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https://de.wikipedia.org/wiki/Herakles
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Herakles
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Herakles oder Herkules () ist ein für seine Stärke berühmter griechischer Heros, dem göttliche Ehren zukamen und der in den Olymp aufgenommen wurde.
Seine Attribute sind das Fell des Nemeischen Löwen, Keule, Bogen und Köcher.
Gemäß den verschiedenen Sagen, die sich um den Halbgott Herakles ranken, war er der Sohn des Zeus und der Alkmene, Zwillingsbruder des Iphikles, erster Gatte der Megara, zweiter Gatte der Omphale, Gatte der Deïaneira und der Auge und nach seinem Tode Gatte der Göttin Hebe, außerdem Geliebter der Iole und des Abderos und Vater zahlreicher Kinder. Herakles war Vetter und Freund des Oionos, Urgroßvater des Hippotes und des Deiphontes und Vorfahre des Polyphontes. Sein Ziehvater ist Amphitryon. Über die Genealogie seiner Mutter gehört er zum Geschlecht der Perseiden.
Neben dieser Hauptform gab es in der Antike noch eine weitere Auffassung des Herakles, die in ihm den ältesten der Brüder, die unter dem Namen der kretischen Daktylen bekannt waren, sah. Dieser Herakles Idaios war der Begründer der Olympischen Spiele.
Leben gemäß dem griechischen Mythos
Geburt
Zeus verliebte sich einst in die schöne Alkmene. Ihr Gemahl Amphitryon war aus Mykene geflohen, da er seinen Onkel und Schwiegervater Elektryon erschlagen hatte. Daraufhin kam Zeus zu Alkmene in Gestalt ihres Ehemannes und zeugte mit ihr Herakles. Als Amphitryon von seiner Reise zurückkehrte, kam der Betrug zutage. Er verzieh seiner unwissenden Frau und zeugte mit ihr Iphikles, Herakles’ Zwillingsbruder. Alkmene gebar also zwei Söhne – Herakles, Spross eines Gottes und einer Sterblichen, und Iphikles, Nachkomme zweier Sterblicher. So wurde Herakles in Theben geboren. Hera, die Gemahlin des Zeus, wurde aus Eifersucht zur lebenslangen Verfolgerin des Herakles. Als die Geburt von Herakles und seinem Zwillings-Halbbruder Iphikles bevorstand, verkündete Zeus, dass das erstgeborene Kind aus dem Hause des Perseus, des Großvaters der Alkmene, der Herr über Mykene werden solle. Darum hatte Hera ihn gebeten, um ihn überlisten zu können. Sie verzögerte die Wehen von Alkmene, so dass zuerst Eurystheus, Sohn des Sthenelus, eines Onkels Amphitryons, zur Welt kam und erst dann Herakles, der somit diesem untertan war.
Alkmene setzte den Säugling aus Angst vor Heras Rache aus. Dessen Halbschwester Athene nahm ihn und brachte ihn zu Hera. Diese erkannte Herakles nicht und säugte ihn aus Mitleid. Dabei sog Herakles jedoch so stark, dass er Hera Schmerzen zufügte und diese ihn von sich stieß. Die Milch spritzte über den Himmel und bildete dort die Milchstraße. Doch mit der göttlichen Milch erhielt Herakles übernatürliche Kräfte. Athene brachte das Kind zu seiner Mutter zurück und Herakles wuchs fortan bei seinen Eltern auf. Er war gerade acht Monate alt, als Hera zwei riesige Schlangen in das Gemach der Kinder schickte. Iphikles weinte vor Angst, doch da ergriff sein Bruder die beiden Schlangen und erwürgte sie. Der Seher Teiresias, den der erstaunte Amphitryon kommen ließ, prophezeite dem Kind eine ungewöhnliche Zukunft. Zahlreiche Ungetüme werde er besiegen.
Erziehung
Herakles wurde in den Künsten des Wagenlenkens, Bogenschießens, Fechtens, im Faustkampf und Ringen unterrichtet. Auch wurde ihm der Gesang und das Spielen auf der Leier beigebracht. Er war zwar sehr gelehrig, doch lebenslang bis zum Wahnsinn jähzornig. So erschlug er seinen Musiklehrer Linos mit der Leier, als dieser ihn zu Unrecht tadelte. Sein Pflegevater König Amphitryon schickte ihn daraufhin, wohl aus Furcht vor seiner ungebändigten Kraft, auf den Kithairon zu seinen Rinderherden. Hier wuchs er unter den Hirten zu einem Jüngling heran.
In diese Zeit verlegt der Sophist Prodikos die sinnreiche Fabel von „Herakles am Scheideweg“. Der junge Herakles begegnet an einer Weggabel zwei Frauen. Die eine trägt kostbare Gewänder und verspricht ihm ein Leben voll Genuss und Reichtum. Die andere, schlicht gekleidet, warnt ihn dagegen: „Von dem Guten und wahrhaft Schönen geben die Götter den Menschen nichts ohne Mühe und Fleiß.“ Im Streitgespräch debattieren die beiden Frauen, die die Glückseligkeit () und die Tugend () darstellen, die Vorzüge und Nachteile der zwei Lebenswege. Herakles entscheidet sich schließlich, der Tugend zu folgen.
Erste Abenteuer
Vom achtzehnjährigen Herakles berichtet Apollodor folgendes Abenteuer:
Auf dem Kithairon, an welchem die Herden des Amphitryon und die des Thespios weideten, hauste ein Löwe, den Herakles zu bekämpfen unternahm. Thespios gab dem jungen Helden währenddessen 50 Tage hindurch jede Nacht je eine seiner 50 Töchter, von denen darauf 50 Söhne geboren wurden. Nach langem Kampf erlegte Herakles den Löwen und trug seitdem dessen Haut statt seines gewöhnlichen Gewandes und dessen Kopf als Helm.
Später kam noch die aus einem Ölbaum bei Nemea gefertigte Keule hinzu; sein römischer Beiname Claviger lässt sich aus dieser Episode ableiten.
Bei seiner Rückkehr nach Theben begegnete Herakles den Gesandten des orchomenischen Königs Erginos, welche einen den Thebanern abgerungenen Tribut von 100 Ochsen holen wollten. Herakles schnitt den Gesandten Nasen und Ohren ab, schickte sie gefesselt nach Hause und zwang in dem darauffolgenden Krieg die Orchomenier, den empfangenen Tribut doppelt zurückzuerstatten. Es kam zur Schlacht zwischen den Minyern und den Thebanern, die Herakles mit außerordentlichen Taten für Theben gewann. Schnell verbreitete sich der Ruhm seiner Taten. Kreon, der König von Theben, gab ihm zum Lohn seine Tochter Megara zur Frau, mit der er drei Söhne zeugte.
Die Arbeiten ()
Dann rief Eurystheus, dem Herakles als Zweitgeborener untertan war, ihn in seine Dienste, doch Herakles verweigerte die Dienstbarkeit. Da überzog die rachsüchtige Hera ihn mit Wahnsinn. Darin verfangen, tötete Herakles seine mit Megara gezeugten Kinder – laut der Darstellung des Euripides in der Tragödie Herakles zudem Megara selbst.
Als der Anfall von ihm gewichen war und er seine schreckliche Tat vor Augen sah, ergriff ihn tiefe Bekümmernis. Schließlich fragte er das Orakel von Delphi um Rat. Da antwortete die Pythia: „Entsühnung für deine schreckliche Mordtat erlangst du nur, wenn du dich zwölf Jahre in den Dienst des Eurystheus stellst und die von ihm geforderten Taten erfüllst.“ In jenem Orakel soll er das erste Mal Herakles genannt worden sein, als der Held, welcher durch die Verfolgungen der Hera Ruhm erlange, während er bisher nach Amphitryons Vater Alkaios Alkeides oder Alcides geheißen hatte. Herakles tat, wie ihn das Orakel geheißen hatte. Bewaffnet mit einer Keule, die er selbst geschnitzt hatte, einem von Hermes geschenkten Schwert sowie Pfeil und Bogen, die er von Apollon erhalten hatte, ging er nach Argos zu König Eurystheus.
Dieser gab ihm insgesamt zwölf Aufgaben – im Griechischen „Arbeiten“ (Plural zu ) genannt. Sie waren Ausfluss und Folge der von der zürnenden Hera veranlassten ponoi (Plural zu , ebenfalls „Arbeit“, insbesondere aber die „mühsame, ermattende Arbeit“): Unterordnung gegenüber Eurystheus, Wahnsinn und weiteres. Die griechische Mythologie kannte mit Ponos einen eigenen Daimon für derlei Erscheinungen. Herakles bewältigte alle Aufgaben, obwohl Hera die ponoi durch das Hervorbringen weiterer Ungeheuer, etwa eines Krebses im Kampf gegen die Hydra, noch verschärfte. Nach ihrer Vollbringung spricht man meist von den Zwölf Taten des Herakles.
In der griechischen Literatur ab hellenistischer Zeit wurden die zwölf Taten unter dem in den Fachwissenschaften üblichen Begriff Dodekathlos (eigentlich ) zusammengefasst. Das deutsche Wort „Herkulesaufgabe“ leitet sich von dem immensen Umfang jeder dieser zwölf Aufgaben ab.
Das Motiv der zu bewältigenden Aufgaben findet sich als ältestes bekanntes dichterisches Werk bei Peisandros von Kameiros (7./6. Jahrhundert v. Chr.). In verschiedenen Überlieferungen und Aufzeichnungen des Heraklesmythos ist die Zusammensetzung und Reihenfolge teilweise unterschiedlich angegeben.
Eine weitere Erzählung stellt dar, wie Herakles als Buße für seinen Jähzorn der lydischen Königin Omphale drei Jahre als Sklave diente. In diese Zeit der Knechtschaft verlegt Apollodor die Teilnahme des Herakles am Argonautenzug gemeinsam mit seinem Freund Hylas, ebenfalls die Sage um die Jagd des Kalydonischen Ebers sowie die Bestrafung des Syleus, Lytierses und der Kerkopen.
Die Nebenarbeiten ()
Herakles musste gegen zahlreiche Kontrahenten bestehen, die sich ihm bei seinen Reisen zu den zwölf aufgetragenen Missionen des Eurystheus in den Weg stellten. Diese Auseinandersetzungen standen nicht in direkter Verbindung mit den Aufgaben des Eurystheus und wurden bereits in der Antike als Nebenarbeiten () bezeichnet; dennoch musste Herakles diese meistern, um seine Reise fortsetzen zu können. So kam es, dass der Heros gegen Kentauren und Amazonen zu kämpfen hatte und sogar Iason beim Zug der Argonauten unterstützte.
Als er von der Reise zum goldenen Vlies zurückkehrte, kam ihm zu Ohren, dass Laomedon, der König Trojas, seine unsterblichen Pferde demjenigen versprach, der seine Tochter Hesione retten würde. Ein Jahr zuvor bestrafte Zeus die Götter Poseidon und Apollon wegen einer Dreistigkeit. So kam es, dass der Gott über die Meere und der Gott der Musik ein ganzes Jahr lang Laomedon dienen mussten. Poseidon errichtete die als unüberwindbar geltenden Mauern Trojas und Apollon hütete die beachtlichen Herden des Königs. Nachdem das Jahr der Buße vorbei war, verlangten die beiden Götter ihren Lohn von Laomedon, der ihnen aber die Entlohnung verweigerte. Apollon und Poseidon schworen Rache an Troja und Laomedon. Der Gott der Musik brachte die Pest über die Bewohner der Stadt und Poseidon entsandte ein Meeresmonster, das troische Ketos, das sie terrorisierte. In ihrer Verzweiflung wandten sich die Bewohner an das Orakel von Delphi, das ihnen prophezeite, dass nur die Opferung der Hesione die Flüche der Götter aufheben könnte. Hesione wurde an einen Fels gekettet und dem Ketos als Opfer angeboten. Herakles aber gelang es, Hesione zu retten, indem er das Meerungeheuer erschlug. Der König brach auch das Versprechen an Herakles, ihm die Pferde des Zeus zu überreichen. Herakles zog stillschweigend von dannen, doch insgeheim wusste er, dass sein Tag der Rache schon bald kommen würde. Als Herakles von seinem Sieg über die Amazonen aus Themiskyra zurückkehrte, wohin ihn eine der Aufgaben des Eurystheus befohlen hatte, war der Tag der Vergeltung gekommen. Mit seinen Gefährten drang Herakles gewaltsam in Troja ein, tötete König Laomedon und löschte dessen ganze Familie – bis auf die Tochter Hesione und auf deren Bitten den jüngsten Sohn Priamos – aus. Priamos nahm Jahre später seines Vaters Thron ein.
Herakles machte die Königstochter Deïaneira zu seiner zweiten Frau. Eines Tages mussten beide einen Fluss überqueren, der Hochwasser führte. Der Kentaur Nessos erbot sich, die junge Frau trockenen Fußes auf seinem Rücken hinüberzutragen, galoppierte aber dann mit ihr davon. Herakles schoss ihm einen seiner tödlichen Pfeile nach. Als der getroffene Nessos im Sterben lag, gab er der Frau einen tückischen Rat: „Fange ein wenig von meinem Blut auf und bewahre es. Wenn du fürchtest, die Liebe des Herakles zu verlieren, tränke damit sein Gewand, und er wird nie wieder eine andere Frau als dich ansehen.“ Sein Blut aber war durch den Todespfeil vergiftet.
Nessoshemd und Tod
Jahre später wandte sich Herakles der erbeuteten schönen Iole zu. Da ließ ihm die eifersüchtige Deïaneira das von ihr blutgetränkte Untergewand (das als „Nessoshemd“ oder „Lichashemd“ zur stehenden Redensart geworden ist) durch den Diener Lichas überbringen, der nicht ahnte, dass er seinem Herrn durch diesen Dienst schaden würde. Nachdem Herakles es übergeworfen hatte, befielen den Helden entsetzliche Schmerzen. Er versuchte, das Hemd abzulegen, doch es hatte sich fest mit seiner Haut verbunden, sodass er zugleich sein Fleisch mit abriss. Deïaneira tötete sich aus Verzweiflung. Um seinen unerträglichen Qualen ein Ende zu bereiten, schichtete Herakles auf dem Berg Oite einen Scheiterhaufen und ließ sich durch Philoktetes darauf lebend verbrennen. Der Berg Oite war durch das Orakel von Delphi einst für das Ende des Herakles verkündet worden. Zudem traf die Prophezeiung ein, dass er durch jemanden sterben sollte, der selbst nicht mehr am Leben war. Doch wurde er aus den Flammen zum Olymp entrückt, dort erlangte er die Unsterblichkeit. Seine Qualen endlich begütigten Hera, und Herakles wurde mit ihrer Tochter Hebe, der Göttin der Jugend, vermählt.
Kultische Verehrung
Römisches Reich
Sein Kult verbreitete sich um das Mittelmeer. Die Römer verehrten Herakles unter dem lateinischen Namen Hercules (der aus dem etruskischen Hercle und dem griechischen Namen per Synkope entstanden ist) wie die Griechen als Gott. Dieser unterscheidet sich jedoch in einer Reihe von Mythen von seinem griechischen Pendant. An seinem Tempel auf dem Forum Boarium gelobten ihm Geschäftsleute bei Antritt ihrer Reisen einen Zehntel ihres Gewinnes.
Seleukiden und Parther
Der Kult des Herakles erfreute sich auch einer besonderen Beliebtheit im seleukidischen und im parthischen Reich. Der Tempel von Masdschid-i Solaiman im heutigen Iran mag ihm geweiht gewesen sein. Zumindest fanden sich dort Reste einer Herakles-Statue. Die Datierung der Tempelanlage in die seleukidische Zeit, wie sie von Ausgräber vorgeschlagen wurde, ist jedoch unsicher. Aus dem Jahr 148 v. Chr. stammt ein Felsrelief bei Bisutun, das Herakles liegend zeigt. Der Gott wird in der dazu gehörigen Weiheinschrift ausdrücklich genannt. Es ist aber trotzdem nicht sicher, inwieweit er im vorderasiatischen Raum mit Verethragna oder anderen Gottheiten identifiziert wurde. Aus Dura Europos stammen mehr als 30 Reliefs und Skulpturen des Herakles. Auch hier ist es nicht immer sicher, ob Herakles mit einem asiatischen Gott gleichgesetzt wurde. Es gibt jedoch Anzeichen, dass Herakles an sich verehrt wurde.
Quellen
Schriftliche Quellen
Quellen für den Heraklesmythos finden sich in griechischer und lateinischer Literatur in großer Zahl. So unterschiedlich wie die jeweiligen Literaturgattungen ist auch die Funktionalisierung der Figur des Herakles (admirative, sympathetische, ironische oder sogar negative Identifikation).
Griechische Quellen sind unter anderem Homer, Ilias und Odyssee; Pseudo-Hesiod, Schild des Herakles; Pindar; Bakchylides; Sophokles, Die Frauen von Trachis; Euripides, Herakles; Aristophanes, Vögel; Theokrit, Idyll 13 und 24; Apollonios von Rhodos, Argonautica 1; Kallimachos, Hekale, Aitia und Artemis-Hymnos; Diodor 4,8 ff.; Bibliotheke des Apollodor 2,4,8 ff.
Lateinische Quellen sind unter anderem Vergil, Aeneis 8; Properz, Elegien 4,9; Ovid, Metamorphosen 9; Seneca, Hercules furens und Hercules Oetaeus; Silius Italicus, Punica; Hyginus, Fabulae 29–36.
Herakles in der antiken Kunst
Die Amphora aus Vulci im Britischen Museum oder die Statue des Herakles aus Seleukia im Irakischen Nationalmuseum sind Beispiele der Heraklesrezeption in der antiken bildenden Kunst.
Gleichsetzungen
Körperliche Merkmale des germanischen Gewittergotts Thor (Haarfarbe, Bart) sowie seine Auseinandersetzung mit der Midgardschlange zeigen Analogien sowohl zu Herakles (der mit Blitz und Donner in den Olymp entrückt wurde) als auch zu Indra, dem vedischen Donnergott, worauf schon Hermann Oldenberg verwies. Leopold von Schroeder arbeitete die gemeinsamen Züge der Mythen von Herakles und Indra noch deutlicher heraus. Die beiden jungen unbeherrschten, mit übermenschlicher Kraft ausgestatteten Heroen vollbringen ähnliche Heldentaten (Befreiung der Kühe aus der Höhle des Riesen, Kentaurenkampf, Kampf mit der lernäischen Hydra). Walter Burkert hält den Herakles-Mythos für einen vorgriechischen (thrakischen?) Hirtenmythos, der Ähnlichkeiten mit dem Indra-Mythos aufweise; er enthalte schamanistische Elemente.
In hellenistischem Zusammenhang wurde Herakles manchmal mit dem babylonischen Nergal gleichgesetzt. Der Kult des Nergal-Herakles ist aus Hatra und Palmyra belegt. In Hatra scheint dem Herakles-Nergal der Hund als Symboltier zugeordnet gewesen zu sein. Wie in früherer Zeit war er auch Beschützer der Stadttore. Im kilikischen Tarsos findet sich eine Gleichsetzung mit dem Gott Sandan. Die ältesten Darstellungen der buddhistischen Schutzgottheit Vajrapani aus Gandhara (heute Westpakistan) ähneln Herakles so auffallend, dass die Vajrapaniverehrung auf den Herakleskult zurückgehen könnte. Bilder, die eindeutig Herakles darstellen, sind aus Gandhara bekannt.
Germanischer und Deutscher Herkules
Tacitus erwähnte in der Germania Herkules neben Mars als germanischen Gott.
Johannes Aventinus erwähnt einen „deutschen Herkules“ unter dem Namen Alman:
Der Name Alman ist möglicherweise vom Namen der Alamannen hergeleitet.
Philipp von Zesen leitete von diesem Alman oder Alamannus den Namen des Genfersees Lacus Lemannus her, wie auch die Namen Almansweiler und Almanshofen. In der Sage wird der Name von Allmannsdorf bei Konstanz durch einen „ungarischen Herrn, Alman von Stoffen“ erklärt, der dort zur Regierungszeit des Septimius Severus gehaust haben soll.
Rezeption
Bedeutung für die Kunstgeschichte nach der Antike
In der Kultur des europäischen Mittelalters galt Herakles als Vorbild für tugendhaftes Verhalten und vorbildliches Kriegertum. Darstellungen der Heldentaten des Herakles und vor allem auch das Motiv des Herakles am Scheideweg finden sich daher während des ganzen Mittelalters und wurden auch während der Renaissance und des Barocks in großer Zahl geschaffen.
Für das Interesse am menschlichen Körper und dessen bewegter Darstellung wurden häufig Herkulesszenen ausgewählt, besonders Herkules und Antaeus, Cacus und die Kämpfe mit Kentauren. Plastisch hat das der Italiener Antonio Pollaiuolo festgehalten. Druckgraphik sorgte für überregionale Verbreitung; u. a. Gian Giacomo Caraglio (nach Rosso Fiorentino) in Italien oder Hans Sebald Beham in Deutschland.
Berühmte Darstellungen gibt es von Leonardo da Vinci, Baccio Bandinelli, Peter Paul Rubens und Hans Baldung.
Bedeutung für die Literaturgeschichte in antiker und nachantiker Zeit
Auch Schriftsteller und Dichter von Pindar, Euripides, Ovid, Seneca, Giovanni Boccaccio, über William Shakespeare bis Christoph Martin Wieland, Johann Wolfgang von Goethe und Friedrich Hölderlin bis zu Autoren des 19. und 20. Jahrhunderts, wie Frank Wedekind, Robert Walser, Friedrich Dürrenmatt, Heiner Müller und Peter Huchel, wurden von dem Mythos inspiriert.
Die Rolle des Herkules in der Französischen Revolution
Im Ancien Régime noch als Symbol für die Kraft des Königs geltend, wurde Herkules zu einer Figur, die allegorisch für die Kraft des gemeinen Volkes stand. Besonders in der Zeit der Jakobinerherrschaft diente die Figur als Drohkulisse gegen sogenannte Volksfeinde, die sich dem Fortgang der Revolution, die 1793–94 zur Terrorherrschaft des Wohlfahrtsausschusses ausartete, entgegenstellten.
Herkules in der Popkultur
Die Figur des Herkules ist im Laufe des 20. Jahrhunderts in zahlreichen Spielfilmen, Fernsehserien und Comics verarbeitet worden. Insbesondere in Italien entstand von den 1960er bis in die 1980er Jahre ein eigenes Subgenre des Sandalenfilms um den Heroen. Zu den heute bekanntesten Adaptionen in dieser Tradition zählen eine Version von Mario Bava (Vampire gegen Herakles, 1961; Hauptrolle: Reg Park) und zwei Filme von Luigi Cozzi (Herkules und Die Abenteuer des Herkules 2. Teil aus den Jahren 1983 und 1985; Darsteller war Lou Ferrigno). Bekannte amerikanische Verfilmungen der Figur sind Hercules in New York (1969) mit dem jungen Arnold Schwarzenegger in der Titelrolle, der Zeichentrickfilm Hercules von 1997 aus dem Hause Disney und die Adaption von 2014 mit dem Wrestler und Actiondarsteller Dwayne Johnson (basierend auf einer Comicfigur des US-Verlags Radical Comics). Populär war auch eine TV-Serie der 1990er Jahre mit Kevin Sorbo in der Hauptrolle. Fast allen modernen Adaptionen der Popkultur ist gemein, dass sie die traditionellen Handlungen der Heraklessage mit Motiven anderer Sagenstoffe, historischen Versatzstücken und neu erdachten Fantasyelementen verbinden.
In den USA wurde Herkules 1941 als Figur in den Comics zu Wonder Woman (DC Comics) und 1965 auch als Figur in den Thor-Comics (Marvel Comics) eingeführt. Bei Marvel wird er als leichtfertiger Draufgänger dargestellt und avancierte dadurch zum Rivalen des besonnen handelnden Thor. Bei DC dagegen gilt er im Allgemeinen als Unterstützer der Titelheldin.
Der französische Comicheld Asterix hat im 1976 erschienenen Film Asterix erobert Rom in Anlehnung an Herakles ebenfalls zwölf Aufgaben zu erfüllen, um für die Gallier die Herrschaft über das Römische Reich zu übernehmen. Diese Geschichte erschien 1977 als 12 Prüfungen für Asterix auch in Comicform.
Benennungen
Nach Herakles wurde das Sternbild Herkules benannt, ebenso der Asteroid (5143) Heracles, der Mondkrater Hercules, der Mount Hercules in der Ostantarktika sowie Statue und Gebäudekomplex Herkules im Bergpark Wilhelmshöhe.
Siehe auch
Herakleiden
Literatur
Alastair Blanshard: Herkules. Aus dem Leben eines Helden. Übersetzt von Sebastian Wohlfeil. Parthas, Berlin 2006, ISBN 978-3-86601-070-3.
John Boardman, L. J. Balmaseda u. a.: Herakles/Hercules. In: Lexicon Iconographicum Mythologiae Classicae (LIMC). Band IV, Zürich/München 1988/1990, S. 728–838; Band V, S. 1–192, 253–262.
Karl Galinsky: The Herakles theme. The adaption of the hero in literature from Homer to the 20th century. Blackwell, Oxford 1972.
Klaus Heinrich: Arbeiten mit Herkules. Zur Figur und zum Problem des Heros. Antike und moderne Formen seiner Interpretation und Instrumentalisierung. Dahlemer Vorlesungen 9. Stroemfeld/Roter Stern, Frankfurt 2006, ISBN 978-3-87877-029-9.
Mario Leis, Patrick Sourek (Hrsg.): Mythos Herkules. Texte von Pindar bis Peter Weiss. Reclam Bibliothek, Leipzig 2005, ISBN 3-379-20126-X, (Inhaltsverzeichnis).
Herbert Hunger: Lexikon der griechischen und römischen Mythologie (Herakles), Veröffentlicht im Rowohlt Taschenbuchverlag GmbH, Reinbek bei Hamburg, Januar 1974 ISBN 3-499-16178-8 S. 163–175.
Weblinks
Herkules. Artikel aus Wilhelm Vollmer: Mythologie aller Völker. 3. neubearb. Aufl., 1874.
Robert Baldwin: A Bibliography on the Hercules Theme (with a focus on the early modern period). Connecticut College, 2004 (Word-Dokument, 151 kB).
Gustav Schwab: Online-Dateien aus dem Gutenberg-Projekt:
Herakles der Neugeborne | Die Erziehung des Herakles | Herakles am Scheidewege | Des Herakles erste Taten | Herakles im Gigantenkampfe | Herakles und Eurystheus |Die drei ersten Arbeiten des Herakles | Die vierte Arbeit des Herakles bis zur sechsten | Die siebente, achte und neunte Arbeit des Herakles | Die drei letzten Arbeiten des Herakles | Herakles und Eurytos | Herakles bei Admetos | Herakles im Dienste der Omphale | Die späteren Heldentaten des Herakles | Herakles und Deïanira | Herakles und Nessos | Herakles, Iole und Deïanira. Sein Ende
Ca. 2500 Photos von Darstellungen des Herakles, in der Warburg Institute Iconographic Database.
Einzelnachweise
Griechische Gottheit
Römische Gottheit
Drachentöter
Männliche Gottheit
Theben (Böotien)
Griechische Gottheit als Namensgeber für einen Asteroiden
Namensgeber für einen Mondkrater
Römische Gottheit als Namensgeber für einen Asteroiden
Gottheit als Namensgeber für eine Pflanzengattung
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Q122248
| 192.357596 |
100136
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https://de.wikipedia.org/wiki/Hypothalamus
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Hypothalamus
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Der Hypothalamus (von altgriechisch ὑπό hypo „unter“ und θάλαμος thálamos „Zimmer, Kammer“) ist ein Teil des Gehirns und befindet sich direkt über der Hypophyse. Der Hypothalamus ist ein Abschnitt des Zwischenhirns (Diencephalon) im Bereich der Sehnervenkreuzung (Chiasma opticum). Medial wird der Hypothalamus vom dritten Ventrikel, kranial vom Thalamus begrenzt. Das Infundibulum, der sogenannte Hypophysenstiel, verbindet den Hypothalamus mit der Hypophyse, deren Hinterlappen noch als Teil des Hypothalamus bezeichnet wird.
Der Hypothalamus steuert im Zusammenwirken mit der Hypophyse andere endokrine Drüsen. Er bildet besondere Steuerhormone (Releasing- und Inhibiting-Hormone), verschiedene Neuropeptide sowie Dopamin und regelt hierüber maßgeblich die vegetativen Funktionen des Körpers.
Funktion
Der Hypothalamus ist das wichtigste Steuerzentrum des vegetativen Nervensystems, das selbst aus verschiedensten homöostatischen Regelkreisen besteht. Der Hypothalamus ist die wichtigste Hirnregion für die Aufrechterhaltung des inneren Milieus (Synonym: Homöostase) und seiner Anpassung bei Belastungen des Organismus. Selbst geringste Störungen dieses relativ kleinen, äußerst bedeutsamen Zwischenhirnareals wirken sich auf die Lebensfähigkeit des Individuums aus. Das gesamte vegetative System hat unter anderem folgende Aufgaben:
Aufrechterhalten der Homöostase (Temperatur, Blutdruck, Osmolarität)
Regulation der Nahrungs- und Wasseraufnahme
Circadiane Rhythmik und Schlaf
Steuerung des Sexual- und Fortpflanzungsverhaltens (Sexualzentrum)
Um seinen Aufgaben nachzukommen, hat der Hypothalamus zahlreiche neuronale Verbindungen zu anderen Hirnzentren. Außerdem steuert er über Liberine (releasing factors bzw. releasing hormones) und Statine (release inhibiting factors bzw. release inhibiting hormones) die Hormonabgabe der Adenohypophyse (Hypophysenvorderlappen) bzw. produziert selbst die Hormone, die in der Neurohypophyse (Hypophysenhinterlappen), die ebenfalls zum Hypothalamus gezählt wird, ins Blut abgegeben werden.
Regulation der Körpertemperatur
An der Steuerung der Körpertemperatur ist der Nucleus preopticus beteiligt. Er liegt am rostralen Ende des Hypothalamus in direkter Nachbarschaft der Septumregion und des Organum vasculosum laminae terminalis. Efferent projiziert der Nucleus preopticus GABAerg in das Periaquäduktale Grau (PAG) und den Nucleus raphes magnus, von wo aus die Thermogenese gesteuert wird. Ebenfalls beeinflusst der Nucleus preopticus die Freisetzung von Thyreoliberin (TRH) aus dem Nucleus paraventricularis. TRH wiederum stimuliert die Thyreotropin-Ausschüttung (TSH), was zu einer Steigerung der Stoffwechselaktivität über die Schilddrüsenhormone führt.
Homöostase der Osmolarität
Der Nucleus paraventricularis, vor allem aber der Nucleus supraopticus produzieren das Nonapeptid Vasopressin (Synonym: Antidiuretisches Hormon, ADH oder Adiuretin). Über den axonalen Transport gelangt dieses in den Hypophysenhinterlappen (Synonym: Neurohypophyse) und wird dort in den Hypophysen-Portalkreislauf abgegeben. ADH führt zu einer verstärkten Resorption von Wasser aus dem Primärharn. Somit kommt es zu einer verminderten Wasserausscheidung über die Niere, was einer Hyperosmolarität entgegenwirkt und den Blutdruck steigert.
Regulation der Nahrungsaufnahme
An der Regulation der Nahrungsaufnahme sind mehrere Kerne beteiligt. Sie ist sehr komplex und es existieren verschiedene Theorien. Die zwei wichtigsten seien hier genannt:
Beteiligt sind der Nucleus arcuatus und der Nucleus paraventricularis. Sind die Fettspeicher des Körpers gefüllt, schütten die Fettzellen das Hormon Leptin aus. Dieses hemmt im Nucleus arcuatus die Freisetzung von Neuropeptid Y (NPY). NPY wirkt hemmend auf den Nucleus paraventricularis und fördert das Hungergefühl. Leptin inhibiert also die hemmende Wirkung des NPY. Gleichzeitig stimuliert Leptin die Ausschüttung von alpha-MSH, einem Peptid-Hormon, das den Nucleus paraventricularis über den MC-4 Rezeptor stimuliert und Sattheit signalisiert. Funktionsausfall des MC-4-Rezeptors durch Mutationen führt schon im Kindesalter zu starkem Übergewicht und zum early-onset Diabetes mellitus Typ II.
Nach einer zweiten Theorie wird das Hungergefühl von zwei Teilen des Hypothalamus reguliert: Der laterale Hypothalamus regt bei einer Stimulation den Hunger an, der ventromediale Hypothalamus hingegen hemmt das Hungergefühl bei Stimulation. Diese Erkenntnis führte zur dualen Hypothalamustheorie des Hungers, nach der angenommen wird, dass die beiden Zentren den Beginn und die Beendigung der Nahrungsaufnahme steuern.
Schlaf und circadiane Rhythmik
Auch an der Regulation des Schlafs und der circadianen Rhythmik ist der Hypothalamus beteiligt: Der Nucleus tuberomammillaris produziert den Neurotransmitter Histamin und ein Peptid namens Orexin. Orexin wirkt über bestimmte Rezeptoren auf den lateralen Hypothalamus und führt zu gesteigerter Aufmerksamkeit. Mutationen dieses Rezeptors werden für das Krankheitsbild der Narkolepsie verantwortlich gemacht. Außerdem wird Orexin als wake-up-drug z. B. für Kampfjet-Piloten gebraucht. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass Schlaflosigkeit zu vermehrter Nahrungsaufnahme und gleichzeitiger Gewichtsabnahme führt, und Orexin appetitanregend wirkt. Auch der Nucleus preopticus venterolateralis (VLPO) des Hypothalamus ist an der Schlafeinleitung beteiligt. Läsionen in diesem Kern führen zur Insomnie.
Der Nucleus suprachiasmaticus (SCN) enthält direkte Afferenzen aus der Retina. Hier vermuten Forscher den Sitz der „inneren Uhr“, Neurone, die für die circadiane Rhythmik verantwortlich sind. Der SCN kontrolliert sehr stark die Aktivität des Sympathikus. Über dieses vegetative System stimuliert der SCN die Freisetzung von Melatonin aus der Zirbeldrüse. Melatonin wird in den Abendstunden vermehrt ausgeschüttet und trägt zur Schlafeinleitung bei. Die höchste Konzentration findet sich im Blut um drei Uhr morgens. Die anatomische Verbindung vom SCN zur Zirbeldrüse führt über den Nucleus paraventricularis zum Seitenhorn des Thorakalmarks. Von dort aus erreichen sympathische Nervenfasern über eine Verschaltung im Ganglion cervicale superior begleitend mit den arteriellen Gefäßen die Zirbeldrüse. Diese schüttet circadian mit einem Maximum um drei Uhr morgens Melatonin aus.
Beeinflussung des Sexualverhaltens und der Pubertät
An der Beeinflussung des Sexualverhaltens ist u. a. das Corpus mamillare beteiligt. Es ist Teil des Papez-Kreis und wird dem Limbischen System zugerechnet. Der Nucleus preopticus medialis ist an der Varietät des sexuellen Verhaltens beteiligt.
Ferner geben magnozelluläre neurosekretorische Zellen des Nucleus paraventricularis über Projektionen in die Neurohypophyse (Synonym: Hypophysenhinterlappen) das Hormon Oxytocin in den Blutkreislauf ab. Oxytocin ist während der Geburt an der Kontraktion der Gebärmuttermuskulatur beteiligt, löst die Milchausschüttung aus den Milchdrüsen aus und beeinflusst Partner- und Mutter-Kind-Bindung positiv.
Der Hypothalamus ist auch an der Einleitung der Pubertät und den damit verbundenen Veränderungen sowie der Auslösung von Eisprüngen (Ovulationen) beteiligt.
Hormone des Hypothalamus
Literatur
Hans-Christian Pape, Armin Kurtz, Stefan Silbernagl (Hrsg.): Physiologie. 7. Auflage. Thieme, Stuttgart 2014, ISBN 978-3-13-796007-2.
B. Kleine, W.G. Rossmanith: Hormone und Hormonsystem. Springer, 2007
Wilfried Jäning. In: Robert F. Schmidt, Florian Lang (Hrsg.): Physiologie des Menschen. 30. Aufl. Springer Medizin Verlag, Heidelberg 2007, S. 467–468
Weblinks
Einzelnachweise
Neurobiologie
Diencephalon
Wikipedia:Artikel mit Video
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Q164386
| 120.784503 |
65915
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https://de.wikipedia.org/wiki/Calvinismus
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Calvinismus
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Der Begriff Calvinismus wird uneinheitlich gebraucht. Er ist einerseits eine Fremdbezeichnung für die aus der Schweizer Reformation hervorgegangene reformierte Kirchenfamilie, zu der auch Presbyterianische Kirchen und Kongregationalisten gehören. Als Calvinismus werden andererseits das theologische System Johannes Calvins und vor allem dessen Weiterentwicklungen bis in die Gegenwart bezeichnet.
Begriff
Der Begriff „Calvinismus“ wurde 1552 von dem Gnesiolutheraner Joachim Westphal geprägt. Calvin selbst lehnte diese Bezeichnung entschieden ab. Die Selbstbezeichnung als „reformierte Kirchen“ verdeutlicht, dass diese Kirchen sich nicht als Neugründung einer Person des 16. Jahrhunderts, nämlich Calvins, verstehen, sondern als Teile der einen, seit der Zeit der Apostel bestehenden Kirche. Diese Selbstbezeichnung wurde im Friedensvertrag von Osnabrück 1648 reichsrechtlich als Name einer Konfessionskirche anerkannt. Calvinistae und Calviner waren demgegenüber polemische Fremdbezeichnungen seitens der beiden anderen reichsrechtlich anerkannten Konfessionskirchen (Katholizismus und Luthertum).
„‚Calvinismus‘ ist, wenigstens im deutschsprachigen Bereich, für Reformierte eine – oft polemische – Fremdbezeichnung, die sie mit Grund von sich weisen und nicht als Selbstbezeichnung gebrauchen.“ (Eberhard Busch)
Lehre
Die Theologie Calvins betont die unbedingte Heiligkeit Gottes. Alles Menschenwerk, sogar die Glaubensentscheidung und nicht zuletzt der Kultus der katholischen Kirche mit Sakramenten, Reliquien oder Ablass galten ihm als Versuche, die Souveränität Gottes einzuschränken und an Irdisches zu binden. Die zum Teil schroffen Züge von Calvins Offenbarungs-, Gnaden- und Erlösungslehre wurden in der Auseinandersetzung der Calvinisten mit den „Arminianern“ im 17. Jahrhundert durch die Beschlüsse der Dordrechter Synode und durch das Bekenntnis von Westminster noch verschärft; das gilt insbesondere für Calvins Lehre von der doppelten Prädestination, wonach Gott ein für alle Mal vorherbestimmt habe, ob ein bestimmter Mensch auf dem Weg zur ewigen Seligkeit oder zur ewigen Verdammnis sei.
Die vier reformatorischen „Soli“ als Basis
Wie bei fast allen Richtungen, die aus der Reformation hervorgingen, gehören die vier Soli zur Basis des Calvinismus:
sola scriptura – allein die Schrift ist die Grundlage des christlichen Glaubens (nicht die Tradition),
solus Christus – allein Christus (nicht die Kirche) hat Autorität über Gläubige,
sola fide – allein durch den Glauben wird der Mensch gerechtfertigt (nicht durch gute Werke),
sola gratia – allein durch die Gnade wird der Mensch gerettet.
Die fünf Punkte des Calvinismus
Im frühen 20. Jahrhundert entstand in den Vereinigten Staaten eine populäre Darstellung von „Fünf Punkten des Calvinismus“ unter dem Akronym TULIP (Total depravity, Unconditional election, Limited atonement, Irresistible grace, Perseverance of the saints). Inhaltlich handelt es sich um eine Simplifizierung der Lehrregeln von Dordrecht bei geänderter Reihenfolge der Themen. Weder kann der klassische Calvinismus auf fünf Punkte reduziert werden, noch stammen alle fünf Formulierungen von Calvin.
Völlige Verdorbenheit/Unfähigkeit (Total depravity)
Aufgrund des Sündenfalls beherrscht die Sünde den ganzen Menschen, sein Denken, seine Gefühle und seinen Willen. Daher ist der natürliche Mensch nicht fähig, die Botschaft des Evangeliums zu verstehen, er ist geistlich völlig hilflos und verloren. Der Mensch kann Gottes rettende Botschaft erst verstehen, nachdem er durch den Heiligen Geist dazu befähigt wurde (, ).
Die Formulierung ist missverständlich: Die Canones von Dordrecht lehren nicht, dass der Mensch gar nichts Gutes tun könne, sondern, dass der Mensch nicht imstande sei, seine Erlösung durch eigene Anstrengung zu erreichen.
Bedingungslose Erwählung (Unconditional election)
Calvins Lehre der doppelten Prädestination wurde von der Dordrechter Synode in Auseinandersetzung mit dem Arminianismus modifiziert (Calvin: supralapsarisch, Dordrecht: infralapsarisch). Gott in seiner Barmherzigkeit hat aus seinem ewigen Ratschluss, nicht aus dem Vorherwissen ihres zukünftigen Glaubens einige Menschen erwählt und zum Glauben bestimmt. Die übrigen Menschen überlässt er ihrer eigenen Bosheit. Die Gründe, warum Gott einige erwählt hat, sind unbekannt. Es ist aber offensichtlich, dass das nicht aufgrund irgendwelcher guten Werke von Seiten des Erwählten geschehen ist. Die Erwählung ist insofern nicht an irgendwelche in der Person des Erwählten liegende Bedingungen geknüpft (.21).
Begrenzte Versöhnung/Sühne (Limited atonement)
Das ist der Glaube, dass Jesus Christus nicht gestorben ist, um alle Menschen zu retten. Sein Erlösungswerk ist nur an die auserwählten Sünder, die durch ihn gerettet sind, gerichtet (, ).
Die Formulierung ist missverständlich: Die Canones von Dordrecht betonen die universale Dimension des Kreuzes Christi.
Unwiderstehliche Gnade (Irresistible grace)
Gemeint ist, dass man die Gnade der Erwählung nicht ausschlagen kann. Der Mensch hat in dieser Hinsicht also keinen freien Willen, da er tot ist in seinen Vergehungen und deswegen keinerlei Macht hat, sich für Gott zu entscheiden . Nur durch den Ruf Gottes kann der Mensch geistlich wieder zum Leben erweckt werden , und somit zu Gott kommen. Jeder Mensch, den Gott erwählt hat, werde Gott erkennen. Die Erwählten können dem Ruf Gottes nicht widerstehen (, ).
Die Formulierung ist missverständlich: Die Canones von Dordrecht lehren nicht, dass die Gnade „unwiderstehlich“ sei, sondern dass Gottes Gnade trotz menschlicher Widerstände ihr Ziel erreiche.
Die Beharrlichkeit der Heiligen (Perseverance of the saints)
Die einmal Geretteten werden gerettet bleiben. Es sei unmöglich, Gottes Gnade wieder zu verlieren (, ). Diese „Beharrlichkeit“ wird mit dem Fachbegriff „Perseveranz“ bezeichnet.
Die Formulierung ist missverständlich: Die Canones von Dordrecht betonen mehr Gottes gnädige Bewahrung als das menschliche „Ausharren.“
Historische Einordnung von TULIP
Die Fünf Punkte des Calvinismus stehen in keiner historischen Beziehung zu den Lehrregeln von Dordrecht und geben diese auch nicht unverkürzt wieder (was besonders bei den Formulierungen Total depravement und Limited Atonement kritisiert wird). Das schwerwiegendste Problem ist aber folgendes: Die Lehrregeln stehen als Bekenntnisschrift nicht für sich, sondern stellen eine Ergänzung zu den beiden älteren Bekenntnisschriften der niederländischen reformierten Kirche dar, der Confessio Belgica und dem Heidelberger Katechismus. Während die Confessio Belgica und der Heidelberger Katechismus jeweils das ganze Spektrum der Glaubensinhalte darstellen, haben die Lehrregeln nur den Anspruch, einige aktuelle Streitfragen zur Prädestination verbindlich zu klären.
Diese Lehrregeln von Dordrecht wurden 1619 den beiden bisherigen niederländischen Bekenntnisschriften hinzugefügt. Ihre Bedeutung besteht darin, die konfessionelle Identitätsbildung des Reformiertentums in Abgrenzung zum Luthertum gefestigt zu haben. Neben der Christologie und der Abendmahlslehre war die Prädestinationslehre das dritte Feld innerprotestantischer Differenzen, und hierfür boten die Lehrregeln im Reformiertentum konsensfähige Formulierungen.
Nach Margit Ernst-Habib sind die Fünf Punkte des Calvinismus der Versuch einer retrospektiven Identitätsbestimmung durch Auflisten von Lehrpunkten (essential tenets), die angeblich die Essenz des klassischen Calvinismus beinhalten. Eine beanspruchte unveränderliche Gültigkeit stehe aber in Spannung zu dem hermeneutischen Grundsatz reformierter Kirchen, dass die Heilige Schrift dem Bekenntnis vorgeordnet ist und Bekenntnissätze nach besserer Belehrung durch die Heilige Schrift revidierbar sind.
Weitere Merkmale des Calvinismus
Darüber hinaus ist der Calvinismus gekennzeichnet durch:
eine starke Ausprägung der Bundestheologie,
protestantische Askese,
strenge Kirchenzucht, das heißt die Gemeinde kann verschiedene Strafen gegen ihre Mitglieder verhängen, wenn sich diese unmoralisch verhalten,
Fleiß und Arbeitseifer, wobei wirtschaftlicher Wohlstand in der protestantischen Ethik mitunter als Zeichen der Erwählung interpretiert wird,
Unabhängigkeit vom Staat,
nicht-hierarchische Kirchenordnung (Allgemeines Priestertum),
Abendmahl als Erinnerungsfeier, kein Glaube an die Realpräsenz.
Kontroversen um die Prädestination
Calvin sah in seiner Vorherbestimmungslehre einen dreifachen Nutzen: Sie führe zu Gewissheit, Demut und Dankbarkeit. In Bezug auf die Gewissheit wird dagegen eingewandt, dass auch der an die Prädestination Glaubende sich seiner Rettung nicht gewiss sein könne, denn menschliches Erkennen ist immer fehleranfällig, und der Gerettete sollte ja „die Zeichen seiner Erwählung“ an seinem Leben erkennen können. Schon Calvin selbst wies darauf hin, dass man sich bei solchem „Erkennen von Zeichen“ leicht täuschen könne. Was die Demut betrifft, so wird dagegen eingewandt, dass Gott den Menschen „zu seinem Bild“ schuf, d. h. als entscheidungsfähige Persönlichkeit, im Unterschied zu willenlosen Gegenständen. Wenn diese dem Menschen von Gott eingeräumte Fähigkeit, selbst zu entscheiden, (mit Calvin) bestritten wird, dann habe das nichts mit Demut zu tun (eventuell liege es an Ängstlichkeit?). Und in Bezug auf die von Calvin erwähnte Dankbarkeit wird eingewandt, dass es sich dabei um die Dankbarkeit eines Egoisten handeln würde, dem es egal ist, dass andere Menschen, die Gott hätte ebenso retten können, und die – so die Sichtweise von Calvinisten – auch nicht schlechter oder ablehnender sind, alleine aufgrund von Gottes Entscheidung auf ein furchtbares Schicksal zugehen.
Ein solches Gottesbild, wonach Gott willkürlich bestimmte Menschen für das Heil auswählt und andere verwirft, wird von vielen Christen abgelehnt. Die Kritiker verweisen auf den im Neuen Testament mehrmals ausgedrückten universalen Retterwillen Gottes, zum Beispiel:
Außerdem: „Gott … will, dass alle Menschen gerettet werden“ , „die Gnade Gottes ist erschienen, um alle Menschen zu retten“ oder „Machet zu Jüngern alle Völker“ . Aufgrund solcher Bibelstellen ergibt sich die Anfrage an den Calvinismus: Warum sollte Gott „willkürlich einem Teil der Menschheit vorenthalten, was er anderen Menschen – die es sich ebenso wenig verdient haben – gibt?“
Die einzelnen Konfessionen haben jeweils eigene Gründe für ihre Ablehnung des Calvinismus:
Liberale Christen verschiedener Konfessionen halten die streng calvinistische Lehre für antiliberal und intolerant.
Die Katholiken lehnen entschieden alle fünf Punkte ab (siehe oben), dazu kommen etliche andere wichtige Lehrpunkte, unter anderem bezüglich der Ekklesiologie und der Sakramente.
Für die Orthodoxen ist der Freie Wille, den Calvin ablehnt, eine Grundlehre der Bibel. Erlösung sei kein einmaliger, rein passiv zu empfangender Gnadenakt und keine Frage des Sich-gerettet-Wissens, sondern eine andauernde aktive Zusammenarbeit des Heiligen Geistes mit den Gläubigen.
Die Methodisten: Bereits John Wesley akzeptierte die doppelte Prädestination nicht, die der Calvinist George Whitefield vertrat, was zur Trennung der beiden führte.
Die Lutheraner lehnen eine doppelte Prädestination ab und halten an der leiblichen Gegenwart Christi im Abendmahl fest.
Die Quäker lehnen ebenfalls die Prädestination ab. Siehe: Quäkertheologie.
Der Arminianismus, die Lehre der sogenannten Remonstranten, stellt eine ausdrückliche theologische Gegenposition zum Calvinismus innerhalb der calvinistisch geprägten Gebiete Nordwesteuropas und der englischsprachigen Staaten im 17. Jahrhundert dar.
Der Calvinismus entfaltete ab dem 17. Jahrhundert, vor allem unter dem Einfluss des Arminianismus, eine große theologische Bandbreite, die bis heute anhält, vor allem in den Vereinigten Staaten. Beispielsweise gingen dort im 18. Jahrhundert aus einer Reihe kongregationalistischer und presbyterianischer Gemeinden universalistische und unitarische Kirchen hervor. Auch die Entwicklung einer liberalen Theologie im Protestantismus ist teilweise der Arbeit reformierter Theologen geschuldet. Beispielsweise stammte Friedrich Schleiermacher aus einer reformierten Familie.
Im 20. Jahrhundert betonten reformierte Theologen (z. B. Otto Weber), dass Calvin – trotz der von ihm immer wieder geäußerten Warnung vor Spekulationen über Gottes Willen – dieser doch erlag, indem er der Erwählung das logische Gegenstück, die Verwerfung, entgegenstellte und so zur doppelten Prädestination kam. Besonders die Schweizer Reformierten Eduard Thurneysen sowie Karl Barth und seine Schüler fassten die Prädestinationslehre stärker christologisch als Calvin: In Jesus Christus ist nach die Erwählung geschehen und wird in der Verkündigung des Evangeliums den Menschen zugesprochen. Dass es dennoch Menschen gibt, die das Heil zurückweisen, ist ein rätselhaftes, aus Sicht des Glaubens bedrückendes Geheimnis, das gedanklich nicht aufgelöst werden kann und darf.
Die moderne Evangelisch-Reformierte Kirche der Schweiz sieht sich als bekenntnisfreie Kirche nicht an die Glaubensauffassung ihrer Gründer gebunden. Es steht jedem Theologen und Mitglied frei, sich auf der Grundlage der Bibel und der Lebenserfahrung ein eigenes Bild zu machen.
Calvinistische Arbeitsethik
Da die Absichten Gottes den Menschen verborgen bleiben, müsse jeder im Sinne einer tugendhaften Lebensführung handeln, also so, als ob er von Gott auserwählt sei. Unbändiger Fleiß, individueller und wirtschaftlicher Erfolg können in der Folge als Zeichen für den Gnadenstand gewertet werden. Jedoch hat der Mensch keinerlei Einfluss auf die göttliche Entscheidung. Ob jemand nach dem Tod in der Hölle landet oder zum Himmel auffährt, wurde bereits zu Anbeginn der Zeit festgelegt. Was der Mensch nun versucht, ist, sich selbst durch seine Tugendhaftigkeit Gewissheit darüber zu verschaffen, dass er auserwählt sein müsse.
Durch die Testakte von 1673 wurden schließlich in England neben Katholiken auch die calvinistischen Puritaner (Kongregationalisten), Baptisten, Quäker und ab Ende des 18. Jahrhunderts die Methodisten aus allen Staatsämtern und dem Parlament ausgeschlossen, wodurch sie in privatwirtschaftliche Bereiche gedrängt wurden. Im 18. Jahrhundert waren beinahe die Hälfte der englischen Erfinder, Kaufleute und Unternehmer Calvinisten, obwohl diese in der britischen Gesamtbevölkerung eine Minderheit darstellten.
Der „Protestantismusthese“ des deutschen Soziologen Max Weber zufolge hat der Calvinismus im Verlauf des 18. Jahrhunderts die Arbeitsmoral und -ethik in England, Holland, der Schweiz und einigen Gegenden Deutschlands, besonders in den von den seit 1613 reformierten Hohenzollern regierten Staaten, maßgeblich beeinflusst und legitimiert. Er setzt einen Maßstab bei der Nützlichkeit menschlichen Handelns an, wobei der wirtschaftliche Erfolg im Vordergrund steht: Zeitvergeudung sei die schlimmste Sünde, wozu auch übermäßig langer Schlaf oder Luxus zählen. Arbeit sei der von Gott vorgeschriebene Selbstzweck des Lebens. Mit seiner spezifischen Arbeits- und Wirtschaftsethik habe der Calvinismus eine wesentliche Grundlage für die Industrielle Revolution und den modernen Kapitalismus geschaffen.
Unbestreitbar an diesen Thesen ist, dass wie alle Reformatoren auch Calvin der Auffassung war, dass aus der in Christus geschehenen Erlösung ein Leben folgt, das aus Gehorsam und Dankbarkeit durch Fleiß, (Selbst-)Disziplin, Sparsamkeit und Genügsamkeit gekennzeichnet ist (Max Weber: „innerweltliche Askese“). Indem Calvin den überkommenen Zusammenhang zwischen wirtschaftlichem Erfolg und einem Leben in Luxus zerbrach, wurden die dadurch eingesparten finanziellen Mittel frei für neue Investitionen. Dies führt zu weiterem wirtschaftlichen Erfolg, zumal die jeweils neuesten und effektivsten Methoden, Geräte und Maschinen zum Einsatz kommen. An diesem Punkt hängen Wirtschaftsleben einerseits und Naturwissenschaft und Technik andererseits zusammen und verstärken sich gegenseitig. Letztere nahmen ebenso wie die Geisteswissenschaften im protestantischen Bereich einen großen Aufschwung, da die Reformatoren das Bildungswesen stark gefördert hatten. Sie waren der Ansicht, dass jedes Gemeindeglied lesen und schreiben lernen sollte, um die Bibel selbständig studieren zu können. Schwerpunkt dieser Entwicklung war die von Calvins Denken durchdrungene angloamerikanische Welt.
Staat und Gesellschaft
Calvins Gottes- und Menschenbild enthält strenge Züge, aber auch starke Elemente der Freiheit, die ab dem 17. Jahrhundert zunehmend entfaltet wurden. Sie betrafen hauptsächlich Staat und Gesellschaft.
Die strikte Trennung von Kirche und Staat war von den Hugenotten und den ebenfalls verfolgten Täufern, die trotz ihrer Leiden geduldig Religionsfreiheit forderten, bereits seit ihrem Entstehen im 16. Jahrhundert praktiziert worden. Aber auch die Hugenotten ihrerseits führten einen gewalttätigen Krieg und schonten ihre Gegner nicht, genauer waren es aber nicht so sehr Kriege der oder gegen die Hugenotten, sondern eher waren es Kriege des konservativen Katholizismus und der sich für ihn einsetzenden Herrscher gegen die Hugenotten und deren adelige Anführer.
In den Niederlanden, wo sich keine Staatskirche etablieren konnte, zeigte sich in stärkerer Ausprägung der Wunsch nach Religionsfreiheit. Neben orthodoxen Calvinisten gab es die kleine Kirche der Arminianer, die Calvins Prädestinationslehre ablehnten, außerdem kleinere katholische und täuferische Gemeinden.
Seit der Losreißung von Spanien (1579) waren die Republik der Sieben Vereinigten Provinzen unter Führung der Calvinisten neben England in bestimmten staatsrechtlichen Aspekten ein freiheitliches Land. Der Arminianer Hugo Grotius konnte hier seine natürliche Theologie, sein Naturrecht und seine historisch-grammatische Bibelauslegung lehren.
Noch geschichtsmächtiger als die freiheitliche Entwicklung in den Niederlanden war das Entstehen der englischen und insbesondere der amerikanischen Demokratie. Im Mittelalter bildeten Staat und Kirche eine Einheit. Beide waren streng hierarchisch gegliedert. Martin Luther vollzog durch seine Zwei-Reiche-Lehre die grundsätzliche Trennung von Geistlichem und Weltlichem. Calvin übernahm diese Lehre und schuf, davon ausgehend, in zweifacher Hinsicht die geistigen Voraussetzungen für die Entwicklung demokratischer Strukturen.
Demgegenüber aber stand etwa auch die ausgeprägte Intoleranz der calvinistisch-orientierten Administration und Führungseliten in der Genfer Republik.
Die erste Voraussetzung war die außerordentlich starke Aufwertung der Laien in der Kirche durch Calvins Vierämterlehre. Die erwachsenen männlichen Gemeindeglieder wählten aus ihrer Mitte auf Zeit Älteste (Presbyter, Kirchengemeinderat), die zusammen mit den Geistlichen die Kirchengemeinden leiteten. (Im 20. Jahrhundert erhielten Frauen ebenfalls das aktive und passive kirchliche Wahlrecht.) In Genf waren die Ältesten zugleich gewählte Mitglieder des Rats der Stadt. Die Hugenotten, die sich als verfolgte Minderheitskirche nicht auf weltliche Instanzen stützen konnten, ergänzten dieses Presbyterialsystem auf regionaler und nationaler Ebene durch gewählte Synoden, in denen die Laien und die Geistlichen ebenfalls gleichberechtigte Mitglieder waren. Die anderen reformierten Kirchen übernahmen diese Kirchenordnung, teils mit einigen kleineren Veränderungen. Quäker, Baptisten und Methodisten sind in ähnlicher Weise organisiert. Somit praktizierten die von Calvin geprägten oder beeinflussten reformatorischen Christen eine kirchliche Selbstregierung, die eine repräsentative Demokratie darstellte.
Im weiteren Verlauf dieses Jahrhunderts spielten in England besonders John Milton und John Locke eine gewichtige Rolle in den zeitweise dramatischen religiösen, kulturellen und politischen Auseinandersetzungen. Beide standen unter der Einwirkung des baptistischen Eintretens für die Religionsfreiheit. In dem Presbyterianer Milton, einem engagierten Mitarbeiter Cromwells, „verkörpern sich alle Toleranzmotive der Zeit in großartiger Einheit. Gewissensfreiheit war ihm christliches und protestantisches Urprinzip und Grundlage aller bürgerlichen Freiheiten. Darum forderte er über Cromwell hinaus völlige Trennung von Staat und Kirche.“ Milton plädierte für das Recht auf Ehescheidung, für Redefreiheit und Pressefreiheit. Die Pressefreiheit wurde in England und seinen Kolonien schließlich als eine Frucht der Glorious Revolution 1694 eingeführt.
Locke, der aus einer puritanischen Familie stammte, war zeitlebens fest in einem stark calvinistisch beeinflussten Protestantismus verwurzelt. Er war überzeugt, dass der christliche Glaube vernunftgemäß (engl. reasonable) sei. Er leitete die Gleichheit der Menschen, einschließlich der Gleichheit von Mann und Frau, nicht von philosophischen Prämissen ab, sondern von 1. Mose 1, 27f, der theologischen Imago-Dei-Lehre. Die Gleichheit der Menschen ist Grundbedingung jedes demokratischen Rechtsstaats. Aus ihr folgte für Locke, dass eine Regierung Macht nur mit Zustimmung der Regierten ausüben darf.
Der Einfluss des Calvinismus in der angelsächsischen und der Neuen Welt
Die zweite Voraussetzung für das Entstehen demokratischer Strukturen im angloamerikanischen Raum war, dass Calvin als beste Regierungsform eine Mischung aus Demokratie und Aristokratie favorisierte. Die Monarchie kam für ihn nicht in Frage, weil nach der geschichtlichen Erfahrung Könige dazu neigten, alle Macht an sich zu reißen – zum Schaden ihrer Untertanen. Das Wohlergehen der einfachen Menschen war aber Calvins Kriterium für eine gute Staatsform. Um politischen Machtmissbrauch zu verhindern, schlug er deshalb ein System von weltlichen Instanzen vor, die sich gegenseitig eingrenzen und kontrollieren (Gewaltenteilung).
Er war sich der Vorzüge der Demokratie bewusst:
Ein weiterer wichtiger Aspekt von Calvins Staatstheorie war seine Auffassung vom Recht auf Widerstand gegen einen tyrannischen Herrscher. Dieses Widerstandsrecht steht nach Calvin zwar dem einzelnen Untertan nicht zu, wohl aber den Ständen, dem Adel, „mittleren Magistraten“ oder Ephoren. Diese haben das Recht – und die Pflicht –, gegen einen Gewaltherrscher vorzugehen, vor allem wenn er den Gehorsam gegen Gott bedroht oder unmöglich macht.
Calvin habe
In Schottland zwang der puritanische Adel 1567 die katholische Königin Maria Stuart, zugunsten ihres protestantischen Sohns Jakobs VI. abzudanken. Das machte den Weg frei für die Reformation im Land. Er war von 1603 bis 1625 in Personalunion als Jakob I. auch König von England. Unter ihm und seinem Nachfolger Karl I. wurden die Dissenters, größtenteils puritanische oder separatistische Kongregationalisten (Independenten) hart verfolgt.
Im englischen Bürgerkrieg übernahmen sie unter Oliver Cromwell die Macht im Land und inaugurierten zeitweise ein autoritäres Regime. Wegen seiner absolutistischen Machtansprüche und der Begünstigung der Katholiken wurde Karl I. 1649 hingerichtet und das Land zu einer Republik (Commonwealth of England) erklärt. Aus denselben Gründen setzte das Parlament in der Glorious Revolution 1688 Jakob II. ab und übertrug die Königswürde – allerdings mit eingeschränkten Vollmachten – seiner Tochter Maria und ihrem Gemahl Wilhelm III. von Oranien. Beide waren Protestanten. Damit waren die Grundzüge der englischen bzw. britischen Demokratie geschaffen. 1776 machten sich die amerikanischen Kolonien von Großbritannien unter Georg III. unabhängig. In allen diesen Revolutionen, die Meilensteine auf dem Weg zur neuzeitlichen Demokratie waren, spielte Calvins Staats- und Widerstandstheorie eine herausragende Rolle; jedes Mal handelten die Revolutionäre mit der Unterstützung der großen Mehrheit der jeweiligen Bevölkerung.
Calvinistisches Glauben und Denken trugen auch zum Entstehen der amerikanischen Demokratie – und der Menschenrechte – bei, und zwar durch die reformierte Bundestheologie (Föderaltheologie). Durch seine Erwählung schließt Gott einen Bund oder Vertrag (engl. covenant) mit den Glaubenden, die dadurch zugleich miteinander zu einer Gemeinde zusammengeführt werden. Bei den Kongregationalisten verdichteten sich diese theokratischen Gedanken zur politischen Form der Demokratie, die aber in England nicht zu verwirklichen war. Die dort verfolgten separatistischen bzw. puritanischen Kongregationalisten, die ab 1620 in das spätere Massachusetts auswanderten, waren überzeugt, dass die Demokratie die „gottgemäße Staatsform“ ist (Pilgerväter, Mayflower-Vertrag).
In einigen nordamerikanischen Kolonien verbanden sich die demokratische Regierungsform und ihre bürgerlichen Freiheitsrechte mit dem zentralen Menschenrecht der Religionsfreiheit. Luther hatte das mittelalterliche Inquisitionsverfahren und die staatliche Verfolgung von Andersgläubigen verworfen. Der Glaube, so Luther, könne nicht erzwungen werden. Er sei ein Werk des Heiligen Geistes. Dieselbe Auffassung vertrat der Theologe Roger Williams, der 1636 die Kolonie Rhode Island schuf, die nach demokratischen Grundsätzen regiert wurde und uneingeschränkte Religionsfreiheit gewährte. Williams war zunächst Kongregationalist, später schloss er sich den Baptisten an. Auch die Kolonie Connecticut unter der Führung von Thomas Hooker, einem ebenfalls kongregationalistischen Theologen, verlangte von ihren Bürgern keine Glaubensprüfung. Zusammen mit Pennsylvania, einer Gründung des Quäkers William Penn (1682), wurden diese Kolonien Zufluchtsstätten für in Europa verfolgte religiöse Minderheiten, einschließlich Juden.
Anfang des 17. Jahrhunderts waren aus dem englischen Täufertum die baptistischen Kirchen entstanden (siehe oben). Baptisten wie John Smyth und Thomas Helwys forderten in Streitschriften vehement Glaubens- und Gewissensfreiheit.
Die amerikanische Revolution nährte sich auch aus Traditionen die auf Calvin zurückgingen. Daneben sind insbesondere die Ideen der Freimaurer oder der Aufklärung wiederzufinden.
Die erste war die „kirchengemeindliche Demokratie“ (engl. congregational democracy). Da es in den englischen Kolonien viel zu wenige Geistliche gab, übernahmen Laien die Gründung und Erhaltung von Kirchengemeinden, die sie nach demokratischen Grundsätzen leiteten. Das geschah nicht nur in den von Calvin geprägten oder stark beeinflussten Kirchen, sondern auch weithin in den anglikanischen Gemeinden. Die Revolution erfolgte zeitlich etwa eine Generation nach der (ersten) Großen Erweckungsbewegung (Great Awakening; Jonathan Edwards, George Whitefield u. a.), die starke Nachwirkungen hatte.
Die zweite Quelle für die gedankliche Rechtfertigung der amerikanischen Revolution sowie die wirtschaftlich-ökonomische, politische und rechtliche Ausgestaltung der neuen Verfassung war die Ideologie der radikalen Whigs (Commonwealthmen), einer englischen Partei, die sich auf ihre Vordenker im 17. Jahrhundert, insbesondere Milton und Locke, berief. Die Kolonisten fühlten sich durch die Maßnahmen von George III., seines Ministeriums und des britischen Parlaments „versklavt“. „Die Staatstheorie der radikalen Whigs fand weitverbreiteten Anklang in Amerika, weil sie die traditionellen Anliegen einer protestantischen Kultur wieder zum Leben erweckte, die stets dem Puritanismus sehr nahe gestanden hatte.“
Entsprechend der religiös-geistigen Haltung der Kolonisten begründet die amerikanische Unabhängigkeitserklärung die Menschenrechte nicht philosophisch-naturrechtlich, sondern biblisch-theologisch. Der „Schöpfer“ verleiht den Menschen diese unveräußerlichen Rechte, zu denen unter anderem „Leben, Freiheit und das Streben nach Glück“ gehören. Die Unabhängigkeitserklärung, die amerikanische Verfassung und die (amerikanische) Bill of Rights mit ihren elementaren Bürgerrechten und Menschenrechten wurden Vorbild für viele andere Staaten in allen Teilen der Welt, z. B. Lateinamerika. Sie hatten starken Einfluss auf die Französische Revolution. Ein wichtiges Bindeglied zwischen beiden Umwälzungen war der freimaurerisch-orientierte Marquis de la Fayette, der als französischer Offizier einen Teil der siegreichen amerikanischen Revolutionsarmee kommandiert hatte. Er wurde in beiden Ländern als großer Kriegsheld gefeiert. Als begeisterter Anhänger der amerikanischen Verfassungsgrundsätze rief er alle Staaten auf, diesem Beispiel zu folgen. Er war einer der Führer in der ersten Phase der Französischen Revolution und verfasste den überzeugendsten Entwurf für die Déclaration des droits de l’homme et du citoyen (Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte).
Im 19. Jahrhundert engagierten sich die von Calvin geprägten oder stark beeinflussten Kirchen bei vielen sozialen und politischen Reformen in der angloamerikanischen Welt, beispielsweise bei der Abschaffung der Sklaverei (William Wilberforce, Harriet Beecher Stowe u. a.), Einführung des Frauenwahlrechts, Gründung von Gewerkschaften und der britischen Labour Party.
Schottische Calvinisten, die den Schmerz von Frauen bei der Geburt als Gottes Wille ansahen, sahen in James Young Simpson, dem ersten Anwender von Chloroform in der Geburtshilfe 1847 einen Ketzer und Satansgehilfen.
Die reformierten Kirchen betreiben seit jeher eine Fülle diakonischer und humanitärer Einrichtungen (Krankenhäuser, Seniorenheime, Einrichtungen für behinderte Menschen, Schulen, Hochschulen usw.) im In- und Ausland (z. B. Entwicklungsländer). Beispielsweise gründeten Kongregationalisten in Massachusetts bereits 1636 Harvard College. Im 18. Jahrhundert folgten Yale und etwa ein Dutzend weiterer Hochschulen. Sie sind heute meistenteils unabhängige Einrichtungen.
Globale Einflüsse
Die Grundsätze der amerikanischen Verfassung fanden Eingang in die Charta und die Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen, die der demokratischen Staatsform und den Menschenrechten universelle Gültigkeit zuschreiben.
Auch die preußische Verfassung von 1848/49, die Verfassung der Weimarer Republik und das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland orientierten sich an den amerikanischen Verfassungsprinzipien (z. B. republikanische und föderale Staatsform, Grundrechtekanon, Bundesverfassungsgericht).
Als Reaktion auf die Verelendung großer Teile der ländlichen und städtischen Bevölkerung riefen ab 1844 in England Mitglieder der Kongregationalisten, Methodisten, anderer Freikirchen und Anglikaner Genossenschaften als Selbsthilfeorganisationen ins Leben. In Deutschland schuf der Reformierte Friedrich Wilhelm Raiffeisen aus christlicher Gesinnung ab 1846 ein dichtes Netz von Genossenschaften. Henry Dunant, ein reformierter Pietist, leistete einen großen Beitrag zum humanitären Völkerrecht. Das Rote Kreuz war seine Gründung. Zudem war er die treibende Kraft bei der Formulierung der Genfer Konventionen.
Kunst
In den Anfängen der Reformation wurden durch das Bilderverbot in reformierten Kirchen und die Einschränkung der geistlichen Musik auf schlichte Einstimmigkeit und Bibeltreue weite Teile der Kunst aus der Kirche verdrängt. Die Malerei wandte sich weltlichen Motiven zu (Rembrandt, Frans Hals). Die mehrstimmige Musik und die Orgel wurden noch im 16. Jahrhundert wieder zugelassen; so wurden auch die polyphonen Vertonungen des Genfer Psalters von Claude Goudimel in reformierten Kirchen Frankreichs und der Schweiz gesungen, und Jan Pieterszoon Sweelinck blieb auch nach der Reformation in Amsterdam Kirchenorganist. Befruchtend wirkte der Calvinismus auf Teile der abendländischen Literatur (Nathaniel Hawthorne, John Milton, Jeremias Gotthelf, Conrad Ferdinand Meyer, Friedrich Dürrenmatt, John Updike u. a.)
Literatur
Fachlexika
Geschichte des Calvinismus
Philip Benedict: Christ’s Churches Purely Reformed. A Social History of Calvinism. Yale University Press, New Haven, Connecticut u. a. 2002, ISBN 0-300-08812-4.
Deutsches Historisches Museum Berlin (Hrsg.): Calvinismus. Die Reformierten in Deutschland und Europa. Sandstein Verlag, Dresden 2009, ISBN 978-3-940319-65-4.
Philip S. Gorski: The Disciplinary Revolution. Calvinism and the Rise of the State in Early Modern Europe. University of Chicago Press, Chicago u. a. 2003, ISBN 0-226-30483-3.
Irene Dingel, Herman Johan Selderhuis (Hrsg.): Calvin und Calvinismus (= Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz, Abteilung für Abendländische Religionsgeschichte Band 84). Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2011, ISBN 978-3-525101-06-3
Ernst Koch: Das konfessionelle Zeitalter – Katholizismus, Luthertum, Calvinismus (1563–1675) (Kirchengeschichte in Einzeldarstellungen; 2/8). Evang. Verlagsanstalt, Leipzig 2000, ISBN 3-374-01719-3.
Andrew Pettegree: Calvinism in Europe, 1540–1620. Cambridge University Press, Cambridge 1994, ISBN 0-521-43269-3.
Darryl G. Hart: Calvinism: A History. Yale University Press, 2013, ISBN 978-0-300-14879-4 (Print); ISBN 978-0-300-19536-1 (eBook) (abgerufen durch Verlag Walter de Gruyter)
Einzelaspekte
Stefan Bildheim: Calvinistische Staatstheorien. Historische Fallstudien zur Präsenz monarchomachischer Denkstrukturen im Mitteleuropa der Frühen Neuzeit (EHS; 3/904). Lang, Frankfurt am Main u. a. 2001, ISBN 3-631-37533-6.
Ron Kubsch: Neuer Calvinismus: Einblicke in eine junge reformierte Bewegung. In: Ron Kubsch u. Matthias Lohmann (Hrsg.): Schätze der Gnade. Reformatorische Theologie im 21. Jahrhundert (MBS Jahrbuch), Verlag für Kultur und Wissenschaft, Bonn 2013, ISBN 978-3-86269-087-9, (Seite 41–70).
Christian Mühling: Calvinismus oder Reformiertentum? Zur Selbst- und Fremdwahrnehmung einer Konfessionsgemeinschaft. In: Dorothea Klein, Frank Kleinehagenbrock, Joachim Hamm, Anuschka Tischer (Hrsg.): Reformation und katholische Reform zwischen Kontinuität und Innovation (= Publikationen aus dem Kolleg „Mittelalter und Frühe Neuzeit“, 6). Königshausen & Neumann, Würzburg 2019, ISBN 978-3-8260-6913-0, S. 183–212.
Jan Rohls: Zwischen Bildersturm und Kapitalismus. Der Beitrag des reformierten Protestantismus zur Kulturgeschichte Europas (Veröffentlichungen der Johannes-a-Lasco-Bibliothek; 3), Foedus-Verlag, Wuppertal 1999, ISBN 3-932735-34-X.
Dieter Schellong: Wie steht es um die „These“ vom Zusammenhang von Calvinismus und „Geist des Kapitalismus“? Paderborner Universitätsreden 47. Univ.-Gesamthochschule, Paderborn 1995.
Peter Streitenberger: Die fünf Punkte des Calvinismus aus biblischer Perspektive. Verlag für Theologie und Religionswissenschaft, Nürnberg 2011, ISBN 978-3-941750-42-5 (die frühere umfangreichere Ausgabe von 2007 bei CMD, Hünfeld, behandelte zusätzlich „Umkämpfte Schriftstellen“).
Christoph Strohm: Ethik im frühen Calvinismus. Humanistische Einflüsse, philosophische, juristische und theologische Argumentationen sowie mentalitätsgeschichtliche Aspekte am Beispiel des Calvin-Schülers Lambertus Danaeus (Arbeiten zur Kirchengeschichte; 65), de Gruyter, Berlin u. a. 1996, ISBN 3-11-015061-1.
Max Weber: Die Protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus. In: Ders.: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Band 1. Tübingen 1988.
Stefan Zweig: Castellio gegen Calvin oder Ein Gewissen gegen die Gewalt. 15. Auflage, Fischer Taschenbuch, Frankfurt 1983, ISBN 978-3-596-22295-7.
Weblinks
Ausführliche Artikel zu jedem Punkt
Texte Calvins in glaubensstimme.de
calvin.de bietet umfassendes Material über Calvin und calvinistische Theologie
Die Institutio Calvins: bietet den Text der Institutio Calvins in der Übersetzung von Otto Weber
calvinismus.ch Calvins Bibelkommentare, Unterricht in der christlichen Religion – Zusammenfassungen und MP3
Max Weber über Calvinismus – Philosophie Lexikon der Argumente – mit Quellenangaben – (1. Februar 2021)
Einzelnachweise
Reformation
Reformierte Kultur
Reformierte Theologie
Johannes Calvin
|
Q101849
| 487.546464 |
1382
|
https://de.wikipedia.org/wiki/Edinburgh
|
Edinburgh
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Edinburgh ( []; ; amtlich City of Edinburgh) ist seit dem 15. Jahrhundert die Hauptstadt von Schottland. Seit 1999 ist Edinburgh außerdem Sitz des Schottischen Parlaments. Edinburgh ist mit etwa 525.000 Einwohnern nach Glasgow die zweitgrößte Stadt Schottlands und seit 1996 eine der 32 schottischen Council Areas. Die Stadt liegt in Lothian an Schottlands Ostküste auf der Südseite des Firth of Forth gegenüber von Fife.
Name
Das Vorderglied im Namen Edinburgh ist das kumbrische Wort Eydin, der frühmittelalterliche Name der Region, in der heute Edinburgh liegt. Als ursprünglicher Stadtname ist damit kumbrisch Din Eydin „Burg von Eydin“ zu erschließen. Die Bedeutung des Landschaftsnamens Eydin ist unbekannt. Die im nachmaligen Südschottland eindringenden Angelsachsen übersetzten kumbrisch din mit ihrem gleichbedeutenden burh, woraus sich das heutige Edinburgh entwickelte.
Oft wird die Stadt auch „Athen des Nordens“ (nach einem Zitat von Theodor Fontane), „Stadt der sieben Hügel“ oder „Festival-Stadt“ genannt. Sir Walter Scott nannte sie My own romantic town. Überholt ist der Beiname Auld Reekie „Alte Verräucherte“, den Edinburgh seinen früher beständig rauchenden Fabrikschornsteinen verdankte. Schottische Auswanderer haben den Namen Edinburghs in die Welt getragen. Heute findet er sich in Indiana und – mit dem gälischen Namen Dunedin – in Neuseeland und Florida.
Weitere Beispiele sind hier aufgeführt.
Geografie
Umgebung Edinburghs
Etwa 15 km nordwestlich überspannt die Forth Bridge den Firth of Forth. 10 km östlich der Stadt ist der Strand von Portobello. Vor den Pentland Hills liegt Fairmilehead, der südlichste und höchstgelegene Stadtteil Edinburghs.
Klima
Geschichte
Es gibt zahlreiche vorgeschichtliche Relikte im Edinburgher Stadtgebiet. Vor der Trockenlegung des Bereichs gab es Seen und Sümpfe zwischen den Hügeln, auf denen die Wohnplätze und Siedlungen lagen. Während der letzten zwei Jahrhunderte wurden prähistorische Grabstätten (Arthur’s Seat) und Horte mit Bronzeartefakten entdeckt. In der Straße Caiystane View steht in Richtung auf die Oxgangs Road ein großer Menhir (englisch Standing stone) mit Schälchen (englisch cup marks). Neben dem Newbridge Kreisverkehr, auf der Westseite der Stadt, liegt das bronzezeitliche Ritualzentrum am Huly Hill Cairn. Es gibt eisenzeitliche Befestigungen aus dem 1. Jahrtausend v. Chr. auf dem Wester Craiglockhart Hill und auf dem Hillend, dem nächstgelegenen der Pentland Hills. Mesolithische Spuren und die eines römischen Kastells liegen in Cramond, einem Dorf am Rande von Edinburgh. Die Statue einer Löwin, die einen Mann verschlingt, wurde in der Mündung des Almond (Firth of Forth) gefunden. Ein Piktischer Symbolstein wurde in den Princes Street Gardens als Teil einer Clapper bridge verwendet wiedergefunden.
Zum Ende des 1. Jahrhunderts landeten die Römer in Lothian und entdeckten einen keltisch-britannischen Stamm, den sie Votadini nannten. Irgendwann vor dem 7. Jahrhundert n. Chr. errichten die Gododdin, die wahrscheinlich Nachkommen der Votadini waren, die Hügelfestung Din Eidyn („Burg von Eydin“). Obwohl die genaue Position nicht bekannt ist, ist anzunehmen, dass sie einen die Umgebung überragenden Standort wie Castle Rock, Arthur’s Seat oder Calton Hill gewählt haben.
Zunächst war Scone (heute Old Scone) das Zentrum des vereinigten Königreichs von Alba (→ Königreich Schottland). Es verlor im späteren Mittelalter an Bedeutung, und das nur 1½ km flussabwärts gelegene Perth übernahm seine Rolle. Auch andere burghs (Freistädte) wie Stirling spielten für die schottische Geschichte eine bedeutende Rolle. Nach der Ermordung Jakobs I. 1437 fiel die Rolle der Hauptstadt Schottlands dann Edinburgh zu. Die Hauptstadtfunktion im Mittelalter ergab sich aus der häufigen, lange dauernden Anwesenheit des königlichen Hofes, der an verschiedenen Orten Station machte. Das historische Parlament von Schottland tagte ebenfalls an unterschiedlichen Orten.
Im Jahr 1093 wird eine Burg in Edinburgh erwähnt, aus der sich das die Stadt dominierende Edinburgh Castle entwickelte.
Die Kirche des heiligen Ägidius, englisch St Giles’ Cathedral, wurde zum Mittelpunkt der wachsenden Ortschaft. Ihre erste urkundliche Erwähnung stammt aus dem Jahr 854, das noch heute existierende Gebäude wurde etwa seit dem Jahr 1120 gebaut. Im 16. Jahrhundert predigte John Knox in St Giles, die heute die High Kirk of Edinburgh der Church of Scotland ist.
1128 wurde das Chorherrenstift Holyrood Abbey von König David I. errichtet, allerdings weit außerhalb der damaligen Stadt. Zwischen Edinburgh und der Abtei des Heiligen Kreuzes (holy rood) lag auch noch die Stadt Canongate (canon bedeutet Kanoniker). Neben Holyrood Abbey, von der heute nur noch Ruinen zeugen, wurde in der Folge Holyrood Palace erbaut, dieser ist als Palace of Holyroodhouse offizielle Residenz des britischen Monarchen und bildet den östlichen Abschluss der „Royal Mile“.
1583 wurde in Edinburgh eine Universität gegründet, die allerdings in der geschichtlichen Folge erst die vierte in Schottland ist; die University of St Andrews geht auf das Jahr 1413 zurück.
Zur wechselvollen Geschichte der Stadt gehört auch der sogenannte Bischofskrieg von 1639. König Karl I. von England und Schottland versuchte, seinen Willen der Kirche von Schottland durch ihm genehme Bischöfe aufzuzwingen und auch ein nach der englischen Liturgie geschaffenes Gebetbuch einzuführen. Es kam zu Aufständen, als deren Initiatorin die Marktfrau Jenny Geddes genannt wird, die in der Kathedrale von St. Giles einen Stuhl nach dem Pfarrer warf.
Zu den wichtigsten Daten der Geschichte Edinburghs und ganz Schottlands gehört das am 1. Mai 1707 in Kraft getretene Vereinigungsgesetz, der Act of Union. Dieses Gesetz schuf die Grundlage für die Vereinigung des Königreichs England und des Königreichs Schottland.
Im Ersten Weltkrieg wurde Edinburgh am 2. April 1916 von zwei deutschen Zeppelinen bombardiert, wobei durch 24 abgeworfene Bomben, die über der Stadt niedergingen, 13 Menschen getötet und 24 verletzt wurden. Unter anderem wurden zwei Hotels und Wohnhäuser von Bomben getroffen. Im Zweiten Weltkrieg wurde Edinburgh zwischen dem 18. Juli 1940 (erster Luftangriff) und dem 6. August 1941 mehrmals von deutschen Bomben getroffen, wobei 20 Zivilisten ums Leben kamen und 210 verletzt wurden. Allein bei dem schwersten Angriff am 7. April 1941 wurden drei Kirchen und 270 Häuser beschädigt.
Das wieder errichtete Schottische Parlament konstituierte sich nach fast 300 Jahren am 12. Mai 1999 in Edinburgh.
Bevölkerung
Die meisten Einwohner Edinburghs sind Schotten, daneben gibt es viele Iren und auch Deutsche, Polen, Italiener, Ukrainer, Pakistaner, Sikhs, Bengalen, Chinesen und Engländer. Es gibt Schulen für katholische und protestantische Kinder. Im Juli findet in Edinburgh jedes Jahr einer der größten Orange Walks außerhalb Nordirlands statt (zum Gedenken an den protestantischen Sieg in der Schlacht am Boyne).
Politik und Verwaltung
Übergeordnete Verwaltung
Edinburgh ist die historische Hauptstadt von Schottland und der früheren Grafschaft Edinburghshire, die heute Midlothian heißt. Neben Glasgow, Dundee und Aberdeen war Edinburgh seit 1890 eines der vier Counties of cities in Schottland. 1975 wurde Edinburgh zu einem District der Region Lothian und 1996 wurde die Stadt im Rahmen der Einführung einer einstufigen Verwaltungsstruktur zur Council Area City of Edinburgh. Edinburgh ist auch eine der Lieutenancy Areas von Schottland.
Der Edinburgh City Council umfasst 63 Sitze. Seit der Kommunalwahl 2017 besitzt mit 19 Sitzen die Scottish National Party die Mehrheit.
Oberbürgermeister (Lord Provost) ist seit der Wahl 2012 Frank Ross (Scottish National Party).
Stadtwappen
Edinburgh hatte schon seit dem 14. Jahrhundert ein Stadtwappen, es wurde aber erst 1732 vom Lord Lyon King of Arms offiziell erwähnt. Nach der Verwaltungsreform 1975 gab der City of Edinburgh District Council nach historischer Vorlage ein neues Wappen in Auftrag: Im Schild, über dem die schottische Krone und ein Admiralitätsanker prangen, ist der schwarze Basaltfelsen mit der Burg zu erkennen, deren Türme rote Fahnen tragen. Das Stadtmotto „Nisi Dominus Frustra“, dem 127. Psalm entnommen, proklamiert, dass ohne die Hilfe Gottes nichts von Dauer sein kann. Schildhalter sind ein Mädchen und eine Hirschkuh, das Symbol des heiligen Ägidius, des Schutzpatrons der Stadt. Die Burg war im Mittelalter als Castrum Puellarum – Burg der Mädchen – bekannt, der Überlieferung nach ein sicherer Hort für Prinzessinnen.
Städtepartnerschaften
Edinburgh unterhält offizielle bilaterale Beziehungen mit anderen Städten. Diese Kooperationen haben zum Ziel, den Austausch von Informationen und Fachwissen in Bereichen von gemeinsamem Interesse zu ermöglichen.
Die Partnerschaft mit München hat dynastische Gründe. Als Urenkel von Maria Theresia von Modena, einer Nachfahrin der Stuarts, könnte Herzog Franz von Bayern Ansprüche auf den schottischen Thron erheben.
Wirtschaft und Infrastruktur
Dienstleistungen und Handel
Traditionell ist Edinburgh ein wichtiges Handelszentrum, das Schottland mit Skandinavien und Kontinentaleuropa verbindet. Die Bedeutung des Hafens von Leith hat allerdings in den letzten Jahrzehnten stetig abgenommen.
Edinburgh hat nach London die zweitstärkste Wirtschaft aller Städte im Vereinigten Königreich und mit 53 % der Bevölkerung den höchsten Anteil an Arbeitnehmern mit einem beruflichen Abschluss. Im UK Competitiveness Index 2013, der die Wettbewerbsfähigkeit britischer Städte vergleicht, lag Edinburgh auf Platz 4 aller Großstädte im Vereinigten Königreich. Es liegt bei den Verdiensten und bei der Arbeitslosigkeit auf dem 2. Platz hinter London.
Während im 19. Jahrhundert vor allem das Brauereiwesen, Banken und Versicherungen sowie Druck- und Verlagswesen prägende Wirtschaftszweige waren, liegt der Schwerpunkt im 21. Jahrhundert vor allem auf Finanzdienstleistungen, wissenschaftlicher Forschung, Hochschulbildung und Tourismus. Im Jahr 2014 betrug die Arbeitslosigkeit in Edinburgh 4,3 % und lag damit deutlich unter dem schottischen Durchschnitt von 6,3 %.
Das Bankwesen ist seit über 300 Jahren eine Hauptstütze der Wirtschaft Edinburghs. Die Bank of Scotland (heute Teil der Lloyds Banking Group) wurde 1695 durch das schottische Parlament gegründet. Heute ist die Stadt durch die Finanzdienstleistungsbranche mit ihrem besonders starken Versicherungs- und Investmentsektor das zweitgrößte Finanzzentrum in Großbritannien und eines der größten in Europa. Edinburgh ist der Sitz von Scottish Widows, Standard Life, Bank of Scotland, Halifax Bank of Scotland (HBOS), Tesco Bank und AEGON UK. Die Royal Bank of Scotland eröffnete ihren neuen Hauptsitz in Gogarburn im Westen der Stadt im Oktober 2005. Verschiedene Finanzdienstleister haben im Vorfeld des Referendums über den Verbleib Schottlands im Vereinigten Königreich 2014 angekündigt, dass sie im Fall einer Selbstständigkeit Schottlands ihren Firmensitz nach London verlegen würden.
Die größten Arbeitgeber der Stadt waren 2014: National Health Service Lothian (19.500 Mitarbeiter), City of Edinburgh Council (19.260), University of Edinburgh (12.650), Lloyds Banking Group (9000), The Royal Bank of Scotland Group (8000), Standard Life (5000), Scottish Government (4000), Tesco and Tesco Bank (2600) und AEGON UK (2100). Das Durchschnitts-Bruttoeinkommen eines Arbeitnehmers betrug 2012 £ 19.100 (etwa 26.700 Euro). Damit lag Edinburgh auf dem zweiten Platz hinter London (£ 21.400). Auch im Ranking der Bruttowertschöpfung pro Einwohner 2012 lag Edinburgh mit £ 38.100 auf dem zweiten Platz hinter London (£ 40.200).
Der Tourismus ist ein weiteres wichtiges Element der Wirtschaft Edinburghs. Es ist die am meisten von ausländischen Besuchern besuchte Stadt im Großbritannien nach London. Altstadt und Neustadt von Edinburgh sind im Jahr 1995 in die Liste des UNESCO-Weltkulturerbes aufgenommen worden. Im Jahr 2016 besuchten 4,26 Mio. Touristen die Stadt, davon 1,3 Mio. aus dem Ausland. Die größte Gruppe der ausländischen Touristen waren US-Amerikaner (192.000) vor Deutschen (174.000).
Verkehr
Edinburgh ist als wichtiger Verkehrsknotenpunkt mit Eisenbahn- und Straßenverbindungen mit dem übrigen Schottland und mit England verbunden.
Der öffentliche Personenverkehr innerhalb der Stadt wird durch ein umfassendes Busnetz bedient (Lothian Buses), das den größten Teil der Verbindungen ohne Umsteigen (Einzelfahrscheine berechtigen nicht zum Umsteigen) abdeckt. Nach positivem Ausgang der Abstimmung im schottischen Parlament im Juni 2007 (gegen die Vorbehalte der SNP-Minderheitsregierung) begann der Bau der Edinburgh Trams, die den Flughafen und Granton via Zentrum und Leith Walk verbinden soll. Aufgrund von Finanzierungsproblemen wurde die ursprüngliche Strecke auf den Abschnitt vom Flughafen bis in die Innenstadt reduziert. Diese Strecke wurde am 31. Mai 2014 eröffnet. Im März 2019 wurde beschlossen, die Strecke nach Newhaven fertigzustellen, die dann im Juni 2023 für den Fahrgastbetrieb geöffnet wurde.
Zentral in der Stadt gelegen ist der Bahnhof Edinburgh Waverley an der East Coast Main Line, der teilweise als Durchgangsbahnhof und teilweise als Kopfbahnhof genutzt wird. Fernverkehr besteht Richtung Mittelengland und London, ScotRail bedient die Verbindungen innerhalb Schottlands. Im September 2015 ist das Streckennetz des regionalen Schienenverkehrs um die von Edinburgh bis Tweedbank wiederaufgebaute Waverley Line (Borders Railway) ergänzt worden.
Der internationale Flughafen Edinburgh befindet sich 13 Kilometer westlich der Stadt. Neben den meist innerbritischen Flügen gibt es auch Verbindungen zu europäischen Zielen und in jüngerer Zeit ein paar tägliche Transatlantikflüge.
Neben den Autobahnen M8 nach Glasgow und M9 nach Stirling hat Edinburgh eine umfassende Fernstraßen-Anbindung an das Straßennetz von Großbritannien und ist beispielsweise Endpunkt der A1 von London.
Edinburgh verfügt über keine überregionale Fährverbindung; der nächste Fährhafen ist das rund 19 Kilometer entfernte Rosyth.
Kultur
Bildung
Edinburgh hat drei international bekannte Universitäten, die Edinburgh Napier University, die Heriot-Watt University mit der Edinburgh Business School und die Universität Edinburgh (ebenfalls mit Business School), wobei letztere neben Universitäten wie Oxford oder Cambridge zu den besten Großbritanniens zählt. Seit 2007 kann sich das Queen Margaret University College im Vorort Musselburgh auch Universität nennen.
Hier hat die 1834 gegründete Edinburgh Geological Society (Edinburger Geologische Gesellschaft) ihren Sitz. In der Stadt hat auch der British Geological Survey seine Hauptfiliale für Schottland.
Museen
Die Scottish National Gallery beherbergt repräsentative Sammlungen der europäischen Malerei mit einigen bekannten Highlights und zeigt wechselnde Sonderausstellungen. Die Sammlungen der Dachorganisation National Galleries of Scotland sind in fünf Galerien im Stadtgebiet von Edinburgh verteilt:
Scottish National Gallery
Royal Scottish Academy Building
Dean Gallery
Scottish National Gallery of Modern Art
Scottish National Portrait Gallery
National Museum of Scotland
In Edinburgh gibt es eine Vielzahl von Museen, wie z. B. das National Museum of Scotland, das Royal Museum, die National Library of Scotland, das National War Museum of Scotland, das Museum of Edinburgh, das Museum of Childhood und die Royal Society of Edinburgh.
Theater
Die Usher Hall ist eine Konzerthalle für klassische Musik im Westteil der Stadt an der Lothian Road. Hier spielt regelmäßig auch das Royal Scottish National Orchestra.
Das Royal Lyceum Theatre, benannt nach seinem berühmten Londoner Vorläufer, wurde 1883 erbaut und bietet 658 Zuschauern Platz.
Es gibt zwei Multiplex-Kinocenter sowie das Edinburgh Filmhouse, wo das jährliche Edinburgh Film Festival ausgerichtet wird.
Legenden
Über Edinburghs Gassen und Friedhöfe kursieren diverse Legenden und Geistergeschichten. Deshalb werden für schaulustige Touristen auf der Royal Mile fast jeden Abend Gruseltouren (sogenannte Ghost Tours) von verschiedenen Veranstaltern angeboten. Die Touren führen etwa auf den Greyfriars Kirkyard oder in den Untergrund.
Festivals
In Edinburgh findet jeden Sommer das Edinburgh Festival statt, das aus einer Vielzahl – zum Teil namhafter – kultureller Veranstaltungen besteht. Internationale Bedeutung im Bereich Theater und Musik hat dabei sowohl das Edinburgh International Festival für die Hochkultur, als auch das Edinburgh Festival Fringe für experimentelle Spielformen erlangt. Ebenfalls ein großer Publikumsmagnet ist das Edinburgh Military Tattoo.
Sport
Zwei Fußballclubs spielen in der höchsten schottischen Liga, die rivalisierenden Vereine Hibernian Edinburgh mit irisch-katholischer Tradition und Heart of Midlothian mit protestantischer.
Ebenfalls in Edinburgh beheimatet ist das Murrayfield Stadium, das nationale Rugbystadion von Schottland, das im gleichnamigen Stadtteil liegt und sich im Besitz der Scottish Rugby Union befindet. Hier bestreitet die Schottische Rugby-Union-Nationalmannschaft während den jährlichen Six Nations ihre Heimspiele.
Edinburgh hat eine Elite-Ice-Hockey-League-Mannschaft, die Edinburgh Capitals, deren Vorgängerverein die Murrayfield Racers waren.
Seit 2003 findet der Edinburgh-Marathon statt, der mit ca. 16.000 Teilnehmern der zweitgrößte nach London im Vereinigten Königreich ist.
Schließlich verfügt Edinburgh über 28 Golfclubs und den Speedwayclub Edinburgh Monarchs.
Aus der Stadt kommt der Rugby-Union-Verein Edinburgh Rugby, der in der Guinness PRO14 spielt.
Edinburgh war einer der Austragungsorte der Rugby-Union-Weltmeisterschaft 1991, des Cricket World Cup 1999, der Rugby-Union-Weltmeisterschaft 1999 und der Rugby-Union-Weltmeisterschaft 2007.
Am 27. März 1871 fand in Edinburgh das weltweit erste Länderspiel im Rugby Union statt, bei dem Schottland England mit 1–0 bezwang.
Stadtbild und Architektur
Zu den markantesten Sehenswürdigkeiten der Stadt zählen das Edinburgh Castle, der Holyrood Palace, die Scottish National Gallery, die National Museums of Scotland, die Princes Street, die königliche Yacht Britannia sowie die Royal Mile.
Old Town
Die Royal Mile besteht aus den Straßen Canongate, High Street und Castlehill und hat tatsächlich etwa die Länge einer schottischen Meile, rund 1,8 km. Im Westen beginnt sie am Edinburgh Castle und führt über die ehemalige Highland Tolbooth Church, die St. Giles Cathedral (geweiht dem Stadtheiligen Ägidius), das People’s Story Museum, das Museum of Edinburgh und das John-Knox-Haus bis zum Palace of Holyroodhouse. Gegenüber diesem Palast befindet sich der moderne Bau des Schottischen Parlaments. Quer zur Royal Mile verlaufen im Fischgrätenmuster kleine, häufig extrem steile Gassen, die closes, courts oder auch wynds genannt werden. In der Altstadt befinden sich außerdem mehrere große Marktplätze.
Der Park Princes Street Gardens erstreckt sich zwischen dem Castle Rock, auf dem die Burg erbaut wurde und der Princes Street. Wo heute zwischen beiden der Park und der Bahnhof liegen, umgaben einst Sumpfland und Seen den Berg, wie es auf älteren Gemälden zu sehen ist.
Den höchsten Punkt der Altstadt markiert ein ehemaliger Kirchturm. Im 19. Jahrhundert wurde die Highland Tolbooth Church erbaut, 1979 wurde die Kirche geschlossen: The Hub fand seitdem vielfache neue Verwendungen, unter anderem als Festivalzentrale.
New Town, Gärten, Berge, Hafen
Mit der Princes Street beginnt die georgianische New Town, die sich mit ihren rechtwinklig angelegten Straßen nördlich der Eisenbahnanlagen erstreckt. Entlang dieser Prachtstraße aus dem 18. Jahrhundert reihen sich mehrere Denkmäler und Monumente.
In der New Town befinden sich am Picardy Place die römisch-katholische Kathedrale von Edinburgh, die St. Mary’s Cathedral, ein neugotischer Bau von 1814. 1874 wurde der Grundstein für eine weitere Bischofskirche gelegt, ebenfalls Maria geweiht, es ist die episkopale St Mary’s Cathedral im West End.
Der Royal Botanic Garden Edinburgh befindet sich nördlich des Stadtzentrums. Westlich des Botanischen Gartens liegen der Zoo und die Gallery of Modern Arts.
Eine Aussicht über die Stadt bietet sich vom 251 Meter hohen Hausberg Arthur’s Seat, der vulkanischen Ursprungs ist. Die Felsformation Salisbury Crags liegt am Fuß des Berges. Auf dem Blackford Hill befindet sich das Royal Observatory Edinburgh.
Im Hafen von Leith liegt am Ocean Terminal die ehemalige königliche Yacht Britannia, die besichtigt werden kann. Der getrennte Hafen und der Burgberg haben dazu beigetragen, dass Edinburgh auch „Athen des Nordens“ (Vergleich Piräus – Akropolis) genannt wird.
Die Gilmerton Cove ist ein Komplex künstlich angelegter unterirdischer Gänge und Kammern, die unter dem Edinburgher Vorort Gilmerton aus dem anstehenden Sandstein geschnitten wurden.
Trivia
J.K. Rowling lebte noch vor ihrem schriftstellerischen Erfolg mehrere Jahre in Edinburgh. Sie verkehrte dort gerne in einem kleinen Cafe, wo sie sich ihrer Schreibarbeit widmete. Die Stadt mit ihren historischen Gebäuden, Gärten und Friedhöfen gab ihr beim Schreiben der später erschienenen Harry-Potter-Romane die nötige Inspiration dafür.
Persönlichkeiten
Literatur
Michael Fry: Edinburgh. A history of the city. Pan Books, London 2010, ISBN 978-0-330-45579-4.
Weblinks
Offizielle Website der Stadt
Abbildung der Stadt 1574 in Civitates orbis terrarum von Georg Braun
Auf Geisterjagd durch die vaults von Edinburgh
Alexis Joachimides: "Edinburgh's First New Town from a Transnational Perspective – Continental Sources for Eighteenth-Century Town Planning in Britain". In: Effinger, Maria et al. (Hrsg.): Von analogen und digitalen Zugängen zur Kunst. Festschrift für Hubertus Kohle zum 60. Geburtstag. Heidelberg: arthistoricum.net, 2019, S. 71–82.
Einzelnachweise
Ort in Edinburgh (Council Area)
Council Area (Schottland)
City (Schottland)
Ehemalige Hauptstadt (Schottland)
Hochschul- oder Universitätsstadt in Schottland
Stadt als Namensgeber für einen Asteroiden
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Q23436
| 868.444714 |
83829
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https://de.wikipedia.org/wiki/Gewebetiere
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Gewebetiere
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Gewebetiere (Eumetazoa) (altgr. εὖ eu gut, echt + μετά (da)nach + ζῷον [zóon], Lebewesen, Tier) sind ein hypothetisches Taxon in der Systematik der vielzelligen Tiere. Darin werden alle vielzelligen Tiere (Metazoa) zusammengefasst, mit Ausnahme der Schwämme und der Placozoa (zusammen früher auch Gewebelose oder Parazoa genannt). Der Name nimmt Bezug auf ein Merkmal (den Besitz von echtem Zellgewebe), das laut der Theorie bei den Schwämmen nicht vorkommen soll (zu einer alternativen Theorie vgl.).
Wichtigstes Argument für die Gruppierung ist aber die Ähnlichkeit der Kragengeißelzellen oder Choanocyten der Schwämme mit den Zellen der einzelligen Kragengeißeltierchen, was eine plausible Erklärung für die Entwicklung von Einzellern zu Vielzellern liefern würde. Die Eumetazoa-Hypothese sagt also aus, dass die Schwämme die Schwestergruppe aller anderen vielzelligen Tiere sind, also diejenige Gruppe, die sich zuerst von der gemeinsamen Stammgruppe abgespalten hat. Sie galt lange Zeit als nahezu unangefochtene Standardhypothese, wird aber heute von zahlreichen Forschern aufgrund phylogenomischer Daten, bei denen die Verwandtschaft aufgrund des Vergleichs homologer DNA-Sequenzen abgeschätzt wird, in Zweifel gezogen, von anderen aber weiterhin vertreten.
Einige Zoologen verwenden stattdessen den Namen Animalia (Linnaeus, 1758) für diese Gruppierung. Für das Taxon, in dem die Placozoa und die Eumetazoa zusammengefasst werden, ist durch Peter Ax der Name Epitheliozoa geprägt worden. Spätere Autoren haben teilweise die Placozoa in diese Gruppierung einbezogen, da sie das Abschlussgewebe der Placozoa als homolog zu den Epithelien der anderen Epitheliozoa ansehen. Dieser Auffassung zufolge wären dann Eumetazoa und Epitheliozoa synonym zueinander.
Andere Forscher bestreiten die basale Stellung der Schwämme und sehen eine andere Gruppe als basal stehend an: Viele die Rippenquallen, einige die Bilateria. Für diese sind dann die Eumetazoa kein eigenständiges Taxon mehr, Eumetazoa wäre dann ein Synonym für Metazoa.
Merkmale
Das Taxon der Gewebetiere zeichnet sich durch spezialisierte Zelltypen und echte Gewebe wie beispielsweise Sinneszellen, Nerven- oder Muskelgewebe aus. Epithel- und andere Zellen sind durch spezielle Zell-Zell-Verbindungen, die „Gap Junctions“ verbunden. Zudem kommt es bei der Entwicklung des Embryos durch Gastrulation zu einer Aufspaltung der Zellen in mindestens zwei Zellschichten (Keimblätter), das Entoderm und das Ektoderm. Weitere gemeinsame Merkmale der Eumetazoa unter Ausschluss der Placozoa sind ein Körperbau mit einem Mund und einem Darm, der Besitz von radialer oder bilateraler Symmetrie des Körpers sowie eine Körperachse mit Vorder- und Hinterende.
Phylogenie
Eine mögliche Phylogenie der vielzelligen Tiere, unter Berücksichtigung der Eumetazoa-Hypothese, könnte so aussehen:
Vergleiche dazu unten einige aktuell diskutierte alternative Hypothesen.
Methodische Probleme
Das Verhältnis der vier grundlegenden, basalen Gruppen der vielzelligen Tiere zueinander, der Schwämme (Porifera), Placozoa, Rippenquallen (Ctenophora), Nesseltiere (Cnidaria) zu den Bilateria, den „höheren“ Tieren mit im Grundzustand zweiseitiger (bilateraler) Symmetrie des Körperbauplans, die allein mehr als 99 Prozent des Tierreichs ausmachen, ist bis heute nicht abschließend geklärt und gehört zu den grundlegenden Problemen der Phylogenie der Organismen. Weitgehend Konsens besteht inzwischen darüber, dass es sich bei den Schwämmen und den Bilateria um monophyletische Gruppen handelt – dies war vor allem im Fall der Schwämme einige Zeit umstritten. Die Reihenfolge der evolutiven Entwicklung der anderen Gruppen ist äußerst problematisch, da hierzu eine Reihe von grundlegenden Studien existieren, die jeweils für sich betrachtet äußerst überzeugend wirken, aber zu grundlegend unterschiedlichen Ergebnissen gekommen sind.
Der einzige wissenschaftliche Ansatz, der zur Lösung des Problems derzeit verfolgt wird, ist die Methode der Kladistik, in Deutschland auch phylogenetische Systematik genannt. Im Gegensatz zu früheren Ansätzen, die weitgehend auf der Autorität und intuitiven Ansicht berühmter und anerkannter Forscher aufbauten, beruht die Kladistik auf strikt formalisierten Entscheidungs-Algorithmen. Dadurch wurde ein jahrzehntelanger Stillstand aufgebrochen, der einerseits auf der Bildung nationaler wissenschaftlicher Schulen und andererseits darauf beruhte, dass es verpönt war, dass junge Forscher es wagten, etablierten Fachkoryphäen zu widersprechen, und entsprechende Ansichten meist gar nicht publiziert wurden. Die morphologische Untersuchungsmethodik machte in den Jahrzehnten seit etwa 1980 große Fortschritte, in dem vor allem zellmorphologische Untersuchungen zur Bildung der Keimblätter, zur Entwicklung des Nervensystems und zum Bau der Spermien bei den verschiedenen Tierstämmen verfeinert wurden. Grundlegende Bedeutung erlangte aber vor allem die Untersuchung der Verwandtschaft anhand des Vergleichs homologer DNA-Abschnitte.
Die mit diesen Methoden erzielten Ergebnisse sind allerdings bis heute widersprüchlich. Die Ergebnisse hängen dabei naturgemäß von der Wahl des jeweiligen Merkmals oder Gens ab. Oft ergeben sich auch unterschiedliche Stammbäume, wenn bestimmte Schlüsselgruppen in die Analyse mit einbezogen oder weggelassen werden; dabei kann es ratsam sein, Gruppen mit extrem divergierender Merkmalskombination, also hoher Evolutionsgeschwindigkeit, wegzulassen, da sie die Analyse stark verzerren können. Es ist aber nicht ohne weiteres möglich, solche Fälle im Voraus zu erkennen. Großen Einfluss hat daneben aber auch der verwendete Sortieralgorithmus. Die Verwandtschaft zahlreicher Gruppen zueinander durch einfaches Durchprobieren (Permutation) zu ermitteln, ist auch mit Supercomputern unmöglich, da der Rechenaufwand zu hoch ist. Es müssen daher Optimierungsverfahren ausgewählt werden, um das Problem zu vereinfachen. Dafür werden verschiedene Methoden verwendet. Einige Verfahren gruppieren zunächst offensichtlich ähnliche Fälle zu Paaren, um dann die anderen nach und nach hinzuzufügen. Andere versuchen, Stammbäume (hier Kladogramme genannt) mit minimaler Länge zu erzeugen. Heute werden meist Optimierungsverfahren der Bayessche Statistik herangezogen. Jede Methode kann bei gleichen Datensätzen ein anderes Ergebnis liefern. Die Optimierungsverfahren liefern schließlich als Ergebnis einen Baum, aber zunächst noch keinen Hinweis darauf, in welcher Reihenfolge die Verzweigungen auftraten. Dazu ist die jeweils untersuchte Gruppe mit Außengruppen zu vergleichen („Verwurzelung“ genannt), so dass der Knoten, der der Außengruppe am ähnlichsten ist, basal gesetzt werden kann. Das Ergebnis hängt nun auch von der Wahl der Außengruppe(n) ab. Oft ist es angemessen, Merkmale unterschiedlich zu gewichten, da komplexe Merkmale wie der Besitz bestimmter Organe aussagekräftiger sind als einfache, wie zum Beispiel dem Vorhandensein einer bestimmten Base an einer Position der DNA-Sequenz (die, bei vier Basen, bereits eine Zufallswahrscheinlichkeit von 25 Prozent besitzt). Morphologische Merkmale können außerdem mit solchen an Fossilien verglichen werden, deren Alter unter Umständen weitere Informationen liefert. Jede der hier erwähnten, und zahlreiche weitere, methodische Entscheidungen haben jeweils Vor- und Nachteile, so dass es nicht einfach ist, die besten davon auszuwählen.
Die bisherigen Ergebnisse haben gezeigt, dass morphologische Merkmale (sogar ganz grundlegend erscheinende) restlos rückgebildet oder konvergent in verschiedenen Gruppen in ähnlicher Form neu gebildet werden können. So wird etwa diskutiert, dass die Rippenquallen und die übrigen Eumetazoa konvergent zueinander unabhängig ein Nervensystem entwickelt haben könnten. Gensequenzen können durch Mutationen so stark verändert sein, dass ihre Ähnlichkeit über eine zufällige Übereinstimmung nicht mehr hinausgeht. Bestimmte Genfamilien können Orthologe Gene und paraloge Gene unterschiedlicher Evolutionsgeschwindigkeit enthalten oder, im Extremfall, auf horizontalen Gentransfer zurückgehen.
Alternative Hypothesen
Die genannten methodischen Probleme führen zu unterschiedlichen Hypothesen über die Verwandtschaftsverhältnisse. Einige davon werden im Folgenden dargestellt. Neben dieser Auswahl existieren noch zahlreiche weitere Hypothesen.
Coelenterata
Viele aktuelle Arbeiten, die die Existenz der Eumetazoa bestätigen, führen zu einer Gruppierung der Nesseltiere mit den Rippenquallen, eines Taxons, dass in der klassischen Systematik als Hohltiere (Coeneterata) schon einmal als Standardhypothese galt, aber dann für einige Jahrzehnte kaum noch vertreten wurde. Ein Beispiel wäre die Phylogenie in einer Übersichtsarbeit von Maximilian J. Telford und Kollegen. Diese ergäbe folgende Phylogenie:
Rippenquallen statt Schwämme als erste Verzweigung
Während lange Zeit die Schwämme (oder seltener die Placozoa) wegen ihrer einfachen und abweichenden Organisation als einzige Kandidaten für die basale Gruppe der Metazoa galten, kommt diese Position nach einer Reihe sehr einflussreicher neuerer genetischer Hypothesen den Rippenquallen zu. Dieses Resultat war nach morphologischen Maßstäben überraschend, ist aber nach einer bestimmten genetischen Methodik relativ robust und statistisch gut abgesichert. Es ergäbe sich die folgende Phylogenie:
Nach dieser Hypothese wären die Eumetazoa kein valides Taxon. Ein großes Problem der Hypothese wäre es, die große Ähnlichkeit der Choanozyten der Schwämme mit den Zellen der einzelligen Kragengeißeltierchen (Choanoflagellata) zu erklären. Die Choanoflagellata gelten nach übereinstimmenden Ergebnissen als bestens abgesicherte Schwestergruppe der Metazoa, die Existenz der Choanozyten galt über 100 Jahre als starkes Indiz dafür, wie aus einer Kolonie von Einzellern möglicherweise ein vielzelliges Tier evolutiv entstanden sein könnte. Es ist zwar denkbar, dass zwar beide Zelltypen tatsächlich homolog sind, aber bei den Rippenquallen und allen Metazoa außer den Schwämmen verloren gegangen sind (Symplesiomorphie), aber eine solche komplizierte Hypothese gilt immer als Indiz gegen eine bestimmte Theorie. Tatsächlich wurden aber auch Argumente vorgebracht, die eine konvergente Bildung der zunächst so ähnlich aussehenden Zelltypen zumindest denkbar erscheinen lassen.
ParaHoxozoa
Eine alternative Hypothese, zum Beispiel vertreten in einer Übersichtsarbeit von Gonzalo Giribet vereint nach einem besonders hoch gewichtetem Merkmal, dem Besitz von Genen aus der Familie der Hox-Gene, die grundlegend für den Körperbauplan der meisten Tiere sind, die Placozoa, Cnidaria und Bilateria in einem Parahoxozoa genannten Taxon.
Auch nach dieser Hypothese würde ein Taxon Eumetazoa nicht existieren.
Einzelnachweise
Weblinks
Vielzellige Tiere
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Q5174
| 826.957126 |
5637
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https://de.wikipedia.org/wiki/Weizen
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Weizen
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Als Weizen wird eine Reihe von Pflanzenarten der Süßgräser (Poaceae) der Gattung Triticum bezeichnet. Als Getreide werden vor allem zwei Arten angebaut: Weichweizen und Hartweizen. Etymologisch leitet sich das Wort Weizen vom „weißen“ (hellen) Mehl und der hellen Farbe der Weizenfrucht ab, der Gattungsname Triticum (Mahlfrucht, Dreschgetreide) vom lateinischen Partizip tritum (gerieben, gedroschen).
Unter den Getreiden leistet Weizen neben Mais und Reis den wichtigsten Beitrag zur Ernährung der Weltbevölkerung und ist in unterschiedlicher Ausprägung in allen Kulturkreisen bekannt. Weizen gehört wie die meisten Getreidearten zu den C3-Pflanzen.
Beschreibung
Vegetative Merkmale
Die Weizen-Arten sind einjährige Gräser, die Wuchshöhen von etwa 40 bis 160 Zentimeter erreichen und die Büschel bilden. Der Halm ist rundlich und aufrecht. Die Blattscheiden sind bis zum Grund hin offen. Das Blatthäutchen ist ein kurzer häutiger Saum. Die Blattspreiten sind 4 bis 20 Zentimeter lang und flach ausgebreitet. Sie tragen am Grund zwei sichelförmige Öhrchen.
Generative Merkmale
Der endständige Blütenstand ist eine Ähre, die (ohne die Grannen) 6 bis 18 Zentimeter lang wird. Die Ährchen sitzen meist zweizeilig oder einzeln und wechselständig und ungestielt an den Knoten der Ährenspindel. Die Ährchen sind 2- bis 5- (bis 9-) blütig und sind seitlich zusammengedrückt. Die Hüllspelzen sind untereinander fast gleich, drei- bis elf-nervig, bauchig; ihr Kiel läuft in einen kräftigen Zahn oder in eine Granne aus. Die Deckspelzen sind 7- bis 11-nervig, kahnförmig und sind unbegrannt oder laufen in eine Granne aus. Die zweinervigen Vorspelzen sind meist nur wenige kürzer als die Deckspelzen. Die Staubbeutel der 3 Staubblätter sind 2 bis 5 Millimeter lang. Die Früchte werden botanisch als „einsamige Schließfrüchte“ (Karyopsen) bezeichnet, die Tausendkornmasse beträgt 40–65 Gramm.
Systematik
Die Gattung Triticum gliedert sich in folgende Sektioen:
Triticum sect. Monococcon , mit den Arten:
Triticum monococcum (Typus-Art)
Triticum urartu
Triticum sect. Pyrachne , mit den Arten:
Triticum polonicum (Typus-Art)
Triticum turgicum
Triticum timopheevii
Triticum sect. Triticum (Syn.: Triticum sect. Frumentum , Triticum sect. Spelta )
Triticum aestivum (Typus-Art)
Triticum × zhukovskyi
Die Gattung Triticum umfasst nach R. Govaerts fünf Arten, von denen fast jede mehrere Unterarten umfasst:
Arten
Weichweizen (Triticum aestivum ); wird weltweit kultiviert. Mit fünf bis sieben Unterarten:
Triticum aestivum subsp. aestivum (Syn.: Triticum vavilovii )
Zwergweizen oder Binkel (Triticum aestivum subsp. compactum , Syn.: Triticum compactum ): Er kommt ursprünglich von Transkaukasien bis Israel vor.
Triticum aestivum subsp. macha (Syn.: Triticum macha ): Sie kommt wild im westlichen Transkaukasien vor.
Dinkel (Triticum aestivum subsp. spelta , Syn.: Triticum spelta ): Ursprünglich in Transkaukasien.
Kugelweizen (Triticum aestivum subsp. sphaerococcum , Syn.: Triticum sphaerococcum ): Kommt wild vom südlichen Pakistan bis zum nordwestlichen Indien vor.
Einkorn (Triticum monococcum ): Die Heimat ist Ost- und Südosteuropa sowie Westasien und der Kaukasusraum. Mit zwei Unterarten:
Triticum monococcum subsp. aegilopoides (Syn.: Triticum baeoticum ): Kommt ursprünglich von Südosteuropa bis Afghanistan vor.
Freidreschendes Einkorn (Triticum monococcum subsp. monococcum, Syn.: Triticum sinskajae ): Kommt ursprünglich in der südöstlichen Türkei vor.
Triticum timopheevii , kommt von der südöstlichen Türkei bis zum nordwestlichen Iran vor. Mit den Unterarten:
Triticum timopheevii subsp. armeniacum (Syn.: Triticum araraticum ): Sie kommt im südlichen Transkaukasien vor.
Triticum timopheevii subsp. timopheevii (Syn.: Triticum militinae , Triticum timonovum ): Sie kommt von der südöstlichen Türkei bis zum nordwestlichen Iran vor.
Rauweizen oder Nacktweizen (Triticum turgidum ): Die Heimat ist Westasien. Mit mehreren Unterarten:
Persischer Weizen (Triticum turgidum subsp. carthlicum , Syn.: Triticum carthlicum ): Sie kommt vom Kaukasusraum bis zum Iran vor.
Triticum turgidum subsp. dicoccoides (Syn.: Triticum dicoccoides ): Sie kommt vom östlichen Mittelmeergebiet bis zum Kaukasusraum und zum Iran vor.
Emmer (Triticum turgidum subsp. dicoccum , Syn.: Triticum dicoccon , Triticum ispahanicum , : Wild in der südöstlichen Türkei.
Hartweizen (Triticum turgidum subsp. durum , Syn.: Triticum durum ): Wild in Ägypten.
Triticum turgidum subsp. georgicum (Syn.: Triticum karamyschevii , Triticum turgidum subsp. palaeocolchicum ): Kommt im westlichen Transkaukasien vor.
Polnischer Weizen (Triticum turgidum subsp. polonicum , Syn.: Triticum polonicum , Triticum petropavlovskyi ): Wild in Ägypten.
Khorasan-Weizen (Triticum turgidum subsp. turanicum , Syn.: Triticum turanicum ): Sie kommt vom nördlichen Irak zum nördlichen Iran und dem nordwestlichen China vor.
Triticum turgidum subsp. turgidum, Syn.: Triticum jakubzineri , Triticum compositum ): Sie kommt wild im Gebiet von Syrien und Libanon vor.
Triticum urartu : Die Heimat ist Armenien, Iran, Irak, Palästina, das Gebiet von Syrien und Libanon, der Kaukasusraum und die östliche Türkei.
Triticum ×zhukovskyi = Triticum monococcum × Triticum timopheevii; wird in Georgien kultiviert. Sie kommt nach POWO wild in Transkaukasien vor.
In die Gattung Triticum werden manchmal auch die nahe verwandten Walche (Aegilops) eingeschlossen, von denen einige Arten in die kultivierten Weizenarten eingekreuzt wurden.
Ackerbaulich wichtige Weizenarten
Arten
Weichweizen (Triticum aestivum ) ist eine hexaploide Weizenart und wird mit der weitesten Verbreitung angebaut. Es gibt eine Vielzahl von Sorten, die an unterschiedliche Klimate angepasst sind.
Dinkel oder Spelz (Triticum aestivum subsp. spelta ), ebenfalls hexaploid, wird als spezielles Brotgetreide begrenzt angebaut. Das in der Milchreife geerntete und geröstete Korn, Grünkern genannt, ist mineralstoffreich und stark aromatisch.
Emmer (Triticum turgidum subsp. dicoccum ) ist eine tetraploide Weizenart, die historisch angebaut wurde, heute aber keine wirtschaftliche Bedeutung mehr hat.
Hartweizen (Triticum turgidum subsp. durum ) ist die einzige tetraploide Weizenart, die heute noch verbreitet angebaut wird.
Einkorn (Triticum monococcum ) ist die älteste Kulturweizenart. Es handelt sich um eine diploide Weizenart. Sie wird heute noch aus wissenschaftlichen Gründen oder zu Illustrationszwecken angebaut, ist aber auch im Naturkosthandel wieder erhältlich und dient zur Produktion von Backwaren und Bier.
Sorten
Das Bundessortenamt teilt mit seiner Zulassung die Weichweizensorten in vier sogenannte Backqualitätsgruppen ein. (Hauptmerkmal der Einteilung ist die Volumenausbeute im Rapid-Mix-Test, einem Backversuch):
E-Gruppe: Eliteweizen – mit hervorragenden Eigenschaften und höchster Volumenausbeute der Backqualitätsgruppen. Eliteweizen wird meistens zum Aufmischen schwächerer Weizensorten verwendet oder exportiert.
A-Gruppe: Qualitätsweizen mit hoher Eiweißqualität, aber geringeren Anforderungen an die Volumenausbeute als bei Eliteweizen. Kann Defizite anderer Sorten ausgleichen.
B-Gruppe: Brotweizen – alle Sorten, die für die Gebäckherstellung gut geeignet sind, die Volumenausbeute darf diejenige der Qualitätsweizen noch unterschreiten.
C-Gruppe: Sonstiger Weizen, welcher hauptsächlich als Futter verwendet wird.
Bei Weizensorten, die besonders für Flachwaffel- und Hartkeksherstellung geeignet sind, wird die Qualitätsgruppe mit dem Index ‚K‘ an der Qualitätsgruppe gekennzeichnet, also zum Beispiel CK.
Domestizierung, Züchtung und Ausbreitung des Anbaus
Geschichte
Der heutige Saatweizen ging aus der Kreuzung mehrerer Getreide- und Wildgrasarten hervor. Die ersten angebauten Weizenarten waren Einkorn (Triticum monococcum) und Emmer (Triticum dicoccum). Ihr Herkunftsgebiet ist der Vordere Orient (Fruchtbarer Halbmond).
Die ältesten Nacktweizenfunde stammen aus der Zeit zwischen 7800 und 5200 v. Chr. Damit ist Weizen nach der Gerste die zweitälteste Getreideart. Mit seiner Ausbreitung nach Nordafrika und Europa gewann der Weizen grundlegende Bedeutung.
Die ältesten Funde von Nacktweizen in Europa stammen aus dem westmediterranen Raum, dem Siedlungsbereich der Cardial- oder Impressokultur. Im Endneolithikum war der Nacktweizen nach zeitweiliger Ausbreitung über Mitteleuropa auf eine Region beiderseits des Oberrheins und der Schweiz reduziert. Doch lange blieb der Anbau hinter dem der Getreidearten Einkorn, Emmer und Gerste zurück. Erst durch das Weißbrot, das ab dem 11. Jahrhundert in Mode kam, etablierte sich der Weizen. Heute ist Weizen in Deutschland die am häufigsten angebaute Getreideart und nimmt den größten Anteil der Getreideanbauflächen ein.
Einkorn (Triticum monococcum) ist die ursprünglichste Form des kultivierten Weizens; man findet auch heute noch Wildformen des Einkorns, so dass die Domestizierung mittels menschlicher Auslese klar erscheint. Aus dem Einkorn entwickelte sich durch Bildung eines Additionsbastards mit einem anderen Wildgras (evtl. Aegilops speltoides Tausch, Syn. Triticum speltoides (Tausch) K. Richt.) in vorgeschichtlicher Zeit der tetraploide Emmer (Triticum dicoccum), aus dem später durch Zucht Arten wie Hartweizen und Kamut entstanden.
Der heute vorwiegend angebaute Weichweizen (Triticum aestivum) ist eine jüngere Züchtung und genetisch relativ weit von den in historischen Quellen genannten „Weizen“ entfernt. Der Weizen Roms war Emmer (far). Der moderne Weizen entstand durch die Aufnahme des gesamten Gensatzes des Wildgrases Aegilops tauschii (Syn. Triticum tauschii , Aegilops squarrosa auct.) in den Emmer.
Forschung
Das International Wheat Genome Sequence Consortium rechnet damit, dass bis 2018 eine komplette DNA-Sequenz mit Genkarte des Weizens zur Verfügung steht. Das Weizengenom umfasst ca. 17 Milliarden Basenpaare und ist damit rund fünfmal so lang wie das des Menschen. Ein wichtiger Teilschritt ist 2017 gelungen, indem das Genom von tetraploidem Emmer, der einen Teil des hexaploiden Weizens darstellt, sequenziert wurde. Weizenzüchter aus bedeutenden Exportländern erwarten große Fortschritte bei konventionell und gentechnisch erzeugten Sorten, je genauer die Lage und Funktion der einzelnen Gene bekannt ist. Im August 2018 berichtete das Magazin Science, dass das International Wheat Genome Sequencing Consortium das Genom des Weichweizens fast komplett entschlüsselt habe.
Transgener Weizen
In den USA wurde 2004 ein von Monsanto hergestellter transgener Weizen, der Glyphosatresistenz gegenüber dem Pflanzenschutzmittel Roundup (Glyphosat) vermittelt, zum Anbau zugelassen. Monsanto hat in den folgenden Jahren aber auf eine Kommerzialisierung verzichtet wegen des Widerstands der EU, Japans, Kanadas und anderer Staaten, der den lukrativen Export amerikanischen Weizens gefährdet hätte. Da nachgewiesen wurde, dass ein Auskreuzen von Transgenen aus gentechnisch verändertem Weizen auf verwandte Grasarten, wie Walch (Aegilops cylindrica) möglich ist, ist der Einsatz gentechnisch veränderten Weizens problematisch.
Im Jahr 2013 wurde glyphosatresistenter Weizen in einem Acker In Oregon (USA) gefunden. Auf welche Weise dieser transgene Weizen, der aus der Produktion von Monsanto stammt, unkontrolliert wachsen konnte, ist nicht aufgeklärt worden. In der Schweiz führt die Universität Zürich seit 2008 Feldversuche mit transgenen Weizenlinien durch, die eine höhere Resistenz gegen Mehltau aufweisen.
Anbau
Weizen stellt an Klima, Boden und Wasserversorgung höhere Ansprüche als andere Getreidearten.
Weizen ist an trockene und warme Sommer angepasst. Eine moderne Kreuzung aus Weizen und Roggen, Triticale, erlaubt den Anbau in kühleren Klimazonen.
Winterweizen
In Deutschland wird auf über 90 % der Weizenanbauflächen Winterweizen ausgesät. Winterweizen wird, nach Ende der Keimruhe des Saatguts, im Herbst ausgesät (ab Ende September bis in den Dezember hinein). Abhängig von Höhenlage und Saatzeitpunkt werden ungefähr 280 bis 520 Körner pro m² ausgesät. Aufgrund der großen Bandbreite der Tausendkornmasse des Weizens von unter 40 bis über 60 g ist die Angabe einer durchschnittlichen Saatmenge in kg/ha schwierig, bei einer angestrebten Saatdichte von rund 320 Pflanzen pro m² und einer Tausendkornmasse von 48 g ergäbe sich beispielsweise eine Saatmenge von rechnerisch ca. 154 kg pro Hektar.
Bei Saat in das herbstliche Saatbett ist zu beachten, dass Weizen kein Dunkelkeimer ist, sondern ein lichtneutrales Keimverhalten aufweist. Bei der Saattiefe muss daher keine besonders große Tiefe gewählt werden, um gute Keimung zu gewährleisten. Bei feuchtwarmem Boden keimen die Samenkörner schnell und führen in 15–20 Tagen zum Feldaufgang. Die kleinen Pflanzen bilden Nebensprossen (Bestockung) aus und überwintern.
Wie alle Wintergetreidearten benötigt auch Winterweizen zum Abbau der Schosshemmung eine Vernalisation durch Frosttemperaturen. Die Hauptbestockung findet erst im Frühjahr statt und ist stark von Sorte und Pflegemaßnahmen abhängig. Bei später Aussaat, die meistens mit niedrigen Bodentemperaturen verbunden ist, verläuft die Keimung langsamer. Eine Keimung findet allerdings auch noch bei Bodentemperaturen von 2 bis 4 °C statt. Winterweizen ist daher spätsaatverträglich, die Aussaat somit bis Dezember möglich. Eine späte Aussaat kann aber zu unteroptimalen Ernteerträgen führen und verlangt höhere Saatdichten. Obwohl Weizen (sortenabhängig) bis ca. −20 °C frostresistent ist, bevorzugt er insgesamt ein gemäßigtes Klima.
Im Frühjahr setzt das Streckungswachstum (Schossen) ein und die Blätter entwickeln sich. Am Ende der Streckungsphase ist bereits eine vollständige Ähre mit Ährchen und Blüten vorhanden. Die Ähren schieben nach außen und mit der Blüte ist die Pflanzenentwicklung abgeschlossen. Nach der (Selbst-)Befruchtung entwickeln sich die Körner. Je Pflanze bilden sich zwei bis drei Ähren tragende Halme aus, was etwa 350 bis 700 Halmen je m² entspricht.
In jeder Ähre bilden sich etwa 25 bis 40 Körner aus. Sie bestehen in der Vollreife aus ca. 70 % Stärke, ca. 10–12 % Eiweiß, ca. 2 % Fett und ca. 14 % Wasser. Die Höhe der genannten Inhaltsstoffe hängt von der Sorte, der Düngung und beim Wasser von Luftfeuchtigkeit sowie Regen ab.
Gegen Unkräuter, Schadinsekten, Pilze und übermäßiges Wachstum sind im konventionellen Anbau mehrere Pflanzenschutzanwendungen erforderlich. Für den optimalen Ertrag ist auch eine ausreichende und ausgeglichene Nährstoffversorgung notwendig, wobei insbesondere die Stickstoffdüngung in mehreren Gaben (Portionen) erfolgt.
Die Ernte findet im Hochsommer des auf die Aussaat folgenden Jahres statt. Das Stroh verbleibt gehäckselt auf dem Feld oder es wird als Einstreu für die Tiere zu Ballen gepresst und abgefahren. Seit Ende der 2000er Jahre wird auch vermehrt die sogenannte Sikkation betrieben. Hierbei wird das Getreide kurz vor der Ernte mit Herbiziden (wie Glyphosat) gespritzt, um die Reife zu beschleunigen. Eine Anwendung von Glyphosat zur Arbeitserleichterung entspricht aber nicht der guten fachlichen Praxis und wurde deshalb ab 2014 eingeschränkt.
Sommerweizen
Sommerweizen (Triticum durum bzw. Triticum sativum) wird möglichst frühzeitig im Frühjahr ausgesät; er braucht keine Vegetationsruhephase, muss also nicht vernalisiert werden. Seine Kornerträge liegen in der Regel deutlich unter denen von Winterweizen. Die Körner haben eine glasigere Struktur als Winterweizen, sind aber proteinreicher. Die Sommerweizenproduktion machte in Deutschland im Jahr 2009 mit 0,2 Mio. t lediglich 0,8 % der gesamten Weizenernte aus.
Unter Wechselweizen versteht man einen Sommerweizen, der bereits im Herbst (November/Dezember) des Vorjahres ausgesät werden kann.
Wirtschaftliche Bedeutung
Bedeutung als Grundnahrungsmittel
Bei der Weltgetreideernte stellten die verschiedenen Arten des Weizens mit 765,77 Mio. t (2019) das am zweithäufigsten angebaute Getreide nach Mais (1,15 Mrd. t) dar. Die Anbaufläche für Weizen nahm weltweit 215,9 Millionen Hektar ein.
Der durchschnittliche Ertrag lag weltweit bei 34,2 dt/ha, während in Deutschland ca. 66,7 dt/ha geerntet wurden. Spitzenwerte liegen bei 120 dt/ha. Diese sind, nach Mais (59,2 dt/ha) und Reis (46,8 dt/ha), die dritthöchsten Kornerträge aller Getreidearten. Es werden durchschnittlich 2 dt/ha Saatgut ausgebracht.
Weizen ist für Menschen in vielen Ländern ein Grundnahrungsmittel (Brotgetreide) und hat eine große Bedeutung in der Tiermast.
Hartweizen ist besonders für die Herstellung von Teigwaren (Hartweizengrieß) geeignet – wird aber in Deutschland so gut wie nicht angebaut (2009: 62.000 t, dies entspricht lediglich 0,2 % der gesamten Weizenproduktion). Geschälte und polierte Weizenkörner finden als Graupen in der Küche Verwendung.
Weizen wird weltweit an Warenterminbörsen gehandelt, unter anderem an der Chicago Board of Trade (CBoT), der Kansas City Board of Trade (KCBOT), der Eurex (Zürich) und der MATIF (Paris).
Die internationale Wertpapierkennnummer (ISIN) für Weizen im Börsenhandel lautet: US12492G1040.
Die größten Weizenproduzenten
Im Jahr 2021 betrug die weltweite Weizenernte 770.877.073 t.
Folgende Tabelle gibt eine Übersicht über die 20 größten Produzenten, die insgesamt 85,4 % der Erntemenge produzierten.
Zum Vergleich: die Jahresernte in Österreich betrug 1.547.600 t und in der Schweiz 401.202 t.
Siehe auch:
Liste der größten Getreideproduzenten
Die größten Roggenproduzenten
Die größten Gersteproduzenten
Die größten Reisproduzenten
Die größten Maisproduzenten
Die größten Haferproduzenten
Welthandel
Manche Staaten bezahlen Exportsubventionen, damit der Weizen zum Weltmarktpreis gehandelt werden kann. Beispielsweise exportierte Deutschland 2016 ein Viertel seiner Weizenexporte nach Afrika. Australien musste 2019 wegen der Hitzewelle 2018/2019, erstmals seit 2007, wieder in geringem Umfang proteinreichen Weizen (aus Kanada) importieren. Die Exportmenge Australiens war in diesem Zeitraum mehr als achtzehnmal so hoch.
Exporte
Die größten Exporteure von Weizen weltweit waren 2021 Russland mit 27,4 Mio. t, Australien (25,6 Mio. t), USA (24,0 Mio. t), Kanada (21,5 Mio. t), Frankreich (19,8 Mio. t) und die Ukraine (19,4 Mio. t).
Nach dem russischen Überfall auf die Ukraine werden 2022 erhebliche Ausfälle der Exporte von Weizen, Gerste, Mais und Sonnenblumenöl erwartet. Darauf reagierten einige Staaten mit Exportbeschränkungen: So verbot Serbien den Export von Weizen, Ungarn den Export aller Getreide.
Importe
Im Jahr 2021 belief sich der Import von Weizen in Indonesien auf 11,5 Mio. t, in China auf 9,7 Mio. t, in der Türkei auf 8,9 Mio. t, in Algerien auf 8,0 Mio. t, und in Italien auf 7,3 Mio. t.
Deutschland importierte im gleichen Jahr 3,9 Millionen Tonnen, Österreich 1,2 Mio. t und die Schweiz 428 Tausend t Weizen.
Auswirkungen von globaler Erwärmung und Bevölkerungswachstum
Die globale Erwärmung führt zu einer Häufung von Trocken- und Hitzeperioden und damit zu einer Verstärkung der Schwankungen bei den Erträgen der Weizenproduktion. Es lässt sich auf Basis von Feldversuchen abschätzen, dass die weltweit produzierte Weizenmenge mit jedem weiteren Grad Celsius Temperaturanstieg um 6 % sinken wird. Selbst im Falle der Erreichung der im Pariser Abkommen anvisierten Begrenzung des globalen Temperaturanstiegs auf zwei Grad Celsius ergeben sich negative Auswirkungen auf die weltweiten Ernteerträge pro Fläche. Daraus ergibt sich zwecks Anpassung an die globale Erwärmung die Notwendigkeit eines Umstiegs auf trockenresistentere Weizensorten, etwa durch Züchtung neuer Weizensorten, welche den Ertragsrückgang teilweise, jedoch nicht vollständig dämpfen können.
Weizenkeimöl
Weizen enthält (wie oben ersichtlich) nur wenig Fett. Der Ölgehalt der Weizenkeime liegt zwischen 8 und 12 %. Das Öl besteht zu über 60 % aus mehrfach ungesättigten Fettsäuren, davon zu ca. 88 % aus der Omega-6-Fettsäure Linolsäure.
Weizenkeimöl hat einen Anteil von 200–300 mg Vitamin E pro 100 g und ist damit das Öl mit dem höchsten Gesamtgehalt an diesem Vitamin. Das Vitamin E in Weizenkeimöl besteht überwiegend aus α-Tocopherol, mit etwa 1,2 mg/100 g sind auch etwas Tocotrienole enthalten. Weizenkeimöl weist nur eine geringe Oxidationsstabilität auf.
Sonstiges
Weizenstroh kann als Flechtwerk dienen z. B. für Strohhüte oder zu Faserplatten verarbeitet werden.
Siehe auch
Weizenregatta
Weizenunverträglichkeit
Literatur
John Percival: The Wheat Plant, A monograph, Duckworth & Co, London, 1921
Elisabeth Schiemann: Weizen, Roggen, Gerste. Systematik, Geschichte und Verwendung. Gustav Fischer, Jena 1948.
Friedrich J. Zeller, Sai L.K. Hsam: Weizen: Grundstoff für die menschliche Ernährung und für industrielle Erzeugnisse. In: Naturwissenschaftliche Rundschau. Band 57, Nr. 8, 2004, , S. 413–421, Abstract.
Walter Erhardt, Erich Götz, Nils Bödeker, Siegmund Seybold: Der große Zander. Enzyklopädie der Pflanzennamen. Band 2. Arten und Sorten. Eugen Ulmer, Stuttgart (Hohenheim) 2008, ISBN 978-3-8001-5406-7.
Weblinks
Informationen zu Weizen bei Proplanta.de
Mit offenen Karten: Weizen - Instrument der Macht. Informationssendung von arte.tv vom 9. März 2022, Länge: 13 min, frei verfügbar bis 2. Februar 2029.
Einzelnachweise
Getreide
Nutzpflanze
Ölpflanze
|
Q15645384
| 733.133123 |
8411
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https://de.wikipedia.org/wiki/Eis
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Eis
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Eis ist der dritte Aggregatzustand, die feste Phase von Wasser. Flüssiges reines Wasser erstarrt zu Eis bei einer Temperatur unter dem Gefrierpunkt, der bei Normaldruck in Anwesenheit von Kristallisationskeimen bei 0 °C liegt. Als natürlich vorkommender kristalliner Festkörper mit einer definierten chemischen Zusammensetzung zählt Eis zu den Mineralen. Aufgrund seiner chemischen Struktur H2O gehört Eis zur Stoffgruppe der Oxide.
Unter atmosphärischen Bedingungen kristallisiert Eis im hexagonalen Kristallsystem und tritt in der Natur in verschiedenen Erscheinungsformen auf: von Schneeflocken, Graupel- und Hagelkörnern, Reif und Raureif über Raueis und Klareis, Eiszapfen und Eisblumen, Kammeis und Haareis, Firn und Nilas, Eisdecken stehender und fließender Gewässer, Grundeis, Treibeis, Packeis, Festeis, Schelfeis bis zu Gletschern, Eiskappen und Eisschilden.
Die Dichte von hexagonalem, gewöhnlichem Eis ist mit 0,918 g/cm³ (reines, luftfreies Eis-Ih bei 0 °C) geringer als die von flüssigem Wasser, was auch Dichteanomalie des Wassers genannt wird. Auf Grund dessen schwimmt Eis auf der Wasseroberfläche und bildet dort Eisdecken, Eisschollen und Eisberge. Hierbei befindet sich nur rund ein Zehntel des Eisvolumens über der Wasseroberfläche, die übrigen rund 90 Volumenprozent tauchen unter. Von einem 100 Meter dicken Tafeleisberg liegen daher etwa 90 Meter unter Wasser (die im Auftrieb verdrängte Wassermasse entspricht der Gewichtskraft des Eises).
In reiner Form besteht Eis aus farblosen, transparenten Kristallen. Wenn bei der Bildung der Eiskristalle feine Luftbläschen in Eisblöcke eingeschlossen wurden, erscheinen diese durch vielfache Lichtbrechung weißlich. Eis besteht als chemischer Stoff aus H2O und zeichnet sich durch eine Reihe besonderer Eigenschaften des Wassers aus.
Bei zahlreichen meteorologischen Phänomenen spielt Eis eine wesentliche Rolle. Polare Eiskappen und Vergletscherungen von Polarregionen mit Ausbildung von Eisschilden haben entscheidenden Einfluss auf das Klima des Planeten Erde. Dauerhafte Eisbedeckungen in der Polarregion kennzeichnen ein Eiszeitalter. Die im Eis gebundene Wassermenge ist ein wichtiger Speicher im globalen Wasserkreislauf; sie beeinflusst auch die Zugänglichkeit von verschiedenen Regionen als Lebensräumen. Als die feste Form von Wasser ist Eis von besonderer Bedeutung für unsere Biosphäre.
Die Wissenschaft von Formen, Auftreten und Eigenschaften von Eis und Schnee ist die Glaziologie.
Etymologie und Geschichte
Die Wortherkunft (Etymologie) von Eis lässt sich über das althochdeutsche, mittelhochdeutsche und niederdeutsche îs bis zum germanischen īsa zurückverfolgen. Durch Diphthongierung (Lautwandel von einem zu zwei Vokalen) wurde aus diesem Urwort unter anderem das deutsche Eis und das englische ice.
Als eigenständige Mineralart taucht Eis allerdings erst Anfang des 19. Jahrhunderts auf. Zuvor galt es mit Schnee und Hagel als Wasser und somit seit der Antike gemäß der Vier-Elemente-Lehre neben Feuer, Luft und Erde als eines der vier Grundelemente; selbst in den Systematiken von Abraham Gottlob Werner wird Eis bis zur letzten Auflage 1817 nicht aufgeführt (1. Auflage 1787).
Erst Friedrich Hausmanns beschreibt Wasser beziehungsweise dessen verschiedene feste Formen (Varietäten) in seinem Handbuch der Mineralogie von 1813 als Mineral, eingereiht in die zweite Klasse der „Inkombustibilien“ (unentzündlich) und der zweiten Ordnung der „Oxydoide“ (oxidähnlich). Eis und Schnee gehören nach Hausmann zum „Weichwasser“, das tafelförmig als Eisschollen, stalaktitisch als Eiszapfen, rindenförmig als Glatteis und kugelähnlich als Hagel vorkommt.
Da Eis bereits lange vor der Gründung der International Mineralogical Association (IMA) bekannt und als eigenständige Mineralart anerkannt war, wurde dies von ihrer Commission on New Minerals, Nomenclature and Classification (CNMNC) übernommen und bezeichnet das Eis als sogenanntes „grandfathered“ (G) Mineral. Die ebenfalls von der IMA/CNMNC anerkannte Kurzbezeichnung (auch Mineral-Symbol) lautet „Ice“.
Klassifikation
Bereits in der veralteten 8. Auflage der Mineralsystematik nach Strunz gehörte Eis zur Klasse der „Oxide und Hydroxide“ und dort zur Abteilung der „Verbindungen mit M2O und MO“, wo es als Eis (I) zusammen mit Eis (Ic) die unbenannte Gruppe IV/A.01 bildete.
Im zuletzt 2018 überarbeiteten und aktualisierten Lapis-Mineralienverzeichnis nach Stefan Weiß, das sich aus Rücksicht auf private Sammler und institutionelle Sammlungen noch nach dieser klassischen Systematik von Karl Hugo Strunz richtet, erhielt das Mineral die System- und Mineral-Nr. IV/A.01-10. In der „Lapis-Systematik“ entspricht dies der Abteilung „Oxide mit dem Stoffmengenverhältnis Metall : Sauerstoff = 1 : 1 und 2 : 1 (M2O, MO)“, wo Eis als einziges Mitglied die unbenannte Gruppe IV/A.01 bildet.
Die von der International Mineralogical Association (IMA) zuletzt 2009 aktualisierte 9. Auflage der Strunz’schen Mineralsystematik ordnet Eis ebenfalls in die Abteilung der „Oxide mit dem Stoffmengenverhältnis Metall : Sauerstoff = 2 : 1 und 1 : 1“ ein. Diese ist allerdings weiter unterteilt nach dem genauen Anion-Kationen-Verhältnis und der relativen Größe der Kationen, so dass das Mineral entsprechend seiner Zusammensetzung in der Unterabteilung „Kation : Anion (M : O) = 2 : 1 (und 1,8 : 1)“ zu finden ist, wo es als Eis-Ih die unbenannte Gruppe 4.AA.05 bildet.
Auch die vorwiegend im englischen Sprachraum gebräuchliche Systematik der Minerale nach Dana ordnet das Eis in die Klasse der „Oxide und Hydroxide“ und dort in die Abteilung der „Oxide“ ein. Hier ist es als einziges Mitglied in der unbenannten Gruppe 04.01.02 innerhalb der Unterabteilung „Einfache Oxide mit einer Kationenladung von 1+ (A2O)“ zu finden.
Kristallstruktur
Im festen Aggregatzustand des Wassers wird als Eis normalerweise eine hohe Fernordnung durch Ausbildung eines Kristallgitters im Zuge der Kristallisation erreicht. Im flüssigen Zustand herrscht eine Mischung von Ordnung und Chaos.
Natürliches Eis kristallisiert im hexagonalen Kristallsystem in der mit den Gitterparametern a = 4,497(5) Å und c = 7,322(4) Å sowie vier Formeleinheiten pro Elementarzelle.
Sechs Wassermoleküle schließen sich dabei über Wasserstoffbrücken jeweils zu einem Ring zusammen, wobei jedes Molekül ebenfalls Teil von zwei benachbarten Ringen ist. Die hexagonale Symmetrie der Kristallstruktur spiegelt sich in der makroskopischen Gestalt der Eiskristalle wider. In dieser Struktur ist jedes Sauerstoffatom tetraedrisch von jeweils vier anderen O-Atomen umgeben.
Hexagonales Eis wird mit Eis Ih bezeichnet.
Modifikationen
Unter −22 °C und über 207,5 MPa bilden sich noch andere, zum Beispiel kubische Eisformen aus, etwa das metastabile, kubische Eis Ic, in welchem die Sauerstoffatome eine Diamantstruktur aufweisen. Bisher sind 17 kristalline und 5 amorphe Modifikationen bekannt (Stand Januar 2010). Letztere sind Formen ohne Kristallstruktur.
Die 17 kristallinen Formen werden als Eis Ih, Eis Ic, sowie Eis II bis Eis XVI bezeichnet (z. B. Eis VI). 2021 konnten zwei weitere superionische Eis-Phasen (Eis XVIII und Eis XX) nachgewiesen werden.
Eiswolken im interstellaren Raum haben eine Temperatur von ca. −260 °C und sind amorpher Struktur („fließen“).
Eigenschaften
Erstarrungsvorgang
Der Schmelz- bzw. Gefrierpunkt von Eis liegt unter Normalbedingungen bei 0 °C (dem „Eispunkt“), die spezifische Schmelzenthalpie beträgt Hfus = 332,8 kJ/kg.
Kristallisationskeime, also Verunreinigungen wie Staubpartikel, Bakterien usw. sind allerdings Bedingung für eine Eiskristallbildung, da sich die kristallisierenden Wassermoleküle an diese anlagern müssen. In sogenanntem „unterkühltem Wasser“, nicht gefrorenem Wasser unter 0 °C, besitzen die Moleküle eine vom Normalfall abweichende Nahordnung, und es bilden sich Ikosaederstrukturen aus: so kann z. B. sauberes unterkühltes Mineralwasser an den beim Öffnen der Flaschen entstehenden Gasperlen spontan gefrieren. Ohne externe Auslöser gefriert Wasser bei −48 °C. Sehr reines (destilliertes) Wasser kann bis zu −70 °C unterkühlt werden.
Der Gefrierpunkt kann durch Bestreuen mit Salzen (Streusalz) herabgesetzt werden. Dies ist eine kolligative Eigenschaft, die Gefrierpunktserniedrigung hängt nur von der Menge der gelösten Teilchen, nicht jedoch von ihrer Art ab. Der gleiche Effekt lässt sich also auch mit Zucker erreichen.
Zusätzlich kann auch die Lösungsenthalpie eines Stoffs Eis zum Schmelzen bringen. Entscheidend hierfür ist, dass der hinzugegebene Stoff im festen Lösungsmittel unlöslich ist. Erreicht wird dieser Effekt durch die Erniedrigung des chemischen Potenzials der Flüssigphase. Dieser Effekt erzeugt gleichzeitig eine Siedepunkterhöhung des Wassers.
Schmelzvorgang
Der Übergang von festem zu flüssigem Aggregatzustand heißt Schmelzen. Um Eis zu schmelzen, müssen Wasserstoffbrückenbindungen zwischen den Wassermolekülen des Eises aufgebrochen werden. Dazu muss dem Eis Energie zugeführt werden. Beim Schmelzen absorbiert es so viel Energie, wie benötigt würde, um eine äquivalente Wassermasse auf 80 °C zu erhitzen. Die Temperatur der schmelzenden Eisoberfläche bleibt während des Schmelzens konstant bei 0 °C. Die Geschwindigkeit des Schmelzvorgangs hängt daher von der Effizienz der Energiezufuhr zur Eisoberfläche ab. Eine Eisoberfläche in Süßwasser schmilzt allein durch freie Konvektion bei gemäßigter Wassertemperatur mit einer Geschwindigkeit, die wie (T∞ – 4 °C)4/3 von der Temperatur des Süßwassers, T∞, abhängt.
Sublimation
Eis tritt bei ausreichend kalter und trockener Luft bei Atmosphärendruck durch Sublimation direkt in Gasform (Wasserdampf) über. Dieser Effekt wird u. a. bei der Gefriertrocknung im industriellen Maßstab genutzt.
Farbe
Eis ändert seine Farbe mit dem Luftgehalt und kann so auch in unterschiedliche Gruppen eingeteilt werden. Eis, das viel Luft enthält, ist weiß, solches, das wenig Luft enthält, ist durchsichtig und blau oder grün. Ein besonderer Fall von „farbigem“ Eis sind sogenannte Grüne Eisberge, bei welchen es sich um alte umgekippte Eisberge handelt, deren algenbewachsene Unterseite nun sichtbar ist.
Eis und Schnee reflektieren das Sonnenlicht. Innerhalb der Erdatmosphäre verursachen Eispartikel damit Lichtsäulen. (Die verwandten Halos entstehen dagegen durch Brechung des Lichts in Eiskristallen.) Astronomisch und geophysikalisch sind Eis und Schnee häufig Verursacher einer hohen Rückstrahlung eines Gegenstands.
Schallausbreitung
Die Schallgeschwindigkeit in Eis bei maximaler Dichte liegt bei 3250 m/s. Die Dispersion für Schallausbreitung in Eis ist im Gegensatz zu den meisten Festkörpern negativ. Dieser Effekt kann auf zugefrorenen Seen beobachtet werden. Entsteht zum Beispiel in hinreichend großer Entfernung zum Beobachter ein Riss in der Eisfläche (zum Beispiel durch Sonneneinstrahlung), kann ein pfeifendes Geräusch wahrgenommen werden, bei dem die Tonhöhe in Sekundenbruchteilen von ganz hohen Frequenzen zu sehr tiefen abfällt. Das Geräusch ähnelt dem eines vorbeifliegenden Projektils, das durch den Dopplereffekt eine fallende Tonhöhe erzeugt.
Wärmeaufnahme und -leitung
Eis hat bei einer Temperatur von 0 °C eine spezifische Wärmekapazität von 2,12 kJ/(kg·K), die bei tieferen Temperaturen leicht sinkt. Seine Wärmeleitfähigkeit bei 0 °C beträgt 2,21 W/(m·K) und steigt mit sinkender Temperatur leicht an. Im Vergleich zu flüssigem Wasser bei 20 °C hat Eis nahe dem Schmelzpunkt nur eine halb so große spezifische Wärmekapazität, jedoch eine dreieinhalb Mal so große Wärmeleitfähigkeit.
Härte
Nach der Mohsschen Härteskala hat Eis bei wenigen Grad unter Null nur eine geringe Härte von 1,5 und lässt sich mit dem Fingernagel ritzen. Die Mohshärte von Eis steigt allerdings bei tieferen Temperaturen an. Bei −30 °C übertrifft es mit einer Härte von 3,5 die von Kalkstein (Härte 3), bis es schließlich bei −80 °C die Härte von Vergütungsstahl (Mohshärte ca. 6) erreicht.
Tragfähigkeit von Eisdecken
Bereits bei wenigen Graden unter Null ist Eis in der Lage, Menschen und sogar schwere Fahrzeuge wie LKW zu tragen. Während des Baues der Transsibirischen Eisenbahn wurden am Anfang des 20. Jahrhunderts sogar Schienen auf den Baikalsee gelegt. Hunderte Schienenfahrzeuge überquerten diesen problemlos, lediglich eine Lokomotive brach durch die Eisdecke und versank. Voraussetzung dafür ist eine ausreichende Dicke der Eisdecke für die jeweilige Belastung. Die Mindestdicke für eine sichere Belastbarkeit entsprechend der Anforderung beruht auf empirischen Erfahrungswerten bzw. kann mit verschiedenen Methoden berechnet werden. Die Belastbarkeit und die Mindestdicke werden wesentlich von der Beschaffenheit des Eises, wie Rissen und Lufteinschlüssen, sowie dem Schwimmzustand beeinflusst.
Folgende Eisdicken (auf flüssigem Wasser) gelten als ausreichend:
Einzelpersonen: 5 cm
Personengruppen: 8 cm
Schlittenfahrzeuge: 12 cm
PKW, sonstige Fahrzeuge: 18 cm
Die Tragfähigkeit einer Eisdecke hängt einerseits von ihrem Schwimm-Auftrieb auf dem tragenden Wasser und andererseits von der Lastverteilfähigkeit (Durchbiegung) bei punktueller Belastung ab. In beiden Fällen ist die Dicke der Eisdecke der maßgebliche Parameter für die Tragfähigkeit. Die Belastbarkeit aufgrund der Schwimmfähigkeit ist dabei proportional zur Eisdicke, während die Lastverteilfähigkeit dem Quadrat der Eisdicke proportional ist.
Bei einer gleichmäßigen Lastverteilung auf großen Flächen ohne Durchbiegung ist die Belastbarkeit, wie bei einem Floß, durch die Schwimmfähigkeit der Eisdecke begrenzt. Entsprechend dem Auftrieb von blasenfreiem Eis der Dichte 917 kg/m³ beträgt die Tragfähigkeit (in kg/m²) für große Flächen der Dicke: (in m).
Also z. B. 8,3 kg/m² bei einer Eisdicke von 10 cm.
Durch Lastverteilung in die umgebende Fläche können begrenzte Teilflächen einer Eisdecke erheblich höher belastet werden. Es ist jedoch immer zu beachten, dass durch die zulässige Belastung von Teilflächen die Höchstbelastung der gesamten Eisdecke nicht überschritten wird.
Die Tragfähigkeit einer Eisstraße bezogen auf Einzelfahrzeuge lässt sich auch mit der sogenannten „Gold-Formel“ abschätzen (benannt nach Lorne W. Gold):
mit
= zulässige Gesamtmasse eines einzelnen Fahrzeugs
= Dicke des Blaueises
= Dicke des weißen Eises
Die kanadische Provinz Manitoba benutzt diese Formeln, um die Tragfähigkeit einer Eisfläche für die Nutzung als Winterstraße zu bestimmen. Die Entscheidung, für welche Belastung die Eisstraße freigegeben wird, trifft letztlich immer ein Experte für Eisstraßen.
Eisstraßen gibt es temporär etwa in Schweden, Finnland, Estland, Kanada, den Vereinigten Staaten und Russland.
Die Seegfrörnen des Bodensees sind Jahrhundertereignisse. Die Eisdecke ist dann so tragfähig, dass der gesamte See zu Fuß überquert werden kann. Bei der letzten Seegfrörne 1963 fuhren Wagelustige sogar mit einem Kleinwagen von Lindau über das Eis in die Schweiz.
Das Betreten von Eisflächen ist prinzipiell gefährlich und im Zweifel zu vermeiden. Dies gilt vor allem auch, weil die Dicke und Beschaffenheit des Eises häufig nicht zuverlässig zu bestimmen ist. Zur Bestimmung der Dicke des Eises eignen sich Eisschrauben oder Bohrer mit aufgetragenen Zentimetermarken sowie das Messen an ins Eis geschlagenen Löchern.
Durch Einbrechen in das Eis entsteht die Gefahr von starken Unterkühlungen, Erfrierungen und Ertrinken. Bei der Rettung sollten nach Möglichkeit Rettungshilfsmittel benutzt werden, die das Gewicht des Hilfeleistenden auf eine größere Fläche verteilen. Dem Eingebrochenen soll nicht die Hand gereicht werden, sondern Hilfsmittel, die im Notfall auch losgelassen werden können. Zur Eigenrettung können Eiskrallen mitgeführt werden, die das Herausziehen aus dem Loch erleichtern.
Anomalien
Wasser weist zahlreiche Anomalien auf: Eigenschaften, die von den Regeln, die auf die meisten Stoffe angewendet werden können, abweichen. Folgende Anomalien sind für seinen festen Zustand als Eis von Bedeutung:
Eis ist weniger dicht, also leichter als Wasser, damit schwimmt es auf dem Wasser. Zu dieser Dichteanomalie kommt es, da die Wassermoleküle im hexagonalen Gitter des Eises einen größeren Abstand zueinander haben als im flüssigen, ungeordneten Zustand. → Siehe auch: Zahlenwerte zu Dichteanomalie und Ausdehnungskoeffizient von Eis und Wasser
Im Phasendiagramm hat Wasser 14 kristalline und damit besonders viele feste Modifikationen. Zusätzlich gibt es weitere metastabile, 5 davon sind kristallin und drei amorph.
Als amorphes Eis wird ein Zustand bezeichnet, in dem festes Wasser nicht wie in einem Kristall mit regelmäßiger Struktur vorliegt, sondern mit unregelmäßiger Struktur wie eine Flüssigkeit, allerdings ohne gegenseitige Verschiebung von Molekülen. Drei dieser Glaswässer sind bekannt: eines, das eine geringere Dichte als flüssiges Wasser besitzt (LDA), eines mit hoher Dichte (HDA) und eines mit sehr hoher Dichte (VHDA), die im tiefen Temperaturbereich bis maximal −122 °C existieren können.
Erhöhter Druck setzt den Schmelzpunkt von Wasser herab, anstatt ihn heraufzusetzen (siehe Phasendiagramm). Pro Bar Druckanstieg sinkt der Schmelzpunkt um ca. 0,0077 K (bei Drücken oberhalb ca. 500 bar verhält sich die Schmelzpunktabnahme überproportional). Dies wird auch als Druckaufschmelzung bezeichnet.
Mit Hilfe von kohärenter und stark kollimierter Röntgenstrahlung, die an der Oberfläche von Eis totalreflektiert wird, kann gezeigt werden, dass es oberhalb von −38 °C in der äußersten Molekülschicht flüssig ist. Oberhalb von −16 °C kommt eine zweite Molekülschicht hinzu, und die Schichtdicke dieses flüssigen Films erhöht sich bis zum Schmelzpunkt auf 50 Nanometer.
Magnetfelder können den Schmelzpunkt geringfügig verändern. Vermutet wird, dass das Magnetfeld indirekt die Wasserstoffbrücken der Wassermoleküle stärkt. Bei einem Magnetfeld von sechs Tesla steigt der Schmelzpunkt von normalem Wasser um 5,6 mK und bei schwerem Wasser um 21,8 mK.
Bildung und Fundorte
Auf der Erde
Eis bildet sich weltweit dort, wo die Luftfeuchtigkeit hoch genug und die Temperatur auf bzw. unter den Gefrierpunkt gesunken ist.
Freie Eiskristalle entstehen in Form von Reif und Raureif durch Resublimation (direkter Übergang vom gasförmigen in den kristallinen Zustand) des atmosphärischen Wasserdampfs. Graupel und Hagel besteht aus rundlichen Eiskörnern. Sie bilden sich in Gewitterwolken aus Wassertröpfchen, welche in tiefen Wolkenschichten kondensieren und dann durch Aufwinde in höhere und kältere Luftschichten transportiert werden, wo sie dann gefrieren. Größere Hagelkörner sind oft Zusammenballungen kleinerer Eispartikel und durchlaufen in ihrer Entstehungsgeschichte mehrmals den Prozess des Aufstiegs durch Winde und des Absinkens durch ihre Gewichtskraft. Schnee besteht aus mehr oder weniger filigran verästelten Eiskristallen. Schneeflocken bilden sich durch langsames Anlagern und Gefrieren von feinsten Wassertröpfchen an einem Kristallisationskeim (zum Beispiel Staubteilchen).
Dauerhaft mit dem Festland verbundene Eisflächen werden Schelfeis genannt. Die Schelfeisflächen werden meist durch fließende Gletscher gespeist. Eisberge sind von Gletschern abgebrochene (gekalbte) Eismassen.
Bei der Kristallisation von Meerwasser entsteht sogenanntes Meereis; dabei wird das Salz an das Meer abgegeben oder sammelt sich in Sole(Salz)-Einschlüssen (Eis selbst ist immer festes Süßwasser). Je nach Größe und Zusammenballung des Eises unterscheidet man Nadeleis, Grieseis, Pfannkucheneis, Eisschollen und Packeis. Eine natürliche eisfreie Fläche, die jedoch vollständig von Packeis umgeben ist, heißt Polynja. Künstliche, in das Eis geschlagene Rinnen und Löcher werden Wuhnen genannt.
Eis, welches sich ausnahmsweise wegen seiner Entstehungsgeschichte am Boden eines Gewässers befindet, wird Grundeis genannt. Die Bildung von Neueis auf dem Meer wird als Nilas bezeichnet.
Die Eisverhältnisse auf Meeresgebieten werden mit einem internationalen Ice Code bezeichnet:
0: No ice; kein Eis, eisfrei
1: Slush or young ice; Schlamm- oder Neueis (junges Eis)
2: Fast ice; Festeis
3: Drift ice; Treibeis, Eisstoß
4: Packed slush or strips of hummocked ice; zusammengepacktes Schlammeis oder Höckereisstreifen (Eishöckerstreifen)
5: Open lead near shore; offene Eisrinne (durchgehende Fahrrinne im Eis) nahe der Küste
6: Heavy fast ice; starkes Festeis
7: Heavy drift ice; starkes Treibeis
8: Hummocked ice; Höckereis, Eishöcker (über das glatte Eis sich erhebende Eispyramiden), aufgepresstes Eis
9: Ice jamming; Eisblockierung
Als Einschluss in Diamanten kann auch auf der Erde Eis-VII vorkommen. Dieses hat eine kubische Kristallstruktur.
Im Sonnensystem
Eisvorkommen wurden in unserem Sonnensystem nachgewiesen in Kometen, Asteroiden, auf dem Mars und auf einigen Monden der äußeren Planeten. Bei Eismonden ist nahezu die gesamte Oberfläche von Eis bedeckt.
Von zahlreichen Kometen ist bekannt, dass sie zu einem Großteil aus Wassereis bestehen, weshalb sie auch hin und wieder als „Schmutzige Schneebälle“ tituliert werden. Es wird spekuliert, dass ein Großteil der irdischen Wasservorkommen auf ein lang anhaltendes Bombardement der noch jungen Erde durch Kometen zurückgeht. Das meiste Wasser im Universum liegt als Eis vor.
Auch auf dem Mars konnten bisher Eisvorkommen nachgewiesen werden. Neben den Polkappen, die zweifelsfrei zu einem Teil aus gefrorenem Wasser bestehen, gibt es möglicherweise auch in anderen Regionen Eisvorkommen, und zwar als Permafrost in tieferen Bodenschichten.
Hinweise auf das Vorhandensein von Eis in Meteoritenkratern in Polnähe bei Merkur, dem sonnennächsten Planeten, lieferte 1975 die Raumsonde Mariner 10. Genauere Untersuchungen der Raumsonde MESSENGER konnten im November 2011 Wasser auf dem Nordpol, auf den kein Sonnenlicht fällt, bestätigen.
Von einigen Monden der äußeren Planeten ist bekannt oder wird vermutet, dass sie von einer Eiskruste bedeckt sind. Beispiele sind die Jupitermonde Europa, Ganymed und Kallisto, die Saturnmonde Enceladus und Titan, der Neptunmond Triton sowie der Plutomond Charon. Auch sollen einige dieser Monde unter ihrer Oberfläche Schichten aus Eismodifikationen besitzen, die nur bei hohem Druck vorkommen.
Frühe Radarbilder des Mond-Südpols aus den 1990er-Jahren mit vielen kleinen, auffallend hell erscheinenden Flecken ließen bei zahlreichen Forschern die Hoffnung aufkeimen, dass der Mond über große Wasserreserven verfüge, die unter anderem am Grund tiefer Krater als Relikte von Kometeneinschlägen überlebt haben könnten. Solche Vorkommen wären wichtige Wasser- und Sauerstoffquellen für künftige Mondbasen. Untersuchungen im Jahre 2006 mit Radioteleskopen verliefen negativ. 2009 konnte die LCROSS-Mission Wassereis nachweisen. 2010 fand die Sonde Chandrayaan-1 Hinweise auf mindestens 600 Millionen Tonnen Wasser am Nordpol des Mondes.
Nutzung und Behinderung
Speisen und Getränke
Schon die Römer nutzten teuer importiertes Gletschereis zur Kühlung von Speisen und zur Herstellung von Erfrischungsgetränken.
Im 19. Jahrhundert begann in Nordamerika die kommerzielle Nutzung von Wintereis, zunächst als Luxusgut für Menschen in tropischen Ländern, später auch als Massengut für den Hausbedarf. Aus dem 19. Jahrhundert ist ebenfalls der Export von Natureis aus Norwegen nach England und Frankreich sowie in geringerem Umfang nach Deutschland bekannt. Der Eismann brachte Eisblöcke, mittels derer verderbliche Nahrungsmittel, typischerweise in einem Eisschrank, länger verzehrbar gehalten werden konnten. Mit der Elektrifizierung und Einführung des Kühlschranks fand dieses Gewerbe sein Ende. Heute wird fast das gesamte vom Menschen zu Speisezwecken genutzte Eis von Kältemaschinen oder in Kühlschränken hergestellt.
Auch bei der Biererzeugung spielte die Kühlung durch Natureis, das im Sommer in sogenannten Eiskellern gelagert wurde, eine entscheidende Rolle bei der Lagerfähigkeit. Bereits ab der Mitte des 19. Jahrhunderts wurden dazu meist mit Dampf betriebene Kältemaschinen eingesetzt.
Unter „Nutzeis“ (auch Nutz-Eis) werden Eissorten bezeichnet, die in Eisfabriken zu einem bestimmten Nutzen hergestellt werden. Dazu gehört z. B. klassisches Stangeneis, aber auch Eiswürfel und Scherbeneis, die zwar verzehrt werden, aber nur, weil sie dem Getränk bzw. bei der Wurstherstellung zur Kühlung beigegeben werden und sich darin unvermeidlich auflösen.
Flockeneis wird im Labor und in der Produktion von Lebensmitteln eingesetzt, wenn durch maschinelle Verarbeitungsprozesse, wie z. B. das Kuttern in der Wursterzeugung, Temperaturen entstehen, die der Konsistenz oder Farbe und dem Geschmack des Lebensmittels abträglich sind. Dabei wird Eis in Flockeneisbereitern bis zu einer Korngröße von wenigen Millimetern gemahlen. Scherbeneis spielt bei der Lagerung bzw. Frischhaltung von Fischen und Meeresfrüchten eine wichtige Rolle. Für Getränke werden oftmals Eiswürfel verwendet.
Speiseeis ist dagegen eine aus Fruchtsäften oder Milchmixgetränken hergestellte Schneemasse oder Eisschlamm.
Pflanzenbau
Eis dient im Pflanzenbau als Frostschutz, indem Wasser bei Frost auf die Pflanzen gesprüht wird, wodurch alle Teile von einer Eisschicht überzogen werden. Durch das Gefrieren des Wassers wird die Kristallisationsenthalpie freigesetzt, was zur Temperaturerhöhung führt.
Sport
Die entstehende Reibungswärme von Kufen auf festem Eis lässt unter einem Schlittschuh eine wenige µm dicke Wasserschicht entstehen, auf der der hintere Teil der Kufe dann nahezu reibungslos gleitet. Eislauf, aber auch Skifahren, Schlittenfahren oder Schlitten als Transportmittel sind deswegen möglich. Durch den Druck unter den schmalen Kufen wird der Gefrierpunkt des Wassers nur um wenige Zehntelgrad gesenkt.
Verkehr
Behindernd wirken Eisvorkommen vor allem auf den Verkehr in Form von Packeis für die Schifffahrt (siehe auch Eisbrecher), als glatter Eisfilm auf Straßen (siehe auch Schneeketten), Fußwegen oder an Flugzeugen sowie als Schneewehen bei allen Land-Verkehrsträgern.
Im Verkehr ist Eisregen („Blitzeis“) ein Problem. Eis an Oberleitungen behindert die Stromabnahme. Um die Rutschgefahr zu vermindern, werden Eisflächen mit Streusand abgestumpft oder mit Streusalz weggetaut.
Gefährlich kann Eis für Schiffe werden, wenn überkommendes Wasser bzw. Nebel oder Nieselregen auf den Aufbauten gefriert und eine dicke Eisschicht bildet. Dadurch verschiebt sich der Schwerpunkt des Schiffes nach oben, was zur Kenterung des Schiffes führen kann. Eisberge können bei Kollisionen mit Schiffen zu deren Beschädigung, oder, wie bei der Titanic, zum Sinken führen. Packeis kann darin eingeschlossene Schiffe zerdrücken.
Zugefrorene Wasserflächen können einerseits die Schifffahrt behindern, andererseits aber auch Transportwege verkürzen, indem Landtransporte direkt über die Wasserfläche geführt werden können (Eisstraßen).
Bauwesen
Für Bauwerke ist die Eislast durch Eisregen oder Frost ein Problem (siehe Schneelast, gilt analog auch für Eis). Freileitungen können durch die Eislast reißen.
Auch Bauvorhaben können durch Verfestigungen des Bodens durch Eis behindert werden. Andererseits kann die Verfestigung des Bodens gewollt sein und zum Beispiel Tunnelarbeiten in losem Boden erst möglich machen. Hierbei wird die Vereisung meist künstlich mit großen Kühlaggregaten erzeugt.
In Permafrostgebieten stellt die Aufweichung des Bodens durch den fehlenden Frost eine Gefahr für Bauwerke dar. Stützen der Trans-Alaska-Pipeline (aus 1975/1977) und Teile der Trasse der Lhasa-Bahn (errichtet 2005) werden hierzu über Wärmerohre (Heatpipes) durch Umgebungsluft gekühlt.
Wasserleitungen platzen, wenn sie unkontrolliert – etwa auf größerer Länge oder zu einer Absperrung oder einem Eispropfen hin – einfrieren. Zum Schutz werden solche Leitungen unterhalb der Frostgrenze im Boden verlegt oder ein Mindestdurchfluss sichergestellt oder rechtzeitig entleert. Wasser- und Abwasserleitungen, gelegentlich auch Regenrohre von Dächern, werden, wo sie Kälte ausgesetzt sein können, eventuell mit einer elektrischen Begleitheizung ausgeführt. Umgekehrt kann Eis aber auch für Reparaturen genutzt werden: Um einen Heizkörper oder ein Stück Rohr zu tauschen, werden zwei kleine Stellen in der Vor- und Rücklaufleitung mit Eis verpfropft, indem jeweils wenige cm Länge der Rohrleitung per Kohlensäureschnee oder Kältemaschine stark von außen gekühlt werden.
Eisblumen an Fensterscheiben behindern die Sicht, sind jedoch ästhetisch oft sehr reizvoll. Sie gelten aber als Anzeichen mangelhafter Wärmeisolierung und sind vom „Aussterben“ bedroht.
Auch ganze Häuser aus Eis sind möglich. Früher wurde Eis von Eskimos zum Bau von Iglus verwendet, dazu gibt es auch moderne Bauformen.
Aus Eisblöcken werden Eisskulpturen errichtet.
Simulation
Als Kunsteis wird eine durch technische Kühlung erzeugte Eisfläche zum Eislaufen und für Eishockey bezeichnet.
Künstliche Eisflächen werden in der Praxis in den meisten Fällen durch EPDM-Absorber hergestellt. Diese Technologie ist sehr energieeffizient, kostengünstig sowohl in der Anschaffung als auch im Betrieb. Daher kommt dieses System auch vermehrt bei Großprojekten wie Eisstadien, Eisschnelllaufringe etc. zum Einsatz. Weiterhin ermöglichen die flexiblen Absorber (Eismatten) die Herstellung von mobilen Kunsteisbahnen. Dabei werden die Eismatten nebeneinander ausgerollt, zu einem Kreislauf zusammengeschlossen und anschließend mit einem Wasser-/Glykolgemisch gefüllt. Eine Kältemaschine kühlt das Gemisch auf ca. −10 °C ab und pumpt es durch die Eismattenfläche, während das aufgesprühte Wasser gefriert und sich anschließend in eine gleichmäßigen Eisfläche verwandelt.
In einer am 31. Dezember 2016 eröffneten Boulderhalle in Klagenfurt wird Eisklettern durch Griffpakete aus Kunststoff simuliert, die auch einstechenden Kletterpickeln Halt geben.
Literatur
Weblinks
Einzelnachweise
Grandfathered Mineral
Hexagonales Kristallsystem
Oxide und Hydroxide
|
Q23392
| 713.744059 |
4742057
|
https://de.wikipedia.org/wiki/UTC%E2%88%923%3A30
|
UTC−3:30
|
UTC−3:30 ist eine Zonenzeit, welche den Längenhalbkreis 52°30′ West als Bezugsmeridian hat. Auf Uhren mit dieser Zonenzeit ist es dreieinhalb Stunden früher als die koordinierten Weltzeit und viereinhalb Stunden früher als die MEZ.
Geltungsbereich (ohne Sommerzeiten)
:
(nur die Insel Neufundland)
Da das Dominion Neufundland bei Einführung der Zeitzonen ein eigenes Dominion neben Kanada war legt es seine Zeitzone selbst fest.
Ehemaliger Geltungsbereich
Historisch verwendete Uruguay zwischen 1. April 1924 und 14. März 1942 diese Zeitzone für die Normalzeit. Als Sommerzeit wurde die Uhr eine halbe Stunde vorgestellt auf UTC-3:00. In Suriname war es die Zeit von 1. Oktober 1945 bis 1. Oktober 1984.
Einzelnachweise
UTC1630
es:Huso horario#UTC−03:30, P†
|
Q6510
| 2,422.814287 |
2655245
|
https://de.wikipedia.org/wiki/Potsdam
|
Potsdam
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Potsdam [] ist die Hauptstadt des Landes Brandenburg und mit knapp 190.000 Einwohnern auch dessen bevölkerungsreichste Stadt. Das an der Havel gelegene Potsdam grenzt südwestlich an Berlin und zählt zu den prosperierenden Orten in dessen Ballungsraum, der rund 4,8 Millionen Einwohner umfasst.
Die Stadt ist mit ihren zahlreichen Schloss- und Parkanlagen und der bedeutenden Kernstadt als ehemalige Residenzstadt der Preußischen Könige bekannt. Ihre Kulturlandschaften wurden 1990 von der UNESCO als größtes Ensemble der deutschen Welterbestätten in die Weltkultur- und Naturerbeliste der Menschheit aufgenommen. Seit 2019 ist Potsdam UNESCO-Filmstadt im Netzwerk der kreativen Städte.
Das in Potsdam 1912 als erstes großes Filmatelier der Welt gegründete Studio Babelsberg zählt zu den modernsten Zentren der Film- und Fernsehproduktion in Deutschland und Europa.
Potsdam entwickelte sich seit der Mitte des 19. Jahrhunderts zu einem europäischen Wissenschaftszentrum. Drei öffentliche Hochschulen und mehr als 30 Forschungsinstitute sind in der Stadt ansässig.
Geographie
Lage
Potsdam befindet sich südwestlich von Berlin, an das es direkt angrenzt, am Mittellauf der Havel in einer Wald- und Seenlandschaft. Sie ist geprägt durch den Wechsel von breiten Talniederungen und Moränenhügeln, wie dem südlich gelegenen Saarmunder Endmoränenbogen. Die höchste Erhebung im Stadtgebiet ist der Kleine Ravensberg mit 114,2 Metern. Die tiefste Stelle ist der mittlere Wasserspiegel der Havelgewässer mit . Das Stadtgebiet besteht zu rund 75 Prozent aus Grün-, Wasser- und Landwirtschaftsfläche, 25 Prozent sind bebaut.
Insgesamt befinden sich über 20 Gewässer in Potsdam. Im urbanen Zentrum sind dies unter anderem der Heilige See, der Aradosee, der Templiner See, der Tiefe See und der Griebnitzsee. In den ländlich geprägten Außenbereichen befinden sich unter anderem der Sacrower See, der Lehnitzsee, der Groß Glienicker See, der Fahrlander See und der Weiße See.
Zu den Gewässern gehören neben der Potsdamer Havel, die viele der Seen verbindet, der Sacrow-Paretzer Kanal, der Teltowkanal, die Nuthe und die Wublitz. Die Potsdamer Havel fließt am Strandbad Babelsberg bei . Ablagerungen der Nuthe bildeten früher Teile der Freundschaftsinsel.
Potsdam und Berlin sind neben Wiesbaden und Mainz die einzigen beiden Landeshauptstädte deutscher Bundesländer mit einer gemeinsamen Stadtgrenze.
Im Stadtgebiet befinden sich fünf ausgewiesene Naturschutzgebiete (Stand: 2018) und mehr als 50 Naturdenkmale.
Region
Potsdam liegt innerhalb der Agglomeration Berlin, einem Einzugsgebiet von rund 4,7 Millionen Einwohnern (Stand: 2020). Es gehört damit auch der europäischen Metropolregion Berlin-Brandenburg an, deren Außengrenze mit der des Landes Brandenburg identisch ist.
Folgende Städte und Gemeinden grenzen an Potsdam, Auflistung im Uhrzeigersinn, beginnend im Nordosten:
Berlin sowie Stahnsdorf, Nuthetal, Michendorf, Schwielowsee (Geltow, Caputh, Ferch) und Werder (Havel) im Landkreis Potsdam-Mittelmark sowie Ketzin/Havel, Wustermark und Dallgow-Döberitz im Landkreis Havelland.
Stadtgliederung
Die Stadt Potsdam ist in 32 Stadtteile gegliedert, die sich in 86 statistische Bezirke unterteilen.
Es wird unterschieden zwischen den älteren Stadtteilen, die aus Arealen der historischen Stadt und spätestens 1939 eingemeindeten Orten gebildet wurden – das sind die Innenstadt, die westlichen und nördliche Vorstädte, Bornim, Bornstedt, Nedlitz, Potsdam-Süd, Babelsberg sowie Drewitz, Stern und Kirchsteigfeld –, und den nach 1990 eingegliederten Gemeinden, die seit 2003 als Ortsteile gemäß Potsdamer Hauptsatzung eigene, von der Bevölkerung gewählte Ortsbeiräte und einen Ortsvorsteher besitzen – das sind Eiche, Fahrland, Golm, Groß Glienicke, Grube, Marquardt, Neu Fahrland, Satzkorn und Uetz-Paaren. Die neuen Ortsteile liegen im Wesentlichen im Norden der Stadt. Zum geschichtlichen Verlauf aller Eingemeindungen siehe den entsprechenden Abschnitt zu Ein- und Ausgliederungen.
Gliederung mit statistischer Nummerierung:
Zu Potsdam gehören 56 Ortsteile, Gemeindeteile und sonstige Siedlungsplätze.
Zum Ende des Jahres 2019 erfolgte eine Änderung der Gebietsstruktur:
Der Stadtteil 41 wurde umbenannt: bisher Nördliche Innenstadt, nun Historische Innenstadt.
Der Stadtteil 42 (Südliche Innenstadt) wurde in die zwei Stadtteile 43 (Zentrum Ost und Nuthepark) und 44 (Hauptbahnhof und Brauhausberg Nord) geteilt. Die Nummer 42 entfiel damit.
Einige sehr dünn besiedelte Stadtteile wurden aufgelöst:
Der Stadtteil 33 (Wildpark) wurde dem Stadtteil 32 (Potsdam-West) angegliedert.
Der Stadtteil 66 (Industriegelände) wurde dem Stadtteil 64 (ehemals: Waldstadt I ) angegliedert. Der Stadtteil wurde daraufhin in Waldstadt I und Industriegelände umbenannt.
Der Stadtteil 67 (Forst Potsdam Süd) wurde dem Stadtteil 61 (Templiner Vorstadt) angegliedert.
Ein- und Ausgliederungen
Das Stadtgebiet Potsdams war bis Ende des 19. Jahrhunderts noch relativ klein. Zur Stadt Potsdam zählten außer der Innenstadt nur die Teltower, Brandenburger, Berliner, Jäger- und Nauener Vorstadt. Durch das Anwachsen der Bevölkerung und Bebauung musste das Stadtgebiet mehrmals erweitert werden. Dies geschah in mehreren Abschnitten mit der Eingliederung von benachbarten Rittergütern beziehungsweise Teilen davon. Damit wuchs das Stadtgebiet von 893 Hektar im Jahr 1836 auf 1350 Hektar im Jahr 1905. 1928 wurde der Park von Sanssouci mit den Schlössern sowie ein großer Teil der Insel Tornow (später: Hermannswerder) sowie sechs Gutsbezirke mit Brauhaus- und Telegrafenberg in das Stadtgebiet eingegliedert. Danach betrug die Stadtfläche 3206 Hektar. 1935 wurden Bornim, Bornstedt, Eiche und Nedlitz eingemeindet, 1939 folgten die Industriestadt Babelsberg und weitere Dörfer. 1952 wurden die meisten dieser Gemeinden im Rahmen der Gebietsreform der DDR wieder selbstständig. Im Oktober 2003 erreichte das Stadtgebiet nach zwei neuen Eingemeindungsprozessen im Rahmen der landesweiten Kreisgebietsreform seine heutige Ausdehnung. Dabei kam unter anderem Groß Glienicke hinzu; die Fläche Potsdams wurde allein durch Eingemeindungen von 2003 um 60 % vergrößert, die Einwohnerzahl stieg jedoch nur um 12 %.
Übersicht
Hinweis: Die nicht mehr zu Potsdam gehörenden Orte werden kursiv dargestellt.
Klima
In Potsdam herrscht ein gemäßigtes Klima, das sowohl von Norden und Westen her vom atlantischen Klima als auch vom kontinentalen Klima aus Osten beeinflusst wird. Wetterextreme wie Stürme, starker Hagel oder starke Schneefälle sind selten. Die Stadt liegt in der jahresdurchschnittlich wärmsten und niederschlagärmsten Region Deutschlands.
Der Temperaturverlauf entspricht ungefähr dem bundesdeutschen Durchschnitt. Die jahreszeitlichen Temperaturschwankungen sind geringer als im üblichen kontinentalen Klima, aber höher als im ausgeglicheneren Meeresklima der Küstenregionen. Die Niederschlagsmenge ist mit einer Jahressumme von 590 mm relativ gering. So liegt diese zum Beispiel in Barcelona ebenfalls bei 590 mm, in München hingegen bei etwa 1000 mm. Seit Beginn der Aufzeichnungen erlebte Potsdam ungefähr jedes vierte Jahr weiße Weihnachten. Seit Beginn des 20. Jahrhunderts schwanken die Jahresmitteltemperaturen zwischen 6,5 °C und 11 °C.
Die Klimaforschung ist seit etwa 1874 auf dem Telegrafenberg in Potsdam ansässig. Das Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung prognostiziert im Rahmen der globalen Erwärmung eine Zunahme der durchschnittlichen Temperaturen und eine weitere Abnahme des Niederschlages für die nächsten Jahrzehnte in der Region Brandenburg.
Geschichte
Die ältesten urkundlichen Belege des Namens der Stadt sind aus den Jahren 993 Poztupimi, 1317 postamp sowie um 1500 Potstamp. Sie gehen auf Slawisch zurück und beschreiben die „Siedlung eines Mannes namens Potstampin“. Die verbreitete Namendeutung „unter den Eichen“ (aus slawisch pod „unter“ und dubimi „Eiche“) ist wissenschaftlich nicht haltbar. Andere Erklärungen (z. B. der Vergleich mit Sorbisch „Vorstufe“ oder „Vorposten“) gelten als fragwürdig.
Entstehung und Entwicklung im Mittelalter
Das heutige Stadtgebiet Potsdams war wahrscheinlich seit der frühen Bronzezeit besiedelt. Nach den Völkerwanderungen errichtete im 7. Jahrhundert der slawische Stamm der Heveller gegenüber der Einmündung der Nuthe eine Burganlage an der Havel.
Die erste urkundliche Erwähnung des Ortes als „Poztupimi“ erfolgte in einer Schenkungsurkunde König Ottos III. an das Stift Quedlinburg am 3. Juli 993. Die Bedeutung des Ortes beruhte auf der Beherrschung des Havelübergangs.
Im Jahr 1157 eroberte Albrecht der Bär die Stadt und gründete die Mark Brandenburg. Durch Albrecht kamen Teile der ehemaligen Nordmark als Mark Brandenburg auch faktisch zum Heiligen Römischen Reich. Potsdam war der südöstliche Eckpfeiler der Mark bis zum Ende des 12. Jahrhunderts. Am Havelübergang wurde eine deutsche steinerne Turmburg erbaut. Im Jahr 1317 wurde die Stadt erstmals als Burg und vor allem Stadt urkundlich unter dem Namen Postamp erwähnt. 1345 erhielt Potsdam das Stadtrecht und blieb die nächsten Jahrhunderte eine kleine Marktstadt. Von 1416 an bis zum Ende des Ersten Weltkrieges im Jahr 1918 und dem damit verbundenen Untergang der Monarchie in Deutschland verblieb Potsdam im Besitz der Hohenzollern. Der verheerende Dreißigjährige Krieg und zwei Großbrände verwüsteten die Stadt.
Preußische Residenzstadt und Aufschwung
Mit dem kurmärkischen Landtag 1653, auf dem der Große Kurfürst Friedrich Wilhelm die Macht des Landadels einschränkte, begann die absolutistische Zeit in Brandenburg. Seine Regierungszeit war eine der einflussreichsten in der Geschichte Potsdams. Er kaufte die einzelnen verpfändeten Stadtgebiete zusammen und entschloss sich, die Stadt zu seiner zweiten Residenz neben Berlin auszubauen. Mit dem Ausbau des Stadtschlosses und der Verschönerung der Umgebung entstand ab 1660 ein Entwicklungsschub.
Erst mit Hilfe des Toleranzediktes von Potsdam im Jahr 1685 konnten aufgrund steigender Immigration die Landstriche neu bevölkert werden. Vor allem die verfolgten, protestantischen Hugenotten aus Frankreich flohen in den Schutz der brandenburgischen Gebiete. Etwa 20.000 Menschen folgten dem Angebot und verhalfen der Wirtschaft mit ihrem Fachwissen zum Aufschwung.
Unter dem Soldatenkönig Friedrich Wilhelm I. wurde die Stadt ein wichtiger Garnisonsstandort. Dies führte zu einem starken Anwachsen der Bevölkerung und dem Bau neuer Wohnquartiere in der ersten und zweiten Barocken Stadterweiterung. Weiter ordnete er den Bau der Garnisonkirche, der Kirche St. Nikolai und der Heilig-Geist-Kirche an, die fortan das Stadtbild prägten. Im neugeschaffenen Militärwaisenhaus in der Breiten Str. wurden Kinder Militärangehöriger verpflegt, unterrichtet und später ausgebildet.
Sein Sohn Friedrich II. („der Große“) schätzte die Gedanken der Aufklärung und reformierte den preußischen Staat. Er entschied sich endgültig, Potsdam auch vom Stadtbild her zur Residenzstadt zu machen und veranlasste daraufhin massive Umbauten am Aussehen von Straßen und Plätzen. So wurden unter anderem der Alte Markt komplett neu gestaltet und die Bürgerhäuser erhielten neue Barockfassaden. Friedrich II. ließ auch den späteren Park Sanssouci umgestalten. Ab 1745 entstand hier sein Sommersitz, das Schloss Sanssouci. Später folgte dann noch das Neue Palais. Das Stadtschloss und der Lustgarten in der Stadtmitte wurden zu seinem Wintersitz gestaltet, besonders hervorzuheben war hier die Leistung des Architekten Georg Wenzeslaus von Knobelsdorff. Ab 1793 entstand das Königliche Schauspielhaus.
1806 erreichte Napoleon mit seinen Truppen die Stadt Potsdam. Die nachhaltige Wirkung der Besatzungszeit führte zu Reformen im Staatswesen. Nach dem Ende der napoleonischen Besatzung entwickelte Friedrich Wilhelm III. die Stadt ab 1815 zu einem Verwaltungszentrum. Es siedelten sich zahlreiche Regierungsbeamte in Potsdam an. 1838 ging mit der Strecke Potsdam-Berlin die erste Eisenbahnlinie Preußens in Betrieb.
Die zunehmenden Spannungen des Vormärzes entluden sich in der Märzrevolution von 1848. Das Volk kämpfte auf den Barrikaden in Berlin für eine liberale Verfassung. Im März siedelte der König Friedrich Wilhelm IV. in die vermeintlich ruhigere Nachbarstadt Potsdam um. Als sich meuternde Soldaten vor dem Neuen Palais versammelten und versuchten, gefangene Kameraden zu befreien, wurde der Aufstand schnell von preußischen Elitetruppen niedergeschlagen. Nach den Wirren der unvollendeten Revolution war die Restauration der alten Machtverhältnisse das vorherrschende Ziel. Es wurden zahlreiche ambitionierte Bauprojekte vorangetrieben, so auch die Nikolaikirche und die katholische Kirche St. Peter und Paul. Seit 1911 hatte Potsdam einen Luftschiffhafen an der Pirschheide.
Im Jahr 1914 unterzeichnete der letzte preußische König und deutsche Kaiser Wilhelm II. im Neuen Palais die Generalmobilmachung gegen die Entente-Mächte. Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs endete auch die Ära der Monarchie mit der Novemberrevolution und Wilhelm II. floh 1918 in die Niederlande. Die Stadt Potsdam verlor damit ihren Status als Residenzstadt endgültig.
Weimarer Republik und Nationalsozialismus
Nach dem Ersten Weltkrieg 1918 ging das umfangreiche Eigentum der Hohenzollern in Potsdam zum größten Teil in Staatseigentum über. Die Zeit der Weimarer Republik war gekennzeichnet durch zahlreiche Auseinandersetzungen zwischen den politischen und paramilitärischen Kräften im Staat. Die Stadtgemeinde hingegen blieb weiterhin ein von wohlhabenden Bürgern getragener Ort.
Zu Beginn der Zeit des Nationalsozialismus fand am 21. März 1933 der Tag von Potsdam statt. Bei dem inszenierten Staatsakt reichte der Reichspräsident Paul von Hindenburg dem neuen Reichskanzler Adolf Hitler die Hand. Dies sollte als symbolische Geste für ein Bündnis der alten Ordnung mit dem Nationalsozialismus verstanden werden. Die konstituierende Sitzung des Reichstags fand ohne die Sozialdemokraten und Kommunisten in der Garnisonkirche statt. Das Ereignis wurde landesweit im Rundfunk übertragen.
Hans Friedrichs ließ in Potsdam zahlreiche Siedlungen und Kasernen errichten.
Das Stadtzentrum Potsdams wurde am 14. April 1945 in der letzten Phase des Zweiten Weltkrieges durch einen alliierten Bombenangriff stark beschädigt. Besonders betroffen war das Gebiet zwischen der Havel, dem Alten Markt und dem Bassinplatz. Hauptbahnhof, Stadtschloss, Langer Stall und Garnisonkirche brannten vollkommen aus. Ähnlich beschädigt wurden auch weite Teile der nordöstlichen Vorstadt in der Nähe der Glienicker Brücke. Weitgehend erhalten blieben jedoch das Gebiet um den Neuen Markt, das Holländische Viertel und die nördlichen Teile der Altstadt. In den Kämpfen der letzten Kriegstage wurden weitere Gebäude beschädigt, so die Heilige-Geist-Kirche und das Alte Rathaus. Am 27. April 1945 wurde Potsdam durch die Rote Armee eingenommen.
Potsdam war Abwurfziel besonders vieler Bomben in Deutschland. Bis in die Gegenwart hinein werden neu entdeckte Blindgänger entschärft und die in der Gegend wohnende Bevölkerung zu solchen Anlässen evakuiert.
Besatzungszeit und deutsche Teilung
Im Schloss Cecilienhof, dem Wohnsitz des letzten deutschen Kronprinzen Wilhelm von Preußen, fand vom 17. Juli bis zum 2. August 1945 die Potsdamer Konferenz der Siegermächte Vereinigte Staaten, Vereinigtes Königreich und Sowjetunion statt. Die Konferenz endete mit dem Potsdamer Abkommen, das die deutsche Teilung und Besetzung in vier Zonen besiegelte.
In der DDR war Potsdam von 1952 bis 1990 Verwaltungssitz des neugegründeten Bezirkes Potsdam. Die sozialistische Regierung hatte ein gespaltenes Verhältnis zum Erbe Preußens. Einerseits wurden die kulturellen und künstlerischen Leistungen anerkannt, andererseits sollten zahlreiche Bauwerke ein Ausdruck des Militarismus sein. 1951 wurde die Pädagogische Hochschule Karl Liebknecht gegründet, aus der später die Universität Potsdam hervorging. Aufgrund des Wohnungsmangels entstanden vor allem im Süden der Stadt neue Stadtviertel wie der Schlaatz, die Waldstadt II und Drewitz.
Mit dem Berliner Mauerbau verlor Potsdam im Jahr 1961 seinen direkten Anschluss zur Nachbarstadt (West-)Berlin, während Ost-Berlin nur über ländliche Umwege erreichbar war und „weit entfernt“ erschien. Damit unterbrach die Mauer auch in Potsdam das städtische Leben zu einem erheblichen Teil. Die kleine Berliner Exklave Steinstücken verblieb isoliert in Babelsberg. Der Übergang an der Glienicker Brücke wurde während des Kalten Krieges zum Austausch von Spionen genutzt.
Während der 1960er Jahre befand sich in Potsdam ein bezirkliches Aufnahmelager für Westflüchtlinge. Als die Einwanderung in die DDR abnahm, wurde die Aufnahmestätte abgerissen.
Im Jahr 1966 wurde das Alte Rathaus umgebaut und erweitert und dann als Kulturhaus eröffnet und unter dem Namen Hans Marchwitza-Haus der Öffentlichkeit übergeben. Darin waren Veranstaltungssäle, Vortragsräume, ein Kinosaal und eine Gaststätte untergebracht und es diente damit verschiedenen gesellschaftlichen Vereinigungen und Einzelpersonen als Treffpunkt.
Nach der deutschen Wiedervereinigung
Mit der deutschen Wiedervereinigung und der Wiedergründung des Landes Brandenburg im Jahr 1990 wurde Potsdam dessen Landeshauptstadt.
Im Jahre 1990 wurden weite Teile der Potsdamer Kulturlandschaft zum UNESCO-Welterbe ernannt. 1993 konnte die Stadt dann ihr tausendjähriges Bestehen feiern und war im Jahre 2001 unter dem Motto „Gartenkunst zwischen gestern und morgen“ Gastgeber der Bundesgartenschau. Zu diesem Anlass wurde in der Yorckstraße das erste, etwa 300 Meter lange Teilstück des in den 1960er Jahren zugeschütteten Stadtkanals wieder freigelegt. 2004 erhielt die Stadt die Goldmedaille beim Bundeswettbewerb Unsere Stadt blüht auf.
In den Jahren 1999, 2006 und 2021 wurden die stadtpolitischen Entscheidungen getroffen, die Potsdamer Mitte zum Sanierungsgebiet zu erklären und die Innenstadt in Grund- und Aufriss an die Situation vor 1945 anzunähern. Die im Jahre 1990 beschlossene „Wiederannäherung an das charakteristische, gewachsene historische Stadtbild“ soll u. a. mit der Rekonstruktion des Glockenturms der Garnisonkirche realisiert werden. Am Wiederaufbau der Gebäude-Carees nach historischen Vorbild rund um die Nikolaikirche am Alten Markt wird bis 2029 gearbeitet.
Bevölkerung
Bevölkerungsentwicklung
Die Stadt Potsdam blieb seit der Ersterwähnung 993 bis in die frühe Neuzeit eine kleine Stadt mit geringer und relativ konstanter Einwohnerzahl. Aufgrund der Verwüstungen und der Hungersnöte des Dreißigjährigen Krieges fiel die Einwohnerzahl auf einen Tiefpunkt von 700 im Jahr 1660. Nach der Entwicklung als brandenburgische Residenzstadt stieg die Einwohnerzahl deutlich an. Mit der Industrialisierung im 19. Jahrhundert verdreifachte sich die Bevölkerung bis 1900 auf 60.000. Am 1. April 1939 wurde Potsdam durch die Eingemeindung der ca. 30.000 Einwohner zählenden Stadt Babelsberg und anderer Orte zur Großstadt. Während des Zweiten Weltkrieges sank die Einwohnerzahl, in den folgenden Jahren stieg sie jedoch wieder an.
Seit der deutschen Wiedervereinigung sank die Potsdamer Bevölkerung bis 1999 zunächst um 13.000 auf 129.000 Einwohner ab. Seit 2000 ist hierbei durch Zuzug und eine vergleichsweise hohe Geburtenzahl aber eine beständige Erholung zu verzeichnen. Eingemeindungen im Jahre 2003 setzten die Einwohnerzahl dabei auch auf eine höhere Basis. In den 2010er Jahren hat sich das Bevölkerungswachstum dann noch einmal verstärkt fortgesetzt. 2008 wurde der 150.000ste Einwohner gezählt, 2017 dann der 175.000ste. Nach Bevölkerungsprognosen geht die Stadt Potsdam seit 2019 davon aus, dass die Einwohnerzahl bis zum Jahr 2030 auf über 200.000 steigen wird.
Neben den Einwohnern mit Hauptwohnsitz sind zusätzlich 5.758 Menschen mit Nebenwohnsitz gemeldet (Stand: 31. Dezember 2020). In Potsdam lebten Ende 2020 17.452 Ausländer, was einem Anteil von rund 9,58 % entspricht.
Bevölkerungsgruppen
Der Anteil der Menschen mit Migrationshintergrund und der Anteil der Ausländer ist in Potsdam relativ gering, besonders im Vergleich zu westdeutschen Städten, steig aber kontenuierlich seit 1992. Während im Jahr 1992 nur 1,3 % der Bevölkerung Ausländer waren, waren es 2022 schon über 12,0 %. Im Jahr 2021 hatten 15,7 % der Bevölkerung in Potsdam einen Migrationshintergrund.
Konfessionsstatistik
Laut Statistischem Jahresbericht waren im Jahr 2011 in der Landeshauptstadt Potsdam 14,5 % der Einwohner evangelisch, 4,6 % römisch-katholisch und 80,8 % konfessionslos, gehörten einer anderen Glaubensgemeinschaft an oder machten keine Angabe. Ende 2021 waren 12,4 % evangelisch, 4,7 % katholisch und 82,9 % gehörten einer anderen Glaubensgemeinschaft an oder machten keine Angabe.
Religionen
Die Geschichte des Christentums in der Stadt Potsdam ist geprägt von einem Nebeneinander der Glaubensgemeinschaften. Die Stadt Potsdam gehörte anfangs zur christlichen Propstei Spandau des 949 gegründeten Bistums Brandenburg. Im Jahr 1541 führte der Kurfürst von Brandenburg die Reformation ein, die Stadt war damit über Jahrhunderte eine überwiegend protestantisch geprägte Stadt. Vorherrschend war das lutherische Bekenntnis, jedoch gehörten Herrscher und Hof seit 1613 der reformierten Kirche an. Ab 1723 gab es eine Französisch-Reformierte Gemeinde, die 1753 die Französische Kirche erhielt.
Im Jahr 1817 wurden die beiden evangelischen Konfessionen innerhalb Preußens zur Evangelischen Kirche in Preußen vereinigt („uniert“). Den Anfang machten die lutherische Gemeinde und die reformierte Gemeinde an Potsdams Garnisonkirche. Das Oberhaupt (summus episcopus) war der König von Preußen als Landesherrliches Kirchenregiment. Nach weiteren Namensänderungen 1846 und 1875 nannte sich die Landeskirche ab 1922 Evangelische Kirche der Altpreußischen Union, deren märkische Kirchenprovinz sich 1947 als Evangelische Kirche in Berlin-Brandenburg verselbstständigte. 2004 fusionierte diese Kirche mit der Evangelischen Kirche der schlesischen Oberlausitz, die ebenfalls aus einer altpreußischen Kirchenprovinz hervorgegangen war, zur Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz. Die evangelischen Kirchengemeinden Potsdams gehören zum Kirchenkreis Potsdam, dessen Sitz (Superintendentur) sich ebenfalls in Potsdam befindet. Seit 2010 gibt es den Sprengel Potsdam, der das nordwestliche Gebiet der Landeskirche umfasst und seinen Sitz in der Landeshauptstadt hat.
Als Reaktion auf die Vereinigung der lutherischen und reformierten Kirchen zur unierten Kirche setzte sich in der Evangelisch-Lutherischen Kirche Preußens die ursprüngliche lutherische Kirche in Preußen fort, welche sich jedoch erst 1841 nach langer Verfolgungszeit seitens der unierten evangelischen Landeskirche und des preußischen Staates konstituieren konnte. Diese Kirchengemeinde gehört zum Kirchenbezirk Berlin-Brandenburg der Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche.
Neben den landeskirchlichen Gemeinden gibt es mehrere Freikirchen, wie die Herrnhuter Brüdergemeine.
Da Potsdam Garnisonsstadt war, gab es zahlreiche katholische Soldaten. 1868 entstand die katholische Kirche St. Peter und Paul. 1821 wurde die Fürstbischöfliche Delegatur für Brandenburg und Pommern errichtet. 1930 wurde das Bistum Berlin als Suffraganbistum von Breslau errichtet. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde das Gebiet der Kirchenprovinz Breslau getrennt und damit exemt, es unterstand geradewegs dem Papst. Im Zuge der Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten wurde 1994 das Bistum Berlin zum Erzbistum Berlin erhoben, zu dem die beiden Pfarrgemeinden Potsdams gehören.
Die russisch-orthodoxe Kirchengemeinde entstand in Potsdam nach 1716 durch Schenkungen Russischer Riesen von Peter dem Großen an Friedrich Wilhelm I. für dessen Lieblingsregiment der „Langen Kerls“. Der König ließ 1734 den nördlichen Kopfbau des Langen Stalls als turmlose Garnisonkirche für die inzwischen 300 Gemeindemitglieder einweihen. Sie existierte, immer weiter zusammenschmelzend, bis 1809. Mit der Errichtung der Russischen Kolonie Alexandrowka in Potsdam kam es zur Neugründung einer russisch-orthodoxen Gemeinde um die Alexander-Newski-Gedächtniskirche. Sie gehört zur Berliner Diözese des Moskauer Patriarchats und umfasst etwa 1000 Gläubige.
Der Anteil der Christen verringerte sich während der Zeit der DDR erheblich (siehe dazu: Christen und Kirchen in der DDR). 2014 lebten in Potsdam mehr als 30.000 Christen verschiedener Konfessionen, dies entspricht 20 Prozent der Bevölkerung. Davon gehören etwa 25.000 den 22 evangelischen und rund 5000 den beiden katholischen Gemeinden der Stadt an. Die verschiedenen freien Kirchengemeinschaften zählen zusammen ebenfalls mehrere Tausend Gläubige.
In Potsdam gibt es zwei jüdische Gemeinden. Eine gehört dem Zentralrat der Juden in Deutschland an und hat in den 2010er Jahren etwa 400 Mitglieder. Die zweite Gemeinde ist vom Zentralrat unabhängig und nennt sich Gemeinde gesetzestreuer Juden. Zudem ist Potsdam Sitz des liberalen Abraham-Geiger-Kollegs, des bislang einzigen Rabbinerseminars im Deutschland der Nachkriegszeit. Die Alte Synagoge in Potsdam wurde während der Novemberpogrome 1938 geplündert. Endgültig zerstört wurde das Gebäude durch Bombardierungen im Zweiten Weltkrieg. Seitdem gab es keine Synagoge in der Stadt. Im Rahmen der Neugestaltung der Potsdamer Mitte wurde 2018 der Wiederaufbau einer Synagoge in der Schloßstraße beschlossen. 2021 wurde eine weitere Synagoge als Teil des Zentrums für Jüdische Gelehrsamkeit der Universität Potsdam eröffnet.
Aktuelle Zahlen der in Potsdam lebenden Muslime, Buddhisten oder der Angehörigen weiterer Glaubensbekenntnisse liegen im Jahr 2015 nicht vor. Eine muslimische Gemeinde existiert seit 1998. Historisch war Preußen tolerant in religiösen Angelegenheiten. Der preußische König Friedrich der Große erklärte 1740: „alle Religionen Seindt gleich und guht, wan nuhr die leute, so sie profesieren [öffentlich bekennen], Erliche leute seindt, und wen Türken und Heiden Kähmen und Wolten das Landt Pöplieren [bevölkern], so wollen wier sie Mosqueen und Kirchen bauen.“ Zwar baute Friedrich später keine Moscheen, jedoch hatte sein Vater Friedrich Wilhelm I. schon im Jahr 1739 ein Zimmer des Militärwaisenhauses als Gebetssaal für 22 muslimische „Lange Kerle“ und damit die erste Moschee auf deutschem Boden einrichten lassen. Die nur wenige hundert Meter entfernte „Potsdamer Moschee“ aus dem 19. Jahrhundert war dagegen nie ein sakrales Gebäude, sondern seit jeher ein profanes Maschinenhaus in der äußeren Gestalt einer Moschee.
Politik
Verwaltungsgeschichte
An der Spitze der Stadt stand seit 1345 ein Consul beziehungsweise ab 1450 ein Bürgermeister. Ein Stadtrat ist ab 1465 nachweisbar. Im 16. und 17. Jahrhundert hatte der Rat vier bis fünf Mitglieder, darunter auch den Bürgermeister. Später hatte der jeweilige Landesherr einen starken Einfluss auf die Stadtverwaltung. Ab 1722 gab es für die Altstadt und die Neustadt einen Magistrat, an der Spitze stand ein Stadtdirektor. 1809 wurde Potsdam eine kreisfreie Stadt mit einem Oberbürgermeister an der Spitze sowie mit einer Stadtverordnetenversammlung als gewähltem Gremium.
In der Zeit des Nationalsozialismus wurde diese aufgelöst und der Oberbürgermeister von der NSDAP eingesetzt.
Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs bildete die sowjetische Besatzungsmacht 1945 den Rat der Stadt mit einem Oberbürgermeister neu. Der Rat wurde durch eine Einheitsliste der Nationalen Front in unfreien Wahlen bestimmt.
Nach der deutschen Wiedervereinigung 1990 wurde Potsdam Standort verschiedener Landes- und Bundesbehörden, darunter die Direktion III der Generalzolldirektion, das Bundespolizeipräsidium und eine Außenstelle des Bundesrechnungshofs, sowie zahlreicher Körperschaften des öffentlichen Rechts.
Stadt Potsdam
Potsdam ist seit 1990 eine kreisfreie Stadt im Land Brandenburg. Die Potsdamer Stadtverwaltung hat ihren Sitz im Stadthaus in der Friedrich-Ebert-Straße. Die Stadt Potsdam tritt offiziell unter der Bezeichnung Landeshauptstadt Potsdam auf.
Der Oberbürgermeister wird alle acht Jahre, die Stadtverordnetenversammlung alle fünf Jahre bei den Kommunalwahlen gewählt. Oberbürgermeister von Potsdam ist seit dem 28. November 2018 Mike Schubert (SPD).
Der kommunale Schuldenstand der Stadt gehörte 2014 zu den geringsten in Deutschland.
Wappen und Flagge
Die Flagge der Stadt Potsdam ist „zweistreifig Rot-Gelb mit dem in der Mitte aufgelegten Wappen“.
Städtepartnerschaften
Potsdam ist aus seiner Vergangenheit heraus eine international geprägte Stadt, dies zeigt sich auch in der Vielfalt der Städtepartnerschaften. Es lassen sich stets Gemeinsamkeiten in der Historie, Architektur oder Bedeutung zu den Partnerstädten entdecken. Bemerkenswert – bereits zur damaligen Zeit – war seit 1988 die Partnerschaft zur seinerzeit westdeutschen Hauptstadt Bonn, noch während der Zeit der deutschen Teilung. Potsdam unterhält Partnerschaften mit den folgenden Städten:
Kommunale Themen
Die Gestaltung des Stadtbildes, insbesondere der Wiederaufbau der historischen Mitte, wird seit 1990 vielschichtig diskutiert. Nach 2014 gab es Kontroversen um die zukünftige Nutzung des Lustgartenareals und den Abriss verschiedener Gebäude im Stadtgebiet.
Mit der 2012 eingeführten Umweltorientierten Verkehrssteuerung sollen Grenzwertüberschreitungen bei Stickstoffdioxid und Feinstaub vermieden werden.
Zu den wirtschafts- und baupolitischen Problemen der Stadt Potsdam zählt die – trotz zunehmender Nachfrage nach Wohnraum – abnehmende Zahl an Baugenehmigungen und der dadurch eingebrochene Wohnungsbau (Stand: 2018–2020). Darüber hinaus haben die Stadtwerke in bestimmten Bereichen mit Nachwuchsproblemen zu kämpfen.
Land Brandenburg
Potsdam ist die Landeshauptstadt des Landes Brandenburg. Der Landtag Brandenburg hat seinen Sitz in der Stadt. Die Landesregierung und der Ministerpräsident Brandenburgs sind in der Brandenburgischen Staatskanzlei untergebracht und haben ihren Standort in der Heinrich-Mann-Allee 107 bezogen. Zahlreiche Ministerien sind im Stadtgebiet verteilt. Das Verfassungsgericht des Landes Brandenburg befindet sich in der Jägerallee 9–12.
Der Landtag Brandenburg hatte seinen Sitz seit der Wiederbegründung des Landes 1990 im Gebäude der ehemaligen königlichen Kriegsschule auf dem Brauhausberg. Da das Gebäude den Ansprüchen an ein modernes Parlament nicht mehr genügte, beschloss der Landtag einen Neubau auf dem Gelände des ehemaligen Stadtschlosses am Alten Markt. Nachdem der TV-Moderator Günther Jauch 2002 mit dem Neubau des Fortunaportals ein erstes Zeichen gesetzt hatte, beschloss die Stadtverordnetenversammlung 2005 den Wiederaufbau. Seit 2010 wurde das Stadtschloss weitgehend mit der originalgetreuen Fassade von Georg Wenzeslaus von Knobelsdorff, die der SAP-Gründer Hasso Plattner gespendet hat, wieder aufgebaut. 2014 wurde der Landtag mit dem im Inneren modern entworfenen Neubau offiziell eröffnet.
Sicherheitsbehörden
Potsdam hat seit dem Ende des 17. Jahrhunderts eine wechselhafte Vergangenheit als Standort für militärische Einrichtungen. Die jeweiligen Befehlshaber waren zahlreich: von der preußischen über die kaiserliche Armee, Reichswehr, Wehrmacht, Roter Armee bis zur NVA und nun zur Bundeswehr.
Als zweite Residenz der preußischen Könige (neben Berlin) wurde die Stadt durch den Soldatenkönig zur Garnisonsstadt ausgebaut und die Soldaten überwiegend in Bürgerhäusern einquartiert. Zeitweise stellten Soldaten fast die Hälfte der Potsdamer Einwohner. Militärische Anlagen prägten lange Zeit das Stadtbild und die Struktur der Bevölkerung, so dass Alexander von Humboldt die Stadt 1854 als „öde Kasernenstadt“ bezeichnete. Bekannt wurden die Langen Kerls, die preußischen Gardesoldaten mit überdurchschnittlicher Körpergröße, das 1. Garde-Regiment zu Fuß und das Infanterie-Regiment 9, aus letzterem sich viele Mittäter des Attentat vom 20. Juli 1944 rekrutierten.
1945 übernahm die Rote Armee – und später die Nationale Volksarmee – die Mehrzahl der Kasernen. Bis 1991 war Potsdam zudem Standort der 34. Artilleriedivision der Gruppe der Sowjetischen Streitkräfte in Deutschland. Nach der deutschen Wiedervereinigung war eine Armee in der bisherigen Größe nicht mehr erforderlich. Die zahlreichen, zum großen Teil historisch und architektonisch bedeutenden, Kasernen und Militäranlagen wurden seitdem einer neuen Nutzung zugeführt.
Seit 2001 hat das Einsatzführungskommando der Bundeswehr direkt am Wildpark vor der Stadtgrenze in Geltow seinen Sitz. Dort sind ca. 500 Generalstabsoffiziere beschäftigt.
Seit 2013 residiert das Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr (ZMSBw) in der Villa Ingenheim am Havelufer. Hier wird militärgeschichtliche Forschung zur deutschen Geschichte betrieben; das ZMSBw hat rund 120 Mitarbeiter. Dem ZMSBw ist auch das Militärhistorische Museum der Bundeswehr in Dresden unterstellt.
Seit 2008 hat das Bundespolizeipräsidium seinen Sitz in Potsdam. Die Bundesoberbehörde ist dem Bundesministerium des Innern unmittelbar nachgeordnet und übt die Dienst- und Fachaufsicht über die Bundespolizei aus.
Wirtschaft
Kennzahlen
Im Jahr 2016 erwirtschaftete Potsdam, auf seinem Stadtgebiet, ein Bruttoinlandsprodukt (BIP) von 6,67 Milliarden Euro und belegte damit Rang 53 in der Rangliste der deutschen Städte nach Wirtschaftsleistung. Die Stadt hat damit einen Anteil von zehn Prozent an der brandenburgischen Wirtschaftsleistung. Das BIP lag im selben Jahr bei 39.293 Euro pro Kopf (Brandenburg: 26.887 Euro, Deutschland 38.180 Euro) und damit über dem regionalen und nationalen Durchschnitt. Je Erwerbstätigem betrug es 60.422 Euro, deren Zahl ca. 110.400. Aufgrund der Nähe zu Berlin entwickelt sich die Wirtschaft sehr dynamisch. 2016 wuchs das BIP der Stadt nominell um 3,1 %, im Vorjahr betrug das Wachstum 4,7 %. Potsdam ist Teil der Metropolregion Berlin-Brandenburg, die ein BIP von mehr als 180 Milliarden Euro erwirtschaftet. Die integrierte Gesamtverschuldung der Stadt betrug Ende 2021 rund 1,05 Milliarden Euro (5750 Euro/Kopf).
Etwa 81.500 Potsdamer hatten im selben Jahr einen sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplatz, rund 1200 mehr als im Vorjahr. Die Arbeitslosenquote lag im Dezember 2018 bei 5,6 % und damit unter dem Durchschnitt von Brandenburg von 5,9 %. Die durchschnittlich verfügbaren Einkommen und die Gewerbesteuerrealeinnahmen steigen seit dem Jahr 2000 beständig.
Über 100 junge Firmen sind im Jahr 2021 in der Landeshauptstadt ansässig. Mit einer Quote von 38,4 Unternehmensgründungen pro 100.000 Personen zwischen 2019 und 2021 rangiert Potsdam nach Berlin, München und Heidelberg bundesweit auf Platz 4 unter allen deutschen Großstädten.
Standort und Lebensqualität
Die positive Entwicklung Potsdams seit 1990 kann u. a. auf den Standort als Kultur-, Dienstleistungs- und Forschungszentrum zurückgeführt werden, der die Anpassung an die Erfordernisse einer modernen Marktwirtschaft mit höheren Ausbildungsniveaus ermöglichte. Der Wirtschaftsstandort ist einer von 15 Regionalen Wachstumskernen im Land Brandenburg und wird dadurch gezielt gefördert. Zudem ist die geografische Lage im Ballungsraum von Berlin attraktiv für Firmenansiedlungen. Der Anschluss an Infrastrukturen wie Autobahn, Zugstrecken, Brücken und Flughafen wird stetig ausgebaut.
Im sogenannten „Zukunftsatlas“ aus dem Jahr 2019 belegte die kreisfreie Stadt Potsdam Platz 92 von 401 Landkreisen, Kommunalverbänden und kreisfreien Städten in Deutschland und zählt damit zu den Orten mit „gewissen Zukunftschancen“ und belegt den ersten Platz innerhalb Brandenburgs. In einer Studie des ZDF zur Lebensqualität in 401 deutschen Landkreisen und kreisfreien Städten belegte Potsdam im Jahr 2018 den vierten Platz.
Technologie und Gewerbe
In Potsdam waren 2016 mehr als 13.000 Gewerbe angemeldet, was einem Zuwachs von knapp 380 gegenüber 2015 entspricht. Forschungsnahe Unternehmen haben sich aufgrund der Vielzahl der Forschungsinstitute in und um Potsdam angesiedelt. Die Region ist einer der führenden Biotech-Standorte in Deutschland. Potsdam ist Sitz der international tätigen Medizintechnikfirma Christoph Miethke.
Die Firma Oracle investierte im Jahr 2001 in eine Zweigniederlassung in der Stadt. Daneben entstand eine von weltweit drei VW-Designzentralen. Das Konsortium Toll Collect hat einen Standort in Potsdam. Die Firma Katjes errichtete 2006 am Produktionsstandort Babelsberg eine „gläserne Bonbonfabrik“. In den 2020er Jahren soll in Potsdams Südlicher Innenstadt ein Standort der IT-Wirtschaft entwickelt werden.
Zu den größten Arbeitgebern in Potsdam zählen 2018 u. a. die Universität Potsdam, die Stadt Potsdam, die Stadtwerke Potsdam, die AOK Nordost, die Mittelbrandenburgische Sparkasse, das Land Brandenburg sowie die Investitionsbank des Landes Brandenburg.
Medien
Das 1911 gegründete Filmstudio Babelsberg in Babelsberg ist das älteste Großfilmstudio der Welt und gleichzeitig das flächenmäßig größte Filmstudio in Europa. Das Studio ist jedoch seit 2022 mehrheitlich im Besitz eines US-Immobilienkonzerns.
Die UFA, ein Tochterunternehmen des international tätigen Medienkonzerns Bertelsmann, zählt zu den gegenwärtig umsatzstärksten deutschen Firmen im Bereich der Fernsehfilm- und TV-Produktionen und hat ihren Sitz in Potsdam. Das Medienboard Berlin-Brandenburg, ein Filmförderungsunternehmen der Länder Berlin und Brandenburg, ist ebenfalls in der Stadt ansässig.
In Potsdam erscheinen als Tageszeitung die Potsdamer Neuesten Nachrichten, die Märkische Allgemeine Zeitung mit Potsdamer Regionalteil und die Regionalausgabe des Tagesspiegels.
Der Rundfunk Berlin-Brandenburg sendet vom Standort Potsdam-Babelsberg. Dort werden unter anderem die Radiosender Antenne Brandenburg, Radio Fritz und Radio Eins sowie die Fernsehsendungen Brandenburg aktuell und zibb produziert. Außerdem gibt es in Potsdam den lokalen Fernsehsender Hauptstadt.TV, den Privatradiosender BB Radio sowie den Lokalradiosender Radio Potsdam und den Kindersender Radio Teddy.
Seit 1997 erscheint monatlich das Magazin events, das Veranstaltungen und Gastronomietipps enthält. Seit 2004 gibt es das monatlich erscheinende Familienmagazin PotsKids!, seit 2010 das Monatsmagazin friedrich.
Tourismus
Der Tourismus hat für Potsdam große Bedeutung. Von 1995 bis 2019 stieg die Zahl der Besucher kontinuierlich an.
2016 übernachteten mehr als 400.000 Besucher zusammen über eine Million Mal in der Stadt. 2018 gab es 58 Hotels und Pensionen mit etwa 5900 Betten in Potsdam.
In der Medienstadt Babelsberg befindet sich der Filmpark Babelsberg, ein Themenpark, der den Besuchern mit der Studiotour über das Gelände, sowie mit Ausstellungen, Stuntshows, Kulissen und Requisiten aus zahlreichen bekannten Produktionen die Welt des Films näher bringt. 330.000 zahlende Besucher verzeichnete der Filmpark im Jahr 2016. Mit ebenfalls etwa 330.000 Besuchern jährlich ist der Park Sanssouci der zweite große Anziehungspunkt in Potsdam.
Potsdam hat sich außerdem zu einem beliebten Ort für Tagungen, Kongresse und Hochzeitsfeierlichkeiten entwickelt.
Verbände
Die IHK Potsdam hat ihren Hauptsitz in Potsdam und vertrat im Jahr 2018 insgesamt 77.738 Mitgliedsunternehmen in Westbrandenburg. Die Handwerkskammer Potsdam vertritt die Interessen von 17.463 Handwerksbetrieben (Stand: 2021) im Kammerbezirk Potsdam.
Infrastruktur
Nachdem seit den 1990er Jahren in Potsdam überwiegend vorhandene Bausubstanz saniert wurde, gilt seit 2010 das Integrierte Leitbautenkonzept, nach dem die Stadt an vielen Stellen durch Wiedererrichtungsprojekte ihren früheren, klassizistisch geprägten, Stadtkern zurückerhalten soll. 2017 begann der Wiederaufbau von Teilen der Garnisonkirche. Langfristig soll auch der Stadtkanal wieder freigelegt werden.
Die Stadtentwicklungsgebiete am Bornstedter Feld und in der Speicherstadt befinden sich im Bau (Stand: 2018). Im Stadtteil Krampnitz sollen in den 2020er Jahren kohlendioxidneutrale Wohnsiedlungen für 7000 Einwohner entstehen. Im Jahr 2018 gab es in Potsdam 20.737 Wohngebäude. Die Anzahl der Wohnungen in der Stadt belief sich im selben Jahr auf 90.111 (+1.581 im Vergleich zum Vorjahr).
Für die lokale Umsetzung der UN-Konvention über „die Rechte des Kindes“ trägt die Stadt seit 2017 das UNICEF-Siegel Kinderfreundliche Kommune.
Straßenverkehr
Potsdam ist im Westen und Süden durch den Berliner Ring der A 10 mit dem Autobahndreieck Potsdam und im Osten durch die A 115 (im Berliner Stadtgebiet auch als AVUS bezeichnet) an das Bundesautobahnnetz angeschlossen.
Mehrere Bundesstraßen verlaufen durch das Stadtgebiet, so die B 1, B 2 und B 273. Die Stadt liegt an der deutsch-niederländischen Ferienstraße Oranier-Route.
Die Potsdam mit den Bundesstraßen B 101, B 96 und B 179 verbindende Landesstraße L 40 erschließt das südliche Berliner Umland über Stahnsdorf, Teltow, Mahlow, Schönefeld nach Berlin (Treptow-Köpenick) und trägt im Potsdamer Stadtgebiet die Bezeichnung Nuthe-Schnellstraße.
Die Dichte an privaten Personenkraftwagen (Pkw) in der Stadt lag mit 376 Pkw pro 1000 Einwohner im Jahr 2014 unter dem Brandenburger Durchschnitt von 510 Pkw pro 1000 Einwohner. Insgesamt waren 82.830 Kraftfahrzeuge in Potsdam im Jahr 2017 zugelassen (+10.306 im Vergleich zu 2010).
Fahrradverkehr
Die Stadt verfolgt seit 2008 ein Radverkehrskonzept, das immer wieder erneuert wird. 2017 wurden zwölf Prozent aller Wege in Potsdam per Fahrrad zurückgelegt (in Berlin: 15 %, im Land Brandenburg: 11 %, in Deutschland insgesamt: 11 %). Auch im Jahr 2017 besaßen 83 % der Potsdamer Bevölkerung ein eigenes Fahrrad (in Berlin: 77 %, in Brandenburg: 85 %; in Deutschland insgesamt: 77 %). Innerhalb der Stadt sind 177 km mit Radspuren oder Radwegen ausgestattet (Stand: 2016). Am Hauptbahnhof gibt es ein Parkhaus für Fahrräder. In der ganzen Stadt zerstreut gibt es über 30 Stationen mit insgesamt mehr als 300 Fahrrädern, die rund um die Uhr zum Verleih bereitstehen.
Potsdam ist an einige Radfernwege angeschlossen, unter anderem an den Europaradweg R1 (verläuft von Frankreich bis Russland), den Fernradweg Amsterdam-Berlin, den Havelradweg (verläuft von der Quelle bis zur Mündung), an den Berliner Mauerradweg (verläuft entlang der ehemaligen Berliner Mauer einmal um das damalige West-Berlin), den Radweg Alter Fritz (Rundtour zu den Sehenswürdigkeiten der Stadt) und an die F1-Havelseetour.
ÖPNV
Der Nahverkehr in Potsdam umfasst, neben der S-Bahn Berlin (Linie S7), verschiedene Angebote der Verkehrsbetriebe Potsdam (ViP): sieben Straßenbahnlinien, diverse Stadtbuslinien und eine Fährlinie, die Hermannswerder mit den Wohngebieten auf dem nordwestlichen Havelufer verbindet. Hinzu kommen die Regionalbuslinien, welche Potsdam mit dem Umland verbinden: die Linien der Havelbus Verkehrsgesellschaft verkehren in den Landkreis Havelland, die Linien der Regiobus Potsdam-Mittelmark in den Landkreis Potsdam-Mittelmark und die Linien der Verkehrsgesellschaft Teltow-Fläming in den Landkreis Teltow-Fläming.
Durch den PlusBus des Verkehrsverbund Berlin-Brandenburg verkehren folgende Verbindungen ab Potsdam:
Linie X1: Potsdam ↔ Güterfelde ↔ Stahnsdorf ↔ Teltow
Linie 580: Potsdam ↔ Werder ↔ Lehnin ↔ Golzow ↔ Bad Belzig
Linie 643: Potsdam ↔ Michendorf ↔ Neuseddin ↔ Beelitz
Linie 715: Potsdam ↔ Nudow ↔ Ahrensdorf ↔ Ludwigsfelde
Nachts ist Potsdam vom Berliner S-Bahnhof Nikolassee mit der Nachtbuslinie N16 erreichbar. Auch innerhalb der Stadt Potsdam verkehren in jeder Nacht durchgehend mehrere Nachtbuslinien.
Auf der Südseite des Hauptbahnhofs befindet sich ein größerer Busbahnhof, an dem zwischen vielen Stadt- und Regionalbuslinien sowie zwischen den Nachtbuslinien umgestiegen werden kann. Zentraler Umsteigepunkt im Straßenbahnnetz ist der Platz der Einheit.
Alle Angebote des Nahverkehrs können zu einheitlichen Tarifen im Verkehrsverbund Berlin-Brandenburg (VBB) genutzt werden.
Eisenbahnverkehr
Durch das Stadtgebiet führen mehrere Eisenbahnstrecken. Die Verbindungen zwischen Potsdam und Berlin sind die von Berufspendlern meistfrequentierten Strecken in der Metropolregion Berlin-Brandenburg.
Die Berlin-Potsdamer Eisenbahn (Stammbahn) war die erste Eisenbahnstrecke Preußens (1838). Sie schuf eine Verbindung zwischen Berlin und Potsdam über Zehlendorf. 1845 wurde die Strecke bis nach Magdeburg fortgeführt. Auf Potsdamer Gebiet liegen an dieser Strecke und der parallelen S-Bahn-Strecke fünf Bahnhöfe und Haltepunkte: Griebnitzsee, Babelsberg, Potsdam Hauptbahnhof, Charlottenhof und Park Sanssouci.
Die 1879 eröffnete Berlin-Blankenheimer Eisenbahn (Wetzlarer Bahn) berührt das Stadtgebiet im Osten mit dem Bahnhof Potsdam Medienstadt Babelsberg und den an der Potsdamer Stadtgrenze liegenden Bahnhof Potsdam-Rehbrücke. An dieser Strecke liegt auch der wichtige Rangierbahnhof Seddin südlich von Potsdam. Ihr östlichstes Teilstück führt schnurgerade durch den Grunewald und hat über den Bahnhof Berlin-Charlottenburg Anschluss an die Berliner Stadtbahn. Nachdem 1945 die Stammbahn zwischen Berlin-Zehlendorf und Griebnitzsee unterbrochen wurde, läuft der gesamte Regional- und Fernverkehr zwischen Berlin und Potsdam über die Stadtbahn.
Die Wannseebahn wurde 1874 als Vorortstrecke angelegt, auf dem Abschnitt zwischen dem Bahnhof Berlin-Wannsee und der heutigen Stadtgrenze verläuft parallel dazu die Fernstrecke der Berlin-Blankenheimer Eisenbahn. 1891 wurden die Vorortgleise der Wannseebahn komplett von den Ferngleisen getrennt. Seit 1902 ist Potsdam über Vorortgleise der Grunewaldstrecke mit direkten Vorortzügen von der Berliner Stadtbahn aus zu erreichen. Im Jahr 1928 wurde auf den Vorortgleisen der elektrische S-Bahn-Betrieb aufgenommen.
Die Bahnstrecke Jüterbog–Nauen als Teil der Umgehungsbahn ging im Potsdamer Raum zwischen 1902 und 1908 in Betrieb. Die Strecke kreuzte die Bahnstrecke nach Magdeburg im Bahnhof Park Sanssouci (früher: Wildpark). Ihr Abschnitt nördlich des Bahnhofs Golm ging im Berliner Außenring auf. Nach 1945 entstand eine Verbindungskurve, die direkte Fahrten aus Richtung Süden zum Bahnhof Potsdam Stadt (seit 1999 Potsdam Hauptbahnhof) möglich machte. Der Abschnitt zwischen Potsdam und der Kreuzung mit der Berlin-Blankenheimer Eisenbahn bei Seddin wurde zur Hauptbahn ausgebaut, über die zeitweise sogar Transitzüge von Süddeutschland nach West-Berlin fuhren.
Der Berliner Außenring mit seinem Damm durch den Templiner See wurde 1956 eröffnet. Hier liegt der (1999 geschlossene) obere Teil des zeitweiligen (1960–1993) Potsdamer Hauptbahnhofs (seit 1993: Potsdam Pirschheide). Weitere Stationen am Außenring auf Potsdamer Gebiet sind der Bahnhof Golm und der Haltepunkt Marquardt. Die Anbindung Potsdams an den Eisenbahnfernverkehr ist stark eingeschränkt, seit die meisten Fernzüge seit Mitte der 2000er Jahre über die Schnellfahrstrecke Hannover–Berlin geführt werden.
Von der Stadt aus führen Regionalexpress- und Regionalbahnlinien in folgende Richtungen:
Ab Hauptbahnhof (teilweise auch ab Charlottenhof, Park Sanssouci und Golm)
Berlin (RE 1, z. T. RB 21/22) – Frankfurt (Oder) (RE 1)
Brandenburg an der Havel – Magdeburg (RE 1)
Golm – Hennigsdorf – Oranienburg (RB 20)
Golm – Wustermark – Berlin-Spandau (RB 21)
Golm – Flughafen BER – Königs Wusterhausen (RB 22)
Golm / Berlin – Flughafen BER (RB 23)
Beelitz – Jüterbog (RB 33)
Ab Medienstadt Babelsberg und Rehbrücke:
Berlin – Flughafen BER – Senftenberg: RE 7
Bad Belzig – Dessau: RE 7
Beelitz: RB 37
Liste der Potsdamer Bahnhöfe
Schiffsverkehr
Potsdam wird tangiert von der Unteren Havel-Wasserstraße. Sie ist die wichtigste Ost-West-Verbindung der Binnenschifffahrt zwischen der Oder, Berlin und der Elbe. Die Frachtschifffahrt benutzt den Sacrow-Paretzer Kanal. Der Hafen an der Langen Brücke in Potsdam wird von den Schiffen des Unternehmens Weisse Flotte Potsdam und Gastliegern von Schifffahrtsunternehmen aus Deutschland und anderen europäischen Ländern genutzt. In der Saison gibt es einen täglichen Linienverkehr vom Hafen an der Langen Brücke nach Berlin-Wannsee, Spandau–Lindenufer und der Greenwichpromenade am Tegeler See. sowie in Richtung Caputh, Ferch und Werder. In der Alten Fahrt der Havel an der Freundschaftsinsel stehen Anleger für den privaten Wassersport zur Verfügung.
Luftverkehr
Potsdam ist über den rund 40 Kilometer in östlicher Richtung entfernten Flughafen Berlin Brandenburg (BER) an den nationalen und internationalen Luftverkehr angeschlossen.
Der Flughafen ist mit der Regionalbahnlinie RB22 und der Schnellbuslinie BER2 bzw. über die Schnellstraße Potsdam–Schönefeld erreichbar.
Bildung
Hochschulen
Potsdam ist eine international renommierte Universitätsstadt mit drei öffentlichen Hochschulen. Im Wintersemester 2020/21 sind 26.555 Studenten in den Hochschulen eingeschrieben. 2019 hatten 26,3 Prozent der Einwohner einen Fachhochschul- oder Hochschulabschluss oder Promotion (Bundesdurchschnitt von 18,5 Prozent).
Die Universität Potsdam wurde 1991 als Universität des Landes Brandenburg gegründet. Die Universität ist auf die drei Hauptstandorte Am Neuen Palais, Golm und Griebnitzsee verteilt und hat insgesamt über 20.000 Studenten. Die gemeinsam von der Universität Potsdam und dem Hasso-Plattner-Institut gegründete Digital Engineering Fakultät ist die erste privat finanzierte Fakultät einer öffentlichen Universität in Deutschland.
Die Filmuniversität Babelsberg ist die älteste und größte Medienhochschule Deutschlands und seit 2014 Universität. Sie wurde 1954 als Deutsche Hochschule für Filmkunst gegründet und trug seit 1985 den Namen Hochschule für Film und Fernsehen „Konrad Wolf“. Der Campus der Universität befindet sich auf dem Gelände des Filmstudios Babelsberg und wird aktuell von etwa 800 Studenten besucht. An der Hochschule werden die jährlichen Sehsüchte, ein internationales Studentenfilmfestival, organisiert. Die EMS Electronic Media School bildet Journalisten aus.
Die Fachhochschule Potsdam ist eine junge Hochschule, die 1991 in Trägerschaft des Landes Brandenburg gegründet wurde. Sie wird von über 3500 Studenten besucht.
Neben den staatlichen Hochschulen gibt es in der Stadt auch die privat geführte Fachhochschule für Sport und Management Potsdam, die kirchliche beziehungsweise private Hochschule Clara Hoffbauer Potsdam und die private HMU Health and Medical University.
Forschung
Die Stadt Potsdam hat sich seit der Mitte des 19. Jahrhunderts zu einem Forschungsstandort entwickelt. In keiner deutschen Stadt gibt es mehr Forschungseinrichtungen je Einwohner als in Potsdam. Das wissenschaftliche Potenzial erstreckt sich auf mehr als 30 Forschungseinrichtungen in den Bereichen Geist und Gesellschaft, Geowissenschaften und Umwelt, Biologie und Leben sowie Physik und Chemie, darunter drei Max-Planck-Institute und zwei Fraunhofer-Institute. Viele der Institute sind an die Universität Potsdam angegliedert.
Zu den Forschungsinstituten zählen unter anderem das Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeresforschung, das Fraunhofer-Institut für Angewandte Polymerforschung, das Max-Planck-Institut für Kolloid- und Grenzflächenforschung, das Max-Planck-Institut für molekulare Pflanzenphysiologie, das Max-Planck-Institut für Gravitationsphysik (Albert-Einstein-Institut), das Geoforschungszentrum Potsdam, das Leibniz-Institut für Astrophysik, das Moses Mendelssohn Zentrum für europäisch-jüdische Studien, das Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung und das Zentrum für Zeithistorische Forschung. Im benachbarten Bergholz-Rehbrücke liegt außerdem das Deutsche Institut für Ernährungsforschung.
Schulen
Laut Daten des Statistischen Bundesamts erlangen in den frühen 2020er Jahren in keiner anderen deutschen Großstadt mehr Schüler eines Jahrgangs die allgemeine Hochschulreife als in Potsdam. Beispielhaft schlossen im Jahre 2017 1124 von 1942 Schülern in Potsdam ihre weiterführenden Schulen mit Abitur ab, was einer Quote von 58 Prozent entspricht. Der deutschlandweite Durchschnitt lag bei rund 34 Prozent.
Architektur
Welterbe
Bereits 1990 wurden die Potsdamer Schlösser und Parks auf gemeinsamen Antrag beider deutscher Staaten zum UNESCO-Welterbe erklärt. Seitdem gehören die Parkanlagen Sanssouci, Neuer Garten, Babelsberg, Glienicke und die Pfaueninsel mit ihren Schlössern sowie seit 1992 Schloss und Park Sacrow mit der Heilandskirche zum Weltkulturerbe. 1999 wurde das Potsdamer Welterbe um 14 Denkmalbereiche erweitert, darunter Schloss und Park Lindstedt, die russische Kolonie Alexandrowka, das Belvedere auf dem Pfingstberg, der Kaiserbahnhof und die Sternwarte am Babelsberger Park. Insgesamt erstreckt sich das Welterbe im Potsdamer Stadtgebiet auf 1337 ha Parkanlagen mit 150 Gebäuden aus der Zeit von 1730 bis 1916. Die Berlin-Potsdamer Kulturlandschaft (mit Gesamtfläche von 2064 ha) ist damit die drittgrößte der deutschen Welterbestätten.
Das Ensemble erfüllt die Ansprüche gemäß den Kriterien I, II und IV der UNESCO. Es ist zuerst eine einzigartige künstlerische Leistung, ein Meisterwerk des schöpferischen Geistes (I). Es hat beträchtlichen Einfluss auf die Entwicklung der Architektur, des Städtebaus und der Landschaftsgestaltung ausgeübt (II). Zudem ist es ein herausragendes Beispiel von architektonischen Ensembles oder einer Landschaft, die bedeutsame Abschnitte in der menschlichen Geschichte darstellen (IV).
Schlösser und Gärten
Potsdam ist vor allem als Stadt der Schlösser und Gärten bekannt. Die Berlin-Potsdamer Kulturlandschaft umfasst fast 20 Schlösser oder Palais. Die prominenteste Sehenswürdigkeit und Wahrzeichen der Stadt ist das Schloss Sanssouci mit seinen Parkanlagen. Nach eigenen Skizzen ließ der preußische König Friedrich der Große in den Jahren 1745–1747 ein kleines Sommerschloss im Stil des Rokoko errichten. Die Lage des Sommersitzes im Südwesten der Residenzstadt Berlin erinnert an die Funktion von Versailles im Verhältnis zu Paris.
Das Neue Palais ist das größte Schloss der Stadt Potsdam. Es befindet sich am westlichen Ende des Parks Sanssouci. Der Bau wurde 1763 nach Beendigung des Siebenjährigen Krieges durch Friedrich den Großen begonnen und bereits 1769 fertiggestellt. Es gilt als letzte bedeutende Schlossanlage des preußischen Barocks. Friedrich plante es allein zu Repräsentationszwecken. Über 200 Räume, vier Festsäle und ein Rokokotheater standen bereit. Über 400 Statuen aus der antiken Götterwelt schmücken die Fassade und die Dachbalustrade.
Das Orangerieschloss auf dem Höhenzug zwischen Klausberg und Schloss Sanssouci ließ der „Romantiker auf dem Thron“, Friedrich Wilhelm IV. in den Jahren von 1851 bis 1864 erbauen. Die Errichtung des Orangerieschlosses stand in Verbindung mit der Planung einer Triumphstraße. Am Triumphtor sollte die Prachtstraße beginnen und am Belvedere auf dem Klausberg enden. Höhenunterschiede sollten durch Viadukte ausgeglichen werden. Wegen der politischen Unruhen der Märzrevolution und der fehlenden finanziellen Mittel wurde das gigantische Projekt jedoch nie vollendet. Das Orangerieschloss wurde mit einer Frontlänge von 300 Metern im Stil der italienischen Renaissance errichtet, nach dem architektonischen Vorbild der Villa Medici in Rom und der Uffizien in Florenz.
Im Potsdamer Neuen Garten, dicht am Ufer des Heiligen Sees, ließ Friedrich Wilhelm II. in den Jahren 1787–1792 das Marmorpalais errichten. Die Architekten Carl von Gontard und ab 1789 Carl Gotthard Langhans schufen ein Schlossgebäude im Stil des Frühklassizismus. Das aus rotem Backstein errichtete Marmorpalais ist ein zweigeschossiges Gebäude mit quadratischem Grundriss. Wegen der schönen Aussicht wurde auf das flache Dach des kubischen Baukörpers ein Rundtempel gesetzt. Als Blickfang dient unter anderem das weiße Schloss auf der Pfaueninsel.
Auch das italienisch anmutende Schloss Belvedere auf dem Pfingstberg im Potsdamer Norden ist ein bedeutender Bestandteil der Potsdamer Schlösserlandschaft. Zwischen 1847 und 1863 nach Plänen Friedrich Wilhelms IV. erbaut, bietet es aus 100 Metern Höhe eine Aussicht über die Potsdam umgebende Kulturlandschaft bis hin zum Berliner Fernsehturm. In der Zeit der Teilung Deutschlands war es aufgrund der Lage nahe der KGB-Zentrale am Fuße des Pfingstberges geschlossen worden und verfiel. Erst die späteren Gründer des Förderverein Pfingstberg in Potsdam e. V. sorgten ab 1987 mit ihrem unermüdlichen Engagement dafür, dass es wiederhergestellt werden konnte.
Neben den Schlössern verfügt Potsdam über sieben Parklandschaften. Die bekannteste Gartenanlage ist der Park Sanssouci. Auf Anweisung Friedrichs des Großen wurde der Wüste Berg 1744 durch die Anlage von Weinterrassen kultiviert. Durch die Ausweitung nach Westen, bildete sich bis zum Neuen Palais eine schnurgerade rund 2,5 Kilometer lange Hauptallee. Die Sehenswürdigkeiten im Park Sanssouci sind zahlreich. Neben Schlossgebäuden, Pavillons, Tempeln und Skulpturen befindet sich auch der Botanische Garten auf dem Areal, sowie die Historische Mühle, um die sich eine Legende spannt.
Der Neue Garten entstand ab 1787. Er sollte dem Zeitgeist entsprechend ein gartenarchitektonisch modernes Bild wiedergeben und sich von den Formen des barocken Parks Sanssouci abheben. Der freien Natur nachgebildet, betonte man in der Gestaltung den landschaftlichen Charakter. Die Bäume und Pflanzen sollten ungeschnitten in freier Wuchsform natürlich erscheinen. Die bekanntesten Gebäude sind das Schloss Cecilienhof und das Marmorpalais, aber auch eine kleine Pyramide, eine Sphinx am Ägyptischen Portal der Orangerie und ein Obelisk sind zu entdecken.
Peter Joseph Lenné und Fürst Hermann von Pückler-Muskau gestalteten den Park Babelsberg. Das zur Havel abfallende, hügelige Gelände wurde ab 1833 in eine Parklandschaft umgewandelt. Neben den zwei Schlössern im Park bietet der 46 Meter hohe Flatowturm eine Aussicht über die Stadt. Den tiefsten Einschnitt erfuhr der Park durch den Bau der Berliner Mauer 1961. Das Grenzgebiet durfte nicht betreten werden und verwilderte, es ist wieder kultiviert und zugängig. In dem Park befindet sich ein Studentenwohnheim der Universität Potsdam.
Das Jagdschloss Stern wurde von 1730 bis 1732 unter dem Soldatenkönig Friedrich Wilhelm I. erbaut, der leidenschaftlicher Anhänger der Parforcejagd war. Zu diesem Zweck ließ dieser ein riesiges Jagdgebiet – die Parforceheide – vor den Toren Potsdams einhegen, das mit 16 Schneisen durchzogen wurde, die alle von einem Kreuzungspunkt ausgingen. An diesem Wegestern ließ er durch niederländische Baumeister ein kleines Jagdschloss im Stile holländischer unverputzter Ziegelsteinhäuser errichten. Dabei sammelte man nebenbei auch Erfahrungen für den späteren Bau des Holländischen Viertels auf dem sandigen Potsdamer Baugrund. Es blieb der einzige Schlossbau des Soldatenkönigs in Potsdam.
Die Freundschaftsinsel mit Freilichtbühne, Ausflugslokal, Ausstellungspavillon und einem Schau- und Sichtungsgarten für Stauden- und Rosenpflanzungen liegt im Zentrum der Stadt zwischen den beiden Havelarmen Alte und Neue Fahrt.
Der älteste Garten der Stadt Potsdam ist der Lustgarten, den der Große Kurfürst 1660 vor dem ehemaligen Stadtschloss anlegen ließ. Im Rahmen der Bundesgartenschau 2001 wurde er in moderner Form wieder hergerichtet.
Der Wildpark Potsdam gilt als „Lennés vergessener Garten“. Er wurde 1843 eingerichtet und ist über 875 Hektar groß. Erreichbar ist er über die Bahnstation Potsdam Park Sanssouci mit dem bekannten Kaiserbahnhof.
Der Volkspark Potsdam ist der neueste Park in der Stadt. Er wurde zur Bundesgartenschau 2001 auf einem ehemaligen militärisch genutzten Gelände in Potsdam-Bornstedt angelegt. Die dort errichtete Biosphäre ist eine Tropenhalle mit rund 20.000 Gewächsen.
Im Stadtteil Bornim befindet sich der öffentlich zugängliche Karl-Foerster-Garten des Staudenzüchters und Garten-Philosophen Karl Foerster.
Viertel und Plätze
Seit dem Ausbau als Residenzstadt ist Potsdam eine europäisch geprägte Stadt. Dies spiegelt sich auch in der Kultur und Architektur wider. Neben zahlreichen Baustilen aus unterschiedlichen Epochen finden sich auch Wohnhäuser nach dem Vorbild niederländischer und russischer Bauweise, die für ehemalige Siedler errichtet wurden. Dem Zeitgeist entsprachen exotische Gebäude wie das Chinesische Haus aus dem 18. Jahrhundert oder die Schweizerhäuser in Klein Glienicke aus dem 19. Jahrhundert. Im norwegischen Stil wurde die Matrosenstation Kongsnæs errichtet (1945 größtenteils zerstört) und im englischen Landhausstil das Schloss Cecilienhof im Neuen Garten. Obwohl die Stadt eine über eintausendjährige Geschichte hat, sind keine Bauten aus dem Mittelalter erhalten. Die jeweiligen Regenten zeigten mit ihren ambitionierten Bauvorhaben ihre Vorliebe für Kultur und technische Leistungsfähigkeit.
Um niederländische Handwerker nach Potsdam zu locken, ließ der Soldatenkönig Friedrich Wilhelm I. zwischen 1733 und 1740 das Holländische Viertel errichten. Der zu den ersten Siedlern gehörende Baumeister Jan Bouman bekam die Leitung übertragen. Das zentral gelegene und in sich geschlossene Quartier besteht aus 134 Häusern aus rotem Ziegelstein, die durch zwei Straßen in vier Blöcke aufgeteilt werden. Das Viertel wird durch das Nauener Tor und die Peter-und-Paul-Kirche begrenzt.
Im Norden der Stadt entstand in den Jahren 1826/1827 die russische Kolonie Alexandrowka für die letzten zwölf russischen Sänger eines Chores. Peter Joseph Lenné gab der Anlage die Form eines Hippodroms mit eingelegtem Andreaskreuz. Durch die verwandtschaftlichen und freundschaftlichen Beziehungen zwischen den Häusern Hohenzollern und Romanow wurde die Kolonie als Denkmal der Erinnerung nach dem 1825 verstorbenen Zar Alexander I. benannt. Die Siedlung besteht aus insgesamt dreizehn Fachwerkhäusern. Die Außenwände der freistehenden ein- und zweigeschossigen Giebelhäuser sind mit halbrunden Baumstämmen verkleidet und erinnern an russische Blockhäuser. Die für die Kolonisten erbaute russisch-orthodoxe Alexander-Newski-Gedächtniskirche steht in der Nähe auf dem Kapellenberg. Direkt gegenüber, im Volkspark, befindet sich noch eins der letzten Lenindenkmäler in Deutschland.
Das Weberviertel Nowawes im heutigen Babelsberg mit der Friedrichskirche in seiner Mitte, ließ Friedrich der Große 1751 für böhmische Protestanten errichten. Friedrich II. gewährte den Glaubensflüchtlingen Steuer- und Religionsfreiheit. Die meist fünfachsigen Weberhäuser wurden von je zwei Familien bewohnt. Der König gab die Anweisung Nussbäume zu pflanzen, um das Holz für die Produktion von Gewehren zu nutzen. Ab 1780 pflanzte die Forstverwaltung Maulbeerbäume für die Seidenraupenzucht.
Der Alte Markt ist das historische Zentrum der Stadt. Hier wurden einst die Bauten des Stadtschlosses mit Marstall und Lustgarten, der Nikolaikirche, des Alten Rathauses und des Palasts Barberini errichtet. Während der DDR-Zeit entstanden hier zusätzlich ein markantes Hotelhochhaus. Das zerstörte Stadtschloss hinterließ in dieser Zeit eine große Stadtlücke, die aber durch dessen Wiederaufbau, durch den wiedererrichteten Palast Barberini und das neu erbaute Humboldt Quartier wieder geschlossen werden konnte. Auch eine neue Bittschriftenlinde steht wieder inmitten dieses Ensembles.
Der Neue Markt aus dem 17. und 18. Jahrhundert ist einer der besterhaltenen Barockplätze Europas. In seiner Mitte errichtete Jan Boumann die Ratswaage. Im Südwesten des Platzes steht der ehemalige Kutschstall, in dem sich das Haus der Brandenburg-Preußischen Geschichte befindet. Das Kabinetthaus am Neuen Markt 1 war ein Stadtpalais. In ihm wurden der spätere König Friedrich Wilhelm III. und Wilhelm von Humboldt geboren. Es befinden sich in den Gebäuden am Neuen Markt eine Reihe kultureller und wissenschaftlicher Einrichtungen. Der Neue Markt liegt versteckt hinter Häuserreihen.
Der Luisenplatz verbindet die Fußgängerzone der Brandenburger Straße mit der Allee zum Eingang des Parks Sanssouci am Grünen Gitter. Mitte des 19. Jahrhunderts wurde der Luisenplatz durch Peter Joseph Lenné gärtnerisch gestaltet und mit einem Brunnenbecken mit Fontäne in der Mitte versehen. Die Gartenanlage wich in den 1930er Jahren einem Umbau zum Parkplatz und der damit verbundenen Pflasterung. Zwischen dem Luisenplatz und der Brandenburger Straße steht seit 1770 das kleine Brandenburger Tor, ein paar Meter östlich davon die Spieluhrenskulptur von Gottfried Höfer.
Stadttore
Als Garnisonstadt verfügte Potsdam über eine Stadtmauer, die aber nicht der Befestigung diente, sondern vor allem die Desertion der Soldaten und den Warenschmuggel verhindern sollte. Die Stadtmauer verband die Stadttore, von denen noch drei erhalten sind: das Brandenburger Tor, das Nauener Tor und das Jägertor. Die Grenze der sogenannten Accise- und Desertations-Communikation wurde erst im Jahr 1718 unter Friedrich Wilhelm I. erbaut. Es sind nur wenige Reste der Stadtmauern erhalten. Drei Stadttore sind nicht mehr erhalten. Das Teltower Tor stand an der südöstlichen Seite der Langen Brücke. Das ehemalige Berliner Tor wurde 1945 fast völlig zerstört, erhalten blieb nur eine Seitenwand. Vom Neustädter Tor ist nur noch ein einzelner Obelisk erhalten geblieben.
Das Brandenburger Tor, nicht zu verwechseln mit dem gleichnamigen Berliner Wahrzeichen, wurde 1770 errichtet. Nach dem Ende des Siebenjährigen Krieges wurde das ursprüngliche Tor abgetragen und durch einen monumentalen Neubau als Zeichen des Sieges ersetzt. Als Vorbild diente auf Anweisung Friedrichs II. unter anderem der Konstantinsbogen in Rom. Das Tor hat zwei Baumeister und daher auch zwei Gesichter. Carl von Gontard entwarf die Stadtseite, sein Schüler Georg Christian Unger übernahm die Feldseite.
Das älteste erhalten gebliebene Tor ist das Jägertor. Es wurde 1733 errichtet und bildete einen der Ausgänge nach Norden. Seinen Namen erhielt es nach dem vor der Stadt liegenden kurfürstlichen Jägerhof. Architrav und Bekrönung bestehen aus Sandstein, während die rustizierten Pfeiler aus verputztem Ziegelmauerwerk errichtet wurden.
Das wesentlich größere Nauener Tor stammt aus dem Jahr 1755 und entstand auf direkte Anordnung Friedrichs II. Ob dieser damit eines der ersten Beispiele der von England ausgehenden Neogotik auf dem europäischen Kontinent schaffen, oder an „sein“ Schloss Rheinsberg erinnern wollte, ist unklar. Der Platz vor dem Nauener Tor ist mit vielen Cafés, Restaurants und Bars ein Treffpunkt der Potsdamer und deren Gäste. Direkt hindurch führt eine Straßenbahnlinie.
Kultur
Historie
Aus der Zeit der ersten Besiedelung bis zum Mittelalter sind nur wenige kulturelle Spuren erhalten geblieben. Bei Ausgrabungen am Alten Markt wurden die Reste einer slawischen Burg und weniger Häuser gefunden. Auch nach der deutschen Eroberung blieb Potsdam eine kleine Stadt mit lokalem Handwerk. Ein kultureller Aufschwung ging einher mit dem Aufbau als zweite Residenzstadt durch den Großen Kurfürsten Friedrich Wilhelm ab dem 17. Jahrhundert. Zu den ältesten erhaltenen Gebäuden zählt deshalb der Marstall des Stadtschlosses aus dem Jahr 1669.
Die Zuwanderung von gut ausgebildeten französischen Hugenotten förderte ab 1685 die kulturelle Entfaltung in Brandenburg und Preußen. In der Stadt Potsdam wurde ein französisches Viertel errichtet. Aus dieser Zeit erhalten blieb die Französische Kirche.
Potsdam entwickelte sich neben Berlin zu einem kulturellen Zentrum in Preußen. Friedrich der Große schätzte die Gedanken der Aufklärung und förderte die Wissenschaft und Kunst. So beendete er als erster in Europa die Zensur für nichtpolitische Teile der Zeitungen und stellte fest, dass „Gazetten wenn sie interreßant seyn sollten nicht geniret werden müsten“. Der bedeutende Philosoph der Aufklärung Voltaire wurde auf Wunsch des Königs 1750 an den Hof von Sanssouci eingeladen und blieb bis 1757.
Nach 1945 wurde Potsdam ein Zentrum der Kultur und Wissenschaft der DDR, deren sozialistische Staatsregierung allen Bürgern Zugang zum kulturellen und gesellschaftlichen Leben ermöglichen wollte. Laut Programm sollte die Gesellschaft nach dem Vorbild der UdSSR erzogen werden. In allen Bereichen der Gesellschaft sollte Ausbeutung und Profitstreben beendet werden. Historische Gebäude und Traditionen wurden vernachlässigt.
Nach der Wiedervereinigung Deutschlands im Jahr 1990 entwickelte sich das kulturelle Leben in Potsdam nach anfänglichem Zögern dynamisch voran. Dabei wirkte die Nähe zur Kulturmetropole Berlin belebend. Das zunehmende Interesse an der Stadt führte zu zahlreichen Wiederaufbauinitiativen, die auch durch ein ausgeprägtes Mäzenatentum ihren Ausdruck fanden. So konnte sich die Kulturlandschaft stetig weiterentwickeln.
Film
Potsdam ist seit der Weimarer Zeit eines der bedeutendsten Filmzentren in Deutschland und in der Welt. Die UFA produzierte dort Werke der Filmgeschichte wie etwa Metropolis, Melodie des Herzens, Der blaue Engel oder Die Feuerzangenbowle. Die DEFA stellte später Filme wie Der Untertan, Spur der Steine oder Die Legende von Paul und Paula her.
Seit dem späten 20. Jahrhundert widmen sich die Filmstudios in Babelsberg und zahlreiche Filmproduktionsfirmen mit Sitz in Potsdam vor allem nationalen und internationalen Kino-, Serien- und Fernsehproduktionen wie Gute Zeiten, schlechte Zeiten, Sonnenallee, Wege zum Glück, Dark oder Babylon Berlin.
Durch die hohe Anzahl der in Potsdam beheimateten Filmunternehmen hat sich der Standort zu einem Zentrum der Popkultur in Europa entwickelt.
Museen und Sammlungen
Die Potsdamer Museen decken eine breite Themenvielfalt ab. Die Stadt verfügt über eine Vielfalt an Bildender Kunst in Form von Gemälden und Skulpturen.
Die Hauptwerke sind in den Schlössern oder Museen zu besichtigen. Die Gemälde verteilen sich vor allem auf die Bildergalerie. Die Bildergalerie wurde auf Wunsch des Königs Friedrich II. in den Jahren 1755 bis 1764 erbaut. Sie befindet sich östlich des Schlosses Sanssouci und ist der älteste erhaltene freistehende fürstliche Museumsbau in Deutschland. Der Galeriesaal ist prachtvoll gestaltet mit reich vergoldeter Ornamentik an der leicht gewölbten Decke. Der Schwerpunkt der Ausstellung liegt auf Gemälden des Barock, des Manierismus und der Renaissance. Berühmte italienische und flämische Maler wie Peter Paul Rubens, Anthonis van Dyck, Antoine Watteau und Caravaggio sind mit ihren Werken vertreten.
Neben den bestehenden Museumshäusern erweiterten in den letzten Jahren einige Neugründungen die Museumslandschaft. Dazu zählt das Haus der Brandenburgisch-Preußischen Geschichte, das 2003 gegründet wurde. Das 1981 gegründete Filmmuseum Potsdam im Marstall am Alten Markt zeigt die Entwicklung der Filmgeschichte mit Betonung auf den Standort der Filmstudios in Babelsberg.
Weitere Museen umfassen die Gedenkstätte zum Attentat vom 20. Juli 1944 und die Gedenkstätte Lindenstraße 54/55 im ehemaligen Untersuchungsgefängnis der DDR-Staatssicherheit (MfS) mitten im Zentrum der Stadt. Auf dem Hof der weitgehend originalgetreu erhaltenen Untersuchungshaftanstalt des MfS ist seit einigen Jahren eine Plastik von Wieland Förster aufgestellt. Das Jan Bouman Haus präsentiert die Geschichte und Architektur des Holländischen Viertels. Am Park Sanssouci befindet sich das Mühlenmuseum in der Historischen Mühle, mit mühlenkundlicher Ausstellung und praktischer Darstellung des Mahlvorgangs. Die Gedenk- und Begegnungsstätte im ehemaligen KGB-Gefängnis Potsdam dokumentiert die Geschichte des KGB in der DDR.
Das 2017 im wiederaufgebauten Palast Barberini eröffnete Museum Barberini präsentiert ausgehend von der Kunstsammlung der Hasso-Plattner-Förderstiftung wechselnde Ausstellungen mit Leihgaben aus internationalen Museen und Privatsammlungen. Das ebenfalls von der Hasso-Plattner-Stiftung betriebene Kunsthaus Das Minsk präsentiert Kunst aus der DDR und Künstler der Gegenwart.
Das Potsdam Museum – Forum für Kunst und Geschichte am Alten Markt bietet eine Dauerausstellung zur Stadtgeschichte sowie Sonderausstellungen. Es befindet sich im Alten Rathaus, das durch ein modernes Gebäude mit dem Knobelsdorffhaus verbunden ist. Die Nowaweser Weberstube im Weberviertel zeigt die wechselhafte Geschichte der Weberkolonie Nowawes im heutigen Stadtteil Babelsberg.
Das Naturkundemuseum Potsdam hat mehr als 220.000 Objekte zur Tierwelt Brandenburgs zusammengetragen. Das Museum ist im ehemaligen Ständehaus der Zauche untergebracht. Es wurde 1770 nach Plänen von Georg Christian Unger erbaut und gehört zu einem Ensemble mit dem Großen Militärwaisenhaus in der Innenstadt.
Im Museum FLUXUS+ in der Schiffbauergasse, einem Museum für moderne Kunst, sind unter anderem Werke von Wolf Vostell, Emmett Williams, Christo, Niki de Saint Phalle zu sehen. Auf dem rbb-Gelände in Babelsberg befindet sich ein Standort des Deutschen Rundfunkarchivs (DRA).
Kai Desinger öffnete im April 2012 mit der Garage du Pont eine Mischung aus Restaurant und Automuseum. In den Räumen einer ehemaligen Tankstelle sind einige alte Autos ausgestellt, wobei der Schwerpunkt bei französischen Klassikern liegt. Ende 2019 wurde der Betrieb vorübergehend eingestellt. Im Juni 2020 wurde über die Wiedereröffnung berichtet.
Theater und Musik
Seit 2006 ist das Hans-Otto-Theater in der Schiffbauergasse mit seiner neuen Hauptspielstätte beheimatet. Das Ensemble spielt aber auch im historischen Rokokotheater im Neuen Palais, welches zu den schönsten erhaltenen Theaterräumen des 18. Jahrhunderts zählt. Es nimmt die beiden oberen Stockwerke des Südflügels ein.
Es gibt mehrere Orchester in Potsdam: die Kammerakademie Potsdam (bestehend aus dem Ensemble Oriol und dem Persius-Ensemble), das Collegium musicum Potsdam, das Neue Kammerorchester Potsdam (als ein Ensemble der Musik an der Erlöserkirche), das Junge Orchester Potsdam und das Jugendsinfonieorchester. Das Deutsche Filmorchester Babelsberg ist das einzige professionelle Orchester für Filmmusik in Deutschland. Der Nikolaisaal wurde als Konzert- und Veranstaltungshaus 2000 neu eröffnet; die Kammerakademie Potsdam ist das Hausorchester des Nikolaisaals.
Der SG Fanfarenzug Potsdam e. V. ist ein Fanfarenorchester aus Brandenburg, das auf dem Gebiet der reinen Naturfanfarenmusik aufgrund seiner zahlreichen Auszeichnungen international bekannt wurde. Der Fanfarenzug zieht regelmäßig musizierend durch Potsdam.
Bekannte Bands aus Potsdam sind u. a. Ruffians, Subway to Sally oder Krogmann. Musikalische Festivals und Partys, finden im Lindenpark und im Bahnhof Potsdam Pirschheide statt. Daneben haben sich diverse Clubs und Tanzbars etabliert.
Potsdamlied
Das Potsdamlied wurde im April 2004 beim Sender PotsdamTV und im RBB in der Sendung Sonntagsvergnügen mit Ekkehard Göpelt uraufgeführt. Gesungen hat es Holger Hillmann, die Melodie stammt von Christoph Wirsching, verfasst wurde es von Jens Erdmann. Lob und Anerkennung gab es von Bürgermeister Jann Jakobs und dem Ministerpräsidenten Matthias Platzeck. Auch der in Potsdam geborene Modedesigner Wolfgang Joop äußerte sich positiv über das Lied für seine Geburtsstadt.
Szene und Gastronomie
Seit den 1990er Jahren entwickelte sich das Gebiet um die Schiffbauergasse in der Berliner Vorstadt, auf dem John B. Humphreys im 19. Jahrhundert Raddampfer baute, zum populären Kulturzentrum in Potsdam. Vor Kultureinrichtungen wie die fabrik Potsdam, das T-Werk, der Kunstraum Potsdam, die Schinkelhalle und das Waschhaus liegt dort das Theaterschiff Potsdam, wo sich der Tiefe See wieder zur Havel verengt.
In der Innenstadt Potsdams befinden sich außerdem seit 2019 zwei Restaurants, die mit je einem Stern im Guide Michelin geführt werden.
Sport und Freizeit
Der Olympiastützpunkt Potsdam ist eine sportart- und länderübergreifende Beratungs- und Betreuungseinrichtung für den Spitzen- und Nachwuchsleistungssport in Verbindung mit der Sportschule „Friedrich Ludwig Jahn“. Die Schule trägt den offiziellen Titel Eliteschule des Sports, der ihr 2006 vom Deutschen Olympischen Sportbund verliehen wurde. Die Schule und der Olympiastützpunkt liegen am Ufer des Templiner Sees, neben der Potsdamer Ruder-Gesellschaft und dem Brandenburgischen Schwimmzentrum, das seit 2017 auch Bundesstützpunkt Schwimmen des Deutschen Olympischen Sportbunds ist.
2021 hatte sich die Stadt als Host Town für die Gestaltung eines viertägigen Programms für eine internationale Delegation der Special Olympics World Summer Games 2023 in Berlin beworben. 2022 war die Stadt als Gastgeber für Special Olympics Australien ausgewählt worden. Damit wurde Potsdam Teil des größten kommunalen Inklusionsprojekts in der Geschichte der Bundesrepublik mit mehr als 200 Host Towns.
In Potsdam sind rund 130 Sportvereine mit insgesamt fast 20.000 Mitgliedern ansässig. Der SC Potsdam ist der mitgliederreichste Verein in der Stadt und im Land Brandenburg. Der 1. FFC Turbine Potsdam gehört zu den erfolgreichsten Vereinen im deutschen Damen-Bundesliga. Während seiner Erstligazeit wurde der Verein in den Jahren 2004 bis 2012 sechsmal Deutscher Meister und konnte dreimal den DFB-Pokal gewinnen. Im Jahr 2005 konnte der UEFA Women’s Cup gewonnen werden und 2010 wurde der 1. FFC Turbine erster Gewinner der neu eingeführten UEFA Women’s Champions League. Die Herren-Mannschaft des SV Babelsberg 03 beziehungsweise die BSG Motor Babelsberg spielte sowohl in der DDR-Liga und 2. Bundesliga, der jeweils zweithöchsten Spielklasse. Seit der Saison 2018/19 spielt der Verein in der Regionalliga.
Der Kanu-Club Potsdam zählt zu den erfolgreichsten Kanurennsportvereinen der Welt und hat bereits zahlreiche Olympiasieger und Weltmeister hervorgebracht. Im Volleyball spielt der SC Potsdam in der ersten Bundesliga der Frauen, der Handballverein 1. VfL Potsdam in der dritten Liga. Die Wasserballer des OSC Potsdam spielen in der Deutschen Wasserball-Liga, der 1. Bundesliga. Der USV Potsdam war mehrere Spielzeiten in der 1. Rugby-Bundesliga vertreten.
Die Potsdam Royals sind eine American-Football-Mannschaft, die seit 2018 in der höchsten deutschen Liga spielt. Im Judo kämpft der UJKC Potsdam bei den Herren in der 1. Bundesliga. Die Damen wurden 2005, 2007 und 2008 Deutsche Mannschaftsmeister.
Die Gewichtheber des AC Potsdam treten ab der Saison 2022/23 erneut in der 1. Bundesliga an. Im Triathlon ist Triathlon Potsdam sowohl bei den Herren als auch bei den Damen mit je einem Team in der 1. Bundesliga vertreten.
Jährlich im April wird in Potsdam auf einem Rundkurs mit Start und Ziel auf der Glienicker Brücke einer der wenigen Drittelmarathon-Läufe in Deutschland ausgetragen.
Die bedeutendsten Sportstätten in der Stadt sind das Karl-Liebknecht-Stadion mit einer Zuschauerkapazität von 10.787 Plätzen, Heimspielstätte des SV Babelsberg 03 und des 1. FFC Turbine Potsdam, das Stadion am Luftschiffhafen, die MBS Arena Potsdam und die Schwimmhalle im Blu-Bad.
Seit 2008 gibt es auf dem Telegrafenberg mit dem Abenteuerpark Potsdam den größten Kletterwald Brandenburgs. Auf sieben Parcours mit 115 Elementen, darunter einer 200 Meter langen Seilrutsche, können sich Kletterer bis zu zwölf Metern hoch hinaus wagen.
Veranstaltungen
Die alljährliche Potsdamer Schlössernacht findet in den verschiedenen Schlössern und Parks statt. Sie öffnet zur abendlichen Stunde ihre Tore und bietet Einblicke in die Räumlichkeiten. Hunderte Künstler treten zu der Veranstaltung in den Parkanlagen auf.
Außerdem werden jährlich das Internationale Filmfest Potsdam sowie die Sehsüchte, das größte internationale Studentenfilmfestival Europas, abgehalten. Im Holländischen Viertel finden jahreszeitlich der Weihnachtsmarkt Sinterklaas und das Tulpenfest nach niederländischem Brauch statt. Darüber hinaus haben sich zahlreiche weitere Veranstaltungen, wie die im Mai stattfindenden Potsdamer Tanztage, das Literaturfest LIT:potsdam oder das Theaterfestival UNIDRAM, etablieren können.
Das M100 Sanssouci Colloquium ist ein jährliches internationales Medientreffen in den Schlössern und Gärten der Stadt. Der Prix Europa ist eines der größten trimedialen Festivals in Europa und ein Wettbewerb für Fernseh-, Hörfunk- und Online-Produktionen. Seit 2018 findet die Preisverleihung in Potsdam statt.
Persönlichkeiten
Baumeister und Landschaftskünstler
Georg Wenzeslaus von Knobelsdorff war als Baumeister beeinflusst durch den französischen Barock-Klassizismus. Mit seinen Bauten schuf er die Grundlage für das friderizianische Rokoko. Er gestaltete unter anderem das Schloss Sanssouci und das Stadtschloss. Karl Friedrich Schinkel zählt zu den herausragenden Architekten der klassizistischen Architektur des 19. Jahrhunderts. Sein erster realisierter Entwurf ist der Pomonatempel auf dem Pfingstberg. Seine bedeutendsten Werke in Potsdam sind das Schloss Charlottenhof und die Nikolaikirche. Mit dem Schloss Babelsberg entwarf er ein Gebäude im Stil der englischen Neogotik. Ludwig Persius war ein Schüler und enger Mitarbeiter Schinkels und Vertreter der Schinkelschule. Charakteristisch sind seine einfache Formensprache und Elemente der Neugotik. Zu seinen Bauwerken zählen die Heilandskirche am Port von Sacrow, die Friedenskirche und das Dampfmaschinenhaus im Park Babelsberg. Sein wohl außergewöhnlichstes Gebäude ist das Dampfmaschinenhaus im Stil einer maurischen Moschee. Jan Bouman war ein niederländischer Zuwanderer. Er leitete unter anderem den Bau des Holländischen Viertels, des Alten Rathauses, der Friedrichskirche in Babelsberg und zahlreicher Bürgerhäuser. Boumann war maßgeblich am Umbau des Potsdamer Stadtschlosses beteiligt.
Der Garten- und Landschaftskünstler Peter Joseph Lenné prägte fast ein halbes Jahrhundert die Gartenkunst in Preußen. Er gestaltete weiträumige Parkanlagen nach dem Vorbild englischer Landschaftsgärten mit vielfältigen Sichtachsen und wirkte in der Stadtplanung, indem er Grünanlagen für die Naherholung der Bevölkerung schuf. Lenné war seit 1863 Ehrenbürger der Stadt und starb 1866 in Potsdam. Fürst Hermann von Pückler-Muskau machte sich in Potsdam um die Vollendung des Parks Babelsberg verdient, dessen Gestaltung Peter Joseph Lenné begonnen hatte. Karl Foerster war ein deutscher Gärtner, Staudenzüchter und Garten-Schriftsteller. Sein Name ist verbunden mit dem Karl-Foerster-Garten in Potsdam-Bornim und dem auf seine Anregung hin nach Entwürfen seines Mitarbeiters Hermann Mattern angelegten Sicht- und Schaugarten auf der Freundschaftsinsel. Mit der Entstehung und Erhaltung der Potsdamer Gartenlandschaft beschäftigten sich zahlreiche Gartendirektoren und Hofgärtner, wie die Gartendirektoren Johann Gottlob Schulze und Ferdinand Jühlke und die Hofgärtnerfamilien Sello, Nietner und Fintelmann. Hans Kölle leitete von 1907 bis 1945 die öffentlichen Grünanlagen der Stadt, von denen er viele anlegte.
Mit Potsdam verbunden
Zu den bekannten Persönlichkeiten, die in Potsdam geboren sind, gehören u. a. Wilhelm von Humboldt, Hermann von Helmholtz, Ernst Haeckel und Peter Weiss. Der Modedesigner Wolfgang Joop, der frühere brandenburgische Ministerpräsident Matthias Platzeck, Entertainer Bürger Lars Dietrich, der mehrfache Bob-Olympiasieger Kevin Kuske und die Moderatorin Enie van de Meiklokjes zählen zu den bekannten lebenden Söhnen und Töchtern der Stadt.
Potsdam ist Wohn- und Arbeitsort weiterer Prominenter, von denen sich einige privat für die Stadt engagieren. Dazu zählen u. a. der Fernsehmoderator Günther Jauch, der Manager Mathias Döpfner, das Model Franziska Knuppe, die Eiskunstlauf-Olympiasiegerin Katarina Witt, Georg Friedrich Prinz von Preußen, die Schauspielerin Nadja Uhl und der Dirigent Christian Thielemann (Stand: 2019).
Zu den Ehrenbürgern der Stadt Potsdam gehören der Naturforscher Alexander von Humboldt (1849), der Landschaftsarchitekt Peter Joseph Lenné (1863), der Gärtner Karl Foerster (1959), der Dichter Hans Marchwitza (1960) und Hasso Plattner (2017).
Zitate
Weitere Zitate zu Potsdam
Literatur
Allgemeines
Im friderizianischen Potsdam, sechzehn Steinzeichnungen von Konrad Elert, mit einem Einführungstext von Otto Ernst Hesse, Furche-Verlag, Berlin 1920.
Gustaf von Dickhuth-Harrach: Potsdam. Mit 48 Federzeichnungen und einem farbigen Umschlagbild von Otto H. Engel sowie 12 Tafeln. Velhagen & Klasing, Bielefeld/Leipzig 1925.
Manfred Hamm, Hans-Joachim Giersberg: Potsdam. Die Stadt, die Schlösser und die Gärten. Berlin 1993, ISBN 3-87584-429-7.
Geschichte
Nicola Hensel: Potsdam - Siedlungsentwicklung einer brandenburgischen Stadt vom 12.-15. Jh. auf Grundlage archäologischer und interdisziplinärer Untersuchungen, Diss., FU Berlin 2019.
Elke Fein et al.: Von Potsdam nach Workuta – Das NKGB/MGB/KGB-Gefängnis Potsdam-Neuer-Garten im Spiegel der Erinnerung deutscher und russischer Häftlinge. Potsdam 2002, ISBN 3-932502-19-1.
Peter-Michael Hahn: Geschichte Potsdams. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Beck Verlag, München 2003, ISBN 3-406-50351-9.
Erich Konter, Harald Bodenschatz: Potsdam: Von der Residenz zur Landeshauptstadt. Berlin 2011, ISBN 978-3-86922-116-8.
Bernhard R. Kroener (Hrsg.): Potsdam – Staat, Armee, Residenz in der preußisch-deutschen Militärgeschichte. Im Auftrag des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes hrsg. von Bernhard R. Kroener unter Mitarbeit von Heiger Ostertag. Propyläen, Frankfurt am Main / Berlin 1993, ISBN 3-549-05328-2.
Joachim Nölte: Potsdam. Wie es wurde, was es ist. Die Geschichte der Stadt in 10 Kapiteln. terra press Verlag, Berlin 2018, ISBN 978-3-942917-35-3.
Mehrere Autoren: Potsdamer Ge(h)schichte. 6 Bde. Edition Q, Be.Bra-Verlag, Berlin 2005–2007.
Stadtbilder
Im friderizianischen Potsdam. Sechzehn Steinzeichnungen von Konrad Elert, mit einem Einführungstext von Otto Ernst Hesse, Furche Verlag, Berlin 1920.
Ulrike Bröcker: Die Potsdamer Vorstädte 1861–1900. von der Turmvilla zum Mietwohnhaus (= Forschungen und Beiträge zur Denkmalpflege im Land Brandenburg. 6). Wernersche Verlagsgesellschaft, Worms 2004, ISBN 3-88462-208-0.
Horst Drescher, Renate Kroll: Potsdam – Ansichten aus drei Jahrhunderten. Hermann Böhlaus Nachfolger, Weimar 1981.
Mandy Kasek (Hrsg.): Luftbildatlas Potsdam. DOM publishers, Berlin 2011, ISBN 978-3-86922-140-3.
Otto Zieler: Potsdam – ein Stadtbild des 18. Jahrhunderts. Verlag Weise & Co., Berlin 1913.
Stadt- und Architekturführer
Ingrid Bartmann-Kompa, Aribert Kutschmar u. a.: Architekturführer DDR. Bezirk Potsdam. Berlin 1981.
Uta Keil: Architekturführer Potsdam. Berlin 2015, ISBN 978-3-86922-185-4.
Joachim Nölte: Potsdam. Der illustrierte Stadtführer. Edition Terra, 7. Aufl. Berlin 2019, ISBN 978-3-9810147-6-1.
Paul Sigel, Silke Dähmlow, Frank Seehausen, Lucas Elmenhorst: Architekturführer Potsdam. Architectural Guide to Potsdam. Dietrich Reimer Verlag, Berlin 2006, ISBN 3-496-01325-7.
Heimatkunde
Einzelaspekte
Christine Anlauff: Die schönsten Sagen und Legenden aus Potsdam. be.bra verlag, Berlin 2014, ISBN 978-3-86124-684-8.
Weblinks
Offizielle Webpräsenz der Landeshauptstadt Potsdam
Potsdam-ABC, Portal für Potsdam
Einzelnachweise
Gemeinde in Brandenburg
Kreisfreie Stadt in Brandenburg
Deutsche Landeshauptstadt
Deutsche Universitätsstadt
Masterplan-Kommune
Ehemalige Kreisstadt in Brandenburg
Ort an der Havel
Deutscher Ortsname slawischer Herkunft
Ersterwähnung 993
Stadt als Namensgeber für einen Asteroiden
Weinort in Brandenburg
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Q1711
| 294.641376 |
116229
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https://de.wikipedia.org/wiki/Aronstabgew%C3%A4chse
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Aronstabgewächse
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Die Aronstabgewächse (Araceae) sind eine Pflanzenfamilie innerhalb der Einkeimblättrigen Pflanzen (Monokotyledonen). Zur Familie gehören 115 bis 129 Gattungen mit je nach Definition 3270, 3305 oder 4025 Arten. Ihr Verbreitungsgebiet umfasst fast die ganze Erde, die meisten Arten kommen jedoch in den Tropen vor.
Beschreibung
Bei den Lemnoideae weichen die Merkmale oft stark von den übrigen Araceae ab.
Erscheinungsbild und Blätter
Die Arten der Aronstabgewächse sind immergrüne oder saisongrüne, meist ausdauernde krautige Pflanzen, und können von winzig klein (Lemnoideae) bis meterhoch (Titanenwurz) sein. Es gibt ein breites Spektrum an Lebensformen: neben vielen terrestrischen Arten gibt es Epiphyten, Lithophyten oder Kletterpflanzen, viele Arten sind Geophyten; die Lemnoideae sind auf oder unter der Wasseroberfläche schwimmende Pflanzen. Einigen Arten der Lemnoideae fehlen Wurzeln. Viele Arten bilden Luftwurzeln oder als unterirdische Überdauerungsorgane Rhizome oder Knollen. Manchmal werden Bulbillen, beispielsweise an den Blättern zur vegetativen Vermehrung gebildet. Viele Arten bilden oberirdische, selbstständig aufrechte, kletternde bis kriechende Stängel, die oft grün sind. Bei manchen Taxa sind die Stängel bewehrt (beispielsweise Montrichardia). Oft stehen unter jedem Laubblatt Prophylle und/oder Cataphylle.
Die wechselständig, nur grundständig oder am Stängel verteilt angeordneten Laubblätter besitzen bei den meisten Arten einen Blattstiel mit einer Blattscheide an der Basis. Die sehr unterschiedlich geformten Blattspreiten können ungeteilt oder auf unterschiedliche Weise geteilt sein. Oft ist die Spreitenbasis herz- oder pfeilförmig; manchmal ist das Blatt schildförmig (peltat).
Blütenstände und Blüten
Unterhalb der Blütenstände stehen häutige Prophylle und/oder Cataphylle. Oft ist ein blattloser Blütenstandsschaft vorhanden. Die meisten Araceae besitzen einen für diese Familie typischen Blütenstand mit einem unverzweigten Kolben, Spadix genannt, der meist viele Blüten enthält und einem einzelnen Hochblatt, Spatha genannt, das den Kolben mehr oder weniger stark umhüllt. Die Spatha besitzt meist eine röhrenförmige Basis, deren Ränder verwachsen sein können und eine haltbare bis mehr oder weniger schnell vergängliche Hochblattspreite besitzen.
Die Blüten sind häufig klein und unscheinbar. Bei den ursprünglichen Taxa sind die Blüten zwittrig. Oft sind die Blüten eingeschlechtig, zuweilen sind dann die Blütenteile stark reduziert. Wenn die Blüten eingeschlechtig sind, dann sind die Arten meist einhäusig (monözisch), selten zweihäusig (diözisch) getrenntgeschlechtig. Bei einhäusig getrenntgeschlechtigen Arten befinden sich am Spadix an der Basis ein steriler Abschnitt, im unteren Bereich die weiblichen Blüten und im oberen Bereich die männlichen; manchmal kommen auch sterile Blüten vor.
Die Blüten sind zwei- oder dreizählig. In zwittrigen Blüten befinden sich sechs, vier oder keine meist freie Blütenhüllblätter. Meist sind vier bis sechs, selten bis zu 22 Staubblätter und ein Fruchtknoten vorhanden. Ihre Staubfäden sind frei und die Staubbeutel besitzen zwei Theken. Drei Fruchtblätter sind zu einem meist dreikammerigen oder manchmal einkammerigen Fruchtknoten verwachsen.
Eingeschlechtigen Blüten fehlen fast immer Blütenhüllblätter, nur drei afrikanische Gattungen, darunter Zamioculcas, besitzen welche. Männliche Blüten haben meist zwei bis vier (ein bis sechs) freie Staubblätter oder zwei bis zwölf (selten bis zu 32) zu einem „Synandrium“ verwachsene Staubblätter, dabei sind kaum Staubfäden erkennbar, die Staubbeutel sind also fast sitzend. Sie öffnen sich an ihre Spitze mit Poren oder geraden bis hufeisenförmigen Schlitzen. Die Pollenkörner besitzen bei den meisten Gattungen keine Aperturen und kein Sporopollenin; die Exine hat sehr unterschiedliche Musterungen. In den weiblichen Blüten sind manchmal Staminodien vorhanden. Bei den weiblichen Blüten sind die Fruchtblätter zu einem meist einkammerigen, manchmal drei- bis vierkammerigen, meist oberständigen Fruchtknoten verwachsen. In jeder Fruchtknotenkammer sind ein bis viele Samenanlagen vorhanden. Der meist kaum erkennbare Griffel endet in einer während der Anthese feuchten Narbe, die manchmal deutlich gelappt ist.
Bei den Lemnoideae ist der Blütenstand (der nur selten zu finden ist) auf ein bis zwei Blüten reduziert und die eingeschlechtigen Blüten enthalten nur ein bis zwei Staubblätter oder nur ein Fruchtblatt mit ein bis sieben Samenanlagen.
Fruchtstände, Früchte und Samen
Sie bilden ein- bis vielsamige Beeren. Die Beeren stehen meist einzeln in den Fruchtständen oder selten bilden sie eine Sammelfrucht bei den Cryptocoryne oder bei Syngonium. Die Beeren bleiben meist geschlossen oder bei den Monstereae ohne Amydrium platzen sie auf. Die Beeren bleiben grün oder färben sich bei Reife meist rot, weiß oder gelb, selten blau. Die Beeren sind manchmal saftig. Endosperm ist reichlich vorhanden bis fehlend.
Blütenökologische Besonderheiten an Beispielen einzelner Arten
Im Frühjahr kann man die Pfeilblätter des Gefleckten Aronstabes (Arum maculatum) im Laubwald entdecken. Der bräunliche Kolben (Spadix) verströmt einen muffigen, urinartigen Geruch, den manche Insekten unwiderstehlich finden. Reusenhaare an der Einschnürung im unteren Drittel verhindern ein vorzeitiges Entkommen der Insekten. Erst nachdem ausreichend Pollen von den männlichen auf die weibliche Aronstabblüten gelangt sind, öffnet sich das Gefängnis wieder. Einen ähnlichen Bestäubungsmechanismus besitzt die Eidechsenwurz (Typhonium venosum).
Andere Aronstabgewächse wie bei den Gattungen Flamingoblumen (Anthurium), Spathiphyllum oder auch Zantedeschia scheinen für Insekten durch die Farbe ihres Hochblatts und ihren Duft besonders für männliche Bienen attraktiv zu sein.
Zu den Aronstabgewächsen zählt auch die Pflanzenart mit dem „größten Blütenstand“, eigentlich der „größten Blume“, (der größte Blütenstand ist der von Puya raimondii) der Welt, die aus Sumatra stammende Titanenwurz (Amorphophallus titanum). Dieser Blütenstand stinkt unangenehm nach Aas, wovon Aaskäfer stark angezogen werden.
Als Besonderheit haben die Araceae mit ihrer alternativen Atmungskette eine Möglichkeit entwickelt, Wärme im Spadix zu produzieren. Diese Wärmeentwicklung nutzt zum Beispiel die Art Arum maculatum, um die Blütendüfte (Aasgeruch) besser zu verflüchtigen und damit Insekten anzulocken. Andere Arten wie Symplocarpus foetidus hingegen bewahren durch die in den Mitochondrien des zentralen Blütenstiels generierte Wärme ihre Blütenstände vor Frost- und Kälteschäden: selbst bei Umgebungstemperaturen unterhalb des Gefrierpunkts vermag die Pflanze ihre innere Temperatur konstant bei 20°C zu halten.
Systematik und Verbreitung
Botanische Geschichte und Taxonomie
Die Familie Araceae wurde 1789 durch Antoine Laurent de Jussieu in Familles des Plantes aufgestellt. Heinrich Wilhelm Schott veröffentlichte 1858 in Genera Aroidearum und 1860 in Prodromus Systematis Aroidearum die erste Klassifizierung der Araceae mit einem engen Gattungskonzept basierend auf Blütenmerkmalen. Eine deutlich abweichende Klassifizierung der Araceae wurde durch Adolf Engler – ab 1876 mit Überarbeitungen bis 1920 – basierend auf vegetativen und anatomischen Merkmalen erstellt. Diese beiden Systeme konkurrierten miteinander, bis in der letzten Dekade des 20. Jahrhunderts molekularbiologische Untersuchungen zusätzliche Daten lieferten.
Synonyme für Araceae sind Arisaraceae , Caladiaceae , Callaceae , Cryptocorynaceae , Dracontiaceae , Lemnaceae , Orontiaceae , Pistiaceae , Pothaceae und Wolffiaceae
Überblick der Verbreitung
Die Familie Araceae ist fast weltweit verbreitet. Die meisten Arten gedeihen in den Tropen. Von den 2012 akzeptierten 3305 Arten in der Familie Araceae sind etwa 1889 in der Neotropis verbreitet, in Asien kommen etwa 1105 Arten vor, 152 Arten kommen in Afrika vor, in Australien sind 23 Arten beheimatet, im Mittelmeerraum sind 78 Arten verbreitet, 20 Arten kommen nur auf den Maskarenen vor und in Nordamerika gibt es nur 7 Arten. Nur 2 Arten gedeihen in der borealen Zone und 29 Arten besitzen eine circumtropische Verbreitung. In Mitteleuropa kommen nur die Gattungen Aronstab (Arum), Drachenwurz (Calla), Zwergwasserlinsen (Wolffia), Teichlinsen (Spirodela) und Wasserlinsen (Lemna) natürlich vor; die Dreizählige Pinellie (Pinellia ternata) ist aus Botanischen Gärten verwildert.
Äußere Systematik
Traditionell wurde die Familie Araceae innerhalb der Einkeimblättrigen in eine eigene Ordnung Arales gestellt. Molekularbiologische Erkenntnisse (Gensequenzanalysen) zeigen, dass die Familie Araceae in die Ordnung der Froschlöffelartigen (Alismatales) gehört.
Innere Systematik
Zur Familie der Araceae gehören etwa 115 Gattungen mit zirka 4025 Arten. Die Verwandtschaftsbeziehungen und Biogeographie der Araceae sind inzwischen mit molekularen Sequenzdaten relativ gut untersucht. Von diesen wurden die Wasserlinsengewächse (Lemnaceae) bis vor kurzem als eigenständige Familie behandelt und werden jetzt als Unterfamilie Lemnoideae den Araceae zugeordnet, damit die Araceae monophyletisch sind. Die Familie Araceae wird in acht Unterfamilien eingeteilt.
Das Kladogramm der Familie der Araceae mit seinen heute acht Unterfamilien:
Hier werden die acht Unterfamilien mit ihren Triben und Gattungen aufgelistet:
Unterfamilie Aroideae : Sie enthält 26 Tribus mit 70 Gattungen und 2670 Arten:
Tribus Aglaonemateae : Sie enthält nur zwei Gattungen:
Aglaodorum : Sie enthält nur eine Art:
Aglaodorum griffithii (Syn.: Aglaonema griffithii , Aglaonema palustre ): Sie kommt im südlichen Vietnam, in Sumatra, auf der Malaiischen Halbinsel und in Sarawak vor.
Kolbenfaden (Aglaonema ): Die 21 bis 23 Arten sind im tropischen und subtropischen Asien vom nordöstlichen Indien bis Papua-Neuguinea verbreitet.
Tribus Ambrosineae : Sie enthält nur eine monotypische Gattung:
Ambrosina : Sie enthält nur eine Art:
Ambrosina bassii : Sie ist im Mittelmeerraum verbreitet und kommt in Europa in Italien, Sardinien, Sizilien und Korsika vor. In Nordafrika kommt sie in Algerien und Tunesien vor.
Tribus Anubiadeae : Sie enthält nur eine Gattung:
Speerblätter (Anubias ): Die acht bis neun Arten sind im tropischen Westafrika bis zum tropischen südlichen Afrika verbreitet.
Tribus Areae : Sie enthält sieben bis acht Gattungen:
Aronstab (Arum , Syn.: Gymnomesium ): Die Chromosomengrundzahl beträgt x = 13 oder 14. Die (früher 15) heute 29 bis zu 32 Arten sind von Makaronesien über den Mittelmeerraum (Zentrum der Artenvielfalt) und Europa bis Südwestasien und über Zentralasien bis ins westliche China verbreitet.
Biarum (Syn.: Homaid nom. rej.): Die Chromosomengrundzahl beträgt x = 13 oder 14. Die 15 bis 27 Arten sind im Mittelmeerraum und in Vorderasien bis zum Iran verbreitet, beispielsweise:
Biarum davisii : Sie kommt auf Kreta vor.
Schmalblättriges Biarum (Biarum tenuifolium )
Dracunculus (Syn.: Anarmodium ): Die Chromosomengrundzahl beträgt x = 13 oder 14. Sie enthält nur etwa zwei Arten:
Kanarische Drachenwurz (Dracunculus canariensis ): Sie kommt nur in Makaronesien auf Madeira und den Kanaren vor.
Gemeine Drachenwurz (Dracunculus vulgaris ): Sie kommt nur in Südeuropa, der Türkei und Algerien vor.
Eminium (Syn.: Helicophyllum ): Die neun bis zehn Arten sind vom östlichen Mittelmeerraum bis Zentralasien verbreitet.
Helicodiceros (Syn.: Megotigea nom. rej.): Sie enthält nur eine Art:
Helicodiceros muscivorus : Sie kommt nur auf Korsika, Sardinien und den Balearen vor.
Sauromatum : Die Chromosomengrundzahl beträgt x = 13 oder 14. Die etwa zwölf Arten sind im tropischen Africa, und tropischen bis subtropischen Asien bis ins nördliche China verbreitet.
Theriophonum (Syn.: Calyptrocoryne , Pauella ): Die etwa sieben Arten kommen in Indien und Sri Lanka vor. Die Chromosomengrundzahl beträgt x = 8.
Typhonium (Syn.: Jaimenostia , Lazarum ; bei manchen Autoren einschließlich der Gattung Sauromatum ): Die 50 bis 60 Arten (ohne Sauromatum) sind ursprünglich von Indien über die Mongolei bis Australien und Polynesien verbreitet. Im tropischen Afrika und auf karibischen Inseln sind wenige Arten Neophyten. Die Chromosomengrundzahl beträgt x = 4 oder 8, mit 2n = 8 bis 65. Der Umfang dieser Gattung wird kontrovers diskutiert. Hierher gehört die Art:
Eidechsenwurz (Typhonium venosum , Syn.: Sauromatum venosum ).
Tribus Arisaemateae : Sie enthält nur zwei Gattungen:
Arisaema (Syn.: Flagellarisaema , Heteroarisaema , Pleuriarum , Ringentiarum ): Die 170 bis 180 Arten kommen hauptsächlich im gemäßigten Asien, außerdem in weiteren Gebieten Asiens, vom östlichen Nordamerika bis Mexiko, in Nordafrika, und auf der Arabischen Halbinsel. In China gibt es etwa 78 Arten, etwa 45 davon nur dort.
Pinellien (Pinellia , Syn.: Atherurus nom. rej.): Die etwa neun (bis elf) Arten sind hauptsächlich im gemäßigten östlichen Asien (China, Japan, Korea) verbreitet. Das Zentrum der Artenvielfalt liegt in den chinesischen Provinzen Anhui, Fujian sowie Zhejiang. In China kommen alle neun Arten vor, sieben davon nur dort. Zwei Arten sind in Teilen Australiens, Europas und Nordamerikas Neophyten.
Tribus Arisareae : Sie enthält nur eine Gattung:
Arisarum (Syn.: Balmisa ): Die drei bis fünf Arten sind von Makaronesien über den Mittelmeerraum bis zum westlichen Transkaukasus verbreitet, beispielsweise:
Krummstab (Arisarum vulgare ): Sie ist mit drei Unterarten im gesamten Mittelmeerraum, auf den Azoren und Madeira verbreitet.
Tribus Arophyteae : Sie enthält nur drei Gattungen mit etwa elf Arten, die nur in Madagaskar vorkommen:
Arophyton (Syn.: Humbertina , Synandrogyne ): Die sieben bis neun Arten kommen in Madagaskar vor.
Carlephyton : Die etwa drei Arten kommen nur im nördlichen Madagaskar vor.
Colletogyne : Sie enthält nur eine Art:
Colletogyne perrieri : Sie kommt nur im nördlichen Madagaskar vor.
Tribus Caladieae : Sie enthält etwa sieben Gattungen hauptsächlich in der Neotropis:
Caladium (Syn: Phyllotaenium , Aphyllarum ): Die 12 bis 16 Arten sind in der Neotropis verbreitet.
Chlorospatha (Syn.: Caladiopsis ): Die 25 bis 29 Arten sind in der Neotropis verbreitet.
Hapaline (Syn.: Hapale nom. rej.): Die sechs bis neun Arten sind in Südostasien vom südlich-zentralen China bis ins westliche Malesien verbreitet.
Jasarum : Sie enthält nur eine Art:
Jasarum steyermarkii : Sie kommt im südlichen Guyana sowie in Venezuela nur im Bundesstaat Bolívar vor.
Scaphispatha : Sie war monotypisch und enthält seit 2005 zwei Arten in Südamerika:
Scaphispatha gracilis : Sie ist in Bolivien beheimatet.
Scaphispatha robusta : Sie wurde 2005 neu beschrieben und kommt in den brasilianischen Bundesstaaten Pará bis Goiás vor.
Syngonium (Syn.: Porphyrospatha ): Die etwa 35 Arten sind in der Neotropis verbreitet.
Xanthosoma (Syn.: Acontias ): Die 60 bis 77 Arten sind in der Neotropis verbreitet, darunter:
Tannia (Xanthosoma sagittifolium )
Tribus Callopsideae : Sie enthält nur eine Gattung:
Callopsis : Sie enthält nur eine Art:
Callopsis volkensii : Sie kommt im tropischen Ostafrika im südöstlichen Kenia und östlichen Tansania vor.
Tribus Colocasieae : Sie enthält etwa sechs Gattungen:
Pfeilblätter (Alocasia , Syn.: Colocasia sect. Alocasia , Ensolenanthe , Panzhuyuia , Schizocasia , Xenophya ): Die 70 bis 80 Arten sind im tropischen Asien und Malesien verbreitet.
Ariopsis : Die nur zwei Arten sind in Südostasien verbreitet.
Colocasia (Syn.: Leucocasia ): Die etwa 20 Arten sind im tropischen bis subtropischen Asien verbreitet. In China kommen sechs Arten vor.
Protarum : Sie enthält nur eine Art:
Protarum sechellarum : Sie ist auf den Seychellen beheimatet.
Remusatia (Syn.: Gonatanthus ): Die etwa vier Arten sind im südlichen Asien und Südostasien verbreitet, eine Art reicht auch bis Afrika, Madagaskar, Australien und den Pazifischen Inseln.
Steudnera : Die etwa neun Arten sind im tropischen und subtropischen Asien verbreitet.
Tribus Cryptocoryneae : Sie enthält nur zwei Gattungen:
Wasserkelche (Cryptocoryne , Syn.: Myrioblastus ): Die 50 bis 64 Arten sind im tropischen bis subtropischen Asien von Indien bis Malesien verbreitet.
Lagenandra : Die etwa 15 Arten sind auf dem indischen Subkontinent in Indien, Bangladesch und Sri Lanka verbreitet. Hier eine Auswahl:
Lagenandra jacobsenii : Sie kommt im südwestlichen Sri Lanka vor.
Lagenandra nairii : Sie kommt im südwestlichen Indien vor.
Lagenandra ovata : Sie kommt im südwestlichen Indien und im südwestlichen Sri Lanka vor.
Lagenandra praetermissa Sie kommt im südwestlichen Sri Lanka vor.
Tribus Culcasieae : Sie enthält nur zwei Gattungen:
Cercestis (Syn.: Rhektophyllum , Alocasiophyllum ): Die etwa zehn (bis zwölf) Arten sind vom tropischen Westafrika bis Uganda und Angola verbreitet.
Culcasia (Syn.: Denhamia ): Die 24 bis 28 Arten sind im tropischen Afrika verbreitet.
Tribus Dieffenbachieae : Sie enthält nur zwei Gattungen:
Bognera : Sie enthält nur eine Art:
Bognera recondita (Syn.: Ulearum reconditum ): Sie kommt nur im nördlichen brasilianischen Bundesstaat Amazonas vor.
Dieffenbachia (Syn.: Maguirea ): Die 50 bis 59 Arten sind in der Neotropis verbreitet.
Tribus Homalomeneae : Sie enthält nur zwei Gattungen:
Furtadoa : Die nur zwei Arten kommen in Sumatra und auf der Malaiischen Halbinsel vor.
Homalomena (Syn.: Adelonema , Chamaecladon , Diandriella ): Die 110 bis 132 Arten sind in der Neotropis und im tropischen bis subtropischen Asien und auf südwestlichen pazifischen Inseln verbreitet.
Tribus Montrichardieae : Sie enthält nur eine Gattung:
Montrichardia (Syn.: Pleurospa ): Die etwa zwei Arten sind in der Neotropis verbreitet.
Tribus Nephthytideae : Sie enthält drei Gattungen mit etwa 14 Arten hauptsächlich im tropischen Afrika:
Anchomanes : Die etwa sechs Arten sind im tropischen Afrika verbreitet.
Nephthytis (Syn.: Oligogynium ): Die etwa sechs Arten sind hauptsächlich im tropischen Westafrika verbreitet und eine Art auf Borneo beheimatet.
Pseudohydrosme (Syn.: Zyganthera ): Die etwa zwei Arten kommen in Gabun vor.
Tribus Peltandreae : Sie enthält nur zwei Gattungen mit nur drei Arten:
Peltandra : Die etwa zwei Arten sind in Nordamerika (östliches Kanada, zentrale sowie östliche USA) und in Kuba verbreitet:
Peltandra sagittifolia
Peltandra virginica ()
Typhonodorum (Syn.: Arodendron ): Sie enthält nur eine Art:
Typhonodorum lindleyanum (Syn.: Typhonodorum madagascariense , Arodendron engleri ): Sie kommt auf den ostafrikanischen Inseln Pemba sowie Sansibar, in Madagaskar, auf den Komoren und den Maskarenen vor.
Tribus Philodendreae : Sie enthält nur eine Gattung:
Baumfreund (Philodendron , Syn.: Calostigma nom. inval., Meconostigma , Sphincterostigma , Arosma , Telipodus , Thaumatophyllum , Elopium , Baursea ): Die etwa 500 Arten sind in der Neotropis verbreitet.
Tribus Philonotieae : Sie enthält nur eine Gattung:
Philonotion : Die etwa drei Arten sind im tropischen Südamerika verbreitet.
Tribus Pistieae : Sie enthält nur eine monotypische Gattung:
Pistia : Sie enthält nur eine Art:
Wassersalat (Pistia stratiotes ): Diese Wasserpflanze ist in den Tropen und Subtropen weitverbreitet.
Tribus Schismatoglottideae : Sie enthält etwa elf Gattungen mit etwa 150 Arten, die hauptsächlich auf Borneo (etwa 95 %) vorkommen:
Apoballis : Die etwa zwölf Arten sind von Indochina bis ins westlichen Malesien verbreitet.
Aridarum (Syn.: Heteroaridarum ): Die etwa zehn Arten sind im nordwestlichen Borneo beheimatet.
Bakoa : Sie wurde 2008 aufgestellt. Die nur drei Arten kommen in Borneo vor.
Bucephalandra (Syn.: Microcasia ): Die etwa zwei Arten kommen in Borneo vor.
Hestia : Sie wurde 2010 aufgestellt und enthält nur eine Art:
Hestia longifolia : Sie ist von Perak bis Borneo verbreitet.
Ooia : Sie wurde 2010 aufgestellt. Die nur zwei Arten kommen in Borneo vor.
Phymatarum : Sie enthält nur eine Art:
Phymatarum borneense : Sie ist in Borneo beheimatet.
Pichinia : Sie wurde 2010 aufgestellt und enthält nur eine Art:
Pichinia disticha : Sie kommt nur in Sarawak vor.
Piptospatha (Syn.: Gamogyne , Hottarum , Rhynchopyle ): Die etwa zwölf Arten sind in Malesien von Thailand bis Borneo verbreitet.
Schismatoglottis (Syn.: Apatemone ): Die 111 bis 120 Arten sind im tropischen bis subtropischen Asien von Myanmar über China bis Borneo und auf südwestlichen pazifischen Inseln (Neuguinea, Vanuatu) verbreitet. Die drei südamerikanischen Arten, die früher hier eingeordnet waren, sind seit 2010 in die Gattung Philonotion in die eigene Tribus Philonotieae ausgegliedert.
Schottariella : Sie wurde 2009 aufgestellt und enthält nur eine Art:
Schottariella mirifica : Sie kommt nur in Sarawak vor.
Tribus Spathicarpeae : Sie enthält seit 2012 etwa neun Gattungen in Südamerika:
Asterostigma (Syn.: Andromycia , Staurostigma , Rhopalostigma ): Die etwa acht Arten sind von Brasilien bis ins nordöstliche Argentinien weitverbreitet.
Gearum : Sie enthält nur eine Art:
Gearum brasiliense : Die Heimat sind die zentralbrasilianischen Provinzen Goiás, Mato Grosso und Tocantins.
Gorgonidium : Die etwa acht Arten sind von Peru und Bolivien bis ins nördliche Argentinien verbreitet.
Lorenzia : Sie wurde 2012 aufstellt und enthält nur eine Art:
Lorenzia umbrosa : Sie ist 2012 nur vom Typusfundort aus der Serra do Navio, 2 km nach Riozinho im brasilianischen Bundesstaat Amapá bekannt. Sie gedeiht im tiefen Schatten unter Bäumen.
Mangonia (Syn.: Felipponia , Felipponiella ): Die etwa zwei Arten sind vom südlichen Brasilien bis Uruguay verbreitet.
Spathantheum (Syn.: Gamochlamys ): Die etwa zwei Arten von Peru über Bolivien bis ins nördliche Argentinien verbreitet.
Spathicarpa (Syn.: Aropsis ): Die drei oder vier Arten sind im tropischen Südamerika verbreitet.
Synandrospadix (Syn.: Lilloa ): Sie enthält nur eine Art:
Synandrospadix vermitoxicus (Syn.: Asterostigma vermitoxicum ): Sie ist in Bolivien, Paraguay, im peruanischen Cuzco und im nördlichen Argentinien (Catamarca, Chaco, Córdoba, Corrientes, Formosa, Jujuy, Salta, Santiago del Estero, Tucumán) verbreitet.
Taccarum (Syn.: Lysistigma , Endera ): Die etwa sechs Arten sind vom tropischen Südamerika bis ins nördliche Argentinien verbreitet.
Tribus Stylochaetoneae : Sie enthält nur eine Gattung:
Stylochaeton (Syn.: Stylochiton orth. var., Gueinzia ): Die seit 2012 etwa 19 Arten sind vom tropischen bis ins südliche Afrika verbreitet.
Tribus Thomsonieae : Sie enthält nur noch eine Gattung in den Tropen weltweit:
Amorphophallus (Syn.: Thomsonia nom. rej., Pythion nom. rej., Candarum nom. illeg., Pythonium nom. illeg., Kunda , Brachyspatha , Conophallus , Plesmonium , Corynophallus , Allopythion , Hansalia , Hydrosme , Rhaphiophallus , Synantherias , Dunalia , Proteinophallus , Tapeinophallus , Pseudodracontium ): Sie besitzt eine paläotropische Verbreitung und die (150 bis) etwa 200 Arten kommen im West- bis Ostafrika, im südlichen sowie östlichen Asien, in Südostasien, im nördlichen Australien und auf Pazifischen Inseln vor.
Tribus Zamioculcadeae : Sie enthält nur zwei Gattungen:
Gonatopus (Syn.: Heterolobium , Microculcas ): Die etwa fünf Arten sind vom tropischen Ostafrika bis ins südliche Afrika verbreitet.
Zamioculcas : Sie enthält nur eine Art:
Zamioculcas zamiifolia : Sie ist in von Kenia sowie Tansania über Malawi, Mosambik sowie Simbabwe bis in die südafrikanische Provinz KwaZulu-Natal verbreitet.
Tribus Zantedeschieae : Sie enthält nur eine Gattung:
Zantedeschia (Syn.: Pseudohomalomena , Richardia ): Die etwa acht Arten sind hauptsächlich im südlichen Afrika verbreitet, nur eine Art kommt in Nigeria und Tansania vor.
Tribus Zomicarpeae : Sie enthält vier Gattungen mit nur etwa sechs Arten in Südamerika:
Filarum : Sie enthält nur eine Art:
Filarum manserichense : Sie kommt in Peru nur in Loreto vor.
Ulearum : Sie enthält nur eine Art:
Ulearum sagittatum : Sie kommt im westlichen Südamerika in Brasilien nur im Bundesstaat Acre und in Peru nur in Loreto vor.
Zomicarpa : Die seit 2012 nur zwei vorher drei Arten sind im nordöstlichen Brasilien verbreitet.
Zomicarpella : Die nur zwei Arten sind in Kolumbien, Peru und Brasilien verbreitet.
Unterfamilie Pothoideae : Sie enthält zwei Tribus mit vier Gattungen und etwa 1000 Arten:
Tribus Anthurieae : Sie enthält nur eine Gattung:
Flamingoblumen (Anthurium , Syn.: Podospadix , Strepsanthera ): Sie enthält vermutlich etwa 1000 Arten in der Neotropis.
Tribus Potheae : Sie enthält drei Gattungen mit fast 80 Arten in der Paläotropis:
Pedicellarum : Sie enthält nur eine Art:
Pedicellarum paiei : Sie ist in Borneo beheimatet.
Pothoidium Schott: Sie enthält nur eine Art:
Pothoidium lobbianum : Sie kommt im südlichen Taiwan, Celebes, Maluku sowie Sulawesi und auf den Philippinen vor.
Pothos (Syn.: Tapanava , Batis , Goniurus ): Die etwa 75 Arten sind im tropischen bis subtropischen Asien, Madagaskar, Australien und Polynesien verbreitet.
Unterfamilie Monsteroideae : Sie enthält vier Tribus mit etwa zwölf Gattungen und etwa 360 Arten:
Tribus Anadendreae : Sie enthält nur eine Gattung:
Anadendrum (Syn.: Nothopothos ) : Die etwa neun Arten sind im tropischen Asien von Indien bis Malaysia verbreitet.
Tribus Heteropsideae : Sie enthält nur eine Gattung:
Heteropsis : Die etwa 13 Arten im tropischen Südamerika verbreitet.
Tribus Monstereae : Sie enthält etwa acht Gattungen:
Alloschemone : Die nur zwei Arten kommen in Brasilien vor.
Amydrium (Syn.: Epipremnopsis ): Die etwa fünf Arten sind im tropischen Asien verbreitet.
Efeututen (Epipremnum ): Die etwa 20 Arten sind im tropischen Asien verbreitet.
Fensterblätter (Monstera ): Die etwa 37 Arten sind in der Neotropis verbreitet.
Rhaphidophora (Syn.: Afrorhaphidophora ): Die etwa 120 Arten sind vom tropischen Afrika über das tropische Asien unb Australien bis auf westpazifische Inseln verbreitet.
Rhodospatha (Syn.: Anepsias ): Die etwa 27 Arten sind in der Neotropis verbreitet.
Scindapsus (Syn.: Cuscuaria ): Die etwa 36 Arten sind vom tropischen bis subtropischen Asien über das nördliche Australien bis auf westpazifische Inseln verbreitet.
Stenospermation : Die etwa 48 Arten sind in der Neotropis verbreitet.
Tribus Spathiphylleae : Sie enthält nur zwei Gattungen:
Holochlamys : Sie enthält nur eine Art:
Holochlamys beccarii (Syn.: Holochlamys guineesis , Holochlamys ornata , Spathiphyllum beccarii ): Sie kommt in Irian Jaya sowie Papua-Neuguinea vor.
Spathiphyllum (Syn.: Hydnostachyon , Massowia , Spathiphyllopsis , Amomophyllum , Leucochlamys ): Die etwa 50 Arten sind in der Neotropis verbreitet und kommen in Malesien sowie auf den Salomonen vor.
Unterfamilie Calloideae : Sie enthält nur eine Tribus:
Tribus Calleae : Sie enthält nur eine monotypische Gattung:
Calla : Sie enthält nur eine Art:
Sumpf-Calla oder Drachenwurz (Calla palustris ): Sie kommt in den gemäßigten Zonen der Nordhalbkugel vor.
Unterfamilie Gymnostachydoideae :
Sie enthält nur eine monotypische Gattung:
Gymnostachys : Sie enthält nur eine Art:
Gymnostachys anceps : Sie ist im östlichen Australien in New South Wales sowie Queensland verbreitet.
Unterfamilie Orontioideae : Sie enthält nur eine Tribus:
Tribus Orontieae : Sie enthält nur drei Gattungen mit nur acht Arten in Asien und Nordamerika:
Scheinkalla (Lysichiton ): Von den nur zwei Arten kommt eine in Ostasien nur in Kamtschatka, Khabarovsk, auf den Kurilen, Magadan, Sachalin und auf den japanischen Inseln Hokkaidō sowie Honshu und eine Nordamerika von Alaska bis zu den westlichen USA vor.
Orontium : Sie enthält nur Art:
Orontium aquaticum : Sie ist in den östlichen USA und Texas verbreitet. Im südlichen Schweden ist sie ein Neophyt.
Symplocarpus : Von den etwa fünf Arten ist eine im östlichen Nordamerika verbreitet, zwei sind in Ostasien verbreitet, eine Art ist ein Endemit in der Region Primorje und eine Art ist ein Lokalendemit auf dem zentraljapanischen Berg Nabekura. Die amerikanische Art ist:
Symplocarpus foetidus
Unterfamilie Lasioideae : Sie enthält nur eine Tribus:
Tribus Lasieae : Sie enthält etwa zehn Gattungen mit etwa 58 Arten:
Anaphyllopsis : Die nur drei Arten sind in Südamerika von Venezuela über die Guyanas bis ins nördliche Brasilien verbreitet.
Anaphyllum : Die nur zwei Arten in kommen im südlichen Indien beispielsweise auf den Laccadive-Inseln und Tamil Nadu vor.
Cyrtosperma (Syn.: Arisacontis ): Die etwa zwölf Arten sind von Malesien bis Polynesien verbreitet, darunter:
Cyrtosperma merkusii : Sie kommt von Melanesien bis Polynesien, besonders auf Tuvalu vor.
Dracontioides : Sie enthält nur eine Art:
Dracontioides desciscens (Schott) Engl.: Sie ist in Brasilien verbreitet.
Dracontium (Syn.: Eutereia , Echidnium , Ophione , Chersydrium , Godwinia ): Die 24 bis 29 Arten sind in der Neotropis verbreitet.
Lasia (Syn.: Lasius ): Von den nur zwei Arten kommt eine nur in Kalimantan und die andere ist im tropischen bis subtropischen Asien verbreitet.
Lasimorpha : Sie enthält nur eine Art:
Lasimorpha senegalensis : Sie ist im tropischen Afrika verbreitet.
Podolasia : Sie enthält nur eine Art:
Podolasia stipitata : Sie ist im westlichen Malesien in Sumatra und Malaysia verbreitet.
Pycnospatha : Die nur zwei Arten sind in Südostasien in Thailand, Laos und Vietnam verbreitet.
Urospatha (Syn.: Urophyllum nom. illeg., Urospathella ): Die etwa elf Arten sind in der Neotropis verbreitet.
Unterfamilie Wasserlinsengewächse (Lemnoideae ): Sie enthält nur eine Tribus:
Tribus Lemneae : Sie enthält fünf Gattungen mit etwa 37 Arten:
Wasserlinsen (Lemna , Syn.: Lenticularia , Lenticula , Hydrophace , Telmatophace , Staurogeton , Thelmatophace , Lenticularia ): Die etwa 13 Arten sind fast weltweit verbreitet.
Teichlinsen (Spirodela ): Sie enthält nur zwei Arten:
Spirodela intermedia : Sie kommt von Costa Rica bis Brasilien und Chile vor.
Vielwurzelige Teichlinse (Spirodela polyrhiza ): Sie kommt weltweit vor.
Landoltia ). Sie enthält nur eine Art (bis 1999 zu Spirodela gestellt):
Landoltia punctata
Zwergwasserlinsen (Wolffia , Syn.: Horkelia , Grantia , Bruniera ): Die etwa elf Arten sind fast weltweit verbreitet.
Wolffiella (Syn.: Pseudowolffia , Wolffiopsis ): Die etwa zehn Arten sind in der Neuen Welt und in Afrika verbreitet.
Nutzung
Beliebte Zimmerpflanzen mit dekorativen Blättern oder Blütenständen stammen aus den Gattungen Fensterblätter (Monstera), Baumfreund (Philodendron), Dieffenbachien (Dieffenbachia), Flamingoblumen (Anthurium), Kalla (Zantedeschia), Syngonium und Einblatt (Spathiphyllum). Sorten einer Reihe von Arten der Aronstabgewächse spielen in der Floristik eine große Rolle, beispielsweise aus den Gattungen Flamingoblumen (Anthurium) und Kalla (Zantedeschia). Auch in der Aquaristik werden einige Arten der Aronstabgewächse verwendet, beispielsweise das Zwergspeerblatt (Anubias barteri var. nana) und eine Reihe von Wasserkelcharten (Cryptocoryne).
Eine wichtige Nahrungspflanze ist der Taro (Colocasia esculenta), dessen stärkehaltige Knollen genutzt werden.
Geschichte
Arum maculatum und Dracunculus vulgaris
Bei den Autoren der europäischen Antike (Dioskurides, Plinius und Galen) wurden Heilpflanzen mit den Namen arum und dracontium in engem Zusammenhang beschrieben. Diese Pflanzen wurden später als Arum maculatum - Aronstab und Dracunculus vulgaris - Gemeine Drachenwurz gedeutet.
Quellen
Antike – Spätantike: Dioskurides 1. Jh. --- Plinius 1. Jh. --- Galen 2. Jh. --- Pseudo-Apuleius 4. Jh. --- Pseudo-Dioscorides de herbis femininis. 6. Jh.
Arabisches Mittelalter: Avicenna 11. Jh. --- Konstantin 11. Jh. --- Circa instans 12. Jh. --- Pseudo-Serapion 13. Jh. --- Ibn al-Baitar 13. Jh.
Lateinisches Mittelalter: Pseudo-Macer 11. Jh. --- Deutscher Macer 13. Jh. --- Spuria Macri --- Hildegard von Bingen 12. Jh. --- Herbarius Moguntinus 1484 --- Gart der Gesundheit 1485 --- Hortus sanitatis 1491 --- Hieronymus Brunschwig 1500
Neuzeit: Otto Brunfels 1532 --- Otto Brunfels 1537 --- Hieronymus Bock 1539 --- Leonhart Fuchs 1543 --- Mattioli – Handsch – Camerarius 1586 --- Nicolas Lémery 1699/1721 --- Onomatologia medica completa 1755 --- William Cullen 1789/90 --- Hecker 1814/15 --- Philipp Lorenz Geiger 1830 --- Pereira – Buchheim 1848 - Wolfgang Schneider 1974
Historische Abbildungen
Quellen
Die Familie der Araceae bei der APWebsite. (Abschnitte Beschreibung und Systematik)
CATE Araceae - Informationen zur Familie des eMonocot Team Araceae. (Abschnitte Systematik und Verbreitung)
Anna Haigh: Datenblatt Neotropical Araceae In: W. Milliken, B. Klitgård, A. Baracat: Neotropikey - Interactive key and information resources for flowering plants of the Neotropics (ab 2009). (Abschnitte Beschreibung und Systematik)
Heng Li, Guanghua Zhu, Peter C. Boyce, Jin Murata, Wilbert L. A. Hetterscheid, Josef Bogner, Niels Jacobsen: Araceae. In: (im alten Umfang ohne Lemnaceae; Abschnitte Beschreibung, Verbreitung und Systematik).
Heng Li, Elias Landolt: Lemnaceae. In: (noch als eigene Familie; Abschnitte Beschreibung, Verbreitung und Systematik).
L. Nauheimer, D. Metzler, S. S. Renner: Global history of the ancient monocot family Araceae inferred with models accounting for past continental positions and previous ranges based on fossils. In: New Phytologist. Band 195, Nr. 4, 2012, S. 938–950, doi:10.1111/j.1469-8137.2012.04220.x.
Simon J. Mayo, Josef Bogner, Nathalie Cusimano: Recent Progress in the Phylogenetics and Classification of the Araceae. In: Paul Wilkin, Simon J. Mayo: Early Events in Monocot Evolution. Systematics Association Special Volume Series. Cambridge University Press, 2013, ISBN 978-1-107-01276-9, S. 208–242.
Website der Internationalen Aroid-Gesellschaft. (Abschnitte Beschreibung und Systematik).
Die Familie Araceae ohne Lemnaceae und die Familie der Lemnaceae bei DELTA von L. Watson & M. J. Dallwitz. (Abschnitte Beschreibung und Systematik).
P. C. Boyce, T. B. Croat: The Überlist of Araceae - Totals for Published and Estimated Number of Species in Aroid Genera - PDF-Datei vom 10. Januar 2012.
Einzelnachweise
Weblinks
Steckbrief von der Iowa State University.
Weiterführende Literatur
Takanori Ito, Kikukatsu Ito: Nonlinear dynamics of homeothermic temperature control in skunk cabbage, Symplocarpus foetidus. In: Physical Review E. Band 72, Nr. 5, 2005, doi:10.1103/PhysRevE.72.051909.
Richard C. Keating: Vegetative anatomical data and its relationship to a revised classification of the genera of Araceae. In: Annals of the Missouri Botanical Garden. Band 91, Nr. 3, 2004, S. 485–494, .
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Q48227
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https://de.wikipedia.org/wiki/Islamwissenschaft
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Islamwissenschaft
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Die Islamwissenschaft (veraltet: Islamistik, vereinzelt auch Islamkunde) ist die wissenschaftliche Erforschung der Religion des Islam und der vom Islam geprägten Kulturen und Gesellschaften in der Vergangenheit und Gegenwart.
Die Bezeichnung der Islamwissenschaftler als „Islamisten“ ist veraltet, seitdem sie zur Verwechslung mit dem politisch verstandenen Neologismus „Islamist“ führen kann.
Abgrenzung zur Islamischen Theologie
Von der Islamwissenschaft zu unterscheiden ist die Islamische Theologie, die in Deutschland auch unter dem Begriff Islamische Studien firmiert. Während Islamwissenschaftler unabhängig von ihrem eigenen religiösen Bekenntnis den Islam analytisch betrachten, gestalten gläubige Muslime in der Islamischen Theologie den aktuellen Islam aktiv mit, indem sie Theologie betreiben. Im Idealfall stützt sich die Islamische Theologie ganz auf die Wissenschaftlichkeit der Islamwissenschaft, doch in der Praxis ist das nicht der Fall: Zum einen gibt es religiöse Vorbehalte aus traditionellen Gründen, die Forschungsergebnisse der Wissenschaft zu übernehmen. Zum anderen kann die Islamwissenschaft auch Theorien entwickeln, die den Glauben selbst infrage stellen; mit diesen kann sich die Islamische Theologie ihrer Natur nach nur apologetisch befassen. Daneben gilt es zu bedenken, dass auch wissenschaftliche Diskurse die religiösen Debatten einfärben können und Standpunkte, die ursprünglich in einem akademischen Kontext entwickelt wurden, für die Theologie nutzbar gemacht und in religiöse Lehren eingespeist werden können.
Ferner zu unterscheiden ist der Begriff der „Islamkunde“, der in Deutschland primär für den sich etablierenden und derzeit kontrovers diskutierten islamischen Religionsunterricht an Schulen verwendet wird.
Geschichte der Islamwissenschaft
Die Entstehung der Islamwissenschaft als wissenschaftliches Fach ist im Zusammenhang mit der Emanzipation der Orientalistik aus der Theologie zu sehen. Das Resümee der Geschichte des Freiburger Orientalischen Seminars durch den inzwischen emeritierten Altorientalisten Horst Steible mag diese Entwicklung illustrieren:
Der Kompetenzbereich studierter Orientalisten umfasste demnach lange Zeit viele verschiedene Forschungsfelder, die sich heute zu eigenständigen Fächern entwickelt haben, was sich an vielen Universitäten auch strukturell niederschlägt: Werden an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg i. Breisgau beispielsweise noch die Fachbereiche Islamwissenschaft und Judaistik – in der Vergangenheit auch Sinologie, Indologie u. a. – unter dem Dach der Orientalistik zusammengefasst, überspannt in Heidelberg das Seminar für Sprachen und Kulturen des Vorderen Orients die Fächer Islamwissenschaft, Assyriologie und Semitistik, wohingegen die jüdischen Belange mit der Hochschule für Jüdische Studien vollständig verselbstständigt sind. Die übrigen Regionalwissenschaften, insbesondere Sinologie, Japanologie und Indologie, sind an beiden Universitäten nicht mehr mit der Islamwissenschaft assoziiert.
Solche und ähnliche Sachlagen führen jedoch in der Forschung bisweilen zur Unter- oder Nichtbesetzung von Forschungsbereichen: So existierten in Deutschland Ende 2019 nur dreizehn Professuren für Turkologie an zehn Standorten, denen 40 Professuren für Islamwissenschaft an 20 Standorten gegenüberstanden. Demnach verwaltet die Islamwissenschaft noch immer ein sehr großes Aufgabenfeld; die Bearbeitung von Forschungsfeldern wie der Erforschung des türkischen oder persischen Kulturraumes, die auch im Rahmen eigenständiger Institute geschehen könnte, fällt zu einem Großteil der Inneren Aufgliederung des Faches Islamwissenschaft und etwaigen Spezialisierungen der Forschenden zu. Gleichzeitig impliziert – zum Beispiel – die Trennung zwischen islamwissenschaftlichen und indologischen Instituten, dass letztere nicht mit dem Islam befasst seien bzw. sich nicht zu befassen hätten, während in Wirklichkeit eine enorme Zahl von Muslimen in Indien lebt.
Gegenstand der Forschung
Die Islamwissenschaft gründet sich unter anderen Fragestellungen auf der Auswertung islamischen arabischen Schrifttums (Koran, Hadith, Kommentare, Recht, Literatur). Aber auch nichtreligiöses Schrifttum aus der islamischen Welt wird untersucht. Die religiöse Tradition wird als ein wesentlicher Prägefaktor für Kultur und Gesellschaft angesehen und ist als solcher Gegenstand der Wissenschaft.
Das Studienfach Islamwissenschaft umfasst Religion, Literatur, Kultur, Geschichte und Gegenwart des islamisch geprägten Vorderen Orients und Südostasiens, in geringerem Umfang werden die islamischen Lebenswelten Afrikas und – vor allem in neuerer Zeit immer mehr – auch der westlichen Welt behandelt. Zur Ausbildung der Hauptfachstudenten gehört entweder der Erwerb umfassender Kenntnisse des Hocharabischen oder weiterer Sprachen aus einem islamisch geprägten Land wie des Persischen oder des Türkischen, unter Umständen auch des Urdu oder der Indonesischen. Grundkenntnisse der islamischen Theologien, des islamischen Rechts, der Geschichte und Gegenwart sowie klassische und moderne Ausdrucksformen der arabischen Literatur sind weitere zentrale Lernziele des Studiengangs.
Die Beschäftigungsaussichten der Absolventen sind gut: Seit den Terroranschlägen am 11. September 2001 suchen sowohl überregionale Zeitungen als auch Think Tanks und Geheimdienste Fachleute für Islamwissenschaft.
Abbas Poya und Marcus Reinkowski diagnostizieren allerdings gerade in diesem Zusammenhang für die Islamwissenschaft im Zusammenhang des „Unbehagens in den Geisteswissenschaften“ eine Reihe von Schicksalsfragen. So bemerken sie:
„Gerne behaupten die Vertreterinnen und Vertreter des Faches (vor allem gegenüber den Medien), dass es ,den Islam‘ nicht gibt. In der Verteidigung ihres Faches gegenüber anderen Disziplinen operieren sie aber meist mit der Auffassung eines Islams. In einem engeren Bereich, […], wird versucht, genau diesen Kern zu erfassen. Könnte es also die Aufgabe der Islamwissenschaft sein, jenseits falscher Essentialismen den ‚keimträchtigen Kern‘ der islamischen Kulturen zu erkennen?“
Islamwissenschaft stehe demnach vor dem Dilemma, keine Wissensproduktion über den Islam zu leisten, ohne dabei in hohem Maße normativ vorzugehen. Ferner, so prognostizieren sie, dürften in Zukunft „Benachbarte Fächer […] immer mehr in die Domänen der Islamwissenschaft eindringen.“ Insbesondere die „profunde Kenntnis einer oder mehrerer islamischer Sprachen“, die Islamwissenschaftler als wesentlichen Aspekt ihrer Expertise ansähen, sei hiervon betroffen. Werde doch angesichts „einer zunehmend globalisierten Studentenschaft (...) der Vorsprung der Islamwissenschaft, wenn er nur auf ihrer sprachlichen Kompetenz beruhen sollte, immer mehr schrumpfen.“ Benjamin Jokisch diagnostizierte, dass „die jüngsten Entwicklungen der Islamwissenschaft unter dem Aspekt der Globalisierung (darauf schließen ließen, dass) […], die Disziplin eher in einem Prozess der Auflösung oder Verschmelzung mit anderen, angrenzenden Disziplinen.“
An einigen Universitäten entstehen in jüngerer Vergangenheit auch Studiengänge, die eine Integration der Islamwissenschaft mit den Jüdischen Studien sowie teilweise auch den Sozialwissenschaften propagieren – so beispielsweise an in einer Kooperation der Universität Heidelberg mit der Hochschule für Jüdische Studien in Heidelberg seit dem Wintersemester 2019/20. Hintergrund solcher Studiengänge ist einerseits die Bestrebung, die Trennung der Beschäftigung mit dem Judentum und Israel auf der einen Seite und der Beschäftigung mit der restlichen Region des Nahen Ostens auf der anderen Seite zu überkommen. Andererseits sollen die sprachbasierten Disziplinen, Islamwissenschaft und Judaistik, mit den methodenbasierten Sozialwissenschaften zusammengebracht werden.
Siehe auch
Index Islamicus
Islamkundliche Untersuchungen
Arabistik
Iranistik
Orientalistik
Osmanistik
Turkologie
Literatur
Fachdefinitionen und Einführungen
Leon Wystrychowski: Zwischen Elfenbeinturm und Weltpolitik. Ein kritischer Blick auf die Geschichte der deutschen Islamwissenschaften. In: Jusur - Zeitschrift für Orientalistik, Islamwissenschaft, Arabistik. Heft 1, 2019, S. 8–14.
Bibliographie
Band 1. 1985, ISBN 3-88226-258-3.
Band 2. 1991, ISBN 3-88226-436-5.
Band 3. 1994, ISBN 3-88226-795-X.
J. D. Pearson & Julia F. Ashton: Index Islamicus 1906–1955. A catalogue of articles on Islamic subjects in periodicals and other collective publications. Cambridge 1958
Geschichte
Weblinks
geschkult.fu-berlin.de
, hier der Universität Mainz
Richard C. Martin, Heather J. Empey, Mohammed Arkoun, Andrew Rippin: Islamic Studies. In: The Oxford Encyclopedia of the Islamic World. (oxfordislamicstudies.com).
Sektion Islamwissenschaft der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft
Einzelnachweise
Religionswissenschaft
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Q843909
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https://de.wikipedia.org/wiki/Computerspielgenre
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Computerspielgenre
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Computerspiel- oder Videospiel-Genres sind Genres von Computerspielen, die sich in der Art der Interaktion und in den Spielmechanismen voneinander unterscheiden. Eine Einteilung in ein bestimmtes Genre ist bei vielen Spielen nur bedingt möglich, da oft Elemente verschiedener Genres gemischt werden. Das führt zu einer erweiterten Aufteilung (teilweise mit Unterkategorien, sogenannten Subgenres). Jedoch gibt es bisher nur eine grobe wissenschaftlich anerkannte Einteilung.
Theorie der Computerspiel-Genres
Stärker als in anderen Medien sind die Genres der Computerspiele durch die technischen Möglichkeiten bzw. Beschränkungen bestimmt. Da sich die Realität nicht eins zu eins in einem Computerspiel abbilden lässt, muss der zu realisierende Aspekt zunächst genau bestimmt werden und dann stark abstrahiert werden, denn es können nur die ganz speziellen Teilaspekte simuliert werden, die für den Spielwitz als elementar empfunden werden.
So wurde in den Anfängen der Computerspiele das Tennisspiel in dem Spiel Pong als zwei Balken (Schläger) realisiert, die in einem scheinbar leeren Raum ein kleines Quadrat (aufgrund der geringen Auflösung war kein Kreis möglich) reflektierten. Trotz der immensen Abstraktion war die Grundidee eines Tennisspiels bzw. allgemeinen Ballspiels klar ersichtlich.
Die fortschreitende Verbesserung der Hardware erlaubt jedoch, den Grad der Abstraktion immer weiter abzusenken. Dies hat auch Konsequenzen für die Spielgenres. Ein Computerspiel kann durch seinen Detailgrad heute mehrere, früher abgetrennte Genres gleichzeitig realisieren. Dies erlaubt dem Spieler z. B. die Wahl zwischen einer aktionsreichen oder eher verstohlenen Spielweise, anstatt ihn auf eine einzige simulierte Spielweise zu beschränken. Neben der Vermischung von Genres werden auch immer wieder neue Genres kreiert. „Survival“-Simulationen als (Sub-)Genre beispielsweise existiert im Vergleich zu klassischen Genres noch nicht lange. An diesem Beispiel zeigt sich, dass entstehende Trends in der Gaming-Industrie häufig zu neuen Genrebezeichnungen führen.
Geschichte der Computerspiel-Genres
In der zweidimensionalen Frühzeit der Computerspiele dominierten vor allem Spiele aus der Seitenansicht. Shoot ’em ups, Side-Scroller und Jump ’n’ Runs stellten dabei die beliebtesten Genres dar. In den späten 80er konnten zunehmend auch Rollenspiele und Adventures große Erfolge feiern; insbesondere die Spiele von LucasArts galten in dieser Zeit als Vorzeigeprodukte.
Mitte der 90er-Jahre setzte der Übergang von 2D- zu 3D-Grafik ein. Federführend war bei diesem Wandel vor allem das neue Ego-Shooter-Genre, welches vor allem mit den Spielen Wolfenstein 3D und Doom praktisch im Alleingang von id Software begründet wurde. Ähnlich erfolgreich war in dieser Zeit nur der immense Echtzeit-Strategiespiele-Boom, der mit dem Erfolg von Command & Conquer von Westwood eingeleitet wurde.
Spiele dieser Art lösten die bis dahin aufgrund ihrer einfacheren technischen Umsetzbarkeit dominierenden rundenbasierten Strategiespiele auf dem Massenmarkt nahezu komplett ab, indem sie eine neue, aktionsorientiertere Zielgruppe ansprachen.
Heutige Spiele weisen zunehmend einen Trend zu sogenannten Genremixen auf. Dies ist sowohl technisch (siehe Theorie) als auch marktwirtschaftlich begründet, um die Zielgruppe aus mehreren Genreanhängern gleichzeitig einbeziehen zu können.
So verwendet beispielsweise Diablo Eigenschaften von klassischen Rollenspielen (z. B. die Verbesserung des gespielten Charakters durch das Sammeln von Gegenständen), verfügt aber über einen wesentlich höheren Aktionsanteil.
Veränderung des Nutzungsverhaltens
Bedingt durch technische Entwicklungen im Bereich der Miniaturisierung und des mobilen Internets können nun auch komplexe Spiele auf mobilen Endgeräten wie Smartphones, Tablets oder Ähnlichem genutzt werden. Die Computerspieleindustrie hat sich hierdurch neue Zielgruppen erschlossen – insbesondere für sogenannte Casual Games. Für viele Spiele werden inzwischen die in die Geräte integrierten Neigungssensoren genutzt, z. B. um mit der Bewegung des Smartphones ein virtuelles Auto zu lenken. Dies trägt ebenfalls zur Entwicklung neuer Sub-Genres bei.
Siehe auch
Genre-Theorie
Literatur
Andreas Rauscher: Spielerische Fiktionen: Transmediale Genrekonzepte in Videospielen. Schüren, Marburg 2012, ISBN 978-3-89472-730-7.
Thomas Klein: Genre und Videospiel. In: Markus Kuhn, Irina Scheidgen, Nicola Valeska Weber (Hrsg.): Filmwissenschaftliche Genreanalyse. Eine Einführung. de Gruyter, Berlin/ Boston 2012, ISBN 978-3-11-029698-3, S. 345–360.
Weblinks
Genredefinitionen im Spieleratgeber-nrw
Einzelnachweise
Spielwissenschaft
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Q659563
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https://de.wikipedia.org/wiki/Kraken
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Kraken
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Die Kraken (Ordnung Octopoda) sind eine Teilgruppe der Achtarmigen Tintenfische (Vampyropoda) innerhalb der Tintenfische (Coleoidea). Ihre nächsten Verwandten sind die Cirrentragenden Kraken und die Vampirtintenfischähnlichen (Vampyromorpha). Die cirrentragenden Kraken wurden erst in der jüngeren Zeit von den Kraken im engeren Sinne abgetrennt.
Kraken gelten als die intelligentesten Weichtiere, wobei ihre Intelligenz mit der von Ratten verglichen wird. Kraken sind in der Regel sehr scheu, jedoch neugierig und erweisen sich in Versuchen als sehr lernfähig.
Name
Deutscher Name
In der Fachsprache ist der Name stets ein Maskulinum: der Krake. In der Umgangssprache wird auch die weibliche Form die Krake verwendet.
Der Name Krake bürgerte sich aus dem Dänisch-Norwegischen ins Deutsche ein und könnte für „entwurzelter Baum“ stehen, da die Arme wie Wurzeln in alle Richtungen davonragen. Duden gibt als Ausgangssprache mundartliches Norwegisch an; die weitere Herkunft von norwegisch krake oder kraken ist laut Duden unklar.
Wissenschaftlicher Name
Der wissenschaftliche Name „Octopoda“ (wörtlich „Achtfüßige“) bezieht sich auf ein wichtiges Merkmal der Kraken. Zu beachten ist, dass die artenreiche Gattung Octopus nur eine von mehreren Gattungen innerhalb der Ordnung Octopoda ist (siehe Abschnitt Systematik).
Im Plural ist nur die Schreibweise „Octopoda“ eine eindeutige Bezeichnung der Ordnung. Die eingedeutschte Schreibweise „Oktopus“ (mit k) mit den Pluralformen „Oktopoden“ und „Oktopusse“ bezieht sich meist allgemein auf Kraken, das ist aber nicht immer eindeutig. Die Verwechslungsträchtigkeit wird dadurch noch erhöht, dass die Achtfüßigkeit kein spezifisches Merkmal der Kraken ist, sondern das gemeinsame Merkmal einer übergeordneten Gruppe, der Achtarmigen Tintenfische (Octopodiformes). Die Verwendung des deutschen Namens „Kraken“ für die Ordnung Octopoda ist daher vorteilhaft. Die Bedeutung von „Krake“ ist – anders als die von „Oktopus“ und „Oktopode“ – in der Regel klar.
Lebensraum
Die meisten Kraken sind Grundbewohner (Benthal). Die benthischen Flachmeerarten können auch einige Zeit außerhalb des Wassers überleben und sich dort fortbewegen. Oft suchen sie Gezeitentümpel auf, um dort nach Krebsen, Schnecken und anderen Tieren zu jagen.
Anatomie
Kraken besitzen acht Arme (vier Armpaare). Die Arme tragen ungestielte Saugnäpfe, die keine Verstärkungsringe aufweisen. Kraken haben meist einen Lieblingsarm, den sie häufiger benutzen als die anderen.
Sie haben die ursprüngliche Schale der Kopffüßer komplett reduziert. Eine Ausnahme bilden dabei allerdings die Weibchen der Papierboote (Argonauta spec.), die aus einem Sekret ihrer Armdrüsen eine äußere Schale als Eibehälter bauen.
Der Körper der Kraken, der Mantel, ist in der Regel sackartig. Kraken haben ein mehrteiliges Herz mit einem Hauptherzen und zwei Kiemenherzen.
Kraken zeichnen sich durch ihr hochentwickeltes Nervensystem aus, das unter den Wirbellosen eine Spitzenposition einnimmt. Sie besitzen sehr gute Linsenaugen, die im Gegensatz zu denen der Wirbeltiere evers aufgebaut sind und so mit den Sinneszellen der Netzhaut direkt zum Licht weisen. Die Arme und besonders die Saugnäpfe sind stark mit Nerven und großen Ganglien durchzogen und können sich unabhängig vom Gehirn bewegen.
Der Farbwechsel der Kraken beruht auf einer dreischichtigen Verteilung von Chromatophoren in der Haut, die ebenfalls mit vielen Nerven verbunden sind. Octopus bimaculoides und einige andere Arten können Licht mit der gesamten Körperoberfläche wahrnehmen.
Verhaltensweisen
Fortbewegung
Kraken nutzen ihre Arme, um sich auf dem Meeresboden zu bewegen. Auf der Flucht verwenden die Kraken das Rückstoßprinzip. Sie drücken das Wasser aus ihrer Mantelhöhle durch einen Trichter nach draußen und entfliehen durch den Rückstoß mit dem Körper voran.
Weil sie kein Innenskelett haben, sind Kraken extrem beweglich und können selbst durch engste Spalten und Löcher schlüpfen. Die Beweglichkeit machte vor allem den Thaumoctopus mimicus weltbekannt.
Lernfähigkeit
Das Gehirn der Kraken ist sehr leistungsfähig; so bewältigen sie viele Irrgarten-Probleme effizienter als die meisten Säugetiere. Der kleine Krake Amphioctopus marginatus sammelt Kokosnussschalen, um sie später als Behausung zu benutzen – ein unter Wirbellosen einzigartiges Beispiel planvollen Vorgehens. Dennoch ist die Lernfähigkeit von Kraken begrenzt. Zwar können sie das Verhalten von Artgenossen imitieren, dies kommt jedoch fast nur in Gefangenschaft vor, da sie Einzelgänger sind.
Einmal erlernte Fähigkeiten werden nicht von Generation zu Generation weitergegeben, weil Wirbellose keine Eltern-Kind-Beziehungen wie Vögel oder Säugetiere aufbauen. Wirbellose sichern stattdessen das Überleben von Nachkommen, indem sie außerordentlich viele Nachkommen produzieren. Kraken erreichen maximal ein Lebensalter von drei Jahren.
Fortpflanzung und Entwicklung
Wie bei den anderen Kopffüßern findet bei den getrenntgeschlechtlichen Arten eine innere Befruchtung statt, die Begattung erfolgt durch den bei den Männchen speziell umgewandelten dritten linken Arm, der auch als Hectocotylus Jussila bezeichnet wird. Dieser wird in die Mantelhöhle des Weibchens eingeführt und überträgt eine mit Spermien gefüllte Kapsel, die Spermatophore. Durch ein explosionsartiges Aufplatzen der Spermatophore werden die Spermien dann freigesetzt und befruchten die Eier.
Beim Papierboot löst sich der Hectocotylus der Zwergmännchen mit der Spermatophore komplett ab und ist in der Lage, auch über weite Entfernungen ein Weibchen zu finden und zu befruchten. Da außerdem das Männchen mit 2 cm Größe erheblich kleiner ist als das Weibchen (etwa 10 cm), wurde der abgetrennte Arm wissenschaftlich noch vor dem Männchen selbst beschrieben, allerdings fälschlicherweise als parasitärer Fadenwurm in der Mantelhöhle der Weibchen.
Kraken bilden keine Larven, ihre Embryonen wachsen als Dotterscheibe auf den großen Eiern heran (discoidale Furchung). Bei vielen Arten werden die Eier von den Muttertieren intensiv bewacht. Alle Kraken vermehren sich nur einmal im Leben, einige Wochen bis wenige Monate danach sterben die Tiere.
Kraken und Menschen
Kraken sind in der Regel ungefährlich und nicht aggressiv. Der Biss von Kraken, in allen bekannten Fällen auf Grund von Provokation seitens der betroffenen Person, ist in der Regel zwar schmerzhaft, aber harmlos.
Bis auf die blaugeringelten Kraken (Hapalochlaena) haben Kraken, wenn überhaupt, nur ein sehr schwaches Gift. Der Biss der vorgenannten blaugeringelten Arten (auch als Blauring-Oktopusse bekannt) ist hingegen nicht nur leicht schmerzhaft, sondern sehr giftig. Das Gift Maculotoxin der blaugeringelten Kraken ist mit dem Tetrodotoxin des Kugelfisches nahezu identisch. Die gebissene Person fühlt sich schon kurz nach dem Biss schwach und spürt ein Prickeln im Gesicht. Es folgen Gefühllosigkeit, Übelkeit mit Erbrechen und Lähmungserscheinungen. Diese Lähmungserscheinungen werden rasch schlimmer und betreffen schon im frühen Stadium das Atemzentrum. Dabei ist der Betroffene stets bei vollem Bewusstsein, kann sich aber auf Grund der Lähmungen nicht mehr artikulieren. Ohne intensivmedizinische Behandlung kann eine solche Vergiftung tödlich enden. Ein Gegenmittel gegen das Gift ist nicht bekannt. Der Betroffene muss beatmet werden, bis die Wirkung des Gifts nachlässt und das Opfer wieder von selbst zu atmen beginnt. Unfälle mit blaugeringelten Kraken sind selten. In den Jahren 1950 bis 1995 sind nur elf Unfälle dokumentiert. Von diesen verliefen allerdings zwei Unfälle tödlich.
In den Bereich der Legenden gehören Berichte, nach denen große Kraken Menschen mit ihren Fangarmen erwürgen oder gar Schiffe in die Tiefe ziehen können, siehe Kraken (Mythologie).
Einige Krakenarten werden vor allem in der mediterranen Küche und in Asien vielfältig verwendet, siehe Tintenfisch (Lebensmittel).
Besondere Medienbekanntheit erreichte der Krake Paul, der während der Fußball-Weltmeisterschaft 2010 als Orakel-Tier den Ausgang aller getippten Fußballspiele korrekt „voraussagte“.
Systematik
Unter den Kraken wurden früher aufgrund des Besitzes von Flossen zwei Grundtypen unterschieden, die Cirrata mit Flossen (Cirrentragende Kraken) und die Incirrata (Kraken i. e. S.) ohne Flossen. Die Erstgenannten bewohnen vor allem die Tiefsee und sind gute Schwimmer. Sie wurden in jüngerer Zeit in den Rang einer eigenständigen Ordnung erhoben, da in der ursprünglichen Definition der Octopoda diese Gruppe nicht enthalten war. Jene findet man demgegenüber vor allem in relativ flachem Wasser am Meeresgrund; zu diesen gehören die bekanntesten Arten. Beide Gruppen sind aber als Monophyla eingeordnet, die den Vampirtintenfischähnlichen (Vampyomorpha) gegenüberstehen.
Systematik der Kraken
Literatur
Thomas Berthold, Theo Engeser: Phylogenetic analysis and systematization of the Cephalopoda (Mollusca). In: Verhandlungen des naturwissenschaftlichen Vereins Hamburg. N. F., 29, Hamburg 1987, S. 187–220.
David B. Carlini, Richard E. Young, Michael Vecchione: A molecular phylogeny of the Octopoda (Mollusca: Cephalopoda) evaluated in light of morphological evidence. In: Molecular Phylogenetics and Evolution. 21(3), San Diego 2001, S. 388–397.
Mark Norman: Tintenfischführer – Kraken, Argonauten, Sepien, Kalmare, Nautiliden. Jahr, Hamburg 2000, ISBN 3-86132-506-3.
Richard E. Young, Michael Vecchione: Evolution of the gills in the Octopodiformes. In: Bulletin of Marine Science. 71(2), Coral Gables, Florida 2002, S. 1003–1017.
Paul Gerhard Heims: Kraken, Monster, Seemannsgarn. Legenden und Aberglauben auf hoher See. Bearbeitet und herausgegeben von Michael Kirchschlager, Festa, Arnstadt7Leipzig 2006, ISBN 3-86552-055-3.
Sy Montgomery: Rendezvous mit einem Oktopus. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Heide Sommer. Mare Verlag, Hamburg 2017, ISBN 978-3-86648-265-4.
Weblinks
http://www.weichtiere.at/Kopffuesser/octopus.html Robert Nordsieck: Kraken (Octopodidae).
Einzelnachweise
Wikipedia:Artikel mit Video
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Q40152
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https://de.wikipedia.org/wiki/Rechteck
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Rechteck
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In der Geometrie ist ein Rechteck (ein Orthogon) ein ebenes Viereck, dessen Innenwinkel alle rechte Winkel sind. Es ist ein Spezialfall des Parallelogramms und damit auch des Trapezes. Ein Sonderfall des Rechtecks ist das Quadrat, bei dem alle Seiten gleich lang sind.
In der Topologie ist ein Rechteck eine Mannigfaltigkeit mit Rand, genauer eine Mannigfaltigkeit mit Ecken.
Eigenschaften
Gegenüber liegende Seiten sind gleich lang und parallel.
Die vier Innenwinkel sind gleich, d. h., es ist ein gleichwinkliges Polygon. Die Innenwinkel sind rechte Winkel.
Die beiden Diagonalen sind gleich lang und halbieren einander.
Es besitzt einen Umkreis und ist daher ein Sehnenviereck. Umkreismittelpunkt ist der Schnittpunkt der Diagonalen.
Es ist achsensymmetrisch bezüglich der Mittelsenkrechten der Seiten. Die beiden Symmetrieachsen stehen also senkrecht aufeinander.
Es ist punktsymmetrisch (zweizählig symmetrisch) bezüglich des Schnittpunkts der Diagonalen.
Die Symmetriegruppe ist die Kleinsche Vierergruppe.
Das Rechteck kann charakterisiert werden als
Parallelogramm mit einem rechten Winkel,
Parallelogramm mit gleich langen Diagonalen,
Viereck mit gleich langen Diagonalen, die sich halbieren,
Viereck, bei dem gegenüberliegende Seiten gleich lang sind und ein Winkel ein rechter ist.
Formeln
Die Formel für die Länge der Diagonalen beruht auf dem Satz des Pythagoras. Der Umkreisradius ergibt sich durch Halbierung der Länge der Diagonalen.
Um ein Rechteck zu konstruieren, müssen zwei Größen gegeben sein. Häufig sind entweder beide Seitenlängen gegeben, oder eine der beiden Seitenlängen und die Länge der Diagonalen.
Optimierungsprobleme und das Quadrat
Es gibt verschiedene Optimierungsprobleme für Rechtecke. Sucht man ein Rechteck, das bei
gegebener Länge der Diagonale oder gegebenem Flächeninhalt des Umkreises den maximalen Umfang
gegebener Länge der Diagonale oder gegebenem Flächeninhalt des Umkreises den maximalen Flächeninhalt
gegebenem Umfang die minimale Länge der Diagonale oder den minimalen Flächeninhalt des Umkreises
gegebenem Umfang den maximalen Flächeninhalt
gegebenem Flächeninhalt die minimale Länge der Diagonale oder den minimalen Flächeninhalt des Umkreises
gegebenem Flächeninhalt den minimalen Umfang
hat, dann ergibt sich als Lösung jeweils das Quadrat.
Jeweils zwei der sechs Optimierungsprobleme sind im Prinzip dieselbe Fragestellung mit anderen gegebenen Größen, sodass es eigentlich nur drei verschiedene Optimierungsprobleme sind. Für die genannten Optimierungsprobleme ist das Quadrat das gesuchte Rechteck. Das gilt selbstverständlich nicht für alle Optimierungsprobleme.
Dass die Optimierungsprobleme für die Länge der Diagonale und den Flächeninhalt des Umkreises jeweils dieselbe Lösung haben, ist offensichtlich, weil der Flächeninhalt des Umkreises eine stetige und streng monoton steigende Funktion mit der Funktionsvariablen ist.
Ist zum Beispiel bei gegebener Länge der Diagonale das Rechteck ABCD mit dem größten Flächeninhalt gesucht, dann hilft es, den Umkreis zu betrachten. Die Diagonale AC ist nach dem Satz des Thales der Durchmesser des Umkreises.
Das Rechteck besteht aus den rechtwinkligen Dreiecken ABC und CDA. Der Flächeninhalt des Dreiecks ABC ist dann am größten, wenn die Höhe des Punkts B auf der Seite AC am größten ist. Das ist genau dann der Fall, wenn die Seiten AB und BC gleich lang sind, das Dreieck also auch gleichschenklig ist. Ebenso ist der Flächeninhalt des Dreiecks CDA genau dann am größten, wenn die Seiten CD und DA gleich lang sind. Der Flächeninhalt des Rechtecks ABCD ist also genau dann am größten, wenn alle 4 Seiten gleich lang sind, also wenn es ein Quadrat ist.
Eine andere Möglichkeit ist, den Flächeninhalt mit Ungleichungen abzuschätzen.
Ein Rechteck mit den Seitenlängen und hat die Diagonalenlänge und den Flächeninhalt . Das Quadrat mit der Seitenlänge hat dieselbe Diagonalenlänge und den Flächeninhalt . Wegen der Ungleichung vom arithmetischen und geometrischen Mittel gilt für alle positiven Seitenlängen und und Gleichheit genau dann, wenn ist. Daraus folgt, dass das Quadrat das Rechteck mit dem größten Flächeninhalt ist.
Rechteckgitter
Das Rechteckgitter ist eine Anordnung von unendlich vielen Punkten in der zweidimensionalen euklidischen Ebene. Diese Punktmenge kann formal als die Menge
geschrieben werden, wobei die positiven reellen Zahlen , die Abstände zwischen benachbarten Punkten sind. Das Rechteckgitter entsteht durch 2 Parallelstreckungen (siehe Affine Abbildung) aus dem Quadratgitter.
Dieses Rechteckgitter ist achsensymmetrisch, drehsymmetrisch und punktsymmetrisch. Außerdem ist es translationsymmetrisch für alle Vektoren mit bestimmten Längen, die parallel zu den 2 Koordinatenachsen verlaufen, nämlich die unendlich vielen Vektoren , , wobei , ganze Zahlen sind und , die 2 Einheitsvektoren im zweidimensionalen eudklidischen Vektorraum.
Wird eine geometrische Figur in der Ebene in einem Quadratgitter platziert und dann durch Parallelstreckungen modifiziert, sodass ein Rechteckgitter entsteht, dann entstehen abhängig von der Art und Ausrichtung dieser geometrischen Figuren andere geometrische Figuren:
Goldenes Rechteck
Rechtecke mit der Eigenschaft für die Seitenlängen a und b nennt man Goldene Rechtecke. Als Seitenverhältnis ergibt sich der Goldenen Schnitt, also .
Perfektes Rechteck
Ein Rechteck heißt perfekt, falls man es mit Quadraten lückenlos und überschneidungsfrei überdecken kann, wobei alle Quadrate unterschiedlich groß sind. Es ist nicht einfach, eine solche Parkettierung zu finden. Eine solche Zerlegung eines Rechtecks mit den Seitenlängen 32 und 33 in 9 Quadrate wurde 1925 von Zbigniew Moroń gefunden. Sie besteht aus den Quadraten mit den Seitenlängen 1, 4, 7, 8, 9, 10, 14, 15 und 18.
Ein weiteres Beispiel eines perfekten Rechtecks – ebenfalls von Zbigniew Moroń – hat die Seitenlängen 47 und 65. Es wird überdeckt von 10 Quadraten mit den Seitenlängen 3, 5, 6, 11, 17, 19, 22, 23, 24 und 25.
Weblinks
Rechteck – Animierte Lernsequenz - Konstruktion, Umfang, Flächeninhalt
Einzelnachweise
Viereck
Vierecksgeometrie
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Q209
| 362.417275 |
175359
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https://de.wikipedia.org/wiki/Verwaltungssitz
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Verwaltungssitz
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Der Verwaltungssitz beschreibt im Verwaltungsrecht den Ort, von dem aus das zu verwaltende Gebiet (der sogenannte Verwaltungsbezirk) administriert wird. Dies betrifft Landkreise, Kommunen, höhere Kommunalverbände, Kommunalverbände besonderer Art und Gemeindeverbände.
Damit ist anders als in anderen Staaten im deutschen Organisationssystem keine Bindung an eine besondere Verwaltungsform wie Landkreis oder Gemeinde zu verstehen. Je nach Formung des Gebietszuschnitts wird in der Regel entweder der bevölkerungsreichste Ort in diesem Gebiet oder ein möglichst zentraler Ort mit geeigneter Infrastruktur gewählt (z. B. zusammenhängende Büroflächen, Internetverbindung).
Beispiele:
Karlstadt ist Verwaltungssitz des Landkreises Main-Spessart.
München ist Verwaltungssitz des Bezirks Oberbayern.
Siehe auch
Dienstsitz
Verwaltungsgliederung
Politische Geographie
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Q1306755
| 502.623802 |
3070835
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https://de.wikipedia.org/wiki/Halloween
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Halloween
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Halloween (Aussprache: //, deutsch gemäß Duden auch: //, von All Hallows’ Eve, der Abend vor Allerheiligen) benennt die Volksbräuche am Abend und in der Nacht vor dem Hochfest Allerheiligen, vom 31. Oktober auf den 1. November. Dieses Brauchtum war ursprünglich vor allem im seinerzeit katholisch geprägten Irland verbreitet. Die irischen Einwanderer in den USA pflegten ihre Bräuche in Erinnerung an die Heimat und bauten sie aus.
Im Zuge der irischen Renaissance nach 1830 wurden in der frühen volkskundlichen Literatur eine Kontinuität der Halloweenbräuche seit der Keltenzeit und Bezüge zu heidnischen und keltischen Traditionen wie dem Samhainfest angenommen. Es werden immer wieder entsprechende Mutmaßungen des Religionsethnologen James Frazer zitiert.
Seit den 1990er Jahren verbreiten sich Halloween-Bräuche in US-amerikanischer Ausprägung auch in einigen Ländern des kontinentalen Europas. Dabei gibt es deutliche regionale Unterschiede. So vermischten sich insbesondere im deutschsprachigen Raum heimatliche Bräuche wie das Rübengeistern oder Traulicht mit Halloween; genauso nahmen traditionelle Kürbisanbaugebiete wie die Steiermark oder der Spreewald Halloween schnell auf.
Herkunft und Etymologie
Das Wort Halloween, in älterer Schreibweise Hallowe’en, ist eine Kontraktion von All Hallows’ Eve („Aller Heiligen Abend“), benennt den Tag bzw. den Abend vor Allerheiligen (wie auch bei Heiligabend, englisch Christmas Eve). Vor jedem kirchlichen Hochfest wurde am Vorabend eine Messe gefeiert, die Vigil. So auch vor Allerheiligen. Die heute noch üblicherweise gefeierten Vigilien sind der Heiligabend (vor Weihnachten) und die Osternacht (vor Ostern).
Herleitung aus der Kirchengeschichte
Die Entstehungsgeschichte des Festtags Allerheiligen geht auf ein Fest aller heiligen Märtyrer zurück, das am 13. Mai, dem Weihetag der Kirche Sancta Maria ad martyres in Rom, gefeiert wurde, als Papst Bonifatius IV. das Pantheon, einen allen römischen Göttern gewidmeten Tempel, im Jahre 609 oder 610 der Jungfrau Maria und allen heiligen Märtyrern weihte. Papst Gregor III. weihte über hundert Jahre später eine Kapelle in der Basilika St. Peter allen Heiligen und legte dabei für die Stadt Rom den Feiertag auf den 1. November, Gregor IV. übernahm diesen Festtermin in den römischen Generalkalender.
Der Bezug von Halloween ergibt sich aus dem der Feier des Hochfestes Allerheiligen folgenden Gedächtnis Allerseelen, an dem die Katholiken ihrer Verstorbenen und aller Armen Seelen im Fegefeuer durch Gebet und Ablässe gedenken. Die Einführung des Allerseelentages am 2. November geht auf Abt Odilo von Cluny im Jahre 998 zurück.
Im Zug der hochmittelalterlichen wie später im Zuge der irischen Renaissance wurden einige der christlichen Aspekte wieder auf tatsächliche oder angenommene heidnische Traditionen projiziert. Die entsprechende Wechselwirkung und zugehörigen Widersprüche sind bis in die Gegenwart verbreitet. Zudem sind der Charakter als Unruhenacht wie die Erneuerung und Weiterverbreitung in mehreren Wanderungsbewegungen Gegenstand volkskundlicher Forschung.
Herleitung aus keltischen oder vorchristlichen Traditionen
Der Religionsethnologe Sir James Frazer beschrieb in seinem Standardwerk The Golden Bough (in der Ausgabe von 1922) Halloween als ; neben dem Frühjahrsfest Beltane am 1. Mai (Walpurgisnacht) habe es sich um das zweite wichtige Fest der Kelten gehandelt. Nachgewiesen sei es seit dem 8. Jahrhundert, als christliche Synoden versuchten, solche heidnischen Riten abzuschaffen.
Die Encyclopædia Britannica leitet das Fest aus alten keltischen Bräuchen her. Gefeiert wurde zu Halloween demnach auch das Sommerende, der Einzug des Viehs in die Ställe. In dieser Zeit, so glaubte man, seien auch die Seelen der Toten zu ihren Heimen zurückgekehrt. Begangen wurde das Fest laut der Encyclopædia Britannica mit Freudenfeuern auf Hügeln (engl. bonfires, wörtlich Knochenfeuer; ursprünglich mit Bezugnahme auf das Verbrennen von Knochen des Schlachtviehs) und manchmal Verkleidungen, die der Vertreibung böser Geister dienten. Auch Wahrsagerei sei zu diesem Datum üblich gewesen.
Das 1927 bis 1942 erschienene Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens schreibt über den November: , und über Allerseelen:
Meyers Konversations-Lexikon schreibt zur angeblichen keltischen Herkunft des Festes:
Die frühere Forschung vermutete den ältesten Hinweis auf das Samhain-Fest im schwer zu deutenden Kalender von Coligny aus dem 1. Jahrhundert n. Chr., dort als ein Fest des Sommerendes (keltisch samos, gälisch samhuinn für „Sommer“), oder zurückgehend auf das irogälische Wort für Versammlung, samain. Diese Vermutung wird wissenschaftlich nicht mehr vertreten. Ein angeblicher Totengott Samhain ist historisch nicht nachweisbar. Erst in deutlich späteren, mittelalterlichen Schriften über die Gebräuche der Kelten wird auf einen Bezug zum Totenreich hingewiesen. Diese sind bereits intensiv christlich beeinflusst (siehe auch Keltomanie).
Kontroversen um die Kontinuitätshypothese
Die These einer kontinuierlichen Entwicklung keltischer Bräuche zu modernen Halloweenbräuchen gilt als veraltet und unhaltbar.
Da Irland zu den am frühesten christianisierten Ländern Europas zählt, ist für Bernhard Maier eine quellenmäßig nirgendwo belegte direkte Kontinuität zu keltisch-heidnischen Riten gerade in Irland unwahrscheinlich und der keltischen Renaissance seit dem 19. Jahrhundert zuzuschreiben. (Hierzu finden sich weitergehende Ansätze auch im Artikel Kelten – Rezeptionsgeschichte.)
Der britische Historiker Ronald Hutton sieht keine Belege für Samhain als Totenfest, betont aber, der Termin sei für die keltische Bevölkerung sicher eine Zeit gewesen, in welcher man sich gegen übernatürliche Kräfte wappnen musste. Das Allerheiligen- und Allerseelenfest mit der Toten-Thematik habe dann das ältere Samhainfest überlagert.
Die österreichische Ethnologin Editha Hörandner sieht die häufig behaupteten keltischen oder heidnischen Ursprünge als historische Projektion, die geradezu den Charakter eines Gütesiegels habe. Von Interesse für die Forschung sei weniger die längst widerlegte These einer ungebrochenen Kontinuität bis ins Altertum, als vielmehr, wie die moderne Sehnsucht nach fiktiven keltischen Traditionen entstehe und was davon verbreitet werde. Die aktuelle Praxis des Festes Halloween habe mit diesen Vorstellungen wenig oder gar nichts zu tun und sei keineswegs heidnisch oder keltisch geprägt. Interessanter sei die aktuelle Entwicklung von Halloween als Reimport aus den Vereinigten Staaten.
Rolle als Unruhnacht
Einzelne Aspekte der Halloweenbräuche in den Ursprungsländern waren bereits in der frühen Neuzeit umstritten. Dazu gehörten weniger die zumeist christlich apostrophierten Heischebräuche, sondern Streiche, Ruhestörungen und Belästigungen vergleichbar anderen Unruhnächten wie in Mitteleuropa der Walpurgisnacht und den Neujahr folgenden Rauhnächten.
Kirchliche Stellen in Großbritannien wandten sich wiederholt gegen einige mit Halloween in Verbindung stehende Bräuche, wie die sogenannten Bonfires (vgl. Funkenfeuer) und Wahrsagerei. 1589 wurden im schottischen Stirling die sog. Hallowmas-Feuer verboten. 1741 notiert ein Chronist aus Anglesey, die Halloween-Bonfires gingen dort zurück. 1852 ist laut Reverend John M. Wilsons Rural Cyclopedia Halloween einer der wichtigsten Feiertage insbesondere der Landbevölkerung in England und Schottland und werde ausgelassen begangen. Dabei beklagt er die verstoßen würden. In England hingegen werde zumeist nur harmloser Schabernack („cheerful merry-making“) veranstaltet.
Verbreitung
Halloween wurde ursprünglich nur in katholisch gebliebenen Gebieten der britischen Inseln gefeiert, vor allem in Irland. Mit den zahlreichen irischen Auswanderern im 19. Jahrhundert kam es in die Vereinigten Staaten und gehörte zum Brauchtum dieser Volksgruppe. Aufgrund seiner Attraktivität wurde es bald von den anderen übernommen und entwickelte sich zu einem wichtigen Volksfest in den Vereinigten Staaten und Kanada.
Der Brauch, Kürbisse zum Halloweenfest aufzustellen, stammt aus Irland. Dort lebte einer Sage nach der Bösewicht Jack Oldfield. Dieser fing durch eine List den Teufel ein und wollte ihn nur freilassen, wenn er Jack O fortan nicht mehr in die Quere kommen würde. Nach Jacks Tod kam er aufgrund seiner Taten nicht in den Himmel, aber auch in die Hölle durfte Jack nicht, da er den Teufel betrogen hatte. Doch der Teufel erbarmte sich und schenkte ihm eine Rübe und eine glühende Kohle, damit Jack durch das Dunkel wandern könne. Der Ursprung des beleuchteten Kürbisses war demnach eine beleuchtete Rübe, doch da in den Vereinigten Staaten Kürbisse in großen Mengen zur Verfügung standen, höhlte man stattdessen einen Kürbis aus. Dieser Kürbis war seither als Jack O’Lantern bekannt. Um böse Geister abzuschrecken, schnitt man Fratzen in Kürbisse, die vor dem Haus den Hof beleuchteten.
Amerikanische Halloweenbräuche verbreiteten sich im Verlauf der 1990er Jahre nach Europa, wo sie einen fröhlichen und weniger schaurigen Charakter als in Nordamerika haben. Besonders der Ausfall der Karnevalssaison wegen des zweiten Golfkriegs 1991 führte zur verstärkten Werbung der Karnevalsbranche für Halloween desselben Jahres. Halloween wird seit Anfang der 90er Jahre in Europa als Anlass für Feste und Feiern gesehen, die sich thematisch an diesen Bräuchen orientieren. Die zunehmende Beliebtheit, auch im deutschsprachigen Raum, führte im Übrigen zu einem Aufgreifen der Thematik durch Unternehmen, die thematisch passende Konsumgüter wie Literatur (Halloween-Kochbücher), Kostüme, Dekorationen oder Süßigkeiten bereitstellen. Auch das Umherziehen von Tür zu Tür, das klassische „Trick or Treat“, ist ein aufgegriffener Brauch in sehr vielen europäischen, asiatischen und südamerikanischen Ländern sowie in Mosambik, Simbabwe und Südafrika. Es wird allerdings fast ausschließlich am 31. Oktober praktiziert. Im Satanismus stellt der Vorabend von Allerheiligen einen der wichtigsten Feiertage dar.
Charakter
Das Halloweenbrauchtum stellt eine Mischung aus Herbst-, Löse-, Heische- und Verkleidungsbräuchen dar. In diesem Sinne ist es vergleichbar mit Bräuchen zu Kirchweih (Kilbesingen), zu Erntedank (Räbenlicht), zu Martini (Räbechilbi, Martinisingen, Martinssingen), zu Allerheiligen (Flenntippln, Rubebötz, Riabagoaschtern) sowie in der Vorweihnachtszeit (Bochselnacht, Rauhnacht, Anklöpfeln, Andreasnacht, Glowesabend, Sunnerklauslaufen) und zu Silvester (Rummelpottlaufen, Hulken). Eine gewisse Ähnlichkeit besteht in den USA zum mexikanischen Brauchtum am Tag der Toten.
Der bekannteste Brauch in Nordamerika besteht darin, dass Kinder von Haus zu Haus gehen und mit „Süßes, sonst gibt’s Saures“ (verkürzt: „Süßes oder Saures“, englisch: trick or treat – „Streich oder Leckerbissen“) die Bewohner auffordern, ihnen Süßigkeiten zu geben, weil sie ihnen sonst Streiche spielen. Verkleidungen sind zu Halloween sehr beliebt. Kinder wie Erwachsene verkleiden sich als Feen, Fledermäuse, Geister, Hexen, Kürbisse, Skelette, Zombies, Tote, Vampire und Ähnliches. Typische Halloweenfarben sind schwarz, orange, grau, weiß, gelb und rot. Die zeitweiligen Übergriffe bis zum vermehrten Vorkommen von Brandstiftungen und Sachbeschädigungen in den USA geben der Mischief Night zum 1. November einen ähnlichen Unruhnachtcharakter wie im mitteleuropäischen Brauchtum der Walpurgisnacht.
Kritik
Mit steigender Beliebtheit Halloweens wurde Kritik von verschiedenen Seiten laut. In Deutschland wird kritisiert, dass die alten Bräuche zunehmend verdrängt werden, beispielsweise das Martinisingen am 10. beziehungsweise 11. November, bei dem an den Haustüren Lieder gesungen und als Belohnung Gebäck, Früchte oder Süßigkeiten erwartet werden. Ebenso beklagt wird Vandalismus durch Häuserschmierereien oder Eierwürfe, die zu vermehrten Einsätzen der Polizei zu Halloween führen.
Das Hochfest Allerheiligen, von dem Halloween seine Bezeichnung ableitet, gehört in einigen deutschen Ländern zu den sogenannten stillen Tagen. An stillen Tagen sind in einigen deutschen Ländern öffentliche Unterhaltungsveranstaltungen, die nicht dem ernsten Charakter dieser Tage entsprechen, verboten.
Insbesondere evangelikale Christen in den Vereinigten Staaten distanzieren sich sehr scharf von Halloween; sie vertreten die Meinung, dass mit dem Fest Missbrauch durch satanistische Vereinigungen getrieben werden könne, und lehnen Halloween als okkult ab. Andere verteidigen einen ungezwungenen Umgang mit Spuk und dem Unheimlichen zu Halloween durch Christen.
In den USA bekannt und umstritten ist die zeitlich begrenzte Errichtung sogenannter Hell Houses, die oft zeitlich parallel zu Halloween errichtet werden und aus Darstellungen der ewigen Verdammnis, des Himmels und eines zugehörigen Laster- und Tugendenkatalogs bestehen. Zuweilen kommt es dabei zu ungewollten Verwechslungen mit kommerziellen Halloweenveranstaltungen.
Sonstiges
Die krankhafte Angst vor Halloween wird Samhainophobie genannt.
Literatur
Manfred Belok, Manfred Jochum (Hrsg.): Halloween und Christkindl. Festtagskultur und Markt. (= Kultur und Wirtschaft. Band 5). Studienverlag, Innsbruck-Wien-Bozen 2007, ISBN 978-3-7065-4398-9.
Markus Dewald: Kelten – Kürbis – Kulte. Kleine Kulturgeschichte von Halloween. Thorbecke, Stuttgart 2002, ISBN 3-7995-0106-1.
Klaus Hock: Halloween. Die Provokation einer Erfolgsgeschichte. In: Thomas Klie (Hrsg.): Valentin, Halloween & Co. Zivilreligiöse Feste in der Gemeindepraxis. Evangelische Verlagsanstalt, Leipzig 2006, ISBN 978-3-374-02418-6, S. 178–206.
Marco Höhn: Tot aber glücklich: Halloween – die Nacht der lebenden Toten als Event-Mix. In: Andreas Hepp, Waldemar Vogelsang (Hrsg.): Populäre Events – Medienevents, Spielevents, Spaßevents. (= Erlebniswelten. Band 4). Leske und Budrich, Opladen 2003, ISBN 3-8100-3421-5, S. 205–229.
Editha Hörandner (Hrsg.): Halloween in der Steiermark und anderswo. LIT Verlag, Wien 2005, ISBN 978-3-8258-8889-3.
Ronald Hutton: The Stations Of The Sun. A History of the Ritual Year in Britain. Oxford University Press, Oxford 1996, ISBN 0-19-820570-8 (englisch).
Gottfried Korff: Halloween in Europa. Stichworte zu einer Umfrage. In: Thomas Thiemeyer, Monique Scheer, Reinhard Johler, Bernhard Tschofen (Hrsg.) Simplizität und Sinnfälligkeit. Volkskundliche Studien zu Ritual und Symbol. (= Untersuchungen des Ludwig-Uhland-Instituts der Universität Tübingen. Band 113). Tübinger Vereinigung für Volkskunde, Tübingen 2013, ISBN 978-3-932512-76-6, S. 73–86.
Lisa Morton: The Halloween Encyclopedia. McFarland & Company, Jefferson 2003, ISBN 0-7864-1524-X (englisch).
Inge Resch-Rauter: Auf den Spuren der Druiden. Landschaft und Steine, Festtags-Bräuche und Märchen als Zeugen der großen europäischen Vergangenheit. Selbstverlag, Wien 1999, ISBN 3-9500167-1-6, S. 287–309.
Volker Wieprecht, Robert Skuppin: Das Lexikon der Rituale. Von Abschied bis Zigarette danach. Rowohlt, Berlin 2010, ISBN 978-3-87134-684-2, S. 96–99.
Weblinks
All Hallows’ Eve. In: BBC.co.uk (englisch)
Halloween. In: History.com (englisch)
Halloween. In: Brauchtum.de
Einzelnachweise
Feiertag
Gedenk-, Feier- oder Aktionstag in den Vereinigten Staaten
Heischebrauch
Feuerbrauchtum
Gedenk-, Feier- oder Aktionstag im Oktober
Wikipedia:Artikel mit Video
Allerheiligen
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Q251868
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https://de.wikipedia.org/wiki/Speisesalz
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Speisesalz
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Speisesalz, Kochsalz oder Tafelsalz (allgemeinsprachlich einfach „Salz“) ist das unter anderem in der Küche für die menschliche Ernährung als Würzmittel verwendete Salz. Es besteht hauptsächlich aus Natriumchlorid (NaCl).
Bei der Gewinnung handelsüblichen Speisesalzes verbleiben im Steinsalz und im Meersalz 1–3 % andere Salze und bei unbehandeltem Meersalz noch eine Restfeuchte von bis zu 5 % Wasser. Im Handel ist vorwiegend gereinigtes, raffiniertes Salz. Zur Verbesserung technischer Eigenschaften (Hygroskopie, Rieselfähigkeit) oder zur Vorbeugung gegen Mangelerscheinungen können geringe Mengen anderer Stoffe hinzugefügt sein.
Geschichte
Die Salzgewinnung ist von den meisten Zivilisationen des Altertums bezeugt. Es ist anzunehmen, dass das Speisesalz schon früh einen Platz in der Kultur der Menschen hatte. Schon die Sumerer und Babylonier nutzten Salze zur Konservierung von Lebensmitteln.
Im keltisch-germanischen Raum erfolgte eine großangelegte Produktion von Salz aus Meerwasser ab der Bronzezeit.
Speisesalz (lateinisch sal communis oder sal commune) war begehrt und in bestimmten Regionen rar. Es wurde bereits in vorgeschichtlicher Zeit auf Salzstraßen von den Herstellungsorten in die salzarmen Regionen transportiert. Auf den entstandenen Salzstraßen wurden weitere Artikel transportiert. Dadurch wurden die Salzstraßen zu wichtigen Handelsstraßen. Beispiele sind die Alte Salzstraße der Hanse von Lüneburg nach Lübeck mit einer Länge von 127 Kilometern oder die Salzstraße von Hall in Tirol nach Matrei am Brenner.
Wie wertvoll Speisesalz war, ergibt sich aus der Bezeichnung „weißes Gold“. Das Wort „Salär“ entstammt der Zahlung von Lohn oder Sold in Form von Salz. Auch der römische Gelehrte Cassiodor sagte einst: „Auf Gold kann man verzichten, nicht aber auf Salz.“
Salz spielte in vielen Ländern eine wichtige Rolle in der Geschichte der Besteuerung, und viele Regierungen setzten das gewinnbringende Salzgewinnungs- und Handelsmonopol streng durch, so das Ägypten der Ptolemäer und das Seleukidenreich. Im Mittelalter und in späterer Zeit mussten für Salz hohe Summen bezahlt werden. Durch den Transport des Speisesalzes und den Handel (siehe Salzhandel, Salzmonopol, Salzsteuer) wurden viele Städte zu reichen Metropolen. So war Lüneburg primärer Salzlieferant der Hanse, in deren nordeuropäischem Einflussbereich das Pökeln die wichtigste Konservierungstechnik für Fisch, Fleisch und Kohl war.
Nicht selten konnten sich Bauern trotz eigener Schlachtung Fleischmahlzeiten nur in Maßen leisten, weil Salz zum Pökeln und damit für die Haltbarkeit nötig war. 1648 kam es zum „Salzaufstand in Moskau“, weil durch eine Salzsteuer der Salzpreis auf das Dreifache stieg.
Im deutschsprachigen Raum wurde Speisesalz erst erschwinglich, als die mehrere hundert Meter dicken und 250 Millionen Jahre alten Salzschichten des Zechsteinmeers abgebaut werden konnten.
Länder und Städte, die das Salzregal besaßen, überwachten innerhalb dessen Geltungsbereich ihr Recht des Salzhandels. Der Salzhandel war in Deutschland bis 1993 mit der Salzsteuer belegt und ein wichtiges Monopol. In China war der Handel mit Salz und dessen Preis bis 2017 staatlich geregelt. Nur die China National Salt Industry Corporation war berechtigt, Tafelsalz in China zu verkaufen.
Durch den Zusatz von Aromen (wie etwa beim Rauchsalz) oder Beimengung anderer Stoffe (beispielsweise beim Auftausalz) kann Salz von der Salzsteuer freigestellt sein. Vormals war das Salzfass bei Tisch der Behälter für die individuelle Nachsalzung, mit dem Salzstreuer wurde die Dosierbarkeit verfeinert. Mit den körnigen Speisesalzen, die heute in Mode kommen, wurde die Salzmühle nötig. Je feiner das Salz, desto besser und schneller löst es sich auf und verteilt sich im Gericht. Daraus ergeben sich geschmackliche Eigenschaften von besonderen Speisesalzformen, wie dem Fleur de Sel, die zum überwiegenden Teil aus Natriumchlorid bestehen.
Gewinnung
Meersalz
Bei der ältesten Art der Salzgewinnung wird das Wasser natürlich salziger Oberflächengewässer, zumeist Meerwasser, in Salzgärten (flache Becken) geleitet, wo es unter Sonneneinstrahlung verdunstet. Alle im Meerwasser befindlichen Ionen kristallisieren dabei in Form von Ionenverbindungen entsprechend deren Löslichkeiten nacheinander aus. Dabei fallen vor allem zunächst Calciumsulfat (Gips) und dann Natriumchlorid aus. Das als Speisesalz genutzte Natriumchlorid wird vor der völligen Verdunstung des Wassers abgeschöpft und getrocknet. Geringfügige Beimengungen anderer Salze und Verunreinigungen beispielsweise durch Tonerde lassen sich nicht verhindern. Spurenelemente aus dem Meerwasser wären nur bei vollständiger Verdunstung und Eintrocknung in diesem Meersalz enthalten, was aber zu einem unerwünschten Beigeschmack und zu einer stärkeren Verunreinigung führte.
Heute werden etwa 20 % des weltweiten Verbrauchs aus Meerwasser gewonnen. An europäischen Küsten wird bis heute Meersalz gewonnen, so an der Algarve, Bretagne, Camargue, Toskana und in Kroatien. Es gibt Lagerstätten in den USA, Südamerika und Afrika, wo Salz im Tagebau aus geologisch jungen ausgetrockneten Salzseen gefördert wird. Diese Vorkommen sind nicht von mächtigen Gesteinsschichten überlagert wie die in Nord- und Mitteldeutschland, enthalten aber auch geringere Mengen an Salz. Bei der Entsalzung von Meerwasser fallen alle im Meerwasser gelösten Salze als Nebenprodukt an.
Salz aus dem Berg
Vor mehr als 250 Millionen Jahren hat sich Salz durch die Bildung von Barren, also Erhebungen des Meeresbodens, an Land abgelagert. Auf diese Weise gelangte das Salz in die Berge. Bei Salz aus dem Berg wird zwischen Stein- und Siedesalz unterschieden.
Steinsalz
Steinsalz ist Salz, das trocken aus dem Berg gewonnen wird. Man schlägt, sprengt oder fräst es mit Maschinen aus den Felswänden. Der Abbau ist nur an den Stellen im Berg möglich, wo zu mindestens 90 Prozent reines Salz vorliegt.
In Mitteldeutschland erfolgt der bergmännische Abbau mechanisch mithilfe von speziellen Fräsen und anderem schweren Gerät.
Siedesalz
Siedesalz wird mit Wasser aus dem Berg gelöst. Anders als Steinsalz kann man es nicht direkt aus dem Berg schlagen, da der Salzgehalt im Gestein nur bei etwa 50 bis 60 Prozent liegt. Beim Herauslösen entsteht eine salzhaltige Flüssigkeit. Beim Aussolen und nassen Abbau wird das Speisesalz durch Verdampfen des Wassers aus der geförderten Salzlösung (Sole) gewonnen (Siedesalz). Im Gegensatz zur Stein- oder Meersalzproduktion ist die Gewinnung von Siedesalz die aufwendigste und teuerste. Man kann es aufgrund der hohen Investitionen und Energiekosten als Industrie-Produkt bezeichnen.
Auswaschverfahren
Bei indigenen Völkern Südamerikas und in einigen Regionen West- und Zentralafrikas wird ein salzhaltiges Produkt durch Auswaschen von Pflanzenasche gewonnen. Dieses Produkt enthält größere Anteile von Kaliumchlorid.
In Südamerika und in Westafrika um den Tschadsee wird salzhaltige Erde ausgewaschen, filtriert und eingekocht; dieses Verfahren wird auch in Thailand und in Neuguinea genutzt.
An der Nordseeküste, in den Niederlanden, Norddeutschland und Dänemark wurde Torf gefunden, der von Meerwasser überflutet war. Dieser wurde ausgewaschen und filtriert, die konzentrierte Sole wurde in Siedepfannen eingeengt. Dies gab den Halligen ihren Namen, von althochdeutsch „Hall“ = „Salz“. Das Verfahren ist seit dem Mittelalter belegt und wird noch auf Læsø (Dänemark) als Touristenattraktion vorgeführt.
Das im westafrikanischen Karawanenhandel des 17. und 18. Jahrhunderts verbreitete Salz wurde vor allem aus salzigem oberflächennahen Grundwasser in der Sahara gewonnen, das aus Brunnen geschöpft wurde.
Produktionsmengen
Der Anteil der Speisesalzproduktion in Deutschland (440.000 t) beträgt etwa drei Prozent der Weltgesamtproduktion.
Verwendung
Als Lebensmittel unterliegt Speisesalz den lebensmittelrechtlichen Vorschriften.
Würzmittel
Speisesalz spielt in der Ernährung eine bedeutende Rolle. Salzlose Speisen schmecken meist fad, wie die Rede vom „Salz in der Suppe“ belegt. Kochsalz würzt fast alle Speisen und Lebensmittel.
Lebensmittelverarbeitung
Die Gegenwart von Speisesalz verringert die Löslichkeit der organischen Würzstoffe und erhöht dadurch deren Wahrnehmung im Geschmack. Eine kleine Menge Salz in Brot- oder Brötchenteigen stabilisiert das Kleber-Eiweiß (Gluten).
Gemüse wird gewöhnlich in Salzwasser gekocht. Durch Osmose schließt Salz die Zellwände auf, dadurch verkürzt sich die Kochzeit, so bleiben wichtige Inhaltsstoffe erhalten. Beim Backen von Fisch, Geflügel oder Fleisch in einem Salzmantel isoliert Salz das Lebensmittel, wodurch es im eigenen Saft gart. Salz steuert die Entwicklung von Enzymen bei der Teigbereitung und ermöglicht eine gesteuerte Gärung.
Außer zum individuellen Würzen ist Speisesalz bei der Herstellung von Fleisch- und Wurstwaren, Brot und Käse unentbehrlich.
Der größte Teil der Salzaufnahme erfolgt durch verarbeitete Lebensmittel und weniger durch Nachwürzen. Im GDA-Kennzeichnungssystem (Liste der Inhaltsstoffe auf Verpackungen verarbeiteter Lebensmittel) wird der Salzgehalt in Form von Salz-Äquivalenten angegeben. So lautet eine Angabe beispielsweise 1 Gramm Natrium und nicht 2,5 Gramm Salz.
Lebensmittelkonservierung
Viele Lebensmittel können durch Einsalzen haltbar gemacht werden. Insbesondere dient Speisesalz mit 0,4 % bis 0,8 % Natriumnitrit als Nitritpökelsalz zur Konservierung von Fleisch (Pökeln) und für eine antibakterielle Wirkung und eine Rotfärbung des Pökelguts.
Medizinische Verwendung
Das Speisesalz wurde im Mittelalter auch zur äußerlichen Behandlung von Geschwüren und Wunden benutzt, da es hier als zusammenziehend, reinigend und lindernd galt.
Auch heute findet Salz Anwendung in der Medizin, beispielsweise nutzen Krankenhäuser Kochsalzlösungen für Infusionen. Die Mischung aus 9 g Kochsalz und einem Liter Wasser ist isoton und wird zum Beispiel bei einer isotonen Dehydration eingesetzt. Salz wird zusätzlich im therapeutischen Bereich aufgrund der antibakteriellen Wirkung eingesetzt. So werden bei Nasenspülungen isotone Wasser-Salzlösungen verwendet.
Verbrauch
Der tägliche Salzbedarf eines Menschen beträgt je nach Individuum und klimatischem Umfeld zwischen mindestens 3 bis 6 Gramm und höchstens 16 bis 20 Gramm Speisesalz. Die Weltgesundheitsorganisation empfiehlt eine Salzzufuhr von maximal 5 Gramm für Erwachsene. Daraus ergibt sich ein Jahresverbrauch in Abhängigkeit vom Umfeld und der angenommenen Tageszufuhr von 1,8 bis 6,4 Kilogramm.
Im antiken Rom schätzten Plinius der Ältere und Lucius J. Columella die Menge an Speisesalz, die täglich in der Küche verwendet wurde, auf etwa 25 Gramm pro Person. Der Wirtschaftshistoriker Hans-Heinrich Bass beziffert den durchschnittlichen Salzverbrauch in Deutschland (bezogen auf Preußen) in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit 22 Gramm pro Person. Das Salz hat als Würzmittel und vorzugsweise als Konservierungsmittel gedient (Fleisch, Kohl, Bohnen).
Ende der 1980er Jahre wurde unter Einbeziehung der Salzverschwendung in der Küche und bei kochfertigen Produkten der tägliche Verbrauch eines US-amerikanischen Durchschnittsbürgers auf insgesamt etwa 135 Gramm Salz geschätzt.
Bei Angaben zum Durchschnittsverbrauch pro Person muss berücksichtigt werden, dass etwa die Hälfte des verwendeten Speisesalzes verloren geht, zum Beispiel durch Kochwasser oder Speiseabfälle.
Für die Dosierung von Speisesalz stehen Gefäße wie Salzstreuer (Salzfass) und Salzmühlen zur Verfügung.
Sorten
Man unterscheidet Steinsalz und (heute vorherrschend) Siedesalz. Himalayasalz ist durch seinen Eisenoxid-Anteil rötlich gefärbt. Meersalz wird aus Meerwasser gewonnen. Für das pakistanisch-indische Kala Namak (Schwarzes Salz) erhitzt man Steinsalz mit Harad-Samen; die pflanzlichen Bestandteile verhelfen dem Salz zu seiner dunklen Farbe.
Physiologische Bedeutung
Speisesalz ist der am meisten konsumierte Mineralstoff der menschlichen Ernährung. In gelöster Form liegt Kochsalz in Form von positiv geladenen Natrium- und negativ geladenen Chloridionen vor, die eigene Rollen für den Wasserhaushalt, das Nervensystem, die Verdauung und den Knochenaufbau besitzen. Der Körper eines Erwachsenen enthält etwa 150 bis 300 Gramm Speisesalz und benötigt täglich ein bis drei Gramm zum Ausgleich des Verlusts durch Schweiß und Ausscheidungen. Bei einigen Erkrankungen (darunter Durchfall) oder starkem Schweißaustritt kann der tägliche Kochsalzverlust 20 Gramm erreichen.
Da Speisesalz früher knapp war, hat der Körper eine Salzaufnahme mit einer Dopaminausschüttung belohnt. Die für den Salzappetit verantwortlichen Gene werden mit Drogensucht (Opiate und Kokain) in Verbindung gebracht.
Bluthochdruck
Überdurchschnittlicher Salzkonsum wurde seit den 1970er Jahren für Bluthochdruck verantwortlich gemacht und präventiv wurde eine salzarme Ernährung empfohlen. Es gibt Hinweise darauf, dass die „Salzsensitivität“ von vielen verschiedenen Faktoren wie genetischer Veranlagung, Alter oder BMI abhängt. Erkenntnisse aus dem Projekt Mars-500, welches an sechs Probanden durchgeführt wurde, zeigen, dass eine Reduzierung des Salzkonsums den Blutdruck senkt. Die Reduzierung der durchschnittlich in Deutschland konsumierten Menge von zwölf auf sechs Gramm hat etwa die gleiche Wirkung wie blutdrucksenkende Mittel.
Auf einer Fachtagung der American Heart Association in New Orleans zeigten Epidemiologen, dass weltweit pro Jahr etwa 2,3 Millionen Menschen aufgrund von kardialen Ereignissen basierend auf exzessiver Kochsalzzufuhr sterben. In Industrieländern sowie in Schwellen- und Entwicklungsländern steigt die Kochsalzzufuhr an.
In einer Studie an 31 schwangeren Frauen wurde beobachtet, dass Salzkonsum im Zusammenspiel mit dem veränderten Hormonhaushalt den Blutdruck zu senken vermochte.
Natriumreduziertes Speisesalz, bei dem circa ein Drittel des NaCl durch KCl ersetzt ist, wird unter der Bezeichnung Blutdrucksalz im Handel angeboten.
Entzündungen und kognitive Beeinträchtigungen im Tierversuch
Bei Mäusen führte ein stark erhöhter Salzkonsum zu kognitiven Defiziten, wie Forscher vom Weill Cornell Medical College im Fachmagazin Nature Neuroscience berichteten. Offenbar erhöhen besonders salzhaltige Speisen in Verbindung mit einprozentiger Kochsalzlösung als einzig verfügbarer Flüssigkeit die Anzahl spezieller T-Helferzellen im Dünndarm. Diese schütten den entzündungsfördernden Signalstoff Interleukin-17 aus, der sich daraufhin im Blutplasma anreichert und die Funktion der Endothelzellen stört. Diese Zellen kleiden die Innenseite der Blutgefäße aus und spielen beispielsweise eine wichtige Rolle bei der Regulation des Blutdrucks. Einige Forscher kritisierten an der Studie den Salzgehalt der verfütterten Nahrung: Insgesamt 4 bzw. 8 Prozent der Nahrung waren Salz, was laut den Studienautoren selbst dem 8- bzw. 16-fachen einer normalen Kost für Labormäuse entspricht und bei Menschen mit dem oberen Ende („high end“) des Spektrums der Salzaufnahme vergleichbar sei. John Funder äußerte:
„Any extrapolation from mice on a salt intake of 8 % to the human situation may be cute, but it is grossly irresponsible in terms of science.“ („Jedwede Extrapolation von Mäusen mit einer Salzaufnahme von 8 % auf die Situation von Menschen mag zwar putzig sein, aber ist wissenschaftlich grob unverantwortlich.“)
Über- oder Unterdosierung
Die Salzmenge im menschlichen Körper wird durch Hormone reguliert und bleibt nahezu konstant. Ist der Salzgehalt zu hoch, wird durch Flüssigkeitsausstoß überschüssiges Natriumchlorid ausgeschieden (Salurese), womit ein erheblicher Verlust an Wasser verbunden ist. In der Folge entsteht ein Durstgefühl. Eine dauerhaft hohe Salzaufnahme steigert die Wassermenge im Körper und damit das Gewicht und kann zu einer Schädigung der Nierenfunktion führen (1903 führten Fernand Widal und A. Javal die kochsalzarme Diät bei Nierenkrankheiten ein. Carl von Noorden empfahl 1909 die kochsalzarme Diät bei Hypertonie).
Es sind Fälle bekannt, bei denen übermäßiger plötzlicher Salzkonsum eine lebensgefährliche Wirkung hatte. So starb beispielsweise ein vierjähriges Mädchen 2005 an einer zwangsweise zugeführten Menge von 32 Gramm Speisesalz. Bei einer Vergleichsuntersuchung gleichaltriger Kinder wurde festgestellt, dass selbst ein Bruchteil dieser Salzmenge von keinem einzigen Kind freiwillig aufgenommen wurde. Die LD50 für Kochsalz beträgt 3 g pro Kilogramm Körpergewicht. Es ist unwahrscheinlich, eine entsprechende Menge unbeabsichtigt einzunehmen.
Der Konsum von zu wenig Salz wirkt sich negativ aus, da die geringe Salzkonzentration im Körper des Betroffenen jedes Durstgefühl stoppt und so zu einer Austrocknung führt. Die Symptome sind die einer Exsikkose. Wurde die notwendige Mindestmenge 1989 noch mit 2 Gramm pro Tag für Erwachsene angegeben, spricht die American Heart Association 2021 von weniger als 1,25 Gramm täglich.
Messeinrichtung im Mund
Im Mai 2018 wurde von einer Gruppe um Woon-Hong Yeo vom Georgia Institute of Technology, USA, eine im Gaumen des Oberkiefers per Zahnspange zu tragende Messeinrichtung präsentiert, die batteriebetrieben beim Essen die Salzkonzentration im Speisebrei misst und beispielsweise an ein Smartphone funkt.
Zusatzstoffe
Verschiedene Zusätze zum Speisesalz sind möglich, um anwendungstechnische oder ernährungsphysiologische Eigenschaften zu verändern.
Verbesserung der Rieselfähigkeit
Speisesalz ist aufgrund natürlicherweise in geringen Mengen enthaltener anderer Salze, wie zum Beispiel Magnesiumchlorid, hygroskopisch. Dadurch wird es an der Luft feucht und verklumpt, so dass es sich nicht mehr fein dosieren lässt. Zur Verbesserung der Rieselfähigkeit werden Calciumcarbonat (Kalk), Magnesiumcarbonat, Aluminiumoxid, Natriumferrocyanid, Silicate oder Kaliumhexacyanidoferrat(II) als Rieselhilfe zugesetzt. Das schwerlösliche Calcium- und Magnesiumcarbonat verursacht die Trübung beim Auflösen des Speisesalzes in Wasser. Gut rieselndes Speisesalz wurde 1911 vom US-amerikanischen Salzhersteller Morton Salt entwickelt.
Iod
Zur Vorbeugung eines Kropfes und vor einem Jodmangel kann dem Speisesalz Natriumiodat oder Kaliumiodat zugesetzt sein. In Deutschland enthält Jodsalz 15 bis 25 mg Iod pro Kilogramm. Iodat wird verwendet, weil Iodid unter Einwirkung von Wasser und Luftsauerstoff nicht stabil ist und sich leicht in Iod umwandelt. In den USA hingegen wird Kalium- und Natriumiodid verwendet, das durch Stabilisatoren wie Thiosulfate vor der Oxidation geschützt ist.
In Österreich enthält jodiertes Speisesalz 15 bis 20 mg Iod/kg Salz.
In der EU ist bei jodiertem Speisesalz die Angabe des Mindesthaltbarkeitsdatums erforderlich, bei unbehandeltem Salz nicht.
Fluorid
Zur Kariesprophylaxe werden geringe Mengen an Natriumfluorid oder Kaliumfluorid zugesetzt. Diese Praxis kam erstmals in den 1950er Jahren in der Schweiz auf. So führte 1955 der Kanton Zürich als erster fluoridiertes Kochsalz ein, weitere Kantone folgten. Seit einigen Jahren hält fluoridiertes Kochsalz in der Schweiz stabil einen Marktanteil von rund 80 Prozent. Seit 1983 beträgt die Dosierung etwa 250 Milligramm Fluorid-Ionen pro Kilogramm Speisesalz.
Andere Länder folgten dem Schweizer Vorbild nur zögernd. Seit 1983 gibt es in Frankreich fluoridiertes Speisesalz, es folgten Jamaika und Costa Rica. 1991 wurde der Vertrieb eines in Frankreich hergestellten Jodsalzes mit Fluorid auf der Basis von Ausnahmegenehmigungen in Deutschland zugelassen. Im nächsten Jahr wurde die Herstellung in Deutschland zugelassen. 2006 wurde fluoridiertes Speisesalz als Standardmaßnahme zur Kariesprophylaxe in der „Leitlinie Fluoridierungsmaßnahmen“ der „Zahnärztlichen Zentralstelle Qualitätssicherung“, die in Abstimmung mit anderen wissenschaftlichen Gesellschaften und Fachinstitutionen erarbeitet wurde, empfohlen. Im selben Jahr stimmte das Europäische Parlament der Anreicherung von Lebensmitteln mit Fluorid zu. So wurde der Weg frei für die Speisesalzfluoridierung in allen EU-Staaten.
2011 lag in Deutschland der Marktanteil von mit Fluorid versetztem Salz am gesamten Speisesalzabsatz in Haushaltsgebinden bei 68 Prozent. Es enthält 250 mg Fluorid/kg Speisesalz in Form von Natrium- oder Kaliumfluorid. Die Informationsstelle für Kariesprophylaxe sieht darin eine einfache und preiswerte Möglichkeit, Karies besser vorzubeugen. Fluoridiertes Speisesalz wirkt vor dem Verschlucken lokal durch den direkten Kontakt mit der Zahnoberfläche. Es erhöht die Fluoridkonzentration im Speichel und schützt so beim Essen vor Karies. Die kariesvorbeugende Wirkung von fluoridiertem Speisesalz ist inzwischen durch zahlreiche Studien belegt.
Natriumnitrit
Pökelsalz ist Speisesalz mit einem Zusatz von 0,4 % bis 0,5 % Natriumnitrit. Dadurch soll beim Pökeln von Fleisch die gewünschte entsprechende „Umrötung“ erreicht werden. Unter „Umrötung“ wird die Bildung der typischen, hitzestabilen roten Farbe von gepökelten Fleischerzeugnissen verstanden. Die Farbe von Fleisch wird hauptsächlich durch die Farbe des Myoglobins im Muskel bestimmt. Durch die Anlagerung bestimmter zweiatomiger Moleküle (zum Beispiel Sauerstoff, Kohlenmonoxid oder Stickoxid) an das zentrale Eisenatom des Myoglobins ändert dieses die Farbe. Wird unbehandeltes Fleisch erhitzt, oxidiert das zentrale Eisenatom (von Fe2+ zu Fe3+) und die Farbe ändert sich dabei von rot zu grau-braun. Wird dem Fleisch Nitrit zugesetzt, was in Form von „Nitritpökelsalz“ geschehen kann, so bildet sich unter den richtigen Bedingungen im Fleisch Stickstoffmonoxid (NO), welches sich mit dem Myoglobin zu hitzestabilem Nitrosomyoglobin verbindet, somit bleibt die „appetitlichere“ Färbung erhalten.
Es gibt im Wesentlichen zwei Theorien über den Ablauf der chemischen Vorgänge bei der Umrötung von Fleisch. Zum einen den rein chemischen und zum anderen den biochemischen Reaktionsweg. Bei beiden Ansätzen wird im ersten Schritt das Myoglobin unter Einwirkung von Nitrit zu Metmyoglobin aufoxidiert. Im zweiten Schritt lagert sich Stickoxid an das Metmyoglobin an und bildet Nitrosometmyoglobin. Dieses wiederum wird schließlich durch Enzyme oder Temperaturen von über 75 °C zu Nitrosomyoglobin reduziert.
Die Bildung der Pökelfarbe ist abhängig von der Temperatur, der Zeit und dem pH-Wert, bei denen die Reaktion abläuft. Bei niedrigeren pH-Werten läuft die Reaktion schneller ab als bei höheren pH-Werten. Der Zusatz von Umrötehilfmitteln beschleunigt die Umrötung und wirkt sich positiv auf die Farbstabilität der fertigen Produkte aus.
Folsäure
Die Deutsche Gesellschaft für Ernährung geht für Deutschland von einer Unterversorgung mit Folsäure aus. Aus diesem Grund wird Folsäure einigen Speisesalzsorten zugesetzt. Charakteristisch ist deren gelbliche Farbe. Beim Einsatz ist zu beachten, dass Folsäure nicht kochbeständig ist und Speisesalz mit Folsäure erst nach dem Kochen zugesetzt werden sollte.
Geschmacksstoffe
Der Zusatz von Gewürzen und anderen Geschmacksstoffen führt zu der umfangreichen Palette der Gewürzsalze. Zum einen sollen die Gewürze und Kräuter dem Salz „Geschmack“ geben, andererseits wirkt der Salzzusatz stabilisierend auf die Gewürze, wie bei Knoblauchsalz.
„Ur-Salz“ und Raffination
Es gibt zahlreiche esoterisch geprägte Autoren, die sich gegen die Praxis aussprechen, natürliches Salz mit Zusatzstoffen zu versetzen oder durch bestimmte Behandlungsprozesse Verunreinigungen des Salzes zu entfernen. Dabei wird zwischen raffiniertem und vorgeblichem Ursalz, wie Himalayasalz unterschieden. Die gesundheitlich positiven Wirkungen würden beim Raffinieren geschmälert und gar verloren gehen, während die gesundheitlich negativen Wirkungen zunehmen würden. Allerdings besteht das so genannte Ursalz, genauso wie das raffinierte Salz, fast ausschließlich aus Natriumchlorid. Bei einer Aufnahme von höchstens zwei Teelöffeln Salz am Tag sind alle anderen Inhaltsstoffe in zu geringen Mengen vorhanden, um physiologische Auswirkungen zu haben. Grundlage solcher Betrachtungen ist die Annahme von immateriellen Eigenschaften, die mit dem Ursalz verbunden werden. Es existieren jedoch keine wissenschaftlichen Studien über gesundheitliche Vorteile des Ursalzes.
Toponyme
Oft tragen mit (Speise-)Salz in Verbindung stehende Orte den Bestandteil Salz-, das mittelhochdeutsche Wort Hall- oder ähnliche Bezüge im Namen. Beispiele sind
Hall
Halle (Saale)
Bad Reichenhall
Hallein
Hallstatt mit dem weltweit ältesten Bergwerk (1000 v. Chr.)
Hall in Tirol
Schwäbisch Hall
Bad Friedrichshall
Schweizerhalle
Niedernhall
Salz
Salzbergen
Salzburg
Salzgitter
Salzhausen
Salzwedel
Bad Salzuflen
Bad Salzungen
Bad Langensalza
Bad Salzdetfurth
Bad Salzelmen
Bad Salzschlirf
Salzkotten
Bad Salzhausen
Soden
Bad Soden, Stadtteil von Bad Soden-Salmünster
Bad Soden am Taunus
Soden (Sulzbach am Main) (früher Bad Sodenthal), Ortsteil von Sulzbach am Main
Bad Sooden-Allendorf, Stadt im Werra-Meißner-Kreis, Hessen
im niederländischen Sprachraum: zout = Salz
Zoutelande in den Niederlanden
Zoutenaaie in Flamen
Zoutkamp in den Niederlanden
Zoutleeuw in Flamen
weitere Beispiele
Tuzla, Stadt in Bosnien und Herzegowina (benannt nach dem türkischen Wort tuz für Kochsalz)
Die Bezeichnung der Region Salzkammergut fußt historisch auf kaiserlichen Sonderrechten für den hier – im Süden von Oberösterreich – gewonnenen Rohstoff.
Literatur
Mark Kurlansky: Salz. Der Stoff, der die Welt veränderte. Claasen, München 2002, ISBN 3-546-00231-8.
Bernhard Wörrle: Vom Kochen bis zum Schadenszauber. Das Salz bei Mestizen und Indianern Lateinamerikas. In: Münchner Beiträge zur Amerikanistik. Akademischer Verlag, München 1996, ISBN 3-929115-75-1.
Jean-Francois Bergier: Die Geschichte vom Salz. Campus, Frankfurt am Main 1989, ISBN 3-593-34089-5.
Walter Botsch: Salz des Lebens: Kochsalz – NaCl, Franckh, Stuttgart 1971, ISBN 3-440-00270-5.
Hans-Heinz Emons, Hans-Henning Walter: Mit dem Salz durch die Jahrtausende. Deutscher Verlag für Grundstoffindustrie, Leipzig 1984.
M. Treml, W. Jahn, E. Brockhoff (Hrsg.): Salz, Macht, Geschichte. (Katalog zur gleichnamigen Ausstellung) Veröff. Bayer. Gesch. u. Kultur 30, Regensburg und Augsburg 1995.
Frédéric Denhez: Der Weg des weißen Goldes. Eine Kulturgeschichte des Salzes. Kubik RvR, Kehl 2006, ISBN 3-938265-23-X.
Th. Saile: Salz im ur- und frühgeschichtlichen Mitteleuropa. Eine Bestandsaufnahme. In: Berichte der Römisch-Germanischen-Kommission 2000. 81, 2001, S. 130–197.
Thomas Strässle: Salz. Eine Literaturgeschichte. Hanser, München 2009, ISBN 978-3-446-23417-8.
Oliver Haid, Thomas Stöllner: Salz, Salzgewinnung, Salzhandel. In: Heinrich Beck, Dieter Geuenich, Heiko Steuer (Hrsg.): Reallexikon der germanischen Altertumskunde. 2. Auflage. Band 26, Berlin/ New York 2004, S. 354–379.
Robin Brigand, Olivier Weller (Hrsg.): Archaeology of Salt. Approaching an Invisible Past. Sidestone Press, Leiden 2015, ISBN 978-90-8890-303-8.
Weblinks
Jodsalz und Speisesalz
Bilder zum Rohstoff Salz
Salz im Schweizerischen Idiotikon Band VII, 879 ff., zu Wirtschaftsgeschichte, Volksmedizin sowie Volksbrauch und Glauben.
Einzelnachweise
Natriummineral
Lebensmittelinhaltsstoff
|
Q11254
| 433.336805 |
30069
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https://de.wikipedia.org/wiki/Wasserfall
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Wasserfall
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Ein Wasserfall ist ein Abschnitt eines Fließgewässers (Fluss, Bach), an dem die Strömung, bedingt durch die Formung des Gesteinsuntergrundes, mindestens teilweise in freien Fall übergeht.
In der Vielfalt der Formen ist der klassische freie, senkrechte Absturz eher die Ausnahme. Meistens befinden sich gleitende Abschnitte in der Fallstrecke, die oft durch Bildung von Gumpen in stufige Absätze umgeformt werden. Je nach Steilheit der Talstufe können daraus treppenartige Kaskaden oder weitständige Abfolgen mehrerer Wasserfälle entstehen.
Typische Merkmale von Wasserfällen
Ein idealtypischer Wasserfall vereint folgende Merkmale:
markant erhöhtes Gefälle auf mindestens 100 Prozent (45°; damit ist die vertikale Komponente größer als die horizontale)
Zerfall des Wasserkörpers und dessen teilweise Ablösung vom Untergrund
Spritz- und Weißwasser sind vorherrschend (Farbeffekt durch Lichtreflexionen an Grenzflächen Luft–Wasser)
charakteristische Geräuschentwicklung
ein mikroklimatisches Umfeld eigener Prägung
Bei Wasserfällen lassen sich verschiedene Abschnitte unterscheiden:
Beginn der Fallstrecke: möglicher Übergangsbereich zum eigentlichen Wasserfall (vgl. Stromschnelle)
Kopfzone: Bereich des Wasserfalls oberhalb der Fallzone, wo das Gewässer vom Fließen über das Schießen ins Fallen übergeht
Fallkante: mögliche klar definierbare Stelle in der Kopfzone des Wasserfalls, wo das Gewässer vom Fließen unmittelbar ins Fallen wechselt
Fallzone: Bereich des Wasserfalls zwischen der Kopf- und der Prallzone, wo das Wasser entweder frei, kaskadenartig oder schießend (gleitend) fällt
Prallzone: Bereich des Wasserfalls unterhalb der Fallzone, wo das fallende, schießende oder zerstäubte Wasser aufprallt und sich wieder zu einem Gewässer sammelt (Merkmale: Nässe oder hohe Feuchtigkeit, eingeschränkte Vegetation)
Gumpe: meist vorhandenes Tosbecken in der Prallzone des Wasserfalls mit starker Tiefenerosion
Auslauf der Fallstrecke – möglicher Übergangsbereich zum normalen Wasserlauf, stromschnellenartig mit Auskolkungen.
Ein Wasserfall ist ein Ort besonders aktiven Naturgeschehens. Je nach Größe wirkt das Wasser unterschiedlich stark auf seine Umgebung ein. Das Prozessgefüge eines Wasserfalls kann beschrieben werden unter anderem anhand
der Energieumsätze (Wasserführung × Fallhöhe)
der Strömungs- und Reibungsvorgänge (beispielsweise Kavitation oder Ionisierung der Luft (Balloelektrizität, umgangssprachlich „Wasserfallelektrizität“ genannt))
der Kolkbildung am Fuß des Wasserfalls
der vermehrten Frostsprengung an Felsen im Gischtbereich
der Windwirkung der Wasserfallwinde, einem lokalen Windsystem (Radialwind), ausgelöst durch die Abwärtsbewegung des fallenden Wassers
der erhöhten Luftfeuchte
Das Naturgeschehen des fallenden Wassers ist vorwiegend Forschungsgegenstand der Physik (z. B. Strömungsmechanik) und auch der Hydrologie; die Formungsgeschichte, also die Veränderungen des Wasserfalls im Laufe der Zeit und ihre Regelhaftigkeiten, sind Gegenstand der Geomorphologie.
Begriff und Abgrenzung
Der allgemeinsprachliche, etwas unscharfe Begriff hat bei mehreren Merkmalen von Wasserfällen Untergrenzen:
bei zu geringer Höhe spricht man nur noch von Katarakt,
bei zu geringem Gefälle von Stromschnellen und
bei zu geringer Wasserführung von Tropfenschleiern oder Rieselfällen. – Siehe auch die Bezeichnung Schleierfall in einigen Orten.
Weitere Abgrenzungen gibt es bei künstlichen Wasserfällen:
Bei ausschließlichem Pumpbetrieb handelt es sich eher um spezielle Brunnenanlagen.
Bei ausschließlich technisch-funktionaler Gestaltung (Schussrinnen bei Talsperren, Wehre) ist der Begriff Wasserfall ebenfalls nicht oder nicht mehr gebräuchlich (siehe nachfolgend bei Sonderfälle).
Begriffliche Sonderfälle:
Bei Hangkanälen wurden wie ein Bach hangab fließende Abschnitte als Wasserfall bezeichnet (Beispiel: oberer Teil des Nabentaler Wasserfalls im Harz).
Mit dem mühlentechnischen Fachbegriff Wasserfall wurde das auf das Wehr und auf das Mühlrad konzentrierte Gefälle des Gewässers bezeichnet.
Seewasserfall: saloppes Sprachspiel, bezieht sich auf Lage in kurzem Fließgewässer zwischen Seen.
Gezeiten-Wasserfall: Die Cygnus Bay sowie die Horizontal Falls in der Talbot Bay, beide in Westaustralien, sind wasserfallähnliche Phänome im Meer. Sowohl im Englischen (tidal waterfalls) als auch im Deutschen werden sie als Gezeiten-Wasserfälle beschrieben.
Unterseeischer Wasserfall: saloppes Sprachspiel, bezieht sich auf fallende Meeresströmungen, getrieben durch von Temperatur oder Salzgehalt herrührende Schwereunterschiede.
Ein Beispiel für die schwierige Abgrenzung zwischen Wasserfällen und Stromschnellen ist der Sarpsfossen in Norwegen, der vor dem Bau des Kraftwerks auf einer Strecke von gut 40 Metern eine Fallhöhe von etwa 18 Metern aufwies. Heute ist nur noch die untere natürliche Fallstrecke mit einer Höhe von 12 Metern vorhanden. Wollte man ihn, wie in Norwegen üblich, als Wasserfall betrachten, wäre er vor dem Kraftwerksbau bei einer mittleren Wasserführung von 577 m³/s vor Dettifoss und Rheinfall Europas mächtigster Wasserfall gewesen.
Entstehung und Typen
Generell hat ein Fließgewässer die Tendenz, durch rückschreitende Erosion und durch seine Schleppfracht (Transport von Sand, Kies usw.) Gefällebrüche abzuschwächen und ein ausgeglichenes Längsprofil auszubilden. Diese Tendenz steht der Bildung von Wasserfällen entgegen, so dass sich Fallstufen nur bei besonderen Gegebenheiten bilden und erhalten.
Es lassen sich zwei wesentliche Arten von Fallstufen mit Untergruppen unterscheiden:
Fallstufen, die durch die Fließdynamik des Gewässers selbst bedingt oder wesentlich mit bedingt sind
Beispiele für destruktive, durch Erosionsprozesse sich formende Wasserfälle
Wasserfälle bilden sich besonders oft dort, wo unter widerstandsfähigem Gestein leicht ausräumbares folgt. Am Übertritt des Wassers in den Bereich, wo das weichere Gestein ausstreicht, entsteht aus einer anfänglichen Auskolkung eine Stufe mit Gumpe und schließlich die Unterspülung des härteren Gesteins. Über dieser Höhlung bricht mit der Zeit das Gestein nach. Die Lage des Wasserfalls verschiebt sich dadurch im Laufe der Zeit stromaufwärts. Diesen Formungsprozess nennt man ebenfalls „rückschreitende Erosion“. Berühmtestes Beispiel sind die Niagarafälle. Sehr viele kleine Fälle dieser Art findet man beispielsweise im Südwestdeutschen Schichtstufenland. Ähnlich verhält es sich bei den meisten Fällen Islands, wo Basaltdecken als Fallbildner wirken.
Auch in nahezu homogenem Gestein wie Granit oder Porphyr können sich aus Kolken über Stufen mit Gumpen formschöne Kaskadentreppen formen wie beispielsweise die Sieben Bütten. Dies gilt auch für Höhlenwasserfälle und eine ihrer Sonderform, die Gletschermühlen.
Beispiele für konstruktive, durch Mineralausfällung sich formende Wasserfälle
Wasserfälle, die sich durch Karbonatausfällung an zunächst kleinen Gefällestufen (lokaler Druckabfall an der Fallkante) nach und nach aufbauen. Die Terrassenkanten aus Travertin (auch Kalktuff genannt) können bis um 100 m Höhe erreichen, besonders zahlreich in Karstgebieten. Beispiele sind die Plitvicer Seen, der Uracher Wasserfall oder, als größter dieser Wasserfälle, der Huangguoshu-Wasserfall in China. Auch an Steinernen Rinnen können sich Wasserfälle bilden.
Fallstufen, die bereits ohne nennenswertes Zutun des Fließgewässers gegeben sind
Beispiele für sich verstärkende oder regenerierende Fallstufen:
Wasserfälle, die über Geländestufen aktiver Verwerfungen hinabstürzen. Hierzu kann man auch Gletschermühlen zählen, die Gletscherspalten hinabstürzen.
Wasserfälle, die über Brandungskliffs ins Meer stürzen ('Brautschleier' bei Seixal auf Madeira, Kieler Wasserfall auf Rügen)
Wasserfälle von Nebenbächen, die der stärkeren Tiefenerosion des Vorfluters nicht folgen können und daher eine Mündungsstufe hinabstürzen (Raumünzacher Wasserfall im Murgtal, Wasserfall des Bornichbaches am Mittelrhein)
Wasserfälle von Nebenbächen, die über Prallhängen von Vorflutern münden und daher eine Mündungsstufe hinabstürzen (Tannegger Wasserfall in der Wutachschlucht)
Beispiele für gegebene, sich nicht regenerierende Fallstufen:
Talstufen, die durch eiszeitliche Gletscher entstanden sind (Mitunter sehr hohe Wasserfälle, manchmal fast ohne eigene Überformung der Felsstufe, manchmal mit Klamm- oder Kaskadenbildung)
Wechsel von widerstandsfähigem zu leicht ausräumbarem Gestein oder freigelegter Wechsel zu Lockermaterialien wie am Rheinfall
Querende Verwerfungsfugen mit leicht ausräumbarem zerrüttetem Gestein (Großer Ravennafall im Höllental) oder große Klüfte (wichtiger Faktor der Detailausformung von Fallstufen, beispielsweise bei den Triberger Wasserfällen)
Natürliches Abkürzen von Talwindungen (meist Abschnürung gebundener Mäander oder ähnlich: Abkürzung eines Nebenbaches direkt zum Hauptfluss). Beispiele: Cirque de Navacelles in den Cevennen, Schlichemklamm bei Rottweil
Künstliche Abkürzungen von Gewässerläufen (Wasserkraftnutzung, Hochwasserschutz, oft nur Vorgriff zu erwartender natürlicher Entwicklung). Beispiele: Wasserfälle von Coo und Elzbach-Wasserfall bei Pyrmont.
Rückläufe aus künstlichen Zuleitungen zu ehemaligen Wasserkraftanlagen (natürliche Weiterformung abgeschlossener anthropogener Geländeformen). Beispiele: Spiegeltaler Wasserfall im Harz, Blauenthaler Wasserfall im Erzgebirge
Künstliche Gefällebrüche durch Steinbrüche in Talsohlen (natürliche Weiterformung abgeschlossener anthropogener Geländeformen). Beispiele: Krenkinger Wasserfall im Tal der Steina, Laubachfälle im Neandertal
Als solche gestaltete künstliche Wasserfälle. Beispiele: Radauwasserfall; Wasserfälle im Bergpark Wilhelmshöhe in Kassel
Zwischen diesen Typen gibt es zahlreiche Übergangs- und Mischformen. Beispielsweise kommen in glaziär geprägtem Relief oft gerundete Längsprofile von Steilstufen vor. Hängetäler (Seitental, das hoch über dem Boden eines gletschergeformten Trogtales mündet) können ganz allmählich in die Wand eines Trogtales übergehen und diese wiederum in die breite Talsohle. Die Auskolkung führt erst im Zuge weiterer Überformung durch den Wasserfall zu einer ausgeprägten Prallzone bzw. zu einer kaskadenartigen Stufenfolge in der Kopfzone des Falles.
Bekannte Wasserfälle
Besonders hohe Wasserfälle
Der Salto Ángel im südöstlichen Venezuela stürzt vom Tafelberg Auyan-Tepui 978 Meter in die Tiefe; damit ist er der höchste Einzel-Wasserfall der Erde. Nachdem sich das zerstäubte Wasser wieder zu einem Fluss gesammelt hat, stürzt es über eine Steilstufe im Wald abermals in die Tiefe. Beide Fälle haben zusammen sogar fast 1200 m Fallhöhe (Vor einigen Jahren wurde im Südosten Venezuelas sogar ein Doppelfall mit einer Gesamthöhe von 1250 Metern entdeckt, der vom abgelegenen Marahuaca-Tepui herabstürzt).
Die fünfstufigen Tugela Falls befinden sich im Royal Natal National Park der südafrikanischen Provinz KwaZulu-Natal und haben eine Gesamthöhe von 948 Metern.
Der peruanische Gocta galt eine Zeit lang nach seiner Entdeckung vor wenigen Jahren mit 771 Metern Höhe (Doppelfall) als dritthöchster Wasserfall der Erde.
Die dreiteiligen Yosemite Falls befinden sich im Yosemite-Nationalpark und werden mit einer Gesamthöhe von 739 m als die höchsten Wasserfälle von Nordamerika bezeichnet.
Das größte Wassergefälle der Erde befindet sich übrigens unter Wasser; an der Dänemarkstraße strömt das Meerwasser 600 Meter unterhalb des Meeresspiegels auf 4000 Meter hinab. Hierbei handelt es sich allerdings nicht um einen Wasserfall, sondern um eine absinkende Meeresströmung.
Besonders breite Wasserfälle
Die Iguazú-Fälle in Südamerika, am Iguazú-Fluss an der Grenze zwischen Brasilien und Argentinien, Höhe: 72 m, mittlerer Durchfluss: 1740 m³/s, verteilen sich über eine Fallkante von 2700 Metern Länge.
Die Viktoriafälle des Sambesi, zwischen Simbabwe und Sambia, bilden im Februar und März den größten „Wasservorhang“ der Welt mit einer Breite von 1708 m und einer Fallhöhe von 99 m. Der mittlere Durchfluss beträgt 1090 m³/s, maximal ca. 9100 m³/s.
Die teils nur kataraktartigen Khone-Fälle des Mekong bilden eine durch große Inseln aufgeteilte Fallfront von rund zehn Kilometern Länge.
Besonders wasserreiche Wasserfälle
Die Khone-Fälle des Mekong mit ihrer durch große Inseln aufgeteilten Fallfront von rund zehn Kilometern Länge.
Die Dry Falls sind ein Ensemble von Geländeformen im US-Bundesstaat Washington, die ein katastrophales Geschehen der jüngeren Erdgeschichte Dokumentieren. Während der Missoula-Fluten führten sie die zehnfache Abflussmenge aller heute bestehenden Flüsse. Sie waren 5600 m breit und 120 m hoch und damit die größten bekannten Wasserfälle der Erdgeschichte.
Die Guaira-Fälle oder Sete-Quedas-Fälle des Paraná galten als die nach ihrem Volumen größten Wasserfälle der Erde, bis sie 1982 durch die aufgestauten Wassermassen des Itaipú-Damms überflutet wurden. Wenig später ließ die brasilianische Regierung sie teilweise sprengen, damit die Navigation auf dem Stausee erleichtert wurde. Somit ist eine etwaige Renaturierung unmöglich gemacht worden.
Die Niagarafälle zwischen den USA und Kanada, Höhe: bis 59 m, mittlerer Durchfluss: ca. 6000 m³/s, sind die wasserreichsten Fälle Nordamerikas.
Der Salto Pará des Río Caura (Nebenfluss des Orinoco) ist mit einer mehrfach unterbrochenen Fallkante von insgesamt 64 Metern Höhe und rund 5 Kilometern Länge nicht nur einer der breitesten Wasserfälle der Welt, sondern mit rund 3500 m³/s auch einer der wasserreichsten.
Der Cachoeira de Paulo Afonso des Rio São Francisco stürzt 81 Meter tief in eine Schlucht bei einer Wasserführung von rund 2830 m³/s (starker Wasserentzug durch ein Wasserkraftwerk).
Wasserfälle in Deutschland, Österreich und der Schweiz
In den Triberger Wasserfällen stürzt die Gutach über zwei Falltreppen von ca. 10 m und ca. 85 m Höhe (mit sieben Stufen) in den Triberger Talkessel. Es ist Deutschlands wohl bekanntester Wasserfall, wiewohl mit insgesamt 163 m nicht, wie traditionell attestiert, sein höchster.
Der Röthbachfall im Berchtesgadener Land am Obersee (Nähe Königssee) ist mit etwa 470 m Gesamt- und 380 m reiner Fallhöhe der höchste Wasserfall in Deutschland, zwar weit sichtbar, aber schwer zu erreichen.
Die Krimmler Wasserfälle, eine Folge wuchtiger Flusswasserfälle von 140, 100 und 140 Metern Höhe, gelten als die höchsten Wasserfälle Österreichs.
Der Mürrenbachfall ist mit einer Fallhöhe von 417 m die höchste Einzelfallstufe der Schweiz.
Die Serenbachfälle am Walensee sind eine dreistufige Kaskade mit insgesamt 585 m Fallhöhe, wobei die mittlere Fallstufe mit 305 m der zweithöchste Wasserfall der Schweiz ist.
Der Rheinfall bei Neuhausen in der Schweiz ist neben dem Dettifoss in Island der größte Wasserfall Europas, Höhe: um 22 m, mittlerer Durchfluss: 373 m³/s (mittlerer Durchfluss im Sommer: ca. 700 m³/s).
Der 297 Meter hohe frei herabstürzende Staubbachfall ist mehrfach literarisch gewürdigt worden und besonders durch Lord Byron und Johann Wolfgang von Goethe bekannt geworden.
Die Reichenbachfälle in der Schweiz sind eine Folge von sieben Stufen mit insgesamt 250 Metern Höhe. Sie wurden durch eine Szene des Endkampfs zwischen Arthur Conan Doyles fiktiven Figuren Sherlock Holmes und Professor Moriarty bekannt.
Die Engstligenfälle bei Adelboden weisen mit zwei Hauptstufen insgesamt rund 370 m Fallhöhe auf.
Bekannte Wasserfälle Europas
Der Dettifoss der Jökulsá á Fjöllum, Island ist neben dem Rheinfall größter Wasserfall Europas, Höhe: 44 m, mittlerer Durchfluss: 193 m³/s.
Nur wenig kleiner ist der Tännfors in Schweden. Je nach Jahreszeit stürzen 400 bis über 750 m³/s Wasser des Sees Tännsjön 37 Meter tief in den See Östra Noren.
Die Gavarnie-Fälle in den Pyrenäen sind mit 422 m Fallhöhe der höchste Wasserfall Frankreichs und werden oft als zweithöchster Wasserfall Europas tituliert.
Der Vøringsfoss ist ein 183 m hoher Wasserfall in der Hardangervidda in Norwegen, unmittelbar an der Straße Oslo–Bergen gelegen.
Als Wasserfall benannte Katarakte und Stromschnellen
Mehrere so genannte Wasserfälle sind nur als Katarakt oder Stromschnelle anzusprechen. Bekannt sind:
Die Inga-Fälle sind eine 40 m hohe Kataraktstrecke von knapp zehn Kilometern Länge im Zuge der auch Livingstonefälle genannten Stromschnellen, in denen der Kongo die Niederguineaschwelle durchquert. Mit einer Wasserführung von im Mittel 41.000 m³/s sind sie die mit Abstand bedeutendsten Katarakte der Erde.
Die Boyomafälle des Lualaba, Oberlauf des Kongo (Demokratische Republik Kongo) sind eine Folge von 7 Katarakten bis 5 m Höhe, in der der Fluss 60 m Höhe auf rund 100 km Länge verliert (jährliches Abflussmittel: 17.000 m³/s).
Ökologische Aspekte
Wasserfälle stellen für flussaufwärts ziehende Fischarten ein Hindernis dar, welches von den daran angepassten Arten (z. B. Lachs) überwunden werden kann. Daher wurde beispielsweise der Saynbach-Wasserfall im November 2008 beseitigt.
Zur Überwindung kleinerer, vor allem künstlich angelegter, Wasserfälle und Staustufen werden mancherorts Fischtreppen errichtet.
In Klimagebieten mit längeren Trockenphasen können im Umfeld größerer Wasserfälle inselhafte, humide Lebensräume entstanden sein; bekannt hierfür ist besonders das Umfeld der Viktoriafälle.
Kulturlandschaftliche Aspekte
Typische Wasserfallnamen
Die Namen von Wasserfällen beziehen sich oftmals auf immer wieder ähnliche Merkmale und Auffälligkeiten wie die Dynamik der Bewegung, die Lichteffekte und Geräusche oder lokale Mythen. Umgekehrt kann auch die Umgebung nach dem Wasserfall benannt sein. Im Folgenden sind Namensbeispiele nach typischen Bezügen gegliedert. Ausgenommen sind alleinige Bezüge zum jeweiligen Fluss, Tal oder nahen Ort.
Die Bewegung und Form des Falls beschreibend
Drömmeler Sprötz (Eifel)
Geltenschuss (Schweiz)
Gieß von Veringendorf (Schwäbische Alb)
Hochfall (Bayerischer Wald)
Hoher Gießel (Schwäbische Alb)
Kühseich (Schwäbische Schichtstufen; „Kuh-Pissstrahl“)
Pfersag-Wasserfall (Fränkische Alb; gesprochen „Pfersaach“, also „Pferde-Pissstrahl“)
Pisciadú (Dolomiten; ladinisch: „Wasserfall“)
Pissevache (Rhonetal; „Kuh-Pissstrahl“)
Scheuche (Eichsfeld)
Schleierfälle (Alpenvorland)
Sieben Brunnen (Südtirol)
Strahlbrusch (Südschwarzwald)
Stroll (Rothaargebirge; „Pissstrahl“, auch „Kalte Spring“ genannt)
Wasserbaum (Leinebergland)
(japanisch: „Weiß-Faden-Wasserfall“), zum Beispiel in Fujinomiya und Itoshima
Das Geräusch des Falls hervorhebend oder lautmalend
Augrabies (Südafrika;Khoisan/San: (Aukoerebis) „Ort des tosenden Lärms“)
Doos (Fränkische Alb)
Elsachbröller (Schwäbische Alb)
Klingender Wasserfall (Fränkische Alb)
Die Rausch (Eifel)
Ruschbachfall (Südschwarzwald)
Thusfall (Fichtelgebirge)
Auf Gischt- und Lichteffekt anspielend
Cascade Blanche (La Réunion; „Weißer Wasserfall“)
Dampfloch (Wutach)
Dudhsagar (Goa, Indien; Konkani: „Milchsee“)
Epupa-Fälle (Angola/Namibia; Otjiherero: „Schaum“)
Gullfoss (Island; „Goldwasserfall“)
Mosi-oa-Tunya (Lozi (Sprache): „donnernder Rauch“, Bezeichnung für die Viktoriafälle)
Stuibenfall
Tisissat (Äthiopien; amharisch: „Wasser, das raucht“)
Die Topographie beschreibend oder nennend
Bodekessel (Harz)
Büstenlochfall (Nordschwarzwald)
Hangloch-Wasserfall (Südschwarzwald; Todtnauer Wasserfall)
Hohler Stein (Schwäbische Schichtstufen)
Höll-Wasserfälle (Südschwarzwald)
Hukou (Gelber Fluss; „Ausgießer“, „Flaschenhals“)
Kammerlochwasserfälle (Nordschwarzwald)
Kaskadenschlucht (Rhön)
Kieler Wasserfall (Rügen; Kiel: Grat in der Talgabel oberhalb)
Neunzehn Löcher (Lahn-Taunus)
Ravennafall (Schwarzwald; Bezug auf frz. „Ravin“ für Schlucht)
Rissfälle (Vogtland; Riss als Bezeichnung für einen Hangkanal)
Risslochfälle
Röllchen (Thüringer Wald; „Rillchen“ für die Kleinschlucht)
Sieben Bütten (Schwarzwald; Allerheiligen-Wasserfälle)
Steinerne Renne (Harz)
Steinerne Rinne (Alpenvorland)
Wachsender Bach (Schwäb. Schichtstufen)
Geräusch als Eigenschaft des Tosbeckens
Brusekessel (Lennegebirge)
Donnerloch (Hunsrück)
Krai Woog Gumpen (Südschwarzwald; „Schreitümpel“)
Rauschkümpel (Hunsrück)
Fallgeschehen als Eigenschaft des Tosbeckens
Schiessentümpel (Luxemburgische Schweiz)
Der Fall und seine Bewegung als Eigenschaft der Fallwand
Plästerlegge (Rothaargebirge; „Plätscherschiefer“)
Schießlay (Eifel; Klidinger Wasserfall)
Tränenlay (Eifel)
Tretstein (Südrhön, „Trätsch-Stein“)
Triefender Stein (Thüringer Wald)
Wasserfelsen (Schwarzatal, Südschwarzwald)
Fallgeschehen als Merkmal des Baches oder Tals
Fallender Bach (Odenwald)
Föllbachfall
Sturzdobel (Wutachschlucht)
Auf beängstigende Wirkungen anspielend
Höllenloch (Lahntal, auch Förstertreppchen genannt)
Teufelskessel (Südschwarzwald)
Trou de Fer (La Réunion; eigentl. Trou d’enfer: „Höllenloch“)
Auf Kultur, Sagen und Begebenheiten Bezug nehmend
Allerheiligenfälle (Nordschwarzwald)
Barnafoss (Island; Bezug auf ertrunkene Kinder)
Dragonersprung (Schwäbische Alb)
Edelfrauengrab-Wasserfälle (Nordschwarzwald)
Förstertreppchen (Lahntal, auch Höllenloch genannt)
Hinkelskret-Wasserfall (Saarland; „Kükenversteck“)
Katharinafälle (Bodensee)
Nixenteich (Rhön)
Tanzlay (Eifel)
Tatzelwurm (Bayerische Alpen)
Teufelsbadstube (Fränkische Schichtstufen)
Teufelsmühle (Rhön)
Teufelsmühle (Nordschwarzwald)
Tusculum (Südschwarzwald)
Auf Auswirkungen des Falls anspielend
Forellensprung (Schwäbische Schichtstufen)
Wachsender Bach (Schwäbische Schichtstufen)
Auf den Wasserfall bezogene Toponyme der Umgebung
Pisciadú (Nördlicher Teil der Sella in den Dolomiten, bezogen auf den gleichnamigen Pisciadú, ladinisch: „Wasserfall“)
Semonkong (Kleinstadt in Lesotho; „Platz des Rauchs“, bezogen auf den Maletsunyane-Wasserfall)
Stübenbach (Bezug auf den Todtnauer Wasserfall, Südschwarzwald)
Wasserfall (Dorf in Nordrhein-Westfalen, bezogen auf die Plästerlegge)
Bilder
Siehe auch
Liste von Wasserfällen
Liste der Wasserfälle in Deutschland
Liste der höchsten Wasserfälle
Literatur
T. W. Noyes: The Worlds Great Waterfalls. In: National Geographic Magazine. Nr. 50, 1926, S. 29–59.
Martin Schwarzbach: Isländische Wasserfälle und eine genetische Systematik der Wasserfälle überhaupt. In: Zeitschrift für Geomorphologie. NF Bd. 11, 1967, , S. 377–417.
R. W. Young: Waterfalls, Form and Progress. In: Zeitschrift für Geomorphologie. Supplement. NF Bd. 55, 1985, , S. 81–95.
Stephan Kunz, Muriel Stillhard: [Das Motiv Wasserfall in der Kunst]. In: Kunst und Kultur Graubünden. Bündner Jahrbuch 2022, Tardis, Chur 2021, ISBN 978-3-9525049-3-2, S. 43–58.
Weblinks
Waterfalls of the world, links
Einzelnachweise
Fluviale Landform
Wikipedia:Artikel mit Video
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Q34038
| 505.686204 |
940450
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https://de.wikipedia.org/wiki/Amische
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Amische
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Die Amischen ( []) sind eine täuferisch-protestantische Glaubensgemeinschaft, die überwiegend in den USA lebt. Die Bezeichnung leitet sich vom Namen ihres Begründers Jakob Ammann (1644–1730) ab. Die Amischen haben ihre Wurzeln in der reformatorischen Täuferbewegung Mitteleuropas, vor allem der Schweiz und Süddeutschlands. Vom Hauptstrom der Täufer, den Mennoniten, trennten sich die Amischen 1693.
Wenn heute von Amischen gesprochen wird, sind fast immer die „Amischen alter Ordnung“ gemeint. Denn in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts spalteten sich die Amischen in verschiedene Untergruppen auf, von denen die Amischen alter Ordnung nur etwa ein Drittel ausmachten. Die meisten anderen Untergruppen haben im Lauf der Zeit ihre amischen Eigenarten verloren und sich der amerikanischen Gesellschaft angeglichen. Neben den Amischen alter Ordnung haben sich die Kauffman Amish Mennonites, die Beachy-Amischen und die Amischen neuer Ordnung einige Teile der alten amischen Kultur bewahrt. Die konservativen Mennoniten, von denen viele amischen Ursprungs sind, haben Traditionen bewahrt, die sowohl mennonitisch als auch amisch sind. Die Amischen alter Ordnung sind heute in mehr als vierzig Untergruppen aufgeteilt, die sich teilweise erheblich unterscheiden.
Amische alter Ordnung führen ein stark in der Landwirtschaft verwurzeltes Leben und sind bekannt dafür, dass sie bestimmte moderne Techniken ablehnen und Neuerungen nur nach sorgfältiger Prüfung der Auswirkungen übernehmen. Die Amischen legen großen Wert auf eine Familie mit klar vorgegebenen Geschlechterrollen, Gemeinschaft und Abgeschiedenheit von der Außenwelt. Wie andere täuferische Kirchen praktizieren die Amischen ausschließlich die Bekenntnistaufe und lehnen entsprechend der Bergpredigt Gewalt und das Schwören von Eiden ab.
Die Amischen stammen überwiegend von Südwestdeutschen oder Deutschschweizern ab und sprechen untereinander meist Pennsylvaniadeutsch, kleinere Untergruppen sprechen stattdessen einen elsässischen oder einen berndeutschen Dialekt. Im Jahre 2015 lebten etwa 300.000 Amische in 32 Staaten der USA sowie im kanadischen Ontario in etwa 500 Siedlungen und 2.200 Gemeindedistrikten.
In den letzten Jahrzehnten wurden die Amischen ein beliebtes Thema der Populärkultur, wobei vor allem die Massenmedien ein von der Wirklichkeit oft stark abweichendes Bild der Amischen zeichnen. Bestes Beispiel einer stark verzerrten Darstellung der Amischen ist die Fernsehserie Amish Mafia.
Namen
Der Name „Amische“ entwickelte sich aus dem Nachnamen von Jakob Ammann aus Erlenbach im Simmental, der Ältester (Gemeindeleiter) einer Mennonitengemeinde im Elsass war und sich 1693 mit Gleichgesinnten vom Hauptzweig der Mennoniten abtrennte.
Im Englischen werden die Amischen als Amish bezeichnet, wobei das „A“ meist mit dem englischen A wie in father ausgesprochen wird (welches dunkler als das standarddeutsche A ist). Im amerikanischen Englisch gibt es auch die selteneren Aussprachen mit A wie in cat /æˑ/ und wie in fate /eɪ/, im britischen Englisch /eɪ/. Die Amischen selbst sprechen auf Deutsch und Pennsylvania-Deutsch „Amisch“ meist mit kurzem „A“, entsprechend der Aussprache von „(Jakob) Ammann“, dessen erstes „A“ ebenfalls kurz ist.
Geschichte
Entstehung der Täufer
Die Vorgeschichte der Amischen ist in der Reformationszeit verankert. Neben dem bekannten Reformator Martin Luther gab es noch weitere, wie Ulrich Zwingli, in dessen Umfeld in Zürich die Täuferbewegung entstand. Luthers Aufbegehren gegen das Papsttum gab die Initialzündung für andere Personen, sich ebenfalls aktiv für eine Kirchenreform einzusetzen. So sind sowohl die Reformatoren Thomas Müntzer, Ulrich Zwingli und der etwas spätere Johannes Calvin zu nennen als auch die zeitgleich aufkommende radikal-reformatorische Täuferbewegung (despektierlich auch „Wiedertäufer“ genannt) mit ihren eigenen Reformatoren wie z. B. Felix Manz, Konrad Grebel oder Menno Simons.
Aus der Täuferbewegung entstand im Laufe der Zeit die evangelische Religionsgemeinschaft der Mennoniten, zu denen im 17. Jahrhundert auch die Gemeinden zählten, die sich in der Schweiz und Süd-Deutschland als Reste der verfolgten Täufer als Schweizer Brüder bezeichneten. Diese hatten – soweit sie im Elsass lebten – das Dordrechter Bekenntnis der Mennoniten der Niederlande und Norddeutschlands aus dem Jahre 1632 angenommen, praktizierten aber die dort geforderte Absonderung von der Welt und Gemeindebann bei Uneinsichtigkeit nach Verstößen gegen die Ordnung nicht so streng, weil vor allem in der Schweiz aufgrund der dortigen Verfolgung eine strikte Unterscheidung zwischen Amischen und nicht-amischen Helfern ihre Existenz bedroht hätte.
Entstehung der Amischen
Ende des 17. Jahrhunderts sorgte die strenge Anwendung des Dordrechter Bekenntnisses durch den mennonitischen Ältesten Jakob Ammann für Unruhe in den Schweizer und nahen elsässischen Gemeinden, wobei der stärkere Kontakt der elsässischen Mennoniten mit den Niederlanden und die Ähnlichkeit der Verhältnisse in beiden Gegenden, nämlich eine relativ große Toleranz von staatlicher Seite, eine Rolle spielten. Hauptgegner in dieser Auseinandersetzung war der schweizerische mennonitische Älteste Hans Reist, mit dem sich Ammann auch über die Frage stritt, wer gerettet werden könne, wer also in den Himmel käme.
In der Schweiz halfen damals viele Nichtmennoniten den verfolgten Mennoniten, indem sie sie versteckten oder ihnen andere Hilfe zukommen ließen, und retteten ihnen dadurch das Leben. Hans Reist meinte, dass diese so genannten „Treuherzigen“ auch gerettet werden könnten, obwohl sie nicht in die „Gemeinde Gottes“ eintraten; die eigene Gemeinde wurde als die einzige richtige Gemeinde verstanden. Viele dieser „Treuherzigen“ standen auch den mennonitischen Glaubenslehren sehr nahe, doch die Umstände hinderten viele daran, sich ihnen anzuschließen, etwa die Angst vor dem Verlust des Lebens.
Ammann sah dies viel rigoroser: Er verlangte einen vollständigen Übertritt zum Mennonitentum mit allen Konsequenzen. Die wahren Gläubigen sollten „das Kreuz auf sich nehmen wie das Vorbild“ und hätten dann eine „lebendige Hoffnung auf Rettung“, während Zweifler und Unentschlossene, die „diese Welt eben doch noch mehr lieb haben als den Herrn“, keine Gnade erwarten können. Dies war einer der Hauptpunkte des Streites.
Begründet im Dortrechter Bekenntnis von 1632 und der Bibel, wo von einem demütigen Lebenswandel gesprochen wird, forderte Ammann auch eine strenge Handhabung der Gemeindezucht und die Einhaltung bestimmter Regeln über Kleidung und Barttracht der Gläubigen. Dadurch wurden viele strenge Elemente in der sich neu formenden Gruppe auch tatsächlich umgesetzt.
All diese Streitpunkte endeten in einer Spaltung. Es entstanden die „ammannschen Leute“, die Gemeinde Ammanns. Dabei ging die Spaltung von Ammann aus: Wer mit Ammann nicht übereinstimmte, den bannte er und forderte von der Gemeinde, den Kontakt mit ihm abzubrechen (Meidung). Dies galt auch innerhalb der Familie: Mann und Ehefrau hatten sich fortan ihres ehelichen Geschlechtslebens zu enthalten und durften nicht am selben Tisch essen.
Später sah Jakob Ammann ein, dass seine Verfahrensweise zu rigide war, und bannte zur Strafe sich selbst. Allerdings war zu diesem Zeitpunkt die Spaltung schon zu weit verfestigt, als dass sie hätte rückgängig gemacht werden können. So gab es im süddeutschen, elsässischen und schweizerischen Raum ab 1693 zwei getrennte Formationen der Schweizer Brüder oder Mennoniten.
Verbreitung in Europa im 18. und 19. Jahrhundert
Neben der Schweiz lebte im frühen 17. Jahrhundert ein beachtlicher Teil der Amischen im Elsass, wo wesentlich größere religiöse Toleranz bestand als in der Schweiz. Dieses Gebiet geriet ab 1648 allmählich unter französische Kontrolle. Ludwig XIV., der König von Frankreich, duldete keine anderen Bekenntnisse neben der römisch-katholischen Kirche, so dass ein Teil der Amischen aus dem französisch gewordenen Elsass in die reichsdeutschen Gebiete Mömpelgard, Lothringen, Saarland, Hessen und Bayern auswanderten, sowie in starkem Maße in die Pfalz, wo schon seit 1688 Mennoniten lebten, die nach 1693 Amische wurden.
Erste Auswanderungswelle nach Amerika
Bereits 1683 hatten deutschsprachige Mennoniten aus Krefeld mit Germantown (Deitscheschteddel) eine Siedlung in Pennsylvania gegründet. Im Jahre 1709 begann dann eine Auswanderungswelle von Pfälzern nach Nordamerika, die erst mit der Französischen Revolution endete. Mit dieser Welle aus der Pfalz kamen etwa 500 Amische, das heißt etwa 100 Familien, nach Pennsylvania, wo eine eigene deutsche Kultur mit einem eigenen, pfälzisch geprägten Dialekt entstand, die Kultur der Pennsylvania-Deutschen, die englisch „Pennsylvania Dutch“ genannt werden. Die ersten dieser amischen Einwanderer, die dokumentiert sind, kamen im Jahre 1737 mit dem Schiff Charming Nancy in Philadelphia an. Die Amischen fanden in Pennsylvania, wo der Quäker William Penn Glaubensfreiheit garantierte, günstigere Bedingungen vor als in Europa, wo Religionsfreiheit im Wesentlichen erst im 19. Jahrhundert eingeführt wurde.
Zweite Auswanderungswelle nach Amerika
Eine zweite Auswanderungswelle begann 1815, nachdem die Wirren der Napoleonischen Kriege ausgeklungen waren und dauerte bis zum Ersten Weltkrieg an. Nach 1860 kamen aber nur noch sehr wenige Amische nach Amerika, so dass das Ende dieser Welle oft um 1860 angesetzt wird. Die Einwanderer dieser zweiten Welle kamen nicht mehr nur aus der Pfalz, sondern auch aus der Schweiz und dem Elsass und den oben genannten Gebieten. Weil nicht selten fast vollständige Gemeinden auswanderten, lösten sich die zurückgebliebenen Restgemeinden oft auf, beispielsweise in Hessen und Bayern.
Entstehung der Amischen alter Ordnung
Zwischen den Jahren 1862 und 1878 kam es in Nordamerika zu sogenannten Dienerversammlungen, das heißt Versammlungen von amischen Gemeindeleitern, um Fragen der Modernisierung zu erörtern und die Einheit der Amischen zu bewahren. Diese Versammlungen scheiterten aber im Jahre 1865 insofern, als kein Kompromiss mit den Traditionalisten gefunden werden konnte, so dass diese sich aus den Versammlungen zurückzogen und sich in den nächsten Jahrzehnten als „Amische alter Ordnung“ organisierten. Die Modernisierer dagegen, die etwa zwei Drittel der Amischen ausmachten und sich „Amish Mennonites“ nannten, bewegten sich zunehmend in Richtung der amerikanischen Mehrheitsgesellschaft und vereinigten sich vor allem im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts mit den Mennoniten, nachdem sie schrittweise alle amischen Besonderheiten verloren hatten.
Der Prozess der Teilung war ein langsamer Prozess des Sortierens und es dauerte etwa 50 Jahre, bis sich alle Amischen gemäß ihrer Einstellung auf die verschiedenen amischen Gruppen verteilt hatten.
Im Verlauf dieses Prozesses entstanden weitere amische Untergruppen, beispielsweise die Egli-Amischen und die Stuckey-Amischen, die sich schließlich ebenfalls völlig assimilierten, sowie die Kauffman-Amischen, die dem „Schlafprediger“ Johannes D. Kauffman (1847–1913) folgten und sich als einzige der amischen Modernisierer weitgehend ihre amische Kultur erhalten haben. Eine Mittelgruppe zwischen Modernisierern und Traditionalisten entwickelte sich langsam zu sehr konservativen Mennoniten, die nur teilweise assimiliert sind. Diese gründeten im Jahre 1910 die „Conservative Amish Mennonite Conference“, die im Jahre 1957 das Wort „Amish“ aus ihrem Namen strich.
Die meisten der Einwanderer des 19. Jahrhunderts schlossen sich den Modernisierern an, nur wenige aus der Schweiz und dem Elsass wurden Amische alter Ordnung. Zu diesen wenigen gehören die Amischen im Adams und Allen County in Indiana mit ihren Tochtersiedlungen, die heute noch Schweizer bzw. elsässische Dialekte sprechen. Diese sogenannten „Swiss Amish“, die nicht Pennsylvania-Deutsch, sondern Dialekte ihrer alten Heimat sprechen, stellen heute etwa sieben Prozent der Amischen.
In Europa fand keine entsprechende Teilung mit dem Auszug der Traditionalisten statt. Hier bewegten sich alle amischen Gemeinden in Richtung der Mehrheitsgesellschaft und schlossen sich früher oder später den lokalen Mennoniten an oder wurden zu Mennoniten-Gemeinden. Die letzte amische Gemeinde in Deutschland bestand bis 1937 in Ixheim, die letzte Gemeinde in Europa, die die amische Fußwaschung praktizierte, befand sich bis 1941 in Luxemburg. Beide Gemeinden schlossen sich schließlich auch Mennoniten-Gemeinden an.
20. Jahrhundert
Obwohl es im 19. Jahrhundert in Mifflin County, Pennsylvania, zu Spaltungen zwischen den Amischen alter Ordnung kam, dauerte eine große Spaltung unter den Amischen bis etwa zum Ersten Weltkrieg. Zu dieser Zeit entstanden zwei sehr konservative Verbindungen – die Swartzentruber-Amischen in Holmes County, Ohio, und die Buchanan-Amischen in Iowa. Den Buchanan-Amischen schlossen sich bald gleichgesinnte Gemeinden in den ganzen USA an.
Mit dem Ersten Weltkrieg kam die massive Unterdrückung der deutschen Sprache in den USA, die schließlich zu einem Sprachwechsel der meisten Deutschsprachigen in Pennsylvania führte, so dass die Amischen und andere Gemeinden alter Ordnung bis zum Ende des 20. Jahrhunderts fast als die einzigen Sprecher übrig geblieben waren. Dadurch entstand eine Sprachbarriere um die Amischen, die es in dieser Form vorher nicht gegeben hatte.
In den späten 1920er Jahren löste sich die eher veränderungsorientierte Fraktion der Amischen alter Ordnung, die das Auto übernehmen wollte, vom Mainstream und organisierte sich unter dem Namen Beachy-Amische.
Während des Zweiten Weltkriegs kam die alte Frage des Militärdienstes für die Amischen wieder auf. Weil amische Männer im Allgemeinen den Militärdienst verweigerten, landeten sie im Civilian Public Service (CPS), wo sie hauptsächlich in der Forstwirtschaft und in Krankenhäusern arbeiteten. Die Tatsache, dass viele junge Männer in Krankenhäusern arbeiteten, wo sie viel Kontakt mit fortschrittlicheren Mennoniten und der Außenwelt hatten, führte dazu, dass viele dieser Männer nie den amischen Gemeinden beitraten, in denen sie groß geworden waren.
In den 1950er Jahren wandelte sich die Beachy Amischen zu einer eher evangelikalen Gemeinde. Diejenigen, die die alten Traditionen der Beachy Amischen bewahren wollten, unter anderem die deutsche Sprache, organisierten sich neu als Old Beachy-Amische.
Bis etwa 1950 besuchten fast alle amischen Kinder kleine, lokale öffentliche Schulen, oft Ein-Raum-Schulen, danach führte jedoch die die Einrichtung großer Schulzentren und die Schulpflicht über die achte Klasse hinaus zu Widerstand der Amischen, die deswegen eigene Schulen einrichteten. Der Konflikt um die Schulpflicht über die 8. Klasse hinaus dauerte bis 1972, als der Oberste Gerichtshof der Vereinigten Staaten amische Schüler nach der achten Klasse von der Schulpflicht befreite. Bis zum Ende des 20. Jahrhunderts besuchten dann fast alle amischen Kinder von den Amischen selbst eingerichtete und verwaltete Schulen, die fast immer Ein-Raum-Schulen oder wenig größere Schulen sind.
Im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts verließen immer mehr amische Männer die traditionelle Arbeit in der Landwirtschaft und gründeten kleine Unternehmen, da der Druck auf die kleinbäuerliche Landwirtschaft stets zugenommen hatte. Obwohl es unter den Amischen die unterschiedlichsten Unternehmen gibt, liegt ein Schwerpunkt ihrer Unternehmen im Bauhandwerk – in den USA meist Holzbau – und in holzverarbeitenden Betrieben. In vielen Siedlungen der Amischen, vor allem in den größeren, sind Bauern heute eine Minderheit. Ungefähr 12.000 der 40.000 Milchviehbetriebe in den Vereinigten Staaten waren 2018 im Besitz von Amischen.
Bis ungefähr zum Ersten Weltkrieg war die Identität der Amischen alter Ordnung nicht mit der Verweigerung des Einsatzes von neuester Technologien verbunden, da die Amischen alter Ordnung und ihre ländlichen Nachbarn die gleichen Farm- und Haushaltstechnologien verwendeten. Auch spielten Fragen nach dem Einsatz von Technologien bei der Teilung der Amischen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts keine Rolle.
Telefone waren die erste wichtige Technologie, die von den Amischen alter Ordnung breitflächig abgelehnt wurde, bald folgte die Ablehnung von Autos, Traktoren, Radios und vielen anderen technologischen Erfindungen des 20. Jahrhunderts.
21. Jahrhundert
Die beiden größten Siedlungen der Amischen bestehen heute in Lancaster County in Pennsylvania, sowie einer mehrere Counties umfassenden Siedlung in Holmes County, Wayne County, Tuscarawas County und Stark County in Ohio. Die drittgrößte amische Siedlung befindet sich im Elkhart und LaGrange County in Indiana, die viertgrößte Siedlung in Geauga County, in Ohio. Mittlerweile sind Amische in über dreißig US-Staaten und in den kanadischen Provinzen Ontario, Manitoba und Prince Edward Island zu finden. Außerhalb Nordamerikas gab es Versuche, in Mittelamerika und in Paraguay Siedlungen zu bilden, diese waren aber meist nicht von langer Dauer.
Die Amischen leben nicht in geschlossenen Siedlungen bzw. Dörfern. Zwar gibt es Gebiete, in denen es viele Amische gibt und wo sie die Landschaft prägen, aber fast immer leben sie neben „englischen“ Nachbarn.
In den Siedlungen fällt allgemein auf, dass bestimmte Nachnamen überwiegen. Dies lässt darauf schließen, dass ganze Sippen mit ihren Namensträgern von den Erstsiedlungen auszogen. Damit ist auch ihr Genpool mitgewandert. So überwiegt in Lancaster County zu 25 Prozent der Name Stoltzfus (alternative Schreibweise: Stoltzfoos), dann kommen die Namen Byler, Fisher, Petersheim, Lapp und King. In LaGrange, Indiana, überwiegen Borntrager, Miller und Schrock, in den schweizerdeutschen Siedlungen in Allen County, Adams County, Indiana die Nachnamen Graber, Grabill/Kraybill oder Schwartz.
Immaterielle Merkmale amischer Kultur
Grundlagen
Obwohl die äußerlichen Kennzeichen amischer Kultur zuerst ins Auge fallen, sind sie doch nur Ausdruck der geistlichen Grundlagen der Amischen, die vor allem in den Werten des Neuen Testaments verankert sind. Nach Ansicht von John S. Oyer ist die Kultur der Amischen gelebte Theologie. Im Gegensatz zu den meisten Strömungen des Christentums verfügen die Amischen nämlich nur über wenige schriftlich fixierte theologische Texte.
Die Schleitheimer Artikel von 1527 und das Dordrechter Bekenntnis von 1632 zählen zu den wenigen ausformulierten Bekenntnisschriften der Amischen (und Mennoniten). Wichtig sind auch die Schriften Menno Simons, auf dessen Vornamen die Bezeichnung der Mennoniten zurückgeht. Des Weiteren ist das amische Liederbuch „Ausbund“ aus dem Jahre 1564 wichtig, sowie das Gebetbuch „Ernsthafte Christenpflicht“ aus dem Jahre 1708. Die wichtigste moderne Quelle bezüglich amischer Theologie ist nach Oyer das Buch 1001 Questions and Answers on the Christian Life aus dem Jahre 1992.
Wichtige Elemente des Glaubens der Amischen und anderer Täufer sind die Gläubigentaufe (daher der Name Täufer), die Absonderung von der Welt nach Johannes 17,11–18 und 15,19 („in dieser Welt, aber nicht von dieser Welt“), Römer 12,2, 2. Korinther 6,14–17, 1. Johannes 2,15, Gewaltlosigkeit, das Abendmahl als reines Gedächtnismahl nur für Gläubige, das heißt in der Praxis nur für Gemeindemitglieder, die strikte Trennung von Staat und Kirche und die Verweigerung des Eides.
Weitere wichtige Konzepte sind Demut und Gelassenheit.
Glaubensgründe für die Isolation und die Ordnung
Die selbst auferlegte Ordnung liegt zum einen darin begründet, dass die Amischen mit Bezug auf die Apostel Paulus und Johannes betonen, „in dieser Welt, aber nicht von dieser Welt zu sein“, und damit immer wieder gefordert werden, zu erklären, was weltlich gesinnt sei und was nicht. Wichtig sind dabei vor allem folgende Bibelstellen: , und .
Es gibt für Andersdenkende durchaus nachvollziehbare Überlegungen zu der amischen Ordnung. Die Maxime ist: „Gruppenerhalt und Gruppenleben gehen vor individueller Verwirklichung“. So wird der Einfluss des Fernsehens und vieler Neuerungen auf das Familien- und Gruppenleben kritisch gesehen.
Gemeindeorganisation und Ordnung
Amische Gemeinden sind autonom und können mit Mehrheitsbeschluss ihre Ordnung, die über weite Strecken die Lebensführung regelt, ändern. Zweimal im Jahr findet eine sogenannte „Ordnungsgemeine“ statt, ein Sonntagsgottesdienst, in dem über die Ordnung verhandelt werden kann. Ein normalerweise zwei Wochen später stattfindender Abendmahlsgottesdienst kommt nur zustande, wenn Einigkeit über die Ordnung erzielt wird.
Einigkeit kann bei abweichenden Meinungen auch dadurch erreicht werden, dass die kleinere Gruppe die bestehende Ordnung einstweilen akzeptiert, oft in der Hoffnung, dass sich die Mehrheitsverhältnisse in absehbarer Zeit verändern werden. Sind nur eine oder sehr wenige Familien abweichender Meinung, besteht die Lösung oft darin, dass diese Familien umziehen und sich Gemeinden anschließen, deren Ordnung ihren Vorstellungen entspricht.
Kann trotz der oben genannten Lösungsmöglichkeiten dauerhaft keine Einigkeit erzielt werden, bleibt als Lösung nur eine Spaltung, die dann normalerweise zur Entstehung einer neuen Untergruppe der Amischen führt.
Diese Gemeindeautonomie führt dazu, dass es eine sehr große Zahl verschiedener lokaler Ordnungen gibt. Gemeinden mit ähnlicher Ordnung und meist gemeinsamer Geschichte bilden Gemeindebünde (englisch: affiliations), innerhalb derer Prediger und Gemeindemitglieder die jeweiligen Ortsgemeinden frei wechseln können. Gemeinden, die ihre Ordnung zu sehr ändern, indem sie beispielsweise den Besitz von Autos zulassen, werden nicht mehr als zu den Amischen alter Ordnung zugehörig betrachtet.
Gemeindeleitung
Die Gemeindeleitung liegt in den Händen von Männern, die in einem Verfahren aus Wahl und Los bestimmt werden. Üblicherweise hat eine amische Gemeinde etwa 150 Mitglieder, einen Bischof („völliger Diener“), zwei Prediger („Diener zum Buch“) und einen Diakon („Armendiener“). Um ein solches Amt zu besetzen, gibt es eine Wahl, bei der jedes Gemeindemitglied einen Mann benennen kann, den er oder sie für fähig hält. Die Namen aller, die eine Mindeststimmenzahl erhalten haben, kommen in ein Los, aus dem dann der Name des neuen Amtsträgers gezogen wird. Auf diese Weise bestimmte Männer können das Amt nicht ablehnen und sind auf Lebenszeit bestellt. Sie erhalten für ihr Amt weder eine Bezahlung noch eine besondere Ausbildung. Viele beten, dass das Los an ihnen vorbeigehen möge.
Gottesdienst und Sonntagsaktivitäten
Die Amischen treffen sich alle zwei Wochen reihum zu einem Hausgottesdienst, mit wenigen Ausnahmen. Das Haus wird für diesen drei- bis vierstündigen Gottesdienst am Sonntag zugerüstet, zum Beispiel werden Zwischenwände verschoben, wird die große Wohnküchenstube freigeräumt, werden die Bänke hineingebracht oder wird etwa im Sommer in der Scheune Platz geschaffen oder ein Keller genutzt. Für die Bänke gibt es einen speziellen Wagen.
Am Sonntagmorgen kommen die Gläubigen mitsamt ihren Kindern und Säuglingen mit dem „Dachwägle“ meist schon eine halbe bis eine Stunde vor Beginn des Gottesdienstes um neun Uhr zum Haus des diessonntäglichen Gottesdienstbeherbergers und versammeln sich getrennt nach Geschlecht. Die Kutschen werden von den Männern angebunden, man geht in die Männerrunde und begrüßt sich reihum. Schließlich geht man in das Haus, legt die Hüte ab, setzt sich auf bestimmte Bänke, Männer und Frauen getrennt. Die Frauen haben die kleinsten Kinder bei sich, die auch teilweise unter den Bänken auf Decken schlafen, wenn sie müde werden.
Der Gottesdienst beginnt mit einem Lied aus dem Ausbund, dem ältesten täuferischen Gesangbuch; es folgt das Loblied. Während dieses Liedersingens kommen die Prediger hinzu. Die Predigt beginnt mit dem sogenannten „kleinen Teil“, der nicht spezifische Glaubensthesen thematisiert, sondern einen Rundumriss durch das Alte und Neue Testament zieht. Danach folgt der Hauptteil, eine Predigt, die meist über eine Stunde dauert. Dazwischen gibt es eine Schriftlesung des Almosenpflegers. Insgesamt dauert die Predigt über zwei Stunden.
In manchen sehr konservativen amischen Gruppen wird noch in einer Art Singsang gepredigt, einer Vortragsweise, die auch in der katholischen Kirche bekannt ist und auch von etlichen Altkolonier-Mennoniten praktiziert wird. Die Lieder im Gottesdienst werden in extrem langsamem Tempo mit etlichen Noten auf einer Silbe gesungen. Traditionelle amische Gemeinden singen daher bis zu 25 Minuten an einem Lied mit zehn Strophen. Liberalere Amische singen schneller und sehr liberale, wie die Beachy-Amischen, gehen auch wegen des Sprachwechsels zu ganz anderen Liedern über. Amische singen ohne instrumentale Begleitung (a cappella), traditionelle Gruppen einstimmig, liberalere Gruppen (z. B. Beachy-Amische) meist vierstimmig.
Der Teil der Schrift, den der Almosenpfleger vorliest, gibt in gewisser Weise das Predigtthema vor. Dieser Schriftteil wurde bei der Versammlung der Gemeindeleiter in einem eigenen Raum, dem so genannten Abrat, ausgewählt. Man geht auch Vers für Vers den Schriftteil später durch, doch wird die ganze Predigt begleitet von Einfügungen aus erinnerten Bibelgeschichten, Verweisen auf das Verhältnis zur Welt draußen (dies ist eine Zentrallehre), auf die Notwendigkeit eines demütigen und einfachen Lebens und Weiteres. Die Predigt ist anders strukturiert als etwa in deutschen Freikirchen, in denen die Gläubigen mit einer Bibel in der Hand zu Querverweisnachschlägen aufgefordert werden, der Prediger diese auch nennt und in gewisser Weise Bibelstudium betrieben wird.
Nach dem Gottesdienst gehen zuerst die Männer hinaus, die Frauen bleiben drinnen und bereiten den Mittagsimbiss zu. Die Männer essen reihum zuerst, während die Frauen Wasser nachschenken, es geht in Gruppen hinaus und hinein zum Essen. Zuletzt essen die Frauen selbst und waschen ab. Der Gottesdienst dauert so bis in den frühen Nachmittag hinein. Danach fährt man entweder heim oder geht andere besuchen. Jugendliche gehen danach nicht selten zu sportlichen Veranstaltungen, die sie selbst gestalten, klassischerweise Volleyball.
Abends treffen sich dann alle Unverheirateten über 16 Jahre zu einem gemeinsamen Singen, meist von 20 bis 22 Uhr, im Hause der Familie, die den Gottesdienst beherbergt hat.
An den Sonntagen, an denen kein Gottesdienst stattfindet, werden traditionellerweise Freunde und Verwandte besucht, was oft auch mit einem Gottesdienstbesuch in einer anderen amischen Gemeinde, die gerade an diesem Sonntag Gottesdienst hat, verbunden wird.
Häusliches religiöses Leben
Man lebt stark nach Glaubensprinzipien, privates Bibelstudium findet jedoch meist nicht statt, es gibt aber meistens häusliche Morgenandachten. Es wird aber jeden Tag aus der Bibel gelesen, beispielsweise beim Frühstück, abends liest man gemeinsam aus einem Gebetbuch. Hier variieren die Gebräuche der Familien deutlich. Indessen ist deutlich, dass eine private „Sonntagsschule“, ein tiefes schriftkundiges Studium, nicht stattfindet, davon wird auch abgeraten.
Sichtbare Merkmale der amischen Kultur
Bis etwa zum Ende des 19. Jahrhunderts unterschieden sich die Amischen äußerlich nur wenig von der ländlichen Bauernbevölkerung ihrer Umgebung. Zwar war die Kleidung der Amischen schlichter und auch sonst verzichteten die Amischen auf jeden unnötigen Luxus, im Gebrauch von Technik gab es bis dahin jedoch kaum Unterschiede. Auch bei der Teilung in Amische alter Ordnung und Amish Mennonites war nicht die Technik, sondern waren andere Aspekte amischen Lebens der Grund für die Spaltung. Erst mit dem Aufkommen des Telefons und etwas später von Autos traten Fragen des Technikgebrauchs in den Mittelpunkt. Über den Gebrauch des Telefons bei den Amischen hat Diane Zimmerman Umble ein ganzes Buch geschrieben: Holding the Line. The Telephone in Old Order Mennonite and Amish Life.
Telefon, Fernsehen und Internet
Gegen Ende des 19. Jahrhunderts zog langsam das Telefon in den USA auch in ländliche Gebiete ein. Da es zu Anfang keine Bestimmungen bezüglich des Telefons in der Ordnung gab, legten sich auch Mitglieder der Amischen alter Ordnung Telefone zu, was jedoch zu Spannungen in den Gemeinden führte. In den Jahren 1909/10 spaltete sich deswegen etwa ein Fünftel der Mitglieder der Amischen alter Ordnung im Lancaster County in Pennsylvania vom Rest ab und erlaubte ausdrücklich das Telefon und den Anschluss an das öffentliche Stromnetz. Diese Spaltung verhärtete die Einstellung der Konservativeren gegen das Telefon. Im Laufe der Zeit bildeten sich dann in anderen Gegenden ebenfalls Gruppen, die das Telefon und andere Neuerungen erlaubten. Diese Gruppen vereinigten sich später zu den Beachy-Amischen. Als dann in den 1950er Jahren langsam das Fernsehen ländliche Gebiete erreichte, wurde es so gut wie überall von Anfang an von den Amischen alter Ordnung verboten. Gleiches gilt für das Internet.
Während zwar die Installation eines Telefons im Hause verboten wurde, war jedoch die Benutzung von Telefonen an sich nicht verboten, was dazu führte, dass Amische bei dringendem Bedarf das Telefon von „englischen“ Nachbarn benutzen. Auch die Benutzung öffentlicher Telefone blieb erlaubt, was dazu führte, dass oft in der Nähe amischer Häuser öffentliche Telefonhäuschen errichtet wurden. Da für das moderne Wirtschaftsleben das Telefon immer wichtiger wurde, erlaubten schließlich etliche amische Untergruppen die Installation von Telefonen in Scheunen oder anderen Geschäftsräumen, nicht zuletzt, um die „englischen“ Nachbarn nicht zu sehr in Anspruch nehmen zu müssen. Nicht selten sind solche Scheunentelefone mit Anrufbeantwortern ausgerüstet, die der Besitzer einmal am Tag abhört, um dann zurückzurufen. Telefone in den Wohnhäusern sind nur bei den liberalsten Gruppen erlaubt. Insgesamt will man das Telefon möglichst an einen Ort verbannen, an dem es nicht das Leben dominieren kann. In Notfällen ist der Gebrauch des Telefons bei allen, auch den strengsten Gruppen erlaubt.
Mit dem Aufkommen von Handys und Smartphones erreichte eine weitere Herausforderung die Amischen alter Ordnung. Besonders Jugendliche, die der Ordnung noch nicht unterstehen, weil sie noch nicht getauft sind, schaffen sich Handys und Smartphones an, die sich auch relativ leicht verbergen lassen. Selbst unter getauften Erwachsenen hielten Smartphones mehr oder minder heimlich Einzug. Vor allem in der Frühzeit des Smartphones gab es noch keine Regeln der Ordnung bezüglich dieser neuen Technik.
Fortbewegung
Die meisten Amischen alter Ordnung reagierten auf die zunehmende Verbreitung von Autos zwischen den beiden Weltkriegen mit einem Verbot. Diejenigen Amischen alter Ordnung, die den Besitz von Autos erlaubten, wurden zu Beachy-Amischen. Das Verbot erfolgte, weil das Auto „automatische Mobilität“ bedeute und diese Mobilität den lokalen Gruppenzusammenhalt schwäche. Zudem wurde das Auto als unnötiges Statussymbol angesehen.
Verboten wurde jedoch nur der Besitz von Autos, nicht jedoch die Nutzung von Autos eines anderen. Ein radikales Nutzungsverbot außer in Notfällen besteht nur bei den Swartzentruber Amischen und ähnlichen besonders konservativen Gruppen. Weil unter allen Amischen alter und neuer Ordnung der Besitz, jedoch nicht die Benutzung von Autos verboten ist, sind in allen amischen Siedlungsgebieten Taxidienste entstanden, die Amische gegen Bezahlung mit dem Auto befördern.
Im täglichen Leben werden Kutschen benutzt, die je nach Gruppe ein graues, schwarzes, gelbes, weißes oder braunes Verdeck haben. Die Räder sind entweder Stahlreifen oder haben Gummibereifung, je nach Untergruppe. Landwirtschaftliche Geräte werden ebenfalls von Pferden gezogen, auch wenn sie motorbetrieben sind. Traktoren werden von vielen Untergruppen eingesetzt, meist jedoch im stationären Betrieb, nur wenige Untergruppen erlauben den Einsatz von Traktoren als Zugmaschine zur Feldarbeit.
Die Benutzung von Zügen und öffentlichen Bussen ist erlaubt, Flugreisen sind jedoch bei fast allen Untergruppen verboten. Fahrräder sind teilweise erlaubt, teilweise nicht, zum Beispiel sind sie in Lancaster County verboten. Relativ weit verbreitet, vor allem unter Kindern und Jugendlichen, sind Tretroller und Rollschuhe.
Im Laufe der Zeit hat sich eine „Amish driver industry“ etabliert, ein Fahrdienst durch „Englische“, die Amische gegen Geld dorthin fahren, wo es mit der Kutsche nicht möglich ist, beispielsweise zu Hochzeiten und Beerdigungen in entfernten Siedlungen.
Kleidung und Haartracht
Kleidung und Haartracht der Amischen bringen den amischen Glauben, vor allem die Demut, zum Ausdruck und sind zumeist einfach. Die Kleidung soll weder durch Schnitt noch Farbe die Aufmerksamkeit auf den Träger ziehen. Einigen Untergruppen sind Knöpfe an Mänteln nicht gestattet, nur Kleidernadeln oder Haken mit Ösen.
Die Männer tragen traditionell geschnittene Anzugjacken mit Stehkragen. Die Hosen haben keine Falten oder Hosenaufschläge. Gürtel werden nicht getragen, sondern Hosenträger. Vorn haben die Hosen eine klappenartige Öffnung, die man mit Knöpfen verschließt. Die amischen Hausfrauen schneidern Hosen aus Mischfaserstoffen, die aus Polyester, Baumwolle und Viskose bestehen. Diese Gewebe sind haltbarer als reine Baumwolle und daher für Arbeitskleidung besser geeignet.
Auch Hemden sind nicht aus reiner Baumwolle, sondern haben einen hohen Polyesteranteil, der das Waschen, Trocknen und Bügeln erleichtert, weniger Fäden zieht und weniger knittert.
Die Frauen tragen traditionelle, einfarbige Kleider (meist gedeckte dunklere Farben, in liberaleren Gruppen auch Pastellfarben) mit langen Ärmeln und einer schwarzen, passenden, kontrastierenden oder weißen Schürze. Die Kleider sind niemals ärmellos, jedoch erlauben weniger konservative Gruppen kurze Ärmel. Die Schnittdetails und die Länge der Kleider werden durch die Kleiderordnung der jeweiligen Gemeinde vorgegeben. Die Länge variiert zwischen Knie- und Knöchellänge.
Strümpfe und Schuhe sind schwarz. Frauen tragen flaches Schuhwerk. Vor allem Kinder, aber teilweise auch Jugendliche und Erwachsene, vorwiegend Frauen, gehen während der Sommermonate oft bis permanent barfuß. In jüngerer Vergangenheit hat sich im Sommer das Tragen von Sandalen, Flip-Flops oder Clogs als Alternative zum Barfußgehen etabliert.
Die typische Kopfbedeckung der männlichen Amischen sind steife, breitkrempige Filzhüte. Die Breite der Krempe und die Form der Hutspitze variieren von Gruppe zu Gruppe. Je breiter die Krempe und je länger das Haupthaar, umso konservativer ist normalerweise eine amische Untergruppe. Die sehr konservativen Swartzentruber Amischen haben wegen ihrer langen Haare den Spitznamen „Knuddelwolle“. Im Sommer tragen die meisten Männer Strohhüte.
Frauen tragen Häubchen, deren Größe und Art durch Ordnung der jeweiligen Gruppe bestimmt wird. Eine amische Frau verlässt das Haus nicht ohne Kopfbedeckung. Schon im Teenageralter fangen die Mädchen an, die Häubchen zu tragen. In vielen Siedlungsgebieten werden weiße Häubchen getragen. Ledige Frauen bis zu ca. 40 Jahren tragen sonntags schwarze Häubchen.
Von verheirateten Männern wird das Tragen eines Bartes verlangt. Schnurrbärte hingegen sind fast überall verboten, da diese an das Militär erinnern. Die Form des Haarschnitts der Männer ist von der Untergruppe abhängig, normalerweise sind die Haare umso länger, je konservativer die Gruppe ist. Das Haar von Mädchen und Frauen wird niemals abgeschnitten; sie tragen die Haare aufgesteckt oder im Haarknoten unter einer Kopfbedeckung, die als Prayer cap bekannt ist. Jegliche Art von Schmuck und Verschönerung ist untersagt, dazu gehört auch das Tragen von Ringen und Make-up.
Es werden jedoch durchaus auch synthetische Stoffe vernäht, um zeitaufwändiges Bügeln zu reduzieren. Zumeist wird die Kleidung selbst gefertigt, wobei Hemden jedoch auch in Läden gekauft und Mäntel als Spezialarbeit von besonders fähigen Näherinnen bezogen werden. Für die Kleidung wird einfarbiges Tuch in gedeckten Farben verwendet, wohingegen gemusterte Stoffe vermieden werden.
Früher wurde sämtliche Oberbekleidung von den Frauen selbst hergestellt. Heute gibt es Firmen, wie zum Beispiel Weaver’s Apparel, die sich auf die Herstellung von Kleidung für Amische spezialisiert haben. So müssen die Amischen nicht alle Kleider selbst herstellen. Das Gewicht der Stoffe ist von großer Bedeutung. Sie dürfen nicht zu schwer, aber auch nicht zu dünn sein. Es wird darauf geachtet, dass die Kleidung nicht zu eng anliegt und schön fällt.
Elektrizität und Kleingeräte
Amische Haushalte sind, mit Ausnahme einiger Gemeinden neuer Ordnung, nicht an das Elektrizitätsnetz angeschlossen, sondern verwenden gasbetriebene Lampen oder erzeugen für einige Geräte eigene Elektrizität, meistens durch Dieselgeneratoren. Batterien sind teilweise erlaubt, in vielen amischen Untergruppen wird zum Antrieb von Geräten und Werkzeugen Hydraulik oder Pneumatik (Pressluft) genutzt, die durch Dieselmotoren erzeugt wird. So gibt es in fast allen Untergruppen auf diese Weise motorgetriebene Waschmaschinen. Nach der Ordnung ist es verboten, sich vor der Kamera zum Fotografiertwerden zu präsentieren; nicht verboten ist es, das Fotografieren stillschweigend zuzulassen. Wenn sich ein Individuum heraushebt, wird das als mangelnde Demut angesehen und daher abgelehnt.
Sozialisation
Bildung
Bis in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg gingen amische Kinder zusammen mit den meisten anderen Kindern in ländlichen Gebieten in kleine Ein-Raum-Schulen. Als man jedoch begann diese Ein-Raum-Schulen aufzulösen und größere Schulzentren einzurichten, zu denen die Kinder in Bussen gebracht wurden, begannen Amische ihre eigenen Schulen aufzubauen. Heute besuchen die Kinder der Amischen alter Ordnung zumeist keine öffentlichen Bildungseinrichtungen mehr, sondern gesonderte amische Schulen, in denen sie meist von jungen, unverheirateten amischen Frauen unterrichtet werden.
Diese selbstverwalteten Schulen, in denen Kinder verschiedener Klassen- und Leistungsstufen gemeinsam unterrichtet werden, verteilen sich über das Siedlungsgebiet und werden durch Schulgelder der Eltern finanziert – nicht durch die amerikanischen Schulbehörden. Religiöse Inhalte, die über Schulgebet und das Lesen von Bibeltexten hinausgehen, werden in amischen Schulen nicht vermittelt, da dies als Aufgabe der Familie angesehen wird.
Die eigenen Schulen erlauben die Kontrolle der Unterrichtsinhalte und sozialisieren die Kinder stärker in Richtung des späteren Beitritts zur eigenen Gruppe. Auch sind solche Schulen für den Erhalt des Pennsylvania-Deutschen wichtig, das alle Kinder in der Schule beherrschen. In diesen Schulen werden Lesen, Schreiben und Rechnen gelehrt, nicht aber Biologie (besonders nicht Sexualkunde), wissenschaftliche oder erdgeschichtliche Lehren oder gar die Evolutionstheorie.
Hinsichtlich des Wissens über „die drei Rs“ (reading, writing, ’rithmetic = Lesen, Schreiben, Rechnen) können amische Schüler mit ihren amerikanischen Gleichaltrigen in öffentlichen Schulen mithalten. In amischen Schulen herrscht große Disziplin, vieles wird durch Stillarbeit erlernt. Auch Deutsch wird unterrichtet (wofür angepasstes Schulmaterial entwickelt wurde), damit die religiösen Texte gelesen werden können.
Das amische Schulwesen ist stark identitätsstiftend, einige Soziologen sehen in ihm sogar den größten Faktor für das Überleben der Amischen als eigene Gruppe, da Religion nicht durch wissenschaftliche Erkenntnisse in argumentative Beweisnot gerät und andere Lebensoptionen weder gezielt angesprochen noch gefördert werden (ähnlich verhält es sich mit dem zunehmenden amerikanischen „home-schooling“, das ebenfalls zumeist auf religiöse Gründe zurückzuführen ist).
Rumspringa – Jugendzeit bis zur Heirat
Die Zeit zwischen der Vollendung des 16. Lebensjahrs bis zum eventuellen Beitritt zur Gemeinde und zur Heirat ist als die Zeit des „Rumspringa“ (Pennsylvaniadeutsch für Herumspringen) bekannt. In dieser Zeit wird davon ausgegangen, dass die Eltern keine volle Kontrolle mehr über ihre Kinder haben. Die Gemeinde hat ebenfalls keine Handhabe gegen Nichtmitglieder, so dass amische Jugendliche in dieser Zeit etliche Freiheiten haben, beispielsweise um ausgelassene Partys zu feiern.
Die Eltern sind meist nicht besonders glücklich über das wilde Treiben ihrer Kinder, vermeiden es aber weitgehend einzugreifen, um ihre Kinder nicht der Gemeinde ganz zu entfremden. Einige strengere Untergruppen haben jedoch genaue Regeln, bei welchen schweren Ausschweifungen die Eltern die Kinder des Elternhauses verweisen müssen. Das Vorkommen solcher schwereren Ausschweifungen ist aber weitgehend auf wenige große amische Siedlungen beschränkt. In den kleineren Siedlungen gibt es nicht genügend Jugendliche, um ganz wilde Jugendgruppen zu bilden, weil die meisten Jugendlichen es doch nicht ganz so wild treiben.
In den größeren Siedlungen mit vielen Dutzenden oder sogar hunderten von Jugendlichen im „Rumspringa“-Alter bilden die Jungen Gruppen von mehreren Dutzend bis zu 200 Mitgliedern. Diese buddy bunch (deutsch etwa „Kumpel-Haufen“) genannten Gruppen bilden ein Spektrum von relativ konservativen Jungen, die weiterhin amische Kleidung tragen und Kutsche fahren, bis hin zu sehr wilden Gruppen autofahrender Jugendlicher in modischster Kleidung, die exzessive Partys mit viel Alkohol und nicht selten Drogenkonsum feiern. Die Mädchen schließen sich den Gruppen ihrer Freunde oder Brüder an.
Der Dokumentarfilm Devil’s Playground von Lucy Walker befasst sich mit der Erscheinung „Rumspringa“ in den großen amischen Siedlungen in Nord-Indiana. Vor allem durch diesen Film wurde das Phänomen „Rumspringa“ weiteren Kreisen bekannt. In diesem Film werden Jugendliche begleitet, die eine extrem wilde Form vom „Rumspringa“ praktizieren, die nicht nur Alkoholexzesse, sondern auch Drogenkonsum und Konflikte mit der Polizei umfasst.
Mädchen sind in der „Rumspringa“-Zeit meist wesentlich zurückhaltender als die Jungen, so tragen fast alle Mädchen während dieser Zeit ihre traditionelle amische Kleidung, während viele amische Jungen in dieser Zeit mehr oder minder modische Kleidung der Mehrheitsgesellschaft tragen. Auch erwerben die meisten amischen Jungen den Führerschein und nicht wenige besitzen in dieser Zeit ein Auto.
Die Tradition der Amischen erlaubt eine gewisse, begrenzte Freiheit für junge unverheiratete Paare, zu der bei traditionellen Gruppen auch das sogenannte Bundling gehört, bei dem das verliebte Paar ein Bett teilen darf, ohne jedoch völlig unbekleidet zu sein. Ebenfalls erlaubt ist das gemeinsame Sitzen auf einem Schaukelstuhl, wobei das Mädchen auf dem Schoß des Jungen sitzt. Allgemein wird jedoch Geschlechtsverkehr vor der Ehe als Makel empfunden.
Die meisten Jugendlichen entscheiden sich nach der Zeit des „Rumspringa“ für das Leben als Amische. Durch die Gläubigentaufe werden sie Mitglieder der Gemeinde und erkennen deren Regeln an. Dies bedeutet auch, dass von nun an Vergehen geahndet werden, im Extremfall mit „Bann und Meidung“. Eine Rückkehr nach glaubhafter Reue ist jedoch auch nach schwersten Vergehen möglich.
Erwerbsleben
Nach ihrer Schulzeit arbeiteten die amischen Jugendlichen früher meistens auf der Farm ihrer Familie, bis sie heirateten. Sie übernahmen mit Hilfe der Eltern eine eigene „Bauerei“ oder blieben in der Landwirtschaft.
Heute hat sich das berufliche Spektrum der Amischen erweitert, da es nicht mehr genügend Farmen zu kaufen gibt und diese teilweise extrem teuer wurden, etwa in den alten Siedlungsgebieten, die stark vom Tourismus frequentiert werden, und in denen die Amischen mit Bauspekulanten und Hinzuziehenden um den vorhandenen erwerbbaren Boden in Konkurrenz treten.
Früher war man bei nicht vorhandenen Kaufmöglichkeiten von Farmen in andere Gebiete ausgewandert, so dass sich die Verbreitung der Amischen auf mehr und mehr Staaten erstreckte. Dies findet heute auch noch statt, allerdings ist diese Tendenz in den großen Siedlungen stark abnehmend. Die Amischen gelten in diesen Gebieten als sehr bodenverhaftet und wollen am heimatlichen Ort bleiben. Somit wich man zuerst in landwirtschaftsnahe Berufe aus, in denen eine Nische zu finden war, und erweiterte diese zunehmend bis zum Klein- und Großkaufmannswesen. Berufe wie Maurer, Schreiner, Holzwerker etc. werden nun vielfach durch Amische besetzt, sie arbeiten in so genannten „construction crews“, sind oftmals auf Montage. Daneben wächst die Schicht amischer Geschäftsleute, entweder im produzierenden Gewerbe oder im reinen Handel.
Die Gründung neuer Siedlungen erfolgt auf Privatinitiative. Meist sucht eine Gruppe aus mehreren Familien preiswertes Land, das nicht allzu weit von einer nicht allzu großen Stadt entfernt ist, in der wichtige Dinge erledigt werden können, vom Besuch von Ärzten über Geschäfte, die Dinge verkaufen, die die Amischen nicht selbst herstellen, bis zu Märkten für ihre Produkte.
Amische, die heutzutage aus den bestehenden Siedlungsgebieten aussiedeln und woanders nach preiswertem Land suchen, bringen meistens entweder eine sehr starke Bindung an die Landwirtschaft mit oder wollen den liberalisierenden Tendenzen in den großen Siedlungen entfliehen, woanders unter einer strengeren, nach ihrem Ermessen gottgemäßeren Ordnung, in stärkerem Maße abgesondert von der „Welt“ leben. So kann gesagt werden, dass das konservative Element vermehrt aussiedelt.
Nicht alle amischen Neusiedlungen sind erfolgreich. In dem Buch Amish Settlements that Failed sind an die hundert Siedlungen aufgelistet und beschrieben, die nicht erfolgreich waren. Dabei gibt es sogar amische Siedler, die mehrfach in neue Siedlungen zogen.
Das ausgeweitete berufliche Spektrum wird durchaus kritisch und positiv gesehen. Einerseits verschafft es Amischen mehr und mehr Möglichkeiten, in ihrer Parallelgesellschaft zu verbleiben und dort ihre Einkäufe und Reparaturbedürfnisse zu befriedigen, ohne viel „Weltkontakt“ zu haben. So wird dies noch positiv bewertet in „The Riddle of Amish Culture“, andererseits gibt es mittlerweile eine amische „lunch bag-culture“, eine Kultur, in der der Vater morgens aus dem Hause geht, abends oder (bei Montagearbeiten) sogar erst Tage später nach Hause zurückkehrt und sein familiäres Leben und seine Einflussmöglichkeiten abnehmen (z. B. dem Sohn direkt ein Handwerk zu vermitteln). Darüber hinaus sind die vermehrt außerhalb Arbeitenden und die Geschäftsleute einem hohen Einfluss der Außenwelt ausgesetzt, was durchaus ihre Sichtweise der „Welt“ positiv beeinflusst, aber wohl auch das Gemeinschaftsgefühl und -leben auf einer tradierten Grundlage gefährdet.
Untergruppen
Die Amischen alter und neuer Ordnung sind zwar durch ihren Glauben, ihre Kultur und ihre Traditionen, ihre Sprache und vielfältige Verwandtschaftsbeziehungen verbunden, sie stellen jedoch keineswegs eine einheitliche Gruppe dar, sondern zerfallen in mehr als 40 Untergruppen. Diese Untergruppen bildeten sich zuerst aufgrund geographischer Gegebenheiten, das heißt in verschiedenen Gegenden bildeten sich eigene Untergruppen. Die drei größten Gruppen sind heute die Untergruppe der aus dem Lancaster County in Pennsylvania stammenden Amischen, die aus dem Holmes County und Umgebung in Ohio stammenden und die aus den Counties Elkhart und Lagrange in Indiana stammenden.
Mit der zweiten Einwanderungswelle von Amischen im 19. Jahrhundert bildeten sich Untergruppen aufgrund unterschiedlicher, gegenseitig kaum verständlicher Dialekte. So bilden die Berndeutsch-sprechenden und die Elsässisch-sprechenden Amischen eigene Untergruppen. Seit Mitte des 19. Jahrhunderts bildeten sich auch eigene Untergruppen aufgrund von unterschiedlichen Lebensauffassungen, wobei sich meistens konservative Gruppen abspalteten. So spalteten sich die Beiler-Amischen 1849 ab, die Renno-Amischen 1863 und die Nebraska-Amischen 1881. In der Zeit des Ersten Weltkrieges bildeten sich dann die beiden größten extrem konservativen Untergruppen, die Swartzentruber-Amischen in Ohio und die Buchanan-Amischen in Iowa.
In den 1920er Jahren trennten sich dann die Beachy-Amischen in der Auseinandersetzung über die Frage, ob der Besitz von Autos erlaubt sein soll, von den Amischen alter Ordnung. Die Beachy-Amischen haben jedoch, außer der Kleidung und dem Namen, so gut wie alle amischen Besonderheiten verloren. In den 1960er Jahren entstanden dann die Amischen neuer Ordnung, die sowohl eine stärker evangelikale Spiritualität als auch mehr moderne Technik wollten. Die Amischen neuer Ordnung halten im Gegensatz zu den Beachy-Amischen an der deutschen Sprache und an Pferdekutschen fest.
Amische Untergruppen unterscheiden sich nicht nur, was den Gebrauch moderner Technik angeht, sondern auch in der Strenge von Bann und Meidung, in ihrer Spiritualität (mehr oder weniger evangelikal), in der Ablehnung großer Siedlungen sowie in der Kinderzahl und in der Rate der Jugendlichen, die in die amische Gemeinschaft eintreten, wobei sowohl die Kinderzahl als auch die sogenannte retention rate normalerweise umso größer ist, je konservativer die Untergruppe ist, was dazu führt, dass die konservativsten sehr schnell wachsen, die liberalsten, das heißt vor allem die Amischen neuer Ordnung nur sehr langsam wachsen, stagnieren oder sogar schrumpfen (Amische neuer Ordnung mit Elektrizität).
Donald Kraybill, Karen M. Johnson-Weiner und Steven Nolt listen in ihrem Buch The Amish aus dem Jahre 2011 die folgenden Gemeindebünde, geordnet nach der Zahl der Distrikte, auf:
Unterschiede im Technikgebrauch
Die Akzeptanz technischer Errungenschaften variiert von Gruppe zu Gruppe. Über eine Annahme oder Nutzung kann folgendermaßen entschieden werden: Sie wird ohne weiteres Aufsehen von der Gruppe akzeptiert, indem einer nach dem anderen ohne Widerspruch sich diese Neuerung zulegt; sie kann jedoch später, sollte Widerspruch aufkommen, verboten werden. Oder sie wird mit einem einstimmigen Gemeindebeschluss offiziell erlaubt. Bei von vornherein sinnlos oder gar gefährlich scheinenden Neuerungen, z. B. dem Fernsehen, kann eine Nutzung sofort verboten werden, ohne dass sie erst Eingang in die Gemeinschaft gefunden hat.
Die vergleichsweise große Bandbreite in den beiden Untergruppen „Elkhart-LaGrange“ und „Schweizer Amische“ aus dem Adams County in Indiana rührt daher, dass es in diesen Gruppen kaum zu Spaltungen kam, sondern der unterschiedliche Technikgebrauch in verschiedenen Gemeindedistrikten geduldet wird. Obwohl die aus dem Lancaster County in Pennsylvania stammende Untergruppe oft als die Muster-Amischen angesehen wird und sie zusammen mit den Untergruppen aus dem Holmes County und Elkhart/LaGrange den amischen Mainstream bilden, gehören sie doch zu den liberalsten Gruppen, was den Technikgebrauch angeht.
Sprache
Die meisten Amischen alter Ordnung sind dreisprachig. Untereinander sprechen sie alle einen deutschen Dialekt, das sogenannte Pennsylvaniadeutsch, in einigen Countys Indianas auch Schweizerdeutsch, genauer eine Form des Berndeutschen im Adams County, sowie niederalemannisches Elsässisch im Allen County sowie in den Tochtersiedlungen dieser beiden Countys.
Pennsylvaniadeutsch war früher die Alltagssprache des gesamten südöstlichen Pennsylvanias und umfasste rund 800.000 Personen bis etwa zur Mitte des 20. Jahrhunderts, danach assimilierten die meisten sich sprachlich, und nur die konservativen Amischen und Mennoniten alter Ordnung blieben dem Pennsylvaniadeutsch als Umgangssprache untereinander treu. Damit wurde die Sprache auch Abgrenzungsmittel zur Welt der „Englischen“.
Die wenigen erhaltenen Schweizerdeutsch und Elsässisch sprechenden amischen Gemeinden stammen aus Einwanderungsschüben im 19. Jahrhundert direkt aus dem Berner Oberland und dem Elsass und siedelten sich in Indiana in eigenen Gemeinden an. Gruppen dieser späten Einwanderer, die sich in gemischten Siedlungen mit Pennsylvaniadeutsch-Sprechenden niederließen, wurden von Letzteren assimiliert. Diese späten Einwanderer unterscheiden sich auch hinsichtlich ihrer Gemeindeordnungen von Gruppen, die schon vorher in Amerika ansässig waren.
Während des Gottesdienstes benutzen Amische ein stark dialektal gefärbtes, gemischtes Hochdeutsch, welches auch englische Lehnwörter enthält. Die englische Sprache gebrauchen Amische vor allem, um mit der Außenwelt zu kommunizieren.
Gesundheit
Die Amischen schließen prinzipiell keine Versicherungen ab. Auch von der unter dem US-amerikanischen Präsidenten Barack Obama eingeführten Krankenversicherungspflicht wurden die Amischen 2012 ausgenommen. Anfallende Gesundheitskosten werden ausschließlich durch Spenden der Amischen untereinander getragen. In der Regel ist es zunächst die Familie, die für die Gesundheitskosten eines Familienmitgliedes aufzukommen bemüht ist. Werden diese zu hoch, wird das Anliegen dem Diakon der Gemeinde vorgetragen. Dieser verkündet die anstehenden Kosten an einem Sonntag öffentlich und sammelt in der nächstfolgenden Woche die Spenden ein. Reicht dies noch immer nicht, werden eventuell Nachbargemeinden angesprochen. Nachbarliche Hilfe geschieht nicht nur durch Geld, sondern besonders durch emotionale Unterstützung. Bisher hat diese Form der Subsidiarität gut funktioniert. Mittlerweile haben sich aber auch amische Selbsthilfeorganisationen wie Amish Aid gegründet, um beispielsweise Krankenkosten, die ein enormes Maß erreichen, zu decken.
Unter den plain-people-Gruppen (dazu gehören auch ähnlich konservativ ausgerichtete Mennoniten- und Brüdergemeinden) hat sich das Powwowing oder der Gang zum „Brauchdoktor“ noch immer teilweise erhalten. Aus dem alten Europa mitgenommen, gibt es noch immer Heilpraktiker, die mit Hilfe von Gebeten, dem Wegsprechen und überlieferten Heilrezepten Patienten behandeln. Dies findet aber im Verborgenen statt und ist heute fast ausgestorben. Daneben nutzen die Amischen die homöopathischen Heilverfahren.
Allerdings gibt es unter den Amischen verschiedene, doch auffällig auftretende erbliche Gendefekte. Da fast alle modernen Amischen von wenigen Gründerfamilien (es gibt insgesamt nur um die 130 amische Nachnamen, und in den verschiedenen Siedlungen tritt davon nur eine bestimmte Menge auf) aus dem 18. Jahrhundert abstammen, treten durch die Fortpflanzung untereinander viele mitgetragene, rezessive Gendefekte auf, das heißt, gleiche Erbträger (Konduktoren) zeugen gemeinsame Kinder, bei denen Erbkrankheiten, die durch die Fortpflanzung Nichtverwandter meist unterdrückt blieben, nun manifest werden.
Die enge Verwandtschaft innerhalb der Amischen erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass zwei Träger des gleichen Gendefekts Kinder bekommen, die dann mit Behinderungen geboren werden. Dieser „Gründereffekt“ hilft Gen-Forschern, die genetische Ursache für diese sonst seltenen Erbkrankheiten zu finden. Einige dieser Störungen sind sehr selten, wie etwa die Hirschsprung-Krankheit, oder sogar einzigartig und gravierend genug, um die relative Sterblichkeitsrate unter amischen Kindern zu erhöhen. Die Mehrheit der Amischen akzeptiert dies als „Gottes Wille“ und kümmert sich integrierend um diese kranken Menschen. Die Säuglingssterblichkeit der Amischen insgesamt ist jedoch weder höher noch geringer als in der nicht amischen ländlichen Bevölkerung der Region.
Da die Amischen fast nur untereinander heiraten und dies zumeist nur innerhalb der eigenen Siedlung, stellen sie wie einige europäische Gebirgstäler für Genforscher eine Möglichkeit zur Forschung über genetische Krankheiten dar. Viele Erkenntnisse über Erbkrankheiten sind daher gewonnen worden, doch hat dies nicht unbedingt Auswirkungen auf ihr Heiratsverhalten, denn dieses bedingt innerhalb der eigenen Gruppe zu heiraten (auch außerhalb der Siedlungen, solange andere Gemeinden mit ihnen in „fellowship“ sind und es „im Herrn“ bleibt). Dem wachsenden Bewusstsein unter den Amischen, dass Exogamie genetischen Krankheiten vorbeugen kann, stehen nach wie vor einengende Heiratsvorschriften gegenüber. Wo sich Erkrankungen auf eine Gemeinde oder eine Siedlung beschränken, kann das bedeuten, dass an anderen Orten die Inzucht noch nicht so ausgeprägt ist. Im Zeitalter der wachsenden Mobilität werden auch Autofahrten zum Verwandtenbesuch in anderen Siedlungen organisiert. Allerdings erschwert auch hier die räumliche Distanz dauerhaften Kontakt. Generell wählen amische Jugendliche ihre Ehepartner noch immer zumeist in der nächsten Umgebung, aus der nahen „Peer group“, die zu den gleichen „Singings“ geht.
Dass die Amischen auf nur wenige Gründerfamilien zurückgehen und fast nur untereinander heiraten, hat nicht nur negative Auswirkungen. Auch positive Genmutationen werden so in der Gemeinschaft angehäuft. Forscher entdeckten beispielsweise ein mutiertes Gen unter den Amischen in Indiana, das den Trägern ein im Durchschnitt um zehn Jahre längeres Leben bei besserer Gesundheit beschert.
Unter den Amischen ist es durch die Gemeindeordnung verboten, Cousins und Cousinen zu heiraten. Erst deren Kinder könnten dies tun, dadurch sind sie erst durch dieselben Urgroßeltern verwandt. Einige Siedlungen sind zudem miteinander völlig unverwandt, so beispielsweise die Gründerfamilien der Lancaster-County-Amischen mit den Gründern der Perth-County-Amischen-Siedlung in Kanada. Räumliche Distanz und teilweise unterschiedliche Glaubensvorstellungen (eine andere Gemeindeordnung erlaubt keine Heirat untereinander) lassen aber diese exogame Heiratsmöglichkeit innerhalb der amischen Gruppen nicht zu.
Bevölkerungszahl und Verbreitung
Im Jahre 2022 gab es 373.620 Amische alter Ordnung, die in über 500 Siedlungen in 32 Bundesstaaten der USA und drei kanadischen Provinzen sowie je einer Gemeinde in Bolivien und Paraguay leben.
Im Folgenden die Staaten mit mehr als 1500 Amischen im Jahre 2021:
{| style="width:60%"
| style="width:30%" valign="top"|
Pennsylvania: 84.500
Ohio: 80.240
Indiana: 60.960
Wisconsin: 23.195
New York: 21.725
Michigan: 17.695
Missouri: 14.610
Kentucky: 14.215
| style="width:30%" valign="top"|
Iowa: 9.845
Illinois: 7.565
Minnesota: 4.935
Tennessee: 3.560
Kansas: 2.135
Delaware: 1.795
Maryland: 1.695
Virginia: 1.620
|}
Insgesamt gab es 2021 in den USA 355.660 Amische und etwa 6.000 in Kanada. In Bolivien gab es etwa 150 und Argentinien 50 Amische, bei denen es sich um Konvertiten handelt, die die Russland-Mennoniten verlassen haben um Amisch zu werden.
Mennoniten und Amische
Die Mennoniten süddeutsch-schweizerischer Herkunft und die Amischen teilen miteinander die gleichen historischen Wurzeln und vertreten die gleichen theologischen Positionen bei Glaubenstaufe, Ablehnung des Eides und Militärdienst-Verweigerung. Das Spektrum der amischen Gruppen ist grundsätzlich strenger in der Handhabung des Glaubens und was die Nutzung technischer Neuerungen angeht.
Es gibt aber auch unter Mennoniten ein ganzes Spektrum von Gruppen, das von extrem konservativ auch hin bis zu extrem liberalen Gruppen reicht. So gibt es beispielsweise Gruppen von Mennoniten alter Ordnung (Noah Hoover Mennoniten und Orthodox Mennonites), die bei moderner Technik so konservativ sind wie einige der strengsten Amischen, wie etwa die Swartzentruber. Insgesamt ist aber die Hauptmasse der Mennoniten wesentlich weniger konservativ als die Amischen.
Da jede Gemeinde, sofern sie nicht in einer Konferenz organisiert ist, über ihre eigenen Belange entscheidet, bildeten und bilden sich immer neue Gruppen, auch besonders durch viele Spaltungen. Insofern existieren sehr liberale und auch sehr konservative Gemeinden.
Zuweilen werden bestimmte Mennonitengruppen mit den Amischen verwechselt; dazu gehören besonders jene, die wie die Amischen alter Ordnung mit Pferdefuhrwerken fahren. Im Englischen bezeichnet man diese Mennonitengruppen als „Old Order Mennonites“ (im Deutschen als Mennoniten alter Ordnung, auch Altmennoniten nach Mary Ann Horst). Diese Gruppen erreichen zum Teil Mitgliederzahlen von bis zu 10.000, es gibt aber auch eine ganze Anzahl kleinerer Gruppen, die sich ebenfalls als eigenständige Kirchen verstehen. Die größte dieser Gruppen ist die Groffdale Conference (auch Wenger Mennonites).
Eine deutliche Unterscheidung der Amischen und der Mennoniten findet sich in der Örtlichkeit ihrer Gottesdienste. Amische treffen sich dazu fast durchweg im Wechsel in ihren Häusern, Scheunen oder Werkstätten, wohingegen Mennoniten meist Versammlungshäuser errichten. Gemeinden, die noch nicht ihre volle Größe erreicht haben, versammeln sich in ihren Wohnhäusern, doch sobald die Gemeinde eine bestimmte Größe erreicht hat, wird ein Versammlungshaus errichtet. Wird eine amische Gemeinde zu groß, teilt sie sich, um weiterhin die Treffen in den Wohnhäusern abhalten zu können. Diese Gemeinden (die sich zwar teilen, jedoch nicht voneinander spalten) leben dann „in fellowship with each other“ (in Gemeinschaft miteinander). So tauschen sie zum Beispiel Prediger aus oder erlauben das Heiraten untereinander.
Filmografie
Spielfilme
Spielfilme, in denen Amische vorkommen, wurden fast ausschließlich in den USA gedreht:
Der einzige Zeuge (Witness) – 1985, Vereinigte Staaten; zwei Oscars
Gebot des Schweigens (A Stoning in Fulham County) – 1988, Vereinigte Staaten
Die Glut der Gewalt (Harvest of Fire) – 1996, USA
Kingpin – 1996, USA
Zum Teufel mit den Millionen (For Richer or Poorer) – 1997, Vereinigte Staaten
David im Wunderland – 1998, Deutschland
Mord im Schilf (Plain Truth) – 2004, USA, Kanada
Saving Sarah Cain – 2007; nach einem Roman von Beverly Lewis, der erfolgreichsten Autorin von Amish Romance Novels
Spritztour (Sex Drive) – 2008, Vereinigte Staaten
The Shunning – 2011; Fernsehfilm, ebenfalls nach einem Roman von Beverly Lewis
Rumspringa – Ein Amish in Berlin – 2022, Deutschland; Netflix
Filme mit teilweise dokumentarischem Charakter
How much Wood would a Woodchuck chuck… – Beobachtungen zu einer neuen Sprache, 1976, 44 Min., von Werner Herzog. In dieser für das deutsche Fernsehen produzierten Dokumentation stellt der Regisseur das Leben der Amischen den Vorgängen einer Schnellsprechweltmeisterschaft von Viehauktionatoren gegenüber.
Penn’a Du, 1982, 60 Min., ein Filmessay des deutschen Regisseurs Georg Brintrup. In diesem für den WDR produzierten Film geht es besonders um die Sprache, das Pennsylvaniadeutsch. 1982 trat zum ersten Mal ein amischer Schullehrer vor eine Filmkamera.
Im Jahre 2004/5 wurde eine Serie in den Vereinigten Staaten gezeigt, Amish in the City, die der Idee nachgehen sollte, ob die amischen „Rumspringer“ nicht letztlich im engen Kontakt mit Weltlichen doch lieber „den American Way of Life“ wählten. Jene amischen Jugendlichen standen zum Zeitpunkt der Aufnahmen aber nicht mehr vor dieser Frage, sondern hatten sich schon für die Außenwelt entschieden.
Am 2. Oktober 2006 schoss ein Mann in der Schule der Amischen in Nickel Mines (Pennsylvania) auf zehn amische Mädchen, von denen fünf überlebten, danach erschoss er sich selbst. Die Amischen vergaben dem Täter und kümmerten sich auch um seine Witwe, die mit drei kleinen Kindern zurückblieb. Über dieses Massaker schrieb der Soziologe Donald Kraybill gemeinsam mit Steven M. Nolt und David L. Weaver-Zercher das Buch Amish Grace: How Forgiveness Transcended Tragedy. Auf Grundlage dieses Buches entstand der in Teilen dokumentarische Fernsehfilm Amish Grace, der 2010 erstmals im Lifetime Movie Network ausgestrahlt wurde.
Siehe Massaker an der Amischen-Schule von Nickel Mines
Dokumentarfilme
Es gibt eine Reihe von Dokumentationen über die Amischen:
Amish – Ein Bauernhof für unsere Kinder,
Produktion: ORF, 1998, 60 Min., von Eva Maria Berger. Diese Dokumentation behandelt explizit die Lancaster-County-Amischen und enthält soziologische Bewertungen von Donald B. Kraybill. Siehe Donald B. Kraybill und Steven M. Nolt: Amish Enterprise – From Plows to Profits unter der Rubrik Literatur.
Die Amish – alte Werte in der neuen Welt,
3sat, 1999, von Wolfgang Wegner. Diese Dokumentation handelt ebenfalls von den Amischen in Lancaster County und enthält Interviews (z. B. mit dem Eisproduzenten von Lapp’s Valley Farm) mit Beachy-Amischen und New-Order-Amischen.
Amish People – Leben in einer anderen Welt. Dokumentation, Frankreich, 2005, 53 Min., Regie: Alexandre Fronty, Produktion: arte, Reihe: WunderWelten, Inhaltsangabe von arte
3sat, 2009, Kreuz & Quer: Amish People von Alexandre Fronty, schildert das Leben der Amischen der alten und neuen Ordnung in einem Dorf in Pennsylvania
Amerikanische Dokumentarfilme sind unter anderem:
The Riddle of the Amish
Amish – A People of Preservation
The Amish and US
The Amish Riddle
The Devil’s Playground
Pseudo-Dokumentationen
Amish Mafia ist eine US-amerikanische Scripted-Reality-Fernsehserie und damit reine Erfindung. Die Serie wurde von führenden Wissenschaftlern, die sich mit den Amischen beschäftigen, heftig kritisiert. Ähnliches gilt für Breaking Amish und Amish: Out of Order.
Die Amischen sind gelandet, Originaltitel: Meet the Amish bzw. Amish: World’s Squarest Teenagers, Dokusoap GB 2011. imdb.com, ebenfalls eine gestellte „Dokumentation“.
Siehe auch
Ausbund (Gesangbuch), Gesangbuch der Täuferbewegung (16. Jahrhundert), das heute noch bei den Amischen im Gebrauch ist
Amische Literatur
Literatur
Wissenschaftliche Primärliteratur
John A. Hostetler: Amish Society (4. Auflage), Baltimore und London 1993. (Der wissenschaftliche Klassiker zu den Amischen)
Donald B. Kraybill, Karen M. Johnson-Weiner und Steven M. Nolt: The Amish. Baltimore 2013. (Das aktuelle wissenschaftliche Standardwerk zu den Amischen)
Donald B. Kraybill: The Riddle of Amish Culture (durchgesehene Neuauflage), Baltimore und London 2001. (Der wissenschaftliche Klassiker von Kraybill)
Steven M. Nolt: A History of the Amish. Intercourse 1992. (Das wissenschaftliche Standardwerk zur Geschichte der Amischen)
Charles E. Hurst und David L. McConnell: An Amish Paradox. Baltimore 2010. (Das wissenschaftliche Werk eines Professors und eines Hochschullehrers)
Donald B. Kraybill und Marc A. Olshan (Hrsg.): The Amish Struggle with Modernity. Hanover, NH 1994.
Richard A. Stevick: Growing up Amish – The Teenage Years. Baltimore 2007. (Wissenschaftliches Werk über amische Teenager und Rumspringe)
Donald B. Kraybill und C. Nelson Hostetter: Anabaptist World USA. Scottdale, PA und Waterloo, Ontario 2001. (Statistikwerk zu den Täufern in den USA)
Donald B. Kraybill: Concise Encyclopedia od Amish, Brethren, Hutterites and Mennonites. (Ein Lexikon zu den Täufern)
Donald B. Kraybill, Steven M. Nolt: Amish Enterprise – From Plows to Profits. 2. Auflage. Baltimore 2004 (Über den wirtschaftlichen Wandel der Amischen).
Thomas J. Meyers und Steven M. Nolt: An Amish Patchwork. Bloomington und Indianapolis 2005. (Wissenschaftliches Werk über die Amischen in Indiana)
Diane Zimmerman Umble: Holding the Line. The Telephone in Old Order Mennonite and Amish Life. Baltimore 2000.
Weitere Werke
Joe Mackall: Plain Secrets: An Outsider among the Amish. Boston, Mass. 2007. (Persönlicher Bericht eines Literaturprofessors über seine Freundschaft mit einer amischen Familie)
Ira Wagler: Growing up Amish. Carol Stream; Illinois 2011. (Persönlicher Bericht eines Aussteigers aus einer amischen Gemeinde)
Jeff Smith: Becoming Amish. Cedar, Michigan 2016. (Bericht einer Familie, die letztendlich vergeblich versuchte, den Amischen beizutreten)
Bernd G. Längin: Die Amischen. Vom Geheimnis des einfachen Lebens. München 1990, ISBN 3-471-78049-1. (Sicht eines Journalisten mit persönlichen Akzenten)
Emma Gingerich: Runaway Amish Girl: The Great Escape. Progressive Rising Phoenix Press, 2014, ISBN 1-940834-76-7. (Persönlicher Bericht einer Amisch-Aussteigerin)
Silke Langwasser: Die Old Order Amish: Eine Glaubensgemeinschaft zwischen Beharrlichkeit und Entwicklung. Marburg 2008. (Wissenschaftliche Arbeit zum Thema)
Hermann Hage: Amische Mennoniten in Bayern. Edition vulpes, Regensburg 2009, ISBN 978-3-939112-45-7. (Historisches Werk, hauptsächlich über das 19. Jhdt.)
Verweise
Amish Resources, Library of Congress
Hiwwe wie Driwwe – Die pennsylvanisch-deitsch Zeiding
Amish Mennonites engl. (Global Anabaptist Mennonite Encyclopedia Online)
The Amish & Plain People (Englischer Führer für Touristen)
Einzelnachweise
Anmerkungen
Deutsche in den Vereinigten Staaten
Täuferbewegung
Ethnisch-religiöse Gruppe
Protestantismus in den Vereinigten Staaten
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Q104444
| 93.334355 |
97204
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https://de.wikipedia.org/wiki/Sapporo
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Sapporo
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Sapporo (, dt. „trockener, großer Fluss“) ist mit 1,9 Millionen Einwohnern die größte Stadt und Präfekturhauptstadt von Hokkaidō, der nördlichsten der 47 Präfekturen Japans. Sapporo ist auch der Verwaltungssitz der Unterpräfektur Ishikari.
Geschichte
Gründung im 19. Jahrhundert
Der mit der Errichtung des modernen Kaiserreichs in der Meiji-Restauration geschaffene Landkreis Sapporo () der Provinz Ishikari wurde 1869 Sitz der Kaitakushi, der Kolonialverwaltung von Ezochi, 1882 Sitz der Präfekturverwaltung von Sapporo, nach der Gründung von Hokkaidō 1886 Sitz der im Kaiserreich direkt dem Innenministerium unterstellten Verwaltung von Hokkaidō, das erst seit 1946 gesetzlich gleichwertig als Präfektur gilt.
Der Vorläufer der Stadt Sapporo, der Sapporo-ku (; ~„Stadtkreis Sapporo“) wurde 1879 vom Landkreis Sapporo getrennt, zu dem weiter das Dorf Sapporo gehörte. 1922 ging aus dem Stadtkreis die in diesem Artikel beschriebene Sapporo-shi/Stadt Sapporo hervor. Das Dorf Sapporo wurde erst 1955 in die Stadt Sapporo eingemeindet. Erst in den 1950er Jahren löste die Stadt Sapporo das nahegelegene und deutlich ältere Otaru als bevölkerungsreichste Stadt Hokkaidōs ab. Die Stadt wurde, ähnlich wie Kyōto oder viele amerikanische Städte, in einem Schachbrettmuster geplant.
Sapporos landwirtschaftliche Universität, die 1869 gegründet wurde und anfangs in Tokio beheimatet war, ist auch durch ihren ersten Präsidenten, William Smith Clark, bekannt geworden. Er wurde von der japanischen Regierung als Berater in Erziehungsfragen eingeladen. Vor allem die Abschiedsworte an seine Studenten, von denen er viele zum Christentum bekehrt hatte, haben einen bleibenden Eindruck hinterlassen: Boys, be ambitious! (dt. „Jungs, seid ehrgeizig!“).
Ereignisse ab dem 20. Jahrhundert
Sapporo war als Austragungsort der V. Olympischen Winterspiele 1940 vorgesehen. Infolge des Beginns des zweiten Japanisch-Chinesischen Krieges musste Japan die Spiele am 16. Juli 1938 an das IOC zurückgeben.
Schließlich vergab das IOC die Olympischen Winterspiele 1972 an Sapporo. Das waren die ersten Olympischen Winterspiele in Asien. Seitdem verbindet eine Städtepartnerschaft Sapporo mit München, dem Austragungsort der Olympischen Sommerspiele desselben Jahres.
Anlässlich dieses großen internationalen Sportereignisses führten die Organisatoren das Sapporo-Schneefestival als Bestandteil der Olympischen Sportkultur ein und griffen damit auf eine in der Region verbreitete Veranstaltung zurück. Hier gestalteten eingeladene Künstler aus Schnee und Eis eindrucksvolle Skulpturen. Dieses Festival etablierte sich in der Folge als jährliches Event.
Im Jahr 1978 scheiterte Sapporo bei dem Versuch, 1984 ein zweites Mal nach 1972 Olympische Winterspiele ausrichten zu dürfen, erst in der Stichwahl gegen Sarajewo.
Eine ursprünglich geplante Bewerbung für die Olympischen Sommerspiele 2016 gegen die innerjapanischen Konkurrenten Fukuoka und Tokio gab Bürgermeister Fumio Ueda mit Verweis auf die hohen Kosten 2006 auf. Eine weitere Bewerbung für die Austragung der Olympischen Winterspiele 2026 wurde im Verlauf des Bewerbungsverfahrens ebenfalls zurückgezogen.
Geografie
Grünanlagen
Die Stadt Sapporo hat viele Parks. So z. B. den Ōdōri-Park im Zentrum der Stadt, in dem über das Jahr verschiedene jährliche Veranstaltungen und Festivals stattfinden. Zu den größten Parks der Stadt zählt auch der Moerenuma-Park, der nach den Plänen des japanisch-amerikanischen Künstlers und Landschaftsarchitekten Isamu Noguchi errichtet wurde.
Stadtgliederung
Sapporo gliedert sich in 10 Stadtbezirke (ku):
Atsubetsu-ku ()
Chūō-ku ()
Higashi-ku ()
Kita-ku ()
Kiyota-ku ()
Minami-ku ()
Nishi-ku ()
Shiroishi-ku ()
Teine-ku ()
Toyohira-ku ()
Angrenzende Städte und Gemeinden
Ishikari
Kitahiroshima
Ebetsu
Eniwa
Chitose
Otaru
Date
Kyōgoku
Kimobetsu
Akaigawa
Klima
Politik und Verwaltung
Stadtpolitik
Wie in jeder japanischen Gemeinde führt ein von den Einwohnern direkt gewählter Bürgermeister die Verwaltung und repräsentiert die Stadt nach außen; ein von den Einwohnern gewähltes Stadtparlament bildet die Legislative.
Der ehemalige Mitte-links-Vizebürgermeister Katsuhiro Akimoto ist seit 2015 Bürgermeister von Sapporo (Sapporo-shichō). Bei den einheitlichen Regionalwahlen im April 2023 wurde er mit breiter antikommunistischer Parteienunterstützung (KDP, Daichi, LDP, Kōmeitō, DVP) mit 56 % der Stimmen gegen den ehemaligen Kommunalbeamten Kaoru Takano und den KPJ-gestützten Hideo Kibata für eine dritte Amtszeit wiedergewählt.
Das Stadtparlament Sapporo (Sapporo-shigikai) hat 68 Mitglieder aus zehn, mit den Stadtbezirken identischen Wahlkreisen. Bei der ebenfalls im einheitlichen Wahlzyklus durchgeführten Stadtparlamentswahl 2023 gewann die LDP 26 Sitze (−1), die KDP 18 (−1), die Kōmeitō unverändert zehn, die KPJ sieben (−3), Net Hokkaidō einen. Die Ishin no Kai gewann aus dem Stand fünf Sitze.
Vertretung auf Präfektur- und Nationalebene
Bei ebenfalls im einheitlichen Zyklus stattfindenden Wahlen zum Präfekturparlament (Hokkai-dōgikai) wählen die zehn Wahlkreise, die die zehn Bezirke der Stadt Sapporo bilden, zusammen 28 der insgesamt 100 Abgeordneten.
Bei Wahlen zum Abgeordnetenhaus (Shūgiin), dem Unterhaus des nationalen Parlaments, erstreckt sich die Stadt Sapporo in die Wahlkreise Hokkaidō 1 bis 5 (siehe auch Liste der Wahlkreise zum Shūgiin). Die Wahlkreise 1 bis 3, die ganz in der Stadt Sapporo liegen, wählten 2021 die Konstitutionellen Demokraten Daiki Michishita und Kenkō Matsuki und den Liberaldemokraten Hirohisa Takagi.
Städtepartnerschaften
Im 21. Jahrhundert bestehen folgende Partnerschaften mit Orten aus Europa, Amerika und Asien; in Klammern ist das Jahr des Beginns der Partnerschaft angegeben:
Portland, Vereinigte Staaten (seit Oktober 1959)
München, Deutschland (seit August 1972)
Im Ōdōri-Park im Stadtzentrum steht als Zeichen der Partnerschaft ein traditioneller bayerischer Maibaum, ein Geschenk der Stadt München. 1991 wurde eine Schrägseilbrücke nach München benannt.
Shenyang, Volksrepublik China (seit November 1980)
Nowosibirsk, Russland (seit Juni 1990)
Daejeon, Republik Korea (seit Oktober 2010)
Kultur
Regelmäßige Veranstaltungen
Schneefestival
Sapporos größtes Tourismusereignis ist das alljährlich im Februar stattfindende Schneefestival (, yuki matsuri), das 1950 seinen Anfang nahm, als Schüler und Studenten im Ōdōri-Park Statuen aus Schnee bauten. Das Fest wurde inzwischen auf eine Woche verlängert, und es werden auf drei verschiedenen Geländen gut ein Dutzend riesige und hunderte kleinere Schnee- und Eisskulpturen errichtet, die hunderttausende Besucher anlocken. Riesig bedeutet dabei: bis zu 10 m hoch und 30 m breit, bestehend aus 1000 und mehr Lastwagenladungen Schnee. Häufigstes Motiv sind mehr oder weniger berühmte Gebäude aus aller Welt, die oft im Maßstab 1:3 oder gar 1:2 mit allen Details nachgebaut werden, nur eben aus Schnee oder Eis.
Die großen Skulpturen werden von Firmen gesponsert, einige werden auch von den japanischen Selbstverteidigungsstreitkräften als Teil des Wintertrainings erbaut. Lokale Vereine errichten die kleineren Schneeskulpturen, wobei die Nachfrage groß ist. Die verfügbaren Flächen für die Bauten werden unter den Bewerbern verlost. Zudem wird auch ein internationaler Wettbewerb veranstaltet.
siehe auch: Moerenuma-Park
Bauwerke und Parks
Sapporo ist eine verhältnismäßig junge Stadt, deren wenige historische Sehenswürdigkeiten den starken westlichen Einfluss während der Meiji-Restauration verraten:
der als Wahrzeichen der Stadt geltende Uhrenturm der ehemaligen Versammlungshalle der landwirtschaftlichen Universität (s. o.). Die Charta der Stadt beginnt mit den Worten: Wir sind die Bürger der Stadt Sapporo, wo die Glocke des Uhrenturms läutet.
das bis in die 1970er Jahre als Amtssitz des Gouverneurs von Hokkaidō dienende Verwaltungsgebäude aus roten Klinkern, heute zum Biermuseum Sapporos umfunktioniert.
die im gleichen Stil erbauten, mit Efeu bewachsenen Gebäude der alten Sapporo-Brauerei von 1876, die inzwischen zur größten Bierhalle Japans umgestaltet wurden.
das Erschließungsdorf (, kaitaku no mura), ein Freiluftmuseum, in dem restaurierte alte Gebäude aus ganz Hokkaidō zu besichtigen sind.
der Fernsehturm in Stahlfachwerkbauweise.
der Hokkaidō-jingū, Hokkaidōs größter Shintō-Schrein.
Sport
Sportbauten, Sportklubs und Veranstaltungen
Makomanai-Stadion und Makomanai-Hallenstadion
Baseball – Sapporo ist die Heimat des Baseballvereins Hokkaidō Nippon Ham Fighters aus der Pacific League, dessen Spiele im Sapporo Dome ausgetragen werden.
Fußball – Sapporo ist die Heimat des Fußballvereins Consadole Sapporo aus der J. League, dessen Spiele im Sapporo Dome ausgetragen werden. Hier fanden anlässlich der Fußball-Weltmeisterschaft 2002 drei Vorrundenspiele statt.
Rugby Union – Der Sapporo Dome war einer der Austragungsorte der Rugby-Union-Weltmeisterschaft 2019.
Sapporo-Halbmarathon und Hokkaidō-Marathon
Ōkurayama-Schanze: Skispringen, Langlauf, Nordische Kombination:
Nordische Skiweltmeisterschaften 2007
Olympische Sommerspiele 2020 / Wettbewerbe
Aufgrund des im Vergleich zu Tokio milderen Klimas werden die Geher- und Marathonwettbewerbe der Olympischen Sommerspiele 2020 (durch die COVID-19-Pandemie auf 2021 verschoben) in Sapporo ausgetragen.
Infrastruktur
Verkehr
Straßenbahn Sapporo – 1909 in Betrieb genommen, drei Linien
U-Bahn Sapporo – 1971 in Betrieb genommen, drei Linien
Bahnhof Sapporo auf der JR Hakodate-Hauptlinie
Flughafen Neu-Chitose
Straßen:
Dōō-Autobahn
Sasson-Autobahn
Nationalstraße 5
Nationalstraße 12
Nationalstraße 36
Nationalstraßen 230, 231, 274, 275, 337, 453
Universitäten und Colleges
Universität Hokkaidō
Pädagogische Hochschule Hokkaidō
Persönlichkeiten
Sapporo in der Popkultur
Der japanische Autor Haruki Murakami lässt in seinen Romanen Wilde Schafsjagd und Tanz mit dem Schafsmann seinen Protagonisten jeweils nach Sapporo reisen.
Im Videospiel Yakuza 5 bereist der Spieler mit einem der spielbaren Charaktere die fiktionale Stadt Tsukimino, welches der Stadt Sapporo inklusive des Schneefestivals nachempfunden ist.
Weblinks
Sapporo, tabibito.de Japan Almanach (Beschreibung, Anreise, Übernachtungen, mit zahlreichen Abbildungen)
Einzelnachweise
Informationen zum Schneefestival in Sapporo (deutsch) Japanica.de
Ort in der Präfektur Hokkaidō
Millionenstadt
Japanische Präfekturhauptstadt
Nordisches Zentrum
Hochschul- oder Universitätsstadt
Wikipedia:Artikel mit Video
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Q37951
| 277.355661 |
318086
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https://de.wikipedia.org/wiki/Industrie%C3%B6konomik
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Industrieökonomik
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Die Industrieökonomik ( oder industrial economics) ist ein volkswirtschaftlicher Ansatz, der sich mit der Interaktion zwischen Markt und Unternehmen beschäftigt. Dabei werden Wettbewerbsprozesse auf allen Märkten betrachtet. Dazu zählen neben Industriezweigen auch alle Wirtschaftsbereiche. Die Industrieökonomik bedient sich mikroökonomischer Methoden und Konzepte, unterscheidet sich aber bei der Fokussierung auf Partialanalyse und den unvollständigen Wettbewerb.
Da sich die moderne Industrieökonomik unter Rückgriff auf die mathematische Spieltheorie immer mehr auch mit den Handlungsmöglichkeiten einzelner Unternehmen befasst, hat die Industrieökonomik auch zunehmend Bedeutung für die Betriebswirtschaftslehre, insbesondere das strategische Management bekommen. Darüber hinaus steht sie in enger Verwandtschaft zur Wettbewerbstheorie. Die Industrieökonomik liefert zudem wissenschaftliche Grundlagen für die Wettbewerbspolitik, Medienökonomie, Organisationstheorie und das Marketing.
Geschichte des Ansatzes
Die Beschäftigung mit Märkten, auf denen nur unvollkommener Wettbewerb herrscht, reicht bis in die 1930er-Jahre zurück. In den 1950er-Jahren war es dann der US-Amerikaner Joe Bain, der auf der Basis umfangreicher empirischer Studien als erster Ökonom die unterschiedlichen Formen unvollkommenen Wettbewerbs klassifizierte. Ferner beschrieb er Regeln, nach denen Unternehmen, die auf solchen unvollkommenen Märkten etabliert sind, neuen Konkurrenten den Marktzugang erschweren bzw. verwehren können. Den englischen Namen dieses Forschungszweiges (Industrial Organization) prägte Bain durch die Veröffentlichung eines gleichnamigen Buches. Neben Bain waren auch die Arbeiten des ebenfalls zur Harvard-Schule zuzuordnenden Edward Sagendorph Mason bedeutend.
In den 1960er und 1970er Jahren wurden die Konzepte Bains zum einen weiter ausgearbeitet, insbesondere wurde sein Konzept der Markteintrittsbarrieren um die der Austritts- und der Mobilitätsbarrieren erweitert. Zum anderen wurde begonnen, Konzepte der mathematischen Spieltheorie auf die Industrieökonomik anzuwenden, um damit der wechselseitigen Abhängigkeit von etabliertem Anbieter und potenziellem Newcomer besser gerecht zu werden. Auf Basis der Oligopolmodelle von Antoine-Augustin Cournot (Cournot-Oligopol), Joseph Bertrand (Bertrand-Wettbewerb) und Alfred Marshall, den Arbeiten von Edward Hastings Chamberlin und Joan Robinson im Bereich der monopolistischen Konkurrenz, sowie des Hotellings Gesetzes von Harold Hotelling wurde die Industrieökonomik weiterentwickelt.
Anfang der 1980er-Jahre wendete der Ökonom Michael E. Porter die bislang wohlfahrtstheoretisch ausgerichtete Industrieökonomik auf Einzelunternehmen an und begann der Frage nachzugehen, welche Lehren der einzelne Betrieb unter strategischen Gesichtspunkten aus den Erkenntnissen der Industrieökonomik ziehen könne. Er begründete mit diesem Ansatz eine der einflussreichsten Schulen strategischen Managements, den Market-Based View.
Grundzüge des Ansatzes
Die Industrieökonomik beschäftigt sich mit den Mechanismen, die auf durch Anbieterkonzentrationen und Marktabgrenzungen gekennzeichneten Märkten wirken. Dazu zählen sowohl die Funktionsvoraussetzungen und -weisen von Wettbewerbsprozessen, wie die Wettbewerbs- und Innovationsprozesse als solche. Gegenstand ist dabei die der mikroökonomischen Preispolitik entspringende Frage nach der optimalen Allokation, die durch einen funktionsfähigen Wettbewerb realisiert wird. Im Mittelpunkt steht das Marktstruktur-Marktverhalten-Marktergebnis-Paradigma, welches durch die Analyse relevanter Umweltschichten Parallelen zur Managementforschung aufweist: So wirkt das Zusammenspiel aus Organisationsfähigkeit und Umweltbedingungen (Marktstruktur) über die Strategie (Marktverhalten) auf das Unternehmensergebnis (Marktergebnis).
Die Industrieökonomik fragt nach dem Einfluss, den die Struktur (die Organisation) einer Branche (von Bain als Industrie bezeichnet) bzw. einer oligopolistischen Gruppe innerhalb einer Branche auf das Verhalten und damit den ökonomischen Erfolg der Mitglieder der Branche bzw. der Gruppe hat. Da die Industrieökonomik den wirtschaftlichen Erfolg von Unternehmungen aus der Marktstruktur heraus erklären will, hat die Herausarbeitung der relevanten Parameter der Marktstruktur und eine dem folgende Klassifizierung möglicher Marktformationen für sie eine besondere Bedeutung. Bain unterscheidet Märkte bzw. Branchen entlang dreier Parameter:
dem Grad der Anbieterkonzentration,
dem Grad der Produktdifferenzierung und
der Höhe der Eintrittsbarrieren der Industrie oder des Marktes.
In der Industrieökonomik sind Untersuchungen zum Zusammenhang zwischen Marktstruktur und Marktergebnis durchgeführt worden, welche sich insbesondere um die Erklärung der Erfolgsunterschiede im Interbranchenvergleich bemüht. Parallelen zwischen Managementfragen und Industrieökonomik sind vor allem in inhaltlicher Hinsicht und dem relevanten Umweltausschnitt zu sehen. So wirkt das Zusammenspiel aus Organisationsfähigkeiten und Umwelt (Struktur) über die Strategie (Verhalten) zum Unternehmenserfolg (Ergebnis).
Insgesamt lassen sich drei Richtungen unterscheiden:
Harvard School: Im Rahmen des Harvard School-Ansatzes, unter anderem vertreten durch Bain, Mason, Clark und Baumol, werden Branchen deskriptiv-analystisch bzw. handlungstheoretisch untersucht, wobei der potenzielle Wettbewerb als die wesentliche Determinante einer guten Performance (Marktergebnis) angenommen wird. Im Unterschied zur Chicago School kann es für Vertreter der Harvard School durchaus akzeptabel sein, wenn das Marktergebnis durch potentiellen Wettbewerb erreicht wird.
Chicago School: Sie wird u. a. vertreten durch John McGee sowie George Stigler, die davon ausgeht, dass der Wettbewerb funktionsfähig ist, wenn genügend tatsächlicher oder potenzieller Wettbewerb vorhanden ist. Dieser normativ-analytische bzw. wohlfahrtsökonomische Ansatz bildet die Grundlage für eine präventive Antitrustpolitik und Entflechtungsempfehlungen. Zusammen mit dem Austrian School Ansatz ist die Chicago School grundsätzlich gegen Intervention des Staates. Die Vertreter der Chicago-School üben Kritik am Marktstruktur-Marktverhalten-Marktergebnis-Paradigma, da individuelle Unternehmenserfolge bzw. überdurchschnittliche Gewinne einzelner Unternehmen nicht auf mangelnden Wettbewerb durch Marktbarrieren und Konzentration, sondern auf die Unternehmensfähigkeiten zurückzuführen sind.
(Neue) Österreichische Schule ((New) Austrian School): Der Austrianismus entwickelte sich vorwiegend im deutschsprachigen Raum und knüpft an das schumpetersche Unternehmerkonzept an. Er wird u. a. vertreten durch Ernst Heuss, Friedrich August von Hayek und Erich Hoppmann. Im Mittelpunkt der Austrian-School-Untersuchungen stehen vor allem Wettbewerbsbeschränkungen. Aufbauend auf dieser wettbewerbstheoretischen Konzeption werden seit Beginn der 1990er-Jahre wettbewerbsorientierte Strategien entwickelt, die als „(Neo-)Austrian School of Strategy“ bezeichnet werden. Diese Ansätze stellen Unternehmensressourcen in den Mittelpunkt strategischer Betrachtung und befassen sich mit Such- und Selektionsprozessen.
Anbieterkonzentration
Als Industrie bezeichnet Bain Untergruppen von Unternehmungen innerhalb der wirtschaftlichen Sektoren, die, da ihre Produkte in den Augen der potenziellen Käufer starke Substitute darstellen und eine gemeinsame Gruppe von Käufern ansprechen (sollen), im direkten Wettbewerb miteinander stehen. Die Konzentration der Anbieter innerhalb einer Industrie, operationalisiert als die Anzahl der Wettbewerber und die Größe ihrer individuellen Marktanteile, wird von Bain vornehmlich aus zwei Gründen für wichtig gehalten: Bei einer höheren Anbieterkonzentration steigt der Anreiz für den einzelnen Wettbewerber mit seinen Konkurrenten zu kooperieren, um gemeinsam einen profiterhöhenden 'Industriepreis', der einem monopolistischen Preis entsprechen oder sich zumindest diesem annähern kann, und entsprechende Produktionsmengen festzulegen. Parallel sinkt für den einzelnen Wettbewerber der Anreiz, durch eigenständige Wettbewerbspolitik eine Vergrößerung des eigenen Marktanteils und Gewinns anzustreben, die jeweils nur auf Kosten der Konkurrenten gehen können.
Produktdifferenzierung
Bain betrachtet Produktdifferenzierung vom Standpunkt der (potenziellen) Käufer eines Gutes. Je stärker zwei Güter einem Käufer als unterschiedlich erscheinen, desto weniger stellt das eine ein Substitut für das andere dar und desto geringer wird die Kreuzpreiselastizität der Nachfrage beider Güter sein. So betrachtet steht die Produktdifferenzierung in einem engen Zusammenhang mit Bains Konzept der Industrie, die dadurch gekennzeichnet ist, dass die zu einer Industrie gehörigen Produkte in den Augen der Käufer relativ gute Substitute darstellen. Innerhalb einer Industrie ist es deshalb für die Existenz von Produktdifferenzierung notwendig, dass unterschiedliche Käufergruppen verschiedene konkurrierende Produkte unterschiedlich bewerten. Dann werden, bei gleichen Produktpreisen, bestimmte Käufer das eine Produkt, andere ein Konkurrenzprodukt erwerben und, bei unterschiedlichen Preisen, bestimmte Käufer bereit sein, einen höheren Preis für ein höher geschätztes Produkt zu zahlen, während andere nur aufgrund relativ geringerer Preise zum Kauf zu bewegen sein werden. Bei der Existenz von Produktdifferenzierung verfügt jeder Anbieter aufgrund der unterschiedlichen Präferenzen, die unterschiedliche Käufergruppen den unterschiedlichen Produkten entgegenbringen, über einen mehr oder weniger großen Preisspielraum, innerhalb dessen er den Preis seines Produktes variieren kann, ohne bei Preiserhöhungen alle Kunden zu verlieren bzw. bei Preissenkungen den Konkurrenten die Kunden wegzunehmen.
Eintrittsbarrieren
Zentrales Element der Marktstruktur-Analyse der Industrieökonomik sind die Eintrittsbarrieren. Das Konzept der Eintrittsbarrieren unterscheidet zwischen Unternehmungen, die bereits in einer Industrie etabliert sind und den Markt mit ihren Produkten beliefern (etablierte Anbieter) und solchen Unternehmungen, die nicht in der Industrie etabliert sind, dies aber durch den Bau einer neuen Fabrik und Nutzung ihrer Produktionskapazität für ein Angebot auf dem Markt versuchen könnten (potenzielle Anbieter). Unternehmungen, die sich durch den Erwerb einer bereits existierenden Fabrik in eine Industrie 'einkaufen', zählt Bain explizit nicht zu den potenziellen Anbietern, da damit nicht die Produktionskapazität der Industrie verändert wird.
Die Höhe einer Eintrittsbarriere bezieht sich auf das Ausmaß, in dem etablierte Anbieter auf lange Sicht ihre Angebotspreise über das durch die minimalen durchschnittlichen Kosten gegebene Wettbewerbsniveau heben können, ohne dass potenzielle Anbieter zum Eintritt in die Industrie angeregt werden, den Eintrittssperrenpreis. Der Tatsache, dass in der Regel weder die Gruppe der etablierten noch die Gruppe der potenziellen Anbieter homogen ist, trägt Bain durch eine weitere Unterscheidung Rechnung: Er differenziert zwischen unmittelbaren und generellen Eintrittsbedingungen. Die unmittelbaren Eintrittsbedingungen beziehen sich auf den prozentualen Überschuss des Angebotspreises über den minimalen Durchschnittskosten, den der durch die Eintrittsbarrieren am stärksten geschützte etablierte Anbieter verlangen kann, ohne den Eintritt der am wenigsten benachteiligten potenziellen Anbieter hervorzurufen. Die generellen Eintrittsbedingungen beziehen sich auf die Folge der Werte der unmittelbaren Eintrittsbedingungen, die entstehen würde, wenn sich die potenziellen Anbieter – in der Reihenfolge steigender Benachteiligung durch die Eintrittsbarrieren – nacheinander in der Industrie etablieren würden.
Klassischerweise werden drei Gruppen von Eintrittsbarrieren genannt:
Vorteile etablierter Anbieter aufgrund von Skalenerträgen,
Vorteile aufgrund absoluter Kostenvorteile und
Vorteile, die etablierte Anbieter aufgrund von Produktdifferenzierung genießen.
Spieltheoretische Ansätze
Die moderne industrieökonomische Literatur (siehe beispielsweise Tirole oder Pfähler/Wiese) ist in der Hauptsache eine Anwendung der nichtkooperativen Spieltheorie auf die von Bain behandelten Fragen. Die grundlegenden spieltheoretischen Modelle der Industrieökonomik stammen von Antoine-Augustin Cournot (Cournot-Oligopol) und Joseph Bertrand (Bertrand-Wettbewerb). Diese werden sowohl als Stufenspiele (einmalige Aktionswahl) als auch als wiederholte Spiele (mehrmalige Aktionswahl) behandelt.
Häufig betrachtet man zweiperiodige Modelle. Beispielsweise wählen die Unternehmen auf der ersten Stufe ein Forschungs- und Entwicklungsbudget, das (mit bestimmten Wahrscheinlichkeiten) die Kosten reduziert. Der sich anschließende Mengen- oder Preiswettbewerb wird dann von den neuen Kostenstrukturen beeinflusst. In ähnlicher Weise behandelt man Designführerschaft und Qualitätsführerschaft als Arten der Produktdifferenzierung sowie Werbemaßnahmen oder Kompatibilitätswettbewerb.
Literatur
Ältere Werke entsprechend dem Struktur-Verhalten-Ergebnis-Ansatz:
J. S. Bain: Barries to new competition. Cambridge, MA, 1956.
J. S. Bain: Industrial organization. 2. Auflage. New York 1968.
Lehrbücher mit spieltheoretischem Ansatz:
Jean Tirole: The Theory of Industrial Organization. Cambridge, MA, 1988, ISBN 0-262-20071-6.
Wilhelm Pfähler, Harald Wiese: Unternehmensstrategien im Wettbewerb – Eine spieltheoretische Analyse. 2. Auflage. Springer Verlag, Heidelberg 2006, ISBN 3-540-28000-6.
Verbindung von Industrieökonomik und strategischem Management:
R. Caves, Michael E. Porter: From entry barriers to mobility barriers: Conjectural decisions and contrived deterrence to new competition. In: Quarterly Journal of Economics. 91/1977, S. 241–261.
Michael E. Porter: The contributions of industrial organization to strategic management. In: Academy of Management Review. 6/1981, S. 609–620.
Mikroökonomie
Wettbewerbstheorie
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Q1411783
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254301
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https://de.wikipedia.org/wiki/Nouruz
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Nouruz
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Nouruz (, , ; übersetzt „Neuer Tag“) ist der Name des Neujahrs- und Frühlingsfestes, das vor allem im persischen Kulturraum mit dem Frühlingsbeginn zur Tagundnachtgleiche, dem Tag des astronomisch berechneten Eintritts der Sonne in das Tierkreiszeichen des Widders, gefeiert wird. Der Tag fällt auf den 20. oder 21. März und sein Beginn entsprechend dem Beginn der Tagundnachtgleiche auf unterschiedliche Uhrzeiten.
Seit dem 10. Mai 2010 ist Nouruz auf Beschluss der 64. Generalversammlung der Vereinten Nationen als „internationaler Nouruz-Tag“ anerkannt. Die Generalversammlung stellte in ihrer Erklärung fest, dass „Nouruz ein Frühlingsfest ist, das von mehr als 300 Mio. Menschen seit mehr als 3000 Jahren auf der Balkanhalbinsel, in der Schwarzmeerregion, im Kaukasus, in Zentralasien und im Nahen Osten gefeiert wird“. Am 30. September 2009 nahm die UNESCO den Nouruz-Tag in die Liste der Meisterwerke des mündlichen und immateriellen Erbes der Menschheit auf.
Etymologie
Wörtlich übersetzt heißt Nouruz ‚neuer Tag‘ (nou oder nau ‚neu‘; ruz ‚Tag‘). Die Wörter , oder in iranischen Sprachen, die für ‚Tag‘ stehen, gehen auf das ur-indoiranische Rauça (sprich „Rautscha“) zurück, was wiederum vom ur-indoeuropäischen *Leuk- stammt, woraus auch das Wort „Licht“ im Deutschen entstanden ist. In iranischen Sprachen erfolgte eine Lautverschiebung von nach und von nach .
Im altiranischen Avestisch wurde Raôçah tatsächlich für Licht benutzt, ‚neu‘ hieß navā. Die altpersische Form lautete Rauçah. Auf Alt-Indoarisch war Roçiş (sprich Rotschisch) in Verwendung.
Der heutige Begriff Nou-Roz wurde zum ersten Mal im 2. Jahrhundert erwähnt.
Geschichte
Bis ins 1. Jahrhundert v. Chr. markierte im iranischen Hochland die Sommersonnenwende den Jahreswechsel, der mit großen Erntefesten begangen wurde. Unter den Achämeniden (6. bis 4. Jahrhundert v. Chr.) wurde die Frühlings-Tagundnachtgleiche zum offiziellen Jahresbeginn. Bei den iranischen Völkern in Iran, Tadschikistan und Afghanistan wird dieser Zeitpunkt bis heute von Astronomen auf die Stunde und Minute genau berechnet. An diesem Tag wurde die landwirtschaftliche Grundsteuer (Charadsch) erhoben. Die Tradition des Neujahrsfestes hat sich bis heute erhalten und bis nach Ostafrika ausgebreitet.
Eine der bekanntesten Versionen zur Entstehung des Neujahrsfestes hat der persische Dichter Firdausi (um 940 bis 1020/1026) in seinem Schāhnāme („Königsbuch“) festgehalten. Firdausi legt die Einsetzung des Neujahrsfestes Nouruz in die Regierungszeit von Dschamschid. Dschamschid war der vierte König aus dem mythischen Herrschergeschlecht der Kayaniden. Er gebot über alle Bestien, Dämonen und Engel. Er war König und gleichzeitig oberster Priester des Ormozd (mittelpersisch für Ahura Mazda). Firdausi schreibt über Dschamschid:
Bei den Parsen in Indien heißt dieser Tag daher immer noch Dschamschēd-i Nawrōz. In Persien war der Tag über die Jahrhunderte der wichtigste weltliche Feiertag, aber auch in den kurdischen Provinzen des Osmanischen Reiches galt er als gesetzlicher Feiertag. Er wurde als großes Volksfest begangen, bei dem Reiterspiele stattfanden und sich die Menschen auf Plätzen und in den Straßen versammelten, Feuer anzündeten und sich gegenseitig mit Wasser bespritzten. Zu Zeiten der Achämeniden war an Nouruz die Bevölkerung für eine gewisse Zeit nicht mehr steuerpflichtig. Der Tag war aber auch aus ganz anderen Gründen wichtig. Denn an Nouruz kamen Vertreter der unterworfenen Völker nach Persien und brachten dem persischen König Geschenke.
Nach dem Untergang des vorislamischen Sassanidenreichs Mitte des 7. Jahrhunderts und der folgenden Islamisierung Persiens wurde Nouruz an unterschiedlichen Tagen begangen. Zunächst lag Nouruz auf dem 18. Juni. Der Kalif al-Mutawakkil verlegte den Tag auf den 17. und al-Mu'tadid auf den 11. Juni. Bei einer Kalenderreform unter dem Seldschukenherrscher Malik Schah I. wurde Nouruz im Jahre 1079 auf den 15. März festgelegt. Heute wird Nouruz am 20. oder 21. März gefeiert.
Im Iran und bei den Kurden hat sich bis heute sein Charakter als Übergangsritual erhalten. Zur Vorbereitung auf den neuen Lebensabschnitt werden neue Kleider angezogen und als Zeichen für das Winterende werden Lagerfeuer angezündet, über die gesprungen wird und um die herum vor allem die Jungen tanzen und singen. Die Frauen bereiten ein Festessen vor und gemeinsam gehen Verwandte und Freunde in einen Park oder zu einem Ausflugsort. Manchmal wird eine Musikkapelle engagiert, meistens ziehen die Musiker von einer Versammlung zur nächsten und spielen je nach Geschmack traditionelle, politische oder Liebeslieder.
Mit der Verbreitung nationalistischer Ideen im 20. Jahrhundert erhielt das Fest bei den Kurden eine stärkere politische Bedeutung. Sie feiern das Neujahr am 21. März als Symbol des in der iranischen Mythologie überlieferten erfolgreichen Widerstandes gegen Unterdrückung. Im Zentrum dieser Vorstellung stehen die Legenden um den unter anderem als kinderfressenden Drachenkönig vorgestellten Tyrannen Zohak (Dahak, Dahaq) und seinen Bezwinger, den Schmied Kaveh. Gemeinsam mit der Bevölkerung zog Kaveh los und erschlug Zohak. Aus Freude entfachten die Menschen ein Feuer, das die Nachricht im ganzen Land verbreitete. Dies hat sich der Überlieferung nach am 21. März im Jahr 612 v. Chr. zugetragen. Historisch korrespondiert dieses Jahr mit dem Sieg der Meder über die Assyrer bei Ninive. In einer ebenfalls gängigen Form wird die Legende zum Ursprungsmythos erweitert.
Im Bahai-Kalender ist Nouruz (Naw-Ruz) einer von neun Feiertagen, er markiert den Beginn des neuen Jahres und das Ende der neunzehntägigen Fastenzeit der Bahai.
Seit dem letzten Jahrhundert hat sich Nouruz weit über den Iran, die Türkei, den Irak, Syrien und Zentralasien verbreitet. Außerdem feiern heute Menschen Nouruz in Russland und auf dem Balkan. Jedes Land hat seine spezifische Schreibweise und Aussprache des Begriffs „Nouruz“.
Bräuche und Zeremonien
Haft Sin
Nouruz findet am Frühlingsanfang, am 20. oder 21. März statt ( oder Sperli ‚Frühling‘, ). Wichtigster Bestandteil des Neujahrsfestes ist die Zubereitung des , dessen Teile mit dem persischen Anfangsbuchstaben Sīn („S“) beginnen müssen. Das sind: Sekke – Münzen; Sib – Apfel; Somach – ein persisches Gewürz (Gewürzsumach); Sombol – die Hyazinthen; Sir – Knoblauch; Sabseh – ‚Grünzeug‘, typischerweise keimender Weizen, Gerste, Kresse oder Ähnliches; und Serke – Essig. Ebenso wichtig ist das aus sieben Früchten bestehende Neujahrsgetränk Haft Mewa. Es werden sieben Speisen zubereitet, die möglichst mit dem Buchstaben „S“ beginnen sollten und die sieben Tugenden des Zoroastrismus symbolisieren, und zusammen mit Samanak (Keimlinge aus sieben Getreidesorten), einem Spiegel, einer Kerze und einem heiligen oder wichtigen Buch (dem Koran bei Muslimen, der Bibel bei Christen, der Avesta oder einem Bild Zarathustras bei Zoroastriern oder einem Gedichtsbuch) auf einem Tisch gedeckt.
Amu Nouruz, Naneh Sarma und Hadschi Firuz
Zu den Neujahrsfeierlichkeiten sind auch die Reise und Geschenke von Amu Nouruz bekannt, der von einem tanzenden, scherzenden und musizierenden Hadschi Firuz begleitet wird und nach der Tradition nur einmal im Jahr zu Nouruz in die Nähe seiner geliebten Gattin Naneh Sarma kommt, von der er sonst das ganze Jahr über getrennt ist. Er trifft sie schlafend an und entfernt sich wieder, so dass sie wieder ein Jahr auf seine Rückkehr warten muss.
Tschahar Schanbe Suri
Am Vorabend des letzten Mittwochs vor Nouruz wird das Tschahar Schanbe Suri ‚Mittwochsfeuer‘ angezündet. Dieser altiranische (zoroastrische) Brauch gehört zu den wichtigsten Ritualen des persischen Neujahrfestes. Am Abend davor gehen manchmal verkleidete Kinder und Jugendliche von Haus zu Haus, schlagen dabei auf Töpfe und Topfdeckel und erhalten Süßigkeiten oder andere kleine Geschenke von den Bewohnern.
Sizdah bedar
Sizdah bedar ist ein Brauch, bei dem man sein Haus verlässt, um in der Öffentlichkeit zu feiern. Dies geschieht am dreizehnten () Tag des Monats Farwardin (entspricht dem 1. oder 2. April), dem letzten Tag der Feierlichkeiten zum Nouruz. Dabei wird unter anderem das Sabseh des Haft Sin in einen Fluss geworfen.
Verbreitung
Die Begehung des Festes lässt sich zurückverfolgen bis zu den zoroastrischen Vorfahren der heutigen iranischen Völker. Nouruz ist offizieller Feiertag im Nord-Irak (Autonome Region Kurdistan), in Iran, Aserbaidschan, Afghanistan, Kasachstan, Kirgisistan, teilweise und inoffiziell in Pakistan, Syrien, Tadschikistan, Turkmenistan, in der Türkei, in Usbekistan (zwei Tage), Georgien (ein Tag) und Indien bei den Parsen als Jamschidi-Fest (siehe auch Holi). Gefeiert wird Nouruz auch bei den verbliebenen osmanisch-türkischen Bevölkerungsgruppen im südosteuropäischen Raum (Balkan) wie in Albanien (wo es als einzigem Land in Europa ein staatlicher Feiertag ist und vor allem von der Bektaschi-Gemeinde begangen wird), Bosnien und Herzegowina, Bulgarien, Griechenland, Moldau, Nordmazedonien und Rumänien. Nouruz genießt eine sehr hohe Bedeutung bei allen kurdischen sowie belutschischen Stämmen und anderen hier nicht genannten iranischen Völkern.
Vor der Kalenderkorrektur durch den Astronomen Omar Chayyām 1079 wurde das Frühlingsfest zwischen Ende Februar und Ende März etwa 40 Tage lang gefeiert. Das Fest wird seit der Islamisierung der Gegend am Mausoleum, genannt nach dem Vetter und Schwiegersohn des Propheten Mohammed ʿAlī ibn Abī Tālib, in der nordafghanischen Stadt Mazār-i Scharif der Provinz Balch (ehem. Baktra) vierzig Tage lang unter dem Titel Melâe Gole Sorx (Melā-ye gol-e sorch, „Tulpenfest“) gefeiert. Dort soll sich ein zoroastrischer Tempel befunden haben. Die Stadt ist eine heimliche Hauptstadt des Nowruz-Festes. Auch während der Talibanherrschaft wurde dort das Fest und dessen Zeremonien gefeiert.
Nowruz in den einzelnen Staaten
Die Bedeutung des Nouruz im Bahaitum
Das Bahaitum greift das Nouruz-Fest auf und weitet dessen Bedeutung aus. Im Bahai-Kalender ist Nouruz (Naw-Ruz) einer von neun Feiertagen, er markiert den Beginn des neuen Jahres und das Ende der neunzehntägigen Fastenzeit der Bahai. Das Neujahrsfest ist auf den Tag der Frühjahrstagundnachtgleiche und den Frühlingsbeginn auf der nördlichen Halbkugel gelegt. Nouruz ist für die Bahai nicht länger nur ein nationales Fest für Iraner, Kurden und Afghanen, sondern ein religiöses Fest mit einer tiefen spirituellen Bedeutung: Durch den Neubeginn des Jahreszyklus in der Natur und das Ende der dunklen Jahreszeit steht Nouruz symbolisch für die geistige Erneuerung. Die Tatsache, dass Nouruz auf dem Tag der Frühjahrstagundnachtgleiche liegt, ist ein Symbol für die Manifestationen Gottes (wie Jesus, Buddha, Moses), die die göttliche und menschliche Natur in sich vereinen.
Über den Nouruz-Tag schreibt Bahāʾullāh: „Dieser Tag ist wahrlich die Krone aller Monate und deren Ursprung, der Tag, da der Odem des Lebens über alles Erschaffene weht. Groß ist der Segen dessen, der ihn mit Heiterkeit und Frohmut begrüßt. Wir bezeugen, dass er in Wahrheit zu denen gehört, die ihr Ziel erreicht haben.“
Durch die Ausbreitung des Bahaitums hat sich dieses ursprünglich ethnische indoiranische Fest globalisiert. Es wird weltweit von allen Bahai gefeiert.
Nouruz in den Turkstaaten
Infolge der seit jeher bestehenden kulturellen Verbindung der Turkvölker mit Iran ist das Fest auch unter den turksprachigen Völkern bekannt, auch wegen des universellen Charakters als Frühlingsfest.
Aserbaidschan
In Aserbaidschan hat das Novruz-Fest eine große Bedeutung. Obwohl während der Sowjetherrschaft die Russen das Fest verboten hatten, zelebrierten die meisten aserbaidschanischen Türken das Fest weiterhin. Der Novruz-Feiertag ist einer der wichtigsten und beliebtesten Feiertage des aserbaidschanischen Volkes. Er markiert die Ankunft des Frühlings, die Erneuerung der Natur, und wird an der Frühlings-Tagundnachtgleiche vom 20. bis 21. März – dem Beginn des astronomischen Neujahrs – gefeiert. Der Ursprung von Novruz geht auf alte Bräuche, Natur- und Fruchtbarkeitskult sowie auf den Glauben an den Niedergang und den Aufstieg der Natur zurück. In dem Monat vor Novruz werden jeden Mittwoch nacheinander die vier Elemente der Natur gefeiert: Wasser, Feuer, Erde und Luft (oder Wind). Das letzte Element İlaxır Çərşənbə steht für die Zeit, in der die Blätter aufblühen und der Frühling endlich beginnt. Symbole sind unter anderem Samani. Der Anbau von Samani (grün sprießender Weizen) ist die heiligste Novruz-Zeremonie als Vorbote des Frühlings. Der Samani-Keimling symbolisiert die Aussaat und eine reiche Ernte. Er steht für Getreide, Brot, Vermehrung und Überfluss. Getreide und Überfluss ist ein Pfand für das Leben, die Existenz, die wichtigste materielle Notwendigkeit für das Leben. Die Menschen haben schon immer Samani aus Weizen, Gerste, Erbsen, Linsen oder anderen Getreidearten in Kupfergerichten angebaut; sie haben es immer verehrt und sich über sein Keimen gefreut. Am Abend stecken Kinder Hüte unter die Türen der Nachbarn und verstecken sich, um darauf zu warten, dass die Nachbarn die Hüte mit Feiertagsgeschenken füllen. Nach dem Sonnenuntergang versammeln sich die Menschen auf den Straßen, um Freudenfeuer anzuzünden, um sie herum zu tanzen und über sie zu springen, um ihre Seelen zu reinigen und böse Geister abzuwehren. Einer der wichtigsten Teile der Festtafel ist Xonça – ein Tablett gefüllt mit Süßigkeiten, Nüssen, Kerzen und bemalten Eiern. Jede der für Novruz gebackenen Süßigkeiten hat eine symbolische Bedeutung. Baklava repräsentiert die vier Teile der Welt, Qoğal die Sonne, Şəkərbura den Mond und die bemalten Eier sind ein Symbol des Lebens. Samani schmückt die Mitte des Tabletts und ist mit einem roten Band gebunden.
Die Hauptfeierlichkeiten während des Novruz-Festes finden gewöhnlich an den Wänden des legendären Jungfrau-Turms statt. Die Spitze des Turms ist mit einem riesigen Samani geschmückt, daneben befindet sich die auf dem Turm installierte Fackel, deren Flamme das Erwachen der Natur und des Lebens symbolisiert.
Kasachstan
Die Kasachen rezitieren während der Nevruz-Zeremonien Mevlid-Gebete. Die Häuser werden im Frühjahr gereinigt und die Menschen tragen ihre beste Kleidung. Während der Nevruz-Feierlichkeiten werfen die Menschen Lehmtassen gegen Wände oder die Möbel, um sie zu zerbrechen und über das Feuer zu springen. Es ist bekannt, dass der Sprung über das Feuer ein Symbol dafür ist das Unglück und die Krankheit des vergangenen Jahres hinter sich zu lassen und einen gesunden Start in das neue Jahr zu machen. Die Kasachen bereiten während Nevruz eine besondere Mahlzeit mit dem Namen Nevruzköcö vor. Sie bereiten auch eine andere Mahlzeit namens Lapa zu, einen weichen Reis, und geben diesen an diesem Tag an ihre Nachbarn weiter.
Kirgisistan
Die Kirgisen nennen den ersten Tag des neuen Jahres Nooruz und bereiten an diesem Tag eine besondere Mahlzeit mit dem Namen Nooruz köcö zu und essen sie. Dies ist ein feuchter Sirup aus Mais oder zerstoßenem Weizen. Auz köcö, das auch als kavut bekannt ist, ist eine weitere besondere Mahlzeit, die für diesen Tag zubereitet wird. Traditionellerweise werden zudem Schafe geopfert. Am Vorabend des Festes müssen Haus und Hof in Ordnung gebracht werden. Die Kinder, die in dieser Zeit geboren sind, werden Nouruzbek oder Nouruzbai (Jungen) und Nouruzdjan oder Nouruzgül (Mädchen) genannt. An Nouruz gibt es noch eine besondere Tradition: Das Abbrennen des Wacholder, auch Artscha genannt und der kirgisische Nationalsport Kök-Börü.
Türkei
In der Türkei wurde das Nevruz-Fest über Jahre verboten. In den größeren Städten gelang es zwar, das Verbot durchzusetzen, die Bevölkerung in den ländlicheren Gebieten zelebrierte Nevruz aber weiterhin. In den Jahren 1991 und 1992 spitzte sich die Situation stark zu, es starben 125 Personen, als die türkischen Sicherheitskräfte das Verbot durchsetzen wollten. Mit dem Wechsel in der Regierung 2000 wurde das Verbot aufgehoben. Heute fördert die Regierung das Fest sogar; es können unter anderem Unterstützungsgelder zum Durchführen der Feste beantragt werden. Auch der staatliche Fernsehsender TRT Avaz veranstaltet am 21. März jeweils in der Türkei, aber auch in anderen turksprachigen Ländern Feste und sendet den ganzen Tag über ein Sonderprogramm.
Traditionell beginnen die Vorbereitungen, das heißt Hausputz und Vorbereitung der Speisen, am Vortag, dem 20. März. Am 21. März stehen die Leute früh auf. Sie gehen in frischer Kleidung und je nach Region mit Kaffee auf den Friedhof. Nachdem sie zurückgekehrt sind, müssen sie sich mit Wasser waschen und danach Wasser trinken. Dies soll die Seele reinigen. Im Anschluss wird gemeinsam gegessen. Gebäck mit Spinat, mit Zwiebelschalen gefärbte Eier, dünne Gebäckbrote, gebratene Kichererbsen, Burma Baklava und Süßigkeiten wie türkischer Honig gehören zu den Gerichten und Speisen, die am Nevruz-Tag serviert werden. Während des Essens spielen die Menschen Musikinstrumente und singen Volkslieder. Schaukeln und Steigenlassen von Drachen, die als Bayrak (Flagge) bezeichnet werden, sowie das Springen über Feuer sollen zur Unterhaltung dienen.
Turkmenistan
Die Türkmenen nennen den ersten Tag des neuen Jahres Novruz. Fünf oder sechs Tage vor Novruz beginnen die Familien mit dem Putzen ihrer Häuser. Es werden türkisches Gebäck wie Petir, Külce, Börek, Koko, Bovursak sowie Reis zubereitet. Es wird angenommen, dass die Zubereitung vieler verschiedener Speisen Glück für das nächste Jahr bringt. Semeni ist das besondere Essen, das während Nevroz hergestellt wird. Viele Familien kommen zusammen und bereiten das Essen in einem großen Kessel zu, indem sie dem Weizen Mehl und Zucker hinzufügen. Semeni wird am Tag vor dem Essen gekocht und für den Morgen des 21. März vorbereitet.
Usbekistan
In Vorbereitung auf den Feiertag räumen die Menschen ihre Häuser und Mahallas (Nachbarschaften) auf und kaufen neue Kleidung. Vor, während und nach Navruz ist es üblich, den Sumalak, das wichtigste zeremonielle Gericht des Feiertages, zuzubereiten. Sumalak ist eine süße Paste, die vollständig aus gekeimtem Weizen hergestellt und in einem großen Kazan gekocht wird. Zur Zubereitung von Sumalak versammeln sich Freunde, Verwandte und Nachbarn – in der Regel Frauen – um den Kasan, die alle abwechselnd die Mischung umrühren. Wenn der Sumalak fertig ist, wird er unter Nachbarn, Verwandten und Freunden verteilt. In Navruz besucht man auch Verwandte und Freunde und macht den Kindern Geschenke.
Verbot von Nouruz
Außer in der Türkei wurde das Nouruz-Fest auch in Syrien über Jahre verboten.
Kalendarische Bedeutung
Mit Nouruz beginnt im Iran und Afghanistan das neue Jahr. Die Zählung des neuen Jahres richtet sich im Iran als Land des indo-iranischen Kulturkreises nach dem Sonnenkalender. Es beginnt mit der Frühlings-Tag-und-Nacht-Gleiche zwischen dem 19. und 21. März und daher zusammen mit dem astrologischen Tierkreiszeichen Widder. Das Neujahrsfest gehört neben dem Herbstfest Mehrgan zu den ältesten traditionellen Festen der zentralasiatischen Region und des indischen Subkontinents.
Das islamische Neujahr ist nicht deckungsgleich mit dem Nouruzfest, da es sich nach dem islamischen Mondkalender mit nur 355 Tagen berechnet. Es wird stets im 12. islamischen Mondmonat nach der großen Pilgerfahrt Haddsch (Id al-Adha, „Kurbanfest“ oder „Opferfest“) als Ende des islamischen Mondjahres gefeiert. Es verschiebt sich jedes Jahr rückwärts um 10 oder 11 Tage innerhalb des Sonnenjahres, so dass 34 Mondjahre 33 Sonnenjahren entsprechen.
Siehe auch
Nairuz
Iranische Mythologie
Iranischer Kalender
Zoroastrismus
Frühling
Neujahr
Ebelzan
Literatur
Wilhelm Eilers: Der alte Name des persischen Neujahrsfestes (= Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften und der Literatur. Geistes- und sozialwissenschaftliche Klasse. Jahrgang 1953, Band 2). Verlag der Wissenschaften und der Literatur in Mainz (in Kommission bei Franz Steiner Verlag, Wiesbaden). Mainz 1953.
Weblinks
Einzelnachweise
Zoroastrismus
Altiranisches Fest
Neujahrsbrauchtum
Frühlingsfest
Feste und Brauchtum (Bahai)
Kultur (Afghanistan)
Feste und Brauchtum (Iran)
Kultur (Kasachstan)
Kultur (Kirgisistan)
Kurdische Kultur
Kultur (Pakistan)
Kultur (Tadschikistan)
Kultur (Turkmenistan)
Kultur (Usbekistan)
Immaterielles Kulturerbe (Aserbaidschan)
Immaterielles Kulturerbe (Türkei)
Gedenk-, Feier- oder Aktionstag im März
Nationales Symbol (Iran)
Persische Phrase
Religion und Zeit
Repräsentatives immaterielles Kulturerbe
Multinationales immaterielles Kulturerbe
Immaterielles Kulturerbe (Indien)
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Q483236
| 99.148725 |
1120313
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https://de.wikipedia.org/wiki/Koordinatenreferenzsystem
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Koordinatenreferenzsystem
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Ein Koordinatenreferenzsystem oder Koordinatenbezugsystem (KBS), engl. coordinate reference system, international mit CRS abgekürzt, ist ein Koordinatensystem, das durch Verknüpfung mit einem Datum auf die reale Welt bezogen ist. Zur Beschreibung der Erde wird das Geodätische Datum oder Vertikale Datum verwendet.
Der Begriff wurde in der Norm ISO 19111 Geographic Information - Spatial referencing by coordinates eingeführt und definiert.
Arten von Koordinatenreferenzsystemen
Folgende Arten von Koordinatenreferenzsystemen werden im Wesentlichen unterschieden:
Geographisches CRS
Das geografische CRS verwendet ein ellipsoidisches Modell der Erde, um auf dessen Oberfläche die Position eines Objekts mit zweidimensionalen Koordinaten (Längen- und Breitengrad) zu beschreiben. Die Lage des künstlichen Ellipsoides bezüglich der realen Erde wird mit einem geodätischen Datum beschrieben.
Wird zusätzlich eine Höhe angegeben, die auf das Ellipsoid bezogen ist, wird das als 3D Geographisches CRS bezeichnet.
Geozentrisches CRS
Das geozentrische CRS geht vom Schwerpunkt der Erde als Nullpunkt aus, und verwendet dreidimensionale Koordinaten, um die Position eines Objektes zu beschreiben.
Geodätisches CRS
Geographische und Geozentrische CRS werden auch als Geodätisches CRS bezeichnet.
Weitere CRS
Projiziert: ist ein geographisches CRS, bei dem die Koordinaten durch eine Kartenprojektion in die Ebene projiziert wurden.
Lokal: ein CRS, das nur in einem lokalen Kontext verwendet wird; etwa für Bautätigkeiten oder zum Bestimmen von Koordinaten relativ zu sich bewegenden Objekten (wie Schiffe oder Flugzeuge).
Kombiniert: CRS bei denen die Lage und die Höhe in unterschiedlichen Bezugssystemen bestimmt wird.
Abgrenzung zu Räumliches Bezugssystem
Die Norm ISO 19112 Spatial referencing by geographic identifiers unterscheidet die Begriffe Koordinatenreferenzsystem und Räumliches Bezugssystem (engl.: spatial reference system - SRS). Im Gegensatz zu Koordinatenreferenzsystemen (CRS), wo Koordinaten die Referenzierung herstellen, verwenden räumliche Bezugssysteme (SRS) dazu geografische oder semantische Kennzeichen. Dies können zum Beispiel postalische Adressen sein oder auch ganz allgemeine Angaben wie „auf dem Alexanderplatz in Berlin“ oder „östlich der Zugspitze“.
EPSG-Code
EPSG-Codes sind ein weit verbreitetes Mittel, um den räumlichen Bezug von Geodaten eindeutig anzugeben. Die 4- bis 5-stelligen Schlüsselnummern beinhalten jeweils eine komplette Beschreibung eines Koordinatenreferenzsystems. Es gibt mehrere hundert solcher Referenzsysteme, und jedes besteht aus einer Liste von 10 bis 20 Parametern. Sie sind in der Liste der EPSG-Codes beschrieben. Durch die kurze Schlüsselnummer können diese komplexen Zusammenhänge in einfacher Form international ausgetauscht werden.
Literatur
Weblinks
Technische Richtlinie zum Bundesgeoreferenzdatengesetz – TR BGeoRG ()
Arbeitsgemeinschaft der Vermessungsverwaltungen der Länder - Geodätische Grundlagen
CRS-EU - Europäische Koordinatenreferenzsysteme (BKG) (engl.)
European Petroleum Survey Group (EPSG) Sammlung von gebräuchlichen Koordinatenreferenzsystemen
Einzelnachweise
Geodäsie
Geoinformatik
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Q161779
| 116.981977 |
77475
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https://de.wikipedia.org/wiki/Titularbischof
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Titularbischof
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Ein Titularbischof ist in der römisch-katholischen Kirche und ebenso in der orthodoxen Kirche ein geweihter Bischof, der im Unterschied zum Diözesanbischof keine eigene Diözese leitet, sondern andere Aufgaben oder Funktionen übernimmt.
Die Bezeichnung Titularbischof rührt daher, dass nach katholischer Tradition jeder Bischof zum Bischof eines Bistums geweiht wird. Ein Titularbischof ist daher Bischof eines historischen, aber untergegangenen Bistums. Can. 376 des Codex Iuris Canonici unterscheidet: „Bischöfe, denen die Sorge für eine Diözese anvertraut ist, werden Diözesanbischöfe genannt, die übrigen Titularbischöfe.“
Funktion
Je nach Aufgabe werden Titularbischöfe (meist Weihbischöfe) und Titularerzbischöfe (meist Apostolische Nuntien oder Kurienbischöfe) unterschieden. Ein Titularbischof hat keine Jurisdiktion über eine Diözese, aber denselben Rang wie ein Diözesanbischof. Er kann an allgemeinen Konzilien der Kirche teilnehmen und ist gewöhnlich auch stimmberechtigtes Mitglied der örtlichen Bischofskonferenz.
Die Ranggleichheit bedeutet keine Gleichheit der Leitungsgewalt in Bezug auf die Vollmacht zu lehren und zu leiten, da ein Weihbischof seinem Diözesanbischof untergeordnet ist. Vor dem Zweiten Vatikanischen Konzil wurde die Stellung des Weihbischofs besonders dadurch verdeutlicht, dass er stets nur einen Gaststatus im Bistum hatte und wie der Bischof einer anderen Diözese behandelt wurde.
Bistümer in partibus
Seit dem 16. Jahrhundert wurden Bistümer in durch Andersgläubige eroberten Gebieten von der Römischen Kurie auch als in partibus infidelium (Abk. i. p. i.), das heißt, „im Gebiet der Ungläubigen“, oder kürzer in partibus (Abk. i. p.) bezeichnet. Erst als im späten 19. Jahrhundert durch die Mission im Orient auch in diesen Gebieten wieder Katholiken lebten, wurde 1882 von Papst Leo XIII. die heute gebräuchlichen Bezeichnung Titularbistum bzw. Episcopus titularis eingeführt; vielfach war der ältere Sprachgebrauch jedoch noch bis weit ins 20. Jahrhundert üblich.
Die römisch-katholische Kirche kennt etwa 2000 Titularbistümer. Sie sind jedoch nicht alle vergeben.
Orthodoxe Kirchen
Auch die orthodoxen Kirchen kennen Titularbischöfe. Der Titel eines Titularbischofs wird aus ökumenischer Rücksicht unter anderem an Bischöfe vergeben, die in der westeuropäischen Diaspora tätig sind; denn die orthodoxen Kirchen weihen im Allgemeinen niemanden zum Bischof einer Stadt, die zur Zeit der Kirchenspaltung katholisch war. In Übersee (vor allem in Nordamerika) werden dagegen heute meist die Namen der tatsächlichen Bischofssitze verwendet, auch wenn es dort bereits römisch-katholische Bischöfe geben sollte. Das Amt des Weihbischofs spielt in den Ostkirchen keine wesentliche Rolle, vor allem da die Firmung dort gewöhnlich von Priestern gespendet werden.
Historische Entwicklung
Im Mittelalter mussten viele Bischöfe aus ihren Diözesen, vor allem Kleinasiens, des Nahen Ostens und Nordafrikas, fliehen, da diese durch die Eroberungszüge der Muslime in die Hände von Andersgläubigen gefallen waren. Die europäischen Bischöfe nahmen diese Exilbischöfe auf und übertrugen ihnen vertretungshalber bischöfliche Funktionen in ihren Diözesen. Die Vorstellung, dass sich aus der Neubesetzung dieser verlorenen Bistümer die Institution des Titularbischofs entwickelt habe, trifft jedoch nicht zu. Die Bistümer erloschen vielmehr in der Regel nach dem Tod des exilierten Amtsinhabers. Allerdings gab es (besonders auf der Iberischen Halbinsel) fortbestehende Bistümer auf verlorenem Territorium als eine Art Anspruchstitel, der anzeigen sollte, dass die Hoffnung auf eine Re-Christianisierung dieser Länder nicht aufgegeben wurde, und die im Zuge der Reconquista tatsächlich ihre Gebiete wiedergewannen.
Im 13. Jahrhundert bestand bei den regulären Diözesanbischöfen der Bedarf nach Stellvertretern, die sie bei bischöflichen Weihehandlungen vertreten konnten. Bischöfe, die ihre Bischofssitze im christianisierten Baltikum wegen der nicht abgeschlossenen Eroberung dieser Gebiete noch nicht einnehmen konnten, wurden daher für Amtshandlungen herangezogen. Eine solche Tätigkeit von Bischöfen außerhalb ihrer Diözesen widersprach zwar der etablierten kirchlichen Rechtsordnung, bildete aber eine Vorform des Amtes der Weihbischöfe. Noch mehr Nachfrage nach Hilfsbischöfen gab es, da viele Diözesanbischöfe ihrer Residenzpflicht nicht nachkamen, weil sie entweder durch Positionen an der päpstlichen Kurie oder als Berater ihrer Monarchen etc. gehindert waren, ihren eigentlichen Aufgaben als Bischof nachzukommen, oder weil sie durch Ämterkumulierung oft mehreren Diözesen gleichzeitig vorstanden. Seit dem Konzil von Vienne 1311/12 führte die römische Kurie daher die Praxis ein, Weihbischöfe zu erheben und nach untergegangenen Bischofssitzen zu benennen, die teils seit Jahrhunderten nicht mehr existiert hatten. Dabei wurden zunächst vorwiegend verlorengegangene Bischofssitze im Bereich der Ostkirche als Titelspender verwendet. Lediglich die im Zuge der Kreuzzüge in den Kreuzfahrerstaaten etablierten katholischen Bistümer, insbesondere Jerusalem, wurden nach dem Verlust dieser Gebiete kontinuierlich weiterbesetzt, diese blieben aber eine Ausnahme. Auch die in der Reformation verlorengegangenen Bistümer erloschen nach einer gewissen Zeit und wurden nicht in Titularbistümer umgewandelt.
Darüber hinaus brachte der Niedergang der Kirchendisziplin im späten Mittelalter, insbesondere in den Zeiten des Großen Abendländischen Schismas, oft auch Personen in den Bischofsrang, welche nie ernstlich daran dachten, die Bischofsweihe zu empfangen, sondern diese Position eher als Grundlage für ihre Karriere betrachteten. In all diesen Fällen war es daher naheliegend, für die Leitung und Verwaltung der Diözese oder auch für die Spendung einiger Sakramente auch Titularbischöfe einzusetzen.
Lagen diese Titularbistümer bis Mitte des 20. Jahrhunderts fast ausschließlich in Nordafrika, Vorderasien oder Südosteuropa, so hat man in den vergangenen Jahrzehnten auch untergegangene Bistümer aus anderen Teilen Europas (insbesondere Italiens und der Iberischen Halbinsel) und Amerikas unter die Titularbistümer aufgenommen.
Durch die Verschärfung der Residenzpflicht für Diözesanbischöfe und die Beschränkung von Ämterkumulationen, die vom Konzil von Trient verfügt wurden, kam es zwar zu einer Reduktion der Zahl von Titularbischöfen. Andererseits führte die Ausweitung der Missionen ab dem 16. Jahrhundert wieder zu einer Vermehrung derselben, da die Funktion der Apostolischen Vikare, die faktisch die Stelle von Missionsbischöfen haben, durch Titularbischöfe besetzt wird. Auch die in Missionsgebieten errichteten Prälaturen wurden von Titularbischöfen geleitet. Ebenso wurde es im Verlauf des 17. und 18. Jahrhunderts üblich, Diözesanbischöfe, die aus Gesundheits- oder anderen Gründen auf ihr Amt verzichteten, an ein Titularbistum zu binden.
Durch diese Umstände erhöhte sich die Zahl von Titularbischöfen, sodass die bisherige Praxis, nur eine begrenzte Zahl der untergegangenen Diözesen als Titularsitze zu verleihen, spätestens ab dem Anfang des 20. Jahrhunderts mehr und mehr aufgegeben wurde und schließlich zur Erstellung einer möglichst umfassenden Liste von Titularbistümern führte, um auf diese Weise genügend Titel für die benötigten Funktionen zu haben. Die starke Ausweitung der Kirchenhierarchie führte dennoch ab ca. 1960 zu zunehmenden Engpässen, insbesondere, da aus ökumenischen Rücksichten eine große Zahl von Titularsitzen, welche auch als Residenzialsitze der orthodoxen Kirchen in Verwendung stehen, nicht mehr vergeben werden sollten. Außerdem führte die Einführung einer Altersgrenze durch Ecclesiae Sanctae für Diözesanbischöfe (das 75. Lebensjahr) zu einer steigenden Zahl von Altbischöfen.
Man schied daher ab 1971 einige Kategorien von Titularbischöfen aus, um so wieder freie Plätze zu schaffen. Zunächst wurden die Altbischöfe gedrängt, auf etwaig schon verliehene Titularsitze zu resignieren, und ihnen der Titel Episcopus emeritus N.(sis) („Altbischof von N.“) verliehen. Einige Jahre später wurden die Prälaten der Territorialprälaturen ebenfalls gleich auf ihren Prälaturtitel geweiht, nicht mehr wie bisher auf einen Titularsitz. Seit 1998 sind die Militärbischöfe – außer in Österreich (siehe unten) – keine Titularbischöfe mehr.
Das derzeit einzige Titularbistum in Deutschland ist das Bistum Chiemsee, in Österreich gibt es mit den Titular-Erzbistümern Tiburnia und Lauriacum sowie den Titularbistümern Wiener Neustadt, Aguntum und Virunum fünf Titularsitze. Das Titularbistum Wiener Neustadt wird traditionell an den Bischof der österreichischen Militärdiözese vergeben.
2018 legte der Berliner Historiker Michael F. Feldkamp seine Forschungen über die Entstehung des Titularbischofs vor. Demnach waren die Titularbistümer erst auf Grundlage der Beschlüsse des Konzils von Vienne 1311/12 und eben nicht infolge der islamischen Eroberungskriege des 7. Jahrhunderts entstanden. Feldkamp widersprach zugleich der im 19. Jahrhundert entstandenen Legende, die untergegangenen Bistümer hätten als Titularbistümer fortgelebt, um einen Anspruch des Heiligen Stuhls aufrecht zu halten. Vielmehr wurden Titularbistümer bzw. -erzbistümer bei Bedarf errichtet und lagen nach Feldkamps Recherchen mit wenigen Ausnahmen in den Territorien, die mit dem Morgenländischen Schisma (1054) orthodox geworden waren.
Besonderheiten
Johannes Dyba wurde während seiner Zeit an der römischen Kurie zum Titularerzbischof von Neapolis in Proconsulari ernannt. Später leitete er als Diözesanbischof das Bistum Fulda. Früher behielt ein Titularerzbischof in solchen Fällen sein Titularerzbistum neben seinem Residentialbistum bei, seit der Mitte des 20. Jahrhunderts wird in solchen Fällen jedoch der Titel „Erzbischof-Bischof von N.“ verliehen.
In Ausnahmefällen (pro hac vice) ist der vergebene Titel Erzbischof nicht mit einem Titularerzbistum (historisch erloschenes Erzbistum) verbunden. Da jeder Bischofstitel ein Titularbistum haben muss, wird der Titel mit einem schon vorhandenen Titularbistum verbunden.
Liste der Titularbistümer
Liste der römisch-katholischen Titularbistümer
Literatur
Günther Dickel: Artikel Titularbischof, in: EKL1 3, Sp. 1450
Michael F. Feldkamp: Warum entstanden aus den im Konfessionellen Zeitalter säkularisierten deutschen Bistümern keine Titularbistümer? Beobachtungen zur Entwicklung des Rechtsinstituts des Titularbischofs. In: Andreas Gottsmann, Pierantonio Piatti, Andreas E. Rehberg (Hrsg.): Incorrupta monumenta ecclesiam defendunt. Studi offerti a mons. Sergio Pagano, prefetto dell’archivio segreto vaticano. Band 1: La Chiesa nella storia. Religione, cultura, costume (= Collectanea Archivi Vaticani. 106). Archivio Segreto Vaticano, Citta del Vaticano 2018, ISBN 978-88-98638-08-6, S. 589–606.
Einzelnachweise
Bischöfliches Amt
Römisch-katholisches Amt
Orthodoxer Titel
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Q948657
| 119.584703 |
35882
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https://de.wikipedia.org/wiki/Polarisation
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Polarisation
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Die Polarisation einer Transversalwelle beschreibt die Richtung ihrer Schwingung. Ändert sich diese Richtung schnell und ungeordnet, spricht man von einer unpolarisierten Welle.
Der Polarisationsgrad gibt den geordneten Anteil an.
Bei in Ausbreitungsrichtung schwingenden Wellen, den Longitudinalwellen, gibt es keine Polarisation im eigentlichen Sinn bzw. man spricht von longitudinaler Polarisation.
Bauelemente, die unpolarisiertes Licht polarisieren oder polarisiertes Licht abhängig von der Art und Richtung der Polarisation aufteilen oder unterdrücken, heißen Polarisatoren.
Im Jahr 1844 konstruierte Eilhard Mitscherlich einen Polarisationsapparat, der etwa zur Zuckerbestimmung im Harn Anwendung fand.
Polarisationsarten
lineare Polarisation: Die Richtung der Schwingung ist konstant. Die Auslenkung aus der Ruhelage (im Fall der mechanischen Welle eine Verschiebung senkrecht zur Ausbreitungsrichtung) ändert periodisch ihren Betrag und ihr Vorzeichen. Die Richtung in Bezug auf eine bestimmte Ebene kann als Winkel angegeben werden (bei seismischen Wellen üblich) oder als Anteil der beiden Komponenten parallel bzw. senkrecht. Für elektromagnetische Wellen siehe das folgende Kapitel.
zirkulare Polarisation: (im 19. Jahrhundert als drehende Polarisation bezeichnet) Der Betrag der Auslenkung ist (abgesehen von Modulation) konstant, ihre Richtung ändert sich innerhalb der senkrecht zum Wellenvektor stehenden Ebene (der xy-Ebene im Bild) mit konstanter Winkelgeschwindigkeit. Für den Drehsinn siehe Helizität. Allerdings wird in der Literatur, besonders der älteren, häufig rechtszirkular polarisiert als Umlauf im Uhrzeigersinn bei Blickrichtung gegen die Ausbreitungsrichtung definiert (entsprechend einer Linksschraube). Abkürzungen: RHCP und LHCP für rechts- oder linkshändige Polarisation (eng. und ).
elliptische Polarisation: Ist die Mischform der beiden oben genannten und bei der die die Auslenkung eine Ellipse beschreibt.
Mathematische Beschreibung
Mathematisch werden die möglichen Polarisationen von Wellen der gleichen Wellenlänge und Frequenz als Elemente eines 2-dimensionalen Vektorraums aufgefasst. Was physikalisch eine Überlagerung von Zuständen ist, dem entspricht auf mathematischer Seite eine Linearkombination von Vektoren. Da beim Überlagern Amplitude () und Phase () beachtet werden müssen, dienen als Skalarfaktoren komplexe Zahlen (): Die Polarisationszustände des Lichts bilden daher einen Vektorraum über dem Körper der komplexen Zahlen. Als Basis (mit der man jeden Vektor darstellen kann) werden einerseits gern die zwei (links- bzw. rechtsdrehenden) zirkular polarisierten Zustände verwendet, anderseits auch zwei beliebige linear polarisierte Zustände mit aufeinander senkrechten Schwingungsebenen. Jede Basis lässt sich durch die andere ausdrücken. So ist ein zirkular polarisierter Zustand eine Überlagerung von zwei linear polarisierten Zuständen mit zueinander senkrechter Schwingungsebene, aber auch ein linear polarisierter Zustand eine Überlagerung der zwei zirkular polarisierten. Die Lage der Schwingungsebene wird dabei durch die Phasendifferenz der zirkular polarisierten Zustände bestimmt. Werden Basiszustände mit unterschiedlicher Amplitude oder ein zirkular mit einem linear polarisierten Zustand überlagert, so erhält man elliptisch polarisiertes Licht.
Photonen sind Bosonen und können Spinkomponenten +1 oder −1 haben, was den beiden Möglichkeiten der zirkularen Polarisation entspricht (die Komponente Null kann nicht vorkommen, da sich das Photon mit Lichtgeschwindigkeit bewegt, siehe Helizität). Die Spinachsen zeigen dabei je nach Helizität in Ausbreitungsrichtung oder dagegen. Lineare Polarisation entsteht durch lineare Überlagerung der beiden zirkular polarisierten Zustände mit gleicher Amplitude, die Photonen haben dann für den Erwartungswert des Drehimpulses den Wert Null.
Bei der Beschreibung von Überlagerungen ist stets das Amplitudenverhältnis und die Phasenlage anzugeben.
Wenn zwei zirkular polarisierte Wellen, eine rechts- und eine linksdrehend, überlagert werden, ergeben sich folgende Polarisationen:
Bei gleichen Intensitäten und variabler Phasendifferenz ist die resultierende Polarisation linear und die Richtung hängt von der Phasenlage der Basispolarisationen ab.
In jedem anderen Fall resultiert elliptische Polarisation.
Wenn zwei linear polarisierte Wellen, deren Polarisationsrichtungen senkrecht aufeinander stehen, überlagert werden, ergeben sich folgende Polarisationen:
Bei verschwindender Phasendifferenz (oder einer Phasendifferenz, die einem Vielfachen von entspricht) und unterschiedlicher oder gleicher Amplitude ist die resultierende Polarisation linear und die Richtung hängt vom Amplitudenverhältnis ab.
Bei einem Phasenunterschied von und gleichen Amplituden ist die Ausgangspolarisation zirkular.
In jedem anderen Fall ist die resultierende Polarisation elliptisch.
Sind auch die absolute Intensität und der Polarisationsgrad von Interesse, so sind insgesamt vier Angaben notwendig, als vierdimensionaler reellwertiger Stokes-Vektor oder als zweidimensionaler komplexwertiger Jones-Vektor. Ist man nur an der Polarisation und nicht an der absoluten Intensität interessiert, wird oft die Poincaré-Kugel zur Darstellung der Polarisationszustände verwendet.
Quasimonochromatisches Licht kann alternativ auch durch die Kohärenzmatrix beschrieben werden. Die Beschreibung der Wirkung eines polarisationsverändernden optischen Elementes erfolgt dann durch Multiplikation mit einer entsprechenden Müller-Matrix beziehungsweise einer Jones-Matrix.
Polarisation elektromagnetischer Wellen
Unpolarisiertes und polarisiertes Licht in der Natur
Die auf der Erde und im Universum überwiegend beobachtete Ausprägung elektromagnetischer Strahlung ist thermische Strahlung und damit zunächst unpolarisiert, das heißt, die Einzelwellen sind in ihren Eigenschaften statistisch verteilt; es handelt sich also um die Überlagerung einer Vielzahl von Einzelwellen mit unterschiedlichster Lage von Schwingungsebene und relativer Phase. Durch Reflexion und/oder Streuung entsteht daraus teilpolarisiertes Licht, bei dem ein Teil der Einzelwellen gleiche Eigenschaften hinsichtlich ihrer Polarisation aufweist und als Polarisationsmuster erscheint.
Schräge Reflexion an Grenzflächen, z. B. an einer Wasseroberfläche, trennt Licht teilweise nach seiner Polarisationsrichtung auf. Der in der Reflexionsebene polarisierte Anteil dringt eher ein, der dazu senkrechte Anteil wird eher reflektiert. Für die quantitative Abhängigkeit vom Einfallswinkel siehe Fresnelsche Formeln.
Das blaue Licht des Himmels ist von Molekülen und statistischen Dichteschwankungen der Luft gestreutes Sonnenlicht. Die Luft wird durch die einfallende Welle in zufällige Richtungen senkrecht zur Einfallsrichtung elektrisch polarisiert. Streulicht in Richtungen dieser Schwingungsebene (Streuwinkel 90°) schwingt in ebendieser Ebene, ist also vollständig polarisiert. Für die Abhängigkeit vom Streuwinkel siehe Rayleighstreuung. Das Himmelslicht ist jedoch durch Vielfachstreuung und Streuung an Partikeln nicht vollständig polarisiert.
Wahrnehmung von polarisiertem Licht
Viele Insekten können linear polarisiertes Licht nach seiner Polarisationsrichtung unterscheiden und nutzen diesen Effekt, um sich zu orientieren. Bei der Honigbiene wurde dies durch Karl von Frisch erforscht.
Auch Fangschreckenkrebse, die Wasserwanze Notonecta glauca, Große Mausohren (Myotis myotis) und Wüstenameisen sind dazu in der Lage, sowie Menschen, allerdings mit sehr geringem Kontrast (Haidinger-Büschel-Phänomen).
Bezeichnungen der Untergruppen der Polarisationsarten
Elektromagnetische Strahlung (Licht, Radiowellen usw.) ist eine Transversalwelle mit jeweils rechten Winkeln zwischen dem Wellenvektor , der in Ausbreitungsrichtung zeigt, und den Vektoren des elektrischen und magnetischen Feldes, bzw. . Es ist willkürlich, ob als Polarisationsrichtung die Schwingungsrichtung des elektrischen oder des magnetischen Feldes gewählt wird. Allerdings bedeuten und für die Welle verschiedene Schwingungsrichtungen. Diese stehen aufeinander senkrecht. Aus der Zeit, als Licht noch als mechanische Schwingung des hypothetischen Äthers erklärt wurde, stammt eine Festlegung für die Bezeichnungen der beiden Polarisationsrichtungen, die sich später als die Schwingungsrichtung des magnetischen Feldvektors herausstellte. Da die meisten Wechselwirkungen elektromagnetischer Strahlung mit Materie allerdings elektrischer Natur sind, wird die Polarisationsrichtung heute meist auf den elektrischen Feldvektor bezogen.
Wenn die Welle gebrochen, reflektiert oder gestreut wird, ist die Bezugsebene für die Bezeichnungen parallel und senkrecht jene Ebene, in der die ein- und die auslaufende Welle liegen.
Neben parallel und senkrecht polarisierten Wellen werden unter anderem bei der Beschreibung der Reflexion weitere Bezeichnungen genutzt. So spricht man von TM-polarisiertem Licht, wenn die Richtung des magnetischen Feldes senkrecht zu der durch Einfallsvektor und Flächennormale aufgespannten Ebene („Einfallsebene“) liegt (TM = transversal magnetisch; man spricht hierbei auch von parallel-, p- oder π-polarisiertem Licht, da das bei isotropen Materialien zum Magnetfeld senkrechte elektrische Feld in der Einfallsebene liegt), und von TE-polarisiertem Licht, wenn das elektrische Feld senkrecht auf der Einfallsebene steht (TE = transversal elektrisch; man spricht hierbei auch von senkrecht-, s- oder σ-polarisiertem Licht). In Richtung des Brewster-Winkels wird TM-polarisiertes Licht verstärkt in das Medium gebrochen anstatt reflektiert, das heißt, auch für unpolarisiertes einfallendes Licht ist das beim Brewster-Winkel ausfallende Licht immer TE-polarisiert. Beide Begriffe sind nur im Zusammenhang mit der reflektierenden Fläche definiert.
Bei zirkular oder elliptisch polarisiertem Licht unterscheidet man hinsichtlich der Drehrichtung des E- oder H-Vektors im Bezug auf die Ausbreitungsrichtung. Man spricht hier von links- oder rechtsdrehendem polarisiertem Licht (für die Bezeichnungskonventionen siehe oben).
In der Laserspektroskopie wird die zirkuläre Polarisation anstelle von rechts und links in („Sigma-Plus“) und („Sigma-Minus“) aufgeteilt, die bei atomaren Übergängen zwischen Energieniveaus eine Änderung der magnetischen Quantenzahl von +1 bzw. −1 bewirkt. Linear polarisiertes Licht ( beim atomaren Übergang) wird als -polarisiertes Licht bezeichnet. Vorteil dieser Angabe ist die Unabhängigkeit vom Koordinatