschaftsgemeinden (MRC):
La Vallée-de-la-Gatineau
Les Collines-de-l’Outaouais
Papineau
Pontiac
Gemeinde außerhalb einer MRC:
Gatineau
Reservat außerhalb einer MRC:
Lac-Rapide
Kitigan Zibi
Weblinks
Website der Region Outaouais
Statistische Daten
Outaouais. Commission de toponymie du Québec
Einzelnachweise
Verwaltungsregion in Québec
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Q222948
| 106.463435 |
323276
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https://de.wikipedia.org/wiki/Diffamierung
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Diffamierung
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Als Diffamierung (von ) bezeichnet man heute allgemein die üble Nachrede und gezielte Verleumdung Dritter. „Neudeutsch“ wird auch der Begriff Bashing synonym verwendet. Dies kann durch die Anwendung von Schimpfwörtern oder durch diverse Unterstellungen geschehen.
Vor allem im Bereich der Politik bezieht sich die Diffamierung auf die Ehrverletzung, Hetze sowie die Gerüchteverbreitung gegen partei- oder staatspolitische Gegner. Die dabei angewendeten Methoden können sowohl physischer als auch psychischer Natur sein und haben stets den Zweck, den Betroffenen gesellschaftspolitisch auszuschalten, mundtot zu machen oder gar zu ruinieren.
Eine moderne Form des Vertreibens einer Person aus der Zugehörigkeit und Anerkennung ist das sogenannte Mobbing, das sich u. a. durch öffentliche Diffamierung auszeichnet.
Siehe auch
Hetzkampagne
Literatur
Siegfried Jäger: Sprachliche Gewalt gegenüber Minderheiten: Formen der sprachlichen Diffamierung in den Medien und im politischen Diskurs. In: Der Deutschunterricht. () Bd. 59, H. 5 (2007), S. 11–21.
Weblinks
Einzelnachweise
Diskriminierung
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Q191783
| 168.943957 |
414357
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https://de.wikipedia.org/wiki/Seeanemonen
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Seeanemonen
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Seeanemonen (Actiniaria), auch Seerosen, Seenelken oder Aktinien genannt, sind eine arten- und gattungsreiche Ordnung der Hexacorallia innerhalb der Blumentiere (Anthozoa). Es handelt sich ausschließlich um im Meer vorkommende, stets solitär lebende, meist relativ große Tiere, die vom Flachwasser bis in abyssale Tiefen vorkommen. Derzeit sind etwa 1200 Arten bekannt.
Merkmale
Seeanemonen besitzen kein Skelett und leben solitär, d. h., sie bilden keine Kolonien im Gegensatz zu den meisten anderen Vertretern der Blumentiere. Sie sind halbsessil; sie können sich durch langsames Kriechen auf ihrer Fußscheibe fortbewegen, mit der sie sich normalerweise auf hartem Untergrund festkrallen oder in Sand und Geröll eingraben. Ihr Körper ist muskulös. Die Größe kann, je nach Art, von einem bis 150 Zentimeter reichen. Ihre Tentakel sind einfach und in der Regel nicht verzweigt und oft durchscheinend. Manche Arten haben Nesselfäden, hier Acontien genannt, die durch den Mund oder durch Poren im Scapus, sog. Cinclidien, ausgeschleudert werden. Vielfältige Formen an Fortpflanzungsmodi sind bekannt. So existieren getrenntgeschlechtliche, aber auch zwittrige Arten. Sogar Querteilung oder Abschnüren von Fußpartien kommt vor.
Geographisches Vorkommen, Verbreitung und Lebensweise
Es gibt über 1200 Arten in allen Meeren vom Flachwasser bis zu 10.000 m Tiefe. In europäischen Gewässern finden sich ca. 60 Arten. Viele ausgewachsene Aktinien fressen Fische, Krebse und Schnecken, andere nur Plankton.
Symbiosen
Einige Arten gehen Symbiosen mit anderen Tieren ein. So finden z. B. Anemonenfische, die Anemonengrundel, Spinnenkrabben oder Partnergarnelen zwischen den Tentakeln Schutz vor Feinden. Umgekehrt heftet sich die Schmarotzerrose an das von einem Einsiedlerkrebs bewohnten Schneckenhaus (Ektosymbiose) an.
Systematik
Eine aktuelle Systematik teilt die Seeanemonen auf Basis einer phylogenetischen Untersuchung, bei der zwei Gene mitochondrialer DNA und drei Gene aus dem Zellkern von 123 verschiedenen Seeanemonenarten miteinander verglichen wurden, in zwei Unterordnungen und fünf Überfamilien.
Seeanemonen (Actiniaria)
Unterordnung Anenthemonae
Überfamilie Edwardsioidea
Familie Edwardsiidae Andres, 1881
Überfamilie Actinernoidea
Familie Actinernidae Stephenson, 1922
Familie Halcuriidae Carlgren, 1918
Unterordnung Enthemonae
Überfamilie Actinostoloidea
Familie Actinostolidae Carlgren, 1932
Familie Exocoelactiidae Carlgren, 1925
Überfamilie Actinioidea
Familie Actiniidae Rafinesque, 1815
Familie Actinodendridae Haddon, 1898
Familie Andresiidae Stephenson, 1922
Familie Capneidae Gosse, 1860
Familie Condylanthidae Stephenson, 1922
Familie Haloclavidae Verrill, 1899
Familie Homostichanthidae Carlgren, 1900
Familie Iosactinidae Riemann-Zürneck, 1997
Familie Limnactiniidae Carlgren, 1921
Familie Liponematidae Hertwig, 1882
Familie Minyadidae Milne Edwards, 1857
Familie Oractinidae Riemann-Zürneck, 2000
Familie Phymanthidae Andres, 1883
Familie Preactiniidae England in England & Robson, 1984
Familie Ptychodactiidae Appellöf, 1893
Familie Stichodactylidae Andres, 1883; darunter 7 von 10 Symbioseanemonen
Familie Thalassianthidae Milne Edwards, 1857
Überfamilie Metridioidea
Familie Acontiophoridae Carlgren, 1938
Familie Actinoscyphiidae Stephenson, 1920
Familie Aiptasiidae Carlgren, 1924
Familie Aiptasiomorphidae Carlgren, 1949
Familie Aliciidae Duerden, 1895
Familie Amphianthidae Hertwig, 1882
Familie Andvakiidae Danielssen, 1890
Familie Antipodactinidae Rodríguez, López-González, Daly, 2009
Familie Bathyphelliidae Carlgren, 1932
Familie Boloceroididae Carlgren, 1924
Familie Diadumenidae Stephenson, 1920
Familie Gonactiniidae Carlgren, 1893
Familie Halcampidae Andres, 1883
Familie Haliactinidae Carlgren, 1949
Familie Haliplanellidae Hand, 1956
Familie Hormathiidae Carlgren, 1932
Familie Isanthidae Carlgren, 1938
Familie Kadosactidae Riemann-Zürneck, 1991
Familie Metridiidae Carlgren, 1893
Familie Mimetridiidae
Familie Nemanthidae Carlgren, 1940
Familie Nevadneidae Carlgren, 1925
Familie Octineonidae Fowler, 1894
Familie Ostiactinidae Rodríguez et al., 2012
Familie Phelliidae
Familie Ramireziidae Fautin, Eppard & Mead, 1988
Familie Sagartiidae Gosse, 1858
Familie Sagartiomorphidae Carlgren, 1934
Einzelnachweise
Literatur
Harry Erhardt, Horst Moosleitner: Meerwasser-Atlas. Band 1 Mergus-Verlag, Melle 2006, ISBN 3-88244-020-1.
Weblinks
Sea Anemones - Actiniaria - Seeanemonen. Fotos von verschiedenen Seeanemonen-Arten aus einem Korallenriff
Wikipedia:Artikel mit Video
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8046520
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https://de.wikipedia.org/wiki/Twitch
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Twitch
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Twitch, auch Twitch.tv (stilisiert twitch), ist ein Live-Streaming-Videoportal, das vorrangig zur Übertragung von Videospielen und zum Interagieren mit Zuschauern im Chat genutzt wird.
Geschichte
Als das von Justin Kan gegründete Streamingportal Justin.tv im Jahr 2010 ein starkes Wachstum insbesondere der Videospiel-Kategorie verzeichnete, erstellten die Betreiber das Schwesterportal Twitch.tv ausschließlich zur Videospiel- und E-Sport-Übertragung. Die Website ging im Juni 2011 in einer Beta-Version online.
Am 1. Mai 2012 gewann Twitch einen Webby Award mit dem Titel Webby People’s Voice Award in der Kategorie Videospiele.
2013 verzeichnete Twitch monatlich mehr als 45 Millionen Zuschauer auf 6 Millionen Streamingkanälen. Daher wurde die Betreibergesellschaft im Februar 2014 von Justin.tv Inc. in Twitch Interactive Inc. umbenannt.
2014 übernahm Amazon das Unternehmen für 970 Millionen US-Dollar.
Twitch wird auch von diversen Spartenprogrammen genutzt, um über Videospiel- und E-Sport-Themen zu berichten. So strahlt der deutschsprachige Sender ESL TV sein Programm auf Twitch aus.
Daten des US-amerikanischen Unternehmens DeepField zufolge erzeugte Twitch während der Tagesspitzenzeiten im Februar 2014 etwa 1,8 % des durch Unternehmen erzeugten Internet-Datenverkehrs der Vereinigten Staaten. Damit liegt der Dienst an vierter Stelle, hinter Netflix, Google und Apple.
Anfang 2014 veröffentlichte Twitch viele Statistiken über das vorangegangene Jahr. Unter anderem wurde bekannt, dass von den 45 Millionen Zuschauern jeden Monat 12 Milliarden Minuten Twitch-Inhalte gesehen wurden. Das war eine Verdopplung im Vergleich zu 2012. Das Durchschnittsalter der Zuschauer beträgt 21 Jahre.
Anlässlich des 73. Geburtstags des Malers Bob Ross startete Twitch am 29. Oktober 2015 das Format Creative mit einem neuntägigen Marathon aller Folgen von The Joy of Painting. Das Format sollte Künstler dazu anregen, ihre Ideen in Echtzeit ins Netz zu übertragen.
Am 17. August 2016 übernahm Twitch den Dienst Curse Gaming. Dessen wichtigste Dienste Gamepedia und der Curse Client, eine Verwaltungssoftware für Spielmodifikationen, wurden anschließend vollständig in die Marke Twitch integriert.
Am 30. September 2016 verkündete Twitch den Dienst Twitch Prime für Amazon-Prime-Kunden mit einem aktiven Abonnement. Der Dienst enthält ausgewählte Gratisspiele, Spielinhalte („Game Loot“) und die Möglichkeit, jeden Monat einen beliebigen Streamer gratis zu abonnieren. Am Anfang war auch das werbefreie Schauen enthalten, das aber zu einem späteren Zeitpunkt wieder entfernt wurde.
Am 15. Dezember 2016 führte Twitch die Kategorie IRL („In Real Life“) ein, die es erlaubt, mit dem Publikum Geschehnisse aus dem eigenen Leben zu teilen und Diskussionen zu führen. Hierbei ist nicht zwingend ein Bezug zu Videospielen erforderlich, solange aktiv auf die Zuschauer eingegangen wird.
Twitch zeigt zwar überwiegend von Mitgliedern erstellte Inhalte. Das Unternehmen überträgt allerdings auch professionell produzierte Streams großer E-Sport-Veranstalter. Für die Streamingrechte der Overwatch League soll Twitch Anfang 2018 Medienberichten zufolge 90 Millionen US-Dollar gezahlt haben.
Im Dezember 2018 verkaufte Twitch das Online-Spieleportal Curse Media an Wikia.
Die Seite stand 2019 weltweit auf dem 26. Alexa-Rang. In Deutschland steht sie auf Platz 23. Ein Großteil der Nutzer kommt aus den Vereinigten Staaten.
Am 9. Oktober 2019 übertrug der Täter des Anschlags in Halle (Saale) seine Tat live über Twitch.
Am 6. Oktober 2021 wurden von einer anonymen Hackergruppe mehr als 250 GB sensible Daten veröffentlicht. Diese umfassen unter anderem den Twitch-Quellcode, Accountdaten, Auszahlungen an Streamer sowie Hinweise auf einen unveröffentlichten Konkurrenzdienst zur Spieledistributionsplattform Steam.
Inhalt und Nutzung
Jeder Nutzer mit einem Benutzerkonto kann einen eigenen Kanal erstellen und darauf Gameplay von diversen Spielen übertragen. Zur Übertragung wird eine Streaming-Software wie die Programme XSplit oder Open Broadcaster Software benötigt. Die PlayStation 4 und die Xbox One benötigen keine zusätzliche Software.
Zu den meistgezeigten Spielen gehören Valorant, Fortnite, Call Of Duty: Warzone, Among Us, League of Legends, Overwatch, Dota 2, StarCraft II, World of Warcraft, Counter-Strike: Global Offensive, Hearthstone: Heroes of Warcraft sowie Minecraft. Auf Twitch werden auch viele große E-Sport-Veranstaltungen übertragen. Dazu gehören die League of Legends World Championships und die League of Legends Championship Series, das Dota-2-Turnier The International, die StarCraft II World Championship Series, die weltgrößte LAN-Party DreamHack und die Intel Extreme Masters.
Twitch besitzt eine Vielzahl von Emoticons, speziell „Emotes“ genannt. Es gibt frei verfügbare Emotes für alle Benutzer, Emotes für Turbo-Nutzer, Emotes für Twitch-Prime-Nutzer sowie Emotes für Benutzer, die einen Twitch-Partner oder Affiliate abonniert haben. Im Jahr 2015 war Kappa das meistgenutzte Emote auf Twitch. Es kennzeichnet Ironie oder Sarkasmus. Streamer mit Twitch-Partner-Status schalten mehr „Emote-Slots“ frei (je nachdem wie viele Abonnenten sie gewinnen, bis zu 60 Emotes pro Kanal).
Partnerprogramm
Im Juli 2011 eröffnete Twitch ein Partnerprogramm, das dem von YouTube ähnelt. Für eine Partnerschaft müssen Streamer regelmäßig streamen und laut Twitch eine „bestehende und stetig wachsende Zuschauer-Community“ haben, eine genaue Zuschauerzahl wird nicht genannt.
Diese Partner bekommen die Möglichkeit, Werbeanzeigen in ihre Streams einzublenden. Dafür erhält der Partner einen Teil der Werbeeinnahmen, die so zustande kommen. Außerdem können Zuschauer in Deutschland die Kanäle von Partnern für 3,99 Euro, 7,99 Euro oder 19,99 Euro pro Monat abonnieren (bis Ende Juli 2021: 4,99 Euro, 9,99 Euro oder 24,99 Euro pro Monat). Der Streamer bekommt hierbei einen Teil des Gewinnes ab. Im Juni 2016 wurde mit Cheering eine weitere Möglichkeit eingeführt, Streamer zu unterstützen. Sogenannte Bits können für Echtgeld erworben werden und per Nachricht im Chat dem Streamer gespendet werden. Der Twitch Stream CriticalRole erzielte den höchsten Umsatz pro Monat.
2015 waren von den in Spitzenmonaten über 2.100.000 Streamern 13.476 aktive Partner. Das sind 0,64 % aller Streamer.
Im September 2022 wurde von Twitch angekündigt, dass die Einnahmen der Partner, welche Zusatzverträgen mit Twitch abgeschlossen haben, durch welche sie zurzeit 70 % der Einnahmen von Abonnements erhalten, auf 50 % verringert werden. Diese Änderungen sollen im Juni 2023 in Kraft treten. Zur weiteren Präzisierung gab Twitch bekannt, dass Partner, welche Zusatzverträge abgeschlossen haben, weiter 70 % der Einnahmen der ersten 100.000 US-Dollar des Jahres behalten dürfen. Von den restlichen Einnahmen, welche die Schwelle überschritten haben, sollen die Partner nur 50 % erhalten.
Im Juli 2023 wurde von Twitch das Partner-Plus-Programm angekündigt. Partner, welche in das Programm aufgenommen werden, erhalten bis zu einer Obergrenze von 100.000 USD eine Umsatzbeteiligung von 70 % aus wiederkehrenden Abonnements und Geschenkabonnements. Um in das Programm aufgenommen zu werden, ist es erforderlich in drei aufeinanderfolgenden Monaten mindestens 350 wiederkehrende bezahlte Abonnements auf dem eigenen Kanal zu erhalten. Das Partner-Plus-Programm startet am 1. Oktober 2023.
Affiliateprogramm
Neben dem Partnerprogramm gibt es seit April 2017 das Affiliate-Programm. Dieses ist für kleinere Streamer gedacht, die aufgrund ihrer geringen Größe nicht die Anforderungen für eine Partnerschaft erfüllen. Streamer in diesem Programm erhalten die Möglichkeit, Cheering zu nutzen, das sonst nur für Partner verfügbar war. Zusätzlich dazu sind Abonnements seit dem 27. Juni 2017 für Streamer im Affiliate-Programm verfügbar. Außerdem können „Affiliates“ wie Partner Werbeanzeigen schalten. Um in das Affiliate-Programm eingeladen zu werden, muss man folgende Kriterien erfüllen:
Mindestens 8 übertragene Stunden in den letzten 30 Tagen
Mindestens sieben einzelne Übertragungstage in den letzten 30 Tagen
Durchschnittlich drei oder mehr gleichzeitige Zuschauer in den letzten 30 Tagen
Mindestens 50 Follower
Zusätzlich bieten auch Unternehmen in der Gamingbranche Programme an, um kleine Streamer zu unterstützen.
Extensions
Seit dem 1. September 2017 können Livestreamer Extensions nutzen, durch welche sie diverse interaktive Funktionen zu ihrer Übertragung hinzufügen können. Creators integrieren diese neuen Extensions direkt in ihre Live-Videos auf Twitch. Dadurch wird die besondere Beziehung zwischen ihnen und ihrer Community gefördert.
Anwendungen
Twitch Sings
Anfang 2019 veröffentlichte Twitch seine eigene Karaokeanwendung namens Twitch Sings. Diese Anwendung ermöglicht Nutzern der Plattform, aus einem definierten Songkatalog Songs auszuwählen und diese dann über einen Livestream vor Publikum live zu singen. Besonderes Augenmerk legte Twitch hierbei auf die Interaktion der Nutzer mit dem Livestreamer innerhalb der Anwendung; so können mittels einer eigens dafür entwickelten Extension die Zuschauer dem Sänger unterschiedlichste Herausforderungen stellen, wie den Song in Hundelauten zu singen. Twitch Sings wurde am 1. Januar 2021 geschlossen, da man sich auf andere Bereiche konzentrieren möchte.
Twitch Studio
Twitch Studio ist ein Aufnahme- und Live-Streamingprogramm, welches am 12. November 2019 für Windows in der Beta-Version veröffentlicht wurde. Es wurde entwickelt, da Programme wie Open Broadcaster Software für Neueinsteiger zu kompliziert waren, um einfach zu beginnen. Twitch meint, dass das Programm nur für Neueinsteiger ist und es nicht notwendig ist, als erfahrener Livestreamer das Programm zu wechseln. Mit Twitch Studio kann man nur auf Twitch livestreamen.
Dadurch, dass ein paar Designs bereits integriert sind, man seinen Streamschlüssel nicht eingeben muss und „Twitch Alerts“ integriert sind, werden viele komplizierte Dinge in dem Programm vereinfacht. Es ist für jeden möglich, schnell mit dem Livestreamen zu beginnen. Ein Chat und ein Aktivitätsfeed des Livestreams sind ebenfalls in das Programm integriert.
Abonnements
Auf Twitch gibt es die Möglichkeit, Streamer zu abonnieren, sofern sie Twitch Partner oder Twitch Affiliate sind. Es gibt drei verschiedene Abonnementoptionen. Ein Abonnement, engl. subscription (kurz sub), bringt dem Zuschauer eine Reihe von Vorteilen: Er bekommt ein Abzeichen vor dem Namen im Chat des Streamers, bei dem das Abonnement abgeschlossen wurde. Dazu bekommt er Emotes, die exklusiv den Abonnenten des Streamers vorbehalten sind und ebenfalls im Chat anderer Streamer verwendet werden können. Des Weiteren schaut er den Streamer werbefrei. Die Anzahl der Emotes variiert nach der Anzahl der Abonnements, die der Streamer hat. 2016 kündigte Twitch auf der TwitchCon an, dass man mit Amazon Prime pro Monat einen Streamer gratis abonnieren kann. 2017 kündigte Twitch auf der TwitchCon an, dass man Abonnements nun auch verschenken kann.
Seit November 2017 ist dieses Feature auf dem Markt; seit April 2018 erhält ein User, der einen Sub verschenkt, ein Geschenk-Icon vor dem Namen. Seit August 2018 ist es möglich, gleichzeitig mehrere Subs an die Community eines Streamers zu verschenken. Diese Subs werden zufällig an Personen geschenkt, die dem Streamer folgen. Es ist möglich, bis zu 100 Subs gleichzeitig zu verschenken. Es gibt auch die Möglichkeit, Abonnements anonym zu verschenken.
Im Herbst 2021 begann Twitch die Preise von Abonnements zu senken. Damit will Twitch die Preise an die lokalen Lebenserhaltungskosten anpassen.
TwitchCon
TwitchCon ist eine jährliche Tagung des Live-Streaming-Videoportals Twitch. Die erste Tagung wurde im Jahr 2015 veranstaltet.
2015
Die erste TwitchCon wurde im Moscone Center in San Francisco vom 25. bis zum 26. September veranstaltet. Dabei wurde einige Keynotes von CEO Emmett Shear angekündigt. Bei der Aftershowparty war der finnische DJ Darude zu Gast. Die komplette Tagung wurde auf Twitch gestreamt.
2016
Am 18. Februar 2016 kündigte Twitch die zweite TwitchCon an. Sie wurde vom 30. September bis zum 2. Oktober im San Diego Convention Center veranstaltet.
2017
Die TwitchCon 2017 fand im Long Beach Convention Center im Zeitraum vom 20. bis 22. Oktober statt.
2018
Die TwitchCon 2018 fand vom 26. bis 28. Oktober im San Jose McEnery Convention Center statt.
2019
Am 21. November 2018 kündigte Twitch die erste TwitchCon in Europa an. Diese fand vom 13. bis zum 14. April im CityCube Berlin statt. Zusätzlich zu der TwitchCon in Berlin fand auch wieder eine in San Diego vom 27. bis zum 29. September statt.
2020
Am 27. September 2019 kündigte Twitch die Veranstaltungen für 2020 an. Vom 2. bis 3. Mai sollte die europäische TwitchCon im Kongresszentrum Amsterdam RAI stattfinden, vom 25. bis zum 27. September abermals im San Diego Convention Center die Amerikanische. Die europäische TwitchCon 2020 wurde allerdings Anfang März 2020 aufgrund der COVID-19-Pandemie abgesagt. Am 2. November gab Twitch auf seinem offiziellen Twitter-Account die Veranstaltung einer virtuellen TwitchCon mit Namen „GlitchCon“ bekannt, welche am 14. November stattfand und auf der eigenen Plattform gestreamt wurde.
2022
Nachdem im Jahr 2021 keine TwitchCon abgehalten wurde, wurde am 16. und 17. Juli eine TwitchCon im Kongresszentrum Amsterdam RAI abgehalten. Mit rund 14.500 Besuchern brach die Messe den alten Rekord von rund 9.500 Besuchern an beiden Tagen. Im Oktober soll noch die TwitchCon in San Diego abgehalten werden.
2023
Im Juli 2023 fand eine TwitchCon in Paris statt. Für Oktober ist eine weitere in Las Vegas angekündigt.
Logos
Kritik
Kritisiert wird seit Jahren, dass auf Twitch Online-Casino-Streams stattfinden. Zudem stehen sogenannte „Badewannen-Livestreams“ immer wieder in der Kritik.
Des Weiteren ist die auf der Plattform TikTok ebenfalls stattfindende "Hot Chip Challenge" in einigen Streams zu finden. Nach dem Tod eines Jugendlichen wurde auch hierüber Kritik laut.
Reichweitenstärkste Streamer
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Weblinks
Offizielle Website
Einzelnachweise
Videoportal
Online-Dienst von Amazon
E-Sport
Sportwebsite
Gegründet 2011
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Q4555537
| 162.601501 |
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https://de.wikipedia.org/wiki/Namenstag
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Namenstag
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Der christliche Namenstag einer Person ist der liturgische Gedenktag eines Heiligen im Kirchenjahr, dessen Namen diese Person trägt (Namenspatron). In manchen katholischen und orthodoxen Regionen oder Ländern ist die Feier des Namenstags bedeutender als oder wenigstens ebenso wichtig wie die des Geburtstages. Die Feier des Namenstages gestaltet sich ähnlich wie die Feier eines Geburtstages, so wird die Person von Familienangehörigen, Freunden und Arbeitskollegen beschenkt. In Ordensgemeinschaften wird das Mitglied nicht an seinem Geburtstag gefeiert, sondern an dem Gedenktag des Heiligen oder des Festgeheimnisses, nach dem er im Orden benannt ist (Ordensname).
Bedeutung und Verwendung
Im Zuge der Christianisierung der Völker außerhalb des alten Römerreiches wurden die christlichen Namen zum unterscheidenden Kennzeichen und bezeichneten meist eine besondere Verbindung zu dem Heiligen, dessen Namen der Katechumene in der Taufe angenommen hatte. Der Gedenktag des Heiligen im liturgischen Kalender der Kirche hatte für den Namensträger eine besondere Bedeutung, das Geburtsdatum war hingegen oft gar nicht bekannt.
Im Mittelalter wurde bei der Taufe (überwiegend am Tag nach der Geburt) dem Täufling gerne der Name des Tagesheiligen gegeben. Das Taufdatum, zugleich Namenstag, wurde danach im Kirchenbuch eingetragen. Martin Luther, geboren am 10. November 1483, getauft am 11. November, erhielt daher den Namen des hl. Martin von Tours.
Das Konzil von Trient (1545 bis 1563) legte für die römisch-katholische Kirche im Rituale Romanum fest: Die Bedeutung des Namenstages nahm in der katholischen Kirche in der Zeit der Gegenreformation noch zu. Auch um sich von Protestanten abzuheben, sollten sich die katholischen Gläubigen regelmäßig und festlich einer innigen Verbindung mit dem jeweiligen Namenspatron vergewissern.
Die Empfehlung, Täuflingen den Namen eines Heiligen zu geben, findet sich 1566 im Catechismus Romanus sowie auch 1614 im Rituale Romanum. Der Klerus förderte daher die Bevorzugung der Feier des Namenstages gegenüber der Feier des Geburtstages. Besonders die Franziskaner und Jesuiten trugen später zur Verbreitung neuerer Heiligennamen in der Bevölkerung bei.
Da die Zahl der Heiligen viel größer ist als die der Tage eines Jahres, fallen auf einen Tag oft mehrere Namenspatrozinien. Darüber hinaus gibt es für manche Namen mehrere heilige Namensträger; das Datum der Feier des Namenstages hängt dann davon ab, nach welchem Heiligen man benannt ist. Die Liste der Namenstage bezieht sich in erster Linie auf den Regionalkalender für das deutsche Sprachgebiet; demgegenüber weisen der Heiligenkalender der orthodoxen Kirchen und der Evangelische Namenkalender teilweise Abweichungen auf.
Es gibt außerdem lediglich drei Personen, deren Geburt durch die Kirche gefeiert wird. Dies sind Maria, die Mutter Jesu, Johannes der Täufer und Jesus Christus selbst.
Siehe auch
Liste der Seligen und Heiligen
Heiligenkalender
Liturgiereform (dort Abschnitt Kalenderreform)
Liste der Namenstage
Namenstag (Lettland)
Weblinks
Literatur
Jakob Torsy: Der Große Namenstagkalender. 3720 Namen und 1560 Lebensbeschreibungen unserer Heiligen. 13. Aufl., Freiburg im Breisgau 1976; Nachdruck 1989.
Otto Wimmer: Handbuch der Namen und Heiligen, mit einer Geschichte des christlichen Kalenders. 3. Aufl. Innsbruck/Wien/München 1966; ab 4. Aufl. 1982, von Otto Wimmer und Hartmann Melzer, unter dem Titel Lexikon der Namen und Heiligen.
Einzelnachweise
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Heiligenpatronanz
Familienfest
Onomastik
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Q216584
| 158.850098 |
69316
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https://de.wikipedia.org/wiki/Keratine
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Keratine
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Keratin (von griechisch kéras „Horn“, Genitiv kératos) ist ein Sammelbegriff für verschiedene wasserunlösliche Faserproteine, die von Tieren gebildet werden und die Hornsubstanz charakterisieren. Entsprechend ihrer molekularen Konformation als α-Helix oder β-Faltblatt unterscheidet man α- und β-Keratine.
Keratine sind der Hauptbestandteil von Säugetierhaaren, Finger- und Zehennägeln, Krallen, Klauen, Hufen, Hörnern, Nasenhörnern der Nashörner, Stacheln der Igel, Barten der Wale, Schnäbeln und Federn der Vögel, Hornschuppen und äußerer Panzerbedeckung der Reptilien. Sie bilden die Intermediärfilamente verschiedener Epithelgewebe, einschließlich der Epidermis, und sorgen unter anderem für mechanische Widerstandsfähigkeit.
Struktur und Eigenschaften
Ihre Faserstruktur verstärkt die Festigkeit der Keratine: Die einzelnen Aminosäureketten bilden eine rechtsgängige α-Helix. Zwei dieser Helices lagern sich zu einer linksgängigen Superhelix und zwei dieser Superhelices beim α-Keratin zu einer Protofibrille zusammen. Mehrere Protofibrillen vereinigen sich zu einer Mikrofibrille, diese lagern sich zu Bündeln zusammen und bilden Makrofibrillen aus. Die Fasern sind umso steifer, je stärker ihre Komponenten durch Disulfidbrücken der Aminosäure L-Cystein quervernetzt sind. So enthält das Keratin in Hörnern und Klauen mehr Disulfidbrücken als das in Wolle und Haaren. Leonor Michaelis entdeckte, dass Disulfidbrücken durch Thioglykolsäure reduziert werden. Dies war die biochemische Grundlage für die Dauerwelle.
Vor der Verhornung sowie allgemein in Epithelien der Wirbeltiere und anderer Tiergruppen liegen α-Keratine (oder Cytokeratine) in Form lose organisierter Keratinfilamente vor. Diese gehören zu den Intermediärfilamenten, die zusammen mit Mikrotubuli und Mikrofilamenten das Zytoskelett der eukaryotischen Zellen bilden. Derzeit sind 20 Cytokeratin-Proteine bekannt (siehe Tabelle), deren Molekülmasse zwischen 40 und 68 kDa liegt. KRT1 bis KRT8 werden zur neutral-basischen Typ-A-Subfamilie, KRT9 bis KRT20 zur sauren Typ-B-Subfamilie gezählt. Diese bilden paarweise in den Intermediärfilamenten einen Heterodimer-Komplex aus einem Typ-A- und einem Typ-B-Cytokeratin. Die Verteilungsmuster dieser Komplexe unterscheiden sich in verschiedenen epithelialen Zellen erheblich, sodass mit einem Antikörpernachweis gegen die Subtypen KRT1 bis KRT20 die Herkunft dieser Cytokeratine eingegrenzt werden kann. Dies macht man sich in der Medizin in der pathologischen Diagnostik zunutze, um die Herkunft von Tumormetastasen zu bestimmen. Mutationen in verschiedenen Keratin-Genen sind für eine Reihe seltener Erbkrankheiten (Ichthyose) verantwortlich.
Ein Beispiel für ein β-Keratin ist das Fibroin oder Seidenprotein der Spinnennetze und der Seide. Im Unterschied zu den α- oder Cytokeratinen ist es kein intrazelluläres Strukturprotein, sondern ein Ausscheidungsprodukt der Spinndrüsen. Wegen seiner Faltblattstruktur ist es sehr viel weniger dehnbar als die helikal gebauten α-Keratine.
Technische Verwendung
Aus keratinhaltigen Naturstoffen werden L-Cystein, L-Tyrosin und andere proteinogene Aminosäuren im technischen Maßstab hergestellt. Dazu werden die Naturstoffe zuerst mit Salzsäure hydrolysiert. Das Hydrolysat wird mit Ammoniak neutralisiert. Die L-Aminosäuren werden dann aufgrund ihrer unterschiedlichen Löslichkeiten abgetrennt oder nach dem Prinzip der Ionenaustausch-Chromatographie isoliert.
Verwendung finden Keratinprodukte (z. B. Schafwollvliese) beim Abbau von Formaldehyd. Hier hat das deutsche Wollforschungsinstitut an der RWTH Aachen zusammen mit dem eco Institut Köln in langfristiger Forschungsarbeit den Nachweis erbracht, dass solche Produkte in der Lage sind, Formaldehyd aus der Raumluft zu entfernen. Formaldehydbelastete Kindergärten, Schulen und Privathäuser (viele Fertighäuser der 1970er- und 1980er-Jahre) wurden seit den 1990er Jahren auf diese Weise bereits saniert.
Weblinks
Einzelnachweise
Keratine
Proteingruppe
Epithel
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Q189474
| 98.837676 |
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https://de.wikipedia.org/wiki/Zersiedelung
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Zersiedelung
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Unter Zersiedelung versteht man die Errichtung von Gebäuden außerhalb von „im Zusammenhang bebauten“ Ortsteilen oder das ungeregelte und unstrukturierte Wachstum von Ortschaften in den unbebauten Raum hinein. Zersiedelung ist einerseits ein Teilaspekt der Suburbanisierung, der die Ausbreitung von monofunktionalen, dünn besiedelten und vom Individualverkehr abhängigen Zonen am Stadtrand bezeichnet, und andererseits ein weiter gefasster Begriff, da er nicht nur das periphere Wachstum von Agglomerationen bezeichnet, sondern auch die Zersiedelung des ländlichen Raumes z. B. in touristisch interessanten Regionen. Meist wird der Begriff Zersiedelung verwendet, um negative Auswirkungen dieses Prozesses zu beschreiben, wie bereits die Vorsilbe „Zer-“ andeutet; jedoch ist er ähnlich wie der Begriff des urban sprawl unscharf definiert, schwer operationalisierbar und in seiner Abgrenzung umstritten.
Definitionsversuch
Forscher aus der Schweiz haben im Rahmen des Nationalen Forschungsprogramms NFP 54 Zersiedelung wie folgt definiert: Zersiedelung ist ein Phänomen, das in der Landschaft optisch wahrnehmbar ist. Eine Landschaft ist umso stärker zersiedelt, je mehr Fläche bebaut ist, je weiter gestreut die Siedlungsflächen sind und je geringer deren Ausnützung für Wohn- oder Arbeitszwecke ist. Damit ergänzen die messbaren Kriterien Größe, Streuung und Ausnützung der Siedlungsfläche die intuitive Beurteilung der Zersiedelung. Anhand dieser Definition lassen sich Entwicklungstrends in der Zersiedelung quantifizieren.
Entwicklung
Gemeinsam ist allen Formen der Zersiedelung der Flächenverbrauch durch ein Wachstum von Siedlungsbereichen in die Landschaft hinein. Durch großflächig auftretende Zersiedelung befinden sich Städte und Landschaften in einem grundlegenden Veränderungsprozess. Insbesondere das Umland großer Städte verändert seinen bisherigen natürlich oder kulturell gewachsenen Charakter. Dieser Trend zur vermehrten Ausbildung von Speckgürteln ist in Deutschland seit Jahrzehnten zu beobachten.
Nach dem 2008 veröffentlichten Modell der „Anthrome“ der beiden amerikanischen Geografen Erle C. Ellis und Navin Ramankutty lebt weltweit etwa die Hälfte aller Menschen im zersiedelten Umland (Dense Settlements, Villages) städtischer Ballungsräume.
Ursachen
Maßgeblich befördert wurde und wird die Zersiedelung der Landschaft durch hohe Bodenpreise in den Städten, durch die kommunale Bauleitplanung (am Rande der Siedlungen) und die Verfestigung von Splittersiedlungen im Außenbereich. Hohe Immobilienpreise in den Städten treiben vor allem junge Familien dazu, den Traum eines eigenen Hauses im Grünen zu realisieren, ohne den Arbeitsplatz in der Stadt aufgeben zu müssen. Aber auch wohlhabende Rentner ziehen in die suburbanen Zonen. Die Verbreitung des Autos macht die räumliche Trennung von Arbeit und Schlafplatz attraktiver und ermöglicht die Ansiedlung von Unternehmen außerhalb der Stadtgrenze. Auch die staatliche Begünstigung der Trennung von Arbeitsplatz und Wohnort durch die Entfernungspauschale sowie eine undifferenzierte Wohnungsbauförderung werden als ursächlich und fördernd für Zersiedelung genannt. Ebenso befördert die Einrichtung von Industrieparks und Großeinkaufszentren am Rande der Siedlungsräume die Zersiedelung; sie wird mit der Schaffung von Arbeitsplätzen und Einnahmen für die Gemeinden begründet.
Mit dem Begriff des Baulandparadoxons weist der österreichische Rechtswissenschaftler Benjamin Davy darauf hin, dass die Ausweisung von neuen Bauflächen gänzlich vermieden werden könne, wenn alle Möglichkeiten zur effizienteren Nutzung der in Siedlungsräumen bereits zur Verfügung stehenden Flächen ausgeschöpft würden.
Im ländlichen Umfeld, in den Dörfern, wird die Zersiedelung durch die Umwidmung von Acker- in Bauland trotz noch verfügbaren Baulands im Kerngebiet begünstigt. Die Gestaltung der Siedlungen in offener Bauweise (statt der nachhaltigeren geschlossenen Bauweise) wirkt sich zusätzlich auf den Landschaftsverbrauch aus. Zersiedlung durch landwirtschaftliche Betriebe im Außenbereich wird hingegen durch das Privilegierte Bauvorhaben akzeptiert.
Beim Neu- und Wiederaufbau der Städte nach dem Zweiten Weltkrieg orientierte man sich in großen Teilen der Welt an der Charta von Athen (CIAM) von 1933. Im Ergebnis folgte der Aus- und Wiederaufbau häufig dem Leitbild der autogerechten Stadt. Wohnen und Gewerbe wurden damit in vielen Fällen voneinander getrennt. Fortan wurden auch zahlreiche suburbane Satellitenstädte (Schlafstädte) geplant. Diese Art der Stadtentwicklung wurde bereits früh als schwerer Missstand erkannt und dennoch für Jahrzehnte weiterverfolgt, teilweise bis heute.
Verkehrsproblematik
Zersiedelung steht auch wegen ihrer verkehrsproduzierenden Wirkung in der Kritik. Öffentliche Verkehrsmittel benötigen hohe Bevölkerungsdichte und Nutzungsdichte, um rentabel betrieben werden zu können. Bewohner von Randbezirken sind wegen zurückgehendem Angebot und der zurückgehenden Nachfrage an öffentlichen Verkehrsmitteln überwiegend auf Kraftfahrzeuge angewiesen. Einige Maßnahmen, die dazu dienen, negative Symptome der Zersiedelung einzudämmen, z. B. Park-and-ride, können diese sogar noch attraktiver machen und beschleunigen. Umstritten ist auch das in der Verkehrspolitik verbreitete Konzept der Anpassung von Infrastruktur an bestehender Nachfrage, da Straßenbau in vielen Fällen wiederum zu neuer Nachfrage führt.
Sozialproblematik
Eine der umstrittensten Folgen der Zersiedelung ist ihre negative Auswirkung auf das soziale Gefüge und auf die Lebensqualität. Da Zonen mit niedriger Bevölkerungsdichte und Trabantenstädte oft nicht im Stande sind, ein breites Angebot an Dienstleistungen bereitzustellen, fehlen oft öffentliche Einrichtungen wie Bibliotheken, Schwimmbäder, höhere Schulen oder Kindertagesstätten. Die Einwohner sehen sich gezwungen, für die meisten Tätigkeiten lange Wege zurückzulegen. Es kommt zur Ausgrenzung von Einwohnern, die dazu nicht im Stande sind. Betroffen sind vor allem Minderjährige, Behinderte, ältere oder sozial schwache Personen.
Die Lage wird oft dadurch verschärft, dass die Straße, die im urbanen Lebensraum auch als eine Art Plattform öffentlichen Zusammenlebens fungiert, im Zersiedelungsgebiet zur reinen Transportader verkommt und eher als zusätzliche Barriere wirkt. Die hohe Abhängigkeit vom Pkw gefährdet die Gesundheit der Bevölkerung, da Kraftfahrer weniger Strecken zu Fuß oder mit dem Fahrrad zurücklegen und damit häufiger Bewegungsmangel haben und die allgemeine Schadstoffkonzentration in der Atemluft durch jeden Autofahrer vielfach höher steigt als durch Nutzung öffentlicher Transportmittel. Kaufkraftabfluss von städtischen Hauptstraßen in Einkaufszentren kann auch zu einer Verödung des Stadtbildes und zum Verlust von Vielfalt führen. Städtische Gebiete, die vormals aus einer Mischung sozialer Schichten bestanden, erleben durch die Abwanderung reicherer Einwohner in den Speckgürtel eine zunehmende Segregation, was soziale Spannungen verstärken kann. Aber auch die Bildung von Vorstadtghettos, wie sie besonders in Frankreich zu beobachten ist, kann eine Folge sein.
Sonderformen und Trends
Gated Communities
Eine Sonderform dieser Entwicklung hin zur Ghettoisierung ist die zunehmende Anzahl von sogenannten geschlossenen Wohnanlagen (z. B. Country Clubs, Gated Communities) insbesondere in den USA, Großbritannien und einigen Entwicklungsländern, in Ansätzen aber auch bereits in anderen Ländern Europas. Diese „Privatviertel“ werden in vielen Fällen in landschaftlich attraktiven Gebieten gebaut, haben durch ihre großen Grundstücke einen hohen Landschaftsverbrauch und fördern die Segregation nach sozialen Schichten. In den Städten Großbritanniens, insbesondere in London, gibt es diese umstrittenen geschlossenen Wohnanlagen in vernachlässigten Stadtteilen, die nahe der attraktiven Finanzviertel liegen, aber zugleich eine hohe Kriminalität aufweisen.
Ruralisierung
Die Entwicklung der Telekommunikationsinfrastruktur und des Internets führte seit den 1990er Jahren zu einem neuen paradoxen Entwicklungstrend. Während der ländliche Raum immer stärker in die Kommunikationsumgebungen eingebunden wird und bislang urbane Arbeitsplätze hierhin verlagert werden („Urbanisierung des Landes“ durch „Teledörfer“ oder ausgelagerte Bürostädte mit Callcentern usw.), werden viele Stadtviertel von der wirtschaftlichen Dynamik abgekoppelt und verlieren ihre Infrastruktur und ihre urbane Qualität. Arbeitslosigkeit und unzureichende Löhne führen zur Urban Agriculture, z. B. in Form des innerstädtischen Gemüseanbaus auf öden Flächen, der Kleinviehhaltung auf dem Balkon oder der Fischzucht auf dem Dach (sog. „Ruralisierung der Stadt“). So kommen in Havanna 90 Prozent aller Frischprodukte aus innerstädtischen Gärten.
Industriedörfer
Auf der anderen Seite entstehen durch amtlichen Beschluss „städtische“ Quartiere, die von Anfang an keinerlei urbane Qualitäten aufweisen und die Einwohner zur Selbstversorgung zwingen wie einstmals in den preußischen Industriedörfern Altenessen, Borbeck, Schalke, Sterkrade oder in heutigen chinesischen Industriedörfern mit Wohnhochhäusern, Industrieanlagen und extremen Zuwachsraten der Bevölkerung (Urban Villages). Die Zahl der Urban Villagers – wie die Bewohner solcher Gebiete genannt werden – wird in China auf 50 bis 100 Millionen geschätzt.
Schweiz
In der Schweiz gibt es politische Vorstöße, um die Zersiedelung zu stoppen.
Zum Beispiel:
2019: die Zersiedelungsinitiative und
2012: die Zweitwohnungsinitiative.
Siehe auch
Flächenverbrauch
Landschaftszerschneidung
Ortsbild
Literatur
Ronald Kunze, Hartmut Welters (Hrsg.): BauGB Neuerungen 2007. Kommentar zu den Neuerungen und Gesetzestext BauGB 2007 einschließlich BauNVO. WEKAMEDIA, Kissing 2007.
Ronald Kunze: Zersiedelung. Die Nachhaltigkeitsstrategie in der Diskussion. In: Planerin. Fachzeitschrift für Stadt-, Regional- und Landesplanung. H. 1/2004, S. 3/4.
Juliane Lorenz: More Urban to Suburbia. Städtebauliche Strategien zur Bekämpfung von Sprawl in der Metropolenregion Toronto. In: Städtebau – Architektur – Gesellschaft. 1. 2010, ISBN 978-3-8382-0141-2.
Niklas Maak: Wohnkomplex. Warum wir andere Häuser brauchen. Hanser-Verlag, 2014, ISBN 978-3-446-24352-1.
Weblinks
Zersiedelung messen (Eidg. Forschungsanstalt WSL)
Bauland – So wird die Schweiz zersiedelt (SRF)
Einzelnachweise
Siedlungsgeographie
Agrargeographie
Theorie (Stadtplanung)
Suburbaner Raum
Umweltschäden
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Q192042
| 93.33674 |
8412
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https://de.wikipedia.org/wiki/Prostata
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Prostata
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Die Prostata (von ‚Vorsteher‘, ‚Vordermann‘) oder Vorsteherdrüse ist bei allen männlichen Säugetieren zum einen eine akzessorische Geschlechtsdrüse zur Herstellung eines Teils der Spermaflüssigkeit und zum anderen ein Muskelkomplex zur Kanalumschaltung zwischen Blasenleerung und Ejakulation. Sie liegt beim Menschen unterhalb (bei Tieren entsprechend hinter) der Harnblase und umkleidet den Anfangsteil der Harnröhre bis zum Beckenboden. Sie gleicht beim Mann in Größe und Form einer Kastanie. An die Rückseite der Prostata grenzt der Mastdarm. Deshalb kann sie vom Enddarm aus mit den Fingern ertastet und beurteilt sowie in sexuellem Kontext auf diesem Weg durch Prostatamassage stimuliert werden.
Anatomie
Die Prostata liegt subperitoneal, das heißt unter (bei Tieren entsprechend hinter) dem Bauchfell. Sie ruht auf dem Diaphragma urogenitale und schmiegt sich von kaudal (beim Menschen unten, bei Vierfüßern hinten) an den Fundus (klinisch auch „Hals“) der Harnblase an. Dorsal (zum Rücken hin) wird sie durch den Mastdarm begrenzt, ventral (zum Bauch hin) durch die Schambeinfuge. Mit dieser ist sie durch ein Band, das Ligamentum puboprostaticum, verbunden. Durch die Mitte der Prostata verläuft die Harnröhre. Aus diesem Grund kann es bei einer krankhaften Vergrößerung der Prostata zu Problemen beim Wasserlassen bis hin zum Blasenverschluss kommen.
Anatomisch lässt sich die Prostata in einen rechten, linken und mittleren Lappen untergliedern: Lobus prostatae dexter, Lobus prostatae sinister und Isthmus prostatae (Lobus medius). Die funktionelle Gliederung in Zonen nach McNeal unterscheidet die periurethrale Zone (um die Harnröhre herum), die Transitionalzone (Übergangszone), die zentrale Prostatazone (Innenzone), die periphere Prostatazone (Außenzone) und die drüsenfreie vordere Prostatazone.
Durch die Prostata verläuft beim Menschen außerdem der paarig angelegte Spritzkanal (lat. Ductus ejaculatorius), durch den während der Ejakulation ca. 70 % des Ejakulat-Volumens hindurchfließen, nämlich die Fraktionen aus dem gleichseitigen Nebenhoden und aus der gleichseitigen Bläschendrüse.
Innerhalb der Prostata verlaufen entlang der Harnröhre zwei langgestreckte (longitudinale) Muskelsysteme. An der Vorderseite (ventral) verläuft der Harnröhrenerweiterer (Musculus dilatator urethrae), an der Rückseite (dorsal) der Muskel zum Samenausstoß (Musculus ejaculatorius).
Funktion
Die Prostata ist eine exokrine Drüse mit Ausführungsgängen in die Harnröhre. Sie besteht aus circa 30 bis 50 Einzeldrüsen, genauer tubuloalveolären Drüsen. Diese produzieren ein Sekret, das bei der Ejakulation in die Harnröhre abgegeben wird und sich dort mit den Spermien vermischt. Das Sekret macht beim Menschen etwa 30 % des Ejakulates aus. Das Prostatasekret hat einen pH-Wert von 6,4. Zum anderen enthält das Prostatasekret ein biogenes Amin zur Zellproliferation, welches bewegungsauslösend auf die Spermien wirkt. Des Weiteren wird aus den Epithelzellen der Prostata das prostataspezifische Antigen (PSA) sezerniert. Es handelt sich um eine Serinprotease, welche das Ejakulat durch Spaltung bestimmter Eiweiße dünnflüssiger macht. Das PSA ist ein wichtiger laborchemischer Marker für Erkrankungen der Prostata, insbesondere bei Prostatakrebs.
Die Prostata umschließt die Harnröhre unterhalb des Blasenausgangs. Sie kann ihre innere Form verändern und wirkt wie eine Weiche, indem sie bei Erektion des Penis nur Spermienflüssigkeit aus dem Spritzkanal des Samenleiters hindurchlässt und dabei die Harnröhre am Blasenausgang verengt. Ohne Erektion hingegen behält dieser Teil der Harnröhre seinen normalen Durchmesser und bei Blasenleerung sogar eine aktive Erweiterung. Die Prostata sorgt somit dafür, dass durch die Harnröhre nur jeweils Urin oder nur Sperma fließt, niemals beides gleichzeitig.
Auslöser der inneren Formveränderungen sind in der Hauptsache die beiden Muskelsysteme entlang der Harnröhre innerhalb der Prostata, an der Vorderseite (ventral) der Harnröhrenerweiterer (Musculus dilatator urethrae) und an der Rückseite (dorsal) der Muskel zum Samenausstoß (Musculus ejaculatorius). Bei operativen Eingriffen in die Prostata, z. B. wegen Prostatavergrößerung, ist die Schädigung oder Schonung dieser beiden Muskelsysteme je nach Wahl des Verfahrens und je nach Durchführung des gewählten Verfahrens in höchstem Maße unterschiedlich, mit entsprechend unterschiedlicher Beeinträchtigung oder Bewahrung von Blasenleerung und Ejakulation. (Siehe auch: Operationen bei Prostatavergrößerung)
Blutversorgung und Lymphdrainage
Die die Prostata versorgenden Arterien entspringen hauptsächlich Ästen der Arteria iliaca interna (innere Beckenarterie), besonders der Arteria vesicalis inferior (untere Blasenarterie, bei Tieren als hintere Blasenarterie, Arteria vesicalis caudalis, bezeichnet), aber auch der Arteria pudenda interna (innere Schamarterie) und Arteria rectalis media (mittlere Mastdarmarterie).
Die Venen der Prostata bilden einen Plexus (Geflecht) um ihre Seiten und ihre Basis. Dieser Plexus venosus prostatae entleert sich in die Vena iliaca interna (innere Beckenvene). Außerdem hat er nach kranial (kopfwärts) Verbindungen mit dem Plexus venosus vesicalis (Venengeflecht der Harnblase) und nach dorsal (zum Rücken) mit dem Plexus venosus vertebralis internus (inneres Venengeflecht der Wirbelsäule). Die Lymphdrainage der Prostata erfolgt durch Lymphgefäße, die sich in die Lendenlymphknoten und die Kreuzlymphknoten entleeren.
Innervation
Die Prostata wird durch Sympathikus und Parasympathikus innerviert. Die sympathischen Fasern entstammen dem Plexus hypogastricus inferior. Sie innervieren die Ausführungsgänge und die glatten Muskelzellen. Die parasympathischen Fasern entstammen den Rückenmarkssegmenten S2–S5. Sie verlaufen als Nervi splanchnici pelvici ebenfalls zum Plexus hypogastricus inferior. Sie enden unter der Basalmembran des Epithels.
Feinbau
Säugetiere
Bei den Nichtprimaten unterscheidet man vergleichend-anatomisch einen kompakten Drüsenkörper (Corpus prostatae, fehlend bei Schafen und Ziegen) und in die Harnröhrenwand eingelagerte Einzeldrüsen (Pars disseminata, „verstreuter Teil“, fehlt bei Pferden).
Das Corpus prostatae ist bei Hunden, Katzen, Rindern, Schweinen und Pferden in einen linken und rechten Lappen unterteilt. Beim Hund ist es relativ am größten, beide Lappen verschmelzen weitestgehend und umschließen die Harnröhre vollständig, bei den anderen Tieren liegt es jeweils seitlich an der Harnröhre und in direkter Nachbarschaft zur davor liegenden Samenblasendrüse. Bei Nagetieren besteht die Prostata aus drei paarigen Lappen, wobei der am weitesten vorn gelegene Lobus cranialis meist als Koagulationsdrüse bezeichnet wird. Die anderen beiden Lappen (Lobus dorsalis und ventralis) liegen dahinter, seitlich und ober- oder unterhalb der Harnröhre. Bei Hasenartigen lassen sich beidseits zwei Lappen (Lobus dorsalis und ventralis) unterscheiden.
Die Ausführungsgänge der Prostata münden seitlich des Samenhügels in den Beckenteil der Harnröhre.
Mensch
Der Querschnitt der Prostata kann in drei Zonen unterteilt werden, die sich in den Ausführungsgängen der Drüsen unterscheiden: die periurethrale Mantelzone, die Innenzone und die Außenzone. Die Ausführungsgänge der Drüsen in der inneren Zone enden direkt in die Harnröhre. Die Drüsen in der äußeren Zone sammeln ihr Sekret in gemeinsamen Ausführungsgängen, bevor sie in der Harnröhre enden. Diese Einteilung ist bei der Entstehung von Tumoren von Bedeutung (s. unten).
Die Ausführungsgänge (Ductuli prostatici) der Prostatadrüsen in der Prostata münden im Sinus prostaticus beidseits des Colliculus seminalis (Samenhügel) der Harnröhre. Ihr Drüsenepithel ist funktionsabhängig entweder einschichtiges Plattenepithel oder mehrreihiges hochprismatisches Epithel. Der Hohlraum (Lumen) der Drüsen enthält Concretio prostatica, konzentriertes geschichtetes Sekret.
Das Drüsenepithel setzt sich aus drei Zelltypen zusammen: am häufigsten sind basale und luminale sekretorische Zellen, die unterschiedliche Keratin-Subtypen exprimieren und sich dadurch unterscheiden lassen. Luminale Zellen zeichnen sich zudem durch die Expression von prostataspezifischem Antigen und Androgenrezeptor aus. Sehr viel seltener kommen als dritter Typ neuroendokrine Zellen vor, die anhand der von ihnen produzierten Neuronenspezifischen Enolase und verschiedener Neuropeptide identifiziert werden können. Stammzellen in der basalen Zellschicht bilden vermutlich die Vorläufer aller dieser Zelltypen.
Zwischen den Drüsen liegen glatte Muskelzellen, die sich bei der Ejakulation zusammenziehen und so das Sekret ausstoßen, und Bindegewebe mit elastischen Fasern, das sogenannte Stroma myelasticum prostatae.
Außen wird die Prostata von einer Bindegewebskapsel, der Capsula prostatica umschlossen.
Physiologie
In der Prostata wird ein Teil der Samenflüssigkeit produziert, die bei der Ejakulation ausgestoßen wird. Dieses Sekret bildet zusammen mit den Samenzellen aus dem Hoden, dem Sekret der Samenblase (vesicula seminalis) und dem Sekret der Bulbourethraldrüse das Sperma. Die Funktion der Prostata wird über das Hormon Testosteron reguliert.
Das Sekret der Prostata ist leicht sauer (pH-Wert etwa 6,4), dünnflüssig und trübe und gibt dem Sperma den charakteristischen Geruch. Das Sekret enthält zahlreiche Enzyme, die die Spermien für die Befruchtung benötigen.
Das Polyamin Spermin fördert die Beweglichkeit und die Befruchtungsfähigkeit der Samenzellen. Weiterhin sind im Prostatasekret Phosphatase, Zitronensäure, Cholesterin und Zink enthalten.
Als Corpora amylacea oder Prostatakörperchen werden Beimengungen von Prostatasekret im Harnsediment bezeichnet.
Ontogenetische Entwicklung
Das Epithel (Deckgewebe), das die Harnröhre umgibt, ist entodermalen Ursprungs. Im Gegensatz dazu sind das Bindegewebe und die glatte Muskulatur, die dieses umgibt, mesodermalen Ursprungs. Das Epithel beginnt beim menschlichen Embryo gegen Ende des dritten Schwangerschaftsmonats zu proliferieren (sich zu vermehren) und dringt in das umgebende Gewebe ein. Aus den so entstandenen Knospen bildet sich bei männlichen Ungeborenen unter Einfluss der männlichen Sexualhormone Testosteron und Dihydrotestosteron (DHT) die Prostata.
Die Paraurethraldrüse der Frau wird zwar von manchen Autoren als der männlichen Prostata homologes Organ angesehen, die ontogenetischen Ähnlichkeiten und Unterschiede sind jedoch noch ungeklärt und Gegenstand weiterer Forschung.
Untersuchungsmethoden
Die Untersuchungsmöglichkeiten der Prostata sind zwar mittlerweile recht vielfältig geworden, aber eine Hauptfragestellung, nämlich ob die Prostata durch einen bösartigen Tumor befallen ist oder nicht, ist nach wie vor zumindest mit den nichtinvasiven Methoden wie dem Ultraschall oder der Computertomographie nur unsicher zu beantworten. Die Prostata des älteren Mannes neigt zur Knotenbildung, und es fällt schwer, mit nichtinvasiven Maßnahmen gutartige von bösartigen Knoten zu unterscheiden. Die Elastographie ist ein neues bildgebendes Verfahren, das Tumorareale aufzeigen und gezielt Gewebeproben entnehmen kann. Auch das sogenannte HistoScanning ist ein neues, ebenfalls ultraschallgestütztes Verfahren zur Detektion von Tumorarealen, um eine gezieltere Prostatabiopsie zu ermöglichen. Bisher ist dieses Verfahren jedoch nur an wenigen Kliniken in Deutschland verfügbar.
Die Prostata kann mit einem Finger rektal ertastet werden. Als bildgebende Verfahren finden bisher Ultraschall, Magnetresonanztomographie (MRT) und Computertomographie (CT) Anwendung. Als spezielles bildgebendes Verfahren zur Diagnose von Prostatakrebs steht die Positronen-Emissions-Tomographie (PET) zur Verfügung, beispielsweise mit 18F-Cholin als radioaktiv markierter Substanz (Tracer), einer Ammoniumverbindung mit dem radioaktiven Fluor-Isotop 18F. Bei Verdacht auf Veränderungen kann eine Biopsie der Vorsteherdrüse mit einer sogenannten Prostatastanze vorgenommen werden. Mit der Elastographie kann wegen der unterschiedlichen Härte Krebsgewebe von Normalgewebe unterschieden werden, so dass gezielt Gewebeproben entnommen werden können. Das HistoScanning misst nicht die Elastizität des Gewebes, sondern durchmustert das Gewebe und greift auf eine große Prostata-Gewebedatenbank zurück, indem mit Hilfe eines Computers ein Datenvergleich mit den Ultraschalldaten und der Datenbank erfolgt. Krebsverdächtige Strukturen werden dabei farblich gekennzeichnet und ermöglichen so eine gezielte Punktion bei der Biopsie.
Zur weiteren Diagnostik können Laborwerte wie das prostataspezifische Antigen (PSA, erhöht bei allen Erkrankungen der Prostata – allerdings auch, teils für mehrere Tage, nach jeder mechanischen Beanspruchung im Beckenbereich, etwa durch Sport, v. a. Fahrradfahren, Sex oder medizinische Maßnahmen, wie digitale-rektale Untersuchung (DRU), transrektale Prostatasonographie, oder Blasenkatheter), die Aktivität der sauren Prostataphosphatase (erhöht bei Prostatakarzinom) und allgemeine Entzündungsmarker wie CRP und Leukozytenzahl herangezogen werden. Im Weiteren steht eine Protein-Muster-Diagnostik aus Urin zur Verfügung.
Die Tastuntersuchung der Prostata und der regionären Lymphknoten zur Früherkennung von Prostatakrebs (ab dem 45. Lebensjahr) gehört zum Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenkassen. Viele Arztpraxen bieten darüber hinaus weitere Untersuchungen als individuelle Gesundheitsleistung (IGeL) an. Wegen der unsicheren Ergebnisse, unnötiger Verunsicherung der Patienten und dem Risiko der Überdiagnostik und Überbehandlung empfehlen die maßgeblichen medizinischen Fachgesellschaften diese weitergehenden Untersuchungen zur Früherkennung ausdrücklich nicht, sondern nur die Information der Patienten – mit Vor- und Nachteilen – dass solche Untersuchungen möglich sind. Für die Hausarztpraxis wird sogar empfohlen, dass die Ärzte diese Möglichkeit nicht von sich aus ansprechen, sondern nur dann, wenn ein Patient einen entsprechenden Wunsch äußert.
Erkrankungen
Als Prostatitis bezeichnet man eine Entzündung der Prostata. Die benigne Prostatahyperplasie (BPH) ist eine gutartige Vergrößerung der Prostata, die oft zu einer Harnabfluss-Störung bis hin zu einem lebensbedrohlichen Blasenverschluss führen kann. Prostatakrebs nennt man einen bösartigen Tumor der Prostata. Er ist das häufigste Malignom und nach Lungen- und Dickdarmkrebs die dritthäufigste krebsbedingte Todesursache bei Männern in Deutschland. Während die BPH in der Regel die zentrale (paraurethrale) Organzone betrifft, geht das Prostatakarzinom meist von den peripheren Drüsenanteilen aus. Beide Erkrankungen sind typischerweise Leiden des höheren Lebensalters.
Forschungsgeschichte
Siehe auch den Hauptartikel zur Urologie.
Die erste anatomische Beschreibung der Prostata erfolgte 300 vor Christus durch Herophilos von Chalkedon. Er war es auch, der ihr den Namen Die Vorstehende gab. Lange Zeit blieb dies die einzige Beschreibung. Eine anatomisch genauere Beschreibung verfasste zuerst 1536 der italienische Anatom Niccolò Massa. Andreas Vesalius’ Werk Tabulae anatomicae aus dem Jahr 1538 enthielt erstmals Illustrationen, die die Prostata als Bestandteil des männlichen Urogenitalsystems zeigen. Dem folgten weitere genaue anatomische und physiologische Beschreibungen der Prostata. Ambroise Paré ging zwar davon aus, dass sie aus zwei Teilen besteht, machte aber ansonsten genaue Aussagen über ihre Lage zu den Ductuli ejaculatorii und ihre Rolle bei der Ejakulation. Die Erstbeschreibung der normalen Anatomie erfolgte durch Reinier de Graaf 1668.
Giovanni Battista Morgagni beschrieb 1761 in seinem Buch De sedibus et causis morborum per anatomen indagatis die Prostatahyperplasie. Die erste vollständige Entfernung der Prostata (Prostatektomie) zur Behandlung des Prostatakarzinoms wurde 1889 durch Vincenz Czerny in Heidelberg durchgeführt. Während er den Weg über den Damm wählte, führte Fuller ihn 1898 erstmals über einen Bauchschnitt aus. Diese Eingriffe begründeten den Beginn der Prostatachirurgie. Die erste Prostatektomie in Frankreich führte der Chirurg Antoine Gosset (1872–1944) durch.
Literatur
Detlev Drenckhahn, Wolfgang Zenker: Benninghoff. Anatomie. Urban & Schwarzenberg, München 1994, ISBN 3-541-00255-7.
Uwe Gille: Harn- und Geschlechtssystem, Apparatus urogenitalis. In: Franz-Viktor Salomon et al. (Hrsg.): Anatomie für die Tiermedizin. 2. Auflage, Enke, Stuttgart 2008, ISBN 978-3-8304-1075-1, S. 389–403.
; (auch als PDF).
Haag, Hanhart, Müller: Gynäkologie und Urologie für Studium und Praxis. 2008/09. Medizinische Verlags- und Informationsdienste, Breisach am Rhein 2008, ISBN 978-3-929851-73-1.
Weblinks
Anatomie der Prostata
Anatomie und Physiologie der Prostata aus dem Online Urologie-Lehrbuch für Ärzte und medizinisches Fachpersonal
Info des DKFZ
Einzelnachweise
Männliches Geschlechtsorgan
Exokrine Drüse
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Q9625
| 121.63306 |
11446
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https://de.wikipedia.org/wiki/Paris
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Paris
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Paris (deutsch: ; französisch: ) ist die Hauptstadt der Französischen Republik, Hauptort der Region Île-de-France und Globalstadt. Mit rund Millionen Einwohnern ist Paris die viertgrößte Stadt der Europäischen Union (EU). Der Großraum ist mit über 12,5 Millionen Menschen die größte Metropolregion der EU.
Mit einer vergleichsweise kleinen Stadtfläche von Quadratkilometern ist Paris mit Einwohnern pro Quadratkilometer die am dichtesten besiedelte Großstadt Europas. Das zusammenhängend bebaute städtische Siedlungsgebiet (Unité urbaine de Paris) ist 2845 Quadratkilometer groß und geht somit weit über die politische Grenze der Stadt Paris hinaus. 2015 zählte die Unité urbaine de Paris 10.706.072 Einwohner, was einer Bevölkerungsdichte von 3763 Einwohnern je Quadratkilometer entspricht und womit Paris zu den Megastädten zählt.
Paris ist das politische, wirtschaftliche sowie kulturelle Zentrum des zentralistisch organisierten Frankreichs und mit vier Flughäfen und sechs Kopfbahnhöfen dessen größter Verkehrsknotenpunkt. Teile des Seineufers zählen heute zum UNESCO-Welterbe. Die Stadt ist Sitz der UNESCO und darüber hinaus der OECD und der ICC.
Sehenswürdigkeiten wie der Eiffelturm, die Kathedrale Notre-Dame oder der Louvre machen die Stadt zu einem beliebten Touristenziel. Mit rund 16 Millionen ausländischen Touristen pro Jahr ist die Stadt hinter London und Bangkok eine der meistbesuchten Städte weltweit.
Das heutige Paris entwickelte sich seit dem 3. Jahrhundert v. Chr. aus der keltischen Siedlung „Lutetia“ auf der Île de la Cité. Später errichteten die Römer an der Seine eine Stadt, die im 6. Jahrhundert zunächst eine Hauptresidenz des Fränkischen Reiches wurde. Eine Blütezeit der Kunst und Kultur erlebte Paris im 16. Jahrhundert unter Franz I. Durch den Absolutismus, insbesondere unter Ludwig XIV. im 17. Jahrhundert, wurde die Stadt um zahlreiche barocke Gebäude und Prachtstraßen bereichert und so zu einem beispielhaften Muster für barocken Städtebau. Obwohl die Königsresidenz 1682 nach Versailles verlegt wurde, blieb Paris aufgrund seiner politischen und wirtschaftlichen Bedeutung das Zentrum des Landes.
Mit der Französischen Revolution kam ab 1789 eine welthistorische Bedeutung zu. Die Industrialisierung führte im 19. Jahrhundert zu einem enormen Bevölkerungszuwachs, sodass 1846 erstmals die Grenze von einer Million Einwohnern überschritten wurde. In den folgenden Jahrzehnten bekam die Stadt durch die sogenannte Belle Époque und sechs Weltausstellungen weltweite Beachtung.
Geografie
Lage
Das Stadtgebiet hat eine Fläche von Quadratkilometern. Das entspricht ungefähr der Fläche von Koblenz oder von Gelsenkirchen und weniger als 12 Prozent der Fläche Berlins. Hierbei handelt es sich aber nur um die Fläche der Kernstadt. Die Metropolregion erstreckt sich über eine Bodenfläche von 14.518 Quadratkilometern. Das entspricht etwa der Fläche Schleswig-Holsteins. Die Stadt liegt im Zentrum des Pariser Beckens durchschnittlich . Die Seine verlässt, je nach Wasserstand, in das Stadtgebiet. Paris ist umgeben von den beiden großen Stadtwäldern, die der Bevölkerung als Naherholungsgebiete dienen.
Klima
Paris befindet sich in der gemäßigten Klimazone. Die Jahresmitteltemperatur beträgt 10,8 Grad Celsius und die durchschnittliche Jahresniederschlagsmenge 649,6 Millimeter. Der wärmste Monat ist der Juli mit 18,4 Grad Celsius im Mittel, der kälteste der Januar mit durchschnittlich 3,5 Grad Celsius. Der meiste Niederschlag fällt im Mai mit 65,0 Millimetern im Mittel, der wenigste im August mit durchschnittlich 43,0 Millimetern.
Seit 1873 finden in Paris regelmäßige meteorologische Messungen statt. Die tiefste bisher festgestellte Temperatur betrug −23,9 Grad Celsius und stammt vom 10. Dezember 1879. Der Wärmerekord liegt bei 42,6 Grad Celsius und wurde am 25. Juli 2019 im Parc Montsouris gemessen. Der bis dahin höchste Lufttemperaturwert betrug 40,4 Grad Celsius und war am 28. Juli 1947 ebenfalls im Parc Montsouris gemessen worden.
Geologie
Das Pariser Becken bildet eine große Schichtstufenlandschaft. Schüsselförmig liegen hier die Schichten des Mesozoikums und des Paläogens (früher Alttertiär) ineinander und sind von der Abtragung zu einer weit gespannten Stufenlandschaft ausgearbeitet worden, deren Stufen sich jeweils nach außen richten.
Nur im östlichen Teil herrschen am Abfall dieser Stufen gegen die Saône-Furche tektonische Bruchlinien vor. Sie bewirken die steilen Abfälle des Plateaus von Langres und der Côte d’Or (bis 636 Meter), die berühmte Weinbaugebiete sind, da sie im Regenschatten der Leeseite größere Sonnenscheindauer haben und zudem noch die Vorteile der Südexposition genießen.
Eine gewisse Ungleichförmigkeit besteht insofern, als die Schichtenfolge im nordöstlichen Teil vollkommener ist als im Westen. Die etwas stärkere Heraushebung des Ostflügels hat auch allgemein größere Höhenunterschiede und eine markantere Herausbildung der Stufen mit sich gebracht. Beckeneinwärts ragt als bedeutende Stufe die der Eozänen-Kalke auf, in deren Innerem die Île-de-France, das Ballungsgebiet von Paris, eingebettet liegt.
Seine
Die Seine verbindet Paris mit Burgund im Landesinneren und mit dem Ärmelkanal an der Nordküste. Der hier leichte Übergang über sie war der wichtigste Faktor für die Entstehung und Entwicklung der Stadt, die auf der größten der seinerzeit zahlreichen Seineinseln ihren Ursprung hat. Sie spaltet die Stadt in zwei ungleiche Uferhälften, das nördliche Ufer, das grob betrachtet dem Handel und Finanzen gewidmete rechte Ufer (Rive Droite) und die südliche Stadthälfte am linken Ufer (Rive Gauche), die mit dem Quartier Latin als Viertel der Intellektuellen angesehen wird und als Wohngegend gefragt ist. Seit 1991 ist das Seineufer von Paris zwischen der Pont de Sully und den Brücken Pont d’Iéna (rechtes) und Pont de Bir-Hakeim (linkes Ufer) mit 365 Hektar Fläche Weltkulturerbe.
Inseln
Die Île de la Cité im Herzen der Stadt wurde in der Antike besiedelt und ist damit der älteste Teil der Hauptstadt. 1584 ließ Heinrich III. drei der westlichen Inselspitze vorgelagerte kleine und sumpfige Inseln untereinander verbinden und gliederte sie der größeren an. Damit wuchs die Fläche im Laufe der Jahrhunderte von ursprünglich 8 auf insgesamt 17 Hektar an. So konnte ein „königlicher“ Platz, die Place Dauphine, mit einer einheitlichen Saumbebauung entstehen und aus dem Verkauf der Häuser das Geld zum Bau einer Brücke beschafft werden, welche die Verbindung zu den beiden Seineufern herstellt. Die Pont Neuf (deutsch „Neue Brücke“) ist heute die älteste der in Paris erhaltenen Brücken.
Auch die Île Saint-Louis, die kleinere der nebeneinander liegenden Seineinseln, ist eine Zusammenfügung von zwei Inselchen, der Île aux Vaches und der Île Notre Dame. Im Gegensatz zu ihrer großen Schwester, der Cité, blieb sie bis zum Anfang des 17. Jahrhunderts unbebaut. Im Jahre 1614 beauftragte Ludwig XIII. den Bauunternehmer Christophe Marie mit der Erschließung des Geländes. Marie schüttete den Seinearm zu, umfasste die beiden kleinen Inseln mit einer Kaimauer und ließ Brücken zu den Flussufern errichten. Ab etwa 1618 wurde das Gelände zunächst mit Häusern für Handwerker und Kaufleute bebaut, ab 1638 auch mit luxuriösen Stadtpalästen für hohe Würdenträger. Die Bebauung mit geraden Straßen folgte einem festen Grundplan, der noch heute erkennbar ist.
Die frühere Île des Cygnes (Schwaneninsel) wurde 1773 mit dem Champ de Mars, dem Manöverfeld der Militärschule, verbunden. Ihr Name ging auf die Île aux Cygnes über, einen im Jahr 1825 künstlich in der Seine angelegten Damm, auf dem unter anderem eine Kopie der Freiheitsstatue steht. Der Damm entstand als Fundament für eine auffällige Brücke, die Pont de Bir-Hakeim, deren unteres Niveau die Stützen für den darüber gelegenen Viadukt der Metro aufzunehmen hatte.
Hügel
Die höchste natürliche Erhebung innerhalb der Stadtgrenzen ist der Hügel (Butte) Montmartre mit einer Höhe von 129 Metern. Auf den Hügel fährt die Standseilbahn Funiculaire de Montmartre. Der am Nordhang angelegte Weinberg ist, seit auch im Parc Georges Brassens im Parc de Belleville und im Parc de Bercy Wein wächst, nicht mehr der einzige von Paris.
Stadtgliederung
Paris wurde im Jahre 1790 Verwaltungssitz des Départements Seine mit der Ordnungsnummer 75 und ist seit der Neugliederung der Départements der Region Île-de-France im Jahre 1968 gleichzeitig Stadt und Département. Abgesehen von der geografischen Gliederung in Rive Droite, Rive Gauche und „Inseln“ ist Paris in Stadtbezirke (Arrondissements, abgekürzt Arrdt. bzw. Arrt) und Viertel (Quartiers) unterteilt. Der Fluss Seine teilt die Stadt in einen nördlichen (Rive Droite, „rechtes Ufer“) und einen südlichen Teil (Rive Gauche, „linkes Ufer“); administrativ ist sie in 20 Stadtbezirke (Arrondissements) unterteilt. Seit dem 11. Juli 2020 sind das 1., 2., 3. und 4. Arrondissement verwaltungsrechtlich in einem einzigen Sektor namens Paris Centre zusammengefasst.
Die 20 nummerierten Stadtbezirke tragen die Postleitzahlen 75001 bis 75020 und durchziehen Paris spiralförmig von innen nach außen. Die Spirale beginnt im historischen Stadtkern, der Gegend um den Louvre, das Palais Royal und das Forum des Halles, und endet nach zweieinviertel im Uhrzeigersinn verlaufenden Umdrehungen im Osten der Stadt, dem Arrondissement des Friedhofs Père Lachaise. Jedem Arrondissement steht ein Bürgermeister (maire d’arrondissement) vor, der im Bürgermeisteramt seines Bezirkes (mairie d’arrondissement) residiert (außer für die ersten vier Arrondissements, die ab 2020 im Secteur Centre zusammengefasst sind und von einem einzigen Bürgermeister verwaltet werden). Jeder Bezirk untergliedert sich seinerseits in Viertel, französisch Quartiers.
Die französische Schreibweise der Nummerierungen folgt dem Schema mit Ordinalzeichen. So erfolgt die Schreibweise der Ordinalzahl 1 für das 1. Arrondissement mit einem hochgestellten „er“ (1er), der Ordinalzahl 2 und den Folgezahlen mit einem hochgestellten „e“ (2e) für das 2. Arrondissement usw. Auch die Schreibweise mit römischen Zahlen ist gängig (z. B. er, e, e).
Geschichte
Antike
Der antike Name der Stadt war Lutetia (auch: Lutezia). Lutetia entwickelte sich seit Mitte des 3. Jahrhunderts v. Chr. aus der keltischen Siedlung Lutetia des Stammes der Parisii auf der Seine-Insel, die heute île de la Cité heißt. Erstmalige schriftliche Erwähnung fand der Name Lutetia 53 v. Chr. im sechsten Buch von Julius Caesars Darstellung des gallischen Krieges De bello Gallico.
Als die Römer sich im Jahr 52 v. Chr. nach einem ersten gescheiterten Anmarsch zum zweiten Mal der Stadt näherten, zündeten die Parisii ihren Hauptort Lutetia an und zerstörten die Brücken, bevor sie in Stellung gingen. Die siegreichen Römer überließen ihnen die Insel und bauten auf dem linken Ufer der Seine in dominanter Lage auf dem später Montagne Sainte-Geneviève genannten Hügel eine neue römische Stadt auf. Dort entstanden Thermen, ein Forum und ein Amphitheater. Die Stadt wurde im römischen Reich als Civitas Parisiorum oder Parisia bekannt, blieb aber im besetzten Gallien zunächst recht unbedeutend. Im 4. Jahrhundert setzte sich der heutige Name der Stadt durch.
Vom Namen Lutetia leitet sich der Name des 1905 entdeckten chemischen Elements Lutetium ab.
Mittelalter
Im 5. Jahrhundert wurde die römische Herrschaft durch die Merowinger beendet. Im Jahre 508 wurde Paris Hauptstadt des Merowingerreiches unter Chlodwig I. (466–511). Danach wurde Paris unter einem seiner Söhne zur Hauptstadt eines fränkischen Teilkönigreichs. Während der Karolingerherrschaft überfielen die Normannen wiederholt die Stadt. Die Kapetinger machten Paris zur Hauptstadt Frankreichs. Philipp II. Augustus (1165–1223) ließ die Stadt befestigen. 1190 wurden eine Mauer am rechten Ufer der Seine und im Jahre 1210 ein Wall am linken Ufer errichtet. Zu jener Zeit gab es am rechten Seineufer zahlreiche Händler. Auf Veranlassung Philipp II. entstand am westlichen Stadtrand der Louvre.
1181 wurde die erste überdachte Markthalle eröffnet und 1301 auf der île de la Cité ein Königspalast gebaut. Die Sorbonne im Süden von Paris hat sich aus mehreren kleinen Schulen entwickelt. Karl V. (1338–1380) ließ am linken Seineufer die Mauer zum Schutz der Stadt vor den Engländern erneuern. 1370 wurde auf seine Veranlassung am rechten Ufer, wo heute die grands boulevards verlaufen, ebenfalls eine Mauer errichtet. Während des Hundertjährigen Krieges war Paris von 1420 bis 1436 von englischen Streitkräften besetzt.
Neuzeit
Während der Hugenottenkriege zwischen 1562 und 1598 blieb die Stadt in katholischem Besitz. In der Bartholomäusnacht am 24. August 1572 wurden in Paris tausende Hugenotten ermordet. Auf Veranlassung Ludwigs XIV. (1638–1715) sind Straßenbeleuchtungen angebracht, die Wasserversorgung modernisiert und die Krankenhäuser Invalides und Salpêtrière erbaut worden. Er ließ die Pariser Stadtmauern abtragen und an deren Stelle den „Nouveau Cours“ errichten, eine Ringstraße aus der später die Grands Boulevards wurden. Die Residenz des Königs wurde nach Versailles verlegt. Dennoch blieb Paris das politische Zentrum Frankreichs, was auf seine hohe Bevölkerungszahl und seine führende wirtschaftliche Rolle im Land zurückzuführen war.
Als im Jahre 1789 die Französische Revolution ausbrach, war es die Bevölkerung von Paris, die den Weg zur Abschaffung der Monarchie und zur Einführung der ersten französischen Republik ebnete. 1844 wurde unter König Louis-Philippe an der Stelle der heutigen Stadtautobahn Boulevard périphérique eine neue Befestigungsanlage errichtet, die Thierssche Stadtbefestigung. Sie hatte eine Länge von 39 Kilometern und war mit ihren 94 Bastionen und 16 Forts die größte Befestigungsanlage der Welt.
Paris war in den Jahren 1855, 1867, 1878, 1889, 1900 und 1937 Veranstaltungsort von sechs Weltausstellungen, welche die kulturelle und politische Bedeutung der Stadt unterstrichen. Im Zweiten Kaiserreich unter dem Präfekten von Paris Haussmann kam es zu großen Umgestaltungen der Stadt, die noch bis heute das Stadtbild prägen (weitgehender Abriss alter Viertel und Schaffung großer Straßenzüge (Boulevards)). Der katastrophale Verlauf des Krieges von 1870/71 brachte das Ende des Zweiten Kaiserreichs; nach der Belagerung durch deutsche Truppen kapitulierte die Hauptstadt, worauf sich im Frühjahr 1871 die sogenannte Pariser Kommune bildete. Sie bestand aus Arbeitern, Handwerkern und Kleinbürgern und revoltierte gegen die konservative provisorische Regierung der Republik. Paris erlebte zur Zeit der Dritten Republik vor 1914 eine wirtschaftliche und kulturelle Blütezeit in der Belle Époque. An einem Bahnhof, dem Gare de Lyon, an einer Brücke, der Pont Alexandre III und den U-Bahn-Stationen ist der Baustil dieser Zeit beispielhaft zu erkennen. 1900 war Paris Austragungsort der II. und 1924 der VIII. Olympischen Spiele der Neuzeit. Im Ersten Weltkrieg wurde Paris am 30. August 1914 zum ersten Mal von einem deutschen Flugzeug aus der Luft angegriffen, und am 31. Januar 1918 wurde es von deutschen Zeppelinen und Gotha G-Bombern bombardiert, wobei 63 Menschen ums Leben kamen. Der letzte deutsche Luftangriff des Ersten Weltkrieges auf Paris erfolgte im September 1918. Bei der Siegesfeier am 14. Juli 1919 paradierte auch der japanische Generalstab auf den Champs Élysées.
1921 erreichte Paris mit rund 2,9 Millionen die bis heute höchste Einwohnerzahl seiner Geschichte. Der städtische Wohnungsbau konnte mit der Nachfrage nicht mehr Schritt halten. Ab etwa 1925 begann in Frankreich eine innenpolitisch instabile Phase (siehe Dritte Französische Republik). Es gab schnell wechselnde Regierungen. Dazu trug auch die Weltwirtschaftskrise bei. Sie begann in vielen Ländern im Winter 1929 und in Frankreich verzögert 1931. Am 6. Februar 1934 kam es in Paris zu einer großen antiparlamentarischen Straßenschlacht, an der die faschistische Bewegung Croix de Feu maßgeblich beteiligt war. Nach dem Rücktritt von Édouard Daladier (1934) bildete Gaston Doumergue eine Regierung der nationalen Einheit (Union nationale) ohne Kommunisten und Sozialisten. Am 26. April und 3. Mai 1936 konnten die Parlamentswahlen von der neu gebildeten Volksfront aus Sozialisten, Kommunisten und Radikalsozialisten mit der Parole «Brot, Frieden, Freiheit» gewonnen werden. Der Sozialist Léon Blum wurde 1936/37 und 1938 Ministerpräsident. Sein Nachfolger wurde zweimal der Radikalsozialist Édouard Daladier.
Paris – Stadt des Exils
Namen wie Heinrich Heine und Karl Marx verweisen auf die Bedeutung, die Paris bereits im 19. Jahrhundert als Zufluchtsort politisch Verfolgter aus Deutschland hatte. Die Stadt „galt als Ort revolutionärer Ideen und wurde ein Sammelbecken für politische Aktivisten aus ganz Europa“.
An diese Tradition knüpften viele Menschen in Deutschland nach der Machtübergabe an die Nationalsozialisten an. „Die größte Zahl an Exilantinnen und Exilanten aus dem Deutschen Reich ging nach Frankreich, das auch kulturell und politisch das wichtigste Aufnahmeland wurde.“ Innerhalb Frankreichs wiederum entwickelte sich Paris zum Zentrum des deutschsprachigen Exils.
Der Blick auf die deutschen Exilanten in Paris ist stark geprägt von den vielen bekannten Künstlerinnen und Künstlern, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, Autorinnen und Autoren, die dort lebten und eine deutschsprachige Kulturlandschaft etablieren konnten. Zugleich formierte sich hier aber auch der politische Widerstand gegen das Deutsche Reich. Das darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass viele Emigranten auch in Paris unter prekären wirtschaftlichen Bedingungen leben mussten. „Sie wurden 1934 und 1935 nach und nach von der Ausübung bestimmter Berufe, wie z. B. Rechtsanwalt und Arzt, ausgeschlossen, und mussten einen offiziellen französischen Arbeitsvertrag vorweisen, um eine Arbeitserlaubnis zu erhalten.“ Am Schicksal des früheren Frankfurter Rechtsanwalts Adolf Moritz Steinschneider, der seit 1935 im Pariser Exil lebte, lässt sich diese wirtschaftliche Ausgrenzung exemplarisch nachvollziehen.
Nach dem Sturz der Volksfrontregierung und der Ernennung Daladiers zum Ministerpräsidenten verschlechterte sich das politische Klima gegenüber den in Frankreich lebenden Ausländern. Deutsche Exilanten und die nach Frankreich flüchtenden Anhänger der Zweiten Spanischen Republik wurden zunehmend zu unerwünschten Ausländern, aus denen nach dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs feindliche Ausländer wurden.
Paris im Zweiten Weltkrieg
Frankreich hatte bereits 1935 rechtliche Voraussetzungen dafür geschaffen, im Falle einer tatsächlichen oder vermuteten äußeren Bedrohung Maßnahmen gegen im Lande lebende Ausländer zu ergreifen. Die ersten Opfer dieser Maßnahmen waren die Flüchtlinge aus dem Spanischen Bürgerkrieg, die Anfang des Jahres 1939 in großen Lagern im Süden Frankreichs interniert wurden. Mit dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs wurden dann auch die in Frankreich lebenden Emigranten aus dem nationalsozialistischen Machtbereich zu Opfern landesweiter Internierungen.
Eine Hochburg dieser Verfolgungsmaßnahmen war die Stadt Paris, wo wie andernorts auch „am 5. September 1939 alle männlichen deutschen Staatsangehörigen zwischen 17 und 50 Jahren durch Plakate und die Presse aufgefordert [wurden], sich unverzüglich mit leichtem Gepäck, Besteck und Lebensmitteln für zwei Tage an einem angegebenen Sammelpunkt einzufinden. Am 14. September wird diese Maßnahme auf die 50- bis 65jährigen ausgedehnt.“ Als unmittelbare Folge wurden in Paris sofort und in den Folgemonaten große Centres de rassemblement (CRE; Sammelzentren) eingerichtet, unter anderem im:
Stade Olympique Yves-du-Manoir
Vélodrome d’Hiver
Stade Roland Garros
Wegen der Überfüllung dieser Sammelzentren erfolgte die Verlegung der Internierten in Lager in den Départements und schließlich in das Camp des Milles, das zum zentralen Sammellager im Südosten Frankreichs wurde. Die Folgen dieser das Asylrecht außer Kraft setztenden Maßnahmen für die Internierten lassen sich am Beispiel des Schriftstellers Kurt Stern exemplarisch nachvollziehen.
Bei den Razzien nach dem Kriegsausbruch gerieten auch Frauen ins Visier der Behörden, und zwar Frauen, „deren Lebensweise die Behörden aus unterschiedlichen Gründen als zweifelhaft ansahen, [..] die bei einer Vorladung selbstbewusst aufgetreten waren oder von denen man nicht wusste, wie sie ihr Geld verdienten“. Das richtete sich zunächst gegen Ausländerinnen, doch nach einem Gesetz vom 18. November 1939 richteten sich die Maßnahmen auch gegen Französinnen die aus nationaler Sicht politisch verdächtig waren. Der Internierungsort für diese Frauen war in Paris das Gefängnis Petite Roquette, ihr weiterer Bestimmungsort dann ab Oktober 1939 das zum reinen Fraueninternierungslager umfunktionierte Camp de Rieucros.
Während des Westfeldzugs der deutschen Wehrmacht kam es im Juni 1940 zur Schlacht um Frankreich, nachdem die Briten während der Schlacht von Dünkirchen das Festland geräumt hatten (26. Mai bis 4. Juni). Vor den auf Paris anrückenden deutschen Truppen wich die französische Regierung über Tours nach Bordeaux aus. Auch Tausende Einwohner flüchteten aus Paris. Auf General Weygands Antrag hin erklärte die Regierung, um unnötige Kämpfe und Zerstörungen abzuwenden, Paris am 11. Juni zur offenen Stadt.
Nachdem dem Armeeoberkommando 18 unter Generaloberst Georg von Küchler durch einen Unterhändler die Räumung der Stadt durch die 7. Französische Armee zugesichert worden war, zogen Wehrmachtsverbände am 14. Juni kampflos in das menschenleer wirkende Paris ein. Mit der Einnahme von Paris waren keine strategischen Ziele verbunden. Am Arc de Triomphe nahmen Küchler und der Oberbefehlshaber der Heeresgruppe B, Generaloberst Fedor von Bock, den Vorbeimarsch der 18. Armee ab.
1943/44 unterhielt die Kriegsmarine ein Marinelazarett in der Stadt. Von größeren Zerstörungen blieb die Stadt verschont. Bis zur Befreiung am 25. August 1944 war Paris von der deutschen Wehrmacht besetzt. Der deutsche Stadtkommandant von Paris, General Dietrich von Choltitz (1894–1966), kapitulierte an diesem Tag und verweigerte damit einen Befehl Hitlers, Paris zu verteidigen oder „nur als Trümmerfeld in die Hand des Feindes fallen“ zu lassen.
Unter der deutschen Besatzung wandelte sich ab Oktober 1940 in Zusammenarbeit zwischen dem Vichy-Regime und den Besatzern die bis dahin eher als Centre de Rassemblement des Etrangers (Sammelstelle für Ausländer) beziehungsweise Centre de sejour surveille (Zentrum für überwachten Aufenthalt) genutzte Caserne des Tourelles in „das einzige [..] während der gesamten Besatzungszeit in Paris eingerichtete“ Internierungslager.
Eine weitere Folge der Besatzungszeit war die Verfolgung Zehntausender in Paris lebender Juden und deren Verhaftung. Sie wurden vorwiegend über die drei Sammel- und Durchgangslager Drancy, Pithiviers und Beaune-la-Rolande in die von den Deutschen errichteten Vernichtungslager deportiert. Auftakt hierfür war die Rafle du Billet Vert (Grüne Briefe Razzia, benannt nach der Farbe der Polizeivorladung) am 14. Mai 1941. Am Tag zuvor hatten mehrere tausend ausländische Juden eine vom Polizeikommissar unterzeichnete Vorladung erhalten, mit der sie aufgefordert wurden, am nächsten Tag in einem von fünf vorgegebenen Zentren zur „Prüfung ihrer Situation“ zu erscheinen. Innerhalb weniger Stunden wurden 3.700 Männer, überwiegend polnischer und tschechischer Nationalität oder Staatenlose, festgenommen. Sie wurden zum Bahnhof Austerlitz gebracht und bestiegen dort die Züge zu den Lagern Pithiviers und Beaune-la-Rolande. Dort blieben sie ein Jahr, bevor sie nach Auschwitz deportiert wurden.
Auf die Razzia im Mai 1941 folgten zwei weitere: am 20. August und Ende 1941. Letztere erfolgte als Reaktion auf die von der Résistance verübten Attentate, wodurch aber den Widerstand in der Stadt nicht zum Erliegen kam.
Ab Mai 1942 waren die Pariser Juden verpflichtet, den Gelben Stern zu tragen. Dieser Maßnahme folgte im Juli 1942 die nächste große Repressionswelle. Sie ging, benannt nach der als Sammellager für die Verhafteten auserkorenen Radsporthalle Vélodrome d’Hiver, unter dem Namen Rafle du Vélodrome d’Hiver (Razzia des Wintervelodroms) in die Geschichte ein.
Über 13.000 Juden wurden im Vélodrome zusammengepfercht, bevor ab dem 19. Juli 1942 zunächst die Erwachsenen mit Viehtransportwagen in das Vernichtungslager KZ Auschwitz-Birkenau deportiert wurden. Die Verfolgungen und Deportationen gingen von da an während der gesamten Besatzungszeit weiter.
An die französischen Opfer der Deportationen erinnert in Paris das Mémorial des Martyrs de la Déportation. Diese Gedenkstätte befindet sich „an der östlichen Spitze der Seine-Insel Île de la Cité, hinter den Gärten an der Rückfront von Notre Dame“. ()
Paris nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs
Gewaltsame Auseinandersetzungen um den Algerienkrieg erschütterten Anfang der 1960er-Jahre auch Paris. Sowohl die rechtsextreme OAS als auch die Unabhängigkeitsbewegung FLN terrorisierten die Stadt mit Bombenanschlägen und Angriffen auf Polizisten und öffentliche Einrichtungen. Am 17. Oktober 1961 wollten rund 30.000 Menschen friedlich für die Unabhängigkeit Algeriens demonstrieren. Im Massaker von Paris schlug die Polizei diese Demonstration gewaltsam nieder; mindestens 150 Demonstranten wurden getötet. Bei der gewaltsamen Auflösung einer Kundgebung des Parti communiste français am 8. Februar 1962 durch die Polizei, kam es in der Métro-Station Charonne erneut zu einem Zwischenfall, bei dem neun Menschen getötet wurden.
Während der Mai-Unruhen 1968 erlebte die Stadt Studentenrevolten und Massenstreiks.
Die Vororte (Banlieues) von Paris waren Ausgangspunkt und Zentrum der Unruhen in Frankreich 2005, während denen es zu zahlreichen gewalttätigen Ausschreitungen von zumeist jugendlichen Einwanderern kam. Bei den islamistischen Terroranschlägen im Januar 2015, unter anderem auch auf die Redaktionsräume der Satirezeitschrift Charlie Hebdo, wurden von den drei Attentätern insgesamt 17 Menschen getötet. Bei einer ebenfalls islamistischen Anschlagserie am 13. November 2015 an sechs Orten in Paris und Saint-Denis mit Geiselnahmen in der Konzerthalle Bataclan, Sprengstoffanschlägen um das Fußballstadion Stade de France, in dem ein Freundschaftsspiel gegen Deutschland vor 80.000 Besuchern stattfand und der Staatspräsident Hollande anwesend war, und mehreren Schießereien starben weit über hundert Menschen.
Hoheitssymbole
Die Stadt Paris führt ein großes und ein kleines Wappen sowie eine blau-rote Flagge. Wappen und Wahlspruch sind an vielen Bauwerken angebracht.
An dem Kranz aus Eichen- und Wacholderlaub hängen die drei der Stadt verliehenen Orden (von rechts nach links in der Draufsicht): Ordre de la Libération (24. März 1945); Croix de Guerre (1914–1918, 28. Juli 1919), Ehrenlegion (9. Oktober 1900)
Die Devise lautet auf Latein „Fluctuat nec mergitur“ (etwa: „Sie verändert sich, geht aber nicht unter“ oder „Sie schwankt, aber sie geht nicht unter“). Der Wahlspruch ist seit mindestens 1581 in Verbindung mit der Stadt nachgewiesen; Georges-Eugène Haussmann machte die Devise als Präfekt des Départements Seine 1853 zum offiziellen Leitspruch der Stadt.
Die beiden Farben werden meist den Farben der französischen Monarchie vor der Revolution zugeordnet. Dabei steht das Rot heraldisch seit den Römern für den Herrscheranspruch und das Blau war den Bourbonen-Lilien unterlegt. Eine andere Erklärung ist, dass Rot die Farbe eines Feldzeichens der Könige von Frankreich war, nämlich des Banners von Dionysius von Paris (französisch Saint Denis), des ersten Bischofs der Stadt und Märtyrers der katholischen Kirche; die Farbe symbolisierte dabei das Blut des Heiligen. Das Blau habe Philippe Auguste (1165–1223) in seine Fahne genommen, weil es als Farbe für die Mutter Gottes (Vierge Marie) steht.
Gesellschaft
Demografie
In der Antike und im Mittelalter ging die Bevölkerung durch die zahlreichen Kriege, Epidemien und Hungersnöte immer wieder zurück. So starben noch 1832 bei einer Choleraepidemie rund 20.000 Menschen. Erst die Industrialisierung im 19. Jahrhundert führte zu einem starken Anstieg der Bevölkerung. 1846 lebten in Paris rund eine Million Menschen, bis 1876 verdoppelte sich diese Zahl auf zwei Millionen. 1921 hatte die Einwohnerzahl von Paris mit knapp drei Millionen ihren historischen Höhepunkt erreicht. Gegenwärtig leben etwas über zwei Millionen Menschen in der Hauptstadt. Im Großraum hingegen hat die Einwohnerzahl stark zugenommen. Lebten 1921 noch 4,85 Millionen Menschen in der Metropolregion, so waren es 94 Jahre später, im Jahre 2015 bereits 12,53 Millionen. Damit zählt Paris zu den Megastädten.
Paris ist stark vom sozioökonomischen Strukturwandel (Gentrifizierung) betroffen: Der durchschnittliche Kaufpreis für Wohnungen lag 2011 bei 8010 Euro pro Quadratmeter, dem Vierfachen des damaligen Preises in Berlin. In beliebten Vierteln wie Saint-Germain-des-Prés konnte er damals bereits 15.000 Euro erreichen. So wurde etwa das 15. Arrondissement, das früher ein Wohnort der Arbeiterschicht gewesen war, zu einem Wohngebiet der wohlhabenden Mittelschicht. Die Preise für Altbauwohnungen sind im Sommer 2019 durchschnittlich auf über 10.000 Euro pro Quadratmeter gestiegen.
Einwanderung
Paris zieht seit Jahrhunderten Menschen aus verschiedenen Ländern und Kulturen an, sei es wegen politischer Verfolgung, aus wirtschaftlichen Gründen oder wegen der kulturellen Anziehungskraft der Stadt. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts zogen vor allem Italiener und osteuropäische Juden in die Stadt. Nach dem Ersten Weltkrieg folgten Armenier (nach dem Völkermord 1915), Polen, Russen und Ukrainer („weiße Russen“ nach der Oktoberrevolution 1917). Schon in der Zwischenkriegszeit, v. a. aber nach dem Zweiten Weltkrieg, kamen zahlreiche Gastarbeiter aus Süd- und Osteuropa nach Frankreich und viele von ihnen ließen sich dort nieder, vor allem im Umland von Paris; so führten oft Spanier und Portugiesen den Haushalt der reichen Pariser Familien. Die jüngste und größte Einwanderungswelle stammte aus den ehemaligen französischen Kolonien, etwa von den Antillen, dem Maghreb, Subsahara-Afrika und Indochina. Vor allem die traditionellen Arbeiterviertel im Osten der Stadt waren Anziehungspunkte von Einwanderern, etwa Belleville (19. und 20. Arrondissement), außerdem das 10., das über ein tamilisch-indisch geprägtes Viertel verfügt, das 11. und das 13. Arrondissement, das heute mit der größten Chinatown Europas ostasiatisch geprägt ist. Teile des 18. Arrondissements sind afrikanisch oder arabisch geprägt, vor allem das Quartier de la Goutte-d’Or. Zwischen dem überwiegend wohlhabenden und weißen Vierteln im Stadtzentrum und im Westen und den multikulturellen Randgebieten im Osten besteht dabei ein deutlicher Unterschied. Durch die erwähnte Gentrifizierung innerhalb der Stadtgrenzen werden zunehmend ärmere Haushalte und Mieter, oft Einwanderer, aus der Stadt heraus gedrängt. In den Vororten von Paris ist der Anteil der nicht-europäischen Einwanderer weit höher, vor allem in den nördlichen und östlichen, wo Armut, Arbeitslosigkeit und soziale Probleme verbreitet sind; es besteht ein Trend zur Segregation und Ghettobildung (siehe dazu auch den Artikel Banlieue). Da Frankreich die ethnische oder religiöse Zugehörigkeit seiner Bewohner nicht statistisch erfasst, gibt es wenig genaue Daten zur ethnischen Zusammensetzung der Pariser Bevölkerung. In Paris selbst sind 20,4 % der Bevölkerung Einwanderer, also nicht in Frankreich geboren, 14,4 % sind außerhalb Europas geboren. Der Anteil der Jugendlichen unter 18 Jahren mit Migrationshintergrund (mindestens ein Elternteil nicht in Frankreich geboren) beträgt 41 %. Mehr als die Hälfte dieser Jugendlichen haben ihre Wurzeln außerhalb Europas. In der Region Île-de-France liegt dieser Prozentsatz bei 37 %, in einigen Vororten bei über 50 %. Insgesamt sind nach einer Erhebung aus dem Jahr 2006 17 % der Bewohner der Region Île-de-France Einwanderer, 35 % haben einen Migrationshintergrund.
Religionen
Etwa 65 % der Einwohner sind getauft, rund 60 % bekennen sich zum römisch-katholischen Glauben, die meisten praktizieren den lateinischen Ritus, einige wenige auch den armenischen und ukrainischen Ritus. Der Erzbischof von Paris ist auch für die Katholiken der östlichen Riten zuständig. Insgesamt gibt es in Paris innerhalb der politischen Grenzen der Stadt 94 katholische Gemeinden, des Weiteren 73 protestantische Kirchen der verschiedensten Konfessionen, 15 griechisch- und russisch-orthodoxe Kirchen, sechs rumänisch-orthodoxe Kirchen, sieben Synagogen für die etwa 220.000 Juden und 19 Moscheen für die rund 80.000 Muslime, überwiegend Sunniten. Nur knapp 12 % der Christen und etwa 15 % der Juden sind praktizierende Gläubige.
Politik
Stadtregierung
Am 1. Januar 2019 gingen die Gemeinde und das Département Paris unter dem Namen Ville de Paris in einer Gebietskörperschaft mit Sonderstatus auf. Die Stadtregierung wird seit 1977 durch einen Bürgermeister geführt, der vom Stadtrat gewählt wird und gleichzeitig dessen Präsident ist.
Bürgermeisterin ist seit dem 5. April 2014 Anne Hidalgo, nominiert von der Parti socialiste. Ihr Vorgänger Bertrand Delanoë (PS) war 2001 der erste linke Politiker, der in das Rathaus der Hauptstadt einzog. Zuvor stellte mit Jacques Chirac (1977 bis 1995) und Jean Tiberi (1995 bis 2001) die gaullistische RPR den Bürgermeister.
Der erste Bürgermeister der Hauptstadt Jean-Sylvain Bailly wurde am 15. Juli 1789 von der während der Französischen Revolution gebildeten Pariser Selbstverwaltung eingesetzt. Da die Kommune an der diktatorisch organisierten Schreckensherrschaft (La Terreur) beteiligt war, wurde sie 1794 von zwölf getrennten und dezentralisierten Gemeindeverwaltungen ersetzt. Der Staat übernahm die Kontrolle über die Stadt und schuf das Amt des Präfekten der Seine (Préfet de la Seine). Während der Bürgerlichen Revolution von 1848 und der Pariser Kommune von 1870/1871 stand für wenige Monate ebenfalls ein Bürgermeister der Stadt vor.
Am 20. März 1977 wurde Jacques Chirac der erste frei gewählte Bürgermeister von Paris. Die bis dahin einem von der Regierung ernannten Präfekten unterstehende Hauptstadt hatte damit den gleichen Status wie alle übrigen Gemeinden in Frankreich. Eine Ausnahme bildet die Polizei, die weiterhin dem Polizeipräfekten untersteht. Ein Gesetz von 1982 etablierte dann zusätzlich die Ratsversammlungen der Arrondissements. Diese sind beratende Organe, die über begrenzte Befugnisse verfügen. Der Stadtrat (Conseil de Paris) und der Bürgermeister (Maire de Paris) werden jeweils für sechs Jahre gewählt. Die letzte Wahl fand in einem ersten Gang am 15. März 2020 und in einem zweiten am 28. Juni 2020 statt. Die nächste Wahl findet turnusgemäß im Jahr 2026 statt.
Stadtrat (Conseil de Paris)
Der Pariser Stadtrat (Conseil de Paris) besteht aus 163 Mitgliedern. Die Wahlen zum Stadtrat finden alle sechs Jahre im Rahmen der französischen Kommunalwahlen statt. Gewählt wird dabei getrennt nach Arrondissements, wobei jedes Arrondissement eine festgelegte Zahl an Stadträten wählt.
Seit 2014 setzt sich der Stadtrat aus 13 Mitgliedern der Parti Communiste und der Parti de gauche, 16 Mitgliedern der Grünen, 56 Mitgliedern der Parti Socialiste und der Parti radical de gauche, 54 Mitgliedern der Union pour un mouvement populaire und 16 Mitgliedern der Union des démocrates et indépendants und des Mouvement démocrate, 5 Mitgliedern der Fraktion Radical de Gauche, Centre et Indépendants sowie drei fraktionslosen Mitgliedern zusammen. Die nächste Kommunalwahl findet 2020 statt.
Städtepartnerschaften
Paris unterhält eine einzige Städtepartnerschaft weltweit, und zwar mit Rom seit 1956.
Rom, Italien (1956)
Darüber hinaus unterhält Paris mit folgenden Städten sogenannte Freundschafts- und Kooperationsabkommen:
Kultur und Sehenswürdigkeiten
Frankreich erscheint in Tourismus-Statistiken als das meistbesuchte Land der Erde. Die französische Hauptstadt beherbergt eine Vielzahl sehenswerter kirchlicher und weltlicher Bauwerke, Straßen, Plätze und Parks, etwa 160 Museen, rund 200 Kunstgalerien, circa 100 Theater, über 650 Kinos und mehr als 10.000 Restaurants. Das Angebot an kulturellen Veranstaltungen ist mit zahlreichen Konzerten, Ausstellungen, Musik- und Filmfestivals, Modenschauen sowie der Austragung sportlicher Wettbewerbe reichhaltig. Die Uferpromenade der Seine in Paris wurde 1991 in die UNESCO-Liste des Weltkulturerbes aufgenommen.
Im ersten Halbjahr 2016 sanken die Besucherzahlen wichtiger Museen in Paris aus verschiedenen Gründen im niedrigen zweistelligen Prozentbereich. 2015 waren die 15 meistbesuchten Museen und museale Monumente von mehr als einer Million Menschen besucht worden, der Louvre hatte über 8 Millionen Besucher.
Theater
Bedingt durch die Tradition des Zentralismus in Frankreich haben die wichtigsten Theater- und Ballettensembles des Landes ihren Sitz in Paris. Das Programm ist mannigfaltig und einem der Veranstaltungskalender, Pariscope oder Officiel des Spectacles, zu entnehmen, die an jedem Zeitungskiosk erhältlich sind. Stark ermäßigte Theaterkarten sind jeden Tag ab 13:00 Uhr für Vorstellungen am Abend desselben Tages an einem der beiden Theaterkioske (Kiosque Théâtre) (vor dem Montparnasse-Bahnhof und neben der Madeleine-Kirche) erhältlich. Die Pariser Oper (heute Opéra national de Paris) und ihre Vorgängerinstitute spielen in der Geschichte der Oper durch stilprägende Uraufführungen eine bedeutende Rolle. Heute betreibt sie zwei Opernhäuser. Die 1875 eröffnete, nach ihrem Architekten Opéra Garnier oder Palais Garnier genannte alte Oper ist mit einer Fläche von 11.237 Quadratmetern das größte Theater der Welt, während die 1989 eingeweihte neue Opéra Bastille sich durch ihre herausragende Bühnentechnik auszeichnet. Seit der Eröffnung der neuen Oper wird das Palais Garnier hauptsächlich, aber nicht ausschließlich für Ballettaufführungen und klassische Opern genutzt. Die Pariser Oper unterhält ein hauseigenes Ballett, das Ballet de l’Opéra de Paris, mit einer angeschlossenen Ballettschule.
Auch die Comédie-Française oder Théâtre français, deren Schauspielensemble sich rühmen darf, 1680 aus der Zusammenlegung von Molières ehemaligem „Illustre Théâtre“ mit anderen Schauspieltruppen hervorgegangen zu sein, hat eine lange Tradition. Berühmte Schauspieler waren unter anderem Sarah Bernhardt und Jean-Louis Barrault. Das heute staatliche Theater spielt ein vorwiegend klassisches Repertoire.
Das Théâtre des Champs-Élysées, von 1911 bis 1913 nach Plänen von Henry van de Velde von Auguste Perret ausgeführt, erregte Anfang des 20. Jahrhunderts durch seine Architektur und skandalumwitterte Aufführungen Aufsehen. Als Musiktheater und Konzerthaus ist es Heimstätte des Orchestre national de France und des Orchestre Lamoureux sowie Stützpunkt der Wiener Philharmoniker in Frankreich.
Aufmerksamkeit gebührt auch den Programmen des Théâtre du Châtelet am Place du Châtelet und dem gegenüberliegenden Théâtre de la Ville (dt. Stadttheater).
Zeitgenössische Komödien, Boulevard- und Vaudeville-Stücke werden in unzähligen kleinen Theatern aufgeführt, wie beispielsweise im Théâtre des Bouffes-Parisiens, das Jacques Offenbach am 5. Juli 1855 gründete. Der Name des Theaters leitet sich ab von „Opéra bouffe“ – „Komische Oper“, wie Offenbach zahlreiche seiner Werke betitelte.
Freunden des Revuetheaters sind die Shows des Moulin rouge, des Lido und des Paradis Latin zu empfehlen. Das Moulin rouge, am 6. Oktober 1889 von Joseph Oller eröffnet, der bereits die Music Hall L’Olympia besaß, leitet seinen Namen ab von der markanten Nachbildung einer roten Mühle auf seinem Dach. Berühmt wurde es durch seine Cancan- und Chahut-Cancan-Tänzerinnen. Nicht ganz so aufwändig, aber unverhohlen erotischer sind die Darbietungen in den Folies Bergère.
Rockkonzerte finden im Zénith im Parc de la Villette und im Palais Omnisports de Paris-Bercy statt. Das Zénith wurde 1983 auf Initiative des damaligen Kulturministers Jack Lang nach Plänen der Architekten Philippe Chaix und Jean-Paul Morel erbaut und am 12. Januar 1984 mit einem Konzert des französischen Sängers Renaud eingeweiht.
Die Arènes de Lutèce (Arenen von Lutetia) gelten als ältestes noch erhaltenes Bauwerk der Hauptstadt. Das römische Amphitheater befindet sich in der Rue Monge, im 5. Arrondissement. Die Arena stammt aus dem 1. Jahrhundert n. Chr. und wurde bis zum Ende des 3. Jahrhunderts genutzt. Circa 17.000 Personen konnten den Theatervorstellungen, aber auch Kämpfe auf Leben und Tod, beiwohnen. Mit dem Aufkommen des Christentums verloren die römischen Zirkusse allgemein an Bedeutung und als im 3. und 4. Jahrhundert die germanischen Stämme in das römische Gallien einfielen, wurden die Arènes de Lutèce stillgelegt und ihre Steine für den Bau von Stadtmauern und anderen Befestigungsanlagen verwendet.
Museen
Das 1793 in der früheren Residenz der französischen Könige eröffnete Musée du Louvre beherbergt eine der weltweit bedeutendsten Sammlungen mit über 380.000 Werken, von denen etwa 35.000 ausgestellt werden. Die Exponate decken einen Zeitraum, der von der Antike bis zum Ende des 19. Jahrhunderts reicht. Das Gebäude liegt im Zentrum von Paris zwischen dem rechten Seineufer und der Rue de Rivoli. Sein Innenhof liegt in einer Linie mit der Avenue des Champs-Élysées und bildet damit den Ursprung der sogenannten Axe historique, der historischen Achse.
Das Musée d’Orsay entstand in dem ehemaligen gleichnamigen Bahnhof, dem Gare d’Orsay, am südlichen Ufer der Seine gegenüber dem Tuileriengarten. Das Bahnhofsgebäude wurde 1900 von Victor Laloux für die Verbindung Paris–Orléans gebaut, 1939 wegen Kapazitätsproblemen geschlossen und 1978 als historisches Bauwerk eingestuft. Unter Leitung der Architektin Gae Aulenti wurde es von 1980 bis 1986 unter behutsamer Wahrung der alten Bausubstanz zum heutigen Museum umgebaut. Weltweit einzigartig ist die Sammlung französischer Impressionisten. Daneben werden Gemälde, Skulpturen, Fotos und Möbel von herausragender Qualität aus der Zeit von 1848 bis 1914 gezeigt. Vertreten sind fast alle Stilrichtungen dieses Zeitraums sowie Werke vieler Einzelkünstler.
Das 1977 nach Plänen der Architekten Renzo Piano, Richard Rogers und Gianfranco Franchini eröffnete Kunst- und Kulturzentrum Centre Georges-Pompidou (Centre National d’Art et de Culture Georges Pompidou) sorgte durch seine Architektur aus Stahl und Glas für Aufsehen: alle Versorgungsleitungen sind an der Fassade angebracht. Es wurde als interaktives Informationszentrum konzipiert, das freien Zugang zu Wissen garantieren soll. Es beherbergt die Bibliothèque publique d’information (Bpi) und das Musée National d’Art Moderne mit einer hervorragenden Sammlung von Kunstwerken des 20. Jahrhunderts, vor allem Werke des Surrealismus, Fauvismus, Kubismus und des Abstrakten Expressionismus. Das Musikforschungsinstitut IRCAM (Institut de Recherche et Coordination Acoustique/Musique) ist ihm organisatorisch angeschlossen.
Das Musée Picasso besitzt etwa 250 Werke aus allen Schaffensperioden Picassos, insbesondere Gemälde und Skulpturen, sowie Gemälde aus der persönlichen Sammlung des Künstlers, unter anderem von Georges Braque, Paul Cézanne, Henri Matisse, Joan Miró und Amedeo Modigliani. Das Museum befindet sich im ehemaligen Hôtel Salé, einem in den Jahren 1656–1659 im Maraisviertel erbauten Hôtel particulier, dessen Bezeichnung sich von seinem damaligen Bauherrn, dem für die Eintreibung von Salzsteuer zuständigen königlichen Staatsbeamten Pierre Aubert, Spitzname Salé („Gesalzener“) ableitet.
Das Musée national du Moyen Âge (vor 1980: Musée de Cluny) in dem spätgotischen ehemaligen Abtspalast Hôtel de Cluny (1485–1490) beherbergt eine bedeutende Sammlung mittelalterlicher Kunstgegenstände. Es gestattet den Zutritt zu den benachbarten früheren Thermen aus gallo-römischer Zeit. Im September 2000 wurde neben dem Hôtel de Cluny der mittelalterliche Garten (Jardin médiéval) mit einer Fläche von zirka 5.000 Quadratmetern angelegt.
Das Grand Palais entstand nach Plänen der Preisträger des Prix de Rome, den Architekten Henri Deglane (1851–1932) und Albert Louvet (1860–1936), als Ausstellungshalle zur Pariser Weltausstellung von 1900. Es besitzt eine 240 Meter lange und 20 Meter hohe Fassade mit ionischen Säulen. Im Gebäude finden bedeutende Kunst- und Gemäldeausstellungen statt. Im Westflügel ist der Palais de la découverte (Palast der Entdeckung) untergebracht, ein naturwissenschaftliches Museum, das zu praktischen Erkundungen einlädt und ein Planetarium betreibt.
Dem Grand Palais gegenüber steht der zur gleichen Zeit und zu gleichem Zweck von dem Architekten Charles Girault (1880 Prix de Rome) im neobarocken Stil der Belle Époque errichtete Petit Palais. Der mit einem prunkvoll vergoldeten schmiedeeisernen Eingangstor und reichen Deckenmalereien ausgestattete halbrunde Bau, dessen Fassaden fast nur aus Fenstern bestehen, beherbergt seit 1902 das städtische Museum der schönen Künste Musée d’art moderne de la Ville de Paris.
Nahe dem Eiffelturm befindet sich seit 2006 das Musée du quai Branly für Völkerkunde. Mehrere naturkundliche Museen sind im Muséum national d’histoire naturelle zusammengefasst und befinden sich an verschiedenen Standorten, etwa im Bereich des Jardin des Plantes. Am 27. Oktober 2014 eröffnete die Stiftung Louis Vuitton ein Privatmuseum, das die Kunstsammlung von Bernard Arnault beherbergt.
Bauwerke
Brücken
Die Seine fließt im Großraum Paris ab der Einmündung der Marne bei Vincennes im Pariser Becken in einem weiten Linksbogen von Südosten durch das Zentrum, um dann in einer engen Rechtskurve bei Boulogne-Billancourt sich wieder bis St. Denis nach Norden zu biegen und dabei noch einmal die City von Norden zu umfassen. Danach biegt sie in einem Bogen um Colombes/Villeneuve-la-Garenne erneut nach Nordwesten ab, um sich dann weiter Richtung Ärmelkanal zu schlängeln. Etwa 40 Brücken (ponts) und einige Stege überspannen die Seine und verbinden die zentralen Arrondissements miteinander. Die Insel Île de la Cité ist über insgesamt 9 Brücken sowohl mit der benachbarten Île Saint-Louis verbunden (Pont Saint-Louis) als auch mit den beiden Ufern (rechtes Ufer, in Fließrichtung: Pont d’Arcole, Pont Notre-Dame, Pont au Change; linkes Ufer: Pont de l’Archevêché, Pont au Double, Petit Pont, Pont Saint-Michel). Der Pont Neuf führt über die Westspitze der Insel und verbindet die Insel mit beiden Ufern. Er ist die älteste der heutigen Pariser Seinebrücken. Die jüngste ist die Passerelle Simone-de-Beauvoir, die seit 2006 ohne Strebepfeiler 194 Meter Spannweite überbrückt. Viele Brücken entstanden im 19. Jahrhundert und sind Eisenkonstruktionen. Abends werden die Brücken nach einem bestimmten, die Baustrukturen betonenden Konzept angeleuchtet. Zusammen mit den Uferbefestigungen bilden die Brücken ein städtebaulich prägendes Merkmal der Stadt. Außer den Seinebrücken gibt es noch ca. 300 andere Brückenbauwerke in der Stadt: über Kanäle und Straßen, über Gleise und in Parks.
Plätze und Straßen
Erste urbanistisch relevante Maßnahmen ergriff in Paris Anfang des 17. Jahrhunderts Heinrich IV. mit der Anlage der ersten zwei von insgesamt fünf sogenannten „königlichen Plätzen“.
Die quadratische Place des Vosges (1605–1611), früher Place Royale im Le Marais (4. Arrdt.) bietet ein einzigartig geschlossenes Ensemble von Bauten aus Back- und Quaderstein im Stil des frühen 17. Jahrhunderts. Die Mitte des Platzes ziert das Reiterstandbild von Ludwig XIII.
Zur gleichen Zeit entstand in demselben Stil die dreieckige Place Dauphine (1607–1612) an der westlichen Spitze der Île de la Cité (1. Arrdt.), nach Plänen von Louis Métezeau und Jacques II. Androuet du Cerceau. Die Achse des später zu einem Drittel zerstörten Platzes lässt durch eine Öffnung im Westen den Blick auf die Brücke Pont Neuf und auf das Reiterstandbild von Heinrich IV. frei.
Die Place des Victoires (1675), mit rundem Grundriss, wurde auf Initiative des Höflings François d’Aubusson de La Feuillade nach Plänen von Jules Hardouin-Mansart zu Ehren des Sonnenkönigs Ludwigs XIV. entworfen, um seinem Standbild von Martin Desjardins einen würdigen Rahmen zu geben. Letzteres wurde in der Revolution zerschlagen und erst 1822 durch das heutige Reiterstandbild von Bosio ersetzt. Hier so wie auf den folgenden „Königlichen Plätzen“ ersetzt der schöne hellgelbe Quaderstein, der sich hervorragend für den Steinschnitt eignet, den bisher üblichen Backstein.
Auch die überaus harmonische und in ihrem ursprünglichen Zustand erhaltene Place Vendôme (1690–1720) wurde zu Ehren Ludwigs XIV. angelegt. Die Pläne lieferte abermals Jules Hardouin-Mansart. Das früher hier befindliche Reiterstandbild fiel, wie nahezu alle Abbilder der Mitglieder des französischen Königshauses, der Revolution zum Opfer, was Napoléon I. Gelegenheit gab, hier 1806 in Erinnerung an die Schlacht bei Austerlitz eine 44 Meter hohe Triumphsäule errichten zu lassen.
Die ab 1755 angelegte Place Louis XV (heutige Place de la Concorde) sollte der größte und letzte der „Königsplätze“ von Paris werden. Der Platz blieb unvollendet. Während der Revolution in Place de la Révolution umbenannt, empfing er – an Stelle der zerstörten Reiterstatue Ludwigs XV. – die Guillotine, unter der im Jahre 1793 Ludwig XVI. und die Königin Marie-Antoinette enthauptet wurden. Seit 1836 wird der Platz von dem 23 Meter hohen Obelisken von Luxor dominiert. Daneben befinden sich zwei aufwändig gestaltete Brunnen von Jakob Ignaz Hittorff.
An der Place de la Concorde beginnt die Prunk-, Pracht- und Paradestraße Avenue des Champs-Élysées, eine der großen und berühmten „Weltstraßen“. Die 1,5 Kilometer lange und 71 Meter breite Avenue bildet das Kernstück und Rückgrat der einzigartigen vom Osten zum Westen weisenden Axe historique, einer Sichtachse, die im Innenhof des Louvre beginnt, über den Tuileriengarten, die Place de la Concorde und den Triumphbogen bis zur Grande Arche und darüber hinaus reicht. Hier befinden wir uns schon jenseits der westlichen Ausfallstraße, in dem vier Kilometer außerhalb von Paris gelegenen Geschäftsviertel La Défense. Als unter Ludwig XIV. von dem Hofgärtner André Le Nôtre die ersten Bäume (Ulmen) der Champs-Élysées gepflanzt wurden (1670), führte sie noch durch freie Felder. Die beliebte Promenade der Pariser war damals die Straßenkette der aneinandergereihten Boulevards, die selten mit ihren verschiedenen Namen, sondern schlicht Les Grands Boulevards genannt werden.
Weltliche Bauwerke
Antike
Die ältesten Bauwerke der Stadt stehen im Quartier Latin an den Hängen des Montagne Sainte-Geneviève, auf dem sich ab 52 v. Chr. die Römer in dominanter Lage ansiedelten.
Die stark restaurierten Überreste der im 1. Jahrhundert n. Chr. erbauten Arena von Lutetia und die Ruinen der sogenannten Thermen von Cluny (in das Musée national du Moyen Âge) aus der Zeit um 200 n. Chr. sind die einzigen sichtbaren Spuren aus der gallo-römischen Epoche.
Mittelalter
Nach dem Untergang des Römischen Reiches entstanden zunächst vor allem Sakralbauten, während die in Paris weilenden fränkischen Teilkönige sich den ehemaligen Palast der römischen Statthalter auf der Île de la Cité zu eigen machten, der im Laufe der Jahrhunderte mehrmals vergrößert und umgebaut wurde und heute als Palais de la Cité bekannt ist.
Die ältesten erhaltenen Teile des Palais de la Cité sind die in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts unter Ludwig IX. dem Heiligen von Pierre de Montreuil errichtete Palastkapelle Sainte-Chapelle und die unteren Partien des sogenannten Bonbec-Turmes an der Nordfassade. Die danebenliegenden beiden Tortürme Tour d’Argent (Silberturm) und Tour de César (auch Tour de Montgomery genannte) sowie der nach seiner Uhr Tour de l’Horloge genannte, im 19. Jahrhundert stark veränderte Eckturm entstanden etwas später unter Philippe IV. dem Schönen. Hinter der massiven Doppelturmanlage verbirgt sich die nach dem früheren Palastverwalter (Concierge) benannte Conciergerie, die bereits um 1400 als Gefängnis genutzt wurde und während der Revolution als „Wartesaal für die Guillotine“ diente.
Bereits bald nach 1358 war der Palais de la Cité als Königsresidenz aufgegeben worden, und zwar zu Gunsten des heute verschwundenen Hôtel Saint-Pol, der im Osten von Paris entstandenen Burg von Vincennes und der schon 1190 unter Philippe-Auguste entstandenen Wehranlage des früheren Louvre, deren mächtiger runder Bergfried seinerzeit das rechte Ufer beherrschte.
Das Stadtschloss Louvre, wie wir es heute kennen, ist das Ergebnis von zahlreichen Baukampagnen unter vielen Königen und umfasst Teile aus dem Mittelalter, der Renaissance, der Barockzeit, dem Zweiten Kaiserreich sowie das bedeutende, seit 1981 auf Wunsch des Staatspräsidenten François Mitterrand von dem Architekten Ieoh Ming Pei geschaffene „unterirdische Reich“ des Louvre, das in erster Linie der Schaffung fehlender Infrastrukturen für das hier angesiedelte Museum dient.
Frühe Neuzeit
Aus der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts und dem 16. Jahrhundert stammen mehrere interessante, hierzulande hôtels particuliers genannte Stadtpaläste des Marais-Viertels, wie beispielsweise das Hôtel de Sens, das zwischen 1475 und 1507 im Auftrag von Tristan von Salazar, Erzbischof von Sens, entstand, das ab 1548 für den Gerichtspräsidenten Jacques de Ligneris errichtete Hôtel Carnavalet, das um 1585 für Diane de France entworfene und jetzt Louis Métezeau zugeschriebene Hôtel d’Angoulême (heutige Bibliothèque historique de la ville de Paris) sowie der Hôtel de Sully genannte Stadtpalast des Finanzinspektors Mesme Gallet, den Roland de Neufbourg 1630 nach den Plänen von Jean I. Androuet du Cerceau vollendete. Er ist heute Sitz des Denkmalpflegevereins (Centre des monuments nationaux).
Auf dem linken Ufer ließ unterdessen Jacques d’Amboise, Abt von Cluny zwischen 1485 und 1510, neben den Ruinen der römischen Thermen das Hôtel de Cluny vollkommen neu erbauen, das den Äbten von Cluny seit 1330 als Stadtresidenz diente. Das dort untergebrachte Musée national du Moyen Âge (Museum des Mittelalters) besitzt den einzigartigen Millefleurs Wandbehang mit Szenen zum Thema der La Dame à la licorne („Die Dame mit dem Einhorn“). Mit dem Brunnen Fontaine des Innocents schufen Pierre Lescot und Jean Goujon 1547 bis 1549 ein Werk, das heute zu den wichtigsten verbleibenden Zeugnissen der frühen Renaissance in Paris gezählt wird. Allerdings wurde die Anordnung der drei originalen Brunnenseiten, die ursprünglich eine Tribüne bildeten, in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vollkommen verändert und eine vierte Seite von Pajou und Houdon hinzugefügt.
Das ursprüngliche Pariser Hôtel de Ville (Rathaus) war zwischen 1551 und 1628 auf Anregung von König Franz I. nach Plänen des italienischen Architekten Domenico da Cortona, genannt Il Boccador(o), im Stil der Renaissanceschlösser des Loiretals entstanden. Es brannte 1871 während des Aufstandes der Kommune ab. Das heutige Rathaus ist eine Kopie des Vorgängerbaus. Das Gebäude im Stil des Klassizismus mit 146 Statuen auf der Fassade wurde in den Jahren 1874 bis 1882 nach Plänen der Architekten Théodore Ballu (1817–1885) und Édouard Deperthes (1833–1898) errichtet. Es befindet sich im 4. Arrondissement an der ehemaligen Place de Grève, der heutigen Place de l’Hôtel-de-Ville.
17. Jahrhundert
Dem Palais du Luxembourg, im Jahre 1615 von Maria von Medici als Landschloss weit außerhalb der damaligen Stadtgrenzen bei dem Architekten Salomon de Brosse in Auftrag gegeben, liegen wenigstens teilweise Pläne des Palazzo Pitti in Florenz zugrunde, in dem die Königinmutter und Regentin ihre Kindheit verlebt hatte. Die Gartenseite erfuhr im 19. Jahrhundert erhebliche Veränderungen. Hier tagt seit 1852 der französische Senat, der den zu dem Palais gehörenden, früher königlichen, heute staatlichen Schlosspark Jardin du Luxembourg der Öffentlichkeit zur Verfügung stellt.
Der Palais Royal, nördlich vom Louvre, wurde in den Jahren 1627 bis 1629 von Jacques Lemercier für den ersten Minister Ludwigs XIII., Kardinal Richelieu, gebaut, kam nach dessen Tod an die Krone und nahm seinen heutigen Namen an. Dort wuchs Ludwig XIV. auf. Heute beherbergt der Palais den Staatsrat (Conseil d’État), den Verfassungsrat (Conseil constitutionnel), das Kultusministerium, aber auch die Comédie-Française. An den Hof, in dem Daniel Buren ein interessantes begehbares Kunstwerk schuf, schließt sich ein schöner Garten an.
Weitere wichtige Bauten des 17. Jahrhunderts sind die Barockkirche des Val-de-Grâce-Klosters, das Collège des Quatre-Nations, heute Sitz des Institut de France, das Hôtel des Invalides und das Observatoire.
18. Jahrhundert
Der Élysée-Palast ursprünglich nach seinem Auftraggeber Hôtel d’Évreux und später nach der nahegelegenen Avenue des Champs-Élysées benannt, ist der Amtssitz des französischen Staatspräsidenten. Erbaut wurde er in den Jahren von 1718 bis 1722 nach den Plänen des Architekten Armand-Claude Mollet, der das umliegende Grundstück kurz zuvor an den Grafen von Évreux, Henri-Louis de la Tour d’Auvergne, verkauft hatte und von diesem nun mit dem Bau einer Residenz beauftragt wurde. Nach dem Tod des Grafen im Jahre 1753 erwarb Jeanne-Antoinette Poisson, besser bekannt als Marquise de Pompadour, den Palast und ließ ihn durch ihren Architekten im Inneren stilvoll herrichten. Der Garten wurde auf ihre Vorstellungen hin vergrößert und um Säulengänge und Lauben sowie ein Labyrinth erweitert. Der Palast liegt nördlich der Seine in einer der weltweit wichtigsten Einkaufsstraßen Rue du Faubourg Saint-Honoré, nur einige Schritte von den Champs-Élysées und wenige Gehminuten von dem Concordenplatz entfernt.
Der Palais Bourbon entstand ebenfalls im 18. Jahrhundert, wurde aber später mit einer klassizistischen Fassade versehen. Er liegt am südlichen Ufer der Seine und gab dem 7. Arrondissement seinem Namen. In ihm tagt die Französische Nationalversammlung. Die Kirche Sainte Marie Madeleine liegt dem Palast auf dem nördlichen Ufer in einer Sichtachse gegenüber.
Unter Ludwig XV. entstanden die grandiosen Bauten von Ange-Jacques Gabriel, welche die Nordseite der Place de la Concorde bilden; die La Monnaie oder Hôtel des Monnaies genannte Münzprägewerkstatt, zwischen 1771 und 1777 von Jacques Denis Antoine geschaffen, und die École militaire (Militärschule), ebenfalls ein Werk von Ange-Jacques Gabriel. Der weitaus imposanteste, von weit her sichtbare Bau aus dieser Zeit ist jedoch das Panthéon, ein Kuppelbau, der sowohl in die sakralen als auch in die profanen Bauten der Stadt eingereiht werden kann, da er mehrmals seine Bestimmung gewechselt hat.
Das Panthéon wurde zwischen 1764 und 1790 von Jacques-Germain Soufflot und seinen Schülern als Klosterkirche für die damals hier befindliche Benediktinerabtei errichtet, deren Refektorium sowie ein Turm in dem nahegelegenen Lycée Henri IV erhalten sind, einer der ältesten und bekanntesten Schulen Frankreichs. Nach der Französischen Revolution 1789 wurde die Kirche zur nationalen Ruhmeshalle erklärt. Nach mehreren Umwidmungen im 19. Jahrhundert ist sie seit 1885 erneut Ruhmeshalle Frankreichs. Entsprechend illuster ist die Liste der hier beigesetzten Personen: Voltaire, Victor Hugo, Émile Zola, Jean-Jacques Rousseau, Pierre und Marie Curie. 1849 gelang dem Physiker Léon Foucault mit dem nach ihm benannten Pendel hier der empirische Nachweis der Erdrotation. Das Pendel befindet sich heute in der Kapelle der ehemaligen Abtei St-Martin-des-Champs, die Teil des Musée des arts et métiers geworden ist.
19. Jahrhundert
Das schönste, wenngleich nicht das repräsentativste Bauwerk des 1. Kaiserreiches schufen zwischen 1806 und 1808 Charles Percier und Fontaine mit dem in der sogenannten Cour Napoléon des Louvre errichteten Arc de Triomphe du Carrousel.
Noch während des Baus des Arc de Triomphe du Carrousel gab Napoléon I. 1806 den großen Triumphbogen an der Place de l’Étoile in Auftrag, der erst 1836 unter Louis-Philippe vollendet wurde. Als Inspiration diente der allerdings deutlich kleinere Titusbogen in Rom. Der Triumphbogen steht im Zentrum des Platzes, der seit 1970 Place Charles de Gaulle – Étoile heißt, am westlichen Ende der Avenue des Champs-Élysées und ist Teil der Axe historique (historische Achse), einer Reihe von Monumenten und großen Straßen, die weiter westlich in das Défense-Viertel weisen.
Im gleichen Jahr wurde der Bau eines Ruhmestempels zu Ehren der napoleonischen Grande Armée geplant. Dieses erst 1842 fertiggestellte Gebäude kennen wir heute als Madeleine-Kirche. Ebenfalls im 1. Kaiserreich wurde der Auftrag für die Errichtung der Börse vergeben. 1808 von Alexandre-Théodore Brongniart begonnen, wurde sie nach dessen Tod 1827 von Éloi Labarre vollendet.
Ab der Mitte des 19. Jahrhunderts verwandelte die bis dahin größtenteils noch vom Mittelalter geprägte Stadt sich in eine prestigevolle, beispielhafte und moderne Metropole, welche die Bewunderung von Tausenden von ausländischen Weltausstellungsbesuchern hervorrief. Der umwälzenden Stadtsanierung, die nach dem Willen Napoleons III. von dem ihm treu ergebenen Baron Haussmann durchgeführt wurde, verdankt Paris seine breiten Straßen, mehrere Brücken, zahlreiche Plätze und Parks sowie die Anlage der beiden Stadtwälder und nicht zuletzt die Säumung der neuen Straßen mit den für Paris so typischen Häusern im sogenannten „Haussmann-Stil“. Durch Charles Marville sind Fotografien aus der damaligen Umbruchszeit erhalten geblieben, die die alten Straßenzüge und Gebäude kurz vor der Neugestaltung dokumentieren. Krönung dieser schaffensfrohen Epoche wurde das als Palais Garnier bezeichnete Opernhaus der Pariser Oper, das 1875 von Charles Garnier fertiggestellt wurde.
Für den Neubau des Universitätsgebäudes der Sorbonne wurde 1885 die größte Pariser Baustelle des 19. Jahrhunderts eröffnet, wenn man von der Konstruktion des Eiffelturmes, dem Werk eines Ingenieurs, absieht. Erst 1901 wurden die Arbeiten abgeschlossen. Die Sorbonne, eine der ältesten Universitäten nördlich der Alpen, war schon im 13. Jahrhundert im Quartier Latin gegründet worden. Hier studierten und lehrten einige der bedeutendsten Philosophen des Mittelalters.
Das Wahrzeichen der Stadt ist der 300,51 Meter hohe Eiffelturm (Tour Eiffel, 324,8 Meter mit Antenne), eine Konstruktion aus dem Jahre 1889, die für die Weltausstellung nur temporär errichtet werden sollte. Der Stahlfachwerkturm ist nach seinem Erbauer Alexandre Gustave Eiffel benannt. Er ist eine der größten Touristenattraktionen mit mehr als sechs Millionen Besuchern jährlich. Im Jahr 2002 wurde der 200-millionste Besucher gezählt.
Über das ganze Stadtgebiet von Paris verteilt, hauptsächlich an den meistbenutzten Fußgängerwegen, befinden sich die Wallace-Brunnen. Die öffentlichen Trinkwasserspender in Form kleiner gusseiserner Skulpturen sind nach dem Engländer Richard Wallace benannt, der ihre Errichtung finanzierte. Ihrer herausragenden Ästhetik wegen gelten sie weltweit als ein Wahrzeichen der Stadt.
20. Jahrhundert
Nicht unumstritten war der Bau der Tour Montparnasse im Süden der Stadt. Der 210 m hohe Büroturm ist das höchste Gebäude Paris und wurde nach vierjähriger Bauzeit 1973 eröffnet.
In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts entwickelte Paris unter anderem dank der sogenannten grands projets (Große Projekte) der französischen Staatspräsidenten eine rege Bautätigkeit.
Georges Pompidou (Staatspräsident von 1969 bis 1974) war 1970 Initiator des neuen Kunst- und Kulturzentrums Centre Georges-Pompidou. Als Preisträger eines internationalen Wettbewerbes wurden Renzo Piano und Richard Rogers mit der Errichtung der spektakulären Metallkonstruktion beauftragt, die zwischen 1972 und 1977 entstand.
Der konservativere Valéry Giscard d’Estaing (Staatspräsident von 1974 bis 1981) begnügte sich mit der Rehabilitation bereits bestehender Bauten, wie dem Umbau des stillgelegten Orsay-Bahnhofes zu einem Museum und der Einrichtung der Cité des sciences et de l’industrie in der Rohbauruine der Schlachthöfe in La Villette.
Allerdings veranlasste Giscard d’Estaing 1980 auch die Gründung des Institut du monde arabe (Institut der arabischen Welt), ebenfalls ein Kunst- und Kulturzentrum mit angeschlossenem Museum, Bibliothek und Theater. Der Bau wurde jedoch erst zwischen 1983 und 1987 unter seinem Nachfolger François Mitterrand von der französischen Architektengruppe Jean Nouvel, Pierre Soria und Architecture Studio verwirklicht.
François Mitterrand (Staatspräsident von 1981 bis 1995) kündigte seinerseits schon in seiner ersten Pressekonferenz nach seinem Amtsantritt den Umbau des Louvre zu einem „würdigen Museum Frankreichs“ an. Der Auftrag zu diesem Großprojekt ging ohne Ausschreibung an den renommierten amerikanischen Architekten chinesischer Herkunft Ieoh Ming Pei.
Die Notwendigkeit, ein neues Finanzministerium zu bauen, ergab sich unter anderem aus der Tatsache, dass die Kabinette der beiden Minister aufgrund des geplanten Umbaus des Louvre aus dem dortigen Nordflügel weichen mussten. Das neue Ministère des Finances (1984–1989), ein Gemeinschaftswerk von Paul Chemetov und Borja Huidobro, entstand auf einem Gelände im Osten der Stadt, wo zur gleichen Zeit der neue Parc de Bercy angelegt wurde und die Stadt Paris von Pierre Parat und Michel Andrault die Mehrzweck-Sporthalle Palais Omnisports de Paris-Bercy errichten ließ.
Persönliches Prestigeobjekt Mitterrands während seiner ersten Amtszeit wurde die neue Opéra Bastille (1983–1989) am gleichnamigen Platz, auf dem am 14. Juli 1789 mit dem Sturm auf die Bastille die Französische Revolution ausgebrochen war und Mitterrand 1981 seinen Wahlsieg gefeiert hatte. Symbolträchtig war auch die Wahl des Einweihungstages dieser nach Plänen des Architekten Carlos Ott in einer eigenwilligen Form aus Glas und Aluminium entstandenen neuen Oper: die erste Aufführung fand am 13. Juli 1989, dem Vorabend des 200. Jahrestags des Sturms auf die Bastille, statt.
Die Grande Arche von Johan Otto von Spreckelsen, ein torförmig durchbrochener Kubus von gewaltigen Ausmaßen, steht im Défense-Viertel außerhalb von Paris. Er wurde 1989 eingeweiht.
Bereits einige Monate zuvor hatte Mitterrand ein weiteres Projekt ins Leben gerufen, um die alte Nationalbibliothek zu entlasten. Die neue Bibliothèque nationale de France (Nationalbibliothek, 1990–1996) wurde vom Architekten Dominique Perrault entworfen. Die vier Ecken des Gebäudes weisen je einen 79 Meter hohen Turm mit einer durchgehenden Glasfront auf. Die Türme sind L-förmig und symbolisieren ein aufgeschlagenes Buch. Jacques Chirac führte die Tradition der „Bauten der Präsidenten“ fort. Am 20. Juni 2006 weihte er das neue Musée du quai Branly von Jean Nouvel ein. Daneben entstanden in der letzten Hälfte des 20. Jahrhunderts zahlreiche sehenswerte kleinere Bauten, wie beispielsweise die Fondation Cartier (1994, Jean Nouvel) und das American Center (1994, Frank Gehry), jetzt Kinomuseum.
Paris ist auch bekannt für seine vornehmen und eleganten Hotels, die unter anderem an der Rue de Rivoli gegenüber dem Tuilerien-Garten, in der rue Castiglione und an der Place Vendôme angesiedelt sind. Hier findet man das Hôtel Le Meurice, das „Westin“ (früher „Intercontinental“ mit seinem repräsentativen Patio), das Hôtel „Lotti“ und das berühmte „Ritz“.
21. Jahrhundert
2006 eröffnete das Musée du quai Branly. 2014 wurden das Museum Fondation Louis Vuitton im Bois de Boulogne und das geschichtsträchtige Grandhotel Hotel The Peninsula Paris nahe dem Triumphbogen eröffnet. 2015 wurde das Hexagone Balard, ein Gebäudeensemble in welchem das französische Verteidigungsministerium seinen neuen Sitz hat, eröffnet. Es beherbergt 9300 Arbeitsplätze. Ebenfalls 2015 eröffnete die neue Pariser Philharmonie im Parc de la Villette. Der Neubau des Forum des Halles eröffnete im Jahr 2016. 2017 eröffnete der Neue Justizpalast im Nordwesten der Stadt. Der Wolkenkratzer mit 160 Meter Höhe stellt eine bedeutende neue Landmarke dar. Seit 2017 im Bau befinden sich die 180 m und 122 m hohen Tours Duo im 13. Bezirk im Südwesten der Stadt (geplante Fertigstellung 2020). Laufende Großprojekte sind der Umbau und die Aufstockung der Tour Montparnasse, die Erweiterung der Gare du Nord und die Errichtung der 180 m hohen Tour Triangle im 15. Bezirk (geplanter Baubeginn 2020).
Kirchen
Mittelalter
Die frühere Abteikirche Saint-Germain-des-Prés am Boulevard Saint-Germain (6. Arrdt.) erinnert daran, dass der fränkische König Childebert I. aus dem Geschlecht der Merowinger, ein Sohn von Chlodwig I., hier im Jahr 557 eine später sehr bedeutende Abtei gründete. Der Portalturm der heutigen Kirche und die unteren Bereiche der Kirchenschiffe stammen aus dem 11. Jahrhundert, den Chor weihte im Jahr 1163 Papst Alexander II. Das Bauwerk erfuhr bis zum 17. Jahrhundert verschiedene Änderungen. Die Wandmalereien im Kirchenschiff schuf im 19. Jahrhundert Hippolyte Flandrin.
Die Kathedrale Notre Dame de Paris auf der Île de la Cité (4. Arrdt.) ist eine der frühesten gotischen Kathedralen Frankreichs. Sie ist Maria, der Mutter Jesu, geweiht (notre dame = Unsere Liebe Frau). Der Bau wurde im Jahr 1163 unter Bischof Maurice de Sully begonnen und erst 1345 fertiggestellt. Die Ausmaße des Kirchenschiffes betragen 130 mal 48 Meter bei einer Höhe von 35 Metern. Es bietet, Empore eingeschlossen, Raum für 9000 Personen. Die beiden Türme sind 69 Meter hoch, der Dachreiter erreicht 90 Meter.
Die Pfarrkirche Saint-Germain-l’Auxerrois, die dem Ostportal des Louvre (1. Arrdt.) gegenüberliegt, stammt in ihren Grundzügen noch aus der Zeit der Romanik. Sie besitzt allerdings sowohl ein gotisches Strebwerk als auch ein hochgotisches Portal. Die Anbauten an dieser Kirche stammen aus dem Barock. Diese Kirche ist dem heiligen Germanus von Auxerre geweiht (Saint Germain l’Auxerrois).
Die Pfarrkirche Saint-Sulpice südlich vom Boulevard Saint-Germain (6. Arrdt.) ist dem heiligen Sulpicius II. von Bourges geweiht. Sie ersetzte einen romanischen Vorgängerbau aus dem Anfang des 13. Jahrhunderts. Die Arbeiten an der heute existierenden Kirche begannen im Jahre 1649, wurden aufgrund politischer und finanzieller Schwierigkeiten aber erst im 18. Jahrhundert abgeschlossen. Die klassizistische Fassade entwarf Giovanni Servandoni im Jahr 1732. Die Kirche ist berühmt für ihre Cavaillé-Coll-Orgel, eine der größten Orgeln Frankreichs.
Die Palastkapelle Sainte-Chapelle im Palais de la Cité (1. Arrdt.) unweit der Kathedrale ließ Ludwig der Heilige in den 1240er-Jahren erbauen, um sehr kostbare Reliquien aufzunehmen: die Dornenkrone Christi und Teile des „Wahren Kreuzes“. Diese für den gotischen style rayonnant des 13. Jahrhunderts beispielhafte Kapelle gehört zu den schönsten Baudenkmälern der Gotik. Der größte Teil ihrer Wände wird von kostbaren Buntglasfenstern eingenommen, wodurch der hohe Raum von unirdisch wirkendem Licht durchflutet wird.
Neuzeit
Mit dem Bau der Pfarrkirche Saint-Eustache wurde im 16. Jahrhundert begonnen. Die Kirche wurde um 1640 fertiggestellt. Sie befindet sich im 1. Arrondissement und war die Kirche der Händler des benachbarten Marktes (heute mit dem Forum des Halles bebaut). Der spätgotische Sakralbau weist bereits Züge der aufkommenden Renaissance auf.
Der Dôme des Invalides (Invalidendom, eigentlich Invalidenkuppel) wurde zwischen 1670 und 1691 von Jules Hardouin-Mansart auf dem linken Seineufer erbaut (7. Arrdt.). Diese prächtige Kuppelkirche ist, so wie die benachbarte Soldatenkirche Saint-Louis des Invalides Teil des Hôtel des Invalides und zählt zu den schönsten Bauten des klassizistischen Barocks in Frankreich. Ihr Inneres wurde im 19. Jahrhundert zu einem Grabmal für den französischen Kaiser Napoléon I. umgestaltet. Dessen Leichnam ruht hier seit 1861 nach seiner Überführung aus Sankt Helena 1840, so wie verschiedene andere bedeutende Persönlichkeiten.
Der Bau der Kirche La Madeleine nördlich der Place de la Concorde (8. Arrdt.) begann 1764 nach dem Entwurf des Architekten Pierre Contant d’Ivry und wurde im Dezember 1791 aufgrund der Französischen Revolution eingestellt. Die Arbeiten wurden von dem Architekten Jean-Jacques-Marie Huvé (1783–1852) wieder aufgenommen und im Jahre 1842 abgeschlossen, die Weihe zur Pfarrkirche erfolgte am 9. Oktober 1845. Die Innenausstattung entstammt vorwiegend den Jahren 1830–1840. Als besonders sehenswert gilt die Statue der Maria Magdalena von Carlo Marochetti. Die Orgel des bedeutenden französischen Orgelbauers Aristide Cavaillé-Coll (1811–1899) gilt als eine der klangvollsten der Stadt.
Die Basilique du Sacré-Cœur (Basilika vom Heiligen Herzen) ist eine römisch-katholische Wallfahrtskirche auf dem Hügel von Montmartre und bildet den höchstgelegenen Punkt der Stadt nach dem Eiffelturm. Der Bau der Kirche im „Zuckerbäckerstil“ wurde 1875 von dem Architekten Paul Abadie begonnen, der sich in einem Wettbewerb gegen 78 Mitbewerber durchgesetzt hatte und dessen Entwurf deutlich durch den römisch-byzantinischen Stil alter Kirchen wie der Hagia Sophia und des Markusdoms in Venedig inspiriert wurde. Abadie verstarb bereits 1884. Ihm folgten bis zur Fertigstellung 1914 sechs Architekten in der Bauleitung nach.
Grünflächen
Die Pariser Straßen sind mit rund 89.000 Bäumen gesäumt. Das städtische Gartenbauamt Direction des Parcs, Jardins et Espaces Verts de Paris unterhält innerhalb der Stadtgrenzen 2.437 Hektar Grünflächen, zu denen außer den beiden großen Stadtwäldern Bois de Vincennes (995 Hektar) und Bois de Boulogne (846 Hektar) auch die 14 innerstädtischen Friedhöfe (92 Hektar) zählen, die Gartenbauschule École Du Breuil (22 Hektar), das Gartenbauzentrum Jardin des Serres d’Auteuil (8,5 Hektar), in dem Blumen und Sträucher gezüchtet werden, und der neue Centre horticole de la Ville de Paris (Blumenproduktion) in Rungis, Fresnes und Achères (insgesamt 477 Hektar).
Als Erholungsgebiet abzuziehen sind die bepflanzten Böschungen der Ringautobahn Boulevard périphérique (51 Hektar). Auf die Grünanlagen von städtischen Sportanlagen, Schulen, Kindergärten und Krippen entfallen 36 Hektar. Die restliche Fläche (386 Hektar) wird von öffentlichen Promenaden, Parks, Gärten, den squares genannten begrünten Plätzen und von Blumenrabatten eingenommen. Die Stadt Paris besitzt darüber hinaus jenseits ihrer Grenzen sechs weitere Friedhöfe, den Wald Bois de Beauregard bei La Celle-Saint-Cloud.
Außer den städtischen Anlagen stehen den Bewohnern und Besuchern von Paris sieben vom Staat unterhaltene Gärten und Parks mit insgesamt 118 Hektar Fläche zur Verfügung.
Promenaden, Parks und Gärten
Der mit auffällig vielen Statuen geschmückte Tuileriengarten erstreckt sich am rechten Seineufer vom Louvre bis zur Place de la Concorde. Er erinnert an das frühere Schloss der Katharina von Medici, das nach ihr noch viele Herrscher bewohnen sollten, bis es 1871 während der Pariser Kommune zerstört wurde. In dem westlichen Bereich des Gartens befinden sich das ehemalige Ballhaus Jeu de Paume, in dem heute die Galerie nationale du Jeu de Paume untergebracht ist, und die zum Museum umfunktionierte frühere Orangerie.
Einer der beliebtesten städtischen Parks ist der im Jahre 1612 angelegte Jardin du Luxembourg im quartier Latin, der zum Palais du Luxembourg gehört. Der Garten umfasst streng geometrisch angelegte Partien, aber auch freier gestaltete Zonen. Im Jardin du Luxembourg befindet sich außerdem eine zwei Meter hohe Kopie der New Yorker Freiheitsstatue. An den Gittern des Parks sind regelmäßig Foto-Ausstellungen zu sehen.
Der Stadtwald Bois de Boulogne, an der westlichen Stadtgrenze bei Boulogne-Billancourt gelegen, ist mit einer Fläche von rund 8,5 Quadratkilometern das größte innerstädtische Erholungsgebiet. Dort befand sich von jeher eine große Waldfläche, der Bois de Rouvray. Bereits der Frankenkönig Dagobert I. kam im 7. Jahrhundert hierher, um zu jagen. 1848 übernahm der Staat den Wald und übertrug ihn 1852 der Stadt Paris. Im Zuge der Umgestaltung von Paris unter Napoleon III. durch Haussmann wurde der Wald unter der Leitung des Gartenarchitekten Jakob Ignaz Hittorff zu einem bewaldeten Park umgebaut. Es entstanden Wege und künstliche Wasserflächen. Fehlplanungen bewirkten, dass die künstlichen Seen nicht gefüllt werden konnten. Einige der Seen lagen am Hang. Hittorff wurde von Haussmann entlassen und durch den Ingenieur Jean-Charles Alphand und den Landschaftsgärtner Jean-Pierre Barillet-Deschamps ersetzt. Die beiden lösten das Wasserproblem durch die Schaffung künstlicher Wasserfälle (Kaskaden).
Der Bois de Vincennes ist der zweite, im Stil englischer Landschaftsgärten angelegte Pariser Stadtwald. Er war von jeher königliches Jagdrevier und beherbergte in früheren Zeiten ein Jagdschloss, das später durch eine Festung ersetzt wurde, die wir heute als Schloss Vincennes kennen. 1860 überließ Napoleon III. den Wald der Stadt Paris mit dem Auftrag, ihn ähnlich wie den Bois de Boulogne neu zu gestalten. Der Landschaftsarchitekt Jean-Charles Alphand ließ das Gelände aufforsten und mit künstlichen Hügeln und drei Seen versehen. Für die Olympischen Sommerspiele von 1900 wurden Sportanlagen gebaut und die Wege für diesen Zweck ausgebaut.
Der 1986 von dem Architekten Bernard Tschumi entworfene neue Stadtpark Parc de la Villette zählt mit 25 Hektar zu den größten Pariser Grünflächen. Er entstand auf dem Gelände des 1974 geschlossenen Schlachthofes von La Villette und wird von dem Canal de l’Ourcq durchquert. Bereits 1984 wurde das Zénith eröffnet, an dessen Gestaltung sich die später errichteten Gebäude orientierten. Sämtliche Elemente des Parks sind in futuristischem Stil gebaut. Der Park beherbergt, neben anderem, die Cité des sciences et de l’industrie (ein Technikmuseum, ähnlich dem schweizerischen Technorama), das kugelförmige IMAX-Kino Géode, die Cité de la musique, das Zénith und das Unterseeboot l’Argonaute.
Die bereits bestehenden Rauchverbote sollen 2019 auf 52 Parks ausgeweitet werden. Auf den 500 Spielplätzen gilt das Verbot bereits seit 2015.
Friedhöfe
Zu den Grünanlagen zählen in Paris auch die Friedhöfe. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts wurden außerhalb der damaligen Grenzen der Hauptstadt drei und in Paris ein neuer Friedhof angelegt: der Cimetière de Montmartre im Norden, der Cimetière du Père Lachaise im Osten, der Cimetière du Montparnasse im Süden sowie der Cimetière de Passy. Diese Friedhöfe sind aufgrund ihrer Stille und der Gräber vieler berühmter Persönlichkeiten beliebtes Ziel der Spaziergänger und Touristen.
Der Père Lachaise ist der größte Friedhof von Paris und einer der berühmtesten Friedhöfe der Welt. Er ist nach François d’Aix de Lachaise benannt, auf dessen Gärten der Friedhof errichtet wurde. Das Konzept des Père Lachaise wurde 1808 dem neoklassischen Architekten Alexandre-Théodore Brongniart anvertraut, der zu dieser Zeit Generaloberinspekteur der zweiten Sektion für Öffentliche Arbeiten im Département Seine und der Stadt Paris war. Brongniart entwarf die großen Achsen sowie Grabmonumente, von denen aber nur das für die Familie Greffulhe im neogotischen Stil verwirklicht wurde.
Durch das starke Bevölkerungswachstum im 19. Jahrhundert wurde der Platz auf den Friedhöfen in Paris (intra muros) knapp und es wurden mehrere Großfriedhöfe für die Pariser Bevölkerung in den Vorstädten (extra muros) angelegt, welche auch heute noch in Benutzung sind. Die wichtigsten von ihnen sind: Cimetière parisien de Bagneux, Cimetière parisien de Pantin, Cimetière parisien de Saint-Ouen, Cimetière parisien de Thiais und Cimetière parisien d'Ivry. Der größte Friedhof ist der Cimetière parisien de Pantin, der über 200.000 Gräber beherbergt, in denen bis heute weit über eine Million Menschen beigesetzt wurden.
Film
Paris kann auf eine lange und erfolgreiche Filmgeschichte zurückblicken. Pariser Unternehmer und Gesellschaften wie die Gebrüder Lumière, Pathé Frères oder Gaumont waren es, die den Film hinaus in die Welt trugen. So erfanden die Gebrüder Lumière im Jahre 1895 den Cinématographen, ein Gerät das sowohl Filme aufnehmen als auch abspielen konnte. Sie führten ihn am 22. März jenes Jahres erstmals vor. Die Aufführung in der Pariser Société d’encouragement pour l’industrie nationale gilt als eine der ersten Filmvorführungen der Welt. In der Folge bereisten die Lumières die größten Städte Europas, um ihre Erfindung zu verbreiten – mit Erfolg. In den folgenden Jahren machte sich rasch Konkurrenz in Paris breit. Die Pathé Frères stiegen bald zu einem der größten Filmproduzenten Europas auf und exportierten ihre Stummfilme weltweit. In den großen Städten Europas wurden Außenstellen und Kinos gegründet.
Aber auch Paris selbst war in vielen Filmen Drehort und Filmkulisse. Abgesehen von den zahlreichen Aufnahmen der Stummfilmzeit, oft dokumentarischer Natur, war die Stadt sowohl in inländischen, aber auch in ausländischen Spielfilmproduktionen zu sehen.
Sport
Sportveranstaltungen
Paris ist regelmäßiger Austragungsort bedeutender Großveranstaltungen. Hierzu zählen unter anderem die Zieletappe der Tour de France im Straßenradsport, der Marathon de Paris, das Grand-Slam-Turnier French Open (offiziell Tournoi de Roland Garros) im Tennis, das Meeting Areva (vormals Meeting Gaz de France) in der Leichtathletik, die Trophée Eric Bompard (früher Trophée Lalique) im Eiskunstlauf und das Sechs-Nationen-Turnier (Tournoi des Six Nations) im Rugby.
Im Pferdesport ist der Prix de l’Arc de Triomphe, ein Galopprennen über 2400 Meter für über dreijährige Rennpferde, neben dem Epsom Derby und dem Kentucky Derby eines der prestigeträchtigsten internationalen Pferderennen seiner Kategorie. Das Rennen wird seit dem 3. Oktober 1920 alljährlich am ersten Sonntag im Oktober ausgetragen. Eingeführt wurde es während einer Feier zum Ende des Ersten Weltkrieges.
Paris war Gastgeber der Olympischen Sommerspiele von 1900 und 1924. Darüber hinaus bewarb sich Paris für die Olympischen Sommerspiele von 1956, 1992, 2008 und 2012. Am 13. September 2017 wurden auf der Vollversammlung des Internationalen Olympischen Komitees in Lima die Olympischen Sommerspiele 2024 an Paris vergeben.
Sportstätten
Die Hauptstadtregion beherbergt zahlreiche Sportstätten von nationalem und internationalem Rang, darunter allein fünf moderne Stadien für durchschnittlich 42.000 Zuschauer.
Das Stade de France („Frankreich-Stadion“) liegt in Saint-Denis, einem Vorort nördlich von Paris. Das multifunktionelle und bis zu 80.000 Zuschauer fassende Nationalstadion von Frankreich wurde für die Fußball-Weltmeisterschaft 1998 erbaut und ging als Endspielort des ersten französischen Weltmeistertitels in die Geschichte ein. Sowohl die französische Fußballnationalmannschaft als auch die französische Rugby-Union-Nationalmannschaft tragen ihre Heimspiele im Stade de France aus, das zudem Austragungsort der jährlichen Finalpartien der Rugbyliga Top 14 ist. Im Stade de France fanden unter anderem die jeweiligen Finalspiele der Fußball-Weltmeisterschaft 1998, der Rugby-Union-Weltmeisterschaft 2007, der Fußball-Europameisterschaft 2016, sowie die Leichtathletik-Weltmeisterschaften 2003 statt. Das Finale der Rugby-Union-Weltmeisterschaft 2023 wird ebenfalls hier ausgetragen werden. Es ist auch als Olympiastadion für die Olympischen Sommerspiele 2024 vorgesehen.
Das Prinzenparkstadion (Parc des Princes) ist eine traditionelle Wettkampfstätte im Pariser Stadtkern, die überwiegend vom Fußballverein Paris Saint-Germain genutzt wird und für rund 49.000 Zuschauer konzipiert wurde. Es war das Endspielstadion der ersten Fußball-Europameisterschaft 1960 und der ersten Austragung des Europapokals der Landesmeister 1956. Seit dem Bau des neuen Nationalstadions hat der Prinzenparkstadion an Bedeutung verloren, gehört aber weiterhin zu den modernsten Stadien Europas. Die UEFA (Union des Associations Européennes de Football) verlieh der Sportstätte vier Sterne.
Unmittelbar neben dem Prinzenparkstadion wurde 2013 das moderne Jean-Bouin-Stadion (Stade Jean-Bouin) errichtet. Es bietet mehr als 20.000 Zuschauern Platz und dient dem renommierten Rugbyverein Stade Français Paris als Heimspielstätte. Darüber hinaus war es das Endspielstadion der Rugby-Weltmeisterschaft der Frauen 2014. In Nanterre, einem Vorort westlich von Paris, steht seit 2017 zudem die teilweise überdachte U Arena. Das unmittelbar hinter dem Grande Arche erbaute Multifunktionsgebäude nimmt rund 40.000 Zuschauer auf und dient vor allem dem traditionsreichen Rugbyverein Racing 92 als Heimspielstätte. Beide Bauwerke sind regelmäßig Austragungsorte verschiedener anderer Mannschaftssportarten.
Weitere nennenswerte Einrichtungen sind das 20.000 Zuschauer aufnehmende Sébastien-Charléty-Stadion (Stade Sébastien Charléty) im Pariser Stadtkern oder das Pariser Olympiastadion (Stade Olympique Yves-du-Manoir) in Colombes, einem Vorort nordwestlich von Paris, für etwa 10.000 Zuschauer. Es war unter anderem Austragungsort der Olympischen Sommerspiele 1924. Beide Stadien sind insbesondere Austragungsorte von Leichtathletikveranstaltungen und Partien kleinerer Fußball- oder Rugbyvereine.
Die Longchamp-Pferderennbahn (Hippodrome de Longchamp) ist die wichtigste Pferderennsportanlage in Paris. Das heutige Hippodrom wurde 1857 auf den Mauern der bei der Französischen Revolution zerstörten Abtei Longchamp errichtet. Neben Pferderennen wie dem Prix de l’Arc de Triomphe finden hier auch Springturniere und andere Sportveranstaltungen statt.
Regelmäßige Veranstaltungen
Im Januar findet in Paris die Internationale Modenschau Prêt-à-porter in Porte de Versailles und das Festival Présences (Festival zeitgenössischer Musik) mit zahlreichen Gratiskonzerten in der Maison de Radio France statt.
Der Februar, Monat des Valentinstages, steht Dank einer Initiative des Pariser Fremdenverkehrsamtes, an der sich geschulte Fremdenführer, Museen wie das Musée de la Vie Romantique (9. Arrondissement) sowie das Hôtel Scheffer-Renan und Gaststättengewerbe beteiligen, unter dem Motto „Paris Romantique“.
Im März startet im Parc floral de Paris beim Schloss Vincennes der Pariser Halbmarathon. Auch die Pariser Buchmesse ist im März. In Saint-Denis im Norden von Paris wird das Blues- und Jazzfestival Banlieues Bleues veranstaltet und im Juli das Festival Paris Cinéma.
Im April gehen über 30.000 Teilnehmer des Marathon de Paris auf der Avenue des Champs-Élysées an den Start. Gegen Ende April und Anfang Mai bietet Paris ein Schauspiel ganz besonderer Art: die von Ella Fitzgerald in dem Lied „April in Paris“ besungene Kastanienblüte.
Im Mai wird das renommierteste Pferderennen in Frankreich, das Grand Steeple-Chase de Paris im Hippodrome d’Auteuil und Ende Mai/Anfang Juni die French Open, das zweite Tennisturnier der Grand-Slam-Serie, im Roland-Garros-Stadion, ausgetragen. Von Anfang Mai bis in den Monat Juli werden seit einhundert Jahren alljährlich anlässlich eines Rosenzüchterwettbewerbes im Parc de Bagatelle die erlesensten Kreationen prämiert.
Am Sommeranfang, dem 21. Juni, wird die Fête de la Musique veranstaltet, die von Jack Lang initiiert wurde und nun in ganz Frankreich gefeiert wird: es gibt überall kostenlose Konzerte bekannter und weniger bekannter Bands. Ende Juni findet die Gay-Pride-Parade auf dem Place de la République und der Bastille sowie weiteren Veranstaltungsorten statt.
Die Festivitäten am 14. Juli, dem Nationalfeiertag, finden mit der Militärparade, die auf der Avenue des Champs-Élysées vom Arc de Triomphe beginnt und am Place de la Concorde endet, ihren Höhepunkt.
Während der französischen Sommerferien, in der ein großer Teil der Pariser Bevölkerung die Stadt verlässt, um in die Ferien zu fahren, findet seit dem Jahr 2002 die Veranstaltung Paris-Plages (deutsch: Strände in Paris) vom Quai du Louvre bis zur Pont de Sully, am Port de la Gare und am Bassin de la Villette statt. Damit soll den Daheimgebliebenen auf einigen Kilometern des für den Verkehr gesperrten Seineufers ein Stück Strandleben geboten werden. Diese Veranstaltung dauert meistens vier bis fünf Wochen von Mitte Juli bis Mitte August.
Im September öffnen an einem Wochenende zu den sogenannten „Journées du Patrimoine“ (Tage des Kulturerbes) sonst schwer zugängliche Pariser Paläste und Hôtels particuliers/private Stadtpaläste ihre Tore. Eine einmalige Gelegenheit, den Residenzen hoher Würdenträger einen Besuch abzustatten, wie beispielsweise dem Élysée-Palast oder dem Hôtel Matignon. In diesem Monat veranstaltet die Stadt Paris im Rahmen der Fête des Jardins de Paris in den Pariser Parks und Gärten kostenlose Konzerte, Ausstellungen so wie Theater- und Kinovorführungen. Die Theatersaison wird mit dem Festival d’Automne à Paris (Herbstfestival) eröffnet.
Im Oktober finden im ersten Herbstmonat auf dem Weinberg des Montmartrehügel zum Auftakt der Weinlese eine farbenfrohe Parade, zahlreiche Partys und Weinproben statt. Es gibt an einem Wochenende seit 2002 die Nuit Blanche („Lange Nacht der Kunst“) und alle zwei Jahre findet der Pariser Autosalon statt.
Anfang November empfiehlt sich der Besuch auf einem der nach Allerheiligen blumenüberladenen Friedhöfe.
Im Dezember wird im noblen Hôtel de Crillon der elegante Debütantinnenball Le Bal des débutantes (auch Crillon Ball genannt) veranstaltet. Allerdings werden hier nur Eingeweihte der High Society zugelassen. Wer sich keinen Zutritt zu verschaffen weiß, mag das einmalige Schauspiel der fabelhaft beleuchteten Champs-Élysées bewundern. Dort trägt von Mitte Dezember bis Mitte Januar jeder Baum eine Krone aus Lichterketten.
Das ganze Jahr hindurch steigt, vorbehaltlich günstigen Wetters, alle 15 Minuten der Eutelsat-Fesselballon vom Parc André-Citroën auf. Aus 150 Metern Höhe bietet seine Gondel jeweils 30 Passagieren einen umfassenden Rundblick über den Westen der Stadt.
Gastronomie
Die zeitlich ersten Restaurants weltweit im heutigen Sinn entstanden mit der Französischen Revolution in Paris, in der auch das alte Zunftrecht aufgehoben wurde, nach dem beispielsweise Suppenküchen und Pastetenbäcker streng getrennt waren. Namensgeber des Restaurants war der Wirt einer Suppenküche in Paris, Boulanger, der laut Eigenwerbung „göttliche Restaurants“, besonders stärkende bouillons, anbot. 1765 erstritt er sich die Genehmigung, trotz der Zunftregeln neben Suppen auch Hammelfüße mit Sauce zu servieren. Von da an nannte er sich „Restaurateur“ und seine bouillon wurde zum Namensgeber der Restaurants, die verschiedene Speisen anboten.
Vor der Revolution gab es in Paris noch weniger als hundert Restaurants, aber schon um 1800 waren es etwa 500 bis 600. Es wurde Sitte, dass sich zugezogene Abgeordnete, die oft wenig repräsentativ wohnten, und wohlhabend gewordene Bürger zu geschäftlichen Besprechungen und privaten Verabredungen im Restaurant trafen. Die Pariser Restaurants wurden mehrheitlich von Köchen und deren Brigaden betrieben, denen nach der Flucht ihrer adligen Arbeitgeber ins Ausland nichts anderes übrig blieb, als sich selbständig zu machen. Dabei brachten sie einen aufwändigen Kochstil mit, der Bürgerlichen bis dahin nicht zugänglich war. So verband sich die Haute Cuisine im Restaurant mit den informellen, die adlige Etikette geringschätzenden, bürgerlichen Umgangsformen. Heute gibt es in Paris Tausende von Restaurants, die dem Gast Speisen der französischen Küche wie auch internationale Gerichte anbieten.
Einzelhandel
Paris beherbergt eine Vielzahl an Kaufhäusern, Einkaufszentren und Märkten. Einige davon sind wegen ihres Prestiges, ihrer Tradition und ihrer Architektur weltbekannt. So gilt das Luxuskaufhaus Le Bon Marché auf der Rive gauche als das erste moderne Warenhaus der Welt. Ebenfalls weltbekannt sind die Galeries Lafayette, deren Pariser Stammhaus sich durch seine Jugendstilarchitektur auszeichnet. Die große Zentralhalle mit ihrer Glaskuppel ist ein Baumonument und Denkmal. Nur wenige Meter entfernt befindet sich am Boulevard Haussmann im 9. Arrondissement das Kaufhaus Printemps, dessen zentrale Halle gleichfalls über eine Jugendstil-Glaskuppel verfügt.
In der Nähe der Opéra Bastille liegt der Flohmarkt Marché d’Aligre. Das Angebot reicht von Kleidung, Obst, Keramik und Bildern bis zu Lebensmitteln und Blumen. Der Markt ist morgens, täglich außer montags geöffnet. Überwiegend Kleidung aus allen Bereichen, aber auch moderne Kunstgegenstände hat der Puces de la Porte de Montreuil nahe der Metrostation Porte de Montreuil im Angebot. Kleidung und Haushaltswaren kann man auf dem Marché aux puces de la Porte de Vanves nahe der Metrostation Porte de Vanves erwerben. Der Puces de Saint-Ouen-Clignancourt besteht aus einer Anzahl mehrerer Märkte, die miteinander verbunden sind. Einige der dortigen Händler haben sich auf hochwertige Kunstgegenstände spezialisiert, aber es werden vor allem preiswerte Artikel angeboten.
Das Le Louvre des antiquaires nahe dem Palais Royal und dem Louvre gehört zu den größten und bekanntesten Antiquitätengeschäften in Paris. In rund 250 Räumen und auf drei Etagen werden zahlreiche Waren aus der ganzen Welt angeboten. Neben Möbeln, Gemälden und Teppichen kann man Kristall, Waffen, Spielzeug, Uhren und Schmuck käuflich erwerben. Antiquarische und gebrauchte Bücher werden an den vielen Buchhändlerständen (bouquinistes) an der Seine verkauft.
Paris beherbergt zahlreiche Mode-Boutiquen, die auch Prêt-à-porter bekannter Modehäuser verkaufen. Haute Couture kann man bei Chanel in der Rue Cambon, bei Dior in der Avenue Montaigne und bei Christian Lacroix in der Rue du Faubourg Saint-Honoré sowie in der Avenue Montaigne erwerben. Laufstegmoden bekommt man bei Gianni Versace in der Rue des Saints-Pères, bei Jean Paul Gaultier in der Nähe der Metrostation Bourse und bei Cerruti 1881 nahe der Metrostation Madeleine. Elegante Kleidung einkaufen kann man auch in Saint-Germain, im Le Marais oder in der Galerie Vivienne (nahe Les Halles).
Sehenswürdigkeiten in der Umgebung
In La Défense, einem seit Ende der 1950er-Jahre in den westlichen Vororten Courbevoie, Nanterre und Puteaux entstandenen Büro- und Geschäftsviertel, in dem Wolkenkratzer dominieren, befindet sich als westliche Fortführung der berühmten Pariser Achse die sogenannte Grande Arche. Der 110 Meter hohe Kubus ist ein Entwurf des Architekten Johan Otto von Spreckelsen, der von Paul Andreu ausgeführt wurde. Er bildet den westlichen Ausgangspunkt der axe historique, die zusammen mit dem Arc de Triomphe und dem Arc de Triomphe du Carrousel beim Louvre eine Gerade bildet. Die Einweihung erfolgte mit dem Gipfeltreffen der Staatschefs der G7 am 14. Juli 1989 zur 200-Jahr-Feier der Französischen Revolution. Das Gebäude dient dem französischen Handels- und Verkehrsministerium als Sitz.
Das Schloss Fontainebleau in dem gleichnamigen Ort 65 Kilometer südlich von Paris wurde im 16. Jahrhundert unter Franz I. und Heinrich II. an der Stelle eines Jagdschlosses gebaut. Der Architekt war Philibert de l’Orme (1510–1570). Es ist vor allem für seine Renaissanceausstattung berühmt.
Das Schloss Versailles, welches zu den größten Schlossanlagen Europas zählt, liegt in der westlich von Paris gelegenen Stadt Versailles und war Vorbild vieler europäischer Königs- und Fürstenschlösser. Für die Vergrößerung des Jagdschlosses Ludwigs XIII. zog Ludwig XIV. im Jahre 1661 den Architekten Le Vau, den Hofmaler Le Brun und den Gartenarchitekten Le Nôtre heran. Den mittleren Flügel der insgesamt 750 m langen barock-klassizistischen Gartenfront nehmen die vielbewunderte Spiegelgalerie „Galerie des Glaces“ sowie die Ecksalons des Krieges und des Friedens ein. An diese schließen sich im Norden das Staatsgemach des Königs, im Süden das Gemach der Königin an. Beachtung verdienen weiter das zweite Schlafzimmer des Königs im Mittelpunkt des Schlosses, die Kapelle, die Oper, und die erst im 19. Jahrhundert ausgestattete Schlachtengalerie.
Die Basilika Saint-Denis ist eine ehemalige Abteikirche in der Stadt Saint-Denis nördlich von Paris und die Grabstätte der französischen Monarchen, welche seit dem Ende des 10. Jahrhunderts nahezu alle hier begraben liegen. Schon im 5. Jahrhundert stand hier über dem Grab des Dionysius von Paris ein Kloster, das im 7. Jahrhundert unter Dagobert I. zur Abtei erweitert wurde. In dem ab 1136 erneuerten Chor wurde 1142 das Kreuzrippengewölbe erfunden. Damit wurde die Basilika das erste gotische Gebäude der Welt. Die Kirche hat seit 1966 den Status einer Kathedrale.
Das Disneyland Resort Paris in der Planstadt Marne-la-Vallée, etwa 30 Kilometer östlich von Paris, ist ein 19,43 Quadratkilometer großer Freizeitkomplex mit zwei Themenparks – dem Disneyland Park und dem Walt Disney Studios Park – einem Golfplatz, Vergnügungs- und Einkaufszonen, zehn Hotels und einem Stellplatz für Wohnmobile.
Wirtschaft und Infrastruktur
Laut einer Studie aus dem Jahr 2014 erwirtschafte der Großraum Paris ein Bruttoinlandsprodukt von 715 Milliarden US-Dollar (KKB). In der Rangliste der wirtschaftsstärksten Metropolregionen weltweit belegte er damit den 6. Platz.
In einer Rangliste der Städte nach ihrer Lebensqualität belegte Paris im Jahre 2018 den 39. Platz unter 231 untersuchten Städten weltweit.
Wirtschaft
Paris ist das bedeutendste Wirtschaftszentrum Frankreichs. In der Metropolregion Paris hat sich etwa ein Viertel der Produktionsbetriebe des Landes niedergelassen. Durch den riesigen Absatzmarkt, den die Stadt bietet, übt sie von jeher große Anziehungskraft auf Hersteller von Konsumgütern aus. Paris ist bekannt für die Produktion von Luxusgütern (Haute Couture und Schmuck). Zu den wichtigsten Erzeugnissen der Stadt zählen chemische Produkte, Elektrogeräte, Kraftfahrzeuge und Maschinen.
Fast alle großen Dienstleistungsunternehmen Frankreichs, insbesondere Banken und weitere Unternehmen des Finanzwesens, haben ihren Sitz in Paris. Seit den 1990er-Jahren werden vermehrt Anstrengungen unternommen, multinationale Konzerne anzusiedeln. Die Stadt ist heute eine der wichtigsten Handelsmetropolen in Europa.
Ein nicht zu unterschätzender Vorteil ist die Lage der Stadt inmitten einer der fruchtbarsten Agrarlandschaften in Europa. Die Landwirtschaft war deshalb schon in den früheren Jahrhunderten die bedeutendste Wirtschaftsgrundlage der Region und sicherte die Nahrungsmittelversorgung der Bevölkerung in der Stadt. Heute hat Paris den bedeutendsten Großmarkt der Welt für Lebensmittel, den Großmarkt Rungis.
Die Hauptstadtregion hat dank der starken Konzentration nationaler und internationaler Unternehmen einen Anteil von etwa einem Drittel am Bruttoinlandsprodukt (BIP) des Landes. Sie gehört zu den wohlhabendsten Regionen Europas. Ein Problem ist die Arbeitslosigkeit, die in etwa dem nationalen Durchschnitt entspricht. Seit Anfang der 1990er-Jahre verlor Paris rund eine viertel Million Arbeitsplätze. Ein Grund ist der Abbau von Arbeitsplätzen in der Industrie und die Verlagerung wirtschaftlicher Aktivitäten in benachbarte Gemeinden wie das Geschäftszentrum La Défense.
Die meisten französischen Fernseh- und Radiosender sowie die größten Medienkonzerne des Landes (Vivendi, Groupe Lagardère, TF1) haben ihren Sitz in Paris. Die Stadt ist Erscheinungsort international bedeutender Tageszeitungen (Le Figaro, Le Monde, Libération) und bedeutendstes internationales Zentrum des Verlagswesens.
Der Tourismus spielt eine besondere Rolle. Die Region Paris ist mit 42 Millionen Besuchern im Jahr das zahlenmäßig bedeutendste Ziel weltweit, davon besuchen 35 Millionen die Stadt Paris. Luxushotels berechneten 2011 durchschnittlich etwa den dreifachen Preis, der in Berlin gezahlt wird. Ausländische Touristen brachten 2016 Einnahmen in Höhe von 12,9 Milliarden US-Dollar.
In einer Rangliste der wichtigsten Finanzzentren weltweit belegte Paris im Jahr 2018 den 24. Platz.
Verkehr
Fernverkehr
Paris ist über ein Netz von Autobahnen und Schnellstraßen mit dem ganzen Land verbunden. Eine bedeutende Rolle spielt dabei der Boulevard périphérique (Le Périph’). Diese achtspurige Stadtautobahn leitet den Verkehr rund um Paris und in die Stadt hinein. Fast alle wichtigen französischen Autobahnen führen auf Paris zu und münden aus allen Richtungen in den Boulevard périphérique: Die A 1 aus Lille, die A 4 aus Reims, die A 5 aus Dijon, die A 6 aus Lyon, die A 77 aus Nevers, die A 10 aus Orléans, die A 13 aus Rouen und die A 16 aus Amiens.
Paris besitzt den zweitgrößten Binnenhafen in Europa und ist Knotenpunkt des Eisenbahn- und Straßenverkehrsnetzes in Frankreich. Am Stadtrand befinden sich vier internationale Flughäfen. 69,5 Millionen Passagiere sind im Jahre 2017 auf dem Roissy-Charles de Gaulle abgefertigt worden – dies war die zweithöchste Zahl aller Flughäfen in Europa. Mit 32,0 Millionen Passagieren nimmt Orly den dreizehnten Platz ein. Der dritte Flughafen Paris-Beauvais befindet sich außerhalb des eigentlichen Großraums und wird überwiegend von Billigfluggesellschaften angeflogen. Der vierte Flughafen Paris-Le Bourget wird nur für den Geschäftsflugverkehr genutzt. Er ist der größte seiner Art in Europa. Insgesamt fertigten die vier Pariser Flughäfen im Jahr 2017 etwa 106 Millionen Passagiere ab. Damit zählt Paris neben London und New York zu den großen Luftdrehkreuzen weltweit. Darüber hinaus befindet sich in einiger Entfernung zu Paris der Flughafen Paris-Vatry, der hauptsächlich von Billigfluggesellschaften angeflogen wird.
Die bedeutenden Eisenbahnstrecken in Frankreich beginnen in Paris. In Richtung Lille im Norden, Rennes und Bordeaux im Westen, Lyon und Marseille im Süden sowie Straßburg im Osten gibt es Hochgeschwindigkeitsstrecken, die vom TGV bedient werden. Außerdem gelten die Strecken des Eurostar nach London und des Thalys nach Köln und Amsterdam über Brüssel als bedeutende europäische Verbindungen. ICE und TGV verkehren seit 2007 über Saarbrücken nach Frankfurt am Main sowie nach Stuttgart und München.
Die wichtigsten Personenbahnhöfe sind Gare d’Austerlitz, Gare de l’Est, Gare de Lyon, Gare Montparnasse, Gare du Nord und Gare Saint-Lazare. Dem Eisenbahngüterverkehr dienen unter anderem die Rangierbahnhöfe Le Bourget im gleichnamigen politisch selbständigen Vorort und Vaires, die durch die Große Ringbahn (Grande Ceinture) mit den von beziehungsweise nach Paris führenden Eisenbahnstrecken verbunden sind.
Die Stadt wird von den Pariser Kanälen durchzogen.
Nahverkehr
Der Verkehr in Paris wird überwiegend über die U-Bahn abgewickelt. Die Métro Paris ist nach London (1863), Glasgow und Budapest (beide 1896) die viertälteste U-Bahn Europas. Die erste Métrolinie wurde am 19. Juli 1900 eröffnet. Das Pariser U-Bahn-Netz besteht aus 16 Linien (14 vollwertige und zwei Ergänzungslinien) und ist mit 219,9 Kilometern Gesamtlänge eines der größten Netze der Welt. Die Métro wird täglich von rund 5 Millionen Menschen genutzt.
Ergänzend zum Métro-Netz gibt es das Réseau Express Régional (RER), dessen Züge Paris mit den Vororten (Banlieues) verbinden. Zum RER-Netz gehören die Linien A bis E, die auf den zentralen Streckenabschnitten Zugfolgen von bis zu zwei Minuten erreichen.
Das jetzige RER hat seine Ursprünge in den von der staatlichen französischen Eisenbahngesellschaft SNCF oder ihren Vorgängern stillgelegten Vorortbahnen, von denen eine Linie (der heutige südliche Abschnitt des RER B) schon 1937 von der Pariser Métro übernommen wurde. Von 1862 an bestand auch ein Personenverkehrsangebot auf einer Ringbahn entlang der Thiersschen Stadtbefestigung, dem (deutsch „kleine Gürtelbahn“), die auch für den Güterverkehr genutzt wurde. Der Personenverkehr auf der wurde 1934 zugunsten von Omnibuslinien eingestellt.
Der weitere Großraum Paris wird von dem Nahverkehrssystem Transilien bedient. Dieses unterscheidet sich von den RER-Zügen unter anderem darin, dass die Transilien-Linien nicht die Stadt unterqueren, sondern in den großen Zentralbahnhöfen enden. Das gesamte Nahverkehrsnetz erschließt sich dem Touristen durch das Ticket Paris Visite oder die günstigeren Tageskarten Mobilis.
Am 21. November 1853 fuhren in Paris die ersten Pferdestraßenbahnen, es waren die ersten in Europa. Mit der Elektrifizierung des Straßenbahnnetzes begann man am 6. November 1881. Der Betrieb wurde am 14. August 1938 eingestellt. Nach 54 Jahren Unterbrechung verkehrt seit dem 6. Juli 1992 wieder eine Straßenbahn durch die Vororte, seit dem 16. Dezember 2006 verkehrt mit der neu gebauten Linie T3 die Straßenbahn auch wieder in Paris selbst. In den letzten Jahren wurden mehrere Neubaustrecken eröffnet und bestehende Strecken erweitert. Heute (Dezember 2014) befahren die insgesamt neun Linien ein 105 Kilometer langes Streckennetz mit 183 Stationen.
Die neue Linie T3 führt entlang der Boulevards des Maréchaux in zwei Abschnitten von der Seine-Brücke Pont du Garigliano im Südwesten bis zur Porte de Vincennes im Osten von Paris und von dort zur Porte de la Chapelle im Norden der Stadt. Die seit der Verlängerung im Dezember 2012 gut 22 Kilometer lange Strecke ist überwiegend als Rasengleis ausgeführt und für 270.000 Fahrgäste pro Tag ausgelegt. Zugleich mit dem Streckenbau wurden die Straßen entlang der Strecke architektonisch neu gestaltet, eine Auflage der Pariser Behörden. Dazu gehören auch zahlreiche neu gepflanzte Bäume, Freiluftkunstwerke und neu gestaltete Fahrrad- und Fußwege.
Paris ist auch von einem dichten Netz aus Buslinien durchzogen. Die Busse mit den dreistelligen Nummern fahren in die Vororte, die Busse mit zweistelligen Nummern verkehren nur innerhalb der Stadt. Die meisten Omnibusse fahren zwischen 6:30 Uhr und 20:30 Uhr, die wichtigsten Linien länger bis etwa 1 Uhr nachts. Die Nachtbusse Noctilien verkehren täglich die ganze Nacht.
Trolleybusse fuhren zum ersten Mal während der Weltausstellung in Paris zwischen April 1900 und November 1900, ein weiteres Mal zwischen 1912 und 1914 sowie nach einer Unterbrechung durch den Ersten Weltkrieg von April 1925 bis Juli 1935. Nach einer siebeneinhalbjährigen Pause wurde der Betrieb noch während des Zweiten Weltkrieges im Januar 1943 wieder aufgenommen und im April 1966 endgültig eingestellt.
Seit 2007 gibt es ein flächendeckendes Netz von Fahrradmietstationen mit Velib'. 2010 umfasste das System über 20.000 Fahrräder an 1202 Stationen in Paris und einigen Gemeinden im Umland der französischen Hauptstadt und galt als das größte seiner Art weltweit. Seit der Einführung von Vélib spielt Radverkehr erstmals seit vielen Jahrzehnten eine signifikante Rolle im Pariser Stadtverkehr; diese wurde seither von einer Vielzahl von privaten, stationslosen Fahrradverleihsystemen ergänzt.
Seit 2016 gibt es einen Sharing-Service mit Elektromotorrollern, seit 2018 eine Vielzahl von konkurrierenden E-Tretroller-Verleihsystemen. Bei einer Bürgerbefragung am 2. April 2023 haben sich 89 Prozent der Stimmenden (bei einer Stimmbeteiligung von nur 7,46 %) gegen einen Weiterbetrieb der E-Tretroller-Verleihsysteme ausgesprochen. Die Lizenzen laufen im August 2023 aus.
Luftqualität
Paris weist eine hohe Luftverschmutzung auf, die neben der Industrie und Haushalten vom Verkehr stammt. Die durchschnittliche Konzentration an Feinstaub (PM10) beträgt 38 Mikrogramm pro Kubikmeter. Der Grenzwert von 80 Mikrogramm pro Kubikmeter wurde 2015 in manchen Stadtteilen häufig überschritten.
Die Stadtverwaltung erließ mehrere Maßnahmen, darunter sowohl zeitlich beschränkte als auch dauerhafte, um die Luftverschmutzung zu verringern und den Kraftverkehr zu reduzieren: Bereits im Jahr 2013 wurde die südliche Seineuferstraße im Bereich der Innenstadt für den Autoverkehr gesperrt und in eine Fußgängerzone umgewandelt, im September 2016 folgte die nördlichen Uferstraße. Im Oktober 2015 ordnete die Bürgermeisterin, Anne Hidalgo, einen autofreien Tag für einen kleinen Teil der Innenstadt an. Seit Mai 2016 werden die Champs-Elysées am jeweils ersten Sonntag des Monats für den Kraftverkehr gesperrt. 2016 wurden am Wochenende nach dem weltweiten autofreien Tag, dem 22. September, über 640 Kilometer für motorisierten Verkehr gesperrt.
Anfang Dezember 2016 bewegten wochenlange hohe PM10-Werte über 80 Mikrogramm pro Kubikmeter, die zu Einschränkungen in der Nutzung von privaten Personenkraftwagen in Paris und den Nachbargemeinden führten: über mehrere Tage wurde u. a. wechselweise das Fahren von Autos mit geraden bzw. ungeraden Kennzeichenzahlen verboten und die kostenfreie Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel eingeführt.
Seit Sonntag, 15. Januar 2017, wurde eine Umweltzone in der Innenstadt, die Zone à circulation restreinte, eingerichtet, die auch für Fahrzeuge aus dem Ausland gilt. Ausgenommen ist die Stadtautobahn Boulevard périphérique. Die erforderliche Plakette ist nach Schadstoffklassen gestaffelt und erlaubt differenziertere Fahrverbote je nach Belastung. Hidalgo beabsichtigt die Zahl der Personenkraftwagen langfristig zu halbieren um damit vor allem die Luftqualität bezüglich Stickstoffdioxid und der Feinstaubwerte zu verbessern. Die Halbierung der Verkehrs soll durch die Verbannung des Durchgangsverkehrs erreicht werden, welcher rund die Hälfte des aktuellen Verkehrsaufkommens ausmacht. Per 30. August 2021 wurde auf den meisten Straßen Tempo 30 eingeführt. Seit dem 1. September 2022 müssen Zweiräder mit Verbrennungsmotor Parkgebühren zahlen, was bis dahin nicht der Fall war.
Wissenschaft und Bildung
Die Gegensätze zwischen Paris und dem Rest des Landes werden besonders im Bereich Bildung deutlich, da die angesehensten Bildungsstätten Frankreichs sich in Paris befinden.
Die besten Grandes écoles Frankreichs haben ihren Sitz in Paris, darunter die École polytechnique (eröffnet 1794), École des hautes études commerciales de Paris (HEC), Sciences Po Paris, die École normale supérieure (ENS) sowie die École des hautes études en sciences sociales (EHESS). Die Eliteverwaltungsschule École nationale d’administration (ENA) ist jedoch nach Straßburg ausgelagert worden. Édith Cresson setzte als Premierministerin 1992 gegen erhebliche Widerstände die Verlegung durch. Über zehn Jahre hinweg lief der Betrieb der ENA zugleich in Paris und in Straßburg ab, bevor 2005 der Umzug der gesamten Schule dorthin abgeschlossen wurde, das ehemalige ENA-Gebäude in Paris wird nun von Sciences Po Paris genutzt.
Weitere höhere Bildungseinrichtungen sind das im Jahre 1530 eröffnete Collège de France, das Institut catholique (1875) und die École du Louvre (1882). Die 1257 gegründete Sorbonne ist die älteste Universität in Frankreich und geht auf Gründungen um 1200 zurück. Die Gründung als Theologenschule wird auf Robert von Sorbon (1201–1274), den Hofkaplan Ludwigs des Heiligen, zurückgeführt; die Bestätigungsbulle Clemens’ IV. datiert von 1268. Ursprünglich ein Alumnat für arme Studenten der Theologie, gelangte die Sorbonne (welchen Namen die Anstalt erst seit dem 14. Jahrhundert erhielt) durch berühmte Lehrer, welche an ihr wirkten, sowie durch reiche Ausstattung gegenüber anderen ähnlichen Kollegien zu immer größerem Ansehen. Im Jahre 1968 wurde die Universität von Paris durch eine umfassende Reform in 13 unabhängige Teile aufgegliedert. Fünf von ihnen liegen außerhalb der Stadt. (Siehe: Liste der Universitäten in Frankreich)
Die Académie française ist eine der ältesten Institutionen Frankreichs im Bereich des geistigen Lebens und zugleich die prestigereichste. Sie residiert seit 1801 im Collège des Quatre-Nations gegenüber dem Louvre; dort hat auch der auf Lebenszeit gewählte und wohlbeamtete Secrétaire perpétuel seine Dienstwohnung. Die Académie française ist hervorgegangen aus einem Pariser Literatenzirkel, der sich seit 1629 bei dem heute praktisch unbekannten Autor Valentin Conrart traf und 1634 durch den regierenden Minister Kardinal de Richelieu auf 34 Mitglieder aufgestockt und am 2. Januar 1635 durch Ludwig XIII. zu einer staatlichen Institution erhoben wurde. Die von Richelieu vorgesehenen Statuten und Regelungen wurden 1637 vom Obersten Pariser Gerichtshof, dem Parlement de Paris, registriert und damit rechtskräftig. Seit dem Jahre 1803 gehört die Akademie dem Institut de France an.
Bibliotheken in Paris
Von den zahlreichen Bibliotheken in Paris ist die Französische Nationalbibliothek (Bibliothèque nationale de France) die größte. Sie wurde 1368 von König Karl V. auf Basis seiner persönlichen Bibliothek im Louvre gegründet und umfasste zu Beginn 911 Manuskripte. Damals war es allerdings üblich, die Dokumente des Königs nach seinem Tod zu vernichten, so dass die eigentliche Bibliothekssammlung erst mit König Ludwig XI. aufgebaut wurde, der mit diesem Brauch brach. Am 14. Juli 1988 kündigte der französische Staatspräsident François Mitterrand den Neubau des Bibliotheksgebäudes an, der im Dezember 1990 begann. Die neue Bibliothek wurde nach Plänen des Architekten Dominique Perrault entworfen und am 20. Dezember 1996 der Öffentlichkeit übergeben. Die moderne Bibliothek enthält alle Publikationen, die in Frankreich verlegt werden, und umfasst mehr als zehn Millionen Bände.
Persönlichkeiten
Ehrenbürger
Nach der Ernennung des Malers, Grafikers und Bildhauers Pablo Picasso zum Ehrenbürger der Stadt Paris im Jahr 1971 wurden bis zum Jahr 2003 keine derartigen Ehrungen mehr vorgenommen. Seither wurden zu Ehrenbürgern ernannt: der US-amerikanische Journalist und schwarze Politaktivist Mumia Abu-Jamal (2003), die französisch-kolumbianische Kämpferin gegen Korruption und kolumbianische Präsidentschaftskandidatin Íngrid Betancourt (2003), die birmanische Politikerin und Friedensnobelpreisträgerin Aung San Suu Kyi (2004), die nigerianische Rechtsanwältin und Bürgerrechtlerin Hauwa Ibrahim (2006). Darüber hinaus ernannte der Stadtrat im Jahr 2008 den chinesischen Bürgerrechtler Hu Jia, den Dalai Lama, die bangladeschische Frauenrechtlerin Taslima Nasrin und Gilad Shalit zu Ehrenbürgern, im Jahr 2010 die iranische Menschenrechtsaktivistin Schirin Ebadi, im Jahr 2011 den iranischen Filmregisseur Jafar Panahi und den brasilianischen Umweltschutzaktivisten Raoni Metuktire.
Söhne und Töchter der Stadt
→ In Paris geborene Persönlichkeiten
Paris war Geburtsort zahlreicher bekannter Persönlichkeiten. Dazu gehören unter anderen der französische Premierminister und Staatspräsident Jacques Chirac, der französische Staatspräsident Nicolas Sarkozy, der Komponist Georges Bizet, die Schriftstellerin, Philosophin und Feministin Simone de Beauvoir, die Filmregisseure Claude Chabrol, Jean-Luc Godard, Roman Polański und François Truffaut, der Pädagoge, Historiker und Sportfunktionär Pierre de Coubertin, der Chansonnier, Komponist und Schriftsteller Serge Gainsbourg, der Präfekt und Stadtplaner Georges-Eugène Haussmann, die Chemikerin und Nobelpreisträgerin Irène Joliot-Curie, die Malerin Adélaïde Labille-Guiard, der Maler Édouard Manet, die Schauspielerin Sophie Marceau, der Maler Claude Monet, die Chansonsängerin Édith Piaf, die Schriftstellerin George Sand sowie die Sängerin und Schauspielerin Caterina Valente.
Persönlichkeiten, die vor Ort gewirkt haben
→ Bekannte Einwohner von Paris
Zu den Persönlichkeiten, die in Paris gewirkt haben, gehören unter anderem die US-amerikanisch-französische Tänzerin, Sängerin und Schauspielerin Josephine Baker, der Schriftsteller Honoré de Balzac, der polnische Komponist Frédéric Chopin, die Schauspielerin Marlene Dietrich, der Metallbauingenieur Gustave Eiffel, der deutsche Schriftsteller Heinrich Heine, der US-amerikanische Sänger und Lyriker Jim Morrison von der Rockgruppe The Doors, der deutschstämmige französische Komponist Jacques Offenbach und die irisch-englischen Literaten Oscar Wilde und James Joyce. Der spätere Nobelpreisträger Ernest Hemingway lebte von 1921 bis 1928 in Paris. Seine Erlebnisse sind vor allem in dem Buch Paris – Ein Fest fürs Leben veröffentlicht. Auch viele bedeutende bildende Künstler wirkten in Paris, etwa Marc Chagall und Pablo Picasso, der über 40 Jahre lang dort lebte.
Seit den 1950er-Jahren war Paris ein Anziehungspunkt für afroamerikanische Jazzmusiker, die sich dort wesentlich freier bewegen konnten als in den damals noch von der Rassensegregation beherrschten Vereinigten Staaten: Sidney Bechet zog es nach Frankreich, „weil es näher an Afrika liegt“. Bei den Jazzfestivals 1948 in Nizza und Paris triumphierte der junge Miles Davis, der an der Seine Juliette Gréco kennen und lieben lernte. Paris beflügelte nicht nur ihn, sondern auch Bud Powell, Idrees Sulieman oder Benny Waters. Regisseure wie Louis Malle („Fahrstuhl zum Schafott“) und Roger Vadim experimentierten in den 1950er-Jahren mit spontan zur Leinwand improvisierten Jazz-Soundtracks. Ende der 1960er emigrierten Musiker wie Anthony Braxton, das Art Ensemble of Chicago oder Frank Wright an die Seine, wo heute (Stand 2007) noch David Murray mit Valérie Malot lebt.
Siehe auch
Liste der Brandkatastrophen in der Île-de-France
Liste der Hochhäuser in der Île-de-France
Literatur
Hanno Ballhausen: Chronik der Metropolen. Paris. Wissen Media, Gütersloh 2004, ISBN 3-577-14599-4.
Jean-Pierre A. Bernard: Les deux Paris: les représentations de Paris dans la seconde moitié du XIXe siècle. Champ Vallon, Seyssel 2001, ISBN 2-87673-314-5.
Louis Chevalier: L’Assassinat de Paris, Calmann-Lévy, Collection Archives des sciences sociales, 1977, Neuauflage Ivrea 1997 (Englische Übersetzung The Assassination of Paris, University Of Chicago Press, 1994)
Jean Firges: Die Stadt Paris. Geschichte ihrer Entwicklung und Urbanisation. Sonnenberg, Annweiler 2002, ISBN 3-933264-00-6. (Kulturgeschichtliche Reihe, Band 3)
Leonhard Fuest: Die schwarzen Fahnen von Paris. Die »Stadt der Liebe« im Licht der Melancholie. Corso, Hamburg 2010, ISBN 978-3-86260-003-8.
Ursula von Kardorff: Adieu Paris! Streifzüge durch die Stadt der Bohème. Kindler Verlag, München 1974, ISBN 3-463-00590-5.
Herbert R. Lottman: Der Fall von Paris 1940. Piper, München 1994, ISBN 3-492-03531-0.
Giovanna Magi, Rita Bianucci, Hubert Bressonneau: Kunst und Geschichte von Paris und Versailles. Besichtigung aller bedeutenden Monumente und Museen. Konrad Theiss Verlag, Stuttgart 2002, ISBN 3-8062-1697-5.
Gerhard Sälter: Polizei und soziale Ordnung in Paris. Verlag Vittorio Klostermann, Frankfurt 2004, ISBN 3-465-03298-5.
Klaus Schüle: Paris. Die politische Geschichte seit der Französischen Revolution. Gunter Narr (Narr-Francke-Attempto), Tübingen 2005, ISBN 3-8233-6183-X.
Fritz Stahl: Paris. Eine Stadt als Kunstwerk. Rudolf Mosse Buchverlag, Berlin 1928, .
Karlheinz Stierle: Der Mythos von Paris: Zeichen und Bewusstsein der Stadt, Carl Hanser, München 1993 (auch suhrkamp taschenbuch 5086, Berlin 2021)
Karlheinz Stierle: Paris denken – Penser Paris: Deutsch-französische Annäherungen (suhrkamp taschenbuch), Berlin 2021
Georg Stefan Troller: Mein Paris. Überarb. Ausgabe. Fischer, Frankfurt 1973, ISBN 3-436-01723-X.
Georg Stefan Troller: Dichter und Bohemiens. Literarische Streifzüge durch Paris. Artemis & Winkler, Düsseldorf 2003, ISBN 3-538-07149-7.
Richard Wunderer: Paris. Sittengeschichte einer Weltstadt. Weltspiegel, Stuttgart 1967, .
Weblinks
Webpräsenz der Stadt Paris (mehrsprachig)
Webpräsenz des Fremdenverkehrsbüros von Paris (mehrsprachig)
Einzelnachweise
Ort in der Île-de-France
Französisches Département
Präfektur in Frankreich
Hauptstadt in Europa
Hauptstadt in der EU
Hauptstadt einer französischen Region
Millionenstadt
Ort an der Seine
Hochschul- oder Universitätsstadt in Frankreich
Mitglied der Ehrenlegion (Stadt)
Träger des Ordre de la Libération
Träger des Croix de guerre 1914–1918 (Ort in Frankreich)
Namensgeber für ein chemisches Element
Ortsname keltischer Herkunft
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Q90
| 6,880.749746 |
74730
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https://de.wikipedia.org/wiki/Coca-Cola
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Coca-Cola
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Coca-Cola, kurz Coke, ist ein koffein- und kohlensäurehaltiges Erfrischungsgetränk der Coca-Cola Company. Sie ist die umsatzstärkste Cola-Marke. Der Coca-Cola-Schriftzug ist eine weltweit geschützte Wortmarke.
Geschichte
Coca-Cola wurde von John Stith Pemberton am 8. Mai 1886 durch einen Zufall erfunden, denn eigentlich wollte er einen Sirup herstellen, welcher Kopfschmerzen lindern sollte. Kurz vor dem Tod des Erfinders erwarb der Apothekengroßhändler Asa Griggs Candler für 2.300 US-Dollar die Rechte an Coca-Cola. 1892 gründete er The Coca-Cola Company. Ein Jahr später ließ Candler Coca-Cola als Marke schützen und vermarktete das Produkt in den USA und seit 1896 im benachbarten Ausland.
Neben dem Hauptsitz in Atlanta entstanden in dieser Zeit Zweigstellen in Los Angeles, Chicago, Philadelphia, New York und Dallas. 1904 ließ Candler den nach ihm benannten Turm als Firmensitz errichten, das erste Gebäude in Atlanta, das höher als der Kirchturm war. In sein Fundament ließ er eine Kupferkassette mit seinem Bildnis und einer Coca-Cola-Flasche ein.
1917 zog sich Candler aus der Firma zurück und wurde Bürgermeister von Atlanta. Im Januar übergab Asa Candler die Führung des Geschäfts an seinen Sohn Howard. Weihnachten 1917 vermachte Asa Candler seinen Verwandten 90 Prozent der stimmberechtigten Aktien bis auf sieben Stück. Jedoch schon 1919 verkaufte Howard Candler hinter dem Rücken des Vaters die Coca-Cola Company an ein Konsortium um Ernest Woodruff und Eugene Stetson für 25 Millionen US-Dollar weiter.
Die neuen Eigentümer stellten die Coca-Cola-Familie 1920 vor eine Zerreißprobe, da sie die Verträge der Stammabfüller kündigen wollten. Diese hatten zwar am Anfang das volle unternehmerische Risiko getragen und unbefristete Verträge erhalten, delegierten aber inzwischen das eigentliche Abfüllen an die „Abfüller der ersten Stufe“ weiter und verdienten damit ihr Geld. Das Gericht erklärte die Verträge aber für rechtsgültig und somit unbefristet. In den 1930er-Jahren indes begann die Coca-Cola Company langsam, die Anlagen der Stammabfüller aufzukaufen.
1923 trat Robert W. Woodruff, der Sohn von Ernest Woodruff, seinen Job als neuer Präsident der Coca-Cola Company an. Unter seiner Führung sollte die Firma das werden, was ein Journalist später das „sublimierte Wesen Amerikas“ nennen sollte. Sein Ziel war es, dass Coca-Cola nie mehr als „eine Armeslänge von der Lust“ entfernt sein dürfe, und es weltweit zu verbreiten, wofür er 1926 das Foreign Sales Department – später The Coca-Cola Export Corporation – gründete.
In Deutschland wurde Coca-Cola zuerst 1929 in der „Essener Vertriebsgesellschaft für Naturgetränke“ abgefüllt. Im ersten Jahr wurden 5.840 Kisten verkauft, 1939 waren 50 Fabriken mit einem Jahresabsatz von 4,5 Millionen Kisten in Betrieb. Während des Zweiten Weltkriegs kam die Produktion von Coca-Cola aufgrund mangelnder Rohstoffe zum Erliegen. In dieser Zeit wurde in Essen Fanta entwickelt, welche anfangs auf Molkebasis hergestellt wurde. In der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg wurde Coca-Cola auch in Deutschland und Österreich als Besatzerbrause bezeichnet und wurde anfangs so als Symbol der Besetzung benutzt. 1957 übernahm Max Schmeling als Konzessionär eine Abfüllung in Hamburg. 1967 wurden in der Bundesrepublik erstmals insgesamt 100 Millionen Kisten Coca-Cola innerhalb eines Jahres verkauft.
In Deutschland wurde Coca-Cola ab 1963 auch in Dosen abgefüllt verkauft. Die Dosen wurden im ehemaligen Dosenwerk Braunschweig (heute nur noch ein Deckelwerk) des Verpackungsherstellers Schmalbach-Lubeca (Werkskürzel S11), später Ball Packaging Europe, heute Ardagh Metal Packaging produziert und hatten ab 1965 ein Lift-Off-Tab, die Aufreißlasche mit Ziehring. Zuvor mussten Getränkedosen noch mit einem extra Werkzeug, dem Dolch, an zwei im Deckel gegenüberliegenden Stellen aufgestochen werden. Die neue Öffnungsweise per Lasche schuf in einem Schritt eine einzige, radial-längliche Öffnung für beide Funktionen: Ausströmen des Getränks und Einströmen von Luft. Da die Belüftungszone mit der Oberlippe – wie bei einer Enghalsglasflasche auch – verengt und verschlossen werden kann, ist Trinken bei dem für Gehen und Fahren typischen Schwingens der Vertikalbeschleunigung möglich.
Heute ist Coca-Cola in fast jeder Region der Erde das am meisten verkaufte Cola-Getränk. Eine der wenigen Ausnahmen bildet Thüringen, wo Vita Cola Marktführer bei Colas ist.
Früher wurden rund 2,8 Liter Wasser benötigt, um einen Liter Cola zu produzieren. Inzwischen konnte die benötigte Wassermenge auf rund 2,0 Liter reduziert werden.
Vermarktung
1886 bis 1930
Die Erfindung des Namens Coca-Cola, abgeleitet aus den ursprünglichen, inzwischen nicht mehr verwendeten, Zutaten Kokablatt (englisch coca leaves) und Kolanuss (englisch cola nut) und des ersten Logos, wird Pembertons Buchhalter Frank M. Robinson zugeschrieben, der der Ansicht gewesen sein soll, die beiden geschwungenen Cs seien gut für die Werbung geeignet. Die rote Farbe soll von roten Fässern kommen, die Pemberton damals zum Abfüllen benutzt haben soll. Die erste Zeitungsanzeige erschien bereits am 29. Mai 1886 im Atlanta Journal.
Unter Pemberton wurde Coca-Cola anfangs als Medizin beworben und verkauft. Es richtete sich vor allem an städtische Kopfarbeiter, die unter Müdigkeit, Kopfschmerzen, Depressionen, Impotenz oder der Modekrankheit Neurasthenie litten. Gemixt mit Sodawasser ergab dieser Sirup ein erfrischendes Getränk, das in Soda-Bars, damals Treffpunkt der feinen Gesellschaft, zunächst glasweise für 5 Cent angeboten wurde.
Coca-Colas rasanter Aufstieg unter Asa Candlers Führung wird nicht zuletzt auch den seinerzeit ungewöhnlich hohen Summen zugeschrieben, die er für Werbung aufwandte (1900: 85.000 US-Dollar; 1912: eine Million US-Dollar). Bei der Vermarktung ging er neue Wege und schickte zum Beispiel Vertreter durch das Land, die Coca-Cola wie diverse andere Wundermittel damals durch das Versprechen des Blauen vom Himmel verkaufen sollten. In den Städten richtete sich die Werbung an Geschäftsleute, so versprach Candler „Eine Coke um 8 wirkt bis 11“. Aus dieser Zeit stammt auch der immer noch gebräuchliche Slogan „Drink Coca-Cola“. Hauptverantwortlich für die Werbung war in dieser Zeit der zu Candler übergelaufene Robinson. Immer mehr Frauen und Kinder kamen auf den Geschmack und wünschten sich, Coca-Cola nicht mehr als Medizin kaufen zu müssen, damit man es auch trinken könnte, wenn man nicht krank war. Also leitete Robinson 1905 eine Wende ein, änderte das Image von Coca-Cola und bewarb es als Erfrischungsgetränk unter dem Slogan „Delicious and Refreshing“. Zudem ging man dazu über, das Getränk, das häufig wegen seines angeblichen Kokain- oder seines geheim gehaltenen Koffeingehalts von Verbraucherorganisationen angegriffen wurde, in der Werbung nicht mehr gegen diese Attacken zu verteidigen, sondern es als absolut „rein“, „stärkend“ und als Alternative zu Medizin zu bezeichnen.
Um die Jahrhundertwende setzte man in der Werbung auch erstmals auf weibliche Schönheiten und engagierte zum Beispiel die Schauspielerin Hilda Clark und die blonde Sängerin Lillian Nordica für Anzeigen.
Ein erfolgreiches Mittel waren auch Streuartikel, die die Abnehmer des Sirups für einen günstigen Preis dazubekamen. 1913 zierte der Schriftzug bereits über eine Million Artikel, darunter Thermometer, Streichholzschachteln, Baseballkarten, japanische Fächer, Kalender und unzählige Papp- und Metallschilder.
1906 wurde Robinson entmachtet und Sam Dobbs, ein Neffe Candlers, bekam die Verantwortlichkeit für die Werbung. Dieser engagierte dafür seinen Freund William D’Arcy mit seiner Werbeagentur und verpulverte den Werbeetat regelmäßig schon vor Ende des Jahres.
1911 wurde die Coca-Cola Company von der US-Regierung verklagt. Harvey Wiley, der erste Leiter des U.S. Bureau of Chemistry, hatte eine Abneigung gegen Coca-Cola, da er meinte, ein Getränk, das sich an Kinder richte, dürfe kein Koffein enthalten. Coca-Cola wies die Vorwürfe mit dem Argument zurück, dass das Getränk doch gar nicht für Kinder konzipiert sei, und verpflichtete sich dazu, seine Marketingaktivitäten nicht an Kinder unter zwölf Jahren zu richten.
1919 übernahm Archie Lee die Verantwortung für die Werbung und änderte sie zu Anzeigen mit weniger Text, die Gründe für den Kauf aufzählten, und mehr Bildern in Farbe, die oft nur belebte Plätze oder Panoramen zeigten, in denen das Coca-Cola-Logo prangte. Mit dem Slogan „Durst kennt keine Jahreszeit“ landete er 1922 seinen ersten großen Coup. Die dazugehörige Werbeoffensive Ende des Jahres war die erste durchgezogene Winterkampagne von Coca-Cola.
Woodruffs Ziel, dass eine Coca-Cola nie mehr als eine Armeslänge entfernt sein dürfe, wurde in den 1920er-Jahren angegangen, als man 1923 für Coca-Cola den Sechserpack entdeckte und dieser mit der Erfindung des Kühlschranks immer populärer wurde, so dass die Leute sich erstmals Coca-Cola auch in größeren Mengen mit nach Hause nehmen konnten. 1928 bereits wurde mehr Cola in Flaschen als in den Soda-Bars verkauft. Als einige Jahre später auch gekühlte Getränkeautomaten für einen erschwinglichen Preis auf den Markt kamen, wurde ein weiterer Schritt zu diesem Ziel gegangen, indem man an praktisch allen öffentlichen Orten diese Automaten aufstellte. Vor allem Tankstellen waren von großer strategischer Bedeutung. 1929 hatte man ein landesweites Netz mit insgesamt 1,5 Millionen Tankstellen aufgebaut.
Auch die internationale Vermarktung nahm in den 1920er Jahren Fahrt auf. Unter anderem fielen in diese Zeit die ersten Importe nach China in Eigeninitiative durch dortige Händler. Bei den Olympischen Sommerspielen 1928 in den Niederlanden durfte sich Coca-Cola erstmals „Offizielles Erfrischungsgetränk der Olympischen Spiele“ nennen.
1930 bis 2017
1931 erschien in der Coca-Cola-Werbung zum ersten Mal ein Weihnachtsmann. Dieser war ein freundlicher, dicker, rot bekleideter Mann mit langem, weißem Bart. Zuvor wurde der Weihnachtsmann oft als ein bärtiger, alter Mann mit langem, braunen Pelzmantel und Kapuze gezeichnet, nur selten in der von Coca-Cola verwendeten Gestalt. Daher hat Coca-Cola den roten Weihnachtsmann zwar nicht erfunden, wie oft behauptet wird, aber es trug durch die sehr bekannten Weihnachtswerbespots zur raschen weltweiten Verbreitung dieser Farbgebung bei, so dass inzwischen praktisch alle Weihnachtsmänner Coca-Cola-rot sind.
1933 war das Coca-Cola-Werk in Shanghai der größte Abfüller außerhalb der USA. Darüber hinaus bestanden in China Abfüllbetriebe in Tianjin, Qingdao und Guangzhou. Mit der Gründung der Volksrepublik China 1949 wurde der Konsum von Coca-Cola auf ihrem Gebiet verboten.
An den Erfolg von Coca-Cola versuchten andere Unternehmen anzuknüpfen, in dem sie ähnliche Produkte auf den Markt brachten. Zum größten Konkurrenten entwickelte sich die Firma PepsiCo mit ihrem Produkt Pepsi-Cola. Zwischen den beiden Unternehmen entwickelte sich über die Jahrzehnte ein harter Konkurrenzkampf, der ab den 1970er Jahren Formen annahm, die in der Öffentlichkeit als Cola-Krieg bezeichnet wurden. Tatsächlich sind Marketingexperten eher der Ansicht, dass beide Unternehmen von der jeweiligen Marktpräsenz des Konkurrenten profitierten, weil es ihnen half, Colagetränke markenunabhängig als Erfrischungsgetränk bei den Konsumenten zu etablieren.
Gegen Ende der 1950er Jahre war der Umsatz von Coca-Cola noch fünfmal größer als der von Pepsi-Cola. Pepsi-Cola fokussierte dann seine Marketing-Anstrengungen darauf, sich mit dem Slogan „the drink of the youth“ als Getränk junger Leute zu etablieren und sich dadurch von dem breiteren Fokus von Coca-Cola abzusetzen. PepsiCo ergänzte dies in den 1970er Jahren mit der sogenannten „Pepsi-Challenge“, bei dem Konsumenten in einem Blindtest zu einem Geschmacksvergleich zwischen Coca-Cola und Pepsi-Cola aufgefordert wurden. Die meisten Konsumenten präferierten in diesem Direktvergleich die süßere Pepsi-Cola. In den 1980er Jahren verschärfte PepsiCo diesen Marketingansatz, indem sie gleichzeitig global mit der „Pepsi-Challenge“ auftraten, mit der „Pepsi-Generation“ einen der wirksamsten Slogans der Werbegeschichte fanden und Persönlichkeiten wie Don Johnson und Michael Jackson als Werbeträger engagierten. Coca-Cola verlor dadurch zunehmend Marktanteile an Pepsi-Cola. Nach Einschätzung des Marketing-Experten Matt Haig waren es zu Beginn der 1980er Jahre nur noch die besseren Vertriebskanäle von Coca-Cola, die verhinderten, dass Pepsi-Cola sich zum umsatzstärksten Erfrischungsgetränk in den USA entwickelte. Coca-Cola konterte 1984 zunächst mit einem Werbeslogan, der betonte, dass das Getränk weniger süß sei als Pepsi-Cola, und gewann als Werbeträger dafür Bill Cosby, firmenintern führte man die überaus erfolgreiche Einführung von Diet Coke, die sich seit der Produkteinführung 1982 sehr schnell zum drittstärksten Colagetränk nach Coca-Cola und Pepsi-Cola entwickelt hatte, auch darauf zurück, dass dieses Getränk geschmacklich Pepsi-Cola näher stand als Coca-Cola. Coca-Cola erarbeitete daraufhin eine neue Rezeptur. Markttests schienen nachzuweisen, dass Konsumenten diese neue Rezeptur nicht nur der alten vorzogen, sondern sie geschmacklich auch besser als Pepsi-Cola einstuften. Am 23. April 1985 wurde New Coke eingeführt und wenige Tage später die Produktion von Coca-Cola nach der alten Rezeptur eingestellt. Dieses Vorgehen erwies sich als eines der größten Vermarktungsdesaster der Werbegeschichte. Konsumenten in den USA reagierten einhellig empört auf die Rezepturänderung. PepsiCo reagierte sehr schnell auf den Fehler seines Konkurrenten und ließ nur wenige Wochen nach Einführung von New Coke in den USA eine Fernsehwerbung zeigen, in der ein alter Mann auf einer Parkbank sitzend um die alte Coca-Cola trauert. Bereits am 11. Juli 1985 musste Robert Goizueta, Vorstandsvorsitzender der Coca-Cola Company, die Rücknahme der Entscheidung und die Wiedereinführung der alten Rezeptur verkünden, die in den USA dann entsprechend als Classic Coke vermarktet wurde. Die Nachricht wurde in den USA als so bemerkenswert eingestuft, dass unter anderem ABC News seine Sendung für diese Nachricht unterbrach.
Die wohl bekannteste Coca-Cola-Werbung war der durch Billy Davis’ Lied „I’d Like to Teach the World to Sing“ unterlegte Spot, in dem Menschen unterschiedlicher Herkunft und unterschiedlichen Alters sich im Laufe des Spots auf einer Wiese zusammenfinden, um gemeinsam zu singen, und der das Gemeinschaftsgefühl, das durch das Trinken von Coke entstehen soll, stark betont. Nachdem Pepsi den Superstar Michael Jackson für einen Werbespot engagiert hatte, konterte die Coca-Cola Company, indem sie eine neue Fassung dieses Spots drehte. Coca-Cola-Werbung funktioniert auch heute noch nach diesem Prinzip, wie der Spot „The March“ zeigt, der als zweite Fortsetzung des Spots von 1971 angesehen werden kann.
Von 1975 an versuchten Vertreter der Coca-Cola Company eine Aufhebung des Verbots ihres Getränks in der Volksrepublik China zu erreichen, um den großen Markt des bevölkerungsreichen Landes zu erschließen. Dies gelang 1978 mit der zunehmenden Entspannung der Sino-amerikanischen Beziehungen. Durch Zufall fielen die Durchbrüche in den Verhandlungen der Staaten und der Unternehmen zusammen: Am 13. Dezember des Jahres wurde ein entsprechender Vertrag zwischen der Coca-Cola Company und der staatlichen chinesischen Lebensmittelimportgesellschaft geschlossen, am 15. Dezember kündigte US-Präsident Jimmy Carter die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen den beiden Staaten an und am 19. Dezember wurden 20.000 Kisten Coca-Cola nach China verschickt. Die Vereinbarungen zwischen den Unternehmen sah einen Import von Coca-Cola zur ausschließlichen Verköstigung ausländischer Touristen in China vor. Im Gegenzug sollte die Coca-Cola Company in China produzieren und Fachwissen dorthin transferieren. Im Februar 1980 begann der Bau einer Abfüllanlage in Peking, die gut ein Jahr später offiziell ihren Betrieb aufnahm. 1983/84 erhielt das Unternehmen die Erlaubnis zum Betrieb zweier weiterer Abfüllanlagen in Sonderwirtschaftszonen. 1992 bestanden zehn Abfüllanlagen im Rahmen von Joint Ventures mit chinesischen Partnern und eine Firma zur Konzentratproduktion in China.
Coca-Cola wird weltweit in mehr als 200 Ländern auf allen Kontinenten vertrieben. Täglich werden mehr als 1,9 Milliarden Getränke von Coca-Cola verkauft. In Indien war Coca-Cola von 1977 bis 1991 verboten, da sich das Unternehmen weigerte, das Rezept offenzulegen. In Myanmar wurde nach dem Ende der Militärdiktatur im Jahr 2012 das Getränk erstmals seit 60 Jahren eingeführt. Bis Anfang 2022 wurde Coca-Cola lediglich in zwei Ländern (in Nordkorea und auf Kuba) nicht offiziell verkauft. In Folge des russischen Überfalls auf die Ukraine verkündete die Coca-Cola-Company ihre Geschäftstätigkeiten in Russland am 9. März 2022 einzustellen., womit Coca-Cola nun in drei Ländern der Welt offiziell nicht erhältlich ist. Über Multon Partners ist das Unternehmen aber weiter im russischen Markt involviert.
Für Werbung und Marketing wurden 2016 rund 4 Milliarden US-Dollar ausgegeben, dem gegenüber steht ein Gewinn von 6,527 Milliarden US-Dollar.
Im Jahr 2007 wurde ein internes Startup mit der Kreation eines neuen Getränkeautomaten beauftragt, 2009 ging das Coca-Cola Freestyle genannte und von Pininfarina designte Produkt in Serie. In Nordamerika kommt es seitdem in Einkaufszentren und Schnellrestaurants zum Einsatz, seit 2016 auch in Deutschland, jedoch bislang nur in einigen Filialen der Burger-King-Kette und bei der Kino-Kette Cinemaxx. Mithilfe der aus der Medizin bekannten Mikrodosierungs-Methode kann der Kunde am mit Patronen statt Sirupkanistern befüllten Automaten aus der bisher breitesten Produktpalette überhaupt schöpfen. So ist beispielsweise die Kreation einer Coca-Cola light Traube möglich. 2011 wurde das Produkt vom Forbes-Magazin neben Apples iPhone zum Coolsten Produkt der Dekade gewählt. Konkurrent Pepsi zog 2014 mit seinem Pepsi Spire genannten Konkurrenzprodukt nach.
In Großbritannien war 2017 geplant, bei der vorweihnachtlichen Tour des Coca-Cola-Weihnachtstrucks an 42 Stationen Halt zu machen. Der Getränkehersteller gab an, die Haltepunkte nach Zuschriften aus der Bevölkerung auszuwählen. Erstmals rief die „englische Gesundheitsbehörde Public Health England (…) lokale Behörden auf, darüber nachzudenken, ob solche Werbekampagnen vereinbar seien mit dem Ziel, ‚besorgniserregende Häufungen von Fettleibigkeit und Karies bei Kindern‘ zu verringern.“ Die Initiative Sugar Smart, gestartet von Starkoch Jamie Oliver und der Organisation „Sustain“ forderte Coca-Cola auf, bei der Tour Wasser statt zuckerhaltigen Getränken auszuschenken. Ein entsprechender Protestbrief wurde auch von Behördenvertretern und Gemeinderatsmitgliedern aus 28 Kommunen unterzeichnet.
2017 hat Coca-Cola nach eigenen Angaben drei Millionen Tonnen Kunststoff produziert.
Produkt
Kokaingehalt
Über den ursprünglichen Kokaingehalt einer Coca-Cola ist viel spekuliert worden. Laut einem Rezept, das wohl von Frank M. Robinson verfasst wurde, enthielt ein Glas 8,45 Milligramm Kokain, wobei die typischerweise geschnupfte Dosis bei 20 bis 30 Milligramm liegt und oral eingenommenes Kokain schwächer wirkt. Coca-Cola Company streitet offiziell immer noch ab, dass ihr Getränk jemals Kokain enthalten habe.
2006 schrieb der Wiener Pharmazeut Wilhelm Fleischhacker in einem Artikel über Kokain, der auf der Basis seines Vortrages in der Österreichischen Akademie der Wissenschaften am 17. Oktober 2006 entstand: „Etwa um das Jahr 1885 wurde von dem amerikanischen Apotheker Pemberton Kokain zusammen mit Coffein einem als Allheilmittel angebotenen Getränk namens Coca-Cola zugesetzt. 1891 lagen bereits mindestens 200 Berichte über Cocainintoxikationen vor und 13 Todesfälle wurden bekannt. Bis 1903 enthielt ein Liter Coca-Cola etwa 250 Milligramm Kokain. 1914 wurde in den USA der Zusatz von Cocain in Getränken und rezeptfreien Arzneimitteln verboten und für Kokain auch in den europäischen Staaten strenge Suchtgiftbestimmungen erlassen.“
Nachdem sich allmählich die suchterzeugende Wirkung von Kokain in den westlichen Ländern herumgesprochen hatte, ging der Hersteller 1902 dazu über, nur noch nicht-alkaloide Extrakte aus den Kokablättern als Aroma zuzugeben. Dies geschah nicht zuletzt, um den Anspruch auf das Warenzeichen nicht zu verlieren. Ob Koka noch zur Cola-Herstellung verwendet wird, ist umstritten. Coca-Cola bestreitet es. Die Stepan Company besitzt eine Sondergenehmigung zur Einfuhr und Verarbeitung von Kokablättern aus Peru und Bolivien.
Dies hat Coca-Cola bei ihrem Erfolg und Image geholfen. In den USA wird Coca-Cola auch unter dem ehemaligen Spitznamen „Coke“ vermarktet, der auch Koks im Sinne des Heizmaterials bedeutet, aber umgangssprachlich auch für Kokain steht. In den Südstaaten nannte man Coca-Cola lange schlicht nur „Coke“.
Design
Die berühmte Konturflasche, auch „Humpelrock“ genannt, wurde am 18. August 1915 in den USA durch die Manufaktur „Root Glass Company“ von Alexander Samuelson zum Patent angemeldet und mit dem 16. November 1915 patentiert. Als Vorbild für die weiblichen Rundungen soll eine gläserne Tiffany-Vase Pate gestanden haben. Die Riffelung des Glases kommt vermutlich daher, dass ein Mitarbeiter der Manufaktur bei der Suche nach einer Abbildung des Kokablattes im Lexikon unter Kakaobohne nachsah. Sie wurde eingeführt, um Coca-Cola von den damals sehr zahlreichen Cola-Kopien zu unterscheiden. Ein weiterer Vorteil war auch das dicke Glas, das den Inhalt größer erscheinen ließ. Am Anfang war das Glas noch grünlich gefärbt; heute ist es Klarglas. Die Flasche entwickelte sich – neben dem Namen und dem Schriftzug – schnell zu einem eigenständigen Kennzeichen des Getränks, wurde aber markenrechtlich erst 1960 geschützt. Als Schriftart wurde Spencerian script verwendet.
Da ab den 1950er-Jahren Pepsi nicht zuletzt wegen ihrer 12-Unzen-Flasche immer mehr Marktanteil gewann, wurden im Februar 1955 die „King-Size“-10- und 12-Unzen-Flaschen und die 26 Unzen fassende Familienflasche eingeführt. Erstere wurden zum gleichen Preis wie die originale 6-Unzen-Flasche verkauft, was aber deren Beliebtheit keinen Abbruch tat. 1977 wurde in Deutschland das rot-weiße Logo erstmals als farbiges Etikett auf die Flaschen geklebt.
Produktvarianten
Neben der (österreichisch, bairisch: dem) klassischen Coca-Cola vermarktet die Coca-Cola Company auch abgeleitete Produkte unter den Marken Coca-Cola und Coke. So wurde 1982 mit großem Erfolg die energiereduzierte Diet Coke/Coca-Cola Light eingeführt (in Deutschland 1983). Von Coca-Cola und Diet Coke/Coca-Cola Light gibt es auch koffeinfreie Versionen. Die 1985 auf den Markt gebrachte New Coke, die nach Verbraucherprotesten wieder vom Markt genommen wird, ist in manchen Regionen als Coke II weiterhin erhältlich.
Geschmackliche Variationen sind etwa Vanilla Coke mit Vanillegeschmack, Cherry Coke mit Kirschgeschmack, Coca-Cola Citra mit Zitrusgeschmack, Coca-Cola mit Zitronen-, Limonen- oder Himbeergeschmack sowie Coke Light Lemon mit Zitronengeschmack. 2004 wurde zuerst in Japan und dann in den USA Coca-Cola C2 mit halbierter Zuckermenge und damit halbiertem physiologischem Brennwert eingeführt, welche 2007 jedoch aufgrund mangelnder Verkaufszahlen wieder eingestellt wurde.
2005 erschien in den USA Coca-Cola Zero, im Juli 2006 in Deutschland. Coca-Cola Zero enthält keinen („zero“) Zucker, sondern Süßstoff. Laut Hersteller unterscheiden sich beide Produkte ausschließlich im Geschmack: Coke Zero schmecke „fast wie die klassische Coca-Cola“, während Coca-Cola Light einen „eigenen einzigartigen Geschmack“ habe. Kritiker sehen die Einführung eines weiteren zuckerfreien Cola-Getränks in der Vermarktung begründet: Während sich die Werbung für Coca-Cola Light vermehrt an Frauen richtet, sind die Zielgruppe der Werbung für Coca-Cola Zero figurbewusste Männer.
Anfang 2006 testete die Coca-Cola Company das neue Produkt Coca-Cola BlāK mit Kaffeegeschmack in Frankreich und führte es kurz darauf in den USA ein. In Frankreich wurde ebenfalls das neue Coca-Cola light sango eingeführt.
Ab April 2008 wird in Deutschland das Produkt Coke Light Lemon durch die Wellness-Variante Coca-Cola Light Plus Lemon C ersetzt. Zusätzlich wurde bis März 2010 die neue Variante Coca-Cola Light Plus Green Tea (mit Grüner-Tee-Geschmack) verkauft. Beide sollen die weibliche Zielgruppe der 25- bis 39-Jährigen ansprechen.
Seit 2013 ist in Argentinien und Chile das grün etikettierte Coca-Cola Life auf dem Markt. Die Markteinführung in den USA erfolgte im August 2014 und einen Monat später auch in Großbritannien. In Coca-Cola Life wurde anfangs der Zucker zu einem Drittel, später zur Hälfte durch Stevia ersetzt. Seit Februar 2015 wurde Coca-Cola Life in grün etikettierten Flaschen auch in Deutschland sowie der Schweiz verkauft, nachdem im November 2011 Stevia in der EU als Lebensmittelzusatzstoff zugelassen wurde. Nach einem Bericht der Verbraucherzentrale Niedersachsen stand das Produkt in der Kritik, da es gesünderen Lifestyle suggeriere, mit 34 g Zucker auf 500 ml aber immer noch über dem Wert liege, den die WHO pro Tag empfiehlt. Ende 2017 wurde die Sorte von Coca-Cola aufgrund mangelnder Nachfrage eingestellt.
Im Dezember 2016 wurde in Deutschland und „vielen anderen Ländern“ das Produkt Coca-Cola Zero Sugar eingeführt. Es soll nach und nach die nun eingestellte Coca-Cola Zero ersetzen und laut der Marke „geschmacklich noch stärker an die zuckerhaltige Variante herankommen“.
Koscher für Pessach
Juden machten es insbesondere in den USA zur Sitte, ihren Kindern Cola statt Traubensaft (als Ersatz für Wein) am Pessach-Fest zu geben. Nachdem das Rezept strikt geheim gehalten wird, war zunächst eine Überprüfung, ob Cola die allgemeinen Kaschrutvorschriften erfüllt, nicht möglich. In den 1930ern versprach Rabbiner Tobias Geffen aus Atlanta dem Getränkehersteller von Coca-Cola, das Rezept nicht weiterzugeben und durfte das Getränk entsprechend überprüfen. Nachdem die Getränkefirma für eine spezielle Koscher-für-Pessach-Linie den Fruktose-Mais-Sirup durch Zucker ersetzt hat (Mais ist streng religiösen Aschkenasim während des Pessachfestes verboten), vergab Geffen ein offizielles „Koscher für Pessach“-Zertifikat an Coca-Cola, was zu einem Verkaufserfolg führte. Die Orthodox Union (O-U) vergibt seit 1989 ein solches Zertifikat „Koscher für Pessach“. Diese Flaschen sind heute für ihre gelben Verschlussdeckel bekannt, in die „O-U-P“ als Hechscher (Koscher-Zertifikat) geprägt ist. Ist ein Nahrungsmittel „Koscher für Pessach“, gilt es das ganze Jahr über auch als koscher.
Coca-Cola-Sorten in Deutschland
Aktuell (Stand 09/23) im deutschen Sortiment:
1929: Coca-Cola Original Taste
bis 2016 Coca-Cola
2016–2018 Coca-Cola Classic
1983: Coca-Cola light taste (zuckerfrei)
seit 1991, 1995 und 2005 jeweils mit neuer Rezeptur
bis 2016 Coca-Cola light
1986–2018, 2019, 2020: Coca-Cola Cherry (mit Kirschgeschmack)
bis 2010 Cherry Coke
wurde Ende 2018 eingestellt und durch eine zuckerfreie Variante ersetzt
im Juli 2019 nochmals als Aktion bei Netto Marken-Discount
nach Verbraucherprotesten im Frühjahr 2020 wieder eingeführt
1990: Coca-Cola light taste koffeinfrei (zuckerfrei, koffeinfrei)
Markttest bereits 1984
bis 2018 Coca-Cola light koffeinfrei
2003–2018, 2019, 2020: Coca-Cola Vanilla (mit Vanillegeschmack)
bis 2012 Vanilla Coke
wurde Ende 2018 eingestellt und durch eine zuckerfreie Variante ersetzt
im Juli und Oktober 2019 nochmals als Aktion bei Netto Marken-Discount
nach Verbraucherprotesten im Frühjahr 2020 wieder eingeführt
2003: Coca-Cola light taste Lemon (mit Zitronengeschmack, zuckerfrei)
bis 2008 Coca-Cola light Lemon
2008–2018 Coca-Cola light Lemon C
2006: Coca-Cola zero sugar (zuckerfrei)
bis 2016 Coca-Cola zero
2013: Coca-Cola zero sugar zero koffein (zuckerfrei, koffeinfrei)
bis 2018 Coca-Cola zero koffeinfrei
bis 2021 Coca-Cola koffeinfrei ohne Zucker
2019: Coca-Cola zero sugar Cherry (mit Kirschgeschmack, zuckerfrei)
bis 2021 Coca-Cola Cherry ohne Zucker
2019: Coca-Cola zero sugar Vanilla (mit Vanillegeschmack, zuckerfrei)
bis 2021 Coca-Cola Vanilla ohne Zucker
2022: Coca-Cola zero sugar Lemon (mit Zitronengeschmack, zuckerfrei)
2023: Coca-Cola zero Creations Future Tech 3000 (mit „Future Inspired Flavour“-Geschmack, zuckerfrei)
limitierte Edition Co-Created with AI
nur in der 0,25 L Slimline-Dose
Konzentrate:
? : Coca-Cola Original Taste (als Grundstoff für Post-Mix-Geräte zur Herstellung eines koffeinhaltigen Erfrischungsgetränkes mit Pflanzenextrakten)
in Keg-Mehrwegfässern zu 9L, 10L und 18L sowie in Bag-In-Box Kartons zu 10L und 20L
Inoffizielle Sorten:
Bei diesen Produkten handelt es sich um Export-Dosen deutscher Herkunft im klassischen Dosenformat, welche für den dänischen Grenzhandel bestimmt sind.
2019: Coca-Cola zero sugar Citron (mit Zitronengeschmack, zuckerfrei)
Nicht mehr im deutschen Sortiment:
1984–1990, 2000–2003: Coca-Cola koffein-frei (koffeinfrei)
2015–2017: Coca-Cola Life (zuckerreduzierte Limonade mit Steviasüßung)
2016 neue Rezeptur
2019–2020: Coca-Cola light taste exotic mango (exotischer Mangogeschmack, zuckerfrei)
2019–2020: Coca-Cola light taste ginger lime (Ingwer-Limette-Geschmack, zuckerfrei)
2019–2021: Coca-Cola Energy; Energydrink (mit Coca-Cola-Geschmack)
ab 2020 mit neuer Rezeptur
2019–2021: Coca-Cola Energy ohne Zucker; Energydrink (mit Coca-Cola- und Guarana-Geschmack, zuckerfrei)
ab 2020 mit neuer Rezeptur
2019, 2020, 2021: Coca-Cola Zimt ohne Zucker (Zimtgeschmack, zuckerfrei)
jeweils als limitierte Weihnachtsedition
2020–2021: Coca-Cola Energy Cherry; Energydrink (mit Coca-Cola- und Kirsch-Geschmack)
2023: Coca-Cola zero Creations Movement (mit „Fantasy“-Geschmack – wird von Konsumenten zum Teil als ein Mix von Ananas, Kokosnuss, Vanille und Karamell beschrieben, zuckerfrei)
limitierte Edition in Kooperation mit Rosalía
nur in der 0,25 L Slimline-Dose
Verpackungen
Deutschland
Coca-Cola (aber nicht jede Sorte) ist in Deutschland mit Stand 07/2023 in folgenden Verpackungen erhältlich:
PET-Mehrwegflasche (15 Cent Pfand):
1,0 Liter
PET-Einwegflasche (25 Cent Pfand):
0,33 Liter
0,5 Liter
1,0 Liter
1,25 Liter
1,5 Liter
2,0 Liter
Getränkedose (25 Cent Pfand):
0,25 Liter (Slimline-Format, nur als limitierte Coca-Cola zero Creations Editionen)
0,33 Liter (Sleek-Format)
0,33 Liter (klassisches Format, im 18er-Aktions-Multipack)
0,5 Liter
Glas-Mehrwegflasche (15 Cent Pfand):
0,2 Liter
0,33 Liter
0,4 Liter
0,5 Liter
1,0 Liter
CC-Keg (25 Euro Pfand):
9 Liter
18 Liter
BIB (Bag-In-Box, Sirup für Post-Mix-Geräte in der Gastronomie):
10 Liter
20 Liter
In der Vergangenheit war Coca-Cola auch erhältlich in:
Glas-Mehrwegflasche (mit Pfand):
0,7 Liter
1,5 Liter
PET-Mehrwegflasche (mit Pfand):
0,5 Liter
1,5 Liter
PET-Einwegflasche (mit Pfand):
2,25 Liter
0,66 Liter
Getränkedose (pfandfrei):
0,15 Liter
0,25 Liter (Slimline-Format, nur als Gratisproben, nur light und light lemon)
0,33 Liter (klassisches Format)
0,326 Liter (GB-Import 1971)
0,35 Liter
0,5 Liter
Getränkedose (mit Pfand):
0,15 Liter
0,25 Liter (Sleek-Format)
Glas-Einwegflasche (pfandfrei):
0,33 Liter
1,0 Liter
Coca-Cola hatte Anfang 2015 angekündigt, die PET-Mehrwegflaschen mit Volumen von 0,5 und 1,5 Litern einzustellen. Die 1,5-Liter-Mehrwegflasche wird mit der Begründung des sinkenden Absatzes durch den demografischen Wandel eingestellt. Die 0,5-Liter-Mehrwegflasche leidet an dem hohen Aufwand der Leergutrückführung, da sie als Mitnahmeartikel häufig an anderer Stelle zurückgegeben würde, als sie erworben wurde. Dadurch mussten leere Kästen im erhöhten Maß transportiert werden. Die Wiederbefüllquote war mit fünf bis sechs Umläufen die niedrigste der Mehrweggebinde, da auch 15 Prozent der Flaschen gar nicht zurückgeführt wurden.
Die Mehrwegflaschen erreichen bei den Glasflaschen im Schnitt zwanzig und bei den PET-Flaschen im Schnitt fünfzehn Umläufe. Coca-Cola bezifferte den Mehrweganteil für 2014 mit 56,7 %.
Das Pfand für PET-Mehrwegflaschen betrug bis zum 21. Januar 2002 36 Cent, bzw. 70 Pfennige, wurde dann auf 15 Cent branchenübliches Pfand gesenkt.
Österreich
In Österreich gab und gibt es auf Dosen kein Pfand, auf im Lebensmitteleinzelhandel selten gewordene 1-L-Glasflaschen Pfand. Es gibt kleine Glasflaschen für Automaten und in der Gastronomie ohne Pfand. Automaten sind heute in der Regel mit Dosen bestückt. PET-Flaschen existieren als starkwandige Mehrwegflaschen (erkennbar an Scheuerspuren) mit Pfand und als dünne Einwegflaschen ohne Pfand.
Schweiz
In der Schweiz wurden im April 2019 die 0,5-Liter-PET-Flaschen auf 0,45 Liter und die 1-Liter-Flaschen auf 0,75 Liter verkleinert. Selecta reagierte daraufhin mit einer Sortimentsanpassung bei ihren rund 8.000 Snackautomaten welche sie schweizweit betreibt und nahm dabei einige Produkte von Coca-Cola aus dem Sortiment.
Somit verkauft Coca-Cola Schweiz per 2019 für den Endkundenbereich Einweg-PET-Flaschen in den Größen 0,45 Liter, 0,75 Liter und 1,5 Liter. Als Mehrweg-PET-Flasche kommt noch 1-Liter-Flasche hinzu, welche harassenweise gekauft werden kann. Im Gastrobereich hingegen ist die 0,33-Liter-Glasflasche üblich. Dosen füllt Coca-Cola Schweiz keine mehr ab. In Ungarn abgefüllte 0,15-Liter- und in Italien abgefüllte 0,33-Liter-Dosen werden durch die Coca-Cola Schweiz weiterverkauft.
Durch Parallelimporte sind bei Detaillisten teils auch Dosen oder Flaschen anderer Größen oder Formen verfügbar. Coop setzte bis 2022 auch auf Parallelimporte, bis das Shrinkflation rückgängig gemacht wurde, womit wieder 0,5 Liter-Flaschen im Angebot waren.
Nachahmer
Durch den Erfolg von Coca-Cola, eigentlich selbst als Nachahmung des Vin Mariani entstanden, wurden viele Nachahmer auf den Plan gerufen. So sprossen um das Jahr 1900 eine große Zahl von Colas aus dem Boden, unter anderem Coke-Ola, Carbo-Cola, Sola-Cola, Coca-Nola, Afri-Cola, Pepsi-Cola, Pepsi-Nola, Cola-Coke, Kola-Kola, Noka-Cola oder Cold-Cola. Auch Pembertons ehemaliger Partner J. C. Mayfield produzierte Getränke wie Dope, Wine Cola oder Koke.
Auch deswegen wollte sich Candler den Coca-Cola-Schriftzug als Warenzeichen schützen lassen. Dabei stieß er aber auf den Drogisten Benjamin Kent aus New Jersey, der seit 1884 Kent’s Coca-Cola verkaufte und sich diese schon 1889 hatte schützen lassen, aber aus rechtlichen Gründen angegeben hatte, sie erst seit 1888 zu verkaufen. Wegen dieses glücklichen Umstands konnte sich Candler die Rechte schützen lassen, da Pemberton den Namen Coca-Cola schon 1887 hatte eintragen lassen.
Daraufhin wollte die Coca-Cola Company die Nachahmer verklagen, scheiterte aber anfangs, da die Angeklagten argumentierten, Coca-Cola sei nur ein deskriptiver Name für die Hauptbestandteile. Aus Angst, dass diese Argumentation Allgemeingut werde, sah Candler zunächst von weiteren Klagen ab.
1904 trat der Anwalt Harold Hirsch Candlers Anwaltskanzlei bei und 1905 wurde das US-amerikanische Markenzeichengesetz eingeführt, das „Coca-Cola“, ob deskriptiv oder nicht, zunächst für 10 Jahre unter Schutz stellte. Als Hirsch 1909 bei der Coca-Cola Company Hauptverantwortlicher für Rechtsangelegenheiten wurde, heuerte er erst Detektive an, die in Soda-Bars Proben nahmen und kontrollierten, ob unter dem Namen Coca-Cola andere Produkte ausgeschenkt wurden. 1915 baute er eine hausinterne Ermittlungsabteilung mit vollzeitbeschäftigten Mitarbeitern auf. Dazu verklagte er jede Getränkefirma, deren Produktname nur entfernt an Coca-Cola erinnerte oder die rote Fässer, ein ähnliches Schriftlogo oder rautenförmige Etiketten verwendeten. Zudem versuchte er erfolglos, die braune Färbung von Coca-Cola schützen zu lassen. 1923 hatte er genug Prozesse gewonnen, um ein 650 Seiten starkes Buch über das Coca-Cola-Recht herauszugeben. Bis 1926 hatte er schätzungsweise 7000 Marken verbieten lassen, in jenem Jahr strengte er etwa 50 Klagen an.
In den 1930er-Jahren sollte auch Pepsi-Cola verklagt werden, nachdem Walter Staunton Mack die Firma übernommen hatte und dieser Coke aus mehreren seiner eigenen Ausschankstätten verbannt und durch Pepsi ersetzt hatte. Zudem hatte man bei Coca-Cola das Ziel ins Auge gefasst, das Wort Cola für sich zu registrieren. Dazu musste man sichergehen, dass Cola der geläufige Ausdruck für Coca-Cola blieb. Nachdem Mack jedoch Beweise für Bestechung in einem früheren Prozess gegen ein anderes Plagiat entdeckt hatte, einigte man sich außergerichtlich darauf, dass Pepsi sein Getränk auch weiterhin eine Cola nennen durfte. Da man nun seitens der Coca-Cola Company keine Chance mehr hatte, sich diesen Ausdruck zu sichern, forcierte man die Anstrengungen darauf, Coke, das eigentlich Koks-Kohle bedeutet, als landläufige Bezeichnung für Coca-Cola zu etablieren und sich so diesen Namen schützen zu lassen.
Rezept
Die von Pemberton gebraute Pemberton’s French Wine Coca aus Wein, Kolanüssen und Kokablättern hat mit der heutigen Coca-Cola nicht viel gemeinsam. Sein Rezept war hauptsächlich konzipiert, den bitteren Geschmack des Kokablattes zu überdecken. Nachdem Pemberton das Rezept für die von ihm bereits abgewandelte weinlose Coca-Cola mehrfach verkauft hatte, hatten ein Dutzend Leute Zugang zu seinem Rezept. Aus diesen Gründen änderte Candler die Zusammensetzung und gab ihr den Code 7X, wodurch er Coca-Cola geschmacklich vom Ursprungsrezept abgrenzen konnte. Er war so besessen von Geheimhaltung, dass er das Rezept niemals zu Papier brachte, die Etiketten immer von allen Konzentraten entfernte und seine Cola stets eigenhändig hinter verschlossenen Türen braute. Das Konzentrat aus Kolanuss und Kokablatt erhielt den Namen Merchandise No. 5.
Da der synthetische Zuckeraustauschstoff Saccharin konservierend wirkte und billiger war, wurde schon bei den ersten Abfüllversuchen seitens des Abfüllers Thomas im Geheimen damit experimentiert, den Sirup zum Abfüllen damit zu strecken. Um die Jahrhundertwende ging diese Zutat dann in das Rezept ein, vermutlich nach Rücksprache mit Thomas. 1906 wurde es jedoch wieder herausgenommen, um dem Pure Food and Drug Act zu entsprechen, das Saccharin als „verfälschende“ Zutat deklarierte. Weil die Coca-Cola Company aufgrund dieses Gesetzes wegen des Koffeingehaltes von Coke verklagt wurde, einigte man sich 1917, den Koffeingehalt auf 130 mg/100 ml zu reduzieren, dafür jedoch den Anteil von Merchandise No. 5 zu verdoppeln.
Noch heute wird behauptet, dass die Rezeptur (Formel 7×100) eines der bestgehüteten Geheimnisse sei. Die Formel liegt der Legende nach in einem Tresor in Atlanta; nie mehr als zwei Menschen sollen Zugang zu diesem haben und die genaue Rezeptur kennen.
Die hauptsächlichen Geschmacksträger waren und sind echte Vanille, Orangen-, Zitronen- und Zimtöle. Für den sauren Geschmack sorgt Phosphorsäure, für die Süße gewöhnlicher Haushaltszucker (chemisch Saccharose). Die Zutaten sind heute überall auf der Welt die gleichen und alle Zutaten wie Wasser oder Zucker müssen gleich aufbereitet werden. Hierbei gelten strenge Auflagen. Einzig bei der verwendeten Zuckerart dürfen die Produzenten wählen. So wird in Europa hauptsächlich Rübenzucker, in Asien eher Rohrzucker und in Amerika Zucker aus Maissirup verwendet. Nicht zuletzt dadurch kann der Geschmack von Coca-Cola durchaus variieren, obwohl die Grundbestandteile und die Hauptgeschmacksnote dieselbe bleiben.
Zutatenliste
Auf deutschen Verpackungen von Coca-Cola Original Taste sind folgende Zutaten angegeben:
Wasser, Zucker, Kohlensäure, Farbstoff E 150d, Säuerungsmittel Phosphorsäure, natürliches Aroma, Aroma Koffein
Die meisten Varianten wie etwa Coca-Cola light unterscheiden sich dem Etikett nach hauptsächlich durch Verwendung von Süßstoffen. In Bulgarien, Tschechien, Ungarn, Slowenien, Kroatien und der Slowakei ist Glukose-Fructose-Sirup anstatt Zucker enthalten.
100 ml Cola enthält durchschnittlich 10,6 g Zucker (entspricht etwa 3 Zuckerwürfeln) und 10 mg Koffein (zum Vergleich: 100 ml Filterkaffee enthält etwa 64–96 mg Koffein.) Obwohl es sich bei Koffein um eine pharmakologisch aktive Substanz handelt, müssen Getränke, die weniger als 15 mg/100 ml Koffein enthalten, in Deutschland keine Konzentrationsangaben ausweisen.
Pendergrasts Rezept
Der US-amerikanische Autor Mark Pendergrast behauptet in seinem Buch „Für Gott, Vaterland und Coca-Cola“, die ursprüngliche Coca-Cola-Rezeptur gefunden zu haben. Sie stammte aus der Feder von Thomas, der bei Pemberton angestellt war. Da einem Chemiker, der aus Coke die braune Farbe entfernen sollte, das gleiche Rezept gegeben wurde, kann man davon ausgehen, dass dies das Ur-Rezept ist. Ihm zufolge bereitet man Coke wie folgt zu:
Die Essenz besteht aus:
Koffeinsäure und Limettensaft in 1 Quart kochendem Wasser mischen, Vanille und Essenzen zusetzen, sobald es abgekühlt ist.
Das Rezept sagt aber nicht aus, was mit dem Zucker, dem Koka-Extrakt, dem Karamell oder dem Rest des Wassers passiert.
Da Pendergrast behauptet, dass sein Rezept für 2,5 Gallonen Cola sei und dass Poundstones Rezept genau dasselbe sei, nur eben für nur 1 Gallone, schließt man daraus, dass die hier angegebene Mengenangabe von Pendergrast „ausreichend Karamell“ dieselbe Menge von Poundstones Rezept, nur mal 2½, ist. Sprich: „ausreichend Karamell“ ist in Pendergrasts Rezept nichts anderes als 37 g Karamell, die man für eine Gallone braucht, mal 2½ = 92,5 g Karamell (die Menge für 2½ Gallonen).
Poundstones’ Rezept
Die augenblicklichen Zutaten für 1 Gallone, wenn auch nicht in der richtigen Menge, so meint Mark Pendergrast, entspräche William Poundstones in dessen Buch Big Secrets abgedruckten Rezept:
Zucker in gerade genug Wasser auflösen. Kokablatt und Kolanüsse in 22 Gramm 20-prozentigem Alkohol tränken, dann filtern und die Flüssigkeit dem Sirup zusetzen.
Herstellung der Essenz (7X-Essenzen):
Mit 4,9 g 95-prozentigem Alkohol mischen, 2,7 g Wasser hinzufügen, 24 Stunden bei ca. 15 °C ziehen lassen. Eine trübe Schicht fällt aus. Den klaren Teil der Flüssigkeit nehmen und ihn dem Sirup hinzufügen. Ausreichend Wasser für 1 Gallone Sirup auffüllen. Eine Unze Sirup mit kohlensäurehaltigem Wasser mischen, so dass 6,5 Unzen Flüssigkeit entstehen.
Laut Aussagen, die die Firma schon gemacht hat, liegt diese Formel bei wenigstens drei Mengenangaben daneben:
13,2 g Phosphorsäure statt 11 g
1,86 g Vanilleextrakt statt 1,5 g
91,99 g Karamell statt 37 g
Folgen für die Gesundheit
Zucker und Säure
Coca-Cola enthält 10,6 g Zucker pro 100 ml (entspricht 43,2 % der von der Weltgesundheitsorganisation empfohlenen Tagesdosis) und hat einen physiologischen Brennwert von ca. 176 kJ/100 g (= 42 kcal/100 g, entspricht 2 % der empfohlenen Tagesdosis). Wegen des Zuckergehaltes kann häufiges Konsumieren von Cola, Übergewicht und Fettleibigkeit sowie Zuckerkrankheit fördern.
Der Zucker sowie die Phosphorsäure in Coca-Cola können zu Zahnschäden führen, da andauernde Säure-Umspülung den Zahnschmelz erodiert.
Als Medizin
Es gibt keine Belege für positive Wirkungen bei Durchfallerkrankungen. Die Empfehlung, Cola zu trinken, beruht darauf, dass der enthaltene Zucker dafür sorgen soll, dem Körper über einen Glucose-Natriumchlorid-Cotransporter (z. B. SGLT1) wieder Kochsalz zuzuführen. Bei den häufigen sekretorischen Formen der Diarrhoe (z. B. der Reisediarrhoe) werden Elektrolyte und Flüssigkeit in das Darminnere verloren, was zur Dehydratation führt. Zunächst kann dieser theoretische Effekt nicht nur durch Cola, sondern auch durch jedes beliebige andere zuckerhaltige Getränk erzielt werden. Weiterhin gibt es in der Apotheke Trinklösungen (ähnlich der WHO-Trinklösung) die für den Zweck der Rehydrierung deutlich besser geeignet sind, da Cola zu viel Zucker und zu wenige Elektrolyte enthält und auch durch Salzstangen keine gut balancierte Elektrolytzufuhr erreicht werden kann. Schwere Dehydratationen lassen sich nicht allein durch orale Rehydrierung ausgleichen.
Koffein
100 ml Coca-Cola enthalten 10 mg Koffein. Empfindliche Menschen sollten abends keine koffeinhaltigen Getränke wie Kaffee, Tee oder Cola trinken, denn Koffein hemmt den Parasympathikus, der für Erholung und geregelte Verdauung sorgt. Allerdings ist der Koffeingehalt von Coca-Cola deutlich niedriger als z. B. der von Kaffee. Durchschnittlicher Filterkaffee enthält je nach Zubereitung ca. 30 bis 70 mg Koffein pro 100 ml.
Knochen
Die Framingham Osteoporosis Study von 2006 legt den Verdacht nahe, dass eine häufige Einnahme von Cola-Getränken, nicht aber von anderen kohlensäurehaltigen Getränken, bei Frauen zu einer deutlichen Schwächung der Knochen führt. Das wird von den Erstellern der Studie auf den hohen Anteil von Phosphorsäure zurückgeführt, die den Körper an der Aufnahme von Calcium hindert und die Ausscheidung des Minerals fördert. Auch das in Cola enthaltene Koffein wurde in der Vergangenheit bereits mit Osteoporose in Verbindung gebracht. Ebenso hat die Studie ergeben, dass sich die von einem Teil der Probanden eingenommene koffeinfreie Cola weniger stark auf den Mineralstoffgehalt der Knochen ausgewirkt hat.
Hyperaktivität
Phosphorsäure steht im Verdacht, Hyperaktivität, Nervosität und Konzentrationsstörungen bei Kindern auszulösen.
Kaliummangel
In einem 2009 von Wissenschaftlern der Universität von Ioannina veröffentlichten Fachartikel werden mehrere Fallbeispiele aufgeführt, bei denen exzessiver Cola-Konsum zu gravierendem Kaliummangel mit der Folge von Müdigkeit und Muskellähmungen bis hin zu Herzrhythmusstörungen geführt hatte. Es wird angenommen, dass der Kaliummangel durch ein Zusammenspiel der Inhaltsstoffe Glukose, Fructose und Koffein verursacht wird. Eine Einschränkung des Cola-Konsums bei gleichzeitiger Einnahme von Kalium-Präparaten führe aber in der Regel zu einer schnellen und vollständigen Erholung.
Süßstoffe
Coca-Cola light und Coca-Cola zero sugar enthalten die Süßstoffe Natriumcyclamat (E 952), Acesulfam K (E 950) und Aspartam (E 951). Über die genaue Menge der jeweiligen Süßstoffe pro Liter Coca-Cola werden keine Angaben gemacht. Daher ist nicht kontrollierbar, ob bei hohem Konsum von Coca-Cola light oder Coca-Cola zero sugar die erlaubte Tagesdosis der jeweiligen Süßstoffe überschritten wird.
Die FDA wertete eine große Anzahl toxikologischer und klinischer Studien zu Aspartam aus und erklärte 1981 den Gebrauch für sicher, sofern eine Dosis von 50 mg/kg Körpergewicht/Tag nicht überschritten wird. Der EU-Grenzwert wurde auf 40 mg/kg Körpergewicht/Tag festgesetzt. Über mögliche weitere Gesundheitsgefahren bei der Verwendung von Aspartam gibt es kontroverse Meinungen. Im Februar 2011 hat die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit eine Studie veröffentlicht, bei der Aspartam für unbedenklich befunden wurde.
Aspartam ist eine Phenylalaninquelle und darf von Menschen mit der Stoffwechselerkrankung Phenylketonurie nur in begrenzter Dosis eingenommen werden, da sie Phenylalanin im Körper nicht abbauen können. Deswegen wird auf den Flaschenetiketten bei Aspartam der Zusatz „enthält eine Phenylalaninquelle“ ergänzt.
Aktuelle Forschung zeigt in-vitro potentiell negative Veränderungen der Darmflora auf: unter dem Einfluss von Aspartam, Saccharin und Sucralose können gesunde Darmbakterien in krankmachende Mikroben umgewandelt werden. Im Gegensatz zur von Coca-Cola postulierten Hilfe bei Magen-Darm-Beschwerden.
Coca-Cola als Mischgetränk
Coca-Cola wird weltweit mit einer Reihe von anderen Getränken vermischt. In der Gastronomie wird es häufig mit Spirituosen versetzt angeboten. Der aus Coca-Cola und Rum hergestellte Longdrink heißt Cuba Libre. In Kombination mit Rotwein wurden der Mischung in unterschiedlichen Ländern verschiedene Bezeichnungen beigegeben. International ist dafür vielfach die Bezeichnung Calimocho in Verwendung. In Österreich heißt die Mischung aus Coca-Cola und Rotwein Bonanza oder Fezzi. In Hamburg brachte im Jahr 2009 der Fußballclub FC St. Pauli unter dem Produktnamen Kalte Muschi eine vorproduzierte Coca-Cola-Rotwein-Mischung in Flaschen als offizielles Kaltgetränk des Vereins heraus. Für die Mischung aus Cola und Bier gibt es verschiedenen Bezeichnungen. Am bekanntesten ist Diesel. Weitere geläufige Namen für Cola Bier sind Moorwasser, Schmutz und Schweinebier. Die frühere Bezeichnung in Bayern und Tirol „Neger“ für Colabier ist inzwischen verpönt. Wird beim Mischen von Cola Bier nicht Pilsener, sondern Weizenbier verwendet, heißt das Getränk Colaweizen. Ein Cola Bier-Mischung mit Altbier heißt Krefelder, wird Schwarzbier verwendet trinkt man Greifswalder.
Kritik
Durch das Inverkehrbringen von Coca-Cola in Plastikflaschen und Dosen wird weltweit die Umwelt verschmutzt. Die Coca-Cola Company gilt als das Unternehmen, das weltweit den meisten Plastikmüll in den Ozeanen zu verantworten hat. Immer wieder stand auch der Umgang mit dem Trinkwasser in der Kritik. Zudem wird dem Unternehmen rassistische Diskriminierung von Schwarzen und mehrfacher Verstoß gegen die Menschenrechte vorgeworfen. Dies führte zu mehreren Boykottbewegungen gegen die Marke Coca-Cola.
Mythen
Aggressive Substanz
In Coca-Cola eingelegtes Fleisch, Zähne oder Knochen lösen sich nicht auf. In Umlauf gebracht wurde dieses Gerücht angeblich von deutschen Mitbewerbern während der Zeit des Nationalsozialismus. Zurück geht dieser Mythos auf den Effekt, dass Fleisch aufquillt, wenn es sauer eingelegt wird. So wird zum Beispiel der Rheinische Sauerbraten zubereitet. Den gleichen Effekt ruft die Phosphorsäure in Coca-Cola hervor. Sie verleiht dem Getränk den charakteristischen, sauren und damit erfrischenden Geschmack. Phosphorsäure ist nicht nur in Coca-Cola, sondern u. a. auch in Käse, Brot, Milch und Eiern enthalten.
Man kann einen rostigen Nagel oder Schlüssel tatsächlich entrosten, indem man ihn ca. 48 Stunden in Coca-Cola einlegt, denn die enthaltene Phosphorsäure ist ein effektiver Rostumwandler. Auch trübe gewordene Geldstücke können mit Coca-Cola gereinigt werden; andere säurehaltige Getränke haben denselben Effekt.
Siehe auch
World of Coca-Cola (Museum)
Liste der Getränkemarken der Coca-Cola Company im deutschsprachigen Raum
Knibbelbild
Eins, zwei, drei, Film mit Coca-Cola-Bezug
Liste von Cola-Marken
Literatur
Amanda Ciafone: Counter-Cola: A Multinational History of the Global Corporation. University of California Press, Berkeley 2019, ISBN 978-0-520-29902-3.
Andrea Exler: Coca-Cola. Vom selbstgebrauten Aufputschmittel zur amerikanischen Ikone. Europäische Verlagsanstalt, Hamburg 2006, ISBN 3-434-46810-2.
Maja Kraas: Produkthaftung und Warnhinweise: eine rechtsökonomische Analyse am Beispiel von Coca-Cola. Lang, Frankfurt a. M. 2004, ISBN 3-631-52360-2.
Charles Kraus: More than Just a Soft Drink: Coca-Cola and China’s Early Reform and Opening. In: Diplomatic History. Volume 43, Issue 1, Januar 2019, S. 107–129, doi:10.1093/dh/dhy060.
Siegfried Pater: Zuckerwasser. Vom Coca-Cola-Imperium. Retap, Bonn 2002, ISBN 3-931988-09-0.
David Greising: Die Welt soll Coca-Cola trinken: so machte Roberto Goizueta Coca-Cola zur Nr. 1. Verlag Moderne Industrie, Landsberg/Lech 1999, ISBN 3-478-36720-4.
Mark Pendergrast: Für Gott, Vaterland und Coca-Cola. Heyne, München 1995, ISBN 3-453-08784-4.
Ulf Biedermann: Ein amerikanischer Traum: Coca-Cola: die unglaubliche Geschichte eines 100-jährigen Erfolges. Rasch und Röhring, Hamburg 1985, ISBN 3-89136-044-4.
Helmut Fritz: Das Evangelium der Erfrischung: Coca-Cola, die Geschichte eines Markenartikels. Forschungsschwerpunkt Massenmedien und Kommunikation an der Univ. Siegen, 1980.
Christa Murken-Altrogge: Werbung, Mythos, Kunst: am Beispiel Coca-Cola. Wasmuth, Tübingen 1977, ISBN 3-8030-3023-4.
Peter H. C. Mutke: Experimentelle Untersuchungen über den psychophysischen Einfluß von Coca-Cola auf den alkoholbeeinflußten Menschen. Heidelberg 1953, Hochschulschrift: Heidelberg, Med. F., Diss. vom 18. April 1953 (nicht f. d. Aust.).
Weblinks
Offizielles Marken-Gateway ‘Coke’: in Deutschland, in Österreich, in der Schweiz
Coca-Cola offizielle Unternehmensseite
Alexa Lutteri/red: Welche Cola-Mythen stimmen wirklich? Interview in der Zeitschrift News.at. Januar 2018
Sammlung von Großstadtmythen über Coca-Cola (englisch)
Kritik der linken Gewerkschafter an der Firmenpolitik in Südamerika
. In: ta7.de. Historisches, Inhaltsstoffe, ‚Risiken und Nebenwirkungen‘
Coca-Cola Reklame. In: wirtschaftswundermuseum.de (Coca-Cola im Spiegel deutscher Zeitschriftenwerbung der Nachkriegszeit)
Einzelnachweise
The Coca-Cola Company
Markenname (Erfrischungsgetränk)
Coffeinhaltiges Erfrischungsgetränk
Träger des Premios Konex
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https://de.wikipedia.org/wiki/Butter
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Butter
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Butter (, , über von ) ist ein meist aus dem Rahm von Milch hergestelltes Streichfett. Überwiegend wird Butter aus Kuhmilch hergestellt, es gibt jedoch auch Butter aus Schafmilch und Ziegenmilch.
Im Alemannischen wird der Butter Anke(n), genannt, das über mittelhochdeutsch (der) anke und althochdeutsch anko aus dem Indogermanischen stammt; eine ostalemannische Bezeichnung ist Schmalz.
Im übertragenen Sinne werden auch einige pflanzliche Produkte mit dem Wortbestandteil „-butter“ oder „-fett“ bezeichnet, zum Beispiel die Pflanzenfette Kakaobutter und Sheabutter oder die Erdnussbutter.
Chemische Zusammensetzung
Nach einer EU-Verordnung muss Butter zu mindestens 80 Prozent aus Milchfett bestehen. Ein Wassergehalt von 16 Prozent darf nicht überschritten werden, damit das Milcherzeugnis als Butter verkauft werden darf. Weitere Inhaltsstoffe der Butter sind die Milchbestandteile Milchzucker, Mineralstoffe, Cholesterin, Phospholipide, Proteine, fettlösliche Vitamine, Milchsäure und Aromastoffe.
Charakteristisch für Butter ist ein vergleichsweise hoher Gehalt an Glyceriden der Ölsäure und kurzkettiger gesättigter Fettsäuren, (vorr. Buttersäure). Der Brennwert beträgt etwa 3100 kJ (entspr. 740 kcal) pro 100 g.
Die Fütterung der Kühe wirkt sich auf die Inhaltsstoffe der Butter aus. Bekommen die Kühe viel Grünfutter, enthält die Butter mehr Omega-3-Fettsäuren. Mais und Kraftfutter senken die Gehalte an Omega-3-Fettsäuren. Je höher der Anteil des Grünfutters im Vergleich zum Kraftfutter, desto mehr ungesättigte Fettsäure und Vitamine enthalten die Milch und damit auch die Butter.
Aroma
In Butter wurden mehr als 230 verschiedene Aromastoffe gefunden. Das Aroma wird im Wesentlichen von den drei Stoffen Diacetyl, δ-Decalacton und Buttersäure bestimmt.
Es gibt verschiedene Einflussfaktoren auf das Aroma von Butter. Es wird durch die Tierfütterung, die Jahreszeit, den Herstellungsprozess und die Lagerbedingungen beeinflusst.
Geschichte
Wann und wo Butter zum ersten Mal hergestellt wurde, ist nicht bekannt. Fest steht nur, dass es wohl in Verbindung mit der Einführung der Viehzucht geschah. Als älteste Darstellung gilt ein sumerisches Mosaik aus der Zeit um 3000 v. Chr.
Nicht immer ist klar, ob bei älteren Erwähnungen Butter im heutigen Sinne gemeint ist. So könnte es sich bei der im Tanach erwähnten Butter auch einfach nur um dicke Milch handeln.
Bereits in der Antike war Griechen und Römern Butter bekannt. Allerdings wurde sie von ihnen nicht zum Verzehr verwendet, dafür dominierte dort das Olivenöl zu stark. Sie wurde für medizinische Zwecke benutzt.
Seit dem Mittelalter entwickelte sich Butter (insbesondere als Butyrum vaccini, d. h. Kuhbutter) zu einem wichtigen Handelsgut, das in Töpfen und Fässern, auch auf dem Seeweg, transportiert wurde (wenn durch geeignete Maßnahmen während des Transportes die Haltbarkeit gewährleistet werden konnte).
Butter war wie andere tierische Produkte früher in den katholischen Fastenzeiten verboten, bis Papst Innozenz VIII. im Jahr 1491 die Zugabe von Butter erlaubte. Dessen Schreiben ging als Butterbrief in die Geschichte ein.
In früheren Zeiten erfolgte die zur Butterherstellung notwendige Vorstufe der Aufrahmung nach Möglichkeit in kühlen, gut mit Torf isolierten Eiskellern, die stets im Winter mit Natureis neu befüllt wurden. Die Milch lagerte dabei einige Tage in Satten aus Holz, Ton oder Weißblech (bei möglichst 12 bis 15 °C). So gab es regional unterschiedliche Verfahren, z. B. das holsteinische, das gussandsche, das holländische oder friesische, das schwedische oder schwarzsche, das Verfahren nach Reimers und die amerikanische Massenaufrahmung. Bei all diesen Verfahren (außer dem holländischen und schwarzschen) lag die Schichthöhe zwischen 3,5 und 15 cm.
Beim holländischen Verfahren betrug die Schicht 40 bis 50 cm, bei zwei- bis dreimaligem Abrahmen. Das amerikanische Massenverfahren hatte eine Schichtdicke von 10 bis 15 cm; die Wannen fassten 100–500 Liter Milch. Dabei wurden, zumeist mit Wasserkühlung, 15 bis 18 °C erreicht. Revolutioniert wurden diese Varianten durch das Schwarzsche Verfahren, bei dem die Schichthöhe 40 cm betrug. Die Weißblechbehälter fassten 40–50 Liter, gut in Eis gepackt, und der Inhalt war in zwölf Stunden abgerahmt. So gewann man in zwölf Stunden etwa 74 % des Milchfettes als süßen Rahm.
Auch wurde damals eine neue Methode der Aufrahmung (mit kleinen schrägen Querwänden und mit nur knapp 1 cm Abstand der Kammern zur schnelleren Rahmbildung) entwickelt, die aber durch die nun aufkommende (fast schon industrielle) Entrahmung per Zentrifuge nicht mehr genutzt wurde.
In der durch die Erfindung von Milchzentrifuge (Lefeldt) und Dampfmaschine um 1880 in Deutschland aufkommenden dörflichen Dampfmolkereien erfolgte die Reifung des Rahms im Rahmreifer unter Zugabe des Säureweckers (Bakterienkultur) und optional, jahreszeitlich bedingt, Kälte oder Wärme (d. h. Heißwasser, Wasser, Eiswasser oder Kühlsole über Doppelwand oder Schwenkarm). Der Buttermeier gab den am Vortag aus der Rohmilch herauszentrifugierten, auf etwa 95 °C erhitzten und danach schnell abgekühlten Rahm am nächsten Morgen über eine Rahmrinne ins Butterfass. Er erkannte nach etwa 35 Minuten am Klang und am blank gewaschenen Schauglas den richtigen Moment der Abbutterung. Der so entstandene Überdruck und die Buttermilch konnten abgelassen werden.
Bevor die Butterfässer später ein integriertes System von Knetwalzen erhielten, musste die Butter anschließend (nach dem Waschen und ggf. Salzen) separat auf einem Tisch geknetet werden.
Mit der Industriellen Revolution im 19. Jahrhundert und der Verbreitung der Dampfmolkereien, die sich viele Jahrzehnte später zu Großmolkereien konzentrierten, wurde auch die Butterproduktion industrialisiert. Begleitet wurde das durch zunehmende Industrialisierung der Landwirtschaft, ganzjährige Stallhaltung, Melkmaschinen, jahreszeitlich unabhängige Verfügbarkeit von Kraftfutter, verbesserte medizinische Versorgung des Viehs.
Vor Aufkommen der Kühltechnik wurde die Butter mancherorts mit Käse umhüllt, um sie vor Verderben zu schützen. In Italien verwendete man dafür etwa den Burrata. Der ebenfalls italienische Burrino diente demselben Zweck und wird noch mit einem Kern aus Butter hergestellt.
Die Entwicklung der künstlichen Kältetechnik im 19. Jahrhundert bedeutete einen weiteren Durchbruch. Nun konnte Butter einfacher transportiert und viel länger gelagert werden, ohne ranzig zu werden. Mittels Kühlwagen konnte ab 1898 beispielsweise Butter aus Ostpreußen in Güterzügen nach Berlin transportiert werden. Auch auf die Herstellungsprozesse wirkte sich das aus. Im Jahre 1881 wurde das erste Kühlhaus mit Kältemaschinen, 1913 der erste Kühlschrank für den Hausgebrauch gebaut.
In den industrialisierten Ländern ist die lückenlose Kühlkette von der Milchgewinnung über die Butterherstellung, den Transport und Handel bis zum Verbraucher Standard geworden.
Herstellungsverfahren
Allgemeines
Obwohl Butter grundsätzlich aus jeder fetthaltigen Milch erzeugt werden kann, ist sie nicht immer leicht zu gewinnen. Kaum geeignet ist Milch von Stuten und Eselstuten, gut dagegen die Milch von Kühen, Schafen und Ziegen.
Butterherstellung
Früher wurde Butter dadurch gewonnen, dass man Milch zwei Tage stehen ließ. Den Rahm, der sich in dieser Zeit von alleine oben absetzt, schöpfte man dann ab. Er musste anschließend eine gewisse Zeit reifen, bevor bei etwa 7 bis 8 °C von Hand gebuttert wurde.
Die physikalische Rahmreifung dient zur teilweisen Rekristallisation und optimalen Verteilung des Milchfettes und ermöglicht eine Verbutterung von ungesäuertem Rahm. Die biologische Rahmreifung, nach dem Zufügen einer Starterkultur (nur bei mildgesäuerter und Sauerrahmbutter), senkt allmählich den pH-Wert und bildet durch verschiedene Mikroorganismen (u. a. Streptococcus lactis, Streptococcus cremoris) ein gewisses Aroma.
Beim Butterungsprozess wird der Rahm geschlagen. Dadurch werden die Fettkügelchen des Milchfetts zerstört. Die Fetthülle bricht auf und das enthaltene Fett tritt aus. Jetzt kann sich das Fett untereinander verkleben. Dabei werden Teile der Fetthüllen, Wasser und etwas Milcheiweiß eingeschlossen. Aus der flüssigen Fett-in-Wasser-Emulsion wird eine feste Wasser-in-Fett-Emulsion. Der mit Abstand größte Teil dieser fettfreien Komponenten (Milchserum) tritt als Buttermilch aus. Die Butter selbst wird schließlich zu einer homogenen, geschmeidigen Masse geknetet, die anschließend geformt und abgepackt wird.
Färbung
Die Farbe der Butter wird durch zwei Faktoren beeinflusst: mittelbar durch die Art des Kuhfutters und unmittelbar durch zugesetzte Farbstoffe.
Die typische gelbe Farbe entsteht auf natürlichem Wege dadurch, dass Kühe frisches Gras auf der Weide fressen. Dieses enthält wie auch die namensgebenden gelblich-roten Karotten Carotinoide, wobei das Grün des Chlorophylls das Gelb der Carotinoide überdeckt. Da Carotinoide fettlöslich sind, reichern sie sich im Milchfett und damit auch in der Butter an. Das führt dazu, dass die Butter eine gelbe Farbe annimmt. Wenn die Kühe einfaches, nicht mit Farbstoffen angereichertes Kraftfutter und Heu erhalten, wie im Winter oder ganzjährig in der modernen Landwirtschaft, ist die Butter eher weiß gefärbt.
Damit der moderne Verbraucher das ganze Jahr über Butter mit gleicher Farbe erhält, wird in Deutschland entweder der Sahne in der Molkerei oder bereits dem Futter der Kühe eine den jeweiligen Futterbedingungen angepasste Menge Beta-Carotin zugefügt, hergestellt synthetisch oder mithilfe von Mikroorganismen, wobei gentechnische Verfahren erlaubt sind. Eine Beifütterung von Karotten ist ebenfalls möglich. Auch früher wurde die Butter schon durch Blütensaft der Ringelblume und der – als durchaus giftig bekannten – Sumpfdotterblume gelblich gefärbt. Die Gelbfärbung hatte und hat vorwiegend den Zweck, die bei nicht mehr ganz frischer Butter typische, außen beginnende Gelbverfärbung zu kaschieren.
Weit verbreitet ist die falsche Annahme, die Praxis des Butterfärbens habe damit zu tun, dass die Qualität der Butter sich
bei unterschiedlich fettreicher Fütterung der Kühe auch farblich unterscheide. Dabei wird unterstellt, Herbst- und Wintermilch seien fettarm und ergäben damit nur eine weißliche Butter; eine Gelbfärbung habe daher einen höheren Fettgehalt vortäuschen sollen. Das ist allerdings nicht richtig, denn sogar Butter mit besonders hohem Fettanteil kann im frischen Zustand weiß sein, da die Farbe der Butter mit den enthaltenen Farbstoffen, nicht aber dem Fettgehalt zusammenhängt. Zum anderen korreliert der Fettgehalt der Butter nicht einmal annähernd mit jenem des Futters bzw. der Milch. Wie fetthaltig eine Butter ist, hängt vielmehr vom Herstellungsprozess ab. (Aus Milch mit höherem Fettgehalt kann lediglich eine größere Menge Butter gewonnen werden.)
Das Butterfärben wird in Ländern unterschiedlich gehandhabt. In Italien ist die Butter beispielsweise in aller Regel reinweiß.
Heutige industrielle Buttererzeugung
Butter darf in Deutschland lediglich aus pasteurisiertem Rahm hergestellt werden. Die Milch wird dafür in Zentrifugen (Separatoren) in wenigen Sekunden entrahmt, der Rahm dann pasteurisiert, also kurz erhitzt und abgekühlt, und anschließend rund 20 Stunden zur Reifung gelagert. In der Butterungsmaschine, die aus einem Schläger, einer Trommel und einem Kneter besteht, wird der Rahm nun geschlagen, die Butter abgetrennt und geknetet. Anschließend wird die Butter in einer Ausformmaschine geformt und abgepackt. Als Nebenprodukt der Butterung entsteht die Buttermilch (entspricht dem Rahm ohne das Milchfett). Für ein Kilogramm Butter werden mehr als 20 Liter Milch benötigt.
Auf Almen wird noch neben Rohmilchkäse auch Rohmilchbutter aus nicht pasteurisierter Milch hergestellt.
Umweltwirkung
1 kg Bio-Butter verursacht etwa 11,5 kg Treibhausgas. 1 kg konventionell produzierte Butter rund 9 kg.
Vergleicht man die Umweltwirkung von Butter, wie sie in Deutschland, Großbritannien und Frankreich konsumiert wird, mit Margarine, zeigt sich für Margarine eine geringere Umweltbelastung in den Kategorien Treibhausgase, Eutrophierung, Bodenversauerung, Energieverbrauch, und Flächenbedarf.
Auch global zeigt die Lifecycle-Analyse, dass pflanzliche Streichfette geringere Umweltwirkungen haben als Butter. Dies gilt sowohl für Treibhausgase, Flächenbedarf als auch Wasserverbrauch. Dabei ist die Zusammensetzung der Butter ebenso unerheblich wie die geographische Lage und der Einfluss geänderter Flächennutzung.
Gesundheit
Die Industrielle Revolution bescherte der Butter mit der Margarine eine ernstliche Konkurrenz. Für Massen armer Fabrikarbeiter, die sich Butter nicht leisten konnten, und zur Verpflegung des Militärs wurde ein billiges Streichfett benötigt. 1869 entwickelte der Chemiker Hippolyte Mège-Mouriès im Auftrag des französischen Kaisers Napoleon III. den ersten Butterersatz auf Basis von Milch, Wasser und Nierenfett. Bis zur Jahrhundertwende entwickelte sich eine bedeutende Margarine-Industrie. Inzwischen wird Margarine außer über ihren geringen Preis auch über eine gesundheitsfördernde Wirkung vermarktet. Dabei wird betont, dass sie im Vergleich zu Butter kaum gesättigte Fette enthält. Während Butter daher beim Nutri-Score die niedrigste Kennzeichnung „E“ erhält, wird Margarine meist ein besseres „D“ zugeteilt.
Für diätetische Zwecke bietet die Industrie inzwischen Butterprodukte mit reduziertem Fettgehalt an, so Dreiviertelfettbutter, Halbfettbutter oder Milchstreichfett.
Buttersorten
Sauerrahmbutter wird aus mikrobiell gesäuerter Milch, Sahne oder Molkensahne hergestellt. Mit Hilfe von spezifischen Milchsäurebakterien (mesophilen Säureweckern) entstehen Aromastoffe (Diacetyl), die der Sauerrahmbutter den typischen Geschmack verleihen. Der pH-Wert darf 5,1 nicht überschreiten.
Süßrahmbutter kann aus Milch, Rahm oder Molkenrahm hergestellt werden. Im Gegensatz zur Sauerrahmbutter wird sie ohne den Zusatz von Milchsäurebakterien hergestellt. Ihr Geschmack ist frisch-sahnig und mild. Der pH-Wert darf nicht unter 6,4 liegen. Sie eignet sich besonders um Soßen aufzumontieren, da sie beim Erhitzen weniger schnell ausflockt als Sauerrahmbutter und den Soßen gut Bindung gibt.
Mildgesäuerte Butter wird aus Süßrahm hergestellt, in den nach der Butterung Milchsäurebakterienkulturen oder Milchsäure eingeknetet werden. Als Mildgesäuerte Butter wird eine Butter bezeichnet, deren pH-Wert zwischen 6,3 und 5,1 liegt.
Salzbutter ist mit verschiedenen Arten von Salz versetzte Butter. Dafür wird grobes und feines Meersalz oder auch Steinsalz in unterschiedlicher Konzentration zugesetzt.
Es existieren Butterfette mit reduziertem Fettanteil.
Die in Deutschland gehandelte Butter wird zumeist aus Kuhmilch hergestellt. Allerdings kann Butter auch aus der Milch anderer Tiere gewonnen werden. So tauchen im Handel gelegentlich Ziegenbutter und Schafsbutter auf. Sogar aus Muttermilch kann Butter gewonnen werden. Außerhalb Deutschlands wird Butter auch aus Büffelmilch (Büffelbutter) oder aus Yakmilch (Yakbutter) gewonnen. Butter, die nicht von Rindern stammt, muss nach deutschem Recht mit der jeweiligen Tierart bezeichnet werden (z. B. Ziegenbutter).
Drei bis sechs Prozent aller Fettsäureester in Butter sind den trans-Fettsäuren zuzuordnen.
Im Handel finden sich weitere Sorten:
Halligbutter – auf den Halligen produzierte Butter
Maibutter – hochwertige Butter von Kühen, die im Frühjahr nicht mehr im Stall, sondern auf der Weide sind
Sozialbutter/Weihnachtsbutter – EG- beziehungsweise EU-subventionierte Butter zum Abbau des Butterberges
EU-Vermarktungsnormen
Für die Europäische Union sind die Verkehrsbegriffe für zum menschlichen Verzehr bestimmten Fette verbindlich definiert. Gemeinsame Begriffsvoraussetzung ist, dass sie bei 20 Grad Celsius festbleibend streichfähig sind (Streichfette). Im EU-Binnenmarkt darf so ein Fett direkt oder indirekt (etwa über Gaststätten) an Endverbraucher nur dann als Butter in Verkehr gebracht werden, wenn das Erzeugnis höchstens 16 % Wasser, zwischen 80 % und 90 % Milchfette und höchstens 2 % fettfreie Milchtrockenmasse enthält.
Daneben sind Milchfette mit geringerem Fettgehalt definiert, die aber nicht nur als „Butter“ bezeichnet werden dürfen, sondern zu kennzeichnen sind als:
Dreiviertelfettbutter (oder seit 2016: fettreduziert oder light) mit 60 bis 62 % Milchfettgehalt. Geringe Mengen Sorbinsäure dürfen zur Konservierung zugesetzt werden. Ebenso erlaubt sind Speisegelatine, Zitronensäure und andere Genusssäuren sowie Emulgatoren. Die Färbung mit β-Carotin ist üblich.
Halbfettbutter (seit 2016 zusätzlich oder bloß: light, oder fettreduziert) hat einen Milchfettanteil von 39 bis 41 %. Erlaubt sind Zusätze wie bei Dreiviertelfettbutter. Auch hier ist Färbung mit β-Carotin üblich.
Milchfett X %: (seit 2016 zusätzlich erlaubt light oder fettreduziert) jedes nicht in vorgenannte Gruppen fallendes Milchfett, wobei X den Milchfettanteil in Prozent bezeichnet (z. B. „Milchfett 50 %“ enthält 50 % Milchfett).
Abweichend vom Grundgedanken des Gemeinsamen Marktes sind den EU-Mitgliedsstaaten bei Streichfetten nationale Regelungen zu Qualitätsklassen gestattet, sofern sie Erzeugnisse aus anderen Mitgliedsstaaten nicht diskriminieren.
Qualitätsklassen (EU)
Deutschland
Butter aus Deutschland wird nach der Butterverordnung (ButtV) in Handelsklassen eingeteilt, sofern sie aus einer Molkerei kommt und bei der Vermarktung als Butter der Handelsklassen gekennzeichnet werden soll. Eine Molkerei ist dafür definiert als milchwirtschaftliches Unternehmen mit einem durchschnittlichen Milchumsatz ab 500 Liter je Tag. Butter der Handelsklassen darf nur unmittelbar aus Kuhmilch, Rahm oder Molkenrahm hergestellt werden, wenn diese pasteurisiert wurden; dazu verwendet werden darf nur Wasser und Speisesalz und es dürfen nur die Sorten Sauerrahm-, Süßrahm- oder Mildgesäuerte Butter sein. Zur Überwachung der Qualität wird eine Butterprüfung durchgeführt. Die Herstellerbetriebe sind dabei auf eigene Kosten zur Probenahme und zum Versand der Proben verpflichtet. Bei dieser Butterprüfung werden beurteilt:
sensorische Eigenschaften (Aussehen, Geruch, Geschmack, Textur)
Wassergehalt
Streichfähigkeit
pH-Wert und Mikrobiologie (durch Laboruntersuchung)
Den ersten drei Kriterien werden Punkte von 1 bis 5 zugeordnet, wobei 1 bei geringer und 5 bei hoher Qualität vergeben wird. Die Punkte werden dann zur Beurteilung der Handelsklasse der Butter herangezogen. Zusätzlich erfolgt eine stichprobenartige Prüfung der Qualität von Butter einer Handelsklasse in Molkereien, Ausformstellen und im Lebensmittelhandel. Mit bestandener Butterprüfung dürfen die Erzeugnisse mit dem Gütezeichen mit Adler beworben werden.
(Deutsche) Markenbutter
Die Handelsklasse „Deutsche Markenbutter“ wird für die qualitativ höchstwertige Butter vergeben. Sie darf nur aus Milch von Kühen oder daraus unmittelbar gewonnenem Rahm (Sahne) hergestellt werden. Bei der monatlich durchzuführenden Butterprüfung müssen in jeder geprüften Kategorie mindestens vier von fünf möglichen Punkten erreicht werden. Zur Verpackung sind spezielle Buttereinwickler zu verwenden.
Butter aus anderen EU-Mitgliedsstaaten, die die übrigen Anforderungen dieser Handelsklasse erfüllen, dürfen unter Hinweis auf die Herkunft als „Markenbutter“ vermarktet werden.
Deutsche Molkereibutter
Bei ihrer Herstellung darf z. B. anders als bei der Markenbutter auch Molkenrahm verwendet werden. Für die Handelsklasse „Deutsche Molkereibutter“ reicht die Butterprüfung alle zwei Monate. Dabei müssen in jeder geprüften Kategorie mindestens drei von fünf möglichen Punkten erzielt werden.
Andere Kennzeichnungen
Butter aus einem Erzeugerbetrieb darf nur unter der Bezeichnung Landbutter in Verkehr gebracht werden; dieser Name bezeichnet keine Handelsklasse und unterliegt auch nicht ihren zusätzlichen Qualitätsprüfungen. Unter folgenden Bedingungen darf sie als Rohmilcherzeugnis hergestellt werden (d. h. der Rahm wird nicht pasteurisiert):
Die Rohmilch muss unter festgelegten hygienischen Anforderungen gewonnen werden.
Die Abgabe muss der zuständigen Behörde gemeldet sein.
Zur Säuerung werden nur spezifische Milchsäurebakterien verwendet.
Diese Butter muss dann den Hinweis „mit Rohmilch hergestellt“ tragen.
Österreich
In Österreich wird Butter fast ausschließlich aus Kuhmilch hergestellt. Butter aus Ziegen- oder Schafmilch ist hier eine Rarität.
Qualitätsstufen
Als höchste Qualitätsstufe (Güteklasse 1) gilt die Teebutter oder einfach Butter. Sie besitzt einen mild-säuerlichen Geschmack bei Sauerrahmbutter, beziehungsweise Sahnegeschmack im Fall von Süßrahmbutter. Für die Herstellung von Teebutter darf nur Milch oder Milchrahm verwendet werden.
Mit der Güteklasse 2 folgt die Tafelbutter. Sie darf leichte Geruchs- oder Geschmacksfehler aufweisen.
Die einfachste Stufe (Güteklasse 3) ist die Kochbutter. Sie kann stärker ausgeprägte Geruchs- oder Geschmacksfehler aufweisen und wird außer zum Kochen auch zur Herstellung von Butterschmalz verwendet, wobei Wasser und fettfreie Trockenmasse weitestgehend entfernt werden.
Die Bezeichnung „Teebutter“ für die höchste Qualitätsstufe gibt es seit dem Mitte des 19. Jahrhunderts. Im Einklang mit der damaligen Orthographie lautete die ursprüngliche Schreibung „Theebutter“ bzw. „Thee-Butter“. Als Terminus des Codex Alimentarius Austriacus, des Österreichischen Lebensmittelbuches, ist sie als wörtliche Übersetzung aus dem Deutschen auch in mehreren anderen Sprachen der ehemaligen Habsburgermonarchie belegt: und . Die genaue Herkunft des Begriffs ist unklar, sie geht aber vermutlich auf die Sitte des Nachmittagstees im englischen Stil zurück, der als Ausdruck besonders feiner Lebensart galt und zu dem Teegebäck und Butter in feinem Teeporzellan gereicht wurden. Vergleichbare Bezeichnungen für besonders hochwertige Lebensmittel sind beispielsweise Teebäckerei und Teewurst. Es kursieren auch viele andere anekdotische bzw. volksetymologische Herleitungen. So soll die Abkürzung „Tee“ für „Teschener erzherzögliche“ Butter gestanden haben (nach einer Molkerei in Teschen), eine Variante davon ist die Behauptung, dass 1890 bei einer kaiserlichen Tafel Butter mit der Aufschrift T.E.A. für „Teschen Erzherzog Albrecht“ Verwendung gefunden haben soll, woraus in Anlehnung an das englische Wort Tea die Teebutter entstanden wäre. Historische Belege gibt es dafür keine, vielmehr sind diese Erklärungen erst im Nachhinein aufgekommen. In Anklang an das Wort Teebutter entstand jedoch der österreichische Markenname Thea für die ab 1923 im Werk der Schicht AG (spätere Unilever, abgetragen bis 2015) in Wien-Atzgersdorf hergestellte Margarine.
Die Butter wird in Österreich vorwiegend ungesalzen verwendet. Gesalzene Butter darf bis zu 2 % Salz enthalten. Nicht gekennzeichnete Butter ist immer ungesalzen.
Andere Bezeichnungen
Einige andere Bezeichnungen sind ebenfalls üblich, doch auch sie unterliegen gewissen Qualitätsanforderungen:
Landbutter (aus rohem Rahm) muss mindestens der Tafelbutter-Qualitätsstufe entsprechen
Bauernbutter und Almbutter (aus rohem oder erhitztem Rahm)
Käsereibutter und Sennereibutter (aus rohem oder pasteurisiertem Rahm).
Wurde der Rahm nicht wärmebehandelt, so ist das auf der Packung zu vermerken als Hinweis wie „mit Rohmilch hergestellt“ oder „aus Rohrahm“.
Sommerbutter: Der Rahm, aus dem diese Butter hergestellt wird, wird ausschließlich in der Grünfutterperiode gewonnen und zu Sauerrahmbutter verarbeitet.
Bei der Fassbutter wird immer nur ein Fass voll Rahm durch Schlagen zu Butter verarbeitet. Deshalb können bei diesem aufwändigeren Verfahren pro Charge immer nur 1500 bis 2000 Kilogramm Butter in rund drei Stunden erzeugt werden. Fassbutter ist anschließend noch ein- bis zweimal zu waschen, um die restlichen Buttermilchreste vom Butterkorn zu trennen.
Die Bezeichnung Primina betrifft eine Teebuttersorte, die nur aus Sauerrahm hergestellt werden darf. Zur besseren Streichfähigkeit wird ausschließlich „Sommerrahm“ verwendet.
Schweizer Vermarktungsnormen
Die Qualitätsanforderungen in der Schweizer Milch- und Käseindustrie werden durch die Verordnungen des EDI (Eidgenössisches Departement des Innern) über Lebensmittel tierischer Herkunft geregelt. Die Qualitätsstufen haben sich ähnlich eingebürgert wie in den Nachbarländern, wobei die ersten beiden Qualitäten Vorzugs- und Kochbutter sensorisch keinen Unterschied aufweisen dürfen, also ausschließlich über den Frischegrad klassifiziert werden. Weil traditionsgemäß in den Sommermonaten, wenn sich viele Kühe auf der Alp befinden, weniger Rahm anfällt, wird ein Großteil der hergestellten Butter eingelagert.
Kommt es dennoch einmal zu einer ungenügenden Versorgung des Marktes mit Schweizer Butter, kann das Butterimportkontingent erhöht werden. Da die Wertschöpfung in der Käseproduktion pro Kilogramm Milch höher ausfällt, als wenn die Milch beispielsweise zu Butter oder Milchpulver verarbeitet wird, wurde in den letzten Jahren vermehrt Butter importiert, da mehr Milch für die Herstellung von Käse aufgewendet wurde.
Qualitätsgrade
Vorzugsbutter (Fettgehalt mindestens 82 %): darf nur aus frischem Süß- oder Sauerrahm hergestellt werden (pasteurisiert oder unpasteurisiert) und nur ohne vorherige Lagerung auf den Markt kommen; gesalzene Vorzugsbutter wird weniger verwendet; sie enthält etwa 1 % (höchstens 2 %) Kochsalz
Kochbutter (Lagerbutter) oder „die Butter“: tiefgekühlte Vorzugsbutter, nicht länger gelagert als neun Monate; Ausgangsprodukt für die Herstellung von anderen Buttererzeugnissen, weiter unterteilt je nach Fettgehalt; Kochbutter wird oft in Backwaren verwendet
Käsereibutter: aus pasteurisiertem Milch- und Sirtenrahm
Bratbutter („eingesottene“ Butter): entwässerte Butter, für hohe Temperaturen geeignet
Buttererzeugnisse
Neben der reinen Butter sind zahlreiche Erzeugnisse im Handel, die Butter als Haupt- oder Nebenbestandteil enthalten.
Butterschmalz
Butterschmalz ist aus Butter durch Entfernen von Wasser, Milcheiweiß und Milchzucker gewonnenes Butterreinfett.
Fraktioniertes Butterfett
Durch Kristallisation wird die Butter in einen hoch- und einen niedrigschmelzenden Teil zerlegt. Sie dient etwa als Ziehfett („Ziehbutter“) oder dazu, die Konsistenz von Halbfettbutter zu verbessern.
Buttermischungen
Im Handel sind zahlreiche Buttermischungen erhältlich. Die nachfolgende Liste erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Alle diese können auch selbstgemacht werden. Darüber hinaus existieren zahlreiche weitere Rezepte für Buttermischungen. Buttermischungen sind eine beliebte Beigabe zu Gebratenem und Gegrilltem anstelle von Soße, dienen zum Verfeinern von Gekochtem und Gedünstetem oder zum Würzen und Aufmontieren von Suppen und Soßen. Sie werden für Fisch und Fleisch ebenso verwendet, wie für Gemüse, Eier, Nudeln oder Reis.
Kräuterbutter ist eine mit Kräutern gemischte Butter. Als Schneckenbutter bezeichnet man eine spezielle Kräuterbutter, die für Weinbergschnecken Verwendung findet.
Pfefferbutter ist mit grünem Pfeffer gewürzt.
Knoblauchbutter besteht aus Butter und zerkleinertem Knoblauch.
Trüffelbutter enthält Trüffelstücke und gehört zu den teuersten Butterprodukten. Fertige Trüffelbutter erhält ihr Aroma allerdings oft durch künstliche Aromastoffe.
Hummerbutter ist eine Mischung aus Butter und Hummerfleisch.
Sardellenbutter besteht aus Butter und fein zerkleinerten gesalzenen Sardellen oder Sardellenpaste.
Café-de-Paris-Butter enthält neben einer Vielzahl von Kräutern und Gewürzen auch Cognac und Sardellen.
Salzbutter ist leicht gesalzene Süßrahmbutter
Schokoladenbutter ist Buttermischung mit Schokolade und Zucker. Sie wird u. a. in den Niederlanden (Chocoladeboter) hergestellt.
Weitere Buttererzeugnisse
Da Butter teurer ist als andere, insbesondere pflanzliche, Fette, wird sie häufig durch diese ersetzt. Der Buttergeschmack kann durch künstliche Aromen teilweise nachgeahmt werden. Künstliche Aromen werden auch bei sogenannten „Light-Produkten“ verwendet, bei denen auf Butter und Butterschmalz wegen ihres hohen Energiegehalts verzichtet wird.
Buttergebäck ist süßes oder salziges Gebäck mit einem deutlichen Anteil an Butter, z. B. Bamberger Hörnchen oder das schottische Shortbread. Letzteres kann 30 % Butter enthalten.
Schmalzgebäck wird in Butterschmalz schwimmend ausgebacken, z. B. Berliner. Allerdings werden dafür auch oft pflanzliche Fette eingesetzt.
Kuchen- und andere Teige: Rezepte geben oft Butter an. Bei Fertigprodukten werden jedoch eher Pflanzenfette verwendet. Das gilt auch für den bekannten Blätterteig und Plunderteig.
Die größten Butterproduzenten
Im Jahr 2020 wurden weltweit 6.080.453 Tonnen Butter (aus Kuhmilch) produziert. Die 15 größten Produzenten stellten zusammen 74,2 % davon her. Die Werte für die Schweiz und Österreich wurden zum Vergleich aufgeführt.
In Europa wurden insgesamt etwa 3,0 Millionen Tonnen Butter aus Kuhmilch produziert. Die größten Produzenten waren hier Deutschland, Frankreich und Irland.
Siehe auch: Milch („Weltproduktion von Kuhmilch“) und Käsesorten nach Herkunftsländern
Sprachliches
Neben Butter (auch Smör genannt) findet sich auch das im Alemannischen verwendete Wort Anken (vgl. , ). In manchen oberdeutschen und westmitteldeutschen Dialekten führt Butter den männlichen Artikel, was teils dem grammatikalischen Geschlecht von Anken geschuldet sein mag („der“ Butter wie „der“ Anken); teils – da der Butter weit über das Gebiet hinausgreift, in dem Anken verbreitet ist oder war – auf die sonst für maskuline Wörter typische Endung -er zurückzuführen ist.
Alles in (bester) Butter ist eine Redewendung und bedeutet etwa Alles in Ordnung. Sie bezieht sich wahrscheinlich auf frühere Hinweise, dass Speisen mit guter Butter anstatt billiger Fette zubereitet wurden. Nach einer häufig kolportierten Entstehungsgeschichte wurden im alten Venedig teure Gläser für den Transport mit Kutschen über die Alpen in warme, flüssige Butter eingelegt. Diese verfestigte sich und schützte so das zerbrechliche Gut. Für diese Geschichte gibt es keine authentischen Belege.
Die Butter vom Brot nehmen ist eine Redewendung, die besagt, dass jemandem etwas weggenommen wird; meist verwendet in der Form sich nicht die Butter vom Brot nehmen lassen – will sagen: nicht bereit sein, durch einen anderen verursachte Minderungen oder Einschränkungen kampflos hinzunehmen.
Butter bei die Fische ist eine Redewendung und bedeutet die Aufforderung Klartext zu reden, zur Sache zu kommen oder etwas anzupacken. Die Herkunft der Redewendung wird darin gesehen, dass gebratener oder gebackener Fisch oft mit einem Stückchen Butter serviert wird, das erst kurz vor dem Essen auf den heißen Fisch gegeben wird, damit es nicht zerläuft. Sobald Butter bei die Fische gegeben wurde, kann gegessen werden, man kommt endlich zur Sache.
Die Bezeichnung Schmetterling geht darauf zurück, dass Schmetterlinge früher in Verdacht standen, vom „Schmetten“, dem Milchrahm, zu fressen (siehe zur Wortherkunft Schmand). Daran schließen sich auch die früher in Nord- und Mitteldeutschland vorkommenden Bezeichnungen Butterflieg, Schmandlecke, Botterlicker, Molketewer, Molkendew sowie das englische an. Dieses wurde mit dem Volksaberglauben vermischt, dass sich Hexen in Schmetterlinge verwandelten, um den Bauern Rahm oder Butter zu stehlen oder zu verderben.
Der Ausdruck Gute Butter stammt aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. „Gute“ (gemeint ist echte) Butter war für viele Menschen wegen der Fettlücke kaum erschwinglich und in Kriegs- und Krisenzeiten selten erhältlich. Während man normalerweise auf einfache Margarine oder Ersatzfettkombinationen zurückgriff, war die Verwendung von Guter Butter besonderen Gelegenheiten vorbehalten und die billige Margarine wurde als Butter bezeichnet.
Siehe auch
Moorbutter – archäologische Funde von Butter in Moor und Torf
Weblinks
(Deutschland)
Stiftung Warentest: Butter: Jede Vierte „mangelhaft“ (Test vom März 2009)
Statista: Marktvolumen von Butter in China 2016 (abgerufen am 20. November 2022)
Einzelnachweise
Milchfetterzeugnis
Wikipedia:Artikel mit Video
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Q34172
| 165.502557 |
313205
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https://de.wikipedia.org/wiki/Seekabel
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Seekabel
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Ein Seekabel (auch Unterseekabel, insbesondere außerhalb von Meeren auch Unterwasserkabel genannt) ist ein zumindest im Wesentlichen in einem Gewässer verlegtes Kabel zur Datenübertragung oder auch für die Übertragung elektrischer Energie. Seekabel zur Energieübertragung sind ab etwa 70 km Länge nicht mehr für die Übertragung von üblichem Dreiphasenwechselstrom geeignet, in diesem Fall muss die aufwendigere Hochspannungs-Gleichstrom-Übertragung (HGÜ) eingesetzt werden. Verlegt werden sie zumeist durch spezielle Schiffe, sogenannte Kabelleger.
Seekabel müssen wegen der technisch aufwendigen Wartung außerordentlich robust gebaut sein. Ungeschirmte monopolare Seekabel für die Hochspannungs-Gleichstrom-Übertragung müssen auf Seekarten markiert sein, da sie durch ihr Magnetfeld Magnetkompasse von Schiffen beträchtlich stören können. Dagegen besteht bei Wechselstromseekabeln das Problem einer im Vergleich zu Freikabeln sehr hohen Blindleistung, zumal Anlagen zur Blindleistungskompensation unter Wasser auch schwerer installiert werden können als an Land. 2014 wurden 95 Prozent des Internetverkehrs zwischen Weltregionen via Unterseekabel übertragen. Zwischen 2012 und 2014 wurde eine große Zahl von Unterseekabeln neu verlegt und die Zahl stieg von 150 auf weltweit 285 Kabel.
Telekommunikationskabel in der Tiefsee
Tiefseekabel ermöglichen Datenkommunikation über große Distanzen und können Datenmengen transportieren, welche größer sind als die der stärksten Kommunikationssatelliten. Ein weiterer Vorteil gegenüber Satellitenverbindungen ist die deutlich geringere Laufzeit der Signale. Einen großen Nachteil teilen sie allerdings mit Satelliten: Tiefseekabel können ebenso wie Satelliten nur mit großem Aufwand modifiziert, gewartet, erweitert oder auf sonst eine Weise im Nachhinein bearbeitet werden.
Vor allem wegen des hohen Datenaufkommens werden Tiefseekabel besonders häufig im Atlantik zwischen Nordamerika und Europa eingesetzt. Es gibt nur wenige Länder, die noch keinen Anschluss an ein Hochleistungsnachrichtenkabel haben.
Zu Beginn wurden noch analoge elektrische Signale übertragen. Mittlerweile liegen auf dem Meeresgrund Stränge von Glasfaserkabeln. Ein Glasfaserkabel enthält mehrere Faserpaare. Das im Nordatlantik verlegte Kabel TAT-14 enthält beispielsweise vier Faserpaare. Über ein Faserpaar können durch das sogenannte „Multiplexing“ viele Datenströme auf einmal fließen. Neueste Faserpaare können gut ein Terabit Daten pro Sekunde übertragen. Die Glasfaserkabel liegen in einem Kupferrohr, welches mit wasserabweisendem Verbundstoff ausgegossen ist. Um dieses Kupferrohr liegt zudem eine Röhre aus Aluminium zum Schutz vor Salzwasser, es folgen Stahlseile und, je nach Stärke des Schutzes, mehrere Schichten Kunststoff. Das Kupferrohr dient gleichzeitig als elektrischer Leiter, um die in Abständen (bei modernen Kabeln 50–80 km) erforderlichen, ins Kabel eingeschleiften optischen Verstärker mit Strom zu versorgen. Als Rückleiter zum Betrieb der Verstärker dient das Meerwasser. Die Betriebsspannung erreicht die Größenordnung von 10 kV. Vor den Küsten werden wegen des ansteigenden Meeresbodens und der damit verbundenen Gefahr von Beschädigung durch Schiffsanker oder Fischtrawler stärker armierte Kabel verwendet. Allerdings helfen auch diese Vorkehrungen nicht immer. Am 28. Februar 2012 kappte ein auf einen Liegeplatz im Hafen von Mombasa wartendes Schiff ein Unterseekabel mit seinem Anker und legte damit einen wesentlichen Teil der Internetanbindung Ostafrikas lahm.
Verlegung von Seekabeln
Im flachen Wasser werden die Leitungen mittels Spezialfahrzeugen im Meeresboden vergraben. Mit einem sogenannten Verlegepflug, auch Meerespflug genannt, wird bei sandigem Boden Wasser aus dem Wassertank des Fahrzeugs unter hohem Druck von 1600 bar in den Sand gespritzt, sodass Treibsand entsteht und das Kabel einsinken kann. Der Sand verfestigt sich danach wieder und bedeckt das Kabel. Am Strand wird das Kabel in einen Schacht geführt und zur Landungsstelle geleitet. Die Verlegungsarbeiten mit dem Meerespflug können nur bei Niedrigwasser erfolgen und setzen optimale Bodenverhältnisse voraus.
Eine weitere Methode zum küstennahen Verlegen ist das Einfräsen von Seekabeln mit einer Seekabelfräse. Diese Verlegeart kann auch bei wechselnden Bodenverhältnissen und Gezeitenwechseln bis zu einer Verlegetiefe von 10 m angewandt werden. Die Maschine öffnet den Meeresboden mit einer Fräskette. Der Verlegeschacht hält hinter der Fräskette den Fräsgraben auf. Das Seekabel läuft durch den Verlegeschacht und verlässt diesen an der tiefsten Stelle. Der Fräsaushub wird durch die Fräskette hinter den Verlegeschacht ausgeworfen und verfüllt den Graben wieder fast komplett. Die restliche Verfüllung erfolgt durch Einebnung durch Wasserströmung, etwa durch den Gezeitenwechsel.
Geschichte
Seekabel dienten anfangs nur der Nachrichtenübertragung.
Telegrafenkabel
Bereits 1811 schickte der Deutsche Samuel Thomas von Soemmerring elektrische Signale durch einen mit Kautschuk isolierten Draht, welcher bei München durch die Isar verlegt worden war.
Diese frühen Versuche krankten jedoch vor allem an geeigneten Isolierungen. So wurden für die Idee der Verlegung von Unterwasserkabeln seit Erfindung der elektrischen Telegraphen mehrere Methoden ausprobiert. Doch erst die Erfindung der Guttapercha-Presse 1847 durch Werner Siemens machte für die Unterwasserverlegung gut isolierte Kabel möglich.
Am 28. August 1850 wurde zwischen Dover und Cap Gris-Nez bei Calais das erste Seekabel verlegt, das jedoch bereits nach der Übertragung eines ersten Telegramms am nächsten Tag von einem Fischereiboot mit seinen Netzen unterbrochen wurde. Ein Jahr darauf wurde ein armiertes Seekabel zwischen Großbritannien und Frankreich verlegt. Dieses bewährte sich und löste die Verlegung weiterer Seekabel aus – mit nicht immer langer Haltbarkeit.
Weitere Versuche, wie die Verlegung eines Kabels im Mittelmeer zwischen Algerien und Sardinien, scheiterten jedoch zunächst an mangelhafter Ausrüstung. So fehlte zum Beispiel eine geeignete Kabelbremse, mit der man das Abrollen des Kabels von der Kabeltrommel auch bei großen Wassertiefen steuern konnte. Eine solche wurde erst mit Werner Siemens’ Bremsdynamometer verfügbar.
Transatlantikkabel
Da Mitte des 19. Jahrhunderts das Versenden einer Nachricht von Amerika nach Großbritannien noch über eine Woche dauerte, kam Cyrus W. Field auf die Idee, ein Kabel am Meeresgrund des Atlantiks zu verlegen.
Im Jahr 1856 wurde die „Atlantic Telegraph Co.“ gegründet, um über deren Aktienverkauf die nötigen Geldmittel zu beschaffen. Verlegt werden sollte ein über 4500 Kilometer langes Kabel von Irland nach Neufundland. Die eingesetzten Schiffe, Agamemnon und Niagara, begannen am 3. August 1857 bei Irland, mussten nach mehreren behebbaren Kabelverlusten und -brüchen jedoch nach einiger Zeit nach dem endgültigen Verlust des Kabels aufgeben.
Für das 2200 englische Meilen lange Unterseekabel zwischen Europa (London) und den USA begannen im Frühjahr 1857 Verlegearbeiten.
Nach Übungen in der Biskaya im Frühjahr 1858 und einem glücklosen Versuch im Juni 1858 gelang das Unternehmen im dritten, am 17. Juli begonnenen Anlauf nach einigen Schwierigkeiten schließlich, und am 5. August war die Verbindung hergestellt. Am 16. August 1858 wurde dieses erste Tiefseekabel zwischen Südwestirland und Neufundland mit dem Austausch von Glückwunschtelegrammen zwischen Königin Viktoria und dem amerikanischen Präsidenten James Buchanan in Betrieb genommen. Die anfängliche Attraktion entwickelte sich jedoch zu einer großen Pleite, denn die Übertragung der Grußbotschaft der britischen Königin an den amerikanischen Präsidenten dauerte 16 Stunden, obwohl sie nur 103 Wörter umfasste. Im September 1858 versagte das Kabel; vermutlich war die Guttapercha-Ummantelung beim Verlegen beschädigt worden, wodurch das Kabel nicht mehr ausreichend vor Korrosion durch das Meerwasser geschützt war. Problematisch war, dass damals die Topographie und Beschaffenheit des Meeresbodens kaum bekannt waren.
1864 wurde ein 5100 Kilometer langes Seekabel mit verbesserter Schutzummantelung vorbereitet und die Great Eastern als Verlegungsschiff beschafft, damals der größte Liniendampfer der Welt. Am 31. Juli 1865 riss das Kabel beim Verlegen. Erst 1866 konnte beim zweiten Versuch das erste Kabel verlegt werden, das langfristig die Telegrafenverbindung zwischen Amerika und Europa sicherstellte.
Weitere Seekabel nach Afrika
Wenige Jahre später gelang es schließlich den Briten, nicht nur die USA mittels Seekabel zu erreichen, sondern auch über Freetown in Sierra Leone den afrikanischen Kontinent. Ein weiteres Seekabel verlief über Freetown bis nach Kapstadt.
Ägypten wurde eine wichtige Relaisstation für die Seekabel-Telegraphie. Im Jahr 1868 wurde ein Seekabel von der Insel Malta nach Alexandria in Ägypten verlegt. Dieses Teilstück verband ab 1870 indirekt London mit Bombay.
Der hohe Ohmsche Widerstand der Leitungen dieser langen Kabel schwächt das Signal sehr, das ankommende Signal musste daher mittels Spiegelgalvanometer ausgewertet werden. Die große Quer-Kapazität der Leiter und ihre Längs-Induktivität bewirken ein nur langsames An- und Abklingen von Signalen, sodass nur ausreichend langsame Telegrafie möglich war und noch keine Tonübertragung von Sprache (Telefonie).
Rechtliche und politische Aspekte
Im Jahr 1884 wurde der Internationale Vertrag zum Schutze der unterseeischen Telegraphenkabel abgeschlossen.
1911 erläuterte der Telegrafiepionier Adolf Slaby gegenüber der kolonialtechnischen Kommission des kolonialwirtschaftlichen Komitees die Bedeutung der Seekabel für die geheime Nachrichtenübertragung so:
Fernsprechkabel
Ab 1950 wurden Seekabel mit eingespleißten Verstärkern zur Übertragung von Fernsprechsignalen möglich. Die Verstärker wurden über den Innenleiter des Kabels mit Hochspannung versorgt, Rückleiter war das Meer. 1956 wurde das erste Transatlantik-Fernsprechkabel verlegt.
Glasfaserkabel
Anfang der 1980er Jahre war die optische Nachrichtenübertragung so weit ausgereift, dass die Britische Postverwaltung 1980 versuchsweise erste Glasfaserseekabel im schottischen Loch Fyne verlegte. 1984 wurde die erste Glasfaserverbindung von der Insel zur Isle of Wight in Betrieb genommen, 1986 durch den Ärmelkanal. 1988 ging mit TAT-8 das erste transatlantische Glasfaserkabel in Betrieb. Bis Mitte der 1990er Jahre wurden die Kupferkabel, auch wegen der durch die Entwicklung des Internets erforderlichen Kapazitätsausweitungen, praktisch vollständig verdrängt.
Nachrichtendienstliche Überwachung
Als Träger großer Datenmengen der Überseekommunikation standen Seekabel seit ihrer Entwicklung im Interesse von Nachrichtendiensten. Mit der Operation Ivy Bells schöpften die USA von 1971 bis 1981 mit großem Aufwand ein sowjetisches Unterseekabel der Pazifikflotte ab. Bekannt ist, dass das britische GCHQ an der zypriotischen Yeroskipos Submarine Cable Station den globalen Kommunikationsverkehr via SEA-ME-WE 3 und evtl. weiteren Unterseekabeln überwacht. Trevor Paglen fotografierte 2015 für sein Fotoprojekt Columbus III ein Überwachungskabel mutmaßlich der NSA/GCHQ über einem Seekabel im Atlantik.
Zu den russischen Schiffen, die für Spionage und Sabotage geeignet sind, gehören die Jantar und die Loscharik.
Der Dänische Rundfunk und die Süddeutsche Zeitung haben laut orf.at am 30./31. Mai 2021 berichtet, dass die US-amerikanische NSA 2012–2014 die Kommunikation (SMS, Messengerdienste, …) einer Reihe von europäischen Spitzenpolitikern abgehört hat. Demnach hat der dänische Auslands- und Militärgeheimdienst Forsvarets Efterretningstjeneste dem NSA die Nutzung der Abhörstation Sandagergardan ermöglicht, um einen Internetknotenpunkt mehrerer Seekabel in Dänemark anzuzapfen.
Seekabel zur Energieübertragung
1954 wurde zwischen Gotland und dem schwedischen Festland das erste Stromkabel, das mit Gleichstrom betrieben wurde, verlegt. In den 1960er Jahren folgten Gleichstrom-Seekabel zwischen
Dänemark und Schweden
Italien und Sardinien
den beiden Inseln Neuseelands
Großbritannien und Frankreich.
Ausgewählte Seekabelanlagen
Nachrichtenkabel
AC-1 (Europa ↔ Nordamerika)
ALBA-1 (Kuba ↔ Venezuela)
Apollo (Europa ↔ Nordamerika)
CANTAT (Kanada ↔ Schottland)
COMPAC (Kanada ↔ Hawaii ↔ Neuseeland-Australien)
Dunant (Frankreich ↔ USA), privates Seekabel von Google
EASSy (Ostafrika ↔ Asien, Europa), seit 30. Juli 2010 in Betrieb
HW (Kalifornien ↔ Hawaii)
ICECAN (Island ↔ Grönland ↔ Kanada)
Marea (USA ↔ Spanien)
FASTER (USA ↔ Japan)
SAFEC (Taiwan ↔ Japan)
SAT-3/WASC/SAFE (Südafrika, Namibia, Angola, Demokratische Republik Kongo, Republik Kongo, Kamerun, Nigeria, Togo, Ghana, Elfenbeinküste, Kap Verde, die Kanarischen Inseln ↔ Portugal) fertiggestellt seit 1999 bzw. 2000
SCOTICE (Schottland ↔ Island)
SEA-ME-WE (Südostasien ↔ Nahost ↔ Westeuropa)
TAT (Großbritannien ↔ Nordamerika)
T.P.C. (Hawaii ↔ Japan)
Trans-Pacific-Express (TPE) (USA ↔ China)
Unity (Amerika ↔ Asien), seit 1. April 2010 betriebsbereit
WACS (Südafrika ↔ Westafrika ↔ Portugal ↔ London), seit 11. Mai 2012 in Betrieb
Drehstromkabel
Seekabel Schweden – Bornholm (60 kV)
Seekabel Spanien – Marokko (380 kV)
Seekabel Kreta – Peloponnes (150 kV, 132 km)
Seekabel Kreta – Martin Linge oil and gas field (100 kV, 161 km)
Öresundkabel (380 kV)
Stromleitungskreuzung der Straße von Messina (380 kV)
Seekabel Isle of Man – England, mit einer Länge von 105 km das längste mit Dreiphasenwechselstrom betriebene Seekabel weltweit
Seekabel St. Peter Ording – Helgoland „Helgolandkabel“ (30 kV)
Achensee (Tirol, A) – Anfang des 20. Jh. quer (etwa 1 km) und 2013 längs (30 kV, knapp 7 km)
Seekabel am Kleinen Belt (420 kV)
Seekabel Sizilien – Malta (220 kV, ca. 100 km)
2 Systeme queren die Dardanellen (je 2 GW, 400 kV, 1600 mm² Cu + mittiger Alustab, etwa 4 km untermeerisch in einem Stück von der Rolle verlegt) zur Versorgung beider Seiten Istanbuls
Gleichstromkabel
siehe Hochspannungs-Gleichstrom-Übertragung (HGÜ)
HGÜ Gotland zwischen Västervik (Schweden) und Gotland
HGÜ Cross-Channel England – Frankreich
HVDC Inter-Island Link mit 40 km Seekabel durch die Cook Strait zwischen den beiden Inseln Neuseelands
Kontiskan Schweden – Dänemark
SACOI Italien – Korsika – Sardinien
SAPEI Italien – zwischen Sardinien und Latina
HGÜ Vancouver-Island mit 33 km Seekabel zwischen dem kanadischen Festland und Vancouver Island
HGÜ Hokkaido-Honshū zwischen den japanischen Inseln Hokkaido und Honshū
HGÜ Cross-Skagerrak Norwegen – Dänemark
Kontek Deutschland – Dänemark
Baltic Cable Deutschland – Schweden
NordLink Deutschland – Norwegen
NorGer Deutschland – Norwegen
Swepol Schweden – Polen
HGÜ Italien-Griechenland
HGÜ Leyte-Luzon zwischen den Inseln Leyte und Luzon der Philippinen
HGÜ Kii-Kanal durch den Kii-Kanal
HGÜ Moyle Schottland – Nordirland
Basslink mit Seekabel durch die Bass-Straße zwischen Australien und Tasmanien
NorNed Norwegen – Niederlande
NordBalt Litauen – Schweden
BritNed Großbritannien – Niederlande
Nemo Link Großbritannien – Belgien
Glasfaserkabel
Guam Okinawa Kyushu Incheon (GOKI) Japan – Guam (4.244 km)
Geplante Seekabel
Zwischen Deutschland und Schweden ist die Hansa PowerBridge zur Energieübertragung geplant. 50 Hertz Transmission und Svens Kraftnät, deutscher bzw. schwedischer Netzbetreiber beschlossen im Januar 2017 die Kooperation, Planungen begannen im selben Jahr. Die 300 km lange Leitung von Güstrow in Mecklenburg-Vorpommern durch die Ostsee und bis Hurva in der Gemeinde Eslöv soll ab Fertigstellung 2024/2025 700 MW Leistung bei 300 kV Gleichspannung über 105 km Seekabel (deutscher Anteil) übertragen. Die gesamten Investitionskosten sollen bei 600 Mio. Euro liegen.
Facebook plant gemeinsam mit China Mobile, Vodafone, Orange und weiteren Telekommunikations-Partnern (Stand Mai 2020) mit dem Projekt „2Africa“ 23 Länder in Europa, Afrika und dem Nahen Osten mit einem Netzwerk aus 37.000 km Unterwasserglasfaserkabel zu verbinden, um Afrika mit schnellerem Internet zu versorgen. Die Kosten werden auf eine Milliarde Dollar geschätzt. In derselben Quelle wird Sea-Me-We 3 als ein schon bestehendes noch längeres Netzwerk mit 39.000 km Seekabellänge genannt, das 33 Länder verbindet.
Mit Echo und Bifrost sind (Stand März 2021) erstmals Kabelrouten durch die Javasee geplant. Jedes der zwei Kabel soll Singapur, Indonesien und die USA miteinander vernetzen. Echo soll von Google in Zusammenarbeit mit dem indonesischen Telekomanbieter XL Axiata bis 2023 fertiggestellt werden, Bifrost von Facebook 2024. Im Jahr 2020 hatten erst 10 Prozent der 270 Millionen Indonesier Zugang zu einer Breitbandverbindung.
Der griechische Kabelhersteller Hellenic Cables gibt an, ab den 2000er Jahren im Werk in Thiva, Griechenland Extra High Voltage Seekabel für 500 kV herzustellen.
Siehe auch
Knuckling, ein Seekabelfehler, bei dem sich der Kupferleiter des Kabels durch die Aderisolierung drückt
Seekabel in der Literatur
Stefan Zweig: Sternstunden der Menschheit. Jubiläumsausgabe. Fischer, Frankfurt am Main 2002. (Unter der Überschrift „Das erste Wort über den Ozean“ schildert Stefan Zweig die Verlegung des ersten transatlantischen Kabels als eine Sternstunde der Menschheit)
John Griesemer: Rausch. Piper Verlag, München 2005, ISBN 3-596-51000-7. (ein Roman, der das erste Verlegen eines Seekabels zwischen Europa und Amerika im 19. Jahrhundert zum Thema hat)
Hans-Jürgen Teuteberg, C. Neutsch (Hrsg.): Vom Flügeltelegraphen zum Internet. Geschichte der modernen Telekommunikation. Steiner, Stuttgart 1998.
John Steele Gordon: A Thread Across the Ocean: The Heroic Story of the Transatlantic Cable. Harper Perennial, 2003, ISBN 0-06-052446-4.
William Thompson: The Cable: The Wire that Changed the World. Tempus, 2007, ISBN 978-0-7524-3903-7.
Chester G. Hearn: Circuits in the Sea. The Men, the Ships, and the Atlantic Cable. Praeger, 2004, ISBN 0-275-98231-9. (englisch)
Neal Stephenson: Mother Earth Mother Board. In: Wired. Dezember 1996. (Die Verlegung des Seekabels Fiber-Optic Link Around the Globe mit seinen technischen, wirtschaftlichen und historischen Aspekten erkundete der Schriftsteller Neal Stephenson im Auftrag des Wired auf einer Weltreise 1995/96)
Literatur
Handwörterbuch des elektrischen Fernmeldewesens. Band 3: Q–Z. Berlin 1970, S. 1498–1521.
Christian Holtorf: Der erste Draht zur Neuen Welt – Die Verlegung des transatlantischen Telegrafenkabels. Wallstein Verlag, Göttingen 2013, ISBN 978-3-8353-1242-5.
Simone M. Müller: Wie eine Leiter zum Mond. In: Die Zeit, Nr. 31/2016.
Christian Bueger, Tobias Liebetrau, Jonas Franken: Security threats to undersea communications cables and infrastructure – consequences for the EU EP/EXPO/SEDE/FWC/2019-01/LOT4/1/C/12. EP Think Tank, Brüssel 2022.
Guofu Pan, Xinmin Jiang, Wei Jiang, Yin-can Ye (Herausgeber): Submarine Optical Cable Engineering, Elsevier 2018, ISBN 978-0-12-813476-4.
Weblinks
Interaktive Karte aller Unterseekabel (englisch)
Komplette Übersicht inkl. Geschichte (englisch)
Michael Weisfeld: Datenströme durch die Tiefsee. SWR2.
Submarine Cable Map
Das Kabel, das die Welt veränderte In: Zeitblende von Schweizer Radio und Fernsehen vom 27. August 2016 (Audio)
Einzelnachweise
Kabeltyp
Wikipedia:Artikel mit Video
no:Sjøkabel
|
Q506572
| 84.977136 |
57529
|
https://de.wikipedia.org/wiki/Taklamakan
|
Taklamakan
|
Die Taklamakan-Wüste (auch Takla Makan, oder Taklimakan Shamo, Uighur: Täklimakan Toghraqliri) ist nach der Rub al-Chali die zweitgrößte Sandwüste der Erde. Sie erstreckt sich in Zentralasien im nordwestchinesischen Uigurischen Autonomen Gebiet Xinjiang durch den westlichen Teil des Tarimbeckens bis zur Straße 218. Östlich dieser Straße liegt die Wüste Lop Nor an der tiefsten Stelle des Tarim-Beckens. Früher wurden die Taklamakan-Wüste und die Wüste Lop Nor durch die Unterläufe der Flüsse Tarim, Konche Darya (Konqi He) und Chärchan Darya (Qarqan He) getrennt, die aber südlich von Tikanlik schon seit Jahrzehnten ausgetrocknet sind.
Etymologie
Die Bedeutung des Namens Taklamakan war lange unklar. Der Name stammt aus dem Uigurischen und wurde bisher so übersetzt: Begib dich hinein, und du kommst nie wieder heraus, Platz ohne Wiederkehr oder Wüste des Todes. Nach Qian Boquan, Historiker der Xinjianger Akademie der Sozialwissenschaft in Ürümqi, soll die falsche Übersetzung Wenn du einmal gefangen bist, dann gibt es kein Entkommen von einer Gruppe Journalisten stammen, die Xinjiang in den frühen 1980er Jahren besucht haben. Qian Boquan kam nach eingehenden Studien des uigurischen Dialekts zu dem Ergebnis, dass Taklamakan eigentlich Land der Pappeln heißt, da Takli eine Ableitung des türkischen Wortes Tohlak oder Tohrak sei, was Pappel bedeute. Die Silbe ma, die auf Takli folgt, stehe für groß und kan, eine Abwandlung von kand aus dem alten Persisch, bedeute Land, Stadt oder Dorf. Laut historischen Dokumenten seien Pappeln in den Jahren 420 bis 589 im Tarimbecken noch sehr verbreitet gewesen. Eine weitere Lesart ist „Gärten der Wüste“.
Geographie
Die Taklamakan-Wüste füllt etwa ein Siebtel von Xinjiang (1.640.320 km²) aus. Ihre Fläche von 228.990 km² ist zum Großteil mit über 100 m hohen Dünen bedeckt, nach manchen Angaben belaufen sie sich sogar auf 300 Meter. Die starken Winde lassen diese Dünen sehr schnell wandern, außerdem führen sie auch zur Formung von Yardangs. Die Dünen entstanden durch Staub- und Sandablagerungen der letzten Eiszeit, in der die Taklamakan fast ganz von einem See aus Gletscherschmelzwasser (Glazialsee) der umliegenden Hochgebirge bedeckt war. Untersuchungen der Schwermetallspektren je nach Einzugsbereich der Flüsse konnten nachweisen, dass die Sande einen fluvialen Ursprung (aus ehemaligen Flussläufen) haben.
In wenigen Metern Tiefe haben sich im Laufe der Zeiten große Grundwasservorkommen gebildet, welche vermutlich auch aus dem Schmelzwasser der umliegenden Hochgebirge gespeist wurden. Außerdem liegen in dieser Wüste einige Salzseen.
Die Taklamakan ist als Teil Xinjiangs erdbebengefährdet.
Entstehung der Wüsten im Tarimbecken
Im frühen aktuellen Eiszeitalter (Beginn vor etwa 2,6 bis 2,7 Millionen Jahren) war das Tarimbecken beinahe vollständig von einem Glazialsee bedeckt. Im Jahr 2003 wurden beim Lop Nor Environmental Science Drilling Project im ehemaligen See Lop Nor Bohrkerne in 160–250 Meter Tiefe entnommen, die laut Fang Xiaomin vom Institute of Earth Environment of the Chinese Academie of Sciences zeigen, dass der See Lop Nor vor 1,8 bis 2,8 Millionen Jahren ein sehr tiefer Süßwassersee von gewaltiger Größe war, der sich in einem Zeitalter mit beständigem Starkregen über das Gebiet der Wüste Lop Nor hinaus bis in das Gebiet der Taklamakan hinein erstreckte. Die organischen Ablagerungen erreichten eine Höhe von 60 Metern. In den Bohrkernen wurden 60 Meter lange Ablagerungen von Indigo-Silt in gelber Farbe mit hohem Gips-Anteil gefunden, die bestätigen, dass hier ein Süßwassersee von großer Tiefe bestanden hat, an dessen Grund Sauerstoff fehlte. Funde von Muscheln in Bohrkernen zeigen, dass der See auch in späterer Zeit ein Süßwassersee war. Die Oberfläche dieses Sees lag etwa 900 Meter über dem Meeresspiegel; das ist südlich und nördlich der Wüste Lop Nor an steilen und durchschnittlich 20 Meter hohen Seeterrassen zu erkennen, die seinerzeit durch das Seewasser aus der umgebenden Küste herausgeschnitten worden sind und 870 bis 900 Meter über dem Meeresspiegel liegen.
Im Pliozän vor 1,8 Millionen Jahren entstand im östlichen Tarimbecken ein tiefer gelegenes Becken, in dem sich jetzt die Wüste Lop Nor befindet. Die Bruchstelle verläuft zwischen Korla und Qakilik entlang des früheren Flusslaufes des Tarim und entlang der Straße 218. In diesem tiefer liegenden Becken bildete sich am Ende des mittleren Pleistozän (Diluvium) um 780.000 v. Chr. durch neue tektonische Absenkungen das sekundäre Seebecken Lop Nor heraus, das sich in der Mitte der heutigen Wüste Lop Nor befindet.
Vor 800.000 Jahren änderte sich das Klima im Tarimbecken. Es wurde extrem trocken und der Glazialsee verkleinerte sich. Nach dem Austrocknen der Taklamakan wurde das Seebecken Lop Nor zum Ziel aller Flüsse des Tarimbeckens, die sich dort in einem abflusslosen See sammelten, ihre Deltas bildeten, die Endseen Lop Nor und Karakoshun mit Wasser versorgten und das in den Flüssen mitgeführte Salz in einer riesigen Salzpfanne ablagerten. Die Flussläufe in den Deltas mäanderten und bildeten dabei Yardangs, die damals als lang gestreckte Inseln zwischen den verschiedenen Flussläufen stehen blieben.
Die massenspektrometrische Untersuchung von Sedimenten mit biologischen Ablagerungen im Jahr 2006 lässt vier Wetterperioden erkennen:
Vor 31.980 bis 19.260 Jahren herrschte ein kaltes und feuchtes Klima.
Vor 19.260 bis 13.530 Jahren kam ein warmes und trockneres Klima. Das führte zu Salzablagerungen im Seebecken Lop Nor.
Vor 13.530 bis 12.730 Jahren entstand wieder ein kaltes Klima.
Vor 12.730 bis 11.800 Jahren war das Klima hauptsächlich feuchtwarm und kalt.
Seit 1980 untersuchte ein Team der Chinesischen Akademie der Wissenschaften den Lop Nor. Es stellte in den Jahren 1980 bis 1981 mithilfe der Radiokarbonmethode fest, dass der See Lop Nor seit über 20.000 Jahren andauernd in wechselnder Größe und Lage im Lop Nor Becken bestanden hat, wozu das aride bis vollaride Klima beitrug, das sich über einen langen Zeitraum nicht veränderte. Die wechselnde Höhe des Seespiegels zeichnet sich ab an der Schichtenfolge jenes Sockels, auf dem sich die Stupa (auch als Wachturm bezeichnet) von Loulan befindet; einige der sechs Schichten bestehen nur aus feinen gelben Sanden, andere dagegen aus Ton mit pflanzlichen und tierischen Überresten, darunter Schalen von Süßwasserschnecken.
An den Flussläufen entstanden Flussoasen, die vor 4000 Jahren bronzezeitliche Siedlungen ermöglichten, in denen Menschen mit europäischen Körpermerkmalen lebten, deren Mumien in bronzezeitlichen Grabstätten und Nekropolen gefunden werden. Im Nordwesten Chinas begann um 200 v. Chr. eine Periode hoher Temperaturen und starker Niederschläge, die bis zum 5. Jahrhundert von einer Periode anhaltender Trockenheit und Dürre abgelöst wurde. Ab 200 v. Chr. wurden die Flüsse zu breiten Strömen, die große Feuchtgebiete schufen, die landwirtschaftlich genutzt werden konnten. Der Klimawandel führte ab 200 v. Chr. zu zahlreichen Stadtgründungen (beispielsweise in Loulan, Miran, Haitou, Yingpan, Merdek und Qakilik); verschiedene Stadtgründungen wurden aber bis zum 5. Jahrhundert wegen des Wassermangels aufgegeben. Die Ursache war ein beginnender Klimawechsel, der dazu führte, dass Flussläufe und Flussoasen austrockneten und dass sich die Wüste in dem Tarimbecken ausbreitete.
Klima
Mit unter 30 mm Niederschlag im Jahr gilt die Wüste als hyperarid. Dieses extrem trockene Klima entsteht durch die Kombination zweier Faktoren. Zum einen ist die Taklamakan eine Reliefwüste, eine Wüste, die im Regenschatten von Gebirgen liegt. Dazu kommt die kontinentale Lage. Vom Meer herangeführte Luftmassen haben ihre Feuchtigkeit verloren, bevor sie Zentralasien erreicht haben. Diese Bewölkungsarmut kann die hohen Temperaturen verstärken.
Durch die Ferne zu einem Meer mit ausgleichender Wärme schwanken die Temperaturen extrem stark. Da es ein sehr unzugängliches Gebiet ist, sind meteorologische Aussagen unsicher und unterscheiden sich in Abhängigkeit von der Quelle. Laut Bruno Baumann kann es am Tag zu 62 Grad Hitze und in der Nacht zu zwölf Grad Kälte kommen. Schätzungsweise schwanken die Temperaturen im Tagesverlauf um 70 °C, im Jahresverlauf um 90 °C. Die Temperaturschwankungen haben zwar keine Auswirkungen auf die Trockenheit, dennoch sind sie ein weiterer lebensfeindlicher Faktor.
Kara Buran
Berüchtigt ist der Kara Buran, der „schwarze Sandsturm“. Er kann tonnenweise Sand aufwirbeln und über Tage oder gar Wochen andauern. Seinen Namen erhielt er, weil er dabei oftmals den Himmel verfinstert. Die Zeit des Kara Buran ist vom Februar bis zum Juni; der Sandsturm kommt alle drei bis fünf Tage vor allem aus dem Nordosten. Die wochenlang andauernden Staubnebel können die Sonneneinstrahlung wesentlich reduzieren. Da ihm bereits viele Karawanen und wahrscheinlich sogar ganze Städte zum Opfer fielen, wurde er mit vielen Mythen verbunden. So erzählen Einheimische die Sage von der Armee eines chinesischen Kaisers, die unter dem Sand einer 250 Meter hohen Düne begraben sein soll.
Vegetation
Am Fuß der Hochgebirge gibt es zahlreiche Oasen mit reicher Vegetation. Die Schmelzwasser des Kunlun Shan und Tian Shan () bilden unter anderem den Tarim. Dieser fließt am Rand der Wüste in Ost-West-Richtung, wo er auf dem sehr fruchtbaren Löß landwirtschaftliche Nutzung ermöglicht.
Die vegetationsreichen Gebiete sind von einem Gürtel aus dünnem Pflanzenwuchs umgeben. Dieser Vegetationsgürtel bietet weitgehend Schutz vor der Ausbreitung der Wüste. Die zunehmende Nutzung der Pflanzen als Viehfutter und Brennholz drohen den Schutzgürtel allerdings zu zerstören. Das Verheerende an dem bestehenden Raubbau gegenüber moderater Nutzung ist, dass der sehr trockene Oberboden eine natürliche Regeneration so gut wie unmöglich macht.
Als Beispiele für Pflanzen im Gürtel sind die Tamarix ramosissima und Populus euphratica zu nennen, die von Göttinger Forschern untersucht wurden. Die Tamarix ramosissima wächst auf salzigen und alkalischen Böden und hat tiefe Wurzeln. Über die Schuppenblätter scheidet die Pflanze Salze aus.
Die Populus euphratica (Euphrat-Pappel) ist eine salztolerante Pflanze, die durch die Emission von Isopren eine gesteigerte Temperaturtoleranz der Blätter bewirkt. Beide müssen an flussfernen Standorten mit 33 mm jährlichem Niederschlag auskommen, was nur durch Bezug von Grundwasser möglich ist. Beide Arten kommen unterschiedlich häufig vor, da die Tamarix mit tieferem Grundwasser wachsen können als die Populus.
Hinter dem Schutzgürtel nimmt die Vegetation ab und die Kernwüste beginnt. Die eigentliche Taklamakan ist eine hyperaride und dementsprechend fast leblose Wüste, mit belebten Halbwüsten wie der Kalahari ist sie also nicht vergleichbar. In der Literatur finden sich kaum Angaben für die Kernwüste. So geben Walter und Breckle in „Vegetation und Klimazonen“ nur an, dass die Sandwüste Taklamakan vegetationslos sei. Vermutlich kann man von der Kernwüste ähnliches wie von der iranischen Lut und Teilen der Sahara behaupten: Obwohl hier über tausende Quadratkilometer kein sichtbarer Pflanzenwuchs vorhanden ist, zeigten dort Bodenproben eine hohe Anzahl von Bakterien und Pilzsporen pro Gramm Boden.
Besiedelungsgeschichte
Viele archäologische Spuren sind durch die Trockenheit gut konserviert. So sind in der Taklamakan einige versunkene Städte zu finden, die entweder durch Wüstenausbreitung und Sandstürme oder durch die Austrocknung ihrer Zuflüsse unbewohnbar wurden. Die archäologischen Funde deuten auf tocharische, hellenistische und buddhistische Einflüsse hin. Die Forscher und Entdecker Nikolai Michailowitsch Prschewalski, Aurel Stein, Albert von Le Coq, Paul Pelliot und besonders Sven Hedin beschrieben die Gefahren der Reise und die untergegangenen Städte der Wüste.
Neben Städteruinen wurden bisher in dieser Region auch mehr als 100 Mumien gefunden, von denen einige mindestens 4000 Jahre alt sind. Die ältesten dieser Mumien weisen erstaunlicherweise europäische Merkmale auf. Verschiedene Grabbeigaben und andere Artefakte weisen auf indoeuropäischen Ursprung hin, sodass daraus geschlossen werden kann, dass im Zuge der Ausbreitung der Indoeuropäer ihnen zugehörende Gruppen von Menschen hierher gewandert sind und sich hier niedergelassen haben. Möglicherweise waren diese Menschen die Vorfahren der später hier bezeugten Tocharer.
Später wurden die Oasen der Wüste von Turkvölkern bewohnt. Während der Tang-Dynastie wurden die Osttürken erstmals besiegt, und China konnte damit seinen Einfluss auf die wichtige Seidenstraße ausweiten. Diese Straße war in dieser Region zweigeteilt: ihre Teilstrecken führten am nördlichen und am südlichen Rande der unzugänglichen Taklamakan entlang. Phasen der chinesischen Herrschaft waren von der Herrschaft von Osttürken, Mongolen und Tibetern unterbrochen. Die heutige Bevölkerung besteht auf dem Land hauptsächlich aus den Turkvölkern der Uiguren und den Kasachen, während die größeren Städte inzwischen überwiegend von Han-Chinesen bevölkert sind.
Entdeckungsgeschichte
In Europa geriet die Taklamakan das erste Mal 1888 (laut anderen Quellen 1889) ins Blickfeld. Nach dem Mord an dem britischen Händler Andrew Dalgleishs im Himalaya flüchtete der Täter entlang der Wüste. Der einen zweiten Anschlag überlebende Bowers verfolgte den Täter und stieß in einer Oase auf alte Schriftstücke. Sie waren in einer indischen Sprache aus dem 5. Jahrhundert verfasst und handelten von einer Stadt im Wüstensand. Sie gelten als erste buddhistische Dokumente, die den Einfluss der damaligen indischen Kultur beweisen.
1895 machte sich der Entdecker Sven Hedin auf seine Reise zur Durchquerung der Wüste. Bei der Durchquerung kam er wegen Wassermangels nur knapp mit dem Leben davon. Die dramatische Reise wurde zu einem bis heute anhaltenden Mythos. Der Extremsportler Bruno Baumann wagte am 8. April 2000 eine Reise durch die Wüste, um die Hintergründe von Hedins Reise zu erkunden und überlebte ebenfalls nur knapp. Sven Hedin fand damals die Überreste von Dandan Oilik, einer in der Wüste versunkenen Stadt. Dortige Wandmalereien zeigten indische, griechische und persische Einflüsse.
Erschließung
Aufgrund ihres Klimas war die Taklamakan lange Zeit unzugänglich. Die Trassen der ehemaligen Seidenstraße sind heute zu asphaltierten Verkehrsstraßen ausgebaut, auf denen die gesamte Wüste umfahren werden kann. Auf der Nordroute der Seidenstraße befindet sich heute die Straße 314, auf der Südroute die Straße 315; die Ostverbindung beider Straßen bildet die Straße 218. An diesen Straßen am Rand des Tarimbeckens liegen Oasenstädte wie Hotan (Khotan), Kaschgar und Aksu. Die Oasen werden durch Schmelzwasser der umliegenden Hochgebirge mit Wasser versorgt. Die frühere Mittlere Route der Seidenstraße von Korla über Loulan Gucheng nach Yumenguan Guzhi und weiter nach Dunhuang (Mingoshan) besteht nicht mehr; deshalb wurde der Bau der Straße 218 notwendig.
Ungefähr in der Mitte der Wüste sind große Erdöl- und Gasvorkommen entdeckt worden. Zu ihrer Erschließung baute die chinesische Regierung 1995 für etwa zehn Millionen Euro pro Kilometer die Tarim-Fernstraße (englisch: Tarim Desert Highway), welche die Wüste Taklamakan von dem an der Straße 314 gelegenen Ort Bügür (Luntai) bis zu dem an der Straße 315 gelegenen Ort Yawatongguzlangar bei Minfeng (Niya) in Nord-Süd-Richtung vollständig durchquert. Mit einer Länge von 520 Kilometern gilt sie als die weltweit längste Wüstenstraße. Diese Straße mit beidseitigen Sanddünenbefestigungen und permanentem Straßenreinigungsservice wird deshalb auch hinsichtlich ihres Baus und der Erhaltung als die teuerste Straße der Welt angesehen. Auf etwa halbem Weg durch die Wüste wurde an einem Knickpunkt der Wüstenfernstraße die Stadt Tazhong gegründet, die als Versorgungszentrum der chinesischen Öl- und Gasfirmen fungiert.
Am 4. Oktober 2002 wurde eine weitere wüstendurchquerende Autobahn mit dem Namen Qieta-Wüstenfernstraße für den Verkehr geöffnet. Diese führt ebenfalls in Nord-Süd-Richtung durch die Taklamakan und verbindet Korla (Kurla) mit dem Kreis Qarqan (Qiemo xian, 且末县) und seinem Hauptort, der Großgemeinde Qiemo (Qiemo zhen, 且末鎮, Chümo = Tarran) (). Durch den Bau dieser neuen Schnellstraße kann die ehemals zwei Tage dauernde Reise von Korla nach Qiemo in lediglich acht Stunden bewältigt werden.
Der Bau einer weiteren Landstraße durch die Taklamakan wurde im Mai 2005 begonnen. Diese einspurige Straße Aral-Hotan-Wüstenstraße verbindet seit Januar 2007 mit einer Länge von 424 Kilometern die Städte Aral und Hotan von Süden nach Norden. Für ihre Realisierung wurden 800 Millionen Yuan (74,4 Millionen Euro) veranschlagt.
Um die Wüste herum wird die weltweit erste Eisenbahnschleife mit einer Länge von 2712 km gebaut. Der erste Abschnitt zwischen Hotan und Ruoqiang mit einer Länge von 825 km wurde im Juni 2022 fertiggestellt und in Betrieb genommen.
Literatur
Pierre Gentelle: Une géographie du mouvement : Le désert du Taklamakan et ses environs comme modèle. In: Annales de géographie. Nr. 567, 1992, S. 553–594, .
Dieter Jäkel, Zhu Zhenda: Reports on the 1986 Sino-German Kunlun Shan Taklimakan-Expedition. = Reports on the „1986 Sino-German Kunlun-shan Taklimakan Expedition“ (= Die Erde. Ergänzungshefte. 6). Textband und Kartenbeilage. Gesellschaft für Erdekunde zu Berlin, Berlin 1991, ISBN 3-87670-991-1.
Christoph Baumer: Geisterstädte in der Wüste Taklamakan. Belser, Stuttgart u. a. 1996, ISBN 3-7630-2334-8.
Bruno Baumann: Karawane ohne Wiederkehr. Das Drama in der Wüste Takla Makan. Lizenzausgabe. Malik, Berlin 2000, ISBN 3-89029-177-5.
Christoph Baumer: Die südliche Seidenstraße. Inseln im Sandmeer. Versunkene Kulturen der Wüste Taklamakan. von Zabern, Mainz 2002, ISBN 3-8053-2845-1.
Anke Kausch: Seidenstraße. Von China durch die Wüsten Gobi und Taklamakan über den Karakorum Highway nach Pakistan. 2. Auflage. DuMont, Köln 2006, ISBN 3-7701-5243-3.
Alfried Wieczorek, Christoph Lind (Hrsg.): Ursprünge der Seidenstraße. Sensationelle Neufunde aus Xinjiang, China. Theiss, Stuttgart 2007, ISBN 978-3-8062-2160-2.
Carla Perrotti: In der Stille des Sandes. Allein durch die Takla Makan und die Simpson Desert (= National Geographic Adventure Press. 321). Frederking & Thaler, München 2008, ISBN 978-3-89405-840-1.
Christoph Baumer, Aurel Schmidt, Therese Weber: Durch die Wüste Taklamakan. Auf den Spuren von Sven Hedin und Sir Aurel Stein. Nünnerich-Asmus, Mainz 2013, ISBN 978-3-943904-09-3.
Kartenmaterial
West-China. Reise-Know-How-Verlag, Bielefeld 2005, ISBN 3-8317-7163-4 (Maßstab 1:2.700.000).
Weblinks
(PDF; 1,7 MB)
Bericht einer Expedition, erschienen im Magazin NZZ Folio
Mysterious River Advances through Desert (englisch) Der Hotan durchfließt die Taklamakan und erreicht im August den Tarim.
Einzelnachweise
Wüste in Asien
Seidenstraße
Geographie (Xinjiang)
Welterbekandidat in der Volksrepublik China
Welterbekandidat in Asien
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https://de.wikipedia.org/wiki/Seesterne
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Seesterne
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Seesterne (Asteroidea; abgeleitet von „Stern“ und „Form, Gestalt“) sind eine Klasse von Eleutherozoen innerhalb des Stamms der Stachelhäuter. Weltweit sind etwa 1.600 rezente Arten der Seesterne bekannt, womit sie die drittgrößte Tiergruppe innerhalb der Stachelhäuter (Echinodermata) nach den Schlangensternen (Ophiuroida) und den Seegurken (Holothuroidea) bilden.
Morphologie
Eidonomie
Die Körpergrundgestalt ist ein meist fünfarmiger Stern, dessen Arme zu den Spitzen hin gleichmäßig schlanker werden. Bei vielen Arten können die Interradien (Bereich zwischen den Armen) derartig breit werden, dass ein Fünfeck entsteht. Dieses kann hochgewölbt und kissenartig (Culcita) oder extrem flach sein (Anseropoda placenta). Auch fast kugelige Formen sind möglich. So ähneln Vertreter der Gattung Podosphaeraster einem stachellosen Seeigel. Andererseits erinnern Arten der Gattungen Labidiaster, Brisinga und Freyella mit ihren drehrunden, gleichmäßig dünnen langen Armen und einer abgesetzten zentralen Körperscheibe an Schlangensterne. Die Körpergröße reicht von 1 cm bei Asterina phylactica bis über 1 m bei Freyella remex, liegt jedoch mehrheitlich um 20 cm. Etliche Seesterne besitzen mehr als 5 Arme. Bei den Sonnensternen (Solasteridae) ist die Zahl altersabhängig. Crossaster papposus hat 8 bis 15 Arme, Arten der Gattung Heliaster über 40 und in der Gattung Labidiaster kommen 25 bis 50 Arme vor. Die Zahl der Arme kann auch innerhalb einer Art variieren. So können bei der Art Oreaster reticulatus vier-, sechs- und siebenarmige Exemplare auftreten.
Anatomie und Sinnessysteme
An der Unterseite der Arme befinden sich zahlreiche dem Ambulacralsystem zugehörige Füßchen, die der Fortbewegung dienen. Dabei streckt sich eine Gruppe der beweglichen Füße in die gleiche Richtung vor, heftet sich an der Unterlage fest und verkürzt sich dann wieder. Bei dieser Verkürzung wird der Körper des Tieres nachgezogen, zwar nicht schnell, aber gewandt und gleichmäßig.
An der Oberseite des Seesterns sind deutlich zahlreiche kleine Knoten und Unebenheiten fühlbar. Diese gehen aus wirbelartig verbundenen Kalkplättchen unter der Haut hervor. Die Kalkplättchen bilden das Hautskelett des Tieres. Da die Plättchen aber trotz der Verbindung gegeneinander verschiebbar sind, behält der Seestern seine Beweglichkeit.
Seesterne besitzen wie andere Stachelhäuter einen zentralen Nervenring um die Mundscheibe. Von diesem Ring ziehen radiäre Nervenstränge in die Arme. Seesterne haben keine Augen, mit denen sie Objekte erkennen oder identifizieren können; an den Spitzen ihrer Arme befinden sich jedoch mehrere Lichtsinneszellen, um Helligkeitsunterschiede in ihrer Umgebung wahrnehmen zu können. Parallel dazu verläuft in den Armen das strickleiterartige motorische Nervensystem. Der dänische Meeresbiologe Anders Garm hält die gebündelten Lichtsinneszellen einiger Arten für primitive Versionen von Facettenaugen. Seesterne besitzen auch Chemorezeptoren auf der Haut, mit denen sie Beute in der Nähe erkennen können. Sie können ferner den Gradienten des Salzgehalts des Wassers erkennen und sich in den Bereich bewegen, in dem sie vorzugsweise leben.
Ernährung
In den gemäßigten Breiten lebt ein Großteil der Seesterne räuberisch oder von Aas, während es in den Tropen und Subtropen auch viele Detritus-, Algen- und Schlammfresser gibt, so die Kissensterne, die Purpursterne (Familie Echinasteridae) und die Kometensterne (Gattung Linckia). Die räuberischen Seesterne fressen vor allem langsame und sessile Tiere wie Weichtiere (Muscheln, Schnecken, Grabfüßer), Krebse (insbesondere Rankenfußkrebse), Vielborster, Stachelhäuter (Seewalzen, Seesterne, Schlangensterne, Seeigel), Nesseltiere (Seeanemonen, Korallen), Schwämme, Moostierchen und Seescheiden, während manche Arten (Stylasterias forreri, Astrometis sertulifera und Labidiaster annulatus) mit Hilfe ihrer Pedicellarien selbst Zehnfußkrebse und Fische erbeuten. Viele Seesternarten, darunter die kalifornische Art Pisaster ochraceus, bilden als annähernde Spitzenprädatoren ein wichtiges Glied im Nahrungsgefüge.
In der Körpermitte befindet sich auf der Unterseite der Tiere die Mundöffnung. Der Magen ist bei vielen räuberischen Arten wie den Asteriidae oder den Sonnensternen ausstülpbar und wird in die als Futter dienenden Muscheln eingeführt, wobei die Füßchen die Muschelschalen mit einer Kraft von bis zu 50 Newton auseinanderspreizen. Somit findet die Verdauung bei diesen Arten außerhalb des Körpers statt (extraintestinale Verdauung). Wenn die Beute vorverdaut ist, zieht der Seestern den Magen mit Nahrungsbrei wieder ins Innere zurück. Die Kammsterne verschlucken dagegen ihre meist kleineren Beutetiere als Ganzes, oft in sehr großer Zahl. Bei diesen Arten wird ebenso wie bei vielen Detritus-, Algen- und Schlammfressern die Nahrung im Magen verdaut (intraintestinale Verdauung).
Fortpflanzung
Seesterne sind vorwiegend getrenntgeschlechtlich und zeigen keinen Sexualdimorphismus. Mehrere Arten sind Hermaphroditen, so ist etwa Asterina gibbosa protandrisch, aber auch simultane Zwitter sind bekannt (Asterina minor und Asterina phylactica). In Populationen von Echinaster sepositus an der italienischen Küste treten bis zu 23 % Zwitter auf. Die Befruchtung findet in der großen Mehrzahl der Fälle extern im freien Meerwasser statt, und die Entwicklung läuft über eine als Plankton von Mikroorganismen lebende, frei schwimmende Bipinnaria-Larve und sodann eine Brachiolaria-Larve ab, die sich mit einer Haftscheibe am Substrat festsetzt und die Metamorphose zum juvenilen Seestern vollzieht. Bei Asterina gibbosa ernähren sich die Embryonen dagegen von Eidotter und schlüpfen direkt als Brachiolaria. Die kleine Asterina phylactica brütet ihre Jungen sogar aus, die erst als fertige Seesterne ihr Muttertier verlassen. Dieses stirbt bald darauf.
Es existiert auch eine ungeschlechtliche Vermehrung von Seesternen. Durch Querteilung entstehen oft Regenerationsformen („Kometenformen“), bei denen ein oder mehrere große Arme den kleineren, erst neu gebildeten gegenüberstehen. Bei Arten der Gattung Linckia ist diese Vermehrungsart so häufig, dass innerhalb einer Population weniger als 10 % symmetrisch gebildete Seesterne vorkommen.
Verbreitung
Seesterne besiedeln weltweit das marine Benthal von der Gezeitenzone bis in die Tiefsee. Vertreter der Gattung Hymenaster wurden im Philippinengraben bis in eine Tiefe von 10.000 Metern nachgewiesen. Das größte Genzentrum der Seesterne findet sich im Schelfmeer der nordostpazifischen Küste Amerikas von San Francisco über Alaska bis zu den Aleuten, Kurilen und der Insel Sachalin. Dort kommen mehr Arten vor als in allen restlichen Verbreitungsgebieten. Ein zweites Genzentrum befindet sich im indonesisch-philippinisch-australischen Raum, wobei besonders Australien und Neuseeland durch viele Endemiten gekennzeichnet sind. In den polaren Meeren, besonders in der Antarktis, sind die Seesterne die bedeutendste Gruppe der Makrofauna im Seichtwasser.
Gefährdung
Seesternsterben an der Pazifikküste wurden seit den 1970er Jahren immer wieder beobachtet. 2013 beunruhigte ein umfangreiches Massensterben an der gesamten nordamerikanischen Westküste. Es trat übergreifend bei ca. 20 Arten auf und stellte eine große Bedrohung für die marine Nahrungskette dar. Besonders betroffen waren die großen Sonnensterne. Ursache war offensichtlich ein Virus. Manche Tiere überlebten das tagelange Siechtum, bei dem zuerst die Arme abfielen; oft wuchsen Arme wieder nach. 2015 gab es ein Seesternsterben in der Nordsee. Diese Seesterne wurden jedoch in intaktem Zustand angespült; Ursachen hierfür waren wohl niedriger Wasserstand und Gezeiten, wodurch die zu dieser Zeit auf den Muschelbänken wandernden Seesterne abtrieben.
Seesterne und der Mensch
Seesterne besitzen einen gewissen Handelswert. In Teilen Asiens (z. B. China und Japan) werden Seesterne gegessen oder Gerichte damit dekoriert. In Dänemark werden Vertreter der Gattung Asterias als Bestandteil von Geflügelfutter verwendet, das ansonsten hauptsächlich aus Fisch besteht. Die Indianer von British Columbia und die alten Ägypter benutzten sie als Düngemittel. Einige Firmen verkaufen Seesterne an Sammler und als biologisches Anschauungsmaterial an Schulen. Auch als Souvenir werden sie gehandelt.
Systematik
Die Aufteilung in sieben rezente Ordnungen folgt Blake mit Modifikationen nach Mah und Foltz. Die systematische Einordnung der Concentricycloidea ist noch nicht vollständig geklärt, aktuell werden sie meist als Schwestergruppe der Seesterne (Asteroida) angesehen. Alternativ könnten sie nach aktueller Diskussion jedoch auch in die zu den Seesternen gehörenden Velatida eingeordnet werden. Die Tiefseearten der Notomyotida wurden den Paxillosida untergeordnet.
Forcipulatida Kennzeichnend für diese Gruppe sind gestielte gerade und gekreuzte Pedicallarien am ganzen Körper; ein netzförmiges Skelett; keine Randplatten; keine Paxillen; kleines Zentrum; Arme im Querschnitt oft rundlich; meist vier Füßchenreihen
Brisingida Die Arten dieser Gruppe leben fast ausschließlich in der Tiefsee (vor allem im Ostpazifik, bei Neuseeland und in der Karibik in etwa 2000 Meter Tiefe) und besitzen viele gekreuzte Pedicellarien. Vom scheibenförmigen Zentralkörper entsprießen 6 bis 18 oft sehr lange bestachelte Arme. Die Arme haben meist nur zwei Reihen von Füßchen.
Spinulosida Bei den Spinulosida sind die Arme vom Zentrum weg etwa gleich dick. Sie besitzen keine Pedicellarien.
Valvatida Vertreter dieser Gruppe sind häufig steife pentagonartige Formen mit wenig großen Randplatten und oft sitzenden Pedicellarien. Die Füßchen haben Saugscheiben.
Paxillosida Bei Arten dieser Ordnung handelt es sich um typische Weichbodenbewohner mit Ambulacralfüßchen ohne Saugscheibe und meist geteilten Ampulle. Sie haben meist keine Afteröffnung und der Magen ist nicht vorstülpbar. Die Aboralfläche ist mit Paxillen bedeckt.
Velatida Bei dieser Gruppe sind die Ambulacralstachel oft von der Körperdecke membranös verbunden.
Concentricycloidea
Literatur
Alfred Goldschmid: Echinodermata, Stachelhäuter. In: Wilfried Westheide, Reinhard Rieger (Hrsg.): Spezielle Zoologie. Teil 1: Einzeller und Wirbellose Tiere. 1. Auflage, korrigierter und ergänzter Nachdruck. Springer Spektrum, Berlin / Heidelberg 2004, ISBN 3-8274-1482-2.
Steven Mark Freeman: Asteroidea. In: Michael Hutchins, Dennis A. Thoney, Neil Schlager (Hrsg.): Grzimek’s Animal Life Encyclopedia. Second Edition. Volume 1: Lower Metazoans and Lesser Deuterostomes, 2003, S. 367–370, ISBN 0787653624
Einzelnachweise
Weblinks
The Tree of Life Web Project Asteroidea
Fotos von Seesternen
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Q25349
| 248.546446 |
117998
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https://de.wikipedia.org/wiki/Outsourcing
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Outsourcing
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Outsourcing () ist in der Betriebswirtschaftslehre der Anglizismus für die Ausgliederung von einzelnen Funktionen, ganzen Organisationseinheiten oder Unternehmensprozessen in ein anderes Unternehmen. Pendant ist das Insourcing.
Allgemeines
Outsourcing ist eine sprachliche Kontraktion aus out(side) und (re)sourcing. Das Outsourcing gehört neben dem Insourcing, Local Sourcing, Global Sourcing, Single Sourcing, Double Sourcing, Modular Sourcing, Backsourcing und System Sourcing zu den Beschaffungsstrategien (). Backsourcing setzt voraus, dass es vorher zu einem Outsourcing gekommen ist und die ausgegliederten Teile wieder eingegliedert werden. Backsourcing ist damit eine Unterart des Insourcing.
In Deutschland wird mit dem Begriff Outsourcing oft auch die Auslagerung von Arbeitsplätzen in kostengünstigere (weil häufig nicht tarifgebundene) Tochtergesellschaften oder in Niedriglohnländer assoziiert.
Etymologie
Für den Ursprung des Wortes Outsourcing existieren zwei Erklärungen:
Ableitung aus den englischen Begriffen out und source („von außerhalb beziehen“).
Zusammenfassung des englischen Begriffs Outside resource using („Nutzung externer Ressourcen“) zu einem Neologismus.
Die zweite Erklärung ist fast ausschließlich in der deutschsprachigen Fachliteratur zu finden, wird jedoch als rein deutsche und fehlerhafte Erfindung kritisiert. Auch der Begriff selbst wird in der Literatur uneinheitlich benutzt. So verstehen einige Autoren jeglichen Fremdbezug von Leistungen als Outsourcing, andere wiederum nur den Fremdbezug von Leistungen, die einst unternehmensintern erstellt wurden. Ebenso wird Outsourcing auch teilweise nach dem sachlichen Inhalt definiert und nur der Fremdbezug von Dienstleistungen als Outsourcing betrachtet.
Gemeint sind alle Aktivitäten, die zu einer Verlagerung von Leistungs- oder Teilerstellungen nach außen führen.
Begriffsumfang
Der Begriff wurde zunächst auf IT-Infrastruktur oder auf IT-intensive Prozesse angewendet und in den 80er Jahren im Zusammenhang mit großen EDV-Auslagerungsverträgen (Service Level Agreements) von General Motors (EDS) und Eastman Kodak bekannt. Seit dem Jahre 2000 nutzen ihn Dienstleistungs- und Produktionsfirmen aller Branchen.
Die Verlagerung der Leistungserbringung aus dem Unternehmen hinaus trat in größerem Umfang zunächst in den 1960er Jahren in der Industrie auf, die ihre Produktion an meist asiatische Auftragsfertiger auslagerte. Das Outsourcing begann mit technologisch leicht herzustellenden Produkten wie Textilien. Im Laufe der Zeit wurden immer anspruchsvollere Produktionsaufgaben an sogenannte „Contract Manufacturer“ ausgelagert. Im Produktionsbereich spricht man meist von „Verringerung der Wertschöpfungstiefe“ oder allgemein von „Value Networks“. Ein Beispiel sind die „Electronics-Manufacturing Services“ (EMS) oder „Mechanic Manufacturing Services“ (MMS) von so genannten Fertigungsdienstleistern. Ein anderes klassisches Beispiel für eine Auslagerung ist das Facilitymanagement.
Da der Übergang von Prozessen auch die Übernahme von Personal und Unternehmenswerten („Assets“) einschließt, ist die Grenze zu einer Unternehmensübernahme (Mergers & Acquisitions) fließend, insbesondere, wenn der übernommene Unternehmensteil eine eigene Rechtsform hat. Daher gilt die Kompetenz zur Integration und zum Management von Personal als ein zentrales Erfolgskriterium.
Outsourcing findet auch in Form von Joint Ventures statt – und zwar besonders im öffentlichen Sektor, in dem sich das Modell der Public Private Partnership (PPP) etabliert hat (siehe z. B. Toll Collect, WIVERTIS). Eine Variante des Outsourcings in Konzernen ist die Gründung einer „Shared Services“-Organisation. Hier obliegen die Governance-Verantwortung und die Aussteuerung dem jeweiligen Dienstleister. Arbeitsschritte können auch direkt an den Kunden übertragen werden, zum Beispiel der Selbsttransport der Möbel bei IKEA oder das Aufreißen der Großverpackung bei Discountern wie Aldi.
Seit einigen Jahren kommen vornehmlich im öffentlichen Sektor Markttestverfahren zur Anwendung, durch die es zum systematischen Marktvergleich von betriebsinternen (Sekundär-)Leistungen bzw. In-house-Leistungen kommt. Das Markttestverfahren stellt ökonomische Kriterien bereit, die als Grundlage für Outsourcing- aber auch Insourcing-Entscheidungen dienen können.
Formen des Outsourcings
Allgemein sind folgende Grundformen des Outsourcings denkbar:
Ausgliederung (Betriebsübergang, Teilbetriebsübergang)
Kooperation
Beispiele:
Unternehmensinternes Outsourcing:
Innerhalb eines Konzernes an andere Betriebe (Wegfall nur für den abgebenden Betrieb)
Ausgründung in ein eigenes Unternehmen (z. B. GmbH)
Fremdvergabe im eigenen Betrieb (Leiharbeit etc.)
Unternehmensexternes Outsourcing:
Vergabe an Fremdfirmen (Leistungserbringung im Unternehmen)
Vergabe an Fremdfirmen (regional)
Vergabe an Fremdfirmen (global)
Spezielle Arten des Outsourcings werden unterschieden, wobei die Definitionen erheblich variieren; so sind Outtasking und Selective Outsourcing häufig synonym:
Outtasking
Beim Outtasking übernehmen externe Dienstleister einzelne Aufgaben. Anders als beim BPO (Business Process Outsourcing) behält das auftraggebende Unternehmen die Prozesskontrolle wie Personalverantwortung oder Assets. Es vergibt nur einzelne Funktionen. Typischerweise gehen Aufgaben („tasks“) in Software-Entwicklung, Datenverarbeitung, Webdesign, Internetrecherche, Digitalisierung von Dokumenten, Erstellung von Folienpräsentationen, Übersetzung von Texten etc. – z. B. an Unternehmen in Indien (offshoring) oder in die Slowakei (nearshoring). In der Unternehmensberatungsbranche verstärkt sich der Trend, Folienpräsentationen, Dateneingabe und Internetrecherchen nach Indien und Rumänien – (also in Niedriglohnländer) – auszulagern, um die Produktivität signifikant zu steigern.
Selective Outsourcing
Beim Selective Outsourcing werden spezielle Teile eines Bereiches an ein Drittunternehmen vergeben. Das primäre Ziel ist meist nicht Kosteneinsparung, sondern etwa die Kompensation mangelnden Wissens oder mangelnder kritischer Masse im Unternehmen. Führt ein Unternehmen z. B. eine IT-Applikation ein, ist dies oft der Anlass, den Betrieb dieser Lösungen an ein Drittunternehmen zu vergeben und das Spezialwissen nicht aufzubauen.
Transitional Outsourcing
Beim Transitional Outsourcing überträgt ein Unternehmen einen Prozess während eines Technologiewechsels an einen Dienstleister mit Kompetenzen in der Ist- und zugleich in der Ziel-Technologie.
Comprehensive Outsourcing
Beim Comprehensive Outsourcing (auch: Complete Outsourcing) wird ein ganzer Unternehmensbereich ausgelagert, beispielsweise übergibt ein Unternehmen die EDV an einen IT-Dienstleister für eine Vertragslaufzeit von 10 Jahren. Dabei wechseln nicht nur die „Assets“, sondern auch große Teile der betroffenen Belegschaft in das Drittunternehmen.
End of Life-Fertigung
Die End of Life-Fertigung ist eine spezielle Form des Outsourcings. Hier werden Produkte, die sich am Ende ihres Lebenszyklus befinden und daher nur noch in kleineren Stückzahlen gefertigt werden, an Produktionsdienstleister übergeben. Diese übernehmen in diesem Stadium des Produktlebenszyklus, d. h. vom Übergang der Serienproduktion bis zur Abkündigung (Nachserienphase), für die Originalhersteller die Auslauf- und Ersatzteilproduktion.
Application Service Providing (ASP)
Beim Application Service Providing (ASP) werden Dienstleistungen wie der Betrieb von ICT-Applikationen (ERP, CRM, MS Office, E-Mail etc.) aus einem externen Datacenter den Unternehmen an ihrem Standort zur Verfügung gestellt. ASP nutzt die Technik von Server-Based-Computing. In den Unternehmen stehen nur noch Geräte für die Erfassung und Darstellung der Ergebnisse. Alle Verarbeitungen, Wartungs- und Unterhaltungsarbeiten sowie die gesamten Datensicherungen erfolgen zentral im Datacenter.
Cloud Computing
Seit einigen Jahren wird der Begriff Cloud Computing als eine weitere Evolution des Outsourcings definiert. Entgegen oftmaliger Behauptung handelt es sich bei „Cloud“ nicht um eine komplett neue Form der Zusammenarbeit. Auch in der „Cloud“ werden Server- und Storageleistungen über ein Netzwerk dem potentiellen Kunden angeboten. Soweit also kein essentieller Unterschied zum klassischen IT Outsourcing. Darüber hinaus zeichnet sich „Cloud Computing“ aber durch höhere Skalierbarkeit, meist geringere Kosten auf Basis von Pay-per-Use Preismodellen und dramatisch schnellerer Bereitstellung von Resources aus.
Als Nachteile werden die weniger flexiblen Dienstleistungsarten und die teilweise intransparente Leistungserbringung (z. B. bzgl. der Lokation von Daten) angeführt. Als eine vorteilhafte Mischform spricht man deshalb auch gerne von der sogenannten „Hybrid Cloud“, welche die Vorteile beider Welten (On Premises und Cloud) zusammenführt.
Business Transformation Outsourcing / Transformational Outsourcing
Business Transformation Outsourcing / Transformational Outsourcing meint die integrale Verbindung von Business Consulting und Outsourcing. Ein übernommener Unternehmensteil oder -prozess wird nach „Best-in-Class“-Methoden reorganisiert und dann entweder betrieben, rücküberführt oder im Ausland verwaltet. Im Gegensatz zu klassischem Business Consulting übernimmt der Dienstleister Verantwortung für die Realisierung der identifizierten Optimierungspotentiale. Eine Zwischenform zwischen Transformational Outsourcing und Business Process Outsourcing diskutiert man zum Teil auch unter dem Stichwort „Business Innovation and Transformation Partner“ (BITP). Teilweise wird das Business Transformation Outsourcing fälschlicherweise auch als Next Generation Outsourcing bezeichnet.
Next Generation Outsourcing
Next Generation Outsourcing zielt auf eine durchgängige Trennung zwischen den Geschäftsprozessen der Fachbereiche und der Unterstützung dieser durch IT-Leistungen bzw. IT-Services ab. Beim NGO verläuft die Sourcing-Schnittstelle daher nicht mehr zwischen IT-Abteilung und IT-Dienstleister, sondern zwischen dem Fachbereich und einem IT-Produktlieferanten (meist in Form eines Generalunternehmers). Die Vertragsgestaltung bezieht sich konsequenterweise auch nicht mehr auf technische Liefereinheiten, sondern auf die Konformität und Qualität bei der Unterstützung der Geschäftsprozesse. In Deutschland wird diese Form des Outsourcings aktiv vom Branchenverband der IT-Industrie, dem Bundesverband Informationswirtschaft, Telekommunikation und neue Medien (BITKOM) gefördert (siehe auch Abschnitt Literatur am Ende des Artikels).
Business Process Outsourcing
Beim Business Process Outsourcing geht ein ganzer Unternehmensprozess an ein Drittunternehmen. Beispielsweise lässt sich der Unternehmensprozess Einkauf auslagern, das heißt, das Drittunternehmen verhandelt und besorgt für den auslagernden Betrieb beispielsweise günstigere Konditionen bei der Beschaffung. Weitere Beispiele sind HR-Management, Payroll-Processing, Anrufannahme oder Transaktions-Banking. Oft handelt es sich um IT-intensive Prozesse, die an entsprechend spezialisierte Dienstleister abgegeben werden.
Knowledge Process Outsourcing
Im Vergleich zum Business Process Outsourcing werden im Knowledge Process Outsourcing (KPO) komplexere und arbeitsintensivere Aufgaben ausgelagert. KPO-Dienstleister beschäftigen Mitarbeiter mit speziellen Kenntnissen und genauem Wissen einer bestimmten Domäne, Technologie oder Branche. Das Expertenwissen und die hochwertige Ausbildung der Mitarbeiter stellen den wesentlichen Unterschied zum Business Process Outsourcing dar. Typische Aufgabenbereiche die von Unternehmen an KPO-Dienstleister ausgelagert werden, sind unter anderem Marktforschung, Business Research, juristische Dienstleistungen, Intellectual Property Services und medizinische Dienstleistungen. Auch kreative Prozesse wie Design oder Animation können von KPO-Dienstleistern übernommen werden.
Out-servicing
Beim Out-servicing werden in Anlehnung an das Business Process Outsourcing Geschäftsprozesse oder Aggregationen von Geschäftsprozessen ausgelagert, die nach dem Paradigma serviceorientierter Architekturen (SOA) gestaltet wurden. Hierbei können Services – gekapselte, wiederverwendbare und lose koppelbare betriebliche Funktionseinheiten – in unterschiedlichen Feinheitsgraden, d. h. sehr fein als Elementarfunktion und gröber als gesamthafter Geschäftsprozess ausgelagert werden. Out-servicing kann als Outsourcing oder Out-tasking unter Anwendung der Paradigmen des SOA verstanden werden.
Out-Sourcing (gelegentlicher Sprachgebrauch)
Teilweise wird im deutschen Sprachraum der Begriff Out-Sourcing auch als Synonym für Spin-off (Auslagern von Unternehmensteilen in die Eigenverantwortung) verwendet. Dies ist streng genommen falsch, da es sich um zwei unterschiedliche, nicht zwangsläufig aufeinanderfolgende Schritte handelt.
Managed Services
Bei Managed Services werden Leistungen, die dem Informations- oder Kommunikationsbereich zugeordnet werden, für einen fest definierten Zeitraum von einem spezialisierten Anbieter über einen Rahmenvertrag bereitgestellt. Die im Vorfeld definierten Leistungen können dann vom Kunden zu jeder Zeit nach Bedarf abgerufen werden.
On Site Management
Beim On Site Management handelt es sich um die Übernahme der Funktion einer Abteilung oder eines Betriebsteils des Kundenbetriebes in den Räumen des Kunden durch einen externen Dienstleister unter teilweiser oder vollständiger Beibehaltung der vorhandenen Ressourcen.
Dabei können im Gegensatz zum reinen Outsourcing Produktionsmittel und/oder Personal des Kundenbetriebes im Einsatz bleiben. Hier wird also nicht z. B. die gesamte Abteilung aus dem Betrieb ausgegliedert, sondern vorrangig die Organisation ggf. unter Nutzung zusätzlicher externer Ressourcen im Bedarfsfall. Im Gegensatz zum Projektmanagement oder dem Management auf Zeit (Interims-Management) wird hier durch eine langfristige oder dauerhafte Übernahme eine Verbesserung der Leistung oder eine Reduzierung der Kosten durch Nutzung von Synergien bei dem Dienstleister angestrebt.
Beispiele:
Übernahme des innerbetrieblichen Werksverkehrs durch eine Spedition (Nutzung Versandabteilung und Stapler, Unterstützung durch Mitarbeiter, Stapler, LKW und EDV der Spedition im Bedarfsfall)
Übernahme von Funktionen der Buchhaltung durch einen Steuerberater (Nutzung der EDV / Buchhaltung, Unterstützung durch Mitarbeiter und EDV des Steuerberaters vor und nach Übergabepunkt der Buchhaltung)
Übernahme von Funktionen der Personalwirtschaft durch einen Personaldienstleister (Koordinierung und Einsatz von eigenem und Fremdpersonal)
Da Stamm- und Fremdbelegschaft häufig in gleichen Räumen gleiche Aufgaben bei unterschiedlicher Bezahlung leisten, kann dies zu Missstimmung und negativen Motivationseffekten führen.
Vertriebsoutsourcing
Ziel des Vertriebsoutsourcings ist es, einerseits die Kosten des Vertriebs zu variabilisieren und andererseits durch den Einsatz erfahrener Vertriebsprofis die Umsätze und Margen nachhaltig zu steigern. Häufig wird der Vertrieb in die einzelnen Prozessschritte unterteilt (telefonische Kaltakquise/Terminvereinbarung bei Entscheidern, Terminwahrnehmung, Vertragsabschluss, Kundenbetreuung etc.). Es gibt spezialisierte Dienstleister, die die einzelnen Vertriebsschritte übernehmen und so ein partielles oder auch vollständiges Outsourcing der Vertriebsaktivitäten ermöglichen. Hierbei werden in der Regel erhebliche Kostenvorteile und Umsatzzuwächse realisiert.
Anwendungsfelder
Outsourcing in Kredit- und Finanzdienstleistungsinstituten
Gemäß Vorgaben der Mindestanforderungen an das Risikomanagement (MaRisk) gelten strenge Vorgaben, welche Bereiche und unter welchen Voraussetzungen Kredit- und Finanzdienstleistungsinstitute in Deutschland Bereiche des Unternehmens outsourcen können. Die MaRisk unterscheiden dazu zwischen wesentlichen und unwesentlichen Auslagerungen. Die Institute müssen im Rahmen einer eigenen Risikoanalyse die Wesentlichkeit der Auslagerung bestimmen. Die Risiken sind angemessen zu steuern und die Ausführung der Aktivitäten und Prozesse ordnungsgemäß zu überwachen.
Eine Besonderheit ergibt sich für Banken und Versicherungen auch in umsatzsteuerlicher Hinsicht. Die Dienstleistung des Outsourcinganbieters unterliegt der Mehrwertsteuer. Da aber Banken und Versicherungen in ihrem Kerngeschäft nicht der Umsatzsteuer unterliegen, können sie die gezahlte Steuer nur im Rahmen des Bankenschlüssels als Vorsteuer geltend machen, es sei denn es ist ihnen möglich bzw. wirtschaftlich sinnvoll, in komplexen Verfahren die Eingangsleistungen konkreten Ausgangsleistungen zuzuordnen, die sie Kunden mit Mehrwertsteuer in Rechnung stellen.
Um dennoch ein Outsourcing möglich zu machen, wurden die Outsourcingleistungen durch das Bundesfinanzministerium auf dem Verwaltungswege von der Mehrwertsteuer befreit. Diese Entscheidung, die einer gesetzlichen Regelung vorgreifen sollte, wurde vom Bundesrechnungshof kritisiert, da keine Rechtsgrundlage bestünde. Zwei Gesetzgebungsverfahren der Bundesregierung und des Bundesrates, Bank- und auch Versicherungsoutsourcing von der Mehrwertsteuer zu befreien, verliefen im Sande.
Outsourcing von IT-Dienstleistungen/Online Outsourcing
Online Outsourcing ist die internetbasierte Version von Outsourcing, der Auslagerung einer Abteilung beziehungsweise eines Arbeitsbereichs an ein Drittunternehmen.
Bei Online Outsourcing werden hauptsächlich IT-Dienstleistungen und Marketing-Aufgaben ausgelagert, welche über das Internet erbracht werden können. Hier sind als Beispiele Programmier- und Webdesignaufträge, Multimedia-Produktionen, Erstellung von Unternehmenslogos und Signets sowie die Suchmaschinenoptimierung zu nennen. Aber auch Unternehmensservices wie Übersetzungsarbeiten, Recherchetätigkeiten und das Verfassen von Artikeln werden ausgelagert.
Kleine und mittelständische Unternehmen (KMU) ohne eigene Entwicklungsabteilung sowie Unternehmen mit Auslastungsspitzen haben die Möglichkeit, z. B. für ihre Softwareentwicklungsprojekte zeitnah über eine Online-Börse im Rahmen einer Ausschreibung einen verfügbaren Dienstleister zu finden.
Das Deutsche Institut für Normung (DIN) hat 2010 eine DIN-Spezifikation für das Outsourcing technologieorientierter Dienstleistungen veröffentlicht (DIN SPEC 1041).
Outsourcing in Niedriglohnländer
Bisweilen nutzen Unternehmen das Outsourcing zum gleichzeitigen Offshoring, um Arbeitsplätze von ihren ursprünglichen an kostengünstigere Standorte – in der Regel in Niedriglohnländer – zu verlegen. Je nach geographischer Ausrichtung wird dies als Nearshoring oder Offshoring bezeichnet. Ein Beispiel hierfür ist die Auslagerung der IT-Anwendungsentwicklung nach Indien oder in Länder wie die Slowakei, Belarus, Ungarn, Rumänien, Ukraine oder Bulgarien. Das Outsourcing in der IT-Entwicklung hat meist Kostengründe; in den genannten Staaten gibt es überdies eine hohe Anzahl an gut ausgebildeten und hochqualifizierten IT-Spezialisten, so dass eine Maßnahme gegen Fachkräftemangel mitgespielt haben kann.
Die Erfahrung zeigt jedoch enorme Aufwände für Kommunikation und Abstimmung zwischen Auftraggeber und Auftragnehmer, so dass Outsourcing in Billiglohnländer zumindest in der Projektarbeit zurückgeht.
Entsprechend werden inzwischen von Serviceprovidern hybride Modelle bevorzugt, die dann unter Rightshoring oder Best-Shoring firmieren. Hierbei werden kundenintensive Bereiche nahe beim Kunden belassen, Hintergrundtätigkeiten innerhalb des Outsourcingunternehmens werden jedoch dann in entsprechende Länder mit günstigeren Arbeitsplatzkosten verlagert. Dadurch wird das Risiko der Kulturunterschiede eher gemindert.
Derzeit leiden Outsourcingprojekte in den Billiglohnländern unter einer hohen Fluktuation der Mitarbeiter und steigenden Löhnen in diesen Ländern. Für den Auftraggeber steigen damit die Projektrisiken stark an.
Das Outsourcing verschiebt sich zum Beispiel auch innerhalb Chinas künftig weiter in das Landesinnere, wo sehr viele mögliche Arbeitskräfte zur Verfügung stehen, wenn an der Küste die Löhne steigen. Noch exportiert der deutsche Maschinenbau, allerdings wird geschätzt, dass das eigene Know-how das in zirka vier Jahren überflüssig macht.
Eine entscheidende Weiterentwicklung des Outsourcing-Gedankens ist die Entwicklung neuer Preis- und Deliverymodelle, die eine bedarfsgerechte Nutzung der bezogenen Leistungen ermöglicht (bekannte Schlagworte sind z. B. „Cloud Computing“, „On demand“, „Pay per use“, „Business Flexibility“ oder „atmende Infrastruktur“).
Beurteilungen von Outsourcing
Gründe für Outsourcing
Hintergründe
Die seit den 1990er Jahren vor allem im angelsächsischen Raum populäre Vorgehensweise soll vor allem Geschäftsprozesse rationalisieren, Prozesskomplexität reduzieren, Management-Kapazitäten freisetzen, das Unternehmen flexibilisieren und auf das Kerngeschäft fokussieren (). Teure oder selbst nicht effizient ausführbare Aufgaben, die neben dem Kerngeschäft liegen, gibt das Unternehmen an spezialisierte Dienstleister ab. Meistens wird ein Outsourcing aus Kosten- oder bilanzierungstechnischen Gründen vorgenommen (Vermeidung hoher Investitionen und Mittelbindung, Verbesserung von Kreditratings etc.). Eine aktuelle Form der Kostensenkung ist das sogenannte Offshore-Outsourcing (siehe unten). Die Auslagerung kann auch Qualitäts-, Sicherheits- und Know-how-Gründe haben, oder aus einem schnellen Wachstum des Unternehmens resultieren. Outsourcing ist dann eine Make-or-buy-Entscheidung. Beispielsweise wird der Betrieb der IT-Infrastruktur oft an kompetente IT-Dienstleister übertragen. Risiken eines Ausfalls trägt somit teilweise das Drittunternehmen.
Strategische Entscheidungsgründe für Outsourcing / ASP
Höhere Konzentration auf die eigenen Kernkompetenzen
Mangel an Know-how oder qualifizierten Mitarbeitern
Höhere Leistung und bessere Performance
Optimale Skalierbarkeit
Geringere Kapitalbindung durch die Umwandlung von fixen in variable Kosten
Kosteneffektivität / Kostenreduktion durch geringere Total Cost of Ownership
IT-Kosten klar kalkulierbar
Mobilität der Arbeitsplätze und Daten
Schnellere Reaktion auf Veränderungen
Keine eigenen Investitionen (Software, Hardware, neue Technologien)
Klar definierte Ansprechpartner
Einfachere Clients, verlängerter Lebenszyklus der aktuellen installierten Clients
Produktivitätsgewinn beim Endbenutzer
Einsparungspotential bei Outsourcing / ASP
Günstigere Arbeitskraftkosten aufgrund Fokussierung und Spezialisierung der Arbeitskräfte
Günstigere Arbeitskraftkosten beim Service-Provider aufgrund von Standortvorteilen, z. B. in Polen oder Indien
Wegfall der externen Wartungs- und Unterhaltskosten der eigenen Serverinfrastruktur
Wegfall der laufenden Softwareassurance beim ASP-Software-Lizenzmodell
Klar limitierte Betriebs-Gesamtkosten budgetierbar pro User und Monat
Tiefere TCO (Total Cost of Ownership) durch den Einsatz der ServerBasedComputing-Technik
Betreuungs- und Supportaufwand für den Betrieb der Server
Raumkosten für Serverraum
Kosten für Datensicherung und externe Auslagerung entfallen
Vermeiden von Folgeinvestitionen in Hardware, Software und Support
Nutzen durch vereinfachten Zugang zu den Anwendungen via Remote-Access durch berechtigte Benutzer
Vermeiden der allenfalls lokal nötigen Investitionen in Sicherheit und Datenschutz
Wirtschaftliche Bedeutung
Der IT-Outsourcing-Markt hat in Deutschland ein Volumen von rund 8–10 Milliarden € (non-captive, d. h. durch nicht-konzernzugehörige Dienstleister). Das durchschnittliche Marktwachstum (CAGR) von 2002 bis 2008 beträgt etwa 10–12 Prozent. Während der Fokus zunächst auf infrastruktur-orientiertem Outsourcing lag, wachsen aktuell, von geringer Basis ausgehend, vor allem anwendungs- und prozessorientierte Formen des Outsourcings: So Application-Management durchschnittlich um etwa 30 %, Business Process Outsourcing sogar um 35–38 %. Im Jahr 2008 wird der Markt für BPO nach Analystenschätzungen bereits über 1 Milliarde € groß sein. Er ist Teil der Globalisierung von Unternehmensstrukturen.
Wirtschaftlichkeit von Outsourcing-Projekten
Die Wirtschaftlichkeitsberechnung sollte die Basis jeder IT-Outsourcing-Entscheidung sein. Die tatsächliche Entwicklung im Projekt sollte mit den Annahmen der Wirtschaftlichkeitsberechnung kontinuierlich abgeglichen werden, um mögliche Abweichungen aufzudecken. In der Praxis werden jedoch kaum Berechnungen der Wirtschaftlichkeit durchgeführt. Laut einer Studie der Warwick Business School hat weniger als die Hälfte der befragten CIOs versucht, die Wirtschaftlichkeit von IT-Outsourcing zu quantifizieren. Nur ein Fünftel der CIOs, die Wirtschaftlichkeitsberechnungen durchführten, vertraute dem Ergebnis.
Die Berechnung der Wirtschaftlichkeit eines Outsourcing-Vorhabens basiert auf zahlreichen Parametern und einem komplexen Modell und ist entsprechend aufwendig.
Mehr als die Hälfte der Outsourcing-Beziehungen in Deutschland mit einem Vertragsvolumen von drei Millionen Euro oder mehr erfüllt die in sie gesetzten Erwartungen nicht.
Risiken, Probleme und typische Fehler bei der Umsetzung
Outsourcing-Projekte werden manchmal unter falschen Vorzeichen initiiert. Manchmal wird keine objektive Wirtschaftlichkeitsrechnung durchgeführt. Eine umfassende Wirtschaftlichkeitsrechnung berücksichtigt nicht nur die Kosten, die der Dienstleister in Rechnung stellt, sondern alle relevanten Kosten, wie z. B. mögliche Kosten der retained Organisation oder für die Beendigung eines Projekts.
Weitere Problemfelder sind:
Die Qualität der ausgelagerten Prozesse, die nur indirekt beeinflusst werden kann.
Abhängigkeit von Drittunternehmen.
Illusionistische Erwartungen der Unternehmen, v. a. bei einer erstmaligen Externalisierung von IT-Aufgaben, die zu erwartungsgetriebenen (Anbietermarketing, vertriebliche Konferenzvorträge, BITKOM-Lobbyismus) statt zu fundierten und bedarfsgerechten Outsourcing-Entscheidungen führen.
Schutz des Know-Hows bei der Vergabe von Leistungen an Dritte oft nicht sichergestellt. Auch informelle Kontakte z. B. zwischen Fertigung und Konstruktion, aus denen neue Ideen für Verbesserungen entstehen, werden beim Outsourcing einzelner Prozesse oft unterbunden.
Wettbewerbsdifferenzierung: Beim Rückgriff auf externe Dienstleister, die prinzipiell auch den Konkurrenten zur Verfügung stehen, vom Wettbewerb zu differenzieren.
Schlechte Transitions- und Transformations-Planung auf beiden Seiten der Outsourcingparteien, so dass anstatt eines geregelten Übergangs die Probleme über Jahre weiter getragen werden. Dazu gehört auch, dass die Transitionskosten über die Laufzeit „verschmiert“ werden und jedes Serviceelement über Jahre die Transitionsaufwände mittragen muss, was dann bei späteren Benchmarks oft dazu führt, dass unsachgemäße Vergleiche erfolgen.
Schlecht geplante und unsauber durchgeführte Auswahlprozesse, bei denen der Gewinner faktisch bereits im Vornherein feststeht, so dass es keinen echten Leistungs-Wettbewerb zwischen den einzelnen Anbietern gibt und dadurch Qualitätsmängel bei Laufzeitbeginn offensichtlich werden.
Unkenntnis des Kunden zu Vertragsthemen, oftmals zu oberflächliches Durcharbeiten von Vertragsinhalten wie SLAs durch die Entscheider, so dass der Wortlaut des Vertrags und der eigentliche Sinn der gemeinten Abreden nicht kongruieren.
Unsaubere Dokumentation von Assetlisten, so dass die Vertragsgrundlage von vornherein schon zweifelhaft ist und rechtlich anfechtbar wird.
Kulturunterschiede zwischen Service-Providern und Kunden, die entsprechend zu Missverständnissen führen können und damit erhöhten Kosten.
Ein schwerwiegender typischer Fehler bei der Umsetzung eines Outsourcing-Projektes ist die unzureichende Information der Mitarbeiter, d. h. die verspätete oder unterlassene Planung und Umsetzung von Veränderungsmanagement und Interne Kommunikation. Dadurch entstehende Gerüchte und Szenarien bei den Mitarbeitern erschweren und gefährden das Projekt. Deshalb muss von Beginn an auf eine umfassende, zeitnahe und offene Kommunikation geachtet werden.
Weitere Risiken ergeben sich für das auslagernde Unternehmen durch den möglichen Verlust von internem Know-how im ausgelagerten Unternehmensbereich. Da typischerweise nach einer Auslagerung die Fachkräfteweiterbildung eingeschränkt wird, ist ein späteres Insourcing nur mit erhöhten Aufwänden möglich.
Tendenzprognose
Die Tendenz zum Outsourcing ist laut Analysten noch nicht an ihrem Höhepunkt angelangt. Dennoch lässt sich zunehmend auch eine Abkehr beobachten. Viele Unternehmen haben festgestellt, dass sich zwar unmittelbar Kosten reduzieren lassen – mittelfristig bzw. langfristig wird es trotzdem teurer. Häufig hatte die Kalkulation Faktoren im Vergleich vernachlässigt oder schlimmstenfalls vergessen.
Die Motivation für Outsourcing verlagert sich zunehmend von einer reinen Kostenorientierung („run my mess for less“) zu einer Qualitäts-, Wachstums- und Innovationsorientierung.
Alternativen
Wenn ein Unternehmen gleichartige Prozesse aus verschiedenen Bereichen in einer Zentrale zusammenfasst, spricht man von Shared Services.
Die anbietende Stelle oder Abteilung heißt in der Regel „Shared Service Center“, kurz SSC. Die Abteilungen, die ihre Dienstleistungen in Anspruch nehmen, stehen in einer Art Kunden-Lieferanten-Verhältnis zu ihm. Das ist eine Art internes Outsourcing. Wenn zum Beispiel aus Gründen des Datenschutzes ein Outsourcing bestimmter Prozesse ausscheidet, kann das Effizienzsteigerungen bringen. Es gab in letzter Zeit jedoch einige größere Beispiele des Aufkaufs von Shared Services Centers durch externe Service Provider, so dass ein SSC oftmals eine erste Stufe sein kann, um dann später in ein Outsourcing übergeführt zu werden.
Auswahlkriterien für Service-Provider
Die Wahl des richtigen Service-Providers hängt sehr stark von Marktlage, Größe des Servicenehmers und Art und Beschaffenheit der Serviceelemente ab.
Grundsätzlich spielen jedoch folgende Auswahlkriterien eine Rolle:
Vertragskonstrukt – Gibt es Manövrierraum für Änderungen während der Laufzeit? Dies ist insbesondere in dynamischeren Industrien wichtig, wohingegen bei eher statischen Organisationen, z. B. Versicherungen oder Behörden hier weniger Flexibilitätsbedarf herrscht, was wiederum andere Kostenaspekte nach sich ziehen kann.
Geschäftszyklus des Service-Providers. Je nach Marktlage kann es sein, dass bis vor kurzem sehr aggressive Unternehmen die kürzlich akquirierten Geschäfte erst einmal abarbeiten müssen, wodurch sich im Geschäftsgebaren eine gewisse Saturiertheit anmerken lässt.
Qualität des Kundenbetreuungsteams (Engagement Teams). Hier wird von führenden Outsourcingberatern empfohlen, das Kundenbetreuungsteam namentlich als Vertragsbestandteil zu definieren.
Kulturelle Passung zwischen Kunden und Service Provider.
Passung des Finanzmodells – Je nach Geschäftsituation von Kunde und Service-Provider kann eine Vorabzahlung oder eine nachgelagerte Zahlungsverlaufskurve beispielsweise sinnvoller sein.
Fähigkeiten des Service-Providers in den Ländern, die der Auftraggeber selbst bedient. Gerade bei internationalen Auftraggebern ist es sinnvoll zu überlegen, inwieweit der Service-Provider auch international ähnlich ausgerichtet sein sollte, beziehungsweise wie weit ein Unterauftraggeber bestimmte Geschäftsfelder nahtlos abwickeln kann.
Passung der Service Level Agreements (SLAs).
Rechtsfragen
Outsourcing-Verträge laufen für gewöhnlich zwischen zwei und zehn Jahren. Bei dem Outsourcing der Erhebung, Verarbeitung oder Nutzung personenbezogener Daten sind die datenschutzrechtlichen Vorgaben der Datenverarbeitung im Auftrag (Artikel 28 Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) bzw. Bundesdatenschutzgesetz (BDSG)) zu beachten. Die Qualität und Quantität der vom Auftragnehmer zu erbringenden Leistungen werden dabei in so genannten Service Level Agreements festgelegt. Nur ein Teil der Outsourcing-Verträge wird nach dieser Zeit ausschreibungslos verlängert (Analysten schätzen in Deutschland ca. 20 %), meistens findet eine erneute Ausschreibung statt. In geschätzten zwei Dritteln der Fälle handelt es sich dabei aber um ein Benchmarking, das nur die marktgängigen Preise ermitteln soll. Da Outsourcer bei einem Benchmarking sich selten aufgrund kommerzieller Interessen allzu sehr anstrengen, werden als Ausschreibungen getarnte Benchmarks von vornherein auch vom gebenchmarkten Outsourcer kaum ernst genommen. Aufgrund hoher Wechselkosten war in Deutschland ein Wechsel des Anbieters anfangs eher die Ausnahme, ist aber inzwischen häufiger, da aufgrund stärkerer Standardisierung der Prozesse, z. B. dank ITIL die Serviceelemente besser vergleichbar sind. Möglich ist es auch, dass der Outsourcer den Teilbereich wieder ins eigene Unternehmen eingliedert (Backsourcing).
Sprachkritik
Der Begriff „Outsourcing“ wurde 1996 bei der Wahl des deutschen Unwort des Jahres von der Jury als „Imponierwort, das der Auslagerung/Vernichtung von Arbeitsplätzen einen seriösen Anstrich zu geben versucht“, bezeichnet.
Siehe auch
Crowdsourcing
Eigenfertigung oder Fremdbezug
Onshoring
Fremdleistung, Contracting
Fertigungsdienstleistung, Fertigungsbetrieb
Lieferkette
Markttest (Controlling)
Nearshoring
Online Outsourcing
Literatur
Heike Bruch: Outsourcing: Konzepte und Strategien, Chancen und Risiken. Gabler, Wiesbaden 1998, ISBN 3-409-18863-0.
Deutsche Bank Research: IT-Outsourcing: Zwischen Hungerkur und Nouvelle Cuisine. In: e-conomics. Nr. 43, 6. April 2004. (.pdf; 711 kB)
Daniela Eschlbeck: Die Auswirkungen von Outsourcing im IT-Bereich auf unternehmerische und räumliche Strukturen · Eine empirische Analyse mittelständischer Unternehmen in Bayern. Herbert Utz Verlag, München 2009, ISBN 978-3-8316-0884-3.
Dietmar Fink, Thomas Köhler, Stephan Scholtissek: Die dritte Revolution der Wertschöpfung. Econ, 2004, ISBN 3-430-12799-8.
Christoph von Gamm: Multi-National and Intercultural Services Organisations and the Integration in front of Global Clients. Peter Lang Verlag, Bern 2011, ISBN 978-3-631-61600-0.
Christian Ganowski, Johanna Joppe: Die Outsourcing-Falle: Wie die Globalisierung in den Ruin führen kann. 1. Auflage. Redline, München 2008, ISBN 978-3-636-01552-5.
Torsten Gründer: IT-Outsourcing in der Praxis, Strategien, Projektmanagement, Wirtschaftlichkeit. 2. Auflage. Erich Schmidt Verlag, Berlin 2011, ISBN 978-3-503-09015-0.
Malte Grützmacher: Outsourcingverträge. In: Münchener Vertragshandbuch. Band 3: Wirtschaftsrecht II. 6. Auflage. C. H. Beck, München 2009, ISBN 978-3-406-57474-0.
C. Oecking, R. Jahnke, H. Kiehle, M. Weber: Industrialisierung im Outsourcing, Welchen Nutzen Outsourcing-Anwender und -Anbieter aus der Industrialisierung ziehen können. CMP-WEKA, München 2009, ISBN 978-3-7723-1471-1, S. 57–65.
Thomas Söbbing: Handbuch IT Outsourcing. 3. Auflage. CF Müller, Heidelberg 2006, ISBN 3-8114-3320-2.
Weblinks
BITKOM Bundesverband Informationswirtschaft, Telekommunikation und neue Medien e.V.: Fachausschuss Internationales Arbeitsrecht und Outsourcing
Outsourcing. Informationen des Bundesamtes für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI)
VDI-Studie zur transkontinentalen Produktionsverlagerung
Outsourcing Erklärung mit Grafik zum Vorgehensmodell
Computerwoche: „Sind Sie fit für das Outsourcing?“ – Wirtschaftlichkeit von IT-Outsourcing-Projekten
Einzelnachweise
Betriebswirtschaftslehre
IT-Management
Management
Planung und Organisation
Produktionswirtschaft
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Q61515
| 115.137703 |
2164615
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https://de.wikipedia.org/wiki/Arbeitsrecht
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Arbeitsrecht
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Das Arbeitsrecht umfasst alle Gesetze, Verordnungen und sonstige verbindliche Bestimmungen zur unselbständigen, abhängigen Erwerbstätigkeit. Inhaltlich unterscheidet man das Individualarbeitsrecht (Verhältnis zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer) vom Kollektivarbeitsrecht (Verhältnis zwischen Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden auf überbetrieblicher Ebene und zwischen Betriebs- oder Personalräten bzw. Mitarbeitervertretungen oder der Arbeitsrechtlichen Kommission auf der einen Seite und den Arbeitgeberverbänden und Arbeitgebern auf der betrieblichen Ebene – siehe auch Koalition und Koalitionsrecht. Die Arbeitnehmermitwirkung im Aufsichtsrat ermöglicht eine Beteiligung der Arbeitnehmer auf Unternehmensebene.) Ein wichtiger Bestandteil des Arbeitsrechts ist der Arbeitnehmerschutz.
Geschichte
Die Arbeit ist bereits seit dem Altertum Gegenstand rechtlicher Regelungen. Im römischen Recht hatte der Dienstvertrag (locatio conductio operarum) jedoch aufgrund der weiter verbreiteten Sklavenarbeit nur eine untergeordnete Rolle. Im Deutschland des Mittelalters tragen Dienstverhältnisse oft personenrechtliche Züge. Obgleich in bestimmten Gebieten in kleinem Umfang bereits Lohnarbeit existierte, wird heute die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts als der Beginn der Arbeitsrechtsgeschichte angesehen. Damals entwickelte sich ein großer Teil der Bevölkerung in Europa zu lohnabhängigen Arbeitern (Proletariat) und es entstand die soziale Frage (Pauperismus). Die sozialen Missstände der Industrialisierung im 19. Jahrhundert werden auch als Folge der Privatautonomie trotz Ungleichgewicht der Macht der Vertragspartner gesehen.
Die Entwicklung eines Arbeitsrechts begann 1833 in England mit den Fabrikgesetzen. Sie beschränkten die Arbeitszeit für Kinder zwischen 9 und 13 Jahren auf acht Stunden und für Kinder zwischen 14 und 18 Jahren auf 12 Stunden. Kinder unter 9 Jahren sollten die Schule besuchen.
Arbeitsrecht einzelner Länder
Das Arbeitsrecht wird in jedem Staat unterschiedlich geregelt, beispielhaft:
Arbeitsrecht (Bulgarien)
Arbeitsrecht (Deutschland)
Arbeitsrecht (DDR)
Arbeitsrecht (Frankreich)
Arbeitsrecht (Österreich)
Arbeitsrecht (Schweiz)
In der Europäischen Union kommt es mit der Liberalisierung des Arbeitsmarktes zu einem staatenübergreifenden Arbeitsrecht.
Literatur
Weblinks
Einzelnachweise
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Q628967
| 222.516093 |
364912
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https://de.wikipedia.org/wiki/Buchhandlung
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Buchhandlung
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Die Buchhandlung ist die Einzelhandelsstufe zum Vertrieb von Verlagserzeugnissen an die Endverbraucher. In Deutschland gibt es etwa 6.000 Buchhandlungen mit etwa 120.000 Mitarbeitern und einem Umsatz von 10 Mrd. Euro (2000).
Arten
Die meistverbreitete Art des stationären Buchhandels ist die nicht auf einzelne Gebiete spezialisierte Sortimentsbuchhandlung. Sie bietet ihren Kunden ein breites Angebot, quantitativ bzw. qualitativ sortiert nach den Vorgaben des Inhabers (und stets des Marktes).
Die Fachbuchhandlung wendet sich an ein fachlich orientiertes Publikum (z. B. Juristen, Mediziner, Architekten, Steuerberater, Theologen etc.) und führt ein spezialisiertes Sortiment. Sie stellt kompetent spezialisierte Dienstleistung für ihre Kunden mit Spezialinteressen zur Verfügung.
Eine Universitätsbuchhandlung stimmt ihr Angebot auf die Lehrpläne der örtlichen Hochschule ab und verlegte früher oft auch Publikationen in Zusammenarbeit mit der Universität und ihren Instituten und Einrichtungen. Sie ist meistens eine Mischform aus Fach- und allgemeinem Sortiment.
Kinder- und Jugendbuchhandlungen sind Spezialsortimente, die eine große und kritische Auswahl an Literatur bieten, in der sich der Alltag und die Probleme von Familien, Kindern und Jugendlichen sowohl in belletristischer wie auch in ratgebender Form spiegeln. Eltern, Pädagogen, Erzieher und Sozialarbeiter finden hier oft auch Sekundärliteratur und kompetente Ansprechpartner.
Die Bahnhofsbuchhandlung stellt Literatur für Bahnfahrten, Reiseführer und zumeist auch Zeitschriften zur Verfügung.
In Comicläden findet der Kunde häufig nicht nur ein breites Angebot zu Comics und Trickfilmen, sondern auch zu Fantasy und Science-Fiction. Oft werden neben der Primär- und Sekundärliteratur auch Fanartikel verkauft.
Theologische und religiöse Buchhandlungen bieten oft konfessionsübergreifende Literatur für ihre speziell interessierten Kunden. Hierzu zählen nicht nur die Kirchengemeinde und der Bibelkreis, sondern ebenfalls alle anderen sozial engagierten Menschen – auch ohne Bezug zur Kirche.
Der Antiquariatsbuchhandel verkauft gebrauchte Bücher und kauft sie an. Ein Antiquariat ist oft hoch spezialisiert (Schifffahrt, Kochen, Heraldik, Zeitungen etc.) und hat eine hohe Kundenbindung.
Zu den Nationalitätenbuchhandlungen zählt die türkische Türk Kitabevi in Frankfurt am Main.
Seit den 1970ern beteiligen sich zahlreiche Schriftsteller auch als Gesellschafter an genossenschaftlich organisierten Autorenbuchhandlungen, die den Schwerpunkt auf „Literatur als Kunst“ und ambitionierte Weltliteratur legen. Zudem entstanden in jenen Jahren vornehmlich in den westdeutschen Großstädten, wo die entsprechende Klientel vorhanden war, weitere Ausdifferenzierungen und Spartenläden wie linke Buchläden, Frauenbuchläden, esoterische Buchläden u. a.
Eine relativ neue Erscheinung sind Buchkaufhäuser, die ihren Kunden alles „unter einem Dach“ anbieten wollen. Meist handelt es sich um Ketten mit vielen Filialen. Kritiker sehen diese Entwicklung als Schritt in Richtung Monopolisierung.
Krimi-Buchläden führen in ihrem Sortiment praktisch ausschließlich Kriminalromane. Parallel zum Aufbau dieser Krimi-Buchläden haben viele der großen Verlage ihre teilweise klassischen Krimireihen eingestellt (Rowohlt, Ullstein). Krimis laufen seitdem unter dem Oberbegriff Roman. Die Marktstrategen der Verlage wollen damit auch Leser erreichen, die sonst keinen Krimi kaufen würden. Umgekehrt wird es für Krimi-Kunden schwieriger, ihr Genre im Angebot auf Büchertischen in Buchhandlungen aufzufinden. In einem Krimi-Buchladen kann ein Fan davon ausgehen, dass das Sortiment erstens größer ist, meist mit englischsprachigen Titeln. Zweitens sind keine anderen Romane untergemischt. Mittlerweile gibt es ein knappes Dutzend Krimi-Buchläden in Deutschland.
Vertrieb
Buchverkaufsstellen
Zu den so genannten Buchverkaufsstellen zählen Warenhaus, Supermarkt, Tankstelle und Zeitschriftenhandel/Kiosk.
Zum Teil bieten auch Fachhändler ihren Kunden zu speziellen Warengruppen die passende Literatur an, zum Beispiel Tierbücher im Zoofachhandel, Gesundheitsratgeber in der Apotheke oder Reiseführer in der Touristeninformation. Vorreiter für diese Entwicklung sind die USA.
Internet
Eine wichtige Gruppe der Buchhandlungen sind die Versandbuchhandlungen. Es gibt kaum ein Thema oder Fachgebiet, dem sich nicht mindestens eine Versandbuchhandlung widmet.
Seit es das World Wide Web gibt, existiert auch eine neue Form des Versandbuchhandels, die Internetbuchhandlung. Entweder als Erweiterung eines schon bestehenden Geschäfts oder gar als rein virtuelle Buchhandlung kann sie dem Kunden zwar nicht das Erlebnis einer „echten“ Buchhandlung bieten; für einen zielgerichteten Kauf und eine umfassende Recherche bietet die Internetbuchhandlung oft sehr gute Möglichkeiten.
Die klassische Buchhandlung sieht sich durch das E-Book und dessen Online-Vertrieb bedroht.
Berühmte Buchhandlungen
Lillemors Frauenbuchladen
Livraria Lello e Irmão
Stern-Verlag (Düsseldorf) (bis zu ihrer Schließung am 31. März 2016 größte Buchhandlung Deutschlands)
Siehe auch
Buchhändler
Buchpreisbindung
Buchautomat
Literatur
SEITENWEGE – 33 außergewöhnliche Buchhandlungen in München. Aufbaustudiengang Buchwissenschaft 2006/2007 der Ludwig-Maximilians-Universität. MünchenVerlag, München 2007, ISBN 978-3-937090-23-8.
Ralf Laumer (Hrsg.): Bücher kommunizieren. Das PR-Arbeitsbuch für Bibliotheken, Buchhandlungen und Verlage. Viola Falkenberg Verlag, 2. Auflage Bremen 2010, ISBN 978-3-937822-38-9.
Rainer Moritz (Text), Reto Guntli und Agi Simoes (Fotos): Die schönsten Buchhandlungen Europas. Gerstenberg, Hildesheim 2010, ISBN 978-3-8369-2613-3.
Holger Heimann (Hrsg.): Die beste Buchhandlung der Welt – Wo Schriftsteller ihre Bücher kaufen. bup – Berlin University Press, Berlin 2012, ISBN 978-3-86280-042-1.
Weblinks
Verzeichnis der Buchhandlungen in Deutschland auf der Seite des Börsenvereins des deutschen Buchhandels
Einzelnachweise
Unternehmensart (Handel) nach Sortiment
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Q200764
| 125.725922 |
41217
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https://de.wikipedia.org/wiki/Emotion
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Emotion
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Emotion oder Gemütsbewegung bezeichnet eine psychophysische Bewegtheit, die durch die bewusste oder unbewusste Wahrnehmung eines Ereignisses oder einer Situation ausgelöst wird.
Die Emotion oder der Affekt ist als Gefühlsregung vom Fühlen oder dem Gefühl zu unterscheiden. Der Begriff des Gefühls ist der allgemeinere Begriff, der die unterschiedlichsten psychischen Erfahrungen mit einbezieht, wie z. B. Eifersucht, Stolz, Unsicherheit, Begeisterung und Melancholie. Im Unterschied dazu hat sich im Sprachgebrauch die Bezeichnung eines „großen Gefühls“ als Emotion durchgesetzt und benennt damit eine deutlich wahrnehmbare physische Veränderung von Muskulatur, Herzschlag, Atmung usw., die mit Messungen neurophysiologischer Parameter nachweisbar sind.
Unter Wissenschaftlern ist noch strittig, ob es Muster physiologischer Veränderungen gibt, die eine eindeutige Diagnose einer Emotion ermöglichen. Mittlerweile wird von mehreren Forschern von „Basisemotionen“ gesprochen, um zu bezeichnen, dass es sehr wohl grundlegende ganzkörperliche Programme (hirnphysiologisch, hormonell, muskulär) gibt.
Eine Emotion
ist verhaltenssteuernd,
variiert in der Ausprägung mit der Bedeutsamkeit der Situation,
besteht in einer spezifischen körperlichen Aktivierung, die der Situationsanpassung dient,
ist verortbar vor allem im limbischen System,
wird spürbar vor allem als Muskelaktivität,
ist messbar in der Ausschüttung unterschiedlicher Neurotransmitter (Serotonin, Adrenalin, Oxytocin usw.),
kann bewusst wahrgenommen werden und, im Unterschied zum Affekt, beeinflusst werden.
Emotionalität und das Adjektiv emotional sind Sammelbegriffe für individuelle Eigenarten des Gefühlslebens, der Affektsteuerung und des Umgangs mit einer Gemütsbewegung.
Etymologie
Das Fremdwort Emotion benennt ein Gefühl, eine Gemütsbewegung und seelische Erregung. Das deutsche Wort ist dem gleichbedeutenden französischen émotion entlehnt, das zu émouvoir (dt. bewegen, erregen) gehört. Dieses Wort entstammt dem lateinischen emovere (dt. herausbewegen, emporwühlen), das auch im Wort Lokomotive enthalten ist. Für den sprachlichen Ausdruck von Emotionen prägte der Schweizer Philosoph Anton Marty den Begriff Emotive (lat. e-motus für dt. herausbewegt, erschüttert). Hierzu zählen beispielsweise ein Ausruf, ein Wunsch oder ein Befehlssatz.
Geschichte des Gefühlsbegriffs
Bereits im Altertum bezeichneten die Philosophen Aristippos von Kyrene (435–366 v. Chr.) und Epikur (341–270 v. Chr.) „Lust“ oder (je nach Übersetzung Epikurs) auch „Freude“, „Vergnügen“ (hêdonê) als wesentliches Charakteristikum des Fühlens. Als „unklare Erkenntnisse“ und vernunftlose und naturwidrige Gemütsbewegungen wurden die Gefühle von den Stoikern (etwa 350–258) bestimmt; das Lustprinzip der Epikureer wird in Frage gestellt. Die ältere Philosophie und Psychologie behandelte das Thema Emotionen und Gefühle vorzugsweise unter dem Begriff der „Affekte“ (lat. affectus: Zustand des Gemüts, griech.: pathos; vgl. Affekt) bzw. auch der „Leidenschaften“ und hier vor allem unter dem Gesichtspunkt der Ethik und Lebensbewältigung. „Die Bestimmung des Begriffs der Affekte hat vielfach geschwankt. Bald sind die Affekte enger nur als Gemütsbewegungen gefasst worden, bald sind sie weiter auch als Willensvorgänge gedacht, bald sind sie als vorübergehende Zustände, bald auch als dauernde Zustände definiert und dann mit den Leidenschaften vermischt worden.“ (Friedrich Kirchner, 1848–1900). Für die Kyrenaiker (4. Jahrhundert v. Chr.) waren zwei Affekte wesentlich: Unlust und Lust (ponos und hêdonê). Auch Aristoteles (384–322) verstand unter Affekten seelisches Erleben, dessen wesentliche Kennzeichen Lust und Unlust sind.
René Descartes (1596–1650) unterschied sechs Grundaffekte: Liebe, Hass, Verlangen, Freude, Traurigkeit, Bewunderung. Für Spinoza (1632–1677) waren es dagegen drei Grundaffekte: Freude, Traurigkeit und Verlangen. Auch Immanuel Kant (1724–1804) sah das Fühlen als seelisches Grundvermögen der Lust und Unlust: „Denn alle Seelenvermögen oder Fähigkeiten können auf die drei zurückgeführt werden, welche sich nicht ferner aus einem gemeinschaftlichen Grunde ableiten lassen: das Erkenntnisvermögen, das Gefühl der Lust und Unlust und das Begehrungsvermögen“.
Friedrich Nietzsche (1844–1900) trennte nicht zwischen emotionalem und kognitivem Aspekt: „Hinter den Gefühlen stehen Urteile und Wertschätzungen, welche in der Form von Gefühlen (Neigungen, Abneigungen) uns vererbt sind.“
Ein viel beachteter Versuch der Gegenwart war die mehrgliedrige Begründung der wesentlichen Faktoren des Gefühls von Wilhelm Wundt (1832–1920) durch sein System zur Beschreibung der Emotionen in drei Dimensionen Lust / Unlust, Erregung / Beruhigung, Spannung / Lösung. Ein anderer, einflussreicher Erklärungsversuch stammt von dem amerikanischen Psychologen und Philosophen William James (1842–1910). James glaubte, ohne körperliche Reaktionen entstünden Gefühle bzw. Emotionen gar nicht erst (ideomotorische Hypothese). Emotionen sind für ihn nichts anderes als das Empfinden körperlicher Veränderungen. Nach James weinen wir nicht, weil wir traurig sind, sondern wir sind traurig, weil wir weinen; wir laufen nicht vor dem Bären weg, weil wir uns fürchten, sondern wir fürchten uns, weil wir weglaufen.
Psychologen wie Hermann Ebbinghaus (1850–1909) und Oswald Külpe (1862–1915) vertraten das eindimensionale Modell aus Lust und Unlust. Der Psychologe Philipp Lersch (1898–1972) argumentierte dagegen: „Dass dieser Gesichtspunkt zur Banalität wird, wenn wir ihn etwa auf das Phänomen der künstlerischen Ergriffenheit anwenden, liegt auf der Hand. Die künstlerische Ergriffenheit wäre dann ebenso ein Gefühl der Lust wie das Vergnügen am Kartenspiel oder der Genuss eines guten Glases Wein. Andererseits würden Regungen wie Ärger und Reue in den einen Topf der Unlustgefühle geworfen. Beim religiösen Gefühl aber – ebenso bei Gefühlen wie Achtung und Verehrung – wird die Bestimmung nach Lust und Unlust überhaupt unmöglich.“
Franz Brentano (1838–1917) nahm an, die Zuordnung von Gefühl und Objekt sei nicht kontingent, sondern könne richtig sein („als richtig erkannte Liebe“). Ähnlich sahen Max Scheler (1874–1928) und Nicolai Hartmann (1852–1950) Gefühle im sogenannten „Wertfühlen“ als zutreffende Charakterisierungen von Werterfahrungen an (vgl. „Materiale Wertethik“, „Werte als ideales Ansichsein“).
Auch für Sigmund Freud (1856–1939) sind Gefühle im Wesentlichen gleichzusetzen mit Lust und Unlust („Lust-Unlust-Prinzip“), mit der Variante, dass jede Lustempfindung im Kern sexuell ist. Freud war der Meinung: „Es ist einfach das Programm des Lustprinzips, das den Lebenszweck setzt – an seiner Zweckdienlichkeit kann kein Zweifel sein, und doch ist sein Programm im Hader mit der ganzen Welt.“
Carl Gustav Jung (1875–1961) betonte ebenfalls die Rolle von Lust und Unlust, bezweifelte jedoch, dass jemals eine Definition „in der Lage sein wird, das Spezifische des Gefühls in einer nur einigermaßen genügenden Weise wiederzugeben“. Der amerikanische Hirnforscher António Damásio (geboren 1944) definiert Gefühle und Emotionen vorwiegend kognitiv und als Körperzustände: „Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass das Gefühl sich zusammensetzt aus einem geistigen Bewertungsprozess, der einfach oder komplex sein kann, und dispositionellen Reaktionen auf diesen Prozess“ (…). – „Nach meiner Ansicht liegt das Wesen des Gefühls in zahlreichen Veränderungen von Körperzuständen, die in unzähligen Organen durch Nervenendigungen hervorgerufen werden.“
In der Gegenwart ist die Situation hinsichtlich des Gefühls- und Emotionsbegriffs eher unübersichtlich: Zahlreiche Ansätze versuchen, Charakter und Gesetzmäßigkeiten des Fühlens zu bestimmen, allerdings ohne eine Übereinkunft zu erzielen: z. B. Marañón (1924), Walter Cannon (1927), Woodworth (1938), Schlosberg (1954), Schachter und Singer (1962), Valins (1966), Burns und Beier (1973), Graham (1975), Marshall u. Philip Zimbardo (1979), Rosenthal (1979), Schmidt-Atzert (1981), Lange (1998). Der amerikanische Philosoph Robert C. Solomon stellte angesichts der Verschiedenartigkeit der Deutungen fest: „Was ist ein Gefühl? Man sollte vermuten, dass die Wissenschaft darauf längst eine Antwort gefunden hat, aber dem ist nicht so, wie die umfangreiche psychologische Fachliteratur zum Thema zeigt.“
Antonio Damasio unterscheidet deutlich zwischen „Emotion“ und „Gefühl“. Er hat die beiden Schlüsselbegriffe vor dem Hintergrund der modernen Neurobiologie wie folgt definiert: "Emotionen sind komplexe, größtenteils automatisch ablaufende, von der Evolution gestaltete Programme für Handlungen. Ergänzt werden diese Handlungen durch ein kognitives Programm, zu dem bestimmte Gedanken und Kognitionsformen gehören; die Welt der Emotionen besteht aber vorwiegend aus Vorgängen, die in unserem Körper ablaufen, von Gesichtsausdruck und Körperhaltung bis zu Veränderungen in inneren Organen und innerem Milieu.
Gefühle von Emotionen dagegen sind zusammengesetzte Wahrnehmung dessen, was in unserem Körper und unserem Geist abläuft, wenn wir Emotionen haben. Was den Körper betrifft, so sind Gefühle nicht die Abläufe selbst, sondern Bilder von Abläufen; die Welt der Gefühle ist eine Welt der Wahrnehmungen, die in den Gehirnkarten ausgedrückt werden."
Neue Ansätze, die Forschungsergebnisse aus den Neurowissenschaften wie auch der künstlichen Intelligenz berücksichtigen, sehen Emotionen als „Modulatoren“ und versuchen diese genauer zu beschreiben.
Abgrenzungen
"Eine präzise wissenschaftliche Definition für den Begriff „Emotion“ gibt es nicht. Zum einen bemühen sich Philosophie und Psychologie um den Begriff, zum anderen auch die Neurowissenschaften. Die Neurowissenschaften befassen sich mit den efferenten somatischen und vegetativen Reaktionen eines Organismus auf Emotionen, während sonst die affektiven Aspekte im Vordergrund stehen, negative oder positive Zustände von Angst und Furcht bis zu Liebe und Glück.
Im Gegensatz zum Gefühl sind Emotionen als ein Affekt – vom agierenden Individuum aus gesehen – meist nach außen gerichtet. Der Begriff Affekt betrifft im deutschen Sprachgebiet eine oftmals mit einem Verlust der Handlungskontrolle einhergehende kurzfristige emotionale Reaktion. Trotz der Erregung behält eine emotionale Reaktion die Substanz einer Handlungsweise.
Im Vergleich zu Stimmungen sind Emotionen zeitlich relativ kurz und intensiv. Während Stimmungen vielfach unbemerkt auf Bedürfnissen beruhen, kommen bei Emotionen die jeweiligen Auslöser stärker zum Zuge. Während Emotionen sich auf Personen beziehen können, zum Beispiel Wut oder Trauer, kann einer Stimmung der Bezug auf Personen vollkommen fehlen, so im Falle einer Melancholie.
Gleichermaßen sind Gefühle, Emotionen, Stimmungen ein Teil zwischenmenschlicher Kommunikation, aber auch nonverbaler Kommunikation. Sie begleiten im Wahrnehmen das Erkennen, z. B. im Fühlen einer Evidenz. Auch die Intuition, der zunächst noch Erkenntnisschritte fehlen, beruht im Wesentlichen auf einem gefühlsmäßigen oder emotionalen Erfassen."
Klassifikation
Für die wissenschaftliche Untersuchung von Emotionen braucht es ein Ordnungssystem, mit dessen Hilfe emotionale Zustände klassifiziert werden können. Die Emotionspsychologie verfolgt hierbei verschiedene Ansätze:
Der diskrete Ansatz sucht nach einer begrenzten Anzahl von Basis- oder primären Emotionen, die klar voneinander abgrenzbar sind und bei allen Menschen auftreten. Die verschiedenen Auflistungen von Basisemotionen unterscheiden sich zum Teil erheblich. In fast allen Listen werden jedoch übereinstimmend folgende vier Basisemotionen aufgeführt: Angst/Furcht, Ärger, Traurigkeit und Freude. Aus der Kombination von Basisemotionen können zusätzliche Emotionen abgeleitet werden.
Der dimensionale Ansatz geht davon aus, dass primäre Dimensionen des emotionalen Erlebens existieren, auf denen sich alle emotionalen Zustände verorten lassen. Ein bekanntes Modell ist das Circumplex-Modell. Emotionale Zustände werden um zwei orthogonale Dimensionen (Valenz und Erregung) herum kreisförmig angeordnet. Freude beispielsweise wird als positiver Zustand mittlerer Erregung im Sektor rechts oben verortet.
Der modale Ansatz ist bestrebt, verschiedene Aspekte der diskreten und der dimensionalen Modelle zu integrieren.
Entwicklung
Nach Hellgard Rauh entwickeln sich Emotionen aus drei Verläufen, die bereits beim Säugling zu beobachten sind: Vergnügen und Freude, Ängstlichkeit und Furcht, Wut und Ärger.
Die Differenzierungen, die sich im Verlauf der frühen Kindheit herausbilden, lassen sich in acht Stufen einordnen:
absolute Reizschranke (1. Monat),
Hinwendung zur Umwelt (2.–3. Monat),
Vergnügen an gelungener Assimilation (3.–5. Monat),
aktive Teilnahme am sozialen Geschehen (6.–9. Monat),
sozial emotionale Bindung (10.–12. Monat),
üben und forschen (13.–18. Monat),
Herausbildung des Selbst (19.–36. Monat),
Spiel und Fantasie (ab dem 36. Monat).
Entstehung
Es wird vermutet, dass sich die neuronalen Träger von Emotionen in phylogenetisch älteren Teilen des Gehirns befinden, insbesondere im Limbischen System. Sie besitzen mit ihren neuralen und neuroendokrinen Prozessen eine Schlüsselstellung für das artspezifische Verhalten: Empfindungen wie Hunger, Kälte, Sorgen, Abneigungen, Ängste, Geschlechtstrieb werden in der Theorie Richard Dawkins als genetisch bedingt verstanden. In behaviouristischen Theorien soll der Ausdruck von Emotionen auf ererbten angeborene Reaktionen beruhen, die biologisch vorteilhaft in der Evolution waren und Signalcharakter gegenüber Artgenossen und Mitgliedern anderer Spezies haben.
Aktuelle Emotionen entstehen bei einer Person einerseits aus der Einschätzung von Ereignissen (siehe Tabelle: Unterscheidung von 23 Emotionen nach dem Objekt der Bewertung). Andererseits können Emotionen auch durch eine Wiederherstellung einer früheren emotionalen Bedeutung entstehen. Für die Aktivierung der früheren Emotionen genügt manches Mal ein ähnliches Ereignis oder eine fragmentarische Erinnerung:
Beim Entstehen von Emotionen durch Wiederherstellung ist nämlich zu unterscheiden, ob ein vergangenes Ereignis in einem bestimmten Zusammenhang erlebt wurde, es also im episodischen Gedächtnis gespeichert ist. Oder ob der Bezug zu einer Episode fehlen kann, und bereits Fragmente die Wiederherstellung von Emotionen auslösen können: Ein Kontext fehlt, und ein Wort mag ausreichen, um emotionale Erinnerungen hervorzurufen.
Komponenten
Der Lebenszyklus einer Emotion unterteilt sich in sensorische, kognitive, physiologische, motivationale und expressive Komponenten.
In diesem Zusammenhang spielt auch das Konzept der Emotionalen Intelligenz eine Rolle. Die Emotionale Intelligenz beschreibt die Fähigkeit, die eigenen Gefühle und die Gefühle anderer Personen sensorisch wahrzunehmen, kognitiv zu verstehen und expressiv zu beeinflussen. Das Konzept der Emotionalen Intelligenz beruht auf der Theorie der multiplen Intelligenzen von Howard Gardner.
Sensorische Komponente
Die sensorische Komponente steht am Beginn einer Emotionsentwicklung. Ein erkennendes Subjekt nimmt ein Ereignis (unvollständig) über die Sinne wahr.
Kognitive Komponente
Über die kognitive Komponente kann das erkennende Subjekt aufgrund seiner subjektiven Erfahrungen mögliche Beziehungen zwischen sich und dem Ereignis erkennen.
Das erkennende Subjekt nimmt anschließend eine subjektive Bewertung der Wahrnehmung des Ereignisses vor. Ein Subjekt kann dabei – je nach persönlichem Weltbild, Wertesystem und aktuellem physiologischem Zustand – auf dasselbe Ereignis mit einer unterschiedlichen Bewertung reagieren.
Die kognitive Komponente unterliegt hierbei kognitiven Verzerrungen wie etwa auch bei der Interpretation lückenhafter sensorischer Informationen, weshalb eine „falsche“ Bewertung durchaus üblich ist.
Physiologische Komponente
Abhängig vom Ergebnis der subjektiven Bewertung reagiert das Subjekt mit der Ausschüttung bestimmter Neurotransmitter und Hormone und verändert damit seinen physiologischen Zustand. Dieser veränderte Zustand entspricht dem Erleben einer Emotion.
Das Verhältnis von physiologischen und emotionalen Vorgängen wird durch die auf William James und Carl Lange zurückgehende James-Lange-Theorie sowie die auf Walter Cannon und Philip Bard zurückgehende Cannon-Bard-Theorie betrachtet. Nach der älteren Theorie von James und Lange gehen die physiologischen Veränderungen der eigentlichen Emotion voraus, nach Cannon und Bard verlaufen beide Reaktionen als Folge des Reizes gleichzeitig.
Ein Forscherteam um den Biomediziner Lauri Nummenmaa von der finnischen Aalto-Universität belegt exemplarisch mit 14 Körperkarten die Intensität spezifischer Gefühle in bestimmten Körperregionen und darüber hinaus, dass diese Körperkarten in verschiedenen Kulturkreisen überraschend ähnlich sind.
Die physiologische Reaktion ist allerdings nach der Zwei-Faktoren-Theorie von der jeweiligen Situation und deren kognitiver Bewertung abhängig. Eine bestimmte Reaktion lässt sich nicht in jedem Fall einer Emotion zuordnen. Beispielsweise ist schnelles Herzklopfen beim Jogging eine Folge der Anstrengung, während bei Emotionen wie Wut und Angst schnelles Herzklopfen aus der jeweiligen Bewertung der Wahrnehmung resultiert. Die Intensität der Emotion steht allerdings in einer Interdependenz zur Stärke des physiologischen Reizes (z. B. körperliche Anstrengung verstärkt Wut; umgekehrt bereitet Wut auf körperliche Anstrengung vor).
Nach der appraisal theory von Richard Lazarus entsteht eine Emotion erst dann, wenn ein Umweltstimulus zunächst als relevant (positiv oder gefährlich) oder irrelevant eingestuft wird und daraufhin in einem zweiten Schritt die persönlichen Bewältigungsmöglichkeiten (siehe Coping) eingeschätzt werden. Dazu gehört auch die Frage, wer oder was den Stimulus ausgelöst hat. Diesen beiden Modellen zufolge entsteht die Emotion also erst durch eine kognitive Bewertung. Strittig ist jedoch, ob – wie Lazarus annimmt – eine Emotion auch ohne physiologische Reizung ausgelöst werden kann. Eine ausführliche Beschreibung dieses Modells erfolgt in dem Kapitel „Stressmodelle“.
Motivationale Komponente
Die motivationale Komponente folgt der Bewertung des Ereignisses und wird vom aktuellen physiologischen (bzw. emotionalen) Zustand moduliert. Die Motivation zu einer bestimmten Handlung einer Person orientiert sich an einem Ist-Soll-Vergleich sowie der Vorhersage der Auswirkung denkbarer Handlungen. Beispielsweise kann die Emotion Wut sowohl in der Motivation zu einer Angriffshandlung (z. B. bei einem vermeintlich unterlegenen Gegner), als auch in der Motivation zu einer Fluchthandlung (z. B. bei einem vermeintlich überlegenen Gegner) resultieren.
Eine Handlung kann der Absicht entstammen, das Erleben einer positiven Emotion (z. B. Freude, Liebe) zu erhalten oder gar zu vergrößern oder das Erleben einer negativen Emotion (z. B. Wut, Ekel, Trauer, Angst) zu dämpfen. Ein Motiv zu einer Handlung besteht nur dann, wenn das Subjekt sich von der Handlung eine Verbesserung seines zukünftigen (emotionalen) Zustands erwartet.
Expressive Komponente
Die expressive Komponente bezieht sich auf die Ausdrucksweise einer Emotion. Dies betrifft vor allem das nonverbale Verhalten, wie beispielsweise Mimik und Gestik. Seit den Forschungen von Paul Ekman ist bekannt geworden, dass sich elementare Emotionen wie Angst, Freude oder Trauer unabhängig von der jeweiligen Kultur zeigen. Diese Basisemotionen sind eng an gleichzeitig auftretende neuronale Prozesse gekoppelt. Fundamentale Emotionen weisen einen signifikanten Zusammenhang zum dazugehörigen Gesichtsausdruck auf. Zum Beispiel ist Wut stets mit einem Senken und Zusammenziehen der Augenbrauen, schlitzförmigen Augen und einem zusammengepressten Mund verbunden. Dieser mimische Ausdruck der Wut ist universal.
Zugleich kommt die Kulturvergleichende Sozialforschung zum Ergebnis einer fehlenden Deckung des Gefühls und der gezeigten Emotion. Die resultierende Unterscheidung betont die Innerlichkeit eines Gefühls gegenüber dem beobachtbaren Ausdruck von Emotionen, der von kulturellen Faktoren beeinflusst wird.
Einfluss von Emotionen
Aufmerksamkeit
Emotional relevante Inhalte lenken Aufmerksamkeit auf sich. Der Zusammenhang zwischen Aufmerksamkeit und Emotion wird in vielen Emotionstheorien genannt. So führte LeDoux auf, dass die Verarbeitung mancher Reize oft ohne bewusste Wahrnehmung abläuft. Besonders angsteinflößende Reize stehen in einem starken Zusammenhang mit der Aufmerksamkeit. So zeigt ein Experiment, dass ein ärgerliches Gesicht in einer Menge neutraler Gesichter leichter erkannt wird als ein fröhliches (face in the crowd effect).
Eine neuere Methode um den Zusammenhang zwischen Aufmerksamkeit und Emotionen zu ermitteln ist die Dotprobe-Aufgabe. Teilnehmern wird je ein neutrales Wort und ein emotional relevantes Wort auf einem Bildschirm gezeigt. Anschließend erscheint ein Punkt an einer der beiden Stellen, an denen zuvor ein Wort erschien, auf den sie reagieren sollen. Es stellte sich heraus, dass Teilnehmer schneller reagieren wenn der Punkt an der Stelle des emotional relevanten Wortes erscheint. Besonders ängstliche Personen lenken die Aufmerksamkeit verstärkt auf den emotional relevanten, oft negativ besetzten Reiz.
Gedächtnis
Ereignisse, die emotional relevant sind, prägen sich besonders tief in unser Gedächtnis. Erlebnisse aus der Kindheit, die mit starken Emotionen verbunden sind, bleiben also stärker im Gedächtnis als andere. Zwischen der Amygdala, die für emotionale Bewertung von Reizen verantwortlich ist und dem Hippocampus, der für unsere Erinnerungen verantwortlich ist, besteht enge Verbindung. Menschen mit Schädigungen an dem Hippocampus sind automatisch in ihrem Gefühls- und Sozialverhalten eingeschränkt (Urbach-Wiethe-Syndrom). Es ist allerdings ungeklärt, ob man sich eher an positive oder negative Ereignisse erinnert.
Erregung ist ein wichtiges Element der Gedächtnisleistung. Erregung geht mit Emotionen einher. Starke Erregung führt kurzzeitig zu einer Verschlechterung der Gedächtnisleistung, auf lange Zeit allerdings zu einer Verbesserung. Bei Verarbeitung starker emotionaler Erregung sind Hormone und Neurotransmitter wie Adrenalin von Bedeutung, die die Signalübertragung zwischen Nervenzellen beeinflussen.
Inhalte, die hinsichtlich ihrer Bedeutung mit der persönlichen, momentanen Emotion übereinstimmen, bleiben eher im Gedächtnis als neutrale Inhalte (Stimmungskongruenz). Ähnlich besagt das Konzept des zustandsabhängigen Lernens, dass man sich leichter an Inhalte erinnert, wenn sie in dem emotionalen Zustand abgerufen werden, der herrschte, als sie gelernt wurden. Diese beiden Phänomene lassen sich mit der Netzwerktheorie des Gedächtnisses erklären: Emotionen sind mit Gedächtnis- und Wissensinhalten als Knoten in einem Netzwerk verbunden. Wird eine Emotion aktiviert, werden automatisch auch die anderen Knoten aktiviert und der Zugang zu diesen Inhalten ist somit leichter.
Urteile und Entscheidungen
Emotionen beeinflussen die Beurteilung, ob etwas positiv oder negativ, nützlich oder bedrohlich ist. Beurteilungen fallen dabei positiver aus, wenn die Stimmung positiv ist. Befindet man sich in einer positiven Stimmung, werden positive Ereignisse für wahrscheinlicher gehalten. Aber nicht nur Beurteilungen über die Umwelt fallen positiver aus, sondern auch Beurteilungen, die die Person selbst betreffen. Gleichzeitig führt positive Stimmung oft zu risikoreichen Entscheidungen, da das Risiko eines negativen Ausgangs der Situation gerne unterschätzt wird.
Emotionen werden zudem oft als Informationen verstanden, da Emotionen häufig durch Bewertungen entstehen und obendrein Informationen über das Ergebnis dieser Bewertung geben. So führen Emotionen zu selektiven Zugriffen auf das Gedächtnis. Befindet man sich beispielsweise in einer negativen Stimmung, ist es auch sehr wahrscheinlich, dass negative Inhalte der eigenen Biographie präsenter sind als positive Inhalte. Urteile oder Bewertungen werden also dahingehend beeinflusst, dass Emotionen den bevorzugten Zugriff auf Informationen im Gedächtnis veranlassen. Solche Bewertungen können auf Fehlattributen basieren. Das heißt, Emotionen werden auf falsche Ursachen zurückgeführt bzw. auf Ursachen die nicht für die jeweilige Emotion maßgeblich sind. In Fällen, bei denen für Entscheidungen mehrere Informationen mit einbezogen sind, benötigen Versuchsteilnehmer, die positiv gestimmt sind, weniger Informationen um eine Entscheidung zu treffen. Außerdem fällt die Entscheidung schneller als bei neutral gestimmten Menschen.
Problemlösen
Ähnlich wie im Fall des Entscheidens benötigen positiv gestimmte Menschen weniger Informationen für das Lösen von Problemen und schlagen direktere Problemlösewege ein. Sie haben einen erweiterten Blickwinkel als negativ gestimmte Menschen und verfügen über mehr Kreativität. Positiv gestimmte Menschen betrachten eher das Globale, während negativ gestimmte Menschen den Blick auf das Detail lenken. Aber auch andersherum hat der Aufmerksamkeitsfokus Einfluss auf die Identifikation von Emotionen. Menschen, die auf das große Ganze achten, erkennen positive Gesichter in einer Menge von Gesichtern leichter, während Menschen mit dem Blick auf das Detail negative Gesichter leichter erkennen.
Gesundheit
Der Einfluss von Emotionen auf das Gehirn bringt zudem Auswirkungen auf das Immunsystem hervor. Eine Disziplin, die diese Wechselwirkung zwischen Geist und Körper erforscht, ist die Psychoneuroimmunologie. Negativ gestimmte Menschen sind anfälliger für Erkältungen, und Operationswunden bei negativ gestimmten Menschen heilen langsamer. Die psychologische Erklärung für diese Wirkung von negativen Emotionen auf das Immunsystem lautet, dass viel Energie benötigt wird, um Krankheiten abzuwehren und negative Emotionen zu Energiemangel und Erschöpfung führen. Somit sind negativ gestimmte Menschen anfälliger für Krankheiten. Studien belegen, dass negative Gefühle wie Wut oder Pessimismus auf Dauer das Risiko für Erkrankungen der Herzgefäße erhöhen. Diese Gefühle zu unterdrücken, steigert das Risiko allerdings noch mehr. Auch bei affektiven Störungen wie zum Beispiel Depressionen haben Emotionen einen großen Einfluss. Die Beeinträchtigung von Emotionen ist hier eine von vielen Ursachen der Störung. Zudem bestätigten Untersuchungen, dass die Gefahr, an einem Herzinfarkt zu sterben, bei depressiven Menschen mehr als doppelt so groß ist wie bei Menschen ohne Depressionen. Forscher vermuten, dass negative Gefühle zu einer anhaltenden Entzündung führen und daraus Krankheitsbilder wie Herzerkrankungen sowie Depressionen resultieren.
Anwendungen der Emotionsforschung
Emotion spielt in vielen angewandten Bereichen eine herausragende Rolle. Mit dem Begriff Emotionsregulation (oder Affektregulation) werden allgemein alle Prozesse bezeichnet, die der mentalen Verarbeitung emotionaler Zustände dienen (z. B. „Impulskontrolle“, „Desensibilisierung“). Bei psychischen Störungen sind emotionale oder affektive Symptome oft das zentrale Problem. In der Psychotherapie sind Emotionen wichtig für die längerfristige Veränderung von Erleben und Verhalten.
Die Werbepsychologie und Verkaufspsychologie versuchen, manipulativ vor allem positive Emotionen im Zusammenhang mit den angepriesenen Produkten zu erzeugen, um eine bessere Bewertung durch den Kunden zu erreichen. Allgemein ist das gezielte Hervorrufen von Emotionen ein Mittel, das Erleben und Verhalten von Menschen und Tieren zu verändern. Umgekehrt kann emotionale Manipulation durch intensives psychisches sowie physisches Training stark beeinflusst, ja sogar unterbunden werden.
Die „Rationalisierung“ der Emotionen
Seit der appraisal theory von Richard Lazarus befindet sich die Emotionsforschung auf dem Wege zu einer Rationalisierung der Emotionen. Während diese früher als gefährlich und irrational galten, werden sie heute als nützliche und verlässliche Wegweiser betrachtet, wie z. B. die verbreitete Verwendung des Terminus „Emotionale Intelligenz“ zeigt. Die Sozialhistorikerin Joanna Bourke wie der Philosoph Martin Hartmann warnen vor einer solchen „Überrationalisierung“ der Emotionen. Diese wurden durch den emotional turn, der gegen die Dominanz der Herrschaft der Rationalität angetreten war, rehabilitiert, jedoch durch eine paradoxe Wende, indem gerade die rationalen Elemente der Emotionen hervorgehoben wurden. Rüdiger Schnell argumentiert, dass die Tatsache, dass Emotionen von Kognitionen begleitet sind, mit der Annahme verwechselt wird, sie seien stets rational. „Rationale Emotionen“ seien aber die erwartbaren, verstehbaren Emotionen im Gegensatz zu irrationalen, nicht nachvollziehbaren Gefühlen.
Emotionsbewirtschaftung durch Medien und Politik
In der Politik und in den Medien geht es eher darum, negative Emotionen und Ängste zu vermeiden bzw. aufzugreifen und umzulenken oder aber positive Emotionen zu verstärken („Emotionsbewirtschaftung“). Der Begriff der Emotionsbewirtschaftung ist nicht – wie oft vermutet – eine Neuprägung des Jahres 2018 von Eva Glawischnig, sondern wurde bereits früher in Bezug auf die Medienwirtschaft, vor allem für die Strategien der Boulevardzeitungen zur Auflagensteigerung sowie für emotionsbasierte Strategien einer populistischen Politik gebraucht.
Eine noch gezieltere Emotionsbewirtschaftung wird im Zusammenhang mit dem Aufstieg der populistischen Parteien gefordert. So sieht der Schweizer Politik- und Medienwissenschaftler Lukas Goldner die Notwendigkeit einer stärkeren Emotionsbewirtschaftung der Diskussionen in den sozialen Medien durch die etablierte Presse, was das Vertrauen in die Zuverlässigkeit ihrer Informationspolitik stärken könne. Emotionen hätten zwar einen schlechten Ruf, und Wut sei tatsächlich die in den sozialen Medien am häufigsten geäußerte Emotion. Zwar sei die Diskussion in der Schweiz „von den normativen Forderungen von Jürgen Habermas und seinen Ansprüchen an Argumente und den Austausch von Argumenten geprägt. Mit der Vorstellung eines herrschaftsfreien Diskurses sperrte Habermas mit der Herrschaft auch gleich Emotionen aus.“ Durch Emotionsbewirtschaftung in den sozialen Medien, die die Menschen direkter und emotionaler ansprechen als die klassischen Medien, könne nun jedoch angesichts eines zunehmend emotionalisierten Publikums die Aufmerksamkeit gelenkt und zielgerichtet mobilisiert werden, etwa in Richtung von mehr Partizipation. Eine solche Medienpädagogik fördere aufgeklärte Entscheidungen: Die Emotionsbewirtschaftung auf Social Media diene „als Katalysator und fördert den Konsum etablierter Medienmarken zur vertieften Informationsbeschaffung“.
Seit etwa 2015 steht das Management von Ängsten im Mittelpunkt der Emotionsbewirtschaftung der Medien und der Politik. Das Schlagwort „Ängste der Menschen ernst nehmen“ ist mindestens seit der Nuklearkatastrophe von Fukushima und der Flüchtlingskrise in Europa ab 2015 in der politischen Semantik Deutschlands, aber auch in der Schweiz – dort etwa bezogen auf Ängste angesichts der Globalisierung oder den Bau von Minaretten – und Österreich – so mit Blick auf die Entleerung des ländlichen Raums – zum Standardtopos der Politik geworden.
Zwar wurden bereits früher politische Forderungen in Gefühlskategorien artikuliert wie in den Anti-Atom-, Nachrüstungs- und Ökologiedebatten der 1960er bis 1990er Jahre. Damals versuchte die Politik teils mit Erfolg, durch Strategien der „Normalisierung“ der Risiken (z. B. durch Vermeidung der Darstellung der Folgen höherer ionisierender Strahlendosen und Betonung der Zivilschutzanstrengungen) Ängste oder zumindest Panik zu vermeiden. Niklas Luhmann wies darauf hin, dass die Kommunikation von Ängsten („Angstkommunikation“) ansteckend wirkt, insofern sie nicht nur (individuell) Angst auslöst, sondern auch im Kommunikationssystem zu einer Systembildung führen kann, die nicht mehr unterdrückt werden kann und sich ausbreitet. Dementsprechend wurden die Risiken vieler Menschen von der Politik lange Zeit dethematisiert und ihre Ängste delegitimiert.
Während die Kritiker ihre Ängste als Realangst verteidigten, griff die Politik oft auf psychiatrische Kategorien zurück und sprach von der „Angstneurose“ der Kritiker, um die Kommunikation über die Risiken und Sachprobleme zu umgehen. Das machte z. B. Peter Hintze auf dem CDU-Parteitag 1993, während in der Rede von Dirk Fischer auf diesem Parteitag schon der Topos von den ernstzunehmenden Ängsten auftaucht – damals bezogen auf die steigende Angst der Rentner vor Wohnungseinbrüchen.
Heute haben sich die Normalisierungsstrategien von Risiken und damit verbundene Delegitimierungsstrategien von Emotionen als weitgehend wirkungslos herausgestellt. Die Politik könne beispielsweise die „lästigen Fragen nach den Kosten der Atommüll-Endlagerung, nach der Pfuscherei der Betreiberfirmen, nach den unter den Teppich gekehrten Störfällen“ nicht wirklich beantworten; sie wolle „nicht darüber reden, wie die Risikokosten verstaatlicht und die Gewinne privatisiert werden. Angesichts der Ausmaße der japanischen Katastrophe von Fukushima sind auch «kalte» Fragen zur Verfilzung von Atomindustrie und Politik in Japan völlig geschmacklos“. Stattdessen rede die Politik über „Ängste, was einfühlsam klingt“, aber eine „paternalistische Emotionsbewirtschaftung“ darstelle. Damit die Strategie wirke, brauche es „Bürger, die sich daran gewöhnt haben, ihre politischen Forderungen in Gefühlskategorien zu artikulieren“ wie etwa die Schweizer „Minarettphobiker“. Gerade die Linke sei allerdings mit dem Schüren von Emotionen in eine Falle getappt, „an der sie selbst mitgebastelt hatte: die Verwandlung von Politik in Sozialarbeit und von Bürgern in Klienten, die man «dort abholen muss, wo sie stehen». Gefühlsmässig.“
Die Formen der Emotionsbewirtschaftung durch Presse und Politik folgten selbst der Logik des Populismus, was die frühere Bundesobfrau der österreichischen Grünen Eva Glawischnig im Hinblick auf deren Politik selbstkritisch einräumt.
Tom Strohschneider weist darauf hin, dass auch das frühzeitige Reden über eine kommende Krise (wie etwa seit Herbst 2018) eine Form der Emotionsbewirtschaftung darstellt, auf der „jeder seine Suppe darauf kochen“ kann: von Anlageberatern über die Forderung der Wirtschaft nach Steuersenkungen bis hin zu „Verteilungs-Bremsern“ und der Linken, die die Verelendung kommen sieht. Der Überschuss an Vorwarnung „könnte einen Herdentrieb des Pessimismus in Gang setzen, der dann erst recht die Krise beschleunigt“, wobei die Linke davon in keiner Weise profitieren dürfte.
Ein Beispiel für das Anknüpfen der Politik an diffus-positive Emotionen ist die Wiederentdeckung des Begriffs der „Heimat“, der in die Namen von deutschen Bundes- und Landesministerien und als politisches Schlagwort in die Diskussion Einzug gehalten hat. Hier werde der Romantik-Spezialistin Susanne Scharnowski zufolge ein eigentlich positiv besetzter Begriff „als neoidealistische Gefühlsblase bewirtschaftet“, wobei unklar bleibt, welche Probleme mit der Umbenennung des Ministeriums wirklich angepackt werden sollen. Zu dieser Variante von Emotionsbewirtschaftung ist auch die zunehmend mit Wohlfühladjektiven gespickte politische Semantik zu rechnen, wie sie beim „Gute-KiTa-Gesetz“ (offiziell: „Gesetz zur Weiterentwicklung der Qualität und zur Teilhabe in der Kindertagesbetreuung“), „Starke-Familien-Gesetz“ (offiziell: „Gesetz zur zielgenauen Stärkung von Familien und ihren Kindern durch die Neugestaltung des Kinderzuschlags und die Verbesserung der Leistungen für Bildung und Teilhabe (Starke-Familien-Gesetz – StaFamG)“) oder „Patientendaten-Schutz-Gesetz“ zur Anwendung gelangt, siehe auch Neusprech.
Siehe auch
Emotionale Intelligenz
Emotionen in der Ökonomik
Emotionsarbeit
Emotionserkennung
Emotionsregulation
Evolutionäre Emotionsforschung
Gefühl-als-Information-Theorie
Laune
Triebtheorie
Überzeugung
Literatur
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Richard Wollheim. Emotionen. Eine Philosophie der Gefühle. Übersetzt von Dietmar Zimmer. Beck, München 2001.
Weblinks
Emotionspsychologie (ZPID)
Fachgebärdenlexikon Psychologie: Emotion und Gebärde.
Marietta Meier, Daniela Saxer: Die Pragmatik der Emotionen im 19. und 20. Jahrhundert. In: Traverse 14/2 (2007).
Nina Verheyen: Geschichte der Gefühle, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 18. Juni 2010
Einzelnachweise
Philosophie des Geistes
Neurophysiologie
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Q9415
| 362.21652 |
13371
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https://de.wikipedia.org/wiki/Korruption
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Korruption
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Korruption (von corruptio: ‚Verderbnis, Verdorbenheit, Bestechlichkeit‘) ist der Missbrauch einer Vertrauensstellung. Der Missbrauch beginnt, wenn im Rahmen einer öffentlichen, privaten, wirtschaftlichen oder politischen Verantwortung Vorteile erlangt werden oder erlangt werden sollen. Auftreten kann sie z. B. bei Genehmigungen, Posten- oder Auftragsvergaben, Verträgen oder gesellschaftspolitischen Handlungen. Der Missbrauch besteht darin, Vorteile zu erlangen oder zu gewähren, auf die keine Ansprüche bestehen.
Korruption hat vielfache negative Auswirkungen, sowohl finanzielle als auch immaterielle, etwa einen Machtverlust der allgemeinen Bevölkerung gegenüber wenigen mächtigen oder reichen Akteuren und damit einen Mangel an Fairness, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit.
Etymologie
Im Deutschen erscheint im 15. Jahrhundert zunächst die Form korrupt als Lehnform des latein. Adjektivs corruptus, wobei hier zunächst nicht die Bedeutung „bestechlich“, sondern vielmehr die allgemeinere Bedeutung „verderbt“ gemeint ist. Das Wort korrumpiert wird teilweise auch heute noch in diesem Sinne verwendet. Das Substantiv Korruption, von latein. corruptio, folgt erst im 17. Jahrhundert.
Geschichte
In den feudalen europäischen Flächenstaaten des 18. Jahrhunderts wurde Korruption systematisch praktiziert. Friedrich II. bestach Minister am Hof von Kaiserin Maria Theresia und ging davon aus, dass diese ihrerseits seine Minister bestach. Diplomaten hatten gewissermaßen ein Anrecht darauf, bestochen zu werden. Beamte des preußischen Hofes waren Diener des Königs, die sich von sogenannten Sporteln zu ernähren hatten, Vergütungen in Geld oder Naturalien, die der Empfänger der Dienstleistung zu entrichten hatte. Bis zum Ende des Kaiserreiches erhielten preußische Beamte nur etwa zwei Drittel des Gehaltes, das sie zur Finanzierung desjenigen Lebensstils benötigten, der von ihnen aufgrund des Dienstranges erwartet wurde. Zum Ausgleich gab es Beihilfen, eine Einrichtung, die sich noch heute im Besoldungswesen findet, und zusätzlich Erlaubnis zum Nebenerwerb, die allerdings auch eingeschränkt war. Ein Erlass des preußischen Königs verbot seinen Beamten das Fiedeln in Kaschemmen. Die Vollbesoldung von Beamten ist in der jüngeren europäischen Vergangenheit eine fortschrittliche französische Erfindung.
Definitionen
Im ökonomischen Sinne
Man kann Korruption von anderen Austauschbeziehungen (z. B. auf einem Markt) unterscheiden, wenn man sie als ein Phänomen mit drei beteiligten Akteuren betrachtet:
dem Bestechenden,
dem Bestochenen
und dem Auftraggeber des Bestochenen.
In der ökonomischen Literatur werden diese als Klient, Agent und Prinzipal bezeichnet (siehe Prinzipal-Agent-Theorie). Prinzipal und Agent haben eine vertragliche Beziehung, in der der Prinzipal den Agenten mit einer Aufgabe betraut und ihm zur Erfüllung dieser Aufgabe ein Mittel überlässt und einen Spielraum gibt, innerhalb dessen er agieren kann. Dies ist die erwähnte Machtposition. Diese nutzt der Agent aus (oft gegen die Interessen des Prinzipals), um dem Klienten etwas im Tausch anbieten zu können.
Korruption bezeichnet sowohl die Aktivität des „Gebenden“, als auch die des „Empfängers“ (vgl. die Definition von Myrdal 1989: 405). Viele Gesetzbücher nennen dies „aktive Bestechung“ und „passive Bestechung“ (Bestechlichkeit). Mindestens einer der Kooperationspartner missbraucht eine Macht- bzw. Vertrauensposition und gerät deshalb in einen Normkonflikt zwischen partikularistischen Normen und universalistischen Normen. Die Beteiligten müssen abwägen, ob sie den erzielbaren Vorteil durch Korruption höher gewichten als die Risiken (die erwartbaren negativen Sanktionen) bei einer möglichen Aufdeckung.
Der US-amerikanische Politikwissenschaftler Harold Dwight Lasswell definierte Korruption als einen speziellen Vorteil, für den ein allgemeines Interesse verletzt wird.
Relativ allein stehen die Wirtschaftswissenschaftler Boycko, Shleifer und Vishny mit ihrer Position, dass Korruption ein wirksames Gegenmittel privater Investoren bei Staatsversagen und ineffizienter Ressourcenallokation sein kann.
Nach deutschem Recht
Das Strafrecht kennt keine übergreifende Korruptionsstrafvorschrift, sondern sanktioniert das mit Korruption verbundene Unrecht in verschiedenen Straftatbeständen. Der deutsche Gesetzgeber hat den Begriff Korruption weder definiert noch im Strafrecht benutzt.
Strafrechtliche Korruptionsdelikte:
StGB Vorteilsannahme
StGB Bestechlichkeit
StGB Vorteilsgewährung
StGB Bestechung
StGB Besonders schwere Fälle der Bestechlichkeit und Bestechung
StGB Ausländische und internationale Bedienstete
StGB Unterlassen einer Diensthandlung (i. S. v. §§ 331 bis 335a StGB)
StGB Schiedsrichtervergütung (i. S. v. §§ 331 bis 335 StGB)
StGB Abgeordnetenbestechung
StGB Wählerbestechung
StGB Bestechlichkeit und Bestechung im geschäftlichen Verkehr (Angestelltenbestechung)
StGB Bestechlichkeit im Gesundheitswesen
StGB Bestechung im Gesundheitswesen
StGB Besonders schwere Fälle der Bestechlichkeit und Bestechung im Gesundheitswesen
Damit werden in der Regel weitere Straftatbestände, sogenannte Begleitdelikte, verwirklicht. Die Begleitdelikte werden oftmals durch die Korruptionsdelikte ermöglicht.
Strafrechtliche Begleitdelikte:
§ 258a StGB Strafvereitelung im Amt
StGB Geldwäsche, Verschleierung illegalen Vermögens
StGB Betrug
StGB Subventionsbetrug
StGB Kreditbetrug
StGB Untreue
StGB Wettbewerbsbeschränkende Absprachen bei Ausschreibungen
StGB Unterlassen einer Diensthandlung
StGB Rechtsbeugung
StGB Verfolgung Unschuldiger
StGB Vollstreckung gegen Unschuldige
StGB Falschbeurkundung im Amt
StGB Verletzung von Dienstgeheimnissen und einer besonderen Geheimhaltungspflicht
StGB Verbotene Mitteilungen über Gerichtsverhandlungen
StGB Verletzung des Steuergeheimnisses
StGB Parteiverrat
StGB Verleitung eines Untergebenen zu einer Straftat
AO Steuerhinterziehung
§ 23 GeschGehG Verletzung von Geschäftsgeheimnissen
Des Weiteren sind auch für Deutschland die Strafnormen des Gesetzes zur Bekämpfung internationaler Bestechung (IntBestG) und des EU-Bestechungsgesetzes (EUBestG), aber auch das Gesetz zur Bekämpfung von Korruption im Gesundheitswesen und das Gesetz zur Bekämpfung der Korruption relevant. Die Korruptionsdelikte nach § 299 StGB Bestechung und Bestechlichkeit im geschäftlichen Verkehr werden nach nur auf Strafantrag verfolgt, es sei denn, dass die Strafverfolgungsbehörde bei Vorliegen des besonderen öffentlichen Interesses an der Strafverfolgung ein Einschreiten von Amts wegen für geboten hält.
Deutsches Bundeskriminalamt
Das deutsche BKA verweist bei der Definition auf die kriminologische Forschung. Demnach ist Korruption der „Missbrauch eines öffentlichen Amtes, einer Funktion in der Wirtschaft oder eines politischen Mandats zugunsten eines Anderen, auf dessen Veranlassung oder in Eigeninitiative, zur Erlangung eines Vorteils für sich oder einen Dritten, mit Eintritt oder in Erwartung des Eintritts eines Schadens oder Nachteils für die Allgemeinheit (Täter in amtlicher oder politischer Funktion) oder für ein Unternehmen (betreffend Täter als Funktionsträger in der Wirtschaft).“
Situative Korruption erfolgt mit spontanem Willensentschluss. Demgegenüber beruht strukturelle Korruption auf längerfristig angelegten, korruptiven Beziehungen, und wurde bereits im Vorfeld bewusst geplant.
Transparency International
Transparency International definiert Korruption als Missbrauch von anvertrauter Macht zum privaten Vorteil. (Corruption is operationally defined as the misuse of entrusted power for private gain.)
Diese Definition steht im Gegensatz zu der oben zitierten alten amerikanischen Definition von Harold Dwight Lasswell: „…violations of the common interest for special advantage are corrupt“ (dt. etwa „das Verletzen allgemeiner Interessen zum Vorteil im Besonderen ist korrupt“). Sie wurde seinerzeit als Richtlinie für den Entwurf des amerikanischen Anti-Korruptionsgesetzes „Foreign Corrupt Practices Act“ von 1977 und (erst) zwanzig Jahre später der OECD – angewendet. In beiden wird die Verantwortung für die Straftat (Korruption) auch und insbesondere bei den Initiatoren im eigenen Land gesehen.
Indem Lasswell lediglich den bewusst herbeigeführten Schaden an einer öffentlichen oder privatrechtlichen Gemeinschaft zur Selbstbereicherung als Korruptions-Kriterium identifiziert, bezieht er den aktiven und den passiven Partner gleichermaßen mit ein – vor dem Hintergrund, dass fast in allen Fällen der „Aktive“ Hauptnutznießer und Initiator von Korruption ist.
Nach der Definition von TI jedoch, wird der Missbrauch der eigenen Position als einziges Kriterium herausgestellt. Die Philosophie dahinter ist, dass nur derjenige, der die Korruption ermöglicht (annimmt), im juristischen Fokus stehen müsste. Letztendlich impliziert TI, dass, weil von der „aktiven“ Privatindustrie keine Moral zu erwarten ist (vgl. Wilhelm Busch), deshalb der „passive“ Amtsträger die volle Verantwortung zu tragen habe.
Diese „moderne“ Sichtweise hatte in den 1990er Jahren „Kritik an Transparency International“ ausgelöst. Insbesondere auch, weil TI just in derselben Legislaturperiode (1991–1994) ins Leben gerufen wurde, als im Bonner Parlament die Korruption gegen Amtsträger der Europäischen Süderweiterung explizit legitimiert und gegen die Empfehlungen der UN und der OECD entsprechende Schmiergelder ins Ausland nunmehr als steuerabzugsfähig zugelassen wurden.
Im TI Jahresbericht für 2015 gibt es dem Korruptionswahrnehmungsindex CPI zufolge mehr Länder, in denen im Vergleich zum Jahr 2014 weniger Korruption wahrgenommen/empfunden () wurde, als solche, bei denen die Korruption im Vergleich zum Vorjahr zugenommen hatte. Die Dänen nehmen sich dem Index zufolge als Spitzenreiter unter den korruptionsärmsten Ländern der Welt wahr. Deutschland befindet sich auf Platz 10 und hat sich nach eigenem Empfinden somit verbessert: Im Jahr 2014 belegte Deutschland noch Platz 12 in der Selbstwahrnehmung der Geschäftswelt. Insgesamt empfindet sich die weltweite Geschäftswelt als weniger korrupt im Vergleich zu Beginn der Finanzkrise.
Über das tatsächliche Ausmaß der Korruption, allerdings, sagt der CPI nichts aus. Er gibt aber Geschäftsleuten durchaus einen Eindruck für die Sensibilität, wie schädlich Korruption auf dem nationalen Markt empfunden wird und ob deshalb der politische Wille vorherrsche, evtl. dagegen vorzugehen. Als Beispiel sei die jahrzehntelang gängige Schmiergeld-Praxis in der Bundesrepublik Deutschland genannt, wobei Parlamentarier von der Strafverfolgung ausgeschlossen waren, wenn sie für spezifische politische Entscheidungen nachträglich entlohnt wurden. Nur wenn die Entlohnung vorher entrichtet wurde, war sie juristisch als Korruption verfolgbar. Mit dieser ungewöhnlich „liberalen“ Regelung hatte die deutsche Geschäftswelt jahrelang die OECD-Konvention gegen die Korrumpierung von ausländischen Amtsträgern (1997) unterlaufen und sich selbst trotzdem einen extrem hohen CPI (Platz 10–20) vergeben. Kurioserweise selbst zu jener Zeit, als Schmiergelder legal von der Steuer absetzbar waren (§ 4 Abs. 5 Nr. 10 EStG, gültig bis 19. März 1999). Erst 2014 wurde die „legale Korruption“ auf Druck der UN abgeschafft, sodass Deutschland als letzter Staat auch die UNCAC erfüllte. 2015 fühlten sich deutsche Geschäftsleute noch „korruptionsärmer“.
Situation in der EU
In der EU werden immer wieder Fälle von Korruption aufgedeckt. Sowohl das Europäische Parlament, also die Vertretung aller EU-Bürger, als auch beispielsweise Transparency International fordern deshalb die Einrichtung einer unabhängigen Ethikkommission. Der Europäische Rat, also die Regierungen der einzelnen Mitgliedsstaaten, lehnt diese aber ab.
Gemäß Daten der Europäischen Kommission aus dem Jahr 2014 schädigt Korruption die Wirtschaft in der Europäischen Union pro Jahr um 120 Milliarden Euro. Die Lage ist jedoch in den einzelnen Mitgliedsstaaten sehr unterschiedlich. Als Spitzenreiter unter den durch Korruption Geschädigten erweisen sich Griechenland, Italien, Kroatien, Zypern, Spanien und Bulgarien. In Österreich fügte im Jahr 2014 Korruption der Wirtschaft einen Schaden von 27 Milliarden Euro zu und hemmte das Wirtschaftswachstum erheblich. Gleichzeitig rutschte die Republik Österreich auf den 16. Platz des Korruptionsindexes von Transparency International ab und wird dem Land bei der Korruptionsbekämpfung gehöriger Aufholbedarf bescheinigt.
Situation in Deutschland
Fallzahlen und Schäden
Das vom Bundeskriminalamt (BKA) veröffentlichte Bundeslagebild Korruption enthält im Allgemeinen in gestraffter Form die aktuellen Erkenntnisse zur Lage und Entwicklungen im Bereich der Korruption. Die Datenbasis bilden nur alle diejenigen Verfahren, die unter Einbindung der Polizei stattgefunden haben.
Das Bundeslagebild 2019 Korruption berichtet von 5428 polizeilich gemeldeten Straftaten und somit einem Anstieg von 42,7 % im Vergleich zum Vorjahr. Betrachtet man den Fünf-Jahre-Trend, so ist die Anzahl der registrierten Delikte erstmals seit 2015 wieder angestiegen. Als Grund für den Anstieg können mehrere umfangreiche Ermittlungsverfahren der Länder, u. a. Bestechung (§ 334 StGB), besonders schwere Fälle von Bestechlichkeit und Bestechung (§ 335 StGB) sowie Bestechung und Bestechlichkeit im Gesundheitswesen genannt werden. Das durchschnittliche Fallaufkommen der letzten fünf Jahre (5854 Fälle) wurde trotzdem nicht überschritten.
Es gab im Jahr 2019 insgesamt 2539 Tatverdächtige, 3,3 % mehr als 2018. Hiervon sind 1423 Geber (Vorteilsgewährender/Bestechender) und 1116 Nehmer (Vorteilsgewährender/Bestochener). Während bei den Nehmern im Vergleich zu 2018 ein Rückgang um 27,2 % auf 1116 (2018: 1534) festzustellen ist, ist die Anzahl der Geber um 54 % auf 1423 (2018: 924) gestiegen. Der Anteil der Amtsträger bei den Nehmern entspricht hier 67 %.
Die öffentliche Verwaltung ist das bevorzugte Ziel von Korruption mit 49,9 % gefolgt von der Wirtschaft mit 39,3 % und der Strafverfolgung mit 9 %. Die von Korruption am meisten betroffene Branche ist das Dienstleistungsgewerbe.
Im Jahr 2019 waren rund 32,1 % der Geber in einer leitenden Rolle bzw. in einer Führungsfunktion, lediglich 4,9 % waren Sachbearbeiter oder Mitarbeiter (im Jahr 2018 noch 20,9 %), 25,6 % waren Privatpersonen und von 37,4 % ist die Funktion nicht bekannt.
Die Veranstaltungsteilnahme war im Jahr 2019 der mit 75 % der am häufigsten erlangte Vorteil für die Nehmerseite. Beispielsweise sollen in mehreren Fällen Angestellte der öffentlichen Verwaltung Freikarten für Veranstaltungen bzw. Zugriff auf nicht frei zugängliche Kaufkontingente erhalten haben. Im Gegenzug wurden der Geberseite Veranstaltungen genehmigt und Flächen/Räumlichkeiten für Veranstaltungen vermietet. In mindestens einem Fall wurden günstigere Konditionen gewährt als durch die Gebührenordnung vorgeschrieben. Diese über Jahre etablierte Bestechlichkeit und Vorteilsnahme in der Kommunalverwaltung führte zu nicht unerheblichen finanziellen Verlusten.
Die Entgegennahme von Bargeld war im Jahr 2018 mit 62,9 % noch die größte Art von Vorteil für die Nehmerseite. Im Jahr 2019 lag der prozentuale Anteil nur noch bei 11,6 %. Der Anteil der Teilnahme an Veranstaltungen lag im Jahr 2018 noch bei lediglich 4,5 %. Weitere nennenswerte Vorteile im Jahr 2019 waren sonstige monetäre Vorteile mit 5,6 %, Sachzuwendungen mit 5,5 %. Die Geberseite profitierte im Jahr 2019 mit 42,1 % vor allem von der Erlangung behördlicher Genehmigungen. Dieser Vorteil lag im Jahr 2019 noch bei nur 18,5 %. Die zweithöchste Art von Vorteil war im Jahr 2019 die Erlangung von Aufträgen mit 25,5 %. Dieser Vorteil war im Jahr 2018 noch der häufigste mit 48,8 %. Weitere nennenswerte Vorteile für die „Geber“ waren im Jahr 2019 die Beeinflussung der Strafverfolgung mit 8,6 %, sonstige Wettbewerbsvorteile mit 6,0 %, die Erlangung interner Informationen mit 3,8 % sowie Aufenthalts- und Arbeitserlaubnisse mit 2,9 %.
Gemäß BKA wurde für das Jahr 2019 ein monetärer Gesamtschaden von rund 47 Millionen Euro ermittelt. Die entspricht einem Rückgang von 61,2 % im Vergleich zu 2018 (121 Millionen Euro) und 83,3 % im Vergleich zu 2017 (291 Millionen Euro). Das BKA weist allerdings darauf hin, dass die erfassten Summen das tatsächliche Ausmaß nur bedingt wiedergeben, da sich beispielsweise die Schäden durch die Erlangung von Genehmigungen nur schwer messen lassen.
Arten
Das Bundeskriminalamt (BKA) unterscheidet zwischen situativer und struktureller Korruption. Die Gießener Kriminologin Britta Bannenberg hat aufgrund ihrer Aktenauswertung von Korruptionsfällen drei Strukturen ermittelt: Bagatell- oder Gelegenheitskorruption, Struktur der gewachsenen Beziehungen und Netzwerk-Korruption.
Situative Korruption
Situative Korruption sind Korruptionshandlungen, die spontan aus einer Situation begangen werden (daher auch Spontankorruption genannt); sie sind also nicht geplant oder vorbereitet. Ausschlaggebend ist die günstige Gelegenheit (daher Bannenberg: Gelegenheitskorruption). Gemäß den Untersuchungen von Bannenberg ist das Geschehen auf zwei oder wenige Personen beschränkt und nicht auf Wiederholung angelegt.
Beispiele: Ein alkoholisierter Autofahrer bietet dem ihn kontrollierenden Polizisten 100 Euro an. Der Autofahrer hofft auf eine erfolgreiche Bestechung, um ohne Punkte und Führerscheinentzug davon zukommen. Ein für Anmeldungen zu weiterbildenden Lehrgängen/Tagungen zuständiger Kollege sagt die Einplanung zu – und erwartet dafür eine Gegenleistung.
Strukturelle Korruption
Bei der strukturellen Korruption liegen der korruptiven Handlung langfristig angelegte („gewachsene“) Beziehungen zugrunde; sie wird bereits vor der Tatbegehung geplant und vorbereitet. Häufig wird sie durch „Anfüttern“ eingeleitet, d. h. durch kleinere Geldgeschenke oder andere geringe Vorteile wird getestet, wie weit der Vorteilsnehmer anfällig und bereit ist, auch zukünftig korrupt zu handeln. Höhe und Häufigkeit der Zuwendungen werden im Laufe der Zeit gesteigert. Laut Bannenberg ist ein derartiges Vorgehen räumlich und personell beschränkt; es spielt sich regional im Wirtschaftsbereich des Vorteilsgebers ab.
Beispiel: Es werden vierteljährlich „wissenschaftliche Veranstaltungen“ organisiert, bei denen Professoren, die z. B. Gutachten für die Zigaretten-Industrie erstellen, für Reden bzw. Vorträge, deren Inhalte seit Jahren bekannt sind, enorme Honorare gezahlt werden.
Netzwerk-Korruption
Netzwerk-Korruption sind nach Bannenberg „umfangreiche Straftaten, die in vielen Fällen der organisierten Kriminalität zugeordnet werden können.“ Geber sind viele Personen, Nehmer nur wenige. Die Delikthandlungen werden häufig über mehrere Jahre, teilweise jahrzehntelang regional, überregional oder international, begangen.
Diese Art der Korruption gehört zur Strategie, die von manchen Mitarbeitern von Unternehmen oder Körperschaften eingesetzt wird; sie ist (meistens) mit weitergehenden Straftaten wie zum Beispiel Betrug, Untreue, Erpressung oder Steuerhinterziehung verbunden. Das BKA nennt – unabhängig von der Korruptionsart – weitere mit Korruption zusammenhängende Tatbestände, insbesondere Urkundenfälschung, wettbewerbsbeschränkende Absprachen bei Ausschreibungen, Strafvereitelung und Falschbeurkundung im Amt, Verletzung des Dienstgeheimnisses und Verstöße gegen strafrechtliche Nebengesetze.
Beispiel (überregional): Der Leiter einer Baubehörde trifft sich mit Geschäftsführern bestimmter Bauunternehmen mal zu Arbeitsessen in Edelrestaurants, mal zu Segeltouren, zu privaten Golfturnieren o. Ä., um – wie nach außen deklariert – sich über die wirtschaftliche Lage allgemein und die Auftragslage speziell auszutauschen, tatsächlich aber über demnächst anstehende Aufträge und mögliche Angebote zu sprechen und Konditionen und Preise abzusprechen.
Die Rechtswissenschaftlerin Britta Bannenberg hat bei der Auswertung von Strafakten Korruption bei folgenden Situationen festgestellt: bei der Vergabe von Großaufträgen an monopolartige Auftragnehmer oder Kartelle, die zum Beispiel den Bau von Flughäfen, Klärwerken in Großstädten, Autobahnen, Kasernen, Wohn- und Gewerbegebieten mit Deponien und Lärmschutzwällen, die Ausrüstung von Polizei und Bundeswehr und Fallkomplexe im Zusammenhang mit Werften betreffen; * bei Treuhand- und Führerscheinverfahren; im Zusammenhang mit Ausländerbehörden und Schleuseraktivitäten der organisierten Kriminalität und in zahlreichen Verfahren im Medizinbereich (Herzklappenverfahren, Medizinprodukte).
Formen der Korruption
Im Sinne der StGB erfolgt Korruption
in aktiver Form (Fordern, Anbieten und Versprechen eines Vorteils, Vorteilsgewährung, Bestechung, Schmiergeldzahlung),
in passiver Form (Vorteilsannahme, Bestechlichkeit).
Das Annehmen von Vorteilen und das sich als bestechlich „Bereitzeigen“ ist im Grunde immer auch eine aktive Handlung.
Der „Vorteilsnehmer“ fordert oft aktiv einen Vorteil ein – dies kann bis zu einer Erpressung gehen. Potenzielle Auftragnehmer werden dann vor die Alternative gestellt: Ohne Schmiergeld kein Auftrag oder keine Amtshandlung, z. B. keine Baugenehmigung. Geforderte Vorteile sind im Sinne des Abs. 3 StGB immer strafbar. Eine Genehmigung führt nicht zur Straffreiheit.
Im Falle der Vorteilsannahme gemäß StGB nimmt der Amtsträger den Vorteil an, auf den er keinen Rechtsanspruch hat – quasi als ein Äquivalent für seine Dienstausübung. Es muss keine rechtswidrige Diensthandlung vorliegen.
Bestechlichkeit und Bestechung im Sinne der und StGB gehen immer mit einer Dienstpflichtverletzung des „Nehmers“ einher, also einer rechtswidrigen Diensthandlung. Die Diensthandlung kann auch in einem Unterlassen bestehen.
Da die §§ 331 ff. StGB auch Vorteile umfassen, die Dritten gewährt werden, können auch das Sponsoring oder die Spendengewährung (siehe auch Parteispende) an öffentliche Körperschaften oder Parteien ein Einfallstor für Korruption sein. Sponsoring und Spenden erfüllen grundsätzlich den objektiven Tatbestand einer Vorteilsgewährung im Sinne der §§ 331 ff. StGB.
Wer Amtsträger ist, bestimmt sich nach Abs. 1 Nr. 2 StGB. Keine Amtsträger sind die Mitglieder kommunaler Vertretungskörperschaften (Stadtrat, Gemeinderat), es sei denn, sie werden mit konkreten Verwaltungsaufgaben betraut, die über ihre Mandatstätigkeit in der kommunalen Volksvertretung und den zugehörigen Ausschüssen hinausgehen. Der BGH sieht hier allerdings gesetzgeberischen Handlungsbedarf. In allen anderen Bereichen des öffentlichen und privaten Lebens hat das gewandelte öffentliche Verständnis einer besonderen Sozialschädlichkeit von Korruption zu einer erheblichen Ausweitung der Strafbarkeit von korruptem Verhalten geführt. Diese Entwicklung ist bislang an dem Tatbestand der Abgeordnetenbestechung vorbeigegangen.
Der Straftatbestand des StGB wird deshalb vielfach als praktisch bedeutungslose „symbolische Gesetzgebung“ angesehen, die mit der Überschrift nur auf den ersten Blick – und namentlich der Öffentlichkeit – vortäuscht, dass Abgeordnete unter dem Gesichtspunkt der Bestechungsdelikte den Amtsträgern wenigstens annähernd gleichgestellt wären. Bisher ist erst einmal ein Abgeordneter nach dieser Norm verurteilt worden.
Dritter im Sinne der StGB kann auch die eigene Anstellungskörperschaft des Amtsträgers sein. Ein Straftatbestand ergibt sich etwa dann, wenn Sponsoring/Spenden gekoppelt werden mit Auftragserteilungen/Vertragsabschlüssen der empfangenden Verwaltungseinheit (Unrechtsvereinbarung).
Zu korrupten Handlungen gehören auch – allerdings nicht in strafrechtlicher Hinsicht – jene Stellenbesetzungen in Verwaltungen und öffentlichen Unternehmen, die unter parteipolitischen Gesichtspunkten erfolgen: Ämterpatronage, Nepotismus (Vetternwirtschaft), Klientelismus.
Vorteile der Nehmer
Mit einem Anteil von 41,1 % war Bargeld 2011 auf der Nehmerseite der häufigste Vorteil, gleich gefolgt von Sachzuwendungen mit 34 Prozent (2010 zusammen 97 %).
Beispiele: Geld (sogenanntes „Schmiergeld“) : Übergabe von Bargeld oder Überweisungen auf ein Tarnkonto oder Bezahlung für Scheingeschäfte: Scheinlieferung, -gutachten oder –beratung bzw. wertvolle Sachgeschenke wie Eintrittskarten zu bedeutenden Kultur- oder Sportereignissen oder Überlassen von Kfz, Jacht, Ferienwohnung und kostenlose oder kostengünstigere Leistungen, z. B. in einer Werkstatt, Hausbau, Gartenpflege u. Ä.
Weitere Vorteile bezogen sich auf Bewirtung/Feiern (8,5 %), Reisen und Urlaub (4,3 %) und Teilnahme an Veranstaltungen (3 %).
Beispiele: Finanzierung von Jubiläen und Geburtstagen, Karibik-Kreuzfahrt, Südseeurlaub, Ermöglichen des Zutritts zu exklusiven Events. Zu den sonstigen Vorteilen gehören Rabatte, Nebentätigkeiten, außerordentlich hoher Rabatt beim Autokauf, Verschaffung einer lukrativen Nebentätigkeit, Bordellbesuch, spätere Karriere bzw. gutbezahlter Job für den Bestochenen oder für einen seiner Angehörigen.
Die monetären Vorteile der Nehmer 2011 beziffert das BKA mit 120 Millionen Euro.
Vorteile der Geber
Auf der Geberseite bildete auch 2011 die Erlangung von Aufträgen mit einem Anteil von 46,3 % das häufigste Ziel des korruptiven Handelns. Mit weitem Abstand folgen: die Erlangung sonstiger Wettbewerbsvorteile (19 %), behördlicher Genehmigungen (8,5 %) oder interner Informationen (7,5 %).
Beispiele: (hauptsächlich) Bauaufträge, Manipulation bei offenen Ausschreibungen, Bevorzugung sogenannter „Hoflieferanten“ (bei beschränkten Ausschreibungen), Genehmigung von Subventionen, Neu-, An- und Ausbauten, Gastwirtkonzessionen, Verrat von Razzien u. Ä.
Das BKA nennt Anteile von weiteren Vorteilen: Absatz von Medikamenten (5,3 %), Beeinflussung von Strafverfolgungsbehörden (3,9 %) und von Vorteilen unter 3,5 %: Bezahlung fingierter und gefälschter Rechnungen, Erlangung von Aufenthalts- und Arbeitserlaubnissen, Gebührenersparnis, u. a.
Für 2011 hat das BKA die monetären Vorteile der Geber mit 195 Millionen Euro ausgewiesen.
Kritik an den Maßnahmen
2014 wurden die Maßnahmen Deutschlands gegen die Korruption im Bundestag von Fachleuten des Europarats kritisiert. Im Land würden klare Regeln für die Interaktion der Abgeordneten mit Lobbyisten fehlen und es gebe zu wenig Transparenz in diversen Bereichen. Die Umsetzung der empfohlenen Maßnahmen wurde in mehreren Zwischenberichten der Delegation als „insgesamt unbefriedigend“ kritisiert, zuletzt 2021 (Stand 2021). Die Reformen auf diesem Gebiet durch die Große Koalition im Jahr 2021 seien zu begrüßen, aber noch nicht umfassend genug gewesen. So müsse nach Einschätzung von Transparency Deutschland Vorteilsnahme von Mandatsträgern bereits bei mandatsbezogenen Tätigkeiten strafbar sein und nicht nur bei unmittelbarer Ausübung einer Abgeordnetentätigkeit. Außerdem kritisiert die Organisation, dass für strafrechtliche Verfolgungen eine dokumentierte Absprache der Involvierten vorliegen muss, die in den meisten Fällen aber nicht existiert. Die Korruptionsbekämpfung in Deutschland sieht Transparency Deutschland im Allgemeinen als stagnierend an.
Situation in Österreich
Um 2020 sind in Österreich zwei ÖVP-geführte Regierungen an vermutlichen Korruptionsfällen zerbrochen: die erste 2019 durch die Ibiza-Affäre der FPÖ und die zweite 2021 durch die ÖVP-Korruptionsaffäre. 2023 wurden daher schärfere Strafen für Korruptionsdelikte beschlossen. Nach der Gesetzesänderung ist es auch der Mandatskauf (§ 265a StGB) strafbar. Außerdem werden Bestechungen in Bezug auf künftige Amtsgeschäfte selbst dann bestraft, wenn der Bestochene erst danach in ein öffentliches Amt gewählt worden ist (§ 304 Absatz 1a und § 307 Absatz 1a StGB).
Situation in Rumänien
Situation in weiteren Staaten
Auswirkungen
Korruption und Korruptionsbekämpfung sind heute sowohl in Industriestaaten als auch in Entwicklungsländern zentrale Themen. In internationalen Transaktionen finden sich meist Unternehmen der Industriestaaten in der aktiven und Amtsträger der Entwicklungsländer in der passiven Rolle. Das staatliche Versagen beim Schutz von Bevölkerung, Wirtschaft und Gemeinwesen führt in vielen Ländern zum Zorn der Massen gegen die Regierenden und andere Eliten. International gesehen, untergraben die mangelnden Fortschritte bei der Korruptionsbekämpfung die Rechtsstaatlichkeit und den Glauben an die Demokratie.
Nach Schätzung des Internationalen Währungsfonds verursacht Bestechung weltweit jedes Jahr zwei Billionen Dollar Schaden, und die OECD rechnet sogar mit Schaden von bis zu vier Billionen Dollar. Damit verbunden sind massive negative Auswirkungen für das Wirtschaftswachstum und die staatlichen Gemeinwesen. Auf globaler Ebene gelten daher die Bekämpfung von Korruption und die Schaffung von Rechtssicherheit durch Vertrags- und Registersicherheit, Formvorschriften, unabhängige und effektive Gerichte und Verwaltung als Schlüssel zu Innovation, Produktivität und Wohlstand.
Im Bereich öffentlicher Verwaltung und Justiz kann ein Unternehmen durch Korruption einen Auftrag erhalten, obwohl es schlechtere Leistungen anbietet. Anderseits gibt es auch immaterielle Auswirkungen, etwa einen Machtverlust der allgemeinen Bevölkerung gegenüber wenigen mächtigen oder reichen Akteuren und damit einen Mangel an Fairness, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit.
Korruption führt einerseits zu hohen materiellen Schäden, anderseits aber auch zu immateriellen Auswirkungen wie Vertrauensverlust der Bürger in staatliche Organe. So kann es beispielsweise zu Auftragsvergaben an Unternehmen kommen, obwohl sie teurere oder schlechtere Leistungen erbringen als solche Unternehmen, die bei einer objektiven und transparenten Ausschreibung ausgewählt würden. Die den Amtsträgern gewährten Vorteile werden in der Regel bei der Rechnungsstellung eingerechnet. Deshalb werden dann Leistungen abgerechnet, die entweder gar nicht oder nicht in dem ausgewiesenen Umfang erbracht wurden. Die finanziellen Lasten hat letztlich der Steuerzahler zu tragen. Dabei gilt, dass eine Ausnutzung öffentlicher Positionen zum privaten Vorteil gemeinwohlwidrig ist.
Im Gesundheitswesen führt Korruption einerseits zu überhöhten Preisen und andererseits erschwert sie den Zugang zu medizinischen Leistungen. Weiterhin kann sie dazu führen, dass sich Therapieformen oder Medikamente etablieren, die objektiv betrachtet keine medizinisch optimale Behandlung darstellen. Sogar an Pflegepersonen während der Behandlung verabreichte Trinkgelder bestechen, wenn sie Vorteile bis hin zur Zwei-Klassen-Medizin verursachen können. In vielen Ländern gehört die Zahlung von Bestechungsgeldern in Krankenhäusern zum Alltag, um beispielsweise einen OP-Termin zu bekommen.
Generell führt Korruption dazu, dass die Leistungen von Organisationen in ihrem Umfang abnehmen oder qualitativ schlechter werden, die dafür zu entrichtenden Geldbeträge aber steigen. Nach Angaben der Weltbank muss durchschnittlich jeder Mensch rund sieben Prozent seiner Arbeitsleistung für Korruptionsschäden aufbringen.
Einen Sonderfall stellt die zwischenstaatliche Korruption dar, wo der aktiv Korrupte, der passive Partner und der Geschädigte nicht zur gleichen Jurisdiktion gehören, so dass im Geltungsbereich des eigenen Gesetzes weder ein Beamter korrumpiert noch der Staat geschädigt wird. Dieses Quasi-Outsourcing der Korruption wurde in Vorbereitung des Euros insbesondere in der Bundesrepublik der 1990er praktiziert und hatte Kritik der OECD heraufbeschworen, zumal die damalige Kohl-Regierung die Korruption deutscher Konzerne in die Europäische Süderweiterung bewusst durch Steuererleichterungen mitfinanzierte. Neben diesen Schäden an deren Volkswirtschaften müssen sich die Opferstaaten den Vorwurf gefallen lassen, nicht genug gegen Korruption vorzugehen.
Während sich also die nationale Korruption lediglich als Ungerechtigkeit im Wettbewerb zwischen großen und kleinen zeigt – liquide Unternehmen haben in Sachen Korruption einen klaren Wettbewerbsvorteil – insgesamt aber die Volkswirtschaft nicht nennenswert schwächt, so stellt die zwischenstaatliche Korruption eine Gefahr für juristisch unvorbereitete Volkswirtschaften (wie Griechenland) dar, die in Freihandelszonen wie dem Europäischen Binnenmarkt vertraglich gebunden sind, auf protektionistische Gegenmaßnahme zugunsten ihrer Volkswirtschaft zu verzichten (Maastricht 1993).
Infolge der erheblichen rechtlichen Unterschiede bei der nationalen Bewertung und Verfolgung von Korruption und dem damit verbundenen enormen Vermögen hat sich eine international geheim arbeitende Vermögensbewahrungs- und Consultingindustrie entwickelt. Diese Beratungsunternehmen und Offshoring-Anbieter dienen vorwiegend nicht dem Zweck der legalen Steueroptimierung oder Wirtschaftsberatung, sondern der Umgehung von Vorschriften und einer Vielzahl krimineller Aktivitäten wie Geldwäsche und Korruption. Diese Unternehmen schaffen sich durch Nutzung von Steueroasen und Ausnutzung aller möglichen Lücken ihr eigenes Rechtssystem und betreiben zusätzlich massive Lobby-Arbeit zur Eröffnung neuer Schlupflöcher und zur Abschaffung von Straftatbeständen und Formvorschriften.
Globale Schadenssumme
Nach einer Schätzung des Internationalen Währungsfonds werden durch Korruption weltweit umgerechnet 1,3–1,75 Billionen Euro verschlungen. Das schwächt das globale Wirtschaftswachstum um ungefähr zwei Prozent. In aktuellen Wirtschaftswachstumsmodellen gilt Korruption wie auch Geldwäsche als einer der langfristigen und nachhaltigen Wachstumsverhinderer.
Während der IWF die globalen jährlichen Schäden durch Korruption auf rund 2000 Milliarden Dollar taxiert, kommt die OECD sogar auf den Betrag von 4000 Milliarden Dollar. Im Jahr 2012 haben Schwellen- und Entwicklungsländer laut einer Studie durch Korruption, Geldwäsche und Handelsbetrug eine Billion Dollar verloren und wächst das Volumen illegaler Geldflüsse doppelt so schnell wie das Wirtschaftswachstum.
Korruption als ökonomisches Entscheidungsproblem
Nach der ökonomischen Theorie der Kriminalität von Gary Becker als Teildisziplin der ökonomischen Analyse des Rechts kann auch Korruption abgebildet werden als individuelles Nutzenkalkül. Kriminelles Verhalten ist danach lediglich auf eine Entscheidungssituation zurückzuführen, in welcher das Individuum aus verschiedenen Handlungsalternativen jene wählt, welche ihm den höchsten Nutzen bringt. Die Tat wird begangen, wenn ihr erwarteter Gewinn größer ist als ihre erwarteten Kosten.
Besticht beispielsweise Mitbewerber B, dann ist es für Unternehmen A zwingend, auch zu bestechen, um mit B etwa um die Vergabe eines öffentlichen Auftrags konkurrieren zu können. Besticht Unternehmen B jedoch nicht, ist trotzdem für Unternehmen A das Bestechen die dominante Strategie, um den Auftrag zu erhalten. Deshalb werden beide Unternehmen bestechen, weil der Anreiz, zusätzliche Gewinne zu generieren bzw. das Risiko, Verluste zu erleiden, durch Korruption erreicht bzw. vermieden werden kann.
Ökonomisch betrachtet kann zwar jedes Unternehmen von der Bestechung individuell und kurzfristig profitieren, schädigt aber langfristig auch sich selbst. Denn wenn alle Bewerber den zuständigen Beamten bestechen, dann ist die Auftragsvergabe möglicherweise dieselbe wie in der Konstellation ohne Bestechung – nur dass alle Unternehmen zusätzlich das Bestechungsgeld bezahlen müssen, was ihren Gewinn mindert. Sie stellen sich bei korruptem Handeln folglich kollektiv schlechter als ohne.
Die für die Auftragsvergabe zuständigen Beamten kalkulieren entsprechend. Sie lassen sich bestechen, wenn ihr erwarteter Gewinn größer ist als ihre erwarteten Kosten. Ist der Beamte B bestechlich, dann ist es für den Beamten A zwingend, es auch zu sein, um das eigene Einkommen ebenfalls mit Bestechungsgeld aufzubessern. Ist B nicht bestechlich, ist es für A jedoch nicht weniger lukrativ, dennoch bestechlich zu sein. Für beide Beamte ist daher Bestechlichkeit die dominante Strategie. Wird ein Auftrag jedoch nicht an das kostengünstigste Unternehmen vergeben, belasten diese zusätzlichen Ausgaben den öffentlichen Haushalt. Das kann sich auf die Personalpolitik auswirken und letztlich zu Stellenverlust der einen und entsprechender Mehrbelastung durch zusätzliche Arbeit für die anderen Beamten anderen führen. Zudem schaden Bestechlichkeit und entsprechende Ermittlungsverfahren dem Ansehen und der Integrität sowohl der öffentlichen Verwaltung als auch den beteiligten Unternehmen.
Langfristig geht das Nutzenkalkül für keinen der beteiligten Akteure auf.
Bekämpfung
Allgemeines
Damit keine Korruption stattfindet, muss nach der Prinzipal-Agent-Klient-Theorie entweder bei der Gewährung der Macht (Unterbindung der Prinzipal-Agent-Interaktion) oder beim Handel zwischen Agent und Klient (Unterbindung der Agent-Klient-Interaktion) eingegriffen werden. Um die Agent-Klient-Interaktion zu unterbinden, ist sie mit Strafe zu bedrohen, und mögliche Agent-Klient-Interaktionen sind transparent zu machen.
International wird versucht, durch dokumentierende Formvorschriften für Rechtsgeschäfte bei Liegenschaften, Unternehmenskapital oder Unternehmensanteilen das einfache und intransparente Verschieben von Kapital und die damit verbundene Verschleierung und Geldwäsche zu verhindern. In vielen Ländern müssen bestimmte Rechtsgeschäfte wie Veränderungen in Firmenstrukturen, Kapitalverschiebungen bei Unternehmen, Immobilien oder Firmenregistrierungen (- die für Geldwäsche, Verschleierung oder Korruption geeignet sein können) gerichtlich oder notariell protokolliert werden, um Scheingeschäfte, Fälschungen oder Rückdatierungen von Verträgen zu verhindern.
Auch die vielfach vorgeschriebene Legitimationspflicht bei Bankgeschäften soll die Agent-Klient-Interaktionen transparent machen. In der internationalen Praxis werden aber Identifikationsverfahren, Identitätsprüfungen und diesbezügliche Vorschriften durch die Finanzdienstleister und Banken geflissentlich übersehen. Vielmehr werden bankinterne Compliance-Einrichtungen angehalten, bei vorliegenden kriminellen Aktivitäten wegzuschauen bzw. diese zu verschleiern.
Ein geeignetes Land (Steueroase oder Offshoring) für die mit der Korruption verbundene Geldwäsche und Verschleierung hat am besten anonyme Gesellschaftsformen (z. B. British Trusts, Scottish Limited Partnerships oder US-Mantelgesellschaften), keinen Willen zur internationalen Kooperation und keine Formvorschriften, sodass die diesbezüglichen Unterlagen nicht öffentlich sind und auch rückwirkend verändert werden können.
Die Einhaltung der zur Bekämpfung der Korruption vorgesehenen Dokumentations- und Formvorschriften bedingt die Mitarbeit staatlicher oder privatwirtschaftlicher Organe. Nur wenn diese Organe rechtlich und wirtschaftlich unabhängig vom korrupten Täter sind und diese Unabhängigkeit ausreichend abgesichert ist, können Korruption und die damit verbundenen Handlungen unterbunden werden. International gesehen sind diese gerichtlichen, behördlichen bzw. notariellen Organe oder auch Compliance-Abteilungen in Unternehmen oft schlecht bezahlt, weisungsgebunden, nicht (wirtschaftlich) unabhängig oder bewusst schlecht organisiert, um die Einhaltung der Bestimmungen nicht überwachen zu können. Ob es grundsätzlich positive Auswirkungen von Compliance-Abteilungen, die in der Unternehmensstruktur eingebettet sind, zur Verhinderung von rechtswidrigen, aber lukrativen Handlungen im Rahmen des Unternehmenszweckes geben kann, wird kontrovers diskutiert, denn Unternehmen maximieren grundsätzlich ihren Eigennutzen. In vielen Ländern versuchen Unternehmerverbände, aber auch Politiker, die zur Korruptionsbekämpfung geeigneten Dokumentations- bzw. Formvorschriften als „wirtschaftsfeindlich“ zurückzudrängen.
Der Wirtschaftsnobelpreisträger Joseph Stiglitz und der Basler Strafrechtler Mark Pieth weisen darauf hin, dass bei der Bekämpfung von Korruption aufgrund umfangreicher Lobbyarbeit nicht konsequent vorgegangen wird und effektive Dokumentationsvorschriften dadurch verhindert wurden. Vielfach ist die Finanzindustrie zielgerichtet sehr damit befasst, Gesetzesänderungen und deren Folgen, auch in Bezug auf Steueroasen, in ihrem Sinn zu beeinflussen.
Die Bekämpfung von Korruption fokussierte sich in Deutschland klassischerweise bislang vor allem auf die (straf-)rechtliche Perspektive. Immer mehr stellen jedoch auch andere Fachdisziplinen Überlegungen an, um der mannigfaltigen Korruption Einhalt zu gebieten. Durch internationale Übereinkommen versuchen die Vertragsstaaten, verpflichtende Strafrechtsbestimmungen zur Bekämpfung von Korruption zu schaffen. Transparency International gibt ein Corruption Fighters’ Tool Kit heraus. Massive Schwachstellen im Kampf gegen Korruption sind die fehlende Transparenz bei vielen Rechtsgeschäften, der Bankensektor und vor allem die Steueroasen. Zur Korruptionsbekämpfung gehören aber nicht nur griffige gesetzliche Bestimmungen oder internationale Abkommen, vielmehr müssen die schon bestehenden Vorschriften wie zum Registerrecht, zu Formvorschriften bzw. die Legitimationspflicht korrekt und effektiv vollzogen werden.
Beim Lobbyismus gibt es ähnliche Interaktionen wie die Agent-Klient-Interaktionen. Diese müssen jedoch nicht notwendigerweise in Korruption münden. Lobbycontrol ist ein Verein in Deutschland, der über Einflussnahme von Interessengruppen (Klient) auf Staatsorgane (Agent) berichtet.
Polizeiliche Maßnahmen
Ihre Kenntnisse über Korruption können Hinweisgeber den Polizeibehörden als Strafanzeige oder anonym übermitteln. Nach dem Legalitätsprinzip muss die Polizei auch anonymen Anzeigen nachgehen. Durch die Anonymität können sich Wissensträger vor eventuellen Folgen ihrer Anzeige schützen.
Die Polizei Baden-Württemberg nutzt seit 2012 zur Korruptionsbekämpfung ein externes anonymes Hinweisgeberportal. Die aktuelle Internet-Adresse wird auf der Homepage der Polizei Baden-Württemberg angegeben. Das System wird durch das Landeskriminalamt Baden-Württemberg betreut. Bei der Hinweisabgabe kann ein Hinweisgeber einen Postkasten einrichten. Über den Postkasten können dem Hinweisgeber Fragen gestellt werden. Das Hinweisaufkommen und die Verdachtsqualität sollen durch eine wechselseitige anonyme Kommunikation mit dem Hinweisgeber gesteigert werden. Die Identität der Hinweisgeber ist nicht feststellbar.
Ursachen und Korrelation
Armut, Arbeitslosigkeit, soziale und ökonomische Ungleichheit, das Fehlen öffentlicher Kontrolle und mangelnde Rechtssicherheit begünstigen zweifellos Korruption. Auch tendieren Regierungen mit längerer Amtszeit zu mehr Korruption als regelmäßig wechselnde.
Probleme
Förderung
Korruption wird durch verschiedene Umstände gefördert oder ihre Bekämpfung behindert:
Das „Opfer“ erkennt die Korruption nicht oder kann sie nicht beweisen.
Es können zwei Arten der Korruption unterschieden werden: „Die erste hat eine Nähe zur Erpressung. Hier wird eine Machtstellung ausgenutzt, um Interaktionspartnern Sonderleistungen abzunötigen. Es handelt sich um Belastungskorruption. Sie ist vor allem in Entwicklungsländern weit verbreitet. Die zweite Art dominiert in entwickelten Rechtsstaaten wie Deutschland. Man kann sie als Entlastungskorruption kennzeichnen. Sie wird von den unmittelbar Beteiligten – wie ein Tausch – als vorteilhaft empfunden. Allerdings handelt es sich um einen Tausch zulasten Dritter. Entlastungskorruption ist immer mit einem Vertrauensbruch verbunden: Hier wird eine Delegationsbeziehung missbraucht, um ein illegales Einkommen zu generieren.“
„Die Einflussnahme der Politik auf Strafverfolgungsbehörden in Wirtschaftsverfahren gegen mächtige Personen, aber auch Einflussnahmen auf Verwaltungen, um Auftragsvergaben an bekannte und befreundete Unternehmer zu erreichen, sind in mehreren Strafverfahren belegt.“
„Politiker haben keinen Anreiz, Korruption zu bekämpfen. Sie wollen vielmehr gar nichts von dem Thema wissen. Auch das Unrechtsbewusstsein von Politikern ist nicht stark ausgeprägt. Im Gegenteil, manche halten ‚Provisionen‘ für einen legitimen Teil ihres Einkommens.“
„Politiker sind nicht nur resistent, sich selbst Korruptionsregeln zu geben und sich diesen zu unterwerfen, sie bewirken auch, dass so mancher gute Ansatz in der Verwaltung zunichte gemacht wurde. München und Frankfurt hatten die besten Korruptionsbekämpfungsstrategien. Diese haben jedoch fortwährend Korruptionsfälle zutage gefördert, sodass der Eindruck entstand, dass Frankfurt und München als einzige Städte Hochburgen der Korruption wären. Politikern, die den Anreiz haben, wieder gewählt zu werden, kann dann der Druck durch die öffentlichen Reaktionen zu stark werden, so dass sie für eine Änderung (Entschärfung) der Korruptionsstrategien plädieren.“
„… All dies nährt die Befürchtung, dass gerade in einer Zeit, in der ein Angriff der organisierten Kriminalität und der Wirtschaftskriminalität auf staatliche und wirtschaftliche Institutionen droht, die deutschen Strafverfolgungsbehörden nicht über die notwendige Handlungsfreiheit verfügen, um dieser für Deutschland neuartigen Form der Kriminalität entgegenzuwirken …“
Zur Frage „Wie unabhängig sind Staatsanwälte in Deutschland?“ siehe den gleichnamigen Vortrag von Dr. Winfried Maier, Richter am OLG München, Staatsanwalt a. D., Augsburg
Kontrollorgane (z. B. Aufsichtsräte oder Justiz) gehören derselben Organisation an, wie die Korrumpierten (z. B. Mitarbeiter, Manager oder Beamte), und sie decken einander.
Die Beteiligten haben kein Interesse am finanziellen Erfolg des Unternehmens, sondern vor allem am persönlichen Vorteil.
Auch die mit der Korruptionsbekämpfung beauftragten Staatsanwälte sind weisungsgebundene Beamte. Dabei sind die Weisungsgebenden (auch der Justizminister) nicht an die Schriftform gebunden. Oft sind Staatsanwaltschaften überlastet.
Die Korruption der Pharmaindustrie an niedergelassene Ärzte durch Anwendungsbeobachtungen und ähnlichem, ist nicht strafbar – bei Klinikärzten dagegen schon.
Journalisten dürfen Presserabatte entgegennehmen, wobei sich Journalistenverbände entsprechend dem Pressekodex zu bestimmten Regeln verpflichten.
Die Korruptionskriminalität ist aufgrund einer auf Konspiration angelegten Täter-Täter-Beziehung von einer hohen Dunkelziffer geprägt.
Der CPI – „Empfindungen oder Erfahrungen“
Seit 1995 gibt die Nichtregierungsorganisation (NGO) Transparency International alljährlich den Korruptionswahrnehmungsindex (Corruption Perceptions Index, CPI) heraus. Dieser Korruptionsindex will das Ausmaß der Wahrnehmung von Korruption in verschiedenen Ländern der Erde darstellen. Er entfaltet mittlerweile eine breite Wirkung in der Öffentlichkeit, die somit für das globale Problem der Korruption sensibilisiert wird.
Das Ausmaß der Korruption in einem Land ist nicht mit wirtschaftswissenschaftlichen Methoden einzugrenzen. Deshalb zieht sich der CPI notgedrungen auf die Einschätzung von Beteiligten innerhalb der Klientelwirtschaft zurück, wobei lediglich deren subjektive „Wahrnehmung“ (engl. „perception“) im Sinne von „Empfindung“ im Gegensatz zur definitiven (und mutigen) „Feststellung“ () von Korruption im eigenen Land mittels Umfragen gesammelt wird.
Das Ergebnis solcher Umfragen ist aber weit mehr von der Psychologie des eigenen wirtschaftlichen Erfolgs des Befragten abhängig und eher selten von seinem Mut, Korruption zuzugeben. So ist es nicht verwunderlich, dass in sogenannten Exportländern die Korruption kaum (als schädlich) wahrgenommen wird, wo oft die effiziente Akquisition von Staatsaufträgen traditionell durch hochentwickelte und wegen ihrer gewaltigen Schattenwirtschaften äußerst liquide Klientelnetzwerke gesichert werden. Offensichtlich überwiegt in diesen Fällen der Nutzen für (fast) alle.
Begünstigt wird die nationale „CPI-Befindlichkeit“, wenn das betreffende Land hoch industrialisiert ist, wo ein wesentlicher Anteil der Gesellschaft unselbständiger Erwerbstätigkeit nachgeht und deshalb die Aktivitäten innerhalb der Klientelnetzwerke gar nicht wahrnehmen kann. Einen noch günstigeren Einfluss auf den CPI übt eine nationalistische Gesetzgebung aus, die einerseits die Korruption im Inland in einem vorgegebenen Maße kontrolliert, sie aber andererseits explizit straffrei ausgehen lässt, wenn sie sich ausschließlich gegen andere Volkswirtschaften richtet. Solcher Art Ermächtigungsgesetze für die eigene Privatwirtschaft sind besonders katastrophal, wenn sie – wie nach der EWG-Süderweiterung 1981/86 und dem EG-Binnenmarkt 1993 in Deutschland geschehen – durch milliardenschwere Steuersubventionen vom Staat co-finanziert werden.
Insofern berücksichtigt der CPI weder die tatsächlich „gemessene“ Korruption noch die kriminelle Energie in den Exportländern. Stattdessen stellt er lediglich einen Wahrnehmungsindex des entstandenen Schadens in den Opferländern dar, nicht aber, wie oft falsch zitiert, das Ausmaß der „nationalen“ Korruption. Wie könnte er auch? Schließlich ist Korruption in einer globalisierten Welt ja „international“. Siehe dazu 1977 Foreign Corrupt Practices Act, 1999 OECD Anti-Bribery Convention, 2005 United Nations Convention against Corruption.
Instrumente der Bekämpfung
In deutschen Großstädten werden zunehmend Schwerpunkt-Staatsanwaltschaften gegen Korruption ins Leben gerufen – dies vor dem Hintergrund, dass die Korruptionsbekämpfung ein extrem kompliziertes Unterfangen ist, das eine Bündelung von Ressourcen und Kompetenzen erfordert. Die Staatsanwaltschaft München I unterhält die zurzeit größte Anti-Korruptionsabteilung in Deutschland. Sie hat der Öffentlichen Hand, u. a. der Stadtverwaltung München, von 1994 bis 2004 zur Realisierung von 46 Millionen Euro Schadensersatz verholfen – ein Ausmaß, das insoweit indes nur das Hellfeld von Korruption dokumentiert; der tatsächliche Schaden (inkl. Dunkelfeld) geht vermutlich weit darüber hinaus.
Ihre Kenntnisse von Fällen der Korruption können Hinweisgeber den Strafverfolgungsbehörden als Strafanzeige übermitteln. Dies kann auch anonym erfolgen, da nach dem Legalitätsprinzip die Polizei auch anonymen Anzeigen nachgehen muss. Mit einer anonymen Anzeige können sich Wissensträger vor eventuellen Folgen ihrer Anzeige schützen.
Im Bereich der privaten Unternehmen werden zunehmend wettbewerbsneutrale Selbstverpflichtungen einzelner Branchen (z. B. in der Bauindustrie) initiiert. Diese setzen sich das kollektive Ziel, der Korruption im Zuge eines umfassenden Ethik-Managements eine Absage zu erteilen. Einen ähnlichen Ansatz verfolgt die Etablierung einer Compliance-Kultur innerhalb eines Unternehmens.
Auch die Wirtschaftsethik/Unternehmensethik befasst sich in neuerer Zeit speziell mit Optionen der Korruptionsprävention und -bekämpfung. Als Beispiel ist insoweit die wissenschaftliche Publikation von Pies und andere zu nennen.
Nicht zuletzt gibt es auch für die öffentliche Verwaltung Ansätze eines expliziten Anti-Korruptionsmanagements. Auf dieser Ebene getroffene Maßnahmen zur Korruptionsprävention wurden seit Inkrafttreten der Richtlinie der Bundesregierung zur Korruptionsprävention in der Bundesverwaltung in deutschen Bundesbehörden implementiert. Grundlagen aus Sicht der Verwaltungsethik liefert etwa das Werk von Thomas Faust Organisationskultur und Ethik. Perspektiven für öffentliche Verwaltungen.
Mögliche Instrumente der Korruptionsbekämpfung in der öffentlichen Verwaltung sind beispielsweise Risikoanalysen für Korruption oder Schwachstellenanalysen für Korruption.
Internationale Übereinkommen
In Anlehnung an den Foreign Corrupt Practices Act der USA hat die Internationale Handelskammer (ICC) 1977 als Vertretung der Weltwirtschaft erstmals einen umfassenden Bericht über Korruption im Geschäftsverkehr mit Handlungsempfehlungen veröffentlicht. Der Bericht rief internationale Organisationen und nationale Regierungen dazu auf, das Thema auf ihre Agenda zu setzen. Heute gibt es eine Reihe internationaler Übereinkommen, die gegen Korruption und Bestechung wirken sollen.
OECD-Konvention gegen die Bestechung ausländischer Amtsträger im internationalen Geschäftsverkehr
Es handelt sich um ein internationales Abkommen, das die Vertragsstaaten verpflichtet, die Bestechung ausländischer Amtsträger unter Strafe zu stellen. Die Konvention wurde am 17. Dezember 1997 zur Unterzeichnung aufgelegt. Der Konvention beigetreten sind mittlerweile alle 34 OECD-Mitglieder, sowie die 7 Nichtmitglieder – Argentinien, Brasilien, Bulgarien, Kolumbien, Lettland, Russland und Südafrika.
Das Übereinkommen dient dem Schutz offener und wettbewerblich strukturierter Märkte vor den negativen Auswirkungen der Korruption und sieht zu diesem Zweck die Bekämpfung der Bestechung ausländischer Amtsträger im internationalen Geschäftsverkehr mit den Mitteln des Strafrechts vor.
In Deutschland erfolgte die Umsetzung mit dem IntBestG vom 10. September 1998.
Übereinkommen des Europarats
Das Strafrechtsübereinkommen über Korruption vom 17. Dezember 1997 des Europarates trat am 1. Juli 2002 in Kraft. Es beinhaltet weitergehende Forderungen zur Korruptionsbekämpfung. Die Konvention wurde von Deutschland am 1. September 2017 und von Österreich am 1. Januar 2014 ratifiziert. 1999 war zur Umsetzung des Übereinkommens in Deutschland bereits das Gesetz zur Bekämpfung internationaler Bestechung beschlossen worden.
Übereinkommen der Vereinten Nationen
Das Übereinkommen der Vereinten Nationen gegen Korruption (UNCAC) ist am 16. September 2005 in Kraft getreten.
Österreich hat diese Konvention am 11. Januar 2006 ratifiziert.
In der Schweiz wurde nach der Unterzeichnung am 10. Dezember 2003 die parlamentarische Behandlung der Konvention am 21. September 2007 mit einer Botschaft des Bundesrates eingeleitet. Die Ratifizierung erfolgte am 24. September 2009 vorbehaltlos.
Deutschland hat die Konvention am 9. Dezember 2003 unterzeichnet. Wegen fehlender strafrechtlicher Vorschriften gegen Abgeordnetenbestechung ( StGB a. F.) konnte diese jedoch lange nicht ratifiziert werden. Erst am 21. Februar 2014 verabschiedete der Bundestag in Zweiter und Dritter Lesung ein Gesetz zur Verschärfung der Regeln gegen die Abgeordnetenbestechung, das am 1. September 2014 in Kraft getreten ist.
Am 25. September 2014 stimmte der Bundestag einstimmig für die Ratifizierung, am 10. Oktober 2014 stimmte der Bundesrat zu. Die Ratifikation erfolgte am 12. November 2014, sodass das Übereinkommen am 12. Dezember 2014 für Deutschland, als eines der weltweit letzten Länder, in Kraft trat (Art. 68 Abs. 2 des Übereinkommens).
Internationale Organisationen
In der Bekämpfung der Korruption sind beispielsweise aktiv:
Internationale Anti-Korruptionsakademie
Institut für Korruptionsprävention e. V.
Institut für angewandte Korruption
European Healthcare Fraud and Corruption Conference = OLAF, Office Européen de Lutte Anti-Fraude
Organized Crime and Corruption Reporting Project
GRECO (Staatengruppe gegen Korruption)
Transparency International
Siehe auch
Korruption im Sport
Kick-back
Kleptokratie
Kölner Klüngel
Staatliche Behörden oben nicht behandelter Staaten: Büro für Korruptionsverhütung und -bekämpfung (Lettland), Economic and Financial Crimes Commission (Nigeria), Anti-Corruption Commission (Namibia), Antikorruption-Kommission der Republik Aserbaidschan, Comissão Anti-Corrupção (Osttimor)
Einzelgesetze oben nicht behandelter Staaten: Foreign Corrupt Practices Act (USA), Bribery Act 2010 (Vereinigtes Königreich)
:Kategorie:Politische Affäre (viele Artikel behandeln Korruptionsaffären)
Literatur
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Werner Vahlenkamp, Ina Knauß: Korruption – ein unscharfes Phänomen als Gegenstand zielgerichteter Prävention. Ergebnisse eines Forschungsberichtes des Bundeskriminalamtes. Wiesbaden 1995, .
Weblinks
ZDF: Uwe Dolata im Interview, 2010
Literatur
Die Korruption bleibt eine Herausforderung für die EU-27
Kommunalweb: Literaturhinweise
Compliance-Management – ein Patentrezept gegen Korruption? Unterrichtsreihe ETHOS (Thomas Faust) (PDF; 974 kB)
Korruption. (PDF; 3,5 MB) Themenheft. Aus Politik und Zeitgeschichte 3–4/2009.
Statistiken
Korruptionsindex (Corruption Perception Index) vom Internet Center for Corruption Research (englisch)
Bundeskriminalamt Jährliche Lageberichte zur Korruption, aufgerufen am 8. November 2015
IPS Inter Press Service – Unabhängige Nachrichten über Korruption (englisch)
Business Crime Control e. V. – Analysen und Hintergründe zum Thema Wirtschaftskriminalität
Korruptionsbekämpfung
OECD zum Thema Korruption und Korruptionsbekämpfung
Matthias Brockhaus und Marius Haak, Praxistaugliche Änderungen zur Bekämpfung der Auslandskorruption? hrr-strafrecht.de
Ethik, Organisationen
ICC/DIHK (Hrsg.): ’Korruption bekämpfen – Ein Verhaltenskodex für die Wirtschaft'
Transparency International: Die Koalition gegen Korruption
Staatengruppe des Europarates gegen Korruption / Group of States against Corruption (GRECO)
– EU’s National Police Monitoring & Inspection Bodies and Anti-Corruption Agencies
Lobbypedia – Online-Lexikon zu Lobbyismus von Lobbycontrol e. V.
Institut für Korruptionsprävention e. V. (IfKp)
Einzelnachweise
Wirtschaftskriminalität
Besondere Strafrechtslehre
Sozialethik
Verwaltung
|
Q366
| 357.092177 |
1457
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https://de.wikipedia.org/wiki/Elbl%C4%85g
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Elbląg
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Elbląg ( ), (), ist eine kreisfreie Stadt in der polnischen Woiwodschaft Ermland-Masuren nahe der Ostseeküste. Sie hat rund 119.750 Einwohner, einen Hafen und ist Sitz eines römisch-katholischen Bistums.
Geographische Lage
Die Stadt liegt am Südwestrand der Elbinger Höhe in der Elbinger Niederung nahe der Mündung der Flüsse Elbląg (Elbing) und Nogat in das Frische Haff (Zalew Wiślany). Sie liegt etwa 30 Kilometer südwestlich von Frombork (Frauenburg), 30 Kilometer nordöstlich von Malbork (Marienburg) und etwa 60 Kilometer südöstlich von Danzig (Gdańsk).
Historisch befindet sich Elbląg in der pruzzischen Landschaft Pogesanien. Dieses Gebiet war ab dem 13. Jahrhundert Teil des Deutschordensstaates und wurde im Zuge der deutschen Ostkolonisation germanisiert. 1466 als Teil Preußens königlichen Anteils der polnischen Krone unterstellt, kam die Landschaft 1772 als Teil der Provinz Westpreußen an Preußen, wurde 1922 der Provinz Ostpreußen angegliedert und kam 1945 an Polen.
Geschichte
Hansestadt im Deutschordensstaat
Im Jahr 1237 errichtete der Deutsche Orden unter dem Landmeister Hermann von Balk in der Nähe des Drausensees eine Festung.
Die Stadt wurde im Jahr 1237 als Elbing unter dem Schutz des Deutschen Ordens von aus Lübeck stammenden Handwerkern und Kaufleuten gegründet. Es wurde zunächst eine Siedlung mit rasterförmigem Straßennetz angelegt. Das Zentrum bildete der spätere „Alte Markt“, der an dem großen Handelsweg zwischen Thorn und dem Samland gelegen war. Vor 1238 wurde die Stadtpfarrkirche St. Nikolai erbaut. 1238 ließ Landmeister Hermann von Balk die Liebfrauenkirche und ein Dominikanerkloster errichten. Bis 1246 erfolgte die Einwanderung von weiteren Bürgern, die ebenfalls überwiegend aus Lübeck stammten. 1246 erhielt Elbing das Stadtrecht nach Lübischem Recht und erhielt das Privileg, eigene Münzen zu schlagen. Im Süden der Stadt wurde während der 1240er Jahre das Ordensschloss mit einem Heilig-Geist-Hospital errichtet. In den Jahren 1251 bis 1309 war die Burg Elbing der stellvertretende Hauptsitz des Ordensstaates (Hauptsitze waren damals Akkon und später Venedig) und Sitz der Landmeister von Preußen und des Großspittlers, gleichzeitig Residenz des ermländischen Bischofs Anselm, der hier 1274 starb.
Die Kirche zum Heiligen Jakob (Filiale der Stadtpfarrkirche) entstand 1256. Die Corpus-Christi-Kirche mit einem Aussätzigenhospital wurde 1292 erbaut. Der Orden erbaute um 1300 die Befestigungen der Stadt mit 14 Wehrtürmen. In dieser Zeit war Elbing zu einer bedeutenden Handelsstadt angewachsen, die bedeutende Handelsprivilegien bei den Königen von Polen, den Herzögen von Pommern, den skandinavischen Herrschern und sogar bei König Philipp IV. von Frankreich erworben hatte. Im 13. Jahrhundert wurde die schola senatoria (Ratsschule). gegründet, und 1314 wurde der Elbinger Stadtturm erbaut.
Elbing entwickelte sich gemeinsam mit Danzig und Thorn zu einer der führenden Hansestädte im östlichen Mitteleuropa. Anfang des 14. Jahrhunderts war die Stadt so angewachsen, dass 1337 durch den Elbinger Komtur Siegfried von Sitten vor den Toren die Elbinger Neustadt angelegt wurde. Sie verfügte über einen eigenen Rat und wurde nach Lübischem Recht regiert. Dieser Neustadt erteilte am 25. Februar 1347 der Hochmeister Heinrich Dusemer das Privilegium.
Ab 1350 beteiligte sich die Elbinger Flotte an den Kämpfen der Hanse gegen norwegische und dänische Seeräuber in der Ostsee. 1360 wütete in Elbing die Pest, der etwa 13.000 Einwohner (etwa 90 %) zum Opfer fielen.
1367 trat Elbing mit Kulm und Thorn der Kölner Konföderation bei. Die Kirche zur Heiligen Brigitta von Schweden wurde nach 1379 erbaut. 1397 entstand der Eidechsenbund: Der Aufstand des Adels und der Städte gegen die Herrschaft des Ordens begann. Nach der Schlacht bei Tannenberg wurde Elbing acht Wochen lang von polnischen Truppen besetzt. Polnische Truppen belagerten 1414 das Elbinger Ordensschloss, jedoch ohne Erfolg.
1440 gründeten die preußischen Hansestädte, unter ihnen Elbing, gemeinsam mit den Landesständen den Preußischen Bund, der gegen die Herrschaft des Ordens gerichtet war und eine autonome Selbstverwaltung unter der Oberhoheit des polnischen Königs anstrebte. 1452 ließen sie sich ihre Rechte und Privilegien von Kaiser Friedrich III. bestätigen. Im daraufhin einsetzenden Dreizehnjährigen Krieg des Preußischen Bundes gemeinsam mit Polen gegen den Deutschen Orden (1453–1466) nahmen die Bürger Elbings an der Belagerung des Ordensschlosses durch die Polen teil und zerstörten das Schloss nach dessen Kapitulation. Die Ruinen des Schlosses wurden 100 Jahre später abgetragen. Ein Teil steht bis heute. Die Stadt huldigte 1454 dem Jagiellonen Polenkönig Kasimir IV. als Schutzherrn. Er und seine Nachfolger bestätigten der Stadt sämtliche alten Privilegien und verliehen viele neue. 1478 schlossen sich die bis dahin eigenständigen Stadthälften der Alt- und Neustadt Elbings zusammen.
Elbing als freie Stadtrepublik im Königlichen Preußen
Der Dreizehnjährige Krieg endete 1466 mit dem Zweiten Thorner Frieden, bei dem der Orden Pommerellen, das Culmer Land und Ermland sowie Danzig, Elbing und Marienburg verloren geben musste. Diese Gebiete unterwarfen sich als Preußen Königlichen Anteils freiwillig der polnischen Krone. Dadurch entstand eine Zweiteilung Preußens in einen westlichen polnischen Teil und einen östlichen Teil des Deutschen Ordens, der allerdings die polnische Oberhoheit anerkennen musste. Das Ordensland wurde 1525 in das weltliche Herzogtum Preußen umgewandelt. Das Heer des letzten Hochmeisters Albrecht von Brandenburg-Ansbach belagerte noch 1521 unter Führung von Komtur Kaspar von Schwalbach die Stadt Elbing. Die Belagerung konnte abgewehrt werden. Der Tag des Sieges wurde mehrere Jahrhunderte am ersten Freitag nach Sonntag Laetare als „Freudetag“ in der Stadt gefeiert.
Im Jahr 1536 wurde das erste evangelische Gymnasium von Willem van de Voldersgraft bzw. Wilhelm Fullonius, einem Glaubensflüchtling aus Den Haag, eingerichtet. Christoph Hartknoch beschrieb in seiner Acta Borussica III dessen Leben oder Vita Guilielmi Gnaphei. In Hartknochs Arbeiten sind ebenfalls die preußischen Städte einschließlich Elbing dargestellt. Der Rektor des Elbinger Gymnasiums musste auf Grund des Erlasses des katholischen Fürstbischofs von Ermland Elbing verlassen und wurde dann Rat des Herzogs Albrecht von Preußen sowie Rektor und Professor der Universität Königsberg. 1576 bestätigte König Stephan Báthory das Privileg der protestantischen Schule, die bis zum Direktorat Johann Wilhelm Süverns 1803 einen akademischen Anspruch hatte. 1558 sicherte König Sigismund II. August der protestantischen Stadt Elbing die vorläufige Religionsfreiheit zu.
Anlässlich der Errichtung der Union von Lublin auf dem Lubliner Sejm kündigte König Sigismund II. August am 16. März 1569 die Autonomie Westpreußens jedoch unter Androhung herber Strafen einseitig auf, weshalb die Oberhoheit des polnischen Königs in diesem Teil des ehemaligen Gebiets des Deutschen Ordens von 1569 bis 1772 als Fremdherrschaft empfunden wurde.
1567 konnte die Stadt die volle religiöse Autonomie durchsetzen und verwies die Jesuiten der Stadt. Die Lutheraner übernahmen 1577 die Nikolaikirche. Seit dieser Zeit sind auch Kirchenbücher mit Eintragungen der Taufen, Heiraten und Bestattungen vorhanden.
Ab 1579 unterhielt die Stadt enge Handelsbeziehungen zu England, das freien Handel in Elbing ausüben konnte. Viele englische und schottische Kaufleute ließen sich in Elbing nieder und wurden Bürger der Stadt. Sie organisierten sich in der Fellowship of Eastland Merchants. Die Church of Scotland gründete die Bruderschaft der Schottischen Nation in Elbing. Familiengräber mit Namen Ramsay, Slocombe waren noch bis 1945 auf dem St.-Marien-Friedhof in der Altstadt Elbings zu finden. Andere Familien aus diesem Kreis waren unter anderem die Lamberts, Paynes, Lardings, Wilmsons.
Der Aufruhr der Danziger gegen König Stephan Báthory von Polen wurde 1580 von den Elbingern, die dem König treu blieben, geschickt ausgenutzt. Für Polen spielte Elbing nun eine Schlüsselrolle im Überseehandel. Über die Nogat, die damals tiefer war als die Weichselmündung bei Danzig, erfolgte der polnische Getreideexport nach Westeuropa und umgekehrt der Import westlicher Luxuswaren bis weiter nach Polen. Die Stadt zählte im Jahr 1594 30.000 Einwohner, und der Umsatz von Waren, die von Elbinger Handelsleuten in diesem Jahre verkauft wurden, erreichte die für damalige Zeiten hohe Summe von 1.247.850 Talern.
Die Stadtpfarrkirche wurde 1617 dem katholischen Klerus übergeben.
Dreißigjähriger Krieg und Nordische Kriege
Um 1620 trat die Stadt aufgrund ihrer starken Handelsbeziehungen mit England aus der Hanse aus. 1625 folgte ein Ausbruch der Pest, in dessen Folge 3.608 Menschen starben. Die Truppen des Schwedenkönigs Gustav II. Adolf nahmen 1626 die Stadt ein und hielten sie bis 1635 als Hauptquartier im Kampf zur Unterstützung der Evangelischen gegen die Katholischen im Dreißigjährigen Krieg. Der schwedische König setzte seinen Vertrauten und Reichskanzler Axel Oxenstierna in Elbing als Generalgouverneur für die neuen schwedischen Besitzungen ein. Dieser führte von 1626 bis 1631 neben den regionalen Geschäften auch einen Teil seiner nationalen Aufgaben von Elbing aus. In den etwa 1500 erhaltenen Briefen Oxenstiernas aus Elbing spiegeln sich militärische, ordnungs-, wirtschafts- und außenpolitische Themen der Zeit. Die Schweden nahmen Preziosen, Möbel, Bücher als Kriegsbeute und schickten diese in ihre Heimat.
1646 dokumentierte der Elbinger Stadtschreiber Daniel Barholz, dass der Elbinger Stadtrat Bernsteindreher (Paternostermacher) angestellt habe. Spätere Mitglieder der Familie Barholz waren prominent als Stadtrat und Bürgermeister. Auch der Barockdichter Daniel Bärholz gehörte dieser Familie an. Die Verarbeitung von Bernstein (preußisches Gold), nicht nur zu Schmuck und kirchlichen Artikeln, sondern als Heilmittel und zu Polierlack, war ein wichtiger Wirtschaftsfaktor jener Zeit. Die Gildemitglieder der Paternostermacher unterstanden besonderen Gesetzen.
In den Jahren 1655 bis 1660 wurde Elbing im Zuge des Zweiten Nordischen Krieges ein zweites Mal durch schwedische Truppen unter Karl X. Gustav besetzt. Karl X. Gustav verfuhr dabei auf ähnliche Weise wie sein Onkel Gustav Adolf.
Der polnische König Johann II. Kasimir verpfändete Elbing und dessen Territorium 1657 im Vertrag von Wehlau an den Großen Kurfürsten für die Summe von 400.000 Talern und sicherte ihm außerdem die Souveränität über das Herzogtum Preußen zu. Als die polnische Krone die obige Summe nicht erstattet hatte, machte der Nachfolger des Großen Kurfürsten, Friedrich I. in Preußen, von seinem Recht Gebrauch und nahm 1703 das Elbinger Territorium in Besitz, das mithin preußisch wurde.
Die ansehnlichen Erträge, die bis dahin aus dem Territorium an die Stadt geflossen waren, wurden durch diesen Schritt erheblich beschnitten, was zu einer Lähmung der Wirtschaft und einem damit einhergehenden Rückgang der Bedeutung der Stadt führte. Hinzu kam, dass die Stadt Elbing zwar ihre Autonomie wahrte, doch in den folgenden Jahrzehnten mehrfach Besatzungen über sich ergehen lassen musste und damit einhergehende Kontributionen zu leisten hatte. So wurde Elbing während des Großen Nordischen Krieges nacheinander durch schwedische (1703–1710), russische (1710–1712) und sächsische Truppen (1712) besetzt. Während des Siebenjährigen Krieges wurde die Stadt 1758 von russischen Truppen erobert und bis 1762 besetzt gehalten.
Der kaiserliche Mathematiker und Geograph Johann Friedrich Endersch vollendete 1755 eine Karte Ermlands mit dem Titel Tabula Geographica Episcopatum Warmiensem in Prussia Exhibens. Diese Karte zeigt Stadt und Land Elbing westlich des Ermlands und jedes Dorf in der Gegend. Die Karte von 1755 führt auch den Namen Prussia Orientalis (auf Deutsch: Ostpreußen). Endersch fertigte ebenfalls einen Kupferstich des Segelschiffes (Galiot), benannt D.Stadt Elbing (D=der Erbauer), später auch als Die Stadt Elbing bekannt, welches 1738 in Elbing erbaut worden war.
1772 kam Elbing im Rahmen der ersten Teilung Polens zum Preußischen Staat. Zwar verlor Elbing dadurch seine städtische Autonomie und einige damit einhergehende Privilegien, doch war nun die vollständige Unabhängigkeit der deutschen Stadt von der polnischen Krone wiederhergestellt.
Im Preußischen Staat
Friedrich II. unterstützte Elbing durch viele Steuererleichterungen, und der Handel begann wieder aufzublühen. 1807 besetzten Napoleons Truppen Elbing und erzwangen innerhalb von vier Tagen eine Kontribution von 200.000 Talern. Am 8. Mai 1807 hielt Napoleon I. in Elbing eine große Truppenparade ab. Vom Dezember 1812 bis Januar 1813 musste die Stadt nach seinem gescheiterten Russlandfeldzug 60.000 zurückflutende französische Soldaten, 8.000 Offiziere und 22.000 Pferde ernähren.
Nach den Stein-Hardenbergschen Verwaltungsreformen war Elbing ab 1815 Teil des Kreises Elbing im Regierungsbezirk Danzig der Provinz Westpreußen. Elbing blieb bis 1945 Verwaltungssitz dieses Landkreises, wurde aber 1874 ein Stadtkreis (kreisfreie Stadt) und unterstand seither nicht mehr der Zuständigkeit des Landratsamts.
Industrialisierung und Verkehrswegebau bestimmten das Schicksal der Stadt im 19. Jahrhundert. 1828 stellten die Elbinger das erste Dampfschiff Ostpreußens in Dienst. 1837 wurden die Schichau-Werke gegründet. 1840 bis 1858 wurde der Oberländische Kanal zwischen Deutsch Eylau, Osterode und Elbing nach Plänen und unter Leitung des Königlich-Preußischen Baurats Georg Steenke angelegt. Am 23. Oktober 1844 erfolgte die Gründung der Baptistengemeinde Elbing.
In den 1840er Jahren wurde zusätzlich zu dem bereits bestehenden Gymnasium eine Realschule ins Leben gerufen. Um die Mitte des 19. Jahrhunderts verfügten die im Hafen von Elbing vertretenen Reeder über 14 Handelsschiffe. 1853 wurde die Eisenbahnlinie nach Königsberg fertiggestellt. 1858 bis 1918 erfolgte ein großer wirtschaftlicher Aufschwung der Stadt. Die Stadt hatte viele Fabriken: die Schichau-Werke, die jetzt auch unter anderem Lokomotiven herstellten, die Zigarrenfabrik Loeser & Wolff, eine große Brauerei und Schnapsbrennerei, eine Schokoladefabrik und viele andere Betriebe. Am Anfang des 20. Jahrhunderts hatte Elbing sieben evangelische Kirchen, eine katholische Kirche, vier Bethäuser verschiedener Freikirchen und Glaubensgemeinschaften sowie eine Synagoge.
In der Industriestadt Elbing erhielt die SPD stets die Mehrheit der Wählerstimmen, bei den Reichstagswahlen 1912 sogar 51 %. Laut der preußischen Volkszählung von 1905 waren in den Kreisen Elbing Stadt und Elbing Land 94.065 Personen deutschsprachig und 280 Personen polnisch- bzw. kaschubischsprachig.
Weimarer Republik und Drittes Reich
Nach dem Ersten Weltkrieg musste Deutschland aufgrund der Bestimmungen des Versailler Vertrags 1920 den größten Teil Westpreußens zum Zweck der Einrichtung des Polnischen Korridors an Polen abtreten. Gleichzeitig wurde die ethnisch deutsche, politisch aber von Polen abhängige Freie Stadt Danzig gebildet und ebenfalls vom Reichsgebiet abgetrennt. Die westlich der Nogat gelegenen Teile des Landkreises Elbing fielen an den neuen Freistaat Danzig. Die Stadt Elbing gehörte zu den Gebieten, die bei Deutschland verblieben, und wurde nach Auflösung der Provinz Westpreußen an das benachbarte Ostpreußen angegliedert. Die neu hinzugekommenen westpreußischen Gebiete bildeten dort den Regierungsbezirk Westpreußen, dessen Verwaltungssitz sich in Marienwerder befand, in dem Elbing jedoch die größte Stadt war. 1926 wurde die Pädagogische Akademie Elbing zur Ausbildung von Volksschullehrern eingerichtet.
Die Weltwirtschaftskrise nach 1929 beeinflusste Elbings Situation sehr ungünstig. Die bedeutende Bus- und Lastwagenfabrik Franz Komnick und Söhne AG ging 1930 in Konkurs und wurde von der Büssing AG übernommen.
In den Jahren der Weimarer Republik war Elbing eine Hochburg der KPD. Die auf Deutschlands Aufrüstung gerichtete Politik der NSDAP brachte ab 1933 einen großen wirtschaftlichen Aufschwung für Elbing, hauptsächlich durch den Ausbau der Schichau-Werke, den Bau einer Flugzeugfabrik und die Eröffnung vieler neuer Schulen. 1937 hatte die Stadt 76.000 Einwohner. Nach dem Überfall auf Polen 1939, durch den die 1920 entnommenen Territorien wieder an das Reichsgebiet zurückkamen, wurde Elbing an den Regierungsbezirk Danzig im Reichsgau Danzig-Westpreußen angegliedert.
Während des Zweiten Weltkriegs bestanden in Elbing fünf Arbeitslager für vornehmlich polnische Zwangsarbeiter, die dem KZ Stutthof als Außenlager unterstellt waren. Außerdem gab es im Kreis Elbing 15 weitere Zwangsarbeitslager, die für die Rüstungsproduktion arbeiteten.
Nachdem ein großer Teil der Einwohner im Januar 1945 Elbing verlassen hatte, begann um den 23. Januar 1945 eine Belagerung durch die Rote Armee. Die Stadt mit ihrer strategisch wichtigen Lage wurde bis zum 10. Februar verteidigt. Am Ende lagen 60 Prozent der Gebäudesubstanz der Stadt in Trümmern (insgesamt 5255 Gebäude). Alle Baudenkmäler waren stark beschädigt, nur sechs Häuser in der Altstadt blieben stehen, darunter das Kramer-Zunfthaus und das Postamt. Etwa 5000 deutsche Soldaten fielen, viele Zivilisten ertranken bei der Flucht aus der belagerten Stadt im Frischen Haff.
Elbing beherbergte Bücherschätze von europäischem Rang. Im Stadtarchiv, das im 17. Jahrhundert gegründet worden war, befanden sich viele wertvolle Pergamente aus dem 13. Jahrhundert und wertvolle historische Sammlungen aus dem 15. Jahrhundert. Die Bibliothek am Gymnasium (15.000 Bände) besaß unter anderem ein polnisches Gesetzbuch aus dem 13. Jahrhundert, die Bibliothek an der Nikolaikirche (gegründet vor 1403) 23 alte Handschriften und 1.478 alte theologische Werke. Die Bibliothek an der Marienkirche verfügte über eine herausragende Sammlung von Musikhandschriften – 520 Werke aus der Zeit vom 16. bis zum 19. Jahrhundert. Die Stadtbibliothek (gegründet 1601) hatte die wertvollste Sammlung: 30.000 Bände, darunter 214 Handschriften, 123 Inkunabeln und 770 Landkarten. Das Stadtmuseum beherbergte die ehemalige Bibliothek der Dominikaner, unter anderem 50 Handschriften und 15 Inkunabeln. Alle diese Bücherschätze sind seit 1945 verschollen.
Volksrepublik Polen
Bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs hatte die Stadt rund 100.000 vorwiegend evangelische Einwohner deutscher Nationalität. Nachdem die Rote Armee Elbing erobert hatte, unterstellte sie es der Verwaltung der Volksrepublik Polen, während sämtliche Maschinen in den Fabriken, die unzerstört geblieben waren – zum Beispiel in den Schichau-Werken – bis 1946 demontiert und als Reparationsleistung in die Sowjetunion abtransportiert wurden. Auch Küchenherde, Kachelöfen, Badewannen, Junkers-Öfchen, Türschlösser und -klinken aus unzerstörten Privathäusern wurden dorthin verbracht. Die ersten Vertreter der polnischen Behörden erschienen im März 1945 in Elbing. Die polnische Verwaltung führte die Ortsbezeichnung Elbląg ein. Bis 1947 fand in Elbing durch die Vertreibung der eingesessenen Einwohner, die vor allem in die britische Besatzungszone Deutschlands gelangten, und die Ansiedlung von Polen, die im Zuge der Umsiedlung von Polen und Ukrainern aus zeitweise polnischen Gebieten östlich der Curzon-Linie 1944–1946 zum Teil vertrieben worden waren, ein Bevölkerungsaustausch statt.
Die sowjetischen Militärbehörden übergaben 1946 den Seehafen der polnischen Stadtverwaltung. Da die Ausfahrt zur Ostsee bei Baltijsk (Pillau) nunmehr unter sowjetischer Kontrolle stand, war die Nutzung des Hafens nur sehr eingeschränkt möglich.
Im Jahr 1948 hatte die Stadt 40.000 Einwohner. Ab 1950 begann der Wiederaufbau der Elbinger Industrie. Die Stadt wurde wieder zu einem wichtigen Zentrum der Maschinen- und Transportindustrie, außerdem besitzt die Stadt Holz-, Lebensmittel- und Textilindustrie. Die Stadt hatte im Jahr 1962 81.400 Einwohner. Viele Bewohner von Elbląg beteiligten sich 1970 zusammen mit Bürgern in Danzig und Stettin am Aufstand gegen die kommunistische Regierung in Polen.
Die Stadt wurde bei der polnischen Verwaltungsreform 1970 Hauptstadt der gleichnamigen Wojewodschaft Elbląg. Die Streiks im August 1980 führten zum Aufbau der freien Gewerkschaft Solidarność unter Beteiligung vieler Einwohner Elblągs.
Dritte Polnische Republik
Ab 1990 wurde die Altstadt unter Verwendung historistischer Bauformen wie spitzer Giebel zur Straße sowie von Fachwerkimitationen wieder aufgebaut. Nach dem Jahr 2000 stehen wieder viele Gebäude nahe, aber nicht direkt an der Elbląger „Waterkant“. Die Stadt wurde 1992 zum Sitz des katholischen Bistums Elbląg erhoben, das zum neugeschaffenen Erzbistum Ermland gehört. Der Hafen bekam 1994 seine Rechte als Seehafen mit eingeschränkten Nutzungsmöglichkeiten zurück, da die Ausfahrt zur offenen Ostsee unverändert über russisches Hoheitsgebiet durch das Pillauer Tief in der Frischen Nehrung verläuft. Seit 2022 besteht aber durch den Kanal durch die Frische Nehrung bei Vogelsang und die dazugehörige Fahrrinne eine direkte Anbindung an die Danziger Bucht.
Elbląg verlor bei der Verwaltungsreform 1998 seinen Rang als Hauptstadt einer Woiwodschaft, gehört seitdem zur von Olsztyn (Allenstein) aus verwalteten Woiwodschaft Ermland-Masuren und ist dort wieder Stadtkreis und Sitz der Kreisverwaltung für den Powiat Elbląski. Die Stadt erhielt 1999 den EU-Preis für Umweltpflege. Die Stadt erhielt 2000 die internationale Auszeichnung „Europäische Fahne“.
Demographie
Entwicklung des Schulwesens
Die ersten Schulen in Elbing wurden zu Beginn des 14. Jahrhunderts gegründet, keine 100 Jahre nach der Gründung der Stadt im Jahr 1237. Zunächst waren dies Gemeindeschulen, in späteren Jahren auch weltliche Schulen, private, städtische oder staatliche Schulen. Die erste Erwähnung einer Volksschule in Elbing war die Pfarrschule von St. Nikolaus, die sich im Dorf Elbing befand. Die erste Erwähnung einer Elementarschule (Grundschule) in Elbing, die die Pfarrschule St. Nikolaus war, die sich in der heutigen Rybacka-Straße 14 befand, stammt aus dem Jahr 1310. Nach der Übernahme Elbings durch Preußen im Jahre 1772, als Folge der Ersten Teilung Polens, wurde ähnlich wie im übrigen Deutschland ein obligatorisches Volksschulsystem eingeführt, das 1773 vom preußischen König Friedrich II. proklamiert wurde. Zum Beispiel gab es 1828 in Elbing 19 Volksschulen von unterschiedlicher und nicht sehr hoher Qualität, darunter 10 öffentliche, 7 kirchliche und 2 private Schulen, die von 1.914 Schülern im Alter von 6 bis 12–14 Jahren besucht wurden. Zu Beginn des 16. Jahrhunderts wurde die Gründung der ersten preußischen Universität in Elbing erwogen. Vor allem wegen religiöser Streitigkeiten über die Gründung und Ausstattung der Universität wurde sie nicht realisiert.
Grundschulen
Im Gebäude der beliebten Hala Targowa, des inzwischen erheblich erweiterten Kaufhauses in der Gwiezdna-Straße, befand sich die städtische Margaretenschule. Sie wurde am 10. Oktober 1830 eröffnet und von Kindern aus den ärmsten Elbinger Familien besucht. Die Ritterschule befand sich im Gebäude der heutigen Vermessungs- und Kartographiegesellschaft in der Tysiąclecia-Allee 11. Im Gebäude des heutigen Priesterseminars der Diözese Elbląg in der Bożego Ciała Straße 10 war ab dem 12. Oktober 1891 die katholische Nicolaischule untergebracht. Im Gebäude des heutigen Lehrerkollegiums für Fremdsprachen in der Czerniakowska-Straße 22, 1886 erbaut, befand sich die Luisenmädchenschule. Im Gebäude der heute nicht mehr existierenden Zweigstelle der Ermländisch-Masurischen Pädagogischen Landesbibliothek in Olsztyn in der Pocztowa-Straße 1, neben der 1. allgemeinbildenden Mittelschule, die 1886 gebaut wurde, befand sich die Hansaschule. Im heutigen Gebäude des Gimnazjum Nr. 2 in der Robotnicza-Straße 173, bis vor kurzem die Grundschule Nr. 2, die mit den Sportanlagen in der Krakusa-Straße in den Jahren 1925–1927 gebaut wurde, befand sich die Paulusschule, die am 20. Dezember 1927 feierlich eröffnet und in den 1930er Jahren in Horst-Wessel-Schule umbenannt wurde.
Das monumentale, prächtige Gebäude des heutigen Gimnazjums Nr. 5, bis vor kurzem Grundschule Nr. 3 in der Agrykola-Str. 6, wurde mit den Sportanlagen der Schule Ende der 1920er Jahre gebaut, wo die Sportgrundschule Jahnschule, deren Einweihung am 10. Oktober 1929 stattfand, den Namen des deutschen Sport- und Turnförderers Friedrich Ludwig Jahn (1778–1852), der als „Vater des Turnens in Preußen“ bezeichnet wird.
Im Gebäude der heutigen Grundschule Nr. 4 in der A.-Mickiewicza-Straße 41, gebaut 1912/13, befand sich die Trusoschule. Im Gebäude der heutigen Universität für Geisteswissenschaften in der Robotnicza-Straße 197, wo sich bis Anfang der 90er Jahre die Grundschule Nr. 5 befand, wurde Ende des 19. Jahrhunderts eine Pfarrgrundschule (Adalbertusschule) gebaut. An der Stelle der heutigen Volksschule Nr. 7 in der Browarna-Str. 1, die 1926 erbaut und inzwischen stark umgebaut wurde, befand sich seit 1873 eine Grundschule für Mädchen, die Elisabethschule. Im Gebäude der heutigen Grundschule Nr. 8 in der Szańcowa-Straße 2, erbaut 1891 und stark umgebaut, war die kirchliche Marienschule untergebracht.
Gymnasien
Die bekannteste Bildungseinrichtung im ehemaligen Elbing war das berühmte Elbinger Gymnasium, gegründet von Jacob Alexwangen, Bürgermeister von Elbing, und Wilhelm van der Voldergraft, einem holländischen religiösen Emigranten, der sich 1531 in Elbing niederließ und der erste Rektor der Schule wurde. Ursprünglich war die Schule in verlassenen Klostergebäuden des Ordens der heiligen Bridget untergebracht, die vom Rat der Stadt Elbing gekauft wurden, und ihre Einweihung fand am 29. September 1535 statt. Dann am 25. November 1599 wurde es in ein neues Gebäude verlegt, den heutigen Sitz des Staatlichen Museums in Elbing am Zygmunt II. August-Boulevard 11, wo es fast bis zum Ende des 19. Jahrhunderts funktionierte, verschiedene Wechselfälle und zahlreiche Höhen und Tiefen durchlebte und während seiner gesamten Existenz unter dem rechtlichen und finanziellen Schutz der Stadt Elbing stand. Es wurde am 1. Januar 1847 verstaatlicht und 1882 in ein neues Gebäude verlegt, in das heutige Gebäude des Zweiten Allgemeinen Gymnasiums in der Królewiecka-Straße 42, wo es bis 1945 als Staatliches Gymnasium fungierte. An der Schule unterrichtete u. a. der berühmte böhmische Pädagoge und Bildungsreformer Johann Amos Comenius, der sich in den Jahren 1642–1648 in Elbing aufhielt. Das Elbinger Gymnasium war das erste weltliche Gymnasium in Westpreußen und das zweite auf dem Gebiet des heutigen Polens, nach der Schule in Posen, die 1519 gegründet wurde. Die heutige Mittelschule Nr. 1 in der Pocztowa-Straße 2 wurde in den Jahren 1873 bis 1875 erbaut und beherbergte die Höhere Töchterschule.
Lehrerseminar
Im heutigen Gebäude des 1909 errichteten Oskar-Lange-Wirtschaftsschulkomplexes in der General-J.-Bema-Straße 50 war bis 1926 das Evangelische Pädagogische Lehrerseminar untergebracht. Die Pädagogische Akademie, die erste ihrer Art in Ostpreußen, wurde 1933 in Hochschule für Lehrerbildung umbenannt.
Fach- und Berufsschulen
Im Gebäude des heutigen Mechanischen Schulkomplexes in der J. A. Komeñski-Straße 39, das 1929 gebaut wurde, befand sich die Höhere Lehranstalt für Praktische Landwirte.
1919 wurde in dem Gebäude in der heutigen Zacisze-Straße 11 eine Städtische Berufsschule für Mädchen – die Städtische Mädchenberufsschule – eröffnet. Królewiecka 128, erbaut in den Jahren 1926–1929, wo die Staatliche Berufsschule für Hauswirtschaft für Mädchen und die Höhere Berufsschule für Mädchen – Mädchenberufsschule, von den damaligen Elbinger Einwohnern gemeinhin als „Klopsakademie“ bezeichnet, untergebracht war.
Im Gebäude des heutigen Rathauses von Elbing in der Łączności Straße 1, das in den Jahren 1910–1912 erbaut wurde, befand sich das Reform-Realgymnasium für Männer, das am 17. April 1912 feierlich eröffnet und 1931 nach Heinrich der Ältere von Plauen benannt wurde – Reform-Realgymnasium Heinrich von Plauen, das aus der heutigen Wapienna Straße, dem heutigen Gebäude des Internats, in dem es seit 1837 funktionierte, verlegt wurde.
Im heutigen Polizeigebäude in der Królewiecka-Straße 106 wurde am 15. März 1941 die staatliche, nach Ferdinand Schichau benannte Ingenieurschule eingeweiht. Wegen des andauernden Krieges musste der Betrieb 1942 eingestellt werden, weil studierende Männer an die Front geschickt wurden.
Politik
Stadtpräsident
An der Spitze der Stadtverwaltung steht ein Stadtpräsident, der von der Bevölkerung direkt gewählt wird. Seit 2014 ist dies Witold Wróblewski.
Bei der Wahl 2018 trat Wróblewski erneut mit seinem eigenen Wahlkomitee, zu dem auch die PSL gehörte, an. Darüber hinaus unterstützte ihn auch die SLD. Die Abstimmung brachte folgendes Ergebnis:
Witold Wróblewski (Wahlkomitee Witold Wróblewski) 48,8 % der Stimmen
Jerzy Wilk (Prawo i Sprawiedliwość) 28,7 % der Stimmen
Michał Missan (Koalicja Obywatelska) 19,3 % der Stimmen
Stefan Rembelski (Kukiz’15) 3,2 % der Stimmen
In der damit notwendigen Stichwahl setzte sich Wróblewski mit 72,0 % der Stimmen gegen den PiS-Kandidaten Wilk, der bis 2014 sein Vorgänger als Stadtpräsident war, durch und wurde wiedergewählt.
Stadtrat
Der Stadtrat besteht aus 25 Mitgliedern und wird direkt gewählt. Die Stadtratswahl 2018 führte zu folgendem Ergebnis:
Koalicja Obywatelska (KO) 32,1 % der Stimmen, 9 Sitze
Prawo i Sprawiedliwość (PiS) 30,0 % der Stimmen, 9 Sitze
Wahlkomitee Witold Wróblewski 23,4 % der Stimmen, 6 Sitze
Sojusz Lewicy Demokratycznej (SLD) / Lewica Razem (Razem) 10,0 % der Stimmen, 1 Sitz
Kukiz’15 4,5 % der Stimmen, kein Sitz
Wappen
Blasonierung: „Von Silber und goldgegittertem Rot geteilt, oben und unten je ein Kreuz in verwechselten Tinkturen.“
Die beiden Tatzenkreuze verweisen auf die Gründung durch den Deutschen Orden. Silber und Rot sind auch die Farben der „Mutterstadt“ Lübeck. Das untere Netz steht vermutlich für Fischfang.
Der noch erhaltene Bronzestempel des 1242 gebrauchten SIGILLVM BVRGENSIVM IN ELVIGGE zeigt auf Wellen eine von einem Schiffer linkshin gesteuerte Kogge, über der ein Kreuzlein schwebt. Auch der silberne Stempel des zweiten großen Siegels ist noch vorhanden; hierbei steht das Kreuzchen in der Flagge, während das dritte Schiffssiegel (15. Jahrhundert) darin die beiden Kreuze aufweist, die schon das Dekret des 14. Jahrhunderts im Dreieckschilde zeigt und die alle späteren Siegel enthalten.
Städtepartnerschaften
Elbląg unterhält mit 14 Städten bzw. Orten Partnerschaften:
Bauwerke
Städtische und Bürger-Bauten sowie Denkmale
Einige erhaltene oder wiederaufgebaute Bürgerhäuser mit gotischen, Renaissance- und barocken Ornamenten (14. bis 17. Jahrhundert)
Markttor (gotisch, 1314)
Gotischer Speicher
Fragmente der gotischen Bauten des Schlossvorhofs und der Stadtmauer (beide 13. Jahrhundert)
ehemaliges Gymnasium (1599, 1808/09 umgebaut), heute Archäologisches Museum, vorher zum Brigittenkloster
Denkmal für die Opfer des antikommunistischen Aufstands von 1970
Kirchen
Kathedrale St. Nikolai (gotisch, 13.–15. Jahrhundert, umgebaut im 18. Jahrhundert; Bild s. o.)
ehemalige Marienkirche (13. bis 16. Jahrhundert), wiederaufgebaut 1960 bis 1982, seit dem 21. Jahrhundert Kunstgalerie Galeria EL, gehörte zum Dominikanerkloster
Kirche Zum heiligen Leichnam (gotisch, um 1400), Zentrum der christlichen Kultur
Kirche Zum Heiligen Geist, mit Hospital (gotisch, 14. Jahrhundert), als Stadtbibliothek genutzt
Ehemalige Mennonitenkirche (1590), Kunstgalerie
Dorotheenkirche, Fachwerkbau, um 1705, Barock
Kirche Zum Guten Hirten
Kirche der Baptistengemeinde Elbląg
Unweit der Stadt
Schlosshotel Cadinen, polnisch Kadyny bei Tolkemit, bis 1945, seit 1899 Besitz des preußischen Königshauses. Hier verbrachte der Kaiserenkel und spätere Chef des Hauses Hohenzollern, Prinz Louis Ferdinand von Preußen die Kriegsjahre zusammen mit seiner Familie. Die vom letzten Kaiser Wilhelm II. gegründete Majolikamanufaktur ist wieder in Betrieb.
Truso am Draussensee, Siedlung aus dem 8./9. Jahrhundert (Nachbau)
Verkehr und Wirtschaft
Straßenverkehr
Bis 1945 führte die Reichsstraße 1 durch die Stadt, auf deren Trasse heute die Droga krajowa 22, die Droga wojewódzka 500 und die Droga wojewódzka 504 angelegt sind.
Elbląg liegt an den Droga krajowa 7 (ehemalige deutsche Reichsstraße 130) (Danzig–Warschau) und 22 (ehemalige Reichsstraße 1) nach Gorzów Wielkopolski (Landsberg an der Warthe) bzw. Kaliningrad (Königsberg (Preußen)).
Schienenverkehr
Elbląg besitzt einen Bahnhof an der Strecke Bahnstrecke Malbork–Braniewo (Marienburg–Braunsberg), der ehemaligen Preußischen Ostbahn. In Elbląg beginnt die größtenteils stillgelegte Bahnstrecke Elbląg–Braniewo, die frühere Haffuferbahn, und die schon seit 1945 stillgelegte Bahnstrecke Elbing–Miswalde.
In der Stadt verkehrt auf fünf Linien die Straßenbahn Elbląg.
Luftverkehr
Der Flughafen Elbląg ist ein Verkehrslandeplatz im Stadtteil Nowe Pole (Neustädterfeld). Der nächste internationale Flughafen ist der Lech-Wałęsa-Flughafen Danzig.
Schiffsverkehr
Für den Schiffsverkehr wurde im Juni 2006 ein neuer Seehafen am Fluss Elbląg in Betrieb genommen, in dem jährlich bis zu 750.000 Tonnen Güter umgeschlagen werden können. Der Hafen ist auch für den Personen- und Autofährverkehr auf der Ostsee vorgesehen. Des Weiteren wurde der Jachthafen modernisiert. Elbląg verfügte jedoch über keinen freien Zugang zur Ostsee, weil der traditionelle Schifffahrtsweg über das Frische Haff (polnisch Zalew Wislany, russisch Kaliningradski Zaliw) und das Pillauer Tief durch russische Hoheitsgewässer (Oblast Kaliningrad) führte. Zwischen Mai 2006 und Anfang 2011 war dieser Weg von russischer Seite für den internationalen Verkehr gesperrt. Um derartigen Sperren zukünftig aus dem Weg zu gehen, errichtete Polen einen Kanal durch die Frische Nehrung, der am 17. September 2022, dem 83. Jahrestag der Sowjetischen Besetzung Ostpolens, eröffnet wurde.
Industrie
Die ehemaligen Schichau-Werke wurden 1945 in ELZAM umbenannt und gehören seit 1990 zum Asea-Brown-Boveri-Konzern (dann Alstom, heute General Electric). Der Betrieb produziert Turbinen und Elektromotoren. Die Brauerei Elbrewery (Marke EB) ist der zweitgrößte Arbeitgeber der Stadt. Außerdem besitzt die Stadt bedeutende Transportmittelfabriken, eine Schiffswerft, und es haben sich Milch-, Fleisch-, Leder-, Textil- und Möbelindustrie angesiedelt.
Kunst im öffentlichen Raum
Bewohner und Besucher der Stadt treffen an Straßen und Plätzen auf Skulpturen polnischer und internationaler Künstler und Künstlerinnen. Seit 1965 die erste Biennale der Räumlichen Formen stattfand, sind zahlreiche bleibende Werke entstanden, die das Stadtbild von Elbląg mitprägen.
Prominenteste Teilnehmerin der ersten Biennale war Magdalena Abakanowicz mit der Stahlplastik Standing Shape. 1973 fanden die Ausstellungen erst einmal ein Ende. Seit 1986 gibt es sie wieder.
Eine wichtige Rolle bei der Durchführung der Biennale spielt die Galeria-EL (Pani Marii), die sich in dem Gebäude der ehemaligen St. Marien-Kirche, der ältesten Kirche Elbings, befindet. Diese entstand im 13. Jahrhundert als Kirchengebäude des Dominikaner-Ordens. Bis 1945 evangelische Kirche, wurde sie nach 1945 nicht mehr als Kirche genutzt. Die Stadtverwaltung hat hier eine Kunstgalerie eingerichtet, in der Bilder und Skulpturen zeitgenössischer Künstler gezeigt werden, die neben erhaltenen Grabplatten und Grabinschriften der Marienkirche ausgestellt sind und an die Verdienste ehemaliger Adels- und Kaufmannsfamilien, Stadtpatrizier und Geistlicher erinnern.
Bildung und Sport
In Elbląg wirken folgende Lehranstalten (Stand in den 2010er Jahren):
Staatliche Fachhochschule zu Elbląg (Państwowa Wyższa Szkoła Zawodowa w Elblągu) mit den Fachbereichen Wirtschaftswissenschaften, Anwendungsorientierte Informatik, Bildungswissenschaften und moderne Sprachen sowie Technische Wissenschaften. Im Ranking der überregionalen Tageszeitung Rzeczpospolita ist sie eine der besten Fachhochschulen des Landes (2005: erster Platz, 2006: dritter Platz).
Höheres Priesterseminar
Hochschule für Geistes- und Wirtschaftswissenschaften (EUHE)
Zweigstelle der Warschauer Bogdan-Jański-Hochschule für Wirtschaftswissenschaften
Der Fußballverein Olimpia Elbląg spielt in der zweiten polnischen Liga.
Persönlichkeiten
Ehrenbürger
1800–1945
Edward Carstenn (1886–1957), deutscher Gymnasiallehrer, Regionalhistoriker und Hochschullehrer
Adolf Ernst von Ernsthausen (1827–1894), deutscher Verwaltungsjurist und Politiker
Ferdinand Schichau (1814–1896), deutscher Maschinenbau-Ingenieur, Unternehmer
Georg Steenke (1801–1884), deutscher Wasserbauingenieur und preußischer Baubeamter
Max Toeppen (1822–1893), deutscher Gymnasiallehrer
Seit 1946
Marian Biskup (1922–2012), polnischer Historiker
Gerhard Jürgen Blum-Kwiatkowski (1930–2015), deutsch-polnischer Künstler
Henryk Iwaniec (* 1947), polnisch-US-amerikanischer Mathematiker
Johannes Paul II. (1920–2005), Papst
Lech Wałęsa (* 1943), polnischer Politiker und Friedensnobelpreisträger
Landgemeinde
Die Stadt ist Verwaltungssitz der gleichnamigen Landgemeinde Elbląg, gehört ihr aber als eigenständige Stadtgemeinde nicht an. Die Landgemeinde Elbląg ist Teil des Powiat Elbląski (Kreis Elbing) und bildet einen Gürtel um die kreisfreie Stadt Elbląg. Die Gemeinde zählt 7239 Einwohner (30. Juni 2014) auf einer Fläche von 191 km² und gliedert sich in 37 Ortschaften, davon 24 mit einem Schulzenamt.
Partnergemeinden der Gmina Elbląg sind Barßel in Niedersachsen seit 2001 sowie Chechelnyk in der Ukraine seit 2004.
Siehe auch
Próchnik, Dorf im Stadtgebiet Elbląg
Elbinger Rechtsbuch, ein in der Stadt gefundenes mittelalterliches Rechtsbuch
Literatur
In der Reihenfolge des Erscheinens
Theodor Lockemann (Bearb.): Elbing. Deutscher Architektur- und Industrie-Verlag (DARI), Berlin-Halensee 1926 (Deutschlands Städtebau; Digitalisat).
Edward Carstenn: Geschichte der Hansestadt Elbing. 2. Auflage. Verlag von Leon Sauniers Buchhandlung, Elbing 1937.
Kurt Dieckert, Horst Grossmann: Der Kampf um Ostpreussen. München 1960, ISBN 3-87943-436-0, S. 105–109.
750 Jahre Elbing. Ordens- und Hansestadt – Industrie- und Hochschulstadt. Schriftenreihe des Westpreußischen Landesmuseums 18 (1987) [Katalog zur Ausstellung 11.04.1987 – 20.09.1987].
Hans-Jürgen Schuch: Elbing. Aus 750 Jahren Geschichte der Ordens-, Hanse- und Industriestadt. Westkreuz-Verlag, Berlin / Bonn / Bad Münstereifel u. a. 1989, ISBN 3-922131-65-4 (Ostdeutsche Städtebilder 5).
Bernhard Jähnig, Hans-Jürgen Schuch (Hrsg.): Elbing 1237–1987. Beiträge zum Elbing-Kolloquium im November 1987 in Berlin. Nicolaus-Copernicus Verlag, Münster 1991, ISBN 3-924238-14-6 (Quellen und Darstellungen zur Geschichte Westpreußens 25).
Historia Elbląga. 6 Bände. Gdańsk 1993–2006
Stanisław Gierszewski, Andrzej Groth (Hrsg.): Historia Elbląga. Bd. 1: do 1466r. Wydawnictwo Marpress, Gdańsk 1993, ISBN 83-85349-25-1.
Andrzej Groth (Hrsg.): Historia Elbląga. Bd. 2.1: 1466–1626. Wydawnictwo Marpress, Gdańsk 1996, ISBN 83-85349-67-7.
Krystyna Greczychom (Bearb.): Historia Elbląga. Bd. 6: Bibliografia Elbląga. Wydawnictwo Marpress, Gdańsk 2006, ISBN 83-89091-75-5.
Hans-Joachim Pfau: Elbing: Siegel, Wappen, Fahnen, 1999, ISBN 3-00-004958-4; Münzen und Medaillen, 2000, ISBN 3-00-005173-2; Harry Schultz, Band 1 + 2, 2003 / 2005, ISBN 3-00-012538-8, ISBN 3-00-016136-8.
Matthias Blazek: „Wie bist du wunderschön!“ Westpreußen – Das Land an der unteren Weichsel. Stuttgart 2012, ISBN 978-3-8382-0357-7.
Fridrun Freise: Elbing. In: Wolfgang Adam, Siegrid Westphal (Hrsg.): Handbuch kultureller Zentren der Frühen Neuzeit, Bd. 1. Berlin 2012, S. 467–497.
Quellen
Edwin Volckmann: Die Originalurkunden des Elbinger Stadtarchivs. In: Einladung zu der öffentlichen Prüfung der Schüler des Gymnasiums zu Elbing. Elbing 1875, 1876 und 1880, Druck von J. Drægers Buchdruckerei (C. Feicht), Berlin.
Teil 1: 1242–1430, Elbing 1875, als Beilage zum Schulprogramm des Gymnasiums Elbing, 1874/75 ( Google Books).
Teil 2: 1431–1500, Elbing 1876, als Beilage zum Schulprogramm des Gymnasiums Elbing, 1875/76 ( Google Books).
Teil 3: 1501–1632, Elbing 1880, als Beilage zum Schulprogramm des Gymnasiums Elbing, 1879/80 ( Google Books).
Weblinks
Website der Stadt
hans-pfau-elbing.de Umfangreiche deutschsprachige Seite über Elbing und Umgebung
Bilder und Kurzgeschichte von Elbing als Stadt des Deutschen Ordens
Historische Aufnahmen
Kirchenbuch Filme seit 1577 der Einwohner Elbings
Bericht von der Vertreibung und Flucht nach dem Zweiten Weltkrieg
Einzelnachweise
Gegründet 1237
Hansestadt
Ort mit Seehafen
Ort der Woiwodschaft Ermland-Masuren
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Q104712
| 93.413244 |
1177548
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https://de.wikipedia.org/wiki/Entwicklungs%C3%B6konomie
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Entwicklungsökonomie
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Entwicklungsökonomie oder Entwicklungsökonomik bezeichnet jenen Teil der Volkswirtschaftslehre, der sich mit Entwicklungsunterschieden einzelner Volkswirtschaften beschäftigt. Das Hauptaugenmerk liegt dabei auf Entwicklungsländern, wirtschaftlichen Gründen für ihre Unterentwicklung (Entwicklungstheorie) und Empfehlungen für eine Entwicklungspolitik.
Grundlegendes
Die heutige Definition von Entwicklung rückt i. d. R. von reinen wirtschaftlichen Kennzahlen (wie bspw. Volkseinkommen, Wachstum, Verteilung) ab und berücksichtigt auch sozio-ökonomische Faktoren, wie Analphabetenquote, Kindersterblichkeit und Bildungsgrad.
Bei den Ursachen wirtschaftlicher Unterentwicklung wird zwischen endogenen (im Land selbst liegenden) und exogenen (von außen bestimmten) Gründen unterschieden.
Entwicklungsökonomie umfasst sowohl eine makroökonomische als auch eine mikroökonomische Betrachtung. Während sich die makroökonomische Sicht mit langfristigem Wirtschaftswachstum und strukturellen Veränderungen im Wachstumsprozess beschäftigt, behandelt die mikroökonomische Sicht Anreizprobleme auf der Ebene einzelner Haushalte und Unternehmen.
Entwicklungsökonomie beschäftigt sich auch mit institutionellen Fragestellungen, wie der nach den Funktionen der Weltbank und des IWF (Internationaler Währungsfonds). Ein besonderes Thema sind Gescheiterte Staaten (failed states), die Ursachen für deren Scheitern und Ansätze zur Überwindung dieser Situation.
Elemente der Entwicklungsökonomik
Wichtige Vertreter
Wichtige Vertreter, geordnet nach dem Erscheinungsjahr ihres wichtigsten Beitrages zur Entwicklungsökonomie, sind:
Paul Rosenstein-Rodan (1902–1985): Seine Studie Problems of the Industrialisation of Eastern and South-Eastern Europe von 1943 war nach Ansicht des Entwicklungsökonomen Hans-Heinrich Bass das „wohl erste Werk der Subdisziplin der Entwicklungsökonomie überhaupt“. Rosenstein-Rodan vertrat die These, dass die unkoordinierten privaten Sektoren durch die Aufgabe der Stimulierung des Wachstums überfordert sei. Die notwendige Komplementarität der Entwicklung von Industrien und die Möglichkeit von Skalenerträgen eine Entwicklungsstrategie erfordere eine staatsinduzierte, großangelegte Industrialisierung (big push in Rosenstein-Rodans Diktion von 1957) erforderten, verbunden mit langfristig orientierter staatlicher Planung. Rosenstein-Rodan war daher auch ein Vertreter der entwicklungsökonomischen Strategie des gleichgewichtigen Wachstums (Balanced Growth).
Raúl Prebisch (1901–1986): Die von dem Argentinier Prebisch in den Jahren 1949 (spanisch) und 1950 (englisch) veröffentlichte Schrift The Economic Development of Latin America and its Principal Problems (sowie Hans Singers für die UN verfasste Schrift Postwar Price Relation Between Underdeveloped and Industrialized Countries, 1949) argumentierte, dass es im Welthandel zu einer säkularen Verschlechterung der Terms of Trade der Entwicklungsländer komme (Prebisch-Singer-These).
Ragnar Nurkse (1907–1959): Seine Schrift Problems of Capital Formation in Underdeveloped Countries von 1953 stellte das Konzept des Teufelskreises der Armut als Ursache wirtschaftlicher Rückständigkeit in den Mittelpunkt der Analyse. Zur Überwindung der strukturellen Armut argumentierte Nurkse ebenfalls für die Konzepte der Big-Push Industrialisierung und des gleichgewichtigen Wachstums (Balanced Growth).
Sir William Arthur Lewis (1915–1991): Der Brite beschrieb in einem 1954 erschienenen Artikel, Economic Development with Unlimited Supplies of Labour modellhaft eine duale Wirtschaft. Er verwies auf die Dualität des Marktes in Entwicklungsländern zwischen einem traditionellen Agrarsektor und einem modernen Industriesektor (Lewis-Modell). Lewis erhielt den Alfred-Nobel-Gedächtnispreis für Wirtschaftswissenschaften.
Walt Whitman Rostow (1916–2003): Der US-amerikanische Ökonom lieferte mit dem Buch The Stages of Economic Growth: A Noncommunist Manifesto von 1960 einen Beitrag zur Modernisierungstheorie.
Zeitgenössische Vertreter der Entwicklungsökonomie sind (in alphabetischer Reihenfolge):
Irma Adelman (1930–2017), Professorin am Department of Agricultural and Resource Economics der University of California, Berkeley, entwickelte 1984 in ihrem Aufsatz Beyond Export-Led Growth die Strategie einer von der Nachfrage der Landwirtschaft getragenen (nachholenden) Industrialisierung (agricultural-demand led industrialization).
Daron Acemoğlu, Professor für angewandte Ökonomik am Massachusetts Institute of Technology, verweist auf schlechte institutionelle Rahmenbedingungen als einen Hauptgrund für die Unterschiede im Grad der wirtschaftlichen Entwicklung zwischen verschiedenen ehemaligen Kolonien (vgl. The colonial origins of comparative development).
Abhjit Banerjee, indischer Ökonom am Massachusetts Institute of Technology, Empfänger des Alfred-Nobel-Gedächtnispreis für Wirtschaftswissenschaften 2019 zusammen mit seiner Ehefrau Esther Duflo und Michael Kremer.
Kaushik Basu, indischer Ökonom an der Cornell University und Herausgeber des Oxford companion to economics in India, beklagt unter anderem den Rückzug der Demokratie als Folge der Globalisierung.
Esther Duflo, Abdul Latif Jameel Professorin für Entwicklungsökonomik am Massachusetts Institute of Technology und Co-Direktorin des Abdul Latif Jameel Poverty Lab (J-PAL), Empfängerin des Alfred-Nobel-Gedächtnispreis für Wirtschaftswissenschaften 2019 zusammen mit ihrem Ehemann Abhjit Banerjee und Michael Kremer.
Chang Ha-joon, Südkoreaner, seit 2005 als Reader in the Political Economy of Developmentan der Universität Cambridge, veröffentlichte verschiedene Bücher zur Entwicklungspolitik, darunter: Kicking away the ladder. Policies and institutions for economic development in historical perspective (2002), das 2005 den Gunnar-Myrdal-Preis erhielt. Er vertritt die These, dass für begrenzte Zeit zum Schutz der Entwicklung eines unterentwickelten Landes auch protektionistische Maßnahmen gerechtfertigt sein können.
Robert Kappel (geb. 1946), ehemaliger Präsident des German Institute of Global and Area Studies, Leibniz-Institut für Globale und Regionale Studien (GIGA), beschäftigte sich mit den Wachstumsbedingungen für kleine und mittelgroße Unternehmen (KMU) in Entwicklungsländern.
Dani Rodrik, türkischer Ökonom und Professor an der Harvard-Universität ist ein prominenter Kritiker des Freihandels. In seinem Buch „Das Globalisierungs-Paradox“ (2011) postuliert er, dass Freihandel, Demokratie und Nationalstaatlichkeit miteinander unvereinbar seien – man müsse sich gegen eines der drei entscheiden.
Jeffrey D. Sachs, US-amerikanischer Ökonom und seit 2002 Sonderberater der Millennium Development Goals, engagiert sich für weitgehenden Schuldenerlass für extrem arme Staaten und im Kampf gegen Krankheiten, insbesondere HIV/AIDS in Entwicklungsländern.
Amartya Sen (geb. 1933), indischer Wirtschaftswissenschaftler und Wirtschaftsphilosoph, Professor der Wirtschaftswissenschaften an der Harvard University, Alfred-Nobel-Gedächtnispreis für Wirtschaftswissenschaften, befasst sich mit der Problematik der Armut und Fragen der Wohlfahrtsökonomie. Er war maßgeblich an der Entwicklung des Index der menschlichen Entwicklung und verwandter Indikatoren beteiligt. Sein Werk „Poverty and Famines. An Essay on Entitlement and Deprivation“ erschien 1982. Sen wurde mit dem Buch Ökonomie für den Menschen. Wege zu Gerechtigkeit und Solidarität in der Marktwirtschaft, in dem er das Konzept des Capability Approaches (der Verwirklichungschancen) allgemeinverständlich darlegt, auch einem breiteren Publikum bekannt.
Hernando de Soto (geb. 1941), peruanischer Ökonom, setzt sich vor allem mit Fragen des informellen Wirtschaftssektors auseinander. Sein wichtigstes Werk ist 1986 unter dem Titel El otro sendero erschienen.
Paul Collier, Professor für Ökonomie und Direktor des Zentrums für afrikanische Ökonomien an der Universität Oxford, davor Leiter der Forschungsabteilung der Weltbank, schrieb das Buch: Die unterste Milliarde. Warum die ärmsten Länder scheitern und was man dagegen tun kann (Bundeszentrale für Politische Bildung, Bonn 2008).
Joseph E. Stiglitz, US-amerikanischer Wirtschaftswissenschaftler, Alfred-Nobel-Gedächtnispreis für Wirtschaftswissenschaften, setzt sich in verschiedenen Schriften, darunter: Die Schatten der Globalisierung und Die Chancen der Globalisierung mit den Problemen der Globalisierung auseinander und fordert einen globalen Gesellschaftsvertrag.
Erik Thorbecke (geb. 1929), Entwickler der Sozialrechnungsmatrix und der Foster-Greer-Thorbecke-Indizes zur Messung von regionaler Armut und regional ungleicher Einkommensverteilung
Michael Todaro (geb. 1942), US-amerikanischer Wirtschaftswissenschaftler, Autor des wohl meistgenutzten Lehrbuches der Entwicklungsökonomie (Economic Development), erforschte insbesondere die Ursachen der Migration, die er in einem dynamischen Modell (Harris-Todaro-Modell) formuliert.
Karl Wohlmuth (geb. 1942), österreichischer Wirtschaftswissenschaftler, beschäftigte sich mit den Bedingungen für Innovationen im Prozess der nachholenden wirtschaftlichen Entwicklung.
Vorläufer
Als frühester Vorläufer der Entwicklungsökonomie kann der Merkantilismus des 17. Jahrhunderts angesehen werden, der Wachstum und nationalen Wohlstand mit der Steigerung des Außenhandelsüberschusses verknüpft, welcher durch Protektionismus gefördert werden sollte. Allerdings wurden hier die Kolonien nur als Rohstoffquellen und Absatzmärkte für Fertigwaren des Mutterlandes betrachtet. Alexander Hamilton kritisierte als erster den Protektionismus als Entwicklungshemmnis jeglicher Industrialisierung. In der Folge galt für den Mainstream der Ökonomen der Freihandel als Garant der Entwicklung. Als Vorläufer der Entwicklungsökonomie im engeren Sinne kann Colin Clark angesehen werden, der vorschlug, das Volkseinkommen als Indikator und Basis für internationale Vergleiche zu nutzen. Er entwickelte das Konzept des Wirtschaftswachstums, gemessen an der Wachstumsrate des Volkseinkommens. Das Problem der Entwicklung schwach entwickelter Länder und Regionen trat erst nach 1945 in den Fokus der Ökonomie.
Siehe auch
Entwicklungssoziologie
Angepasste Technologie
Strukturalismus (Wirtschaftstheorie)
Neostrukturalismus (Wirtschaftstheorie)
Literatur
Isabel Günther, Kenneth Harttgen, Katharina Michaelowa: Einführung in die Entwicklungsökonomik. (= utb; 5120) UVK Verlag, München [2021], ISBN 978-3-8252-5120-8.
Alain de Janvry, Elisabeth Sadoulet: Development Economics: Theory and practice. Routledge, 2015.
Michael Todaro, Stephen C Smith: Economic Development. The Pearson Series in Economics, 2014 (Testbook).
Vandana Desai, Robert B. Potter (Hrsg.): The Companion to Development Studies. 3. Auflage, Routledge, 2014.
Rainer Durth, Heiko Körner, Katharina Michaelowa: Neue Entwicklungsökonomik. (= utb; 2306) Lucius & Lucius, Stuttgart 2002, ISBN 3-8252-2306-X.
Hendrik Hansen: Politik und wirtschaftlicher Wettbewerb in der Globalisierung: Kritik der Paradigmendiskussion in der Internationalen politischen Ökonomie. VS Verlag, Wiesbaden 2008, ISBN 978-3-531-15722-1.
Hans-Rimbert Hemmer: Wirtschaftsprobleme der Entwicklungsländer. 3., neubearb. und erw. Aufl., Vahlen, München 2002, ISBN 3-8006-2836-8.
Nicolaus von der Goltz, Alexander Brand: Herausforderung Entwicklung. LIT, Münster 2004, ISBN 3-8258-7782-5.
Amartya Sen: Ökonomie für den Menschen. dtv, München 2002, ISBN 3-423-36264-2.
Einzelnachweise
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Q1127188
| 144.639148 |
115513
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https://de.wikipedia.org/wiki/Infinitiv
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Infinitiv
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Infinitiv ( zu lat. infinitum, wörtl. „das Unbegrenzte“, gemeint: „das Unbestimmte“) ist der Name für eine Verbform, in der (normalerweise) Personalformen des Verbs (Person und Numerus) sowie Modus nicht ausgedrückt werden. Infinitive tragen meist auch keine Tempusformen, es gibt beim deutschen Infinitiv aber zusammengesetzte Formen, die Zeitverhältnisse ausdrücken („gesehen zu haben“). Die Aktiv-Passiv-Unterscheidung (und andere Diathesen) existieren regulär genauso im Infinitiv („gesehen zu werden“).
Es gibt einige Infinite Verbformen, die nicht unter die Bezeichnung „Infinitiv“ fallen, vor allem der Inflektiv sowie teilweise auch Partizipien. Allerdings werden Partizip-Formen in deutschen Hilfsverbkonstruktionen (etwa: „ich habe geschlafen“) teilweise auch als „dritter Status des Infinitivs“ bezeichnet (Partizipien, die nicht als Infinitive gelten, sind dann die adjektivisch gebrauchten Partizipien).
Im Deutschen und in vielen anderen Sprachen wird der Infinitiv als Nennform (Zitierform) eines Verbs verwendet; dies ist jedoch nicht in allen Sprachen so. Eine Reihe von Sprachen haben beispielsweise gar keinen Infinitiv, andere Sprachen verfügen zwar über einen Infinitiv, dieser wird aber nicht als Zitierform gebraucht.
Der Infinitiv im Deutschen
Infinitive erscheinen im Deutschen:
in Verbindung mit infinitivregierenden Verben (Beispiel: Sie muss bleiben. Er scheint zu schlafen.)
in nebensatzwertigen Infinitivphrasen (Beispiel: Lange Texte zu lesen, fällt ihm schwer.)
in hauptsatzwertigen Infinitivphrasen (Beispiel: Nicht aus dem Fenster lehnen!)
Formen
Der Infinitiv ist im Deutschen an der Endung -en zu erkennen (seltener: -n, -n von Verben wie ruder-n oder segel-n, die ursprünglich auf -elen oder -eren endeten; auch bei tun, von ursprünglich tuen, und sein):
Der Zeuge will aussagen (Infinitiv Präsens Aktiv).
Man kann den Infinitiv auch in der Zeitform des Perfekt bilden:
Der Zeuge will die Tat beobachtet haben (Infinitiv Perfekt Aktiv).
Für beide Zeitformen kann man auch einen Infinitiv im Passiv bilden:
Der Täter möchte bei der Tat nicht entdeckt werden (Infinitiv Präsens Passiv).
Der Zeuge könnte zur Aussage genötigt worden sein (Infinitiv Perfekt Passiv).
Nebensatzwertige Infinitivphrasen
Infinitive können auch mit zu gebildet werden. Wenn außer dem Infinitiv und zu noch ein weiteres Wort zur Infinitivgruppe gehört, spricht man traditionell von einem „erweiterten Infinitiv“. Ein Infinitiv mit zu, der nachgestellt auftritt, hat immer den Status eines eigenen Nebensatzes (was für andere Konstruktionstypen mit Infinitiven nicht unbedingt gilt; näheres siehe unter Kohärente Konstruktion).
Der Zeuge wünscht auszusagen (Präsens Aktiv).
Er kommt, um auszusagen (Präsens Aktiv).
Der Zeuge behauptet, die Tat beobachtet zu haben (Perfekt Aktiv).
Der Täter hofft, bei der Tat nicht entdeckt zu werden (Präsens Passiv).
Der Zeuge bestätigt, zur Aussage genötigt worden zu sein (Perfekt Passiv).
Hauptsatzwertige Infinitivphrasen
Der „freie Infinitiv“ steht unabhängig von einem anderen Verb, vor allem bei Aufschriften und Anweisungen:
Packungsbeilage beachten!
Rechtschreibung
Infinitive werden – wie alle Verben – im Normalfall kleingeschrieben. Sie können jedoch auch substantivisch gebraucht werden und müssen dann großgeschrieben werden. Beispiele: „das Aussterben der Dinosaurier, zum Lachen sein, meines Erachtens, ohne Ansehen, viel Redens machen.“ Wenn die Substantivierung nicht eindeutig ist – eindeutig wird sie z. B. durch einen vorangestellten Artikel –, erlaubt der Duden sowohl Klein- als auch Großschreibung; seit der 25. Auflage empfiehlt er jedoch Großschreibung (Beispiel: „Irren ist menschlich“). Bei Infinitiven mit Reflexivpronomen (Beispiel: „sich regen bringt Segen“) liegt keine Substantivierung vor, sodass Kleinschreibung notwendig ist; bei der Substantivierung solcher Verben entfällt das Reflexivpronomen nämlich (sich regen → das Regen).
Übersichtliche zweiteilige Infinitivkomposita werden zusammengeschrieben (Beispiele: das Autofahren, das Anderssein). Durchkopplung, d. h. Getrenntschreibung mit Bindestrichen, wird erst bei unübersichtlichen Komposita (das Püree-Essen) sowie bei Komposita mit mehr als zwei Bestandteilen erforderlich (das In-den-Tag-hinein-Leben).
Der Infinitiv in anderen Sprachen
Die meisten Infinitivformen haben keine Merkmale für Person und Numerus. Eine Ausnahme bildet die portugiesische Sprache, die einen „persönlichen Infinitiv“ kennt (infinitivo pessoal).
In indogermanischen Sprachen
Der Infinitiv kommt in vielen indogermanischen Sprachen vor, hat aber in den verschiedenen Sprachgruppen unterschiedliche Endungen.
Lateinisch
Präsens/Aktiv: clamare (rufen/schreien), vidēre (sehen), audire (hören), agĕre (handeln), venire (kommen)
Präsens/Passiv: clamari, videri, audiri, agi
Perfekt/Aktiv: clamavisse, vidisse, adivisse, egisse
Perfekt/Passiv: clamatum esse, visum esse, auditum esse, actum esse (mit Partizip Perfekt Passiv, deklinierbar)
Futur/Aktiv: clamaturum esse, visurum esse, auditurum esse, acturum esse
Futur/Passiv: clamatum iri, visum iri, auditum iri, actum iri (mit Supinum, nicht deklinierbar)
Spanisch: -ar, -er, -ir
cantar (singen), beber (trinken), vivir (leben)
Portugiesisch: -ar, -er, -ir
falar (sprechen), vender (verkaufen), partir (weggehen)
Ausnahme: pôr (setzen, stellen, legen)
Französisch: -er, -dre, -oir, -ir, -re
donner (geben), prendre (nehmen), savoir (wissen), finir (beenden), vivre (leben)
Ausnahme: boire (trinken)
Englisch: mit Infinitivmarker „to“ (fehlt beim bare infinitive)
to go (gehen), to sleep (schlafen), to sing (singen)
Italienisch: -are, -ere, -ire
cantare (singen), vedere (sehen), partire (abfahren)
Hindi: endet immer auf -ना /naˑ/
होना /ɦoːnaˑ/ (sein, werden), बेचना /beːt͡ɕ(ə)naˑ/ (verkaufen), ख़रीदना /xəriːd̪(ə)naˑ/ (kaufen)
Rumänisch: mit Infinitivmarker „a“
a auzi (hören), a face (machen/tun), a vrea (wollen)
Russisch: endet immer auf -ть, -ти oder -чь
жить (leben), писать (schreiben), любить (lieben), идти (gehen), нести (tragen), печь (backen), мочь (können)
Lettisch: endet auf -t oder -ties
būt (sein), nākt (kommen), mācīties (lernen)
Hierbei ist die Endung -ties bei reflexiven Verben zu finden.
Armenisch: endet auf -ալ oder -ել: կարդալ (lesen), գրել (schreiben)
Sanskrit: endet auf -tum
dātum (geben), bhávitum (sein)
Diese Endung ist der Akkusativ von -tu und entspricht dem Supinum im Latein und in Baltischen sowie Slawischen Sprachen.
Im älteren Vedischen kamen noch weitere Endungen vor, wobei deren Häufigkeit variieren konnte:
-e (z. B. dṙśé "sehen"),
-ase (Dativ von -as, z. B. áyase "gehen"),
-mane (Dativ von -man, z. B. dāmane "geben"),
-vane (Dativ von -van, z. B. dāváne "geben")
-taye (Dativ von -ti, z. B. sātáye "gewinnen")
-tave (Dativ von -tu, z. B. étave "gehen")
-sani (Lokativ von -san, z. B. neṣáṇi "führen")
Hierbei waren die Endungen mit Dativ am häufigsten.
In finnougrischen Sprachen
Finnisch: Jedes Verb bildet fünf Infinitive, die jeweils nur in bestimmten Kontexten verwendet werden können und nur in bestimmten Kasusformen oder Konstruktionen (teilweise in Verbindung mit den Possessivsuffixen zur Kennzeichnung der handelnden Person) auftreten.
Infinitiv I oder A-Infinitiv: laulaa (singen), laulaakseni [-si, -nsa …]
Infinitiv II oder E-Infinitiv: laulaessa, laulettaessa, laulaen
Infinitiv III oder MA-Infinitiv: laulamassa, laulamasta, laulamaan, laulamalla, laulamatta, laulaman, laulettaman
Infinitiv IV oder MINEN-Infinitiv: laulaminen, laulamista
Infinitiv V oder MAISILLA-Infinitiv: laulamaisillani [-si, -nsa …]
Estnisch: Jedes Verb bildet zwei Infinitive, und zwar auf -da (selten -ta oder -a) oder -ma, wobei sich beide in der Anwendung im Satz unterscheiden.
lugema – lugeda (lesen), ostma – osta (kaufen)
Ungarisch: immer auf -ni
menni (gehen), futni (rennen)
In Turksprachen
Türkisch: endet immer auf -mak oder -mek
gülmek (lachen), gelmek (kommen), bakmak (gucken), oynamak (spielen)
In Plansprachen
Esperanto: endet immer auf -i
iri (gehen), labori (arbeiten), vidi (sehen), kompreni (verstehen)
Volapük: endet immer auf -ön
stopön (anhalten), klotön (ankleiden), dolön (schmerzen)
Siehe auch
Kommaregeln der deutschen Sprache (Stand von 2006)#Infinitivgruppe
Konjugation (Grammatik)
Weblinks
Deutsche Verbtabellen Verbtabellen der gebräuchlichsten deutschen Wörter
Einzelnachweise
Wortform
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Q179230
| 211.012795 |
46112
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https://de.wikipedia.org/wiki/Ethnographie
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Ethnographie
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Ethnographie oder Ethnografie ( „Menge, Volk“ und -graphie, sinngemäß „Völkerbeschreibung“) ist eine Methode der Ethnologie (Völkerkunde) und übergeordnet der Anthropologie (Menschenkunde). Als systematische Beschreibung der mittels Feldforschung vor Ort gewonnenen Erkenntnisse können auch Eindrücke aus der teilnehmenden Beobachtung schriftlich festgehalten werden.
Eine Ethnographie versucht das Zusammenleben, die soziale und politische Organisation und die kulturellen Ausprägungen einer abgegrenzten Gesellschaft aus der Sichtweise ihrer Angehörigen zu beschreiben und zu verstehen. Allgemein ist heute jedoch umstritten, inwieweit dies grundsätzlich möglich ist. So weist beispielsweise der Ethnologe Clifford Geertz 1988 in seinem Buch Die künstlichen Wilden darauf hin, dass es keine objektive Ethnographie gebe und Ethnographen durch die Abbildung einer fremden Welt zugleich eine Fiktion schaffen.
Unabhängig von der Ethnologie hat auch die Soziologie ab den 1920er Jahren ethnographische Methoden entwickelt, die im Unterschied zur Völkerkunde in der eigenen Gesellschaft durchgeführt werden. Ethnographische Forschung ist daher nicht auf außereuropäische Gesellschaften beschränkt und betrachtet nicht nur einzelne ethnische Gruppen oder indigene Völker. Auch kleinere, multiethnische Gruppen, die Bewohner eines Stadtteils, die Belegschaft eines Büros, die Wissenschaftler in einem Labor oder einzelne Jugendgruppen können Gegenstand soziologischer Ethnographien sein (siehe auch Soziographien zur Beschreibung sozialer Tatbestände).
Der deutsche Soziologe Karl-Heinz Hillmann fasste 1994 zusammen: „Die Entwicklung der Ethnographie ist eng verbunden mit der Horizonterweiterung europäischer Sozialwissenschaften infolge immer neuer, geographischer Entdeckungen und Erkundungen durch kapitalistisch-koloniale Expansion und christliche Missionierung.“
Ethnographische Methoden
Über Reiseberichte (etwa von Georg Forster über die Südsee) bis hin zum Einsatz digitaler Medien gibt es verschiedene ethnographische Methoden der Datenerhebung (siehe auch visuelle Anthropologie), die bekanntesten sind:
ethnographische Fotografie
ethnographischer Film
ethnographisches Interview
ethnographische Beobachtung
Autoethnographie: Um kulturelle Erfahrungen zu verstehen, werden eigene persönliche Erfahrungen systematisch beschrieben und analysiert. Autoethnographie hat das Ziel, einen breiteren Blick auf die Welt zu ermöglichen und verzichtet auf Definitionen von „richtiger“ Forschung. Forschung wird in der Autoethnographie als politischer und sozialer Akt begriffen.
Multispezies-Ethnographie: Erweiterung der Ethnographie um Tiere und die belebte und unbelebte Natur
reflexive Fotografie: Interviewmethode unter Einsatz von Fotos
Videographie: Ethnographie mit bewegten Bildern, etwa Walking with Video von Sarah Pink
Netnographie: Internetstudien, vor allem in der Marktforschung
Die Anwendung der ethnographischen Methoden wird in der Literatur nicht einheitlich beschrieben. Allerdings lassen sich einige Gemeinsamkeiten ableiten, die keine Regeln sind, sondern Empfehlungen. Die Autoren Bloomberg, Mosher und Swenton-Hall haben 1993 vier grundlegende Prinzipien der ethnographischen Feldforschung ausgeführt:
Alltagsleben (natural settings): Die Feldforschung findet in der natürlichen Lebensumgebung statt – der Ethnograph betrachtet die Leute nicht losgelöst von ihrer natürlichen Umgebung, sondern sucht sie in ihrem alltäglichen Umfeld auf.
Ganzheitlichkeit (holism): Die Feldforschung gründet auf dem Prinzip der Ganzheitlichkeit. Einzelnes Verhalten muss in seinem jeweiligen Kontext verstanden werden – der Ethnograph versucht alle Faktoren, die das zu untersuchende Problem beeinflussen könnten in die Betrachtung mit einzubeziehen (Gegenstände, Personen, Handlungsabläufe).
Beschreibend (descriptive): Die ethnographische Forschung entwickelt beschreibendes Verständnis im Gegensatz zu verordnetem – der Ethnograph muss also stets objektiv sein (siehe auch dichte Beschreibung: theoretisches Konzept zum ethnologischen Verständnis einer Kultur).
Teilnehmende Beobachtung (member’s point-of-view): Die ethnographische Forschung basiert auf der Betrachtungsweise der Mitglieder – der Ethnograph muss sich in die zu betrachtende Gruppe integrieren, um die Welt mit den Augen der Gruppenmitglieder zu sehen (das persönliche Wertungsschema muss zur Seite gedrängt werden).
Anwendungsbereiche:
in der Softwareentwicklung zur Ermittlung von Anwenderbedürfnissen: Software-Ergonomen setzen ethnographische Methoden ein mit dem Ziel der Veränderung und Verbesserung von Computerunterstützung
in der Marktforschung zur Erschließung von detailliertem Konsumentenverhalten (Einfluss persönlicher Werte auf Markenloyalität, Einfluss des Lebensstils auf Konsumentenbedürfnisse), vor allem von marktpsychologisch orientierten Instituten angewendet (beispielsweise Sinus Sociovision, Spiegel-Institut)
in der Sozialpädagogik und bei Milieustudien zur Untersuchung von sozialen Gruppen und ihren Verhaltensmustern
in der Schulpädagogik und in den Fachdidaktiken zur Untersuchung des allgemeinen und fachspezifischen Lernverhaltens und des Wissenserwerbs
Ethnographische Museen
Schon in den Kunst- und Wunderkammern der Renaissancefürsten des 16. Jahrhunderts waren exotische Objekte beliebt, die durch die Fahrten der Entdecker, wie etwa John Tradescant der Jüngere, nach Europa gelangten. Seit dem 18. Jahrhundert wurden sie gezielt gesammelt, systematisiert und ausgestellt, zunehmend auch von Privaten. Dadurch stieg auch das Verständnis für ihre kulturelle Bedeutung. Erst seit den 1930er Jahren wuchs das Verständnis dafür, dass man sich allein durch Objektforschung einer Kultur nur unzureichend nähern konnte.
Viele der in der Zeit des Kolonialismus entstandenen Völkerkundemuseen nennen sich „Ethnographisches Museum“ oder haben eine „ethnographische Sammlung“ von Objekten fremder Völkern, die – früher ergänzt durch Dioramen des Alltagslebens, heute ergänzt durch authentischere Audio- und Videoaufzeichnungen – einen Einblick auch in die immaterielle Kultur und das Verhalten geben (siehe Liste von Museen für Völkerkunde).
Geschichte der Ethnographie
Seit der Antike sind Aufzeichnungen über fremde Kulturen, im heutigen Sprachgebrauch Ethnographien (Völkerbeschreibungen) bekannt. Schon die Historien des altgriechischen Historikers Herodot aus dem 5. Jahrhundert v. Chr. über Libyen, Syrien, Babylonien, Makedonien und die Gebiete am Schwarzen Meer können als frühe ethnografische Texte angesehen, die neben den historischen Ereignissen vor der und aus der Zeit der Perserkriege die lokalen Gegebenheiten, Gesetze, Sozialsysteme, den Glauben und das Aussehen der Einwohner schildern, auch wenn er sich dabei oft auf zweifelhafte und oft mythische Quellen bezieht.
Methodisch anspruchsvoll und reflektiert ging zuerst Bernardino de Sahagún bei seiner Feldforschung 1558–1575 über die untergehende Kultur, Sprache und Religion der Azteken vor, auch wenn seine Arbeit vor allem der Missionierung diente. Sein Codex Florentinus gilt als wegweisend für die spätere Ethnographie.
Ein Pionier der Ethnographie und der ethnologischen Forschung war im ersten Viertel des 17. Jahrhunderts der Arzt und Afrikareisende Samuel Braun. Die Ethnographie als eigenständige Wissenschaft entstand in der deutschen und russischen Aufklärung. Als Begründer der Ethnographie kann der Historiker Gerhard Friedrich Müller (1705–1783) betrachtet werden. Müller führte im Auftrag der russischen Zarin Katharina II. (1729–1796) als Teilnehmer an der Zweiten Kamtschatka-Expedition (1733–1743) historische, geographische, ethnographische und linguistische Forschungen in Sibirien durch. Er formulierte ein Programm zur Beschreibung der sibirischen Völker, das er 1740 als „Völker-Beschreibung“ bezeichnete. Müller setzte dieses Programm während der Expedition mit anderen in die Praxis um. Die von ihnen gesammelten Naturalien und Artefakte wurden in der (1714 in Sankt Petersburg gegründeten) Kaiserlichen Kunstkammer archiviert. Nach der Expedition berief Müller sich auf Joseph-François Lafitaus komparative Zielsetzung und entwickelte ein Programm für die „Beschreibung der sibirischen Völker“ mit dem Ziel, sie untereinander und mit Völkern anderer Weltteile zu vergleichen. Müller steht damit am Anfang einer neuen Tradition, der Ethnographie. Er sah diese Wissenschaft als eine eigene Disziplin neben seinen beiden Hauptfächern Geschichte und Geographie an. Das Wort ethnographia selbst scheint eine Wortschöpfung (1767) von Johann Friedrich Schöpperlin (1732–1772) zu sein.
Der Historiker August Ludwig Schlözer (1735–1809) formulierte 1771–1772 in Göttingen eine allgemeine „Völkerkunde“ und entwarf eine „ethnographische Methode“ der Geschichte. Göttingen hatte Verbindungen sowohl mit Russland und Osteuropa als auch mit England und wurde u. a. durch die sammlerischen Aktivitäten Johann Friedrich Blumenbachs zum Ausstrahlungszentrum der neuen Wissenschaft.
Die moderne Ethnographie hat mit der Völkerkunde der Kolonialzeit, die meist ganze Gruppen von Völkern betrachtete, nicht mehr viel gemein. Heute werden meist Kleingruppen, die oftmals Zweckgemeinschaften bilden, untersucht. Die Ethnographie wird dadurch zur deskriptiven Hilfswissenschaft der Soziologie und Kulturanthropologie. Auch werden viele ethnographische Studien aus ökonomischen Gründen betrieben, vor allem zur Produktivitätssteigerung, Produktverbesserung und -veränderung (siehe auch Industrieanthropologie und zu Marketingzwecken).
Von der Ethnographie unterscheidet sich die Ethnologie durch ihre stärker theoretische und generalistische Orientierung.
Siehe auch
Ethnographie des Sprechens (leitet soziale Organisationsstrukturen und Normen aus dem Sprachgebrauch ab)
Kulturvergleichende Sozialforschung (Kulturvergleiche)
Literatur
Clifford Geertz: Die künstlichen Wilden. Der Anthropologe als Schriftsteller. Fischer, Frankfurt 1993, ISBN 3-596-11279-6 (Original 1988: Works and Lives).
Arnold Groh: Research Methods in Indigenous Contexts. Springer, New York 2018, ISBN 978-3-319-72774-5.
Tim Ingold: Anthropology Is Not Ethnography. Radcliffe-Brown Lecture in Social Anthropology. In: Proceedings of the British Academy. Band 154. London 2008, S. 69–92 (zweiteilige Vorlesung).
Tim Ingold: That’s Enough about Ethnography! In: HAU. Journal of Ethnographic Theory. Band 4, Nr. 1, 2014, S. 383–395 .
Marcus Köhler: „Völker-Beschreibung“. Die ethnographische Methodik Georg Wilhelm Stellers (1709–1746) im Kontext der Herausbildung der „russischen“ ėtnografija. VDM, Saarbrücken 2008, ISBN 978-3-639-02427-2 (on demand).
Klaus E. Müller: Geschichte der antiken Ethnographie und ethnologischen Theoriebildung. 2 Bände. Wiesbaden 1972–1980.
Sarah Pink: Doing Visual Ethnography. Images, Media and Representation in Research. Sage, London 2006, ISBN 978-1-412-92348-4.
Han F. Vermeulen: Before Boas: The Genesis of Ethnography and Ethnology in the German Enlightenment. University of Nebraska Press, Lincoln/ London 2015, ISBN 978-0-8032-5542-5.
Michael Dellwing Michael und Robert Prus: Einführung in die interaktionistische Ethnografie. Soziologie im Außendienst. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2012, ISBN 978-3-531-94265-0
Klassische Ethnographien:
Edward E. Evans-Pritchard: Hexerei, Orakel und Magie bei den Zande. Suhrkamp, Frankfurt 1978, ISBN 3-518-06407-X (Original 1937: Witchcraft, Oracles, and Magic among the Azande).
Clifford Geertz: „Deep Play“. Bemerkungen zum balinesischen Hahnenkampf. In: Derselbe: Dichte Beschreibung. Suhrkamp, Frankfurt 1978, ISBN 3-518-28296-4, S. 202–260 (Original 1973: Thick Description. Toward an Interpretive Theory of Culture)
Edmund Leach: Political Systems of Highland Burma. Athlone, London 1970, ISBN 0-485-19644-1 (erstmals 1954).
Claude Lévi-Strauss: Traurige Tropen. Suhrkamp, Frankfurt 1978, ISBN 3-518-27840-1 (Original 1955: Tristes tropiques).
Bronisław Malinowski: Argonauten des westlichen Pazifik. Syndikat, Frankfurt 1979, ISBN 3-8108-0068-6 (Original 1922: Argonauts of the Western Pacific).
Bronisław Malinowski: Korallengärten und ihre Magie. Syndikat, Frankfurt 1981, ISBN 3-8108-0172-0 (Original 1935: Coral Gardens and Their Magic).
Margaret Mead: Jugend und Sexualität in primitiven Gesellschaften. Band 1: Kindheit und Jugend in Samoa. dtv, München 1970, ISBN 3-423-04032-7 (Original 1928: Coming of Age in Samoa)
L. Trüdinger: Studien zur Geschichte der griechisch-römischen Ethnographie. Basel 1918.
William Foote Whyte: Die Street Corner Society. Die Sozialstruktur eines Italienerviertels. Gruyter, Berlin, ISBN 3-11-012259-6 (Original 1943: Street Corner Society).
Weblinks
Gesellschaft für Ethnographie: Offizielle Website. Institut für Europäische Ethnologie, Universität Berlin (Ethnologie und Volkskunde).
Michael Fitzgerald: Ethnographen auf dem Vormarsch. In: Heise online. 17. November 2005 (Konzern-Ethnographie).
Einzelnachweise
Wissenschaftliche Methode
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Q132151
| 374.422691 |
30924
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https://de.wikipedia.org/wiki/Quant
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Quant
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In der Physik wird unter Quant (von ‚wie groß‘, ‚wie viel‘) ein Objekt verstanden, das durch einen Zustandswechsel in einem System mit diskreten Werten einer physikalischen Größe erzeugt wird. Quantisierte Größen werden im Rahmen der Quantenmechanik und davon inspirierten Teilgebieten der theoretischen Physik wie der Quantenelektrodynamik beschrieben. Quanten können immer nur in bestimmten Portionen dieser physikalischen Größe auftreten, sie sind mithin die Quantelung dieser Größen.
Der Begriff Quant
Oft wird mit dem physikalischen Begriff Quant ein Teilchencharakter der betrachteten Größe assoziiert. Dies ist jedoch nur ein Teil der eigentlichen Bedeutung des Begriffs. Ein Beispiel für ein Quant, dem man keinen Teilchencharakter zuschreiben kann, ist das Drehimpulsquant.
Als physikalischer Terminus wird Quant nicht zur Bezeichnung der elementaren Struktur der Materie verwendet, obwohl auch hier eine kleinste Mengeneinheit (Quantelung) auftritt.
Beispiele
Das Photon als Quant des elektromagnetischen Feldes. Photonen können zwar unterschiedliche diskrete Energieniveaus haben, aber nur als Ganzes erzeugt oder vernichtet werden.
Das Phonon als Quant mechanischer Verzerrungswellen im Festkörper.
Das Plasmon als Quant einer Anregung im Festkörper, bei der die Ladungsträger gegeneinander schwingen.
Das Magnon als Quant magnetischer Anregungen.
Das Quant des Drehimpulses, das nicht als Teilchen interpretiert wird.
Das Gluon als Quant des Kraftfeldes, welches die Starke Wechselwirkung überträgt.
Das Graviton als Quantelungsgröße des Schwerefeldes.
Literatur
Jürgen Audretsch: Verschränkte Welt Faszination der Quanten, Wiley-VCh, Weinheim 2002, ISBN 3-527-40318-3
Weblinks
Einführung in die Quantenphysik ohne Formeln
Experimente mit einzelnen Quanten (Photonen)
Quantenphysik
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Q46344
| 88.180699 |
749327
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https://de.wikipedia.org/wiki/Neoarchaikum
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Neoarchaikum
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Das Neoarchaikum ist ein geologisches Zeitalter. Es stellt innerhalb des erdgeschichtlichen Äons des Archaikums das letzte von vier Zeitaltern (Neoarchaikum = neues Archaikum) dar. Es beginnt vor etwa Millionen Jahren mit dem Ende des Mesoarchaikums und endet vor etwa Millionen Jahren mit dem Beginn des Paläoproterozoikums.
Charakterisierung
Neuere Forschungen deuten darauf hin, dass erstmals im Neoarchaikum die Voraussetzungen für das Entstehen höherer Gebirge gegeben waren. In den Zeitaltern davor war die kontinentale Lithosphäre aufgrund ihrer geringeren Viskosität (hohe Temperatur und zu geringe Dicke) für topographische Erhöhungen von mehr als 2.500 Metern noch nicht ausreichend tragfähig.
In das Neoarchaikum fällt ein in der Erdgeschichte einmaliger Puls magmatischer Aktivität, das so genannte Spätarchaische Superereignis. Es führte im Zeitraum 2700 bis 2500 Millionen Jahre BP zu einem enormen Krustenwachstum und wahrscheinlich zur Bildung eines oder mehrerer Superkontinente (Kenorland bzw. Superia und Sclavia). Maxima in den Zirkon altern und in der Häufigkeitsverteilung von Grünsteingürteln und mit ihnen assoziierten, orogenen Goldvorkommen unterstreichen die Bedeutung dieses Ereignisses.
Die letzte Phase des Neoarchaikums wird durch die weltweite Bildung von Bändererzen charakterisiert. Ein Großteil des in den Ozeanen gelösten Eisens wurde dadurch gefällt, so dass ab dem Paläoproterozoikum die Sauerstoffkonzentration im Meerwasser und schließlich auch in der Erdatmosphäre ansteigen konnte (siehe hierzu auch Große Sauerstoffkatastrophe).
Ereignisse
2960 bis 2760 Millionen Jahre BP:
Ausbruch der Blake River Megacaldera, eines Supervulkans in Ontario/Quebec (Superior-Kraton)
Um 2700 Millionen Jahre BP:
Insgesamt 15 Diamiktithorizonte belegen eine Vereisung in dem über 500 Meter mächtigen, rund 2700 Millionen Jahre alten Talya Conglomerate der Vanivilas-Formation im Süden Indiens. Eine zeitgleiche Vereisung wird auch direkt unterhalb des Intrusionsontaktes des Stillwater-Komplexes in Montana dokumentiert.
Zwischen 2530 und 2510 Millionen Jahre BP:
Eindringen des Closepet-Granits in den Peninsular Gneiss Complex (PGC) im Südindischen Dharwar-Kraton.
Um 2500 bis 2475 Millionen Jahren BP:
Eindringen des tholeiitische und komatiitische Mistassini-Gangschwarms in den Superior-Kraton.
2473 bis 2446 Millionen Jahre BP:
Matachewan-Gangschwarm im Superior-Kraton. Viermal so groß wie sein Vorgänger stellt er den ältesten, bekannten Superplume (Riesen-Manteldiapir) dar.
Um 2400 Millionen Jahre BP:
In Karelien entstand möglicherweise der bisher älteste bekannte Meteoritenkrater von Suavjärvi.
Stratigraphie
Bedeutende Sedimentbecken und geologische Formationen
Hamersley-Becken mit Hamersley Group in Westaustralien - 2715 bis etwa 2400 Millionen Jahre BP
Dharwar Supergroup im Süden Indiens:
Chitrapura Group – 2700 bis 2600 Millionen Jahre BP
Bababudan Group – 2910 bis 2700 Millionen Jahre BP
Yellowknife Supergroup in Kanada - 2700 bis 2600 Millionen Jahre BP
South Pass Greenstone Belt in Wyoming - 2700 bis 2600 Millionen Jahre BP
Ventersdorp Supergroup auf dem Kaapvaal-Kraton in Südafrika - 2740 bis 2690 Millionen Jahre BP
Transvaal-Becken in Südafrika – 2670 bis 1900 Millionen Jahre BP
Transvaal Supergroup:
Ghaap Group im Griqualand-West-Gebiet – 2669 ± 5 bis 2450 Millionen Jahre BP
Chuniespoort Group im Transvaal-Gebiet – 2588 ± 6 bis 2460 Millionen Jahre BP
Minas Supergroup im Osten Brasiliens – 2610/2580 bis 2420 Millionen Jahre BP
Östlicher Block des späteren Nordchina-Kratons – 2800 bis 2600 Millionen Jahre BP mit:
Taishan Group im westlichen Shandong – 2767 bis 2671 Millionen Jahre BP
Upper Anshan Group in Anshan – 2724 bis 2610 Millionen Jahre BP
Ferner Jiaodong Group im östlichen Shandong, Jiapigou Group im südlichen Jilin, Jianping Group im westlichen Liaoning und Qianxi Group/Zhunhua Group/Dantazi Group/Badaohe Group/Miyun Group im östlichen Hebei
Lagerstätten
Eisen (Bändererze):
Michipicoten Iron Formation, Kanada - 2744 bis 2696 Millionen Jahre BP
Marra Mamba Iron Formation in Westaustralien – 2630 Millionen Jahre
Cauê Banded Iron Formation der Itabira Group, Minas Supergroup in Brasilien – 2580 bis 2420 Millionen Jahre BP
Asbestos-Hills-Subgroup der Ghaap Group in Südafrika – 2489 bis 2480 Millionen Jahre
Penge-Formation der Chuniesport Group in Südafrika – um 2480 Millionen Jahre BP
Brockman Iron Formation im Hamersley-Becken, Westaustralien – 2469 Millionen Jahre BP
Kuruman Iron Formation der Campbellrand Subgroup in Südafrika – um 2465 Millionen Jahre BP
Gold:
Witwatersrand-Becken, Südafrika (mehrere Lagerstätten) - 3074 bis 2714 Millionen Jahre BP
Ventersdorp Contact Reef in Südafrika - 2729 ± 19 Millionen Jahre BP
Eastern Goldfields Province bei Kalgoorlie, Yilgarn-Kraton, Westaustralien - 2640 bis 2600 Millionen Jahre BP
Südlicher Abitibi-Grünsteingürtel in Kanada - < 2670 Millionen Jahre BP
Östlicher Dharwar-Kraton - > 2550 Millionen Jahre BP
Sukumaland-Grünsteingürtel des Tansania-Kratons - <2640 Millionen Jahre BP
Rio-das-Velhas-Grünsteingürtel des São-Francisco-Kratons in Brasilien - < 2710 Millionen Jahre BP
Chrom, Platin und Palladium:
Stillwater-Komplex, Montana - 2700 Millionen Jahre BP
Geodynamik
Baltischer Schild:
Entstehung der Kareliden - 3100 bis 2600 Millionen Jahre BP
Kaapvaal-Kraton und Zimbabwe-Kraton:
Nordwärts gerichtete Überschiebung von Grünsteingürteln am Nordrand des Kapvaal-Kratons – 2729 ± 19 Millionen Jahre BP
Limpopo-Gürtel
Überschiebung der Southern Marginal Zone nach Süden auf den Kaapvaal-Kraton (granulitfazielle Metamorphose) – 2691 ± 7 Millionen Jahre BP
Superior-Kraton:
In Nordamerika geht die Algoman Orogeny (auch Kenoran Orogeny) um 2500 Millionen Jahren BP zu Ende.
Ostantarktis:
Retromorphose und Anatexis im Mawson-Kraton (Adélieland, Georg-V-Land) – 2500 bis 2420 Millionen Jahre BP.
Siehe auch
Geologische Zeitskala
Einzelnachweise
Zeitalter des Präkambrium
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Q645135
| 95.393105 |
2516101
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https://de.wikipedia.org/wiki/Veganismus
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Veganismus
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Veganismus ist eine aus dem Vegetarismus hervorgegangene Ernährungs- und Lebensweise. Veganer verzichten auf alle Nahrungsmittel tierischen Ursprungs. Einige meiden darüber hinaus auch andere Tierprodukte (z. B. Leder) und lehnen weitere Formen der Nutzung von Tieren ab (z. B. Tierversuche). Der Veganismus stützt sich auf Argumente aus den Bereichen Tierethik, Umweltschutz, Welthunger, Gesundheit und Religion.
Begriff
In der Brockhaus Enzyklopädie Ausgabe 1902/03 wird definiert, dass Vegetarier milderer Observanz Vegetabilien (pflanzliche Lebensmittel), Milch, Butter, Käse, Eier gestatten und nur Fleisch von der Nahrung ausschließen. Bei strengerer Einhaltung der Grundsätze werden gemäß dieser Definition nur Vegetabilien verzehrt. Dies wird heute als streng vegetarische bzw. vegane Kost bezeichnet.
Donald Watson prägte 1944 aus dem Anfang und dem Ende von veg-etari-an die Wortneuschöpfung vegan, weil „Veganismus mit Vegetarismus beginnt und ihn zu seinem logischen Ende führt“.
1951 publizierte die Vegan Society ihre erste Definition von Veganismus als „Leitsatz, dass der Mensch ohne Ausbeutung von Tieren leben soll“.
1962 erwähnt das Oxford Illustrated Dictionary den Begriff vegan erstmals und erläutert ihn als „Vegetarier, der keine Butter, Eier, Käse oder Milch isst“.
Die Vegan Society definiert Veganismus seit 1988 folgendermaßen:
1995 erweitert die 9. Auflage des Concise Oxford Dictionary dessen Definition wesentlich. Veganer ist demnach „eine Person, die keine tierischen Produkte isst oder verwendet“.
Mit Stand 2020 beschreibt das Merriam-Webster’s Collegiate Dictionary den Veganer sowohl als einen , der keine Lebensmittel tierischen Ursprungs konsumiert, als auch als jemanden, der auf die Nutzung tierischer Produkte insgesamt verzichtet.
Geschichte
Ursprünge bis 1945
Der Veganismus ist aus dem Vegetarismus hervorgegangen und teilt daher die Geschichte des Vegetarismus. Allgemein war der organisierte Vegetarismus in seinen Anfangsjahren von christlich-asketischem bis hin zu christlich-fundamentalistischem Denken geprägt, das sich oft mit Ideen einer moralisch-enthaltsamen Lebensführung verband. Einer der bekanntesten Kämpfer für den Vegetarismus war in den USA des 19. Jahrhunderts der Prediger Sylvester Graham (1794–1851). Er nutzte seine rhetorischen Fähigkeiten, um Vegetarismus als Gesundheitsmaßnahme zu bewerben. Grahams unermüdlicher Aktivismus zog eine „Grahamiten“ genannte Anhängerschaft an und beeinflusste Gesundheitsreformer wie den Arzt William A. Alcott (1798–1859). Im Unterschied zu Graham warb Alcott bereits für eine tierproduktfreie Ernährungsweise. Graham, Alcott und andere Gesundheitsreformer begründeten den Vegetarismus mit religiösen, wissenschaftlichen, philosophischen und politischen Motiven.
Alcott war Inspiration und namensgebend für die sich um diese Zeit in Großbritannien formierende Alcott House Academy in der Nähe von London. Die utopisch-spirituelle Gemeinschaft bestellte einen Obst- und Gemüsegarten, buk Vollkornbrot und ernährte sich überwiegend von rein pflanzlicher Rohkost. Zusammen mit Bibelchristen gründeten ihre Mitglieder 1847 in Manchester die Vegetarian Society. Ab 1847 erschien in Manchester die Zeitschrift The Vegetarian Messenger, in der sich Vegetarier über aktuelle Themen austauschten. Bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts gab es darin Diskussionen über die Verwendung von Milch und Eiern zur vegetarischen Ernährung. Diese Diskussionen setzten sich über Jahrzehnte fort.
Manche Anhänger der von Deutschland und der Schweiz ausgehenden Lebensreformbewegung aßen kein Fleisch, nur wenige mieden weitere tierische Produkte, zum Beispiel die Gruppe um Ida Hofmann (1864–1926) und Henri Oedenkoven (1875–1935), die auf dem Monte Verità eine Heilanstalt betrieb, in der ab Herbst 1902 außer auf Fleisch auch auf Milchprodukte, Eier und wollene Kleider verzichtet wurde.
1942 wandte sich Donald Watson (1910–2005) mit der Bitte an die Herausgeber von The Vegetarian Messenger, eine Kolumne für all diejenigen Mitglieder einzurichten, die auf Eier und Milchprodukte verzichteten. Als ihm das auch nach längeren Diskussionen immer noch verwehrt wurde, gründete er 1944 in Birmingham die Vegan Society. In ihrem Manifest von November 1944 setzte sich die Vegan Society zwei Ziele, erstens „dafür einzutreten, dass die Nahrung des Menschen aus Früchten, Nüssen, Gemüse, Getreide und anderen gesunden, nicht-tierischen Produkten besteht und dass Fleisch, Fisch, Geflügel, Eier, Honig, Tiermilch, Butter und Käse ausgeschlossen werden“, zweitens „die Herstellung und Verwendung von Alternativen zu tierischen Rohstoffen zu fördern“. Donald Watson ging es nicht darum, ein religiös anmutendes Gebot der „Reinheit“ aufzustellen, sondern um einen pragmatischen Ansatz, Leid zu minimieren: Veganismus ist für ihn und andere Veganer kein Selbstzweck.
Entwicklung 1945 bis 2000
1960 gründete H. Jay Dinshah (1933–2000) die American Vegan Society (AVS), nachdem er 1957 eine Schlachthausbesichtigung mitgemacht hatte und von da an vegan lebte. Dinshah machte als zentralen Gedanken des Veganismus das der indischen Tradition entstammende Prinzip des Ahimsa, also der Gewaltlosigkeit, geltend.
Die AVS initialisierte die Gründung der Dachorganisation North American Vegetarian Society, die 1975 den 23. World Vegetarian Congress in Orono, Maine durchführte. Viele der später maßgebenden Vertreter des Veganismus und des Vegetarismus kamen auf diesem ersten großen Vegetarismus-Event der USA zusammen. Landesweit berichteten die führenden Fernsehsender und Tageszeitungen darüber.
Ab den 1970er Jahren wurde das Eintreten für eine stärker pflanzenbasierte Ernährung auch mit dem Kampf gegen den Hunger in Entwicklungsländern sowie mit den Umweltbelastungen der Tierproduktion begründet.
In den 1960er und 1970er Jahren wurde angenommen, dass eine Bevölkerung, die sich vegetarisch ernährt, ein höheres Risiko hat, einen Nährstoffmangel zu entwickeln, als eine Bevölkerung, die sich an eine fleischbasierte Ernährung hält. Diese Einschätzung basierte auf der langjährigen Beobachtung, dass in armen Ländern mit weit verbreiteter Unterernährung die Ernährung hauptsächlich aus pflanzlichen Lebensmitteln bestand. Die Tatsache, dass die Medien auf Vegetarier mit gesundheitlichen Problemen aufmerksam machten und dass einige Kinder in westlichen Ländern, die vegane oder makrobiotische Diäten konsumierten, tatsächlich unterernährt waren, förderte den Glauben und das weit verbreitete Vorurteil über die Unzulänglichkeit vegetarischer Ernährungsweisen. In den 1980er und 1990er Jahren dokumentierten dann zahlreiche epidemiologische Ernährungsstudien die Vorteile vegetarischer und anderer pflanzlicher Ernährungsweisen. In diesen Studien wurden für Vegetarier eine Verringerung des Risikos für Fettleibigkeit, ischämische Herzerkrankungen, Diabetes und bestimmte Krebsarten sowie der Gesamtmortalität gefunden, zugleich eine Erhöhung der Lebenserwartung. Die wichtigsten westlichen Kohortenstudien, die im Allgemeinen Gesundheitsvorteile für Vegetarier belegen, sind die Adventist Health Studies und mehrere britische Studien, zuletzt die Oxford EPIC Study.
Mitte der 1970er Jahre erfuhr der Tierschutzgedanke eine historische Wende, denn zu diesem Zeitpunkt entwickelte sich eine Debatte über den Status von Tieren im Vergleich zum Menschen. Vertreter der Tierrechts-Bewegung mit ihrer rational-argumentativen Grundlage fordern in der Regel einen kompromisslosen, ethisch begründeten Veganismus. Den Beginn markierte das Buch Animal Liberation (1975) von Peter Singer. Es illustriert zugleich Programm und Ziel der gesamten Tierrechtsbewegung. Neben Peter Singer war Tom Regan einer der prominentesten Vertreter dieser Bewegung. Sein bekanntestes Werk erschien 1983 unter dem Titel The Case for Animal Rights. Singer und Regan stehen jeweils für ein bestimmtes philosophisches Konzept im Rahmen der Tierrechtsbewegung.
1985 formierte sich in den USA unter dem Namen Physicians Committee for Responsible Medicine (PCRM) eine Organisation, die für vegane Ernährung wirbt und Tierversuche bekämpft. Zu den öffentlich bekannten Mitgliedern gehören unter anderem Neal D. Barnard, Dean Ornish, Caldwell Esselstyn, John A. McDougall, Michael Greger und T. Colin Campbell. Als Anhänger einer Lebensstilmedizin empfehlen sie zur Prävention und Therapie verschiedener Erkrankungen die Ernährungsumstellung auf eine fettarme, vegane Vollwertkost (low-fat, whole foods, plant-based diet).
Innerhalb der Straight-Edge-Musikszene, die für den Verzicht auf Drogen, Tabak und Alkohol eintrat, gab es in den 1990er Jahren die Richtung Vegan Straight Edge, der zusätzlich die Tierrechte ein wichtiges Anliegen waren.
Der Weltvegantag ist ein internationaler Aktionstag, der seit 1994 jedes Jahr am 1. November stattfindet.
Aktuell seit 2000
2001 prägte die Sozialpsychologin Melanie Joy den in Kreisen des veganen Aktivismus einflussreichen Begriff des Karnismus, der den Konsum von Fleisch, Milch und Eiern als unhinterfragtes Glaubenssystem begrifflich zu fassen versucht. Der Karnismus als Ideologie hält den Konsum tierischer Produkte für natürlich, normal und notwendig, Punkte, die Joy wiederum bestreitet.
1999 wurde die Vegane Gesellschaft Österreich, 2010 die Vegane Gesellschaft Deutschland und 2011 die Vegane Gesellschaft Schweiz gegründet. Damit sich auch die Veganer angesprochen fühlen, änderte die Schweizerische Vereinigung für Vegetarismus (SVV) ihren Namen 2014 in Swissveg. Die Position des Vegetarierbunds Deutschland (VEBU) verschob sich immer mehr in Richtung Veganismus. Seit 2017 heißt er ProVeg Deutschland und ist der Dachorganisation ProVeg International angeschlossen.
Der Bachelor-Studiengang Vegan Food Management vermittelt seit 2016 die für vegane Ernährung relevanten Grundlagen im Bereich Ernährungswissenschaften und Food Chain Management.
In den 2010er Jahren interessierte sich in Deutschland zunehmend auch die breite Öffentlichkeit für das Trendthema Veganismus. 2022 zählte das Bundeszentrum für Ernährung „Vegane und pflanzenbasierte Ernährung“ zu den 10 wichtigsten Ernährungstrends. Damit belegt das Thema nach „Klimafreundliche & nachhaltige Ernährung“ den 2. Platz in den Augen der befragten Ernährungsexperten.
Populär ist das Thema auch auf der Social-Media-Plattform YouTube. Dabei sind die dort verbreiteten veganen Ernährungsempfehlungen und -tagebücher jedoch meist nicht wissenschaftlich fundiert.
Verbreitung
Deutschland
2020 lebten in Deutschland ca. 1,1 Million Menschen über 14 Jahre, die weitgehend auf tierische Produkte verzichten oder sich als Veganer bezeichnen. Der Ernährungsreport des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft gibt an, dass sich 2020 etwa 1 % der Deutschen vegan ernährten, im Jahr 2021 waren es 2 %. 2023 sieht eine Forsa-Umfrage die Zahl der Veganer bei 3 %.
Österreich
2018 lebten in Österreich etwa 80.000 Menschen über 16 Jahren vegan. 2023 wird die Zahl der vegan lebenden Österreicher mit 2 % angegeben.
Schweiz und Liechtenstein
2021 lebten laut „Mach“-Studie in der Schweiz und Liechtenstein zusammen genommen 38.000 Veganer, was 0,6 % der Bevölkerung entspricht. Im Vorjahr waren es 0,3 %.
Israel
Israel gilt als das Land mit dem höchsten Veganer-Anteil von 5 %. Omri Paz, Leiter der NGO Vegan Friendly, bezeichnet die Youtube-Vorträge des US-amerikanischen Tierrechtssaktivisten und Dozenten Gary Yourofsky als einen Grund dafür.
Vereinigtes Königreich
2016 lebten nach Aussagen der Vegan Society mindestens 542.000 Briten vegan. 2021 beträgt der Anteil an der Gesamtbevölkerung laut YouGov rund 3 %.
Vereinigte Staaten
Laut einer Gallup-Telefonumfrage unter 1.033 Erwachsenen ab 18 Jahren ernähren sich 3 % der Amerikaner 2018 vegan.
Beweggründe
Ethik und Tierrechte
Tierethische Überlegungen sind heute ein fester Bestandteil der philosophischen Debatte zum Veganismus. Klassischerweise wird Peter Singers Buch Animal Liberation. Die Befreiung der Tiere aus dem Jahr 1975 als eine Zäsur gesehen, nach der die Diskussion um den Veganismus eine neue Qualität gewann. Singer argumentiert dort, es gebe keine moralische Rechtfertigung, das Leid eines Wesens, gleich welcher Natur es sei, nicht in Betracht zu ziehen. Spezielle „nichtmenschliche Tiere“ von diesem Gleichheitsprinzip auszuschließen sei so willkürlich, wie Menschen anderer Hautfarbe, Kultur, Religion oder Geschlecht auszunehmen.
Mittlerweile existieren diverse weitere Argumentationen, die mitunter einen von Singer grundverschiedenen Ansatz wählen. Die Veröffentlichungen bzw. Auseinandersetzungen zu Tierrechten bzw. Tierethik sind nach wie vor in hohem Maße kontrovers.
Einige Veganer verweisen auf die geistigen Fähigkeiten mancher Tierarten, die mit nicht unerheblicher Intelligenz und Leidensfähigkeit ausgestattet sind und ein komplexes Sozialverhalten zeigen.
Ein pathozentrischer Ansatz, nach dem alle empfindungsfähigen Wesen ethische Berücksichtigung verdienen, wird hauptsächlich von Tierschützern vertreten. Ein weiteres ethisches Motiv bildet das Bestreben, vermeidbares Leid, das mit der Tierhaltung verbunden ist, durch Verzicht auf deren Produkte zu vermeiden.
Der Philosoph Tom Regan schreibt gewissen Tieren aufgrund ihres Bewusstseins einen inhärenten Wert als Subjekte eines Lebens zu.
Martin Balluch argumentiert für eine naturwissenschaftliche Kontinuität von Bewusstsein. Ausgehend von einer Kritik am Ansatz Singers fordert er gewisse Grundrechte, deren zugrunde liegenden Interessen Voraussetzung für alle weitergehenden Interessen seien.
Gemeinsam ist den meisten Argumentationen ein naturalistisches Moment, das aus gewissen, für einen Rechtsbegriff als relevant betrachteten, homologen (d. h. evolutionär kontinuierlichen) Eigenschaften eine Widerspiegelung im Moral- beziehungsweise Rechtsverständnis fordert. Oft konstituieren Tierrechtsargumente so auch gleichzeitig eine moralphilosophische Herleitung für Menschenrechte. Aufgrund der angeblichen naturwissenschaftlichen Unschärfe des Artbegriffs auf der Subjektebene könne allein aufgrund der Zugehörigkeit zu einer Art niemandem ein subjektives Recht zugeschrieben oder aberkannt werden. Der Begriff Speziesismus versucht diese Schlussfolgerung in eine Analogie zu anderen Formen der Diskriminierung zu stellen und zu kritisieren. Dem wird die auf Aristoteles zurückgehende philosophische Tradition entgegengehalten, dass der Mensch über den Tieren stehe.
Umweltverträglichkeit
2019 konnte eine groß angelegte wissenschaftliche Studie zeigen, dass eine vegane Ernährung die durch Lebensmittel verursachten Treibhausgase um durchschnittlich 50 bis 73 % reduziert, den landwirtschaftlichen Flächenverbrauch um 76 %, die Bodenversauerung um 50 % und Eutrophierung um 50 %. Würden alle Menschen auf Fleisch und Milchprodukte verzichten, und so das derzeit für Tierprodukte genutzte Land frei werden, entspräche das der zusammengenommenen Fläche der USA, der EU, Chinas und Australiens. Durch Renaturieren dieser Fläche könnten jährlich 8 Milliarden Tonnen CO₂ aus der Atmosphäre eingelagert werden.
Eine ähnliche Studie aus dem Jahr 2022 stellt fest, dass ein Wandel hin zu einer pflanzlichen Ernährung durch Emissionseinsparungen und frei werdende Fläche eine doppelte „Klima-Dividende“ brächte. So könnte das Land, das durch die Reduzierung des Konsums von Fleisch- und Milchprodukten sowie Eiern frei wird, die 81-fache Menge der jährlichen Treibhausgasemissionen der gesamten Agrarproduktion für reiche Länder speichern. Die Autoren weisen allerdings darauf hin, dass hierfür kein „Purismus“ nötig ist, sondern in den reichen Ländern bereits eine Halbierung des Konsums an tierischen Produkten einen großen Effekt haben kann.
Laut eines Berichts des Umweltprogramms der Vereinten Nationen (UNEP) aus dem Jahre 2010 über die Umweltfolgen von Konsum und Produktion hat die Nahrungsmittelproduktion den größten Einfluss auf die Landnutzung. Die landwirtschaftliche Produktion von Biomasse, insbesondere die von tierischen Produkten, ist verglichen mit den meisten industriellen Prozessen ein ineffizienter Transformationsprozess. Tierische Produkte wie Fleisch und Milch erfordern im Allgemeinen mehr Ressourcen und verursachen höhere Emissionen als pflanzenbasierte Alternativen. Der UNEP-Bericht erwartet, dass sich die Auswirkungen der Landwirtschaft auf die Umwelt wegen des Bevölkerungswachstums und der damit verbundenen Steigerung des Konsums von Tierprodukten in Zukunft noch erhöhen werden. Eine substanzielle Verringerung der Folgen der Umweltschädigung ist nur mit einer weltweiten Umstellung der Ernährung möglich, weg von tierischen Produkten.
Laut der Landwirtschafts- und Welternährungsorganisation FAO trägt die Viehhaltung mit rund 18 % Anteil zum menschlich verursachten Treibhauseffekt bei, wofür in erster Linie Verdauungsprodukte verantwortlich sind (Exkremente sowie bei Wiederkäuern Methan). Dabei ist die extensive Tierhaltung Ursache für rund 12 % der weltweiten Entwaldung.
Veganer und vegane Organisationen weisen darauf hin, dass bei einer veganen Ernährung die Umwelt weniger mit Schadstoffen belastet werde und weniger Ressourcen (Wasser, Land, Luft, Energie, Naturfläche) benötigt würden als bei einer Ernährung mit Fleisch- und Milchprodukten. Im Vergleich zur Standardernährung in Deutschland (auf Basis der Nationalen Verzehrsstudie II des Max Rubner-Instituts) können mit einer veganen Ernährung im Durchschnitt rund 1,1 Tonnen Treibhausgasemissionen pro Person und Jahr eingespart werden. Hochgerechnet auf die gesamte Bevölkerung ließen sich mit einer veganen Ernährung somit 77 Millionen Tonnen Treibhausgasemissionen pro Jahr einsparen. Hierbei müssten jedoch die größten Veränderungen von Männern ausgehen (minus 46 Millionen Tonnen). Frauen würden durch eine im Durchschnitt weniger fleischbetonte Ernährungsweise Einsparungen in Höhe von 31 Millionen Tonnen erzielen.
Zur Lösung des Dilemmas der Überfischung der Weltmeere wird von veganen Organisationen empfohlen, sich hierzulande ohne den Konsum von Fischen und Fischprodukten zu ernähren.
Welternährung
Insbesondere Veganer und vegane Organisationen nehmen an, dass eine vegane Ernährung positive Folgen für die Welternährung habe. Auf Grund der niedrigen Futterkonversionsraten der Tierproduktion wird angenommen, dass eine vegane oder vegetarische Ernährungsweise in den Industrieländern die Ernährungssituation in den Entwicklungsländern signifikant verbessern könnte. Laut Edward O. Wilson ergibt die aktuell landwirtschaftlich nutzbare Fläche bei ausschließlich vegetarischer Ernährung eine Kapazität der Lebensmittelversorgung für ca. 10 Milliarden Menschen. Prognosen zufolge wird die globale Nachfrage nach tierischen Produkten insbesondere in Entwicklungs- und Schwellenländern in Zukunft noch weiter ansteigen.
Antibiotikaresistenzen
Zur Risikominimierung im Zusammenhang mit Antibiotikaresistenzen, die auch durch den Einsatz in der Tiermast verursacht werden, empfehlen Pro-Vegan-Organisationen eine vegan orientierte Lebensweise. Eine Forschergruppe empfiehlt in einem Artikel in der Zeitschrift Science zum gleichen Zweck unter anderem Ernährungsrichtlinien, die zu einem reduzierten Fleischkonsum führen.
Persönliche Entscheidungen
Viele Veganer waren zunächst Vegetarier. Bei ethisch motivierten Veganern waren beispielsweise Medienberichte über Tiertransporte oder Erlebnisse mit Massentierhaltung oder mit Schlachtungen wichtige Faktoren für den Entschluss, Vegetarier zu werden. Als Veganer lehnen sie dann nicht nur den Fleischkonsum, sondern auch den Konsum von Milchprodukten, Honig und Eiern ab. Dafür nennen sie unterschiedliche Gründe, etwa die frühe Trennung der Kälber von ihren Müttern, die Schlachtung von Milchkühen und Legehennen, deren Leistung nachlässt, die Tötung männlicher Küken, die Verwendung männlicher Kälber für die Fleischmast, die Haltungsbedingungen für Milchkühe und Legehennen oder die Sorge, mit dem eigenen Milch- und Eierkonsum die Fleischwirtschaft rentabler zu machen.
Ethisch motivierte Veganer verzichten aus Mitgefühl mit den Tieren außer auf tierische Nahrungsmittel zum Teil auch auf andere Produkte wie Leder, Pelze, Tierborsten, Daunenjacken und -kissen oder Kosmetika, die tierische Stoffe beinhalten oder mit Tierversuchen getestet wurden. Wollprodukte werden als Ursache für den frühen Tod und das Leid der Tiere beim Scheren angesehen. Auch die Tötung von Seidenspinnerraupen und Perlmuscheln sowie die Haltung von Honigbienen werden oft abgelehnt. Des Weiteren sind bestimmte Tiersportarten, Zoos, Vivarien, insbesondere Delphinarien, und Zirkusse Gegenstand der Kritik. Ein populäres Ideal ist eine Welt ohne Ausbeutung von Tieren durch den Menschen.
Besondere Formen veganer Ernährung
Bio-vegane Ernährung beschränkt sich zusätzlich auf Lebensmittel, die unter ökologischen Gesichtspunkten produziert wurden. Biologisch-vegane Landwirtschaft schließt Tierhaltung aus, so dass beispielsweise nicht mit Gülle gedüngt wird.
Frugane Ernährung beschränkt sich auf die Früchte von Nahrungspflanzen, da deren Verzehr nicht die Zerstörung der Pflanze zur Folge hat. Dazu gehören etwa Obst, Nüsse und Samen.
Vegane Rohkost beschränkt sich auf die veganen Teile einer Rohkosternährung (während Rohkost allgemein ebenso rohes Fleisch, Fisch, Eier, Rohmilch usw. enthalten kann).
Die High-Carb-Diät basiert in erster Linie auf Kohlenhydraten, wie Vollkorngetreide, Hülsenfrüchten und stärkehaltige Wurzeln und Knollen, und dann Gemüse aller Art. In geringerem Umfang kommen Nüsse und Samen dazu. Sie enthält keine zugesetzten Fette.
Pudding-Veganer ernähren sich konsequent vegan, aber überwiegend von stark verarbeiteten pflanzlichen Lebensmitteln. Für sie sind hauptsächlich ethische Gründe entscheidend. Gesundheitliche Aspekte sind eher untergeordnet, sie achten daher weniger auf eine ernährungsphysiologisch ausgewogene Zusammensetzung der Kost.
Gesundheitliche Aspekte
Nährstoffversorgung
Die folgende Beschreibung der Nährstoffversorgung bezieht sich auf gesunde Erwachsene. Davon abweichende Lebensphasen, wie beispielsweise Schwangerschaft, Kindheit oder bei Leistungssport, haben einen eigenen, spezifischen Nährstoffbedarf.
Unkritische Nährstoffe
Ballaststoffe: Die Ballaststoffzufuhr liegt bei Veganern deutlich über der teilweise zu geringen Zufuhr der Durchschnittsbevölkerung. Die Aufnahme an Ballaststoffen übersteigt die Mindestaufnahmemenge hierbei sehr deutlich.
Cholesterin: Der Körper bildet Cholesterin in ausreichender Menge selbst und ist somit nicht auf die Zufuhr von außen angewiesen. Cholesterine kommen nur in tierischer Nahrung vor, daher weist die vegane Ernährung eine vernachlässigbare Cholesterinaufnahme und durchweg günstige Werte in diesem Bereich auf. Im Vergleich hierzu nehmen Mischköstler eine vielfache Menge an Cholesterin auf und liegen teilweise über der von der DGE empfohlenen Höchstmenge.
Fettsäuren: Bei der Aufnahme der gesättigten, einfach-ungesättigten sowie mehrfach-ungesättigten Fettsäuren entsprechen in Untersuchungen Veganer am häufigsten den Empfehlungen der DGE, wohingegen Mischköstler im Gegensatz hierzu teils einen zu hohen Anteil gesättigter Fette sowie eine zu geringe Aufnahme mehrfach ungesättigter Fette aufweisen. Die insgesamte Zufuhr ernährungsphysiologisch eher unerwünschter gesättigter Fettsäuren liegt bei veganer Ernährung in der Regel nur halb so hoch wie in der Durchschnittsbevölkerung.
Magnesium: Die Zufuhr an Magnesium liegt bei Veganern deutlich über der teilweise zu geringen Zufuhr der Durchschnittsbevölkerung.
Sekundäre Pflanzenstoffe / Antioxidantien: Die Carotinoidaufnahme korrelierte in Studien mit dem erhöhten Gemüse- und Obstverzehr. Die hohen Zufuhrmengen an Carotinoiden bei veganer Ernährung führte bei den untersuchten Studienteilnehmern in der Deutschen Vegan Studie zu entsprechend hohen Carotinoidkonzentrationen im Blutplasma. Veganer wiesen in der EPIC-Studie 5- bis 50-mal höhere Blutkonzentrationen an Isoflavonen auf als Mischköstler. Bei Prostatakrebspatienten führte eine fettarme vegane Kost zu einer signifikant höheren Zufuhr von protektiven sekundären Pflanzenstoffen, insbesondere Lycopin.
Vitamin E: Veganer nahmen in Studien wesentlich mehr Vitamin E auf als Mischköstler. Die sich vegan ernährenden Studienteilnehmer übertrafen hierbei die Mindestaufnahmemenge an Vitamin E, wohingegen die Mischköstler im Durchschnitt darunter lagen.
Potenziell kritische Nährstoffe
Calcium: Veganer liegen häufig unter der Zufuhrempfehlungen für Calcium. Zudem kann die Calcium-Ausscheidung abhängig vom Protein- und Salzgehalt ähnlich hoch ausfallen wie bei einer omnivoren Ernährungsweise. Bei der Resorption spielt der niedrige Kalziumgehalt pflanzlicher Lebensmittel und die Beeinträchtigung durch Phytin- und Oxalsäure eine besondere Rolle. Durch den regelmäßigen Verzehr von kalziumreichen und oxalsäurearmen pflanzlichen Lebensmitteln, mit Kalzium angereicherter Pflanzenmilch und von kalziumreichem Mineralwasser kann eine ausreichende Kalziumversorgung erreicht werden.
Eisen: Die durchschnittliche Eisenzufuhr von Veganern übersteigt häufig die von Nicht-Veganern. Allerdings enthält eine vegane Ernährung ausschließlich Nicht-Hämeisen, dessen Bioverfügbarkeit in hohem Maße von den Begleitsubstanzen abhängt. Bei erwachsenen Veganern unterscheidet sich in den meisten Studien die Konzentration von Serumeisen und Hämoglobin kaum von jener der Nicht-Vegetarier. Hingegen sind die Eisenspeicher, gemessen an der Ferritinkonzentration, fast immer geringer, liegen jedoch durchschnittlich im Normalbereich. Zur Eisenversorgung bei rein pflanzlicher Ernährung können insbesondere Hülsenfrüchte, Ölsamen, Nüsse, Vollkorngetreide sowie Fenchel, Feldsalat, Rucola, Zucchini, grüne Erbsen und Trockenfrüchte beitragen.
Langkettige n-3-Fettsäuren: Die Zufuhr dieser Fettsäuren kann bei einer unausgewogen veganen Ernährung sehr gering sein. Besonders Veganer tendieren zu niedrigeren Eicosapentaensäure- und Docosahexaensäure-Blutwerten im Vergleich zu Nichtvegetariern. Eine Studie (1994) kommt jedoch zu dem Schluss, dass eine α-Linolensäure-reiche (ALA) und Linolsäure-arme (LA) Ernährung (z. B. mit Leinöl) die Eicosapentaensäure-Werte im Gewebe vergleichbar ansteigen lässt wie die Supplementierung mit Fischöl. Weiterhin kann der Körper ausreichend Docosahexaensäure bilden, wenn genug α-Linolensäure (>1200 mg) pro Tag aufgenommen wird. Für die Umwandlung der pflanzlichen α-Linolensäure benötigt der Körper die Enzyme Delta-6-Desaturase und Delta-5-Desaturase. Diese verarbeiten aber gleichzeitig die Omega-6-Fettsäure Linolsäure zu DGLA und Arachidonsäure. Vitamin- und Mineralienmangel, Stress und Alter können die Bildung verlangsamen. Hingegen können Vitamin B und C, Magnesium und Zink diese Enzyme aktivieren.
Proteine: Während die Durchschnittsbevölkerung bei einer ausgewogenen Ernährung vor einer Protein-Unterversorgung geschützt ist, kann die Eiweiß-Aufnahme bei Veganern je nach Auswahl der Lebensmittel signifikant geringer ausfallen. Der bei einer erwachsenen Person täglich erforderliche Proteinhaushalt von etwa 0,8–1 Gramm pro Kilogramm Körpergewicht (g/kg KG) kann aber auch ohne Nahrungsergänzungsmittel durch pflanzliche Produkte aufgenommen werden. Dazu zählen vor allem Reis, Quinoa, Linsen, Bohnen, diverse Nüsse und Nussmus sowie verschiedene Sojaprodukte.
Selen: Tierfutter darf in der Europäischen Union mit Selen angereichert werden. Deshalb können tierische Lebensmittel wie Fleisch und Ei relativ konstant zur Selenversorgung beitragen. Kohl- und Zwiebelgemüse, Pilze, Spargel sowie Hülsenfrüchte können einen hohen Selengehalt haben. Der Gehalt in pflanzlichen Lebensmitteln variiert je nach Anbaugebiet stark, da er vom Selengehalt der Böden abhängig ist. In Europa sind die Böden weniger reich an Selen als z. B. in den USA. So sind in den USA angebaute Getreidepflanzen und Produkte daraus eine gute Selenquelle, in Europa angebaute hingegen weniger.
Vitamin D: Vitamin D kann bei ausreichender Sonnenexposition vollständig von der Haut gebildet werden. Reicht die Sonnenexposition nicht aus, so ist eine Aufnahme über die Nahrung erforderlich. Vitamin D ist außer in Avocados (3,43 µg Vitamin D/100g), Pfifferlingen (2,1 µg Vitamin D/100 g) und Champignons (1,9 µg/100 g) fast ausschließlich in tierischen Lebensmitteln enthalten. In einer Studie der Universitätsklinik Freiburg konnte demonstriert werden, dass Zuchtchampignons, die mit UV-B-Strahlung behandelt wurden, signifikante Mengen an Vitamin D2 bildeten (491 μg oder 19.640 IE pro 100 g Zuchtchampignons). Die Verabreichung der so angereicherten Zuchtchampignons waren Vitamin D2-Supplementen ebenbürtig. Ähnliche Ergebnisse können auch mit Shiitake, Maitake, Shimeji oder anderen Pilzen erzielt werden. Im Falle von Shiitake konnten Werte von bis zu 267.000 IE pro 100 g Shiitakepilze bei 14 Stunden Sonnenlichtexposition erreicht werden. Eine Studie über die Auswirkung einer fettreduzierten, veganen Ernährung ergab eine zu geringe Aufnahme an Vitamin D. Veganer liegen in Untersuchungen über die ausschließlich via Nahrung zugeführte Vitamin-D-Menge nochmals erheblich unter der bereits deutlich zu geringen Vitamin-D-Aufnahme der Mischköstler. Der tatsächliche Vitamin-D-Status im Blutplasma untersuchter nordeuropäischer Veganer liegt durchschnittlich noch über den empfohlenen Referenzwerten der DGE, aber signifikant unter dem Status der Mischköstler.
Zink: Die Zink-Aufnahme untersuchter Veganer liegt in Studien unterhalb der von Mischköstlern. Die gemessene Zink-Aufnahme lag hierbei für die Frauen durchschnittlich aber immer noch oberhalb der DGE-Referenzwerte. Bei den Männern stellte eine Studie eine gemäß den DGE-Referenzwerten durchschnittlich ausreichende Zink-Aufnahme fest, während in einer anderen Studie die Zink-Aufnahme der Männer im Schnitt zu gering war. Die Bioverfügbarkeit von Zink in pflanzlicher Nahrung liegt hierbei allerdings noch unterhalb der Bioverfügbarkeit nicht-pflanzlicher Nahrung. Für Ernährungsweisen, bei welchen hauptsächlich oder ausschließlich pflanzliche Proteine konsumiert werden, erhöhte die DGE 2019 ihre Empfehlungen zur Zink-Zufuhr auf 16 mg Zink pro Tag für Männer und 10 mg für Frauen.
Kritische Nährstoffe
Jod: Veganer weisen in verschiedenen Untersuchungen häufiger eine zu geringe Jodzufuhr auf. Die Jodzufuhr ist hierbei noch geringer als die ohne Supplementierung häufig ebenfalls zu geringe Jod-Aufnahme der Mischköstler. Damit besteht für Veganer das Risiko einer niedrigen Jod-Versorgung bis hin zu einem Jodmangel.
Vitamin B12 ist im Körper nötig für die Zellteilung, die Blutbildung und die Funktion des Nervensystems. Nach etablierter Fachmeinung enthält keine pflanzliche Nahrung für den menschlichen Bedarf ausreichende Mengen der verwertbaren Form des Vitamins. Daher empfehlen die großen ernährungswissenschaftlichen Organisationen allen Veganern eine Supplementierung von B12. Dies sollte in Form von angereichterten Lebensmitteln oder Supplementen geschehen. Abhängig vom Füllstand des B12-Speichers in der Leber und den individuellen Voraussetzungen können bei erwachsenen Veganern ohne Vitaminaufnahme mehrere Jahre vergehen, bis sich Symptome des Vitamin-B12-Mangels einstellen. Dokumentiert sind Fälle von schwerem Vitamin-B12-Mangel. Insgesamt lassen sich bei Veganern niedrige B12-Werte feststellen. Dies unterstreicht die Notwendigkeit einer B12-Supplementierung. Wissenschaftler warnen daher vor Falschmeldungen, die behaupten, Veganer müssten kein zusätzliches Vitamin-B12 zuführen. Um eine Mangelversorgung frühzeitig zu erkennen, können Veganer ihren Vitamin-B12-Status regelmäßig überprüfen.
Studienlage
Adipositas: Newby u. a. fanden 2005, dass Veganerinnen ein geringeres Risiko für Adipositas im Vergleich zu Mischköstlerinnen aufweisen. Eine Querschnittsstudie mit 37.875 Erwachsenen ergab für Veganer den niedrigsten durchschnittlichen Body-Mass-Index. Als mögliche Ursache hierfür wird die geringere Energiedichte der aufgenommenen Nahrung diskutiert.
Bluthochdruck: Studien zeigten die niedrigsten Raten an Hypertonie unter den Veganern im Vergleich zu allen anderen untersuchten Gruppen. Als mögliche Ursachen werden die Effekte verschiedener vorteilhafter Komponenten in pflanzlicher Nahrung gesehen, hierzu werden der hohe Anteil an Kalium, Magnesium, Ballaststoffen sowie ein günstiges Fettsäureprofil gezählt.
Diabetes mellitus: Neal D. Barnard u. a. fanden 2006, dass unter der von ihnen für den Studienzweck entworfenen, fettarm-veganen Diät bei 43 % der 50 Probanden mit Diabetes mellitus Typ 2 die Verabreichung von Medikamenten reduziert werden konnte. In der fast ebensogroßen Vergleichsgruppe, die sich individuell nach den Empfehlungen der American Diabetes Association (ADA) ernährte, war dies bei 23 % der Probanden möglich. Die Studie lief über 22 Wochen. Die ADA kam 2012 in der Aktualisierung ihrer Leitlinie unter Verweis auf diese und weitere Studien zu dem Ergebnis, dass in der Behandlung des Diabetes mellitus wahrscheinlich eine Vielzahl von Diäten effektiv sind, einschließlich der mediterranen, der Pflanzen-basierten (veganen oder vegetarischen), der fettarmen und der Low-Carb-Ernährung. Die Leitlinien-Autoren halten es für unwahrscheinlich, dass die eine, für alle Diabetiker optimale Kombination von Makronährstoffen existiert.
Herzerkrankungen: In einer Metaanalyse, welche Daten von 76.172 Teilnehmern aus 5 Studien auswertete, zeigte sich hinsichtlich des Sterberisikos wegen koronarer Herzkrankheit gegenüber regelmäßigen Fleischessern für Veganer ein um 26 %, für Ovo-Lacto-Vegetarier ein um 34 %, für Pescetarier ein um 34 % und bei den gelegentlichen Fleischessern (<1-mal/Woche) ein um 20 % reduziertes Risiko. Ein möglicher Grund für den Nachteil gegenüber den anderen vegetarischen Ernährungsformen und gegenüber den fleischlosen Fischessern wird in einer häufig beobachteten unzureichenden Vitamin-B12- sowie n-3-Versorgung gesehen.
Krebserkrankungen: Die 2017 veröffentlichte Metaanalyse von Dinu et al. ermittelte aus den Daten dreier epidemiologischer Kohortenstudien (Adventist Health Study 2, Oxford Vegetarian Study und EPIC Oxford Study) ein gegenüber den teilnehmenden Nichtvegetariern um signifikante 15 % reduziertes Risiko der Studienveganer, an Krebs zu erkranken. Die Krebsinzidenzrate der teilnehmenden Vegetarier war in dieser Metaanalyse gegenüber den Nichtvegetariern um 8 % reduziert.
Osteoporose: In der EPIC-Studie hatten Veganer ein 30 % höheres Risiko für Knochenbrüche. Dieses erhöhte Risiko verschwand allerdings ab einer Mindestaufnahmemenge von mind. 525 mg Calcium pro Tag (entspricht 53 % der nach DGE empfohlenen Aufnahmemenge für Erwachsene). Der errechnete Durchschnitt an Calcium-Aufnahme bei veganer Ernährung liegt nach vorliegenden Untersuchungen zwar meist leicht oberhalb von 525 mg, aber eine erhebliche Anzahl von Veganern nimmt dennoch weniger als 525 mg Calcium auf: in der EPIC-Studie wiesen 44,5 % der Veganer eine Calcium-Aufnahme von weniger als 525 mg auf. Das zum Großteil über Sonnenexposition gebildete Vitamin D spielt eine wesentliche Rolle bei der Regulierung des Calcium-Spiegels im Blut und beim Knochenaufbau, hier weisen Veganer eine deutlich geringere Nahrungszufuhr auf als Mischköstler. In Untersuchungen über den tatsächlichen Vitamin-D-Status im Blutplasma wiesen nordeuropäische Veganer in der EPIC-Oxford-Studie durchschnittlich zwar die niedrigsten, aber immer noch ausreichende Werte auf (55,9 nmol/l).
Ernährungswissenschaftliche Bewertung
Deutschsprachiger Raum
Die Eidgenössische Ernährungskommission (EEK) kommt 2018 zu dem Fazit, dass eine „gut geplante und supplementierte vegane Ernährung“ theoretisch den Nährstoffbedarf decken könnte. Die Ergebnisse würden jedoch zeigen, dass in Wirklichkeit ein Mangel an gewissen Nährstoffen verbreitet sei. Wenn „hoch motivierte Personen“ zu einer veganen Ernährung übergehen oder diese weiterführen möchten, sollten sie auf „die Ernährungsrichtlinien, die erforderliche Supplementation und allfällige Überwachungsmassnahmen“ hingewiesen werden.
Die aktuelle wissenschaftliche Evidenz ist laut EEK zu gering, um den Schluss zu ziehen, dass vegane Ernährung im Allgemeinen eine gesunde Ernährung ist.
Akzeptabel findet die EEK vegane Ernährungsweisen für ernährungskompetente, gesunde Erwachsene sowie ernährungskompetente Patienten mit Diabetes Typ 2 und/oder kardiovaskulären Erkrankungen. Für Schwangere und Stillende, Kinder, Jugendliche und besondere Gruppen der erwachsenen Bevölkerung wird vegane Ernährung nicht empfohlen. Sollte eine vegane Ernährung in diesen Lebensphasen aus ethischen Gründen gewählt werden, rät die EEK zu medizinischer Beratung und regelmäßiger Überwachung.
Bei einer rein pflanzlichen Ernährung ist nach Einschätzung der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE) die ausreichende Versorgung mit bestimmten Nährstoffen nicht oder nur schwer möglich. Der kritischste Nährstoff sei Vitamin B12. Zu den potenziell kritischen Nährstoffen bei veganer Ernährung gehörten außerdem Protein bzw. essentielle Aminosäuren und langkettige n3-Fettsäuren sowie die Vitamine Riboflavin und D und die Mineralstoffe Calcium, Eisen, Jod, Zink und Selen. Die DGE empfiehlt vegane Ernährung für Schwangere, Stillende, Säuglinge, Kinder und Jugendliche ausdrücklich nicht. Diese speziellen Bevölkerungsgruppen hätten ein höheres Risiko für Nährstoffdefizite. Wer sich dennoch vegan ernähren möchte, sollte dauerhaft ein Vitamin-B12-Präparat einnehmen, auf eine ausreichende Zufuhr vor allem der kritischen Nährstoffe achten und gegebenenfalls angereicherte Lebensmittel und Supplemente verwenden. Dazu sollte eine Beratung durch eine qualifizierte Ernährungsfachkraft erfolgen und die Versorgung mit kritischen Nährstoffen regelmäßig ärztlich überprüft werden. Die DGE verweist darauf, dass Lebensmittel, die bei veganer Ernährung konsumiert werden, nicht zwingend ernährungsphysiologisch günstig und gesundheitsfördernd seien. Gemüse, Hülsenfrüchte, Obst, Nüsse, Samen, wertvolle Pflanzenöle und Vollkornprodukte bewertet die DGE als vorteilhaft. Vegane Gerichte oder Lebensmittel, denen hohe Mengen an Zucker, Fetten und Speisesalz zugesetzt wurden, seien hingegen „ernährungsphysiologisch nicht günstig“.
Die Ernährungskommission der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin lehnt eine vegane Säuglingsernährung ohne Nährstoffsupplementierung ab, da sie zu schwerwiegenden Nährstoffdefiziten führe. Die sorgfältige Überwachung von Wachstum und Gedeihen sei notwendig, gegebenenfalls ergänzt durch Labordiagnostik.
Der Österreichischen Gesellschaft für Ernährung (ÖGE) zufolge können sich gesundheitliche Vorteile für vegan ernährte Personen nur dann ergeben, wenn diese auf eine möglichst vielfältige Lebensmittelauswahl und abwechslungsreiche Speisenzusammenstellung achten. Durch die starke Einschränkung an Lebensmitteln brauche man eine gute Speisenplanung. Die Ernährung solle nach Möglichkeit nicht einseitig gestaltet sein, da sonst die Gefahr einer Mangelversorgung bestehe. Hinzu komme noch, dass Nährstoffe aus pflanzlichen Lebensmitteln meist schlechter bioverfügbar seien und somit dem Körper „in geringerer Form“ zur Verfügung stünden. Zu den kritischen Nährstoffen zählt die ÖGE Protein, n3-Fettsäuren, Vitamin-B12, Vitamin D, Calcium, Iod und Eisen.
Englischsprachiger Raum
Die British Dietetic Association (BDA) schätzt ein, dass können. Man sollte aber aufnehmen, um sicherzustellen, dass die eigene Ernährung ausgewogen und nachhaltig ist. Die meisten Nährstoffe seien in pflanzlichen Diäten reichlich vorhanden. Wer jedoch den Verzehr von tierischen Lebensmitteln ganz vermeiden oder auf ein Mindestmaß beschränken wolle, müsse einige Nährstoffe beachten. Hierzu zählt die BDA Calcium, Omega-3-Fettsäuren, Vitamin D, Iod, Vitamin B12, Eisen, Zink, Selen und Protein.
Die amerikanische Academy of Nutrition and Dietetics (A.N.D.) vertritt den Standpunkt, dass vegetarische, einschließlich vegane, Diäten gesund und ernährungsphysiologisch angemessen seien und möglicherweise gesundheitliche Vorteile für die Prävention und Behandlung bestimmter Krankheiten böten. Diese Diäten würden sich für alle Stadien des Lebenszyklus, einschließlich Schwangerschaft, Stillzeit, Säuglingsalter, Kindheit, Jugend, älteres Erwachsenenalter und für Sportler eignen. Pflanzliche Diäten seien umweltverträglicher als Diäten, die reich an tierischen Produkten sind, da sie nur wenige natürliche Ressourcen verbrauchen und viel weniger Umweltschäden verursachen würden. Vegetarier und Veganer hätten ein geringeres Risiko für bestimmte Gesundheitsstörungen, darunter koronare Herzerkrankungen, Typ-2-Diabetes, Bluthochdruck, bestimmte Krebsarten und Fettleibigkeit. Merkmale einer vegetarischen und veganen Ernährung seien eine niedrige Aufnahme von gesättigten Fettsäuren und eine hohe Aufnahme von Gemüse, Obst, Vollkornprodukten, Hülsenfrüchten, Sojaprodukten, Nüssen und Samen. Diese seien reich an Ballast- und sekundären Pflanzenstoffen und würden zu niedrigeren Gesamt- und LDL-Cholesterinspiegeln sowie einer besseren Steuerung des Blutzuckers führen. Diese Faktoren trügen zur Reduzierung chronischer Erkrankungen bei. Veganer benötigten zuverlässige Vitamin-B12-Quellen wie angereicherte Lebensmittel oder Nahrungsergänzungsmittel.
Der australische National Health and Medical Research Council verweist auf die A.N.D.-Bewertung und betrachtet wie diese ausgewogene vegetarische, einschließlich veganer Ernährungsweisen als gesund und ernährungsphysiologisch adäquat. Jene, die einer strikt vegetarischen bzw. veganen Ernährungsweise folgen, könnten die Ernährungserfordernisse erfüllen, solange die energetischen Bedürfnisse befriedigt und eine geeignete Vielfalt pflanzlicher Nahrungsmittel über den Tag verzehrt werden. Veganer sollten bei ihrer Lebensmittelauswahl auf eine adäquate Zufuhr von Eisen und Zink und die optimierte Resorption und Bioverfügbarkeit von Eisen, Zink und Calcium achten. Außerdem könne für Veganer die Supplementierung von Vitamin B12 erforderlich sein.
Vegane Lebensmittel
Definition und Abgrenzung
Die Begriffe „vegan“ und „vegetarisch“ definierte bislang weder der nationale noch der europäische Gesetzgeber rechtsverbindlich. Ersatzweise verabschiedete am 22. April 2016 die Verbraucherschutzministerkonferenz der deutschen Bundesländer eine rechtsverbindliche Definition. „Vegan“ sind danach Lebensmittel, „die keine Erzeugnisse tierischen Ursprungs sind und bei denen auf allen Produktions- und Verarbeitungsstufen keine Zutaten (einschließlich Zusatzstoffe, Trägerstoffe, Aromen und Enzyme) oder Verarbeitungshilfsstoffe oder Nicht-Lebensmittelzusatzstoffe, die auf dieselbe Weise und zu demselben Zweck wie Verarbeitungshilfsstoffe verwendet werden, die tierischen Ursprungs sind, in verarbeiteter oder unverarbeiteter Form zugesetzt oder verwendet worden sind.“
Eine strenge Unterscheidung nicht-veganer Produkte von rein veganen ist daher aufgrund der vielfältigen Verwendung von Stoffen tierischer Herkunft aufwändig und muss die gesamte Verarbeitungskette einbeziehen. So ist es für den Endverbraucher z. B. schwer ersichtlich, weil nicht deklarationspflichtig, ob Gelatine zur Filtration von Weinen und Fruchtsäften eingesetzt wird oder Bäckereien tierische Fette verwenden. Auch Lebensmittelzusatzstoffe können tierischen Ursprungs sein. Daher werden Datenbanken und Listen von Produkten mit nichtveganen Inhaltsstoffen veröffentlicht.
Die Europäische Kommission hat keinen Durchführungsrechtsakt bezüglich Informationen über die Eignung eines Lebensmittels für Veganer erlassen. Zur Erlassung eines Durchführungsrechtsakts war sie vom Europäischen Parlament und vom Rat der Europäischen Union 2011 mit Artikel 36 der Verordnung (EU) Nr. 1169/2011 ermächtigt worden.
In der Schweiz wurde im Mai 2017 vom Eidgenössischen Departement des Innern (EDI) die Verordnung des EDI betreffend die Information über Lebensmittel erlassen. Darin steht, dass Lebensmittel mit den Bezeichnungen vegan oder vegetabil versehen werden können, „wenn sie weder Zutaten noch Verarbeitungshilfsstoffe tierischer Herkunft enthalten.“ „Lebensmittel und Zutaten, die aus Zutaten gewonnen wurden, die unter Verwendung von tierischen Verarbeitungshilfsstoffen hergestellt wurden“ und „von den tierischen Proteinbestandteilen der Verarbeitungshilfsstoffe abgetrennt und gereinigt sind“, dürfen nicht als vegan oder vegetabil bezeichnet werden.
Kennzeichnung und Siegel
Um erkennbar zu machen, ob Fertigprodukte und verarbeitete Nahrungsmittel für die vegane Ernährung geeignet sind, vergeben nicht-staatliche Organisationen Siegel. Lebensmittelhersteller können Produkte gegen Gebühr zertifizieren lassen und diese Siegel lizenzieren. Die Kriterien zur Siegelvergabe werden veröffentlicht. Daneben loben Hersteller Produkte auch selbst als vegan aus. Staatliche Kontrollen finden weder für die Siegel noch für die herstellerspezifischen Kennzeichnungen statt.
Das von der Europäischen Vegetarier-Union vergebene V-Label schließt aus:
Fleisch, Fisch, Meeresfrüchte oder Produkte daraus.
Knochen oder tierische Fette, weder als Zutat noch als Hilfsmittel.
Zutaten oder Zusatzstoffe deren tierischer Ursprung nicht erkennbar ist.
Tierische Stoffe zur Klärung von Fruchtsäften, Essig, Wein.
Gentechnisch verändernten Organismen.
Zudem wird verlangt, dass alle Zutaten und Zusatzstoffe auf ihre Eigenschaften hin überprüft werden, damit jegliche Berührung mit tierischen Bestandteilen im Herstellungsprozess ausgeschlossen werden kann.
Alternative Lebensmittel
Der weltweite Markt an veganen Lebensmitteln betrug 2018 rund 18 Milliarden Dollar. Es wird von einer Verdopplung bis 2024 auf 31 Milliarden Dollar ausgegangen. Einer Haupttreiber ist der höhere Lebensstandard der chinesischen Mittelschicht und deren Nachfrage nach Pflanzenmilch. Der Markt für Fleischersatz wird Analysten zufolge jährlich um 7,9 % auf 8 Milliarden Dollar im Jahr 2026 wachsen.
In den USA wuchs der Markt für pflanzliche Ersatzprodukte zwischen 2017 und 2020 um 29 % auf 5 Milliarden Dollar. Pflanzenmilch macht dabei mit 2 Milliarden Dollar den größten Anteil aus, gefolgt von anderen Milchersatzprodukten mit 1,4 Milliarden und Fleischersatzprodukten mit 939 Millionen Dollar. Am stärksten Wuchs der Markt im Segment Eiersatz mit einem Plus von 192 %.
In Großbritannien wuchs der Markt für vegane Take-Away-Produkte zwischen 2016 und 2018 um 388 %.
2017 untersuchte das Institut für alternative und nachhaltige Ernährung die am Markt angebotenen Fleischalternativen und schreibt: „Zusammenfassend stellen Fleischalternativen eine ernährungsphysiologisch günstige Alternative zu Fleisch- und Wursterzeugnissen dar. Sie liefern überwiegend hochwertiges pflanzliches Protein, weniger Fett und gesättigte Fettsäuren als fleischhaltige Originalprodukte und sind praktisch frei von Cholesterol.“ Der Salzgehalt sei jedoch weiterhin sehr hoch. 2019 hat Ökotest vegane Burger-Patties getestet und festgestellt, dass viele Gentechnik enthalten, sowie jedes zweite Pattie mit Mineralölrückständen verunreinigt ist. Vom übermäßigen Konsum hochverarbeiteter Ersatzprodukte raten auch Promotoren einer veganen Lebensweise ab.
Vegane Haustierhaltung
Eine Meta-Studie aus dem Jahr 2023 hält eine vegane Ernährung von Hunden und Katzen für möglich, wenn kommerziell hergestelltes veganes Tierfutter verwendet wird, welches so formuliert wurde, dass es dem Nährstoffbedarf der Tiere gerecht wird. Die Autoren der Studie weisen aber darauf hin, dass noch höherwertige Studien durchgeführt werden sollten.
Der Deutsche Tierschutzbund und Biologen meinen jedoch, die vegane Ernährung einer Katze verstoße gegen das Tierschutzgesetz, das besagt, der Halter
muss das Tier seiner Art und seinen Bedürfnissen entsprechend angemessen ernähren, pflegen und verhaltensgerecht unterbringen
Der Deutsche Tierschutzbund ist der Ansicht, dass eine rein vegane Ernährung von Katzen nicht den ernährungsphysiologischen Grundbedürfnissen entspräche und deshalb aus Tierschutzsicht nicht vertretbar sei.
Literatur
Überblicksdarstellungen
Ernährungswissenschaften
Kultur- und Sozialwissenschaften
Geisteswissenschaften
Geschichte
Aktivismus & vegane Autoren
Naturwissenschaften
Weblinks
Anmerkungen
Einzelnachweise
Ernährungsweise
Ethische Theorie
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Q181138
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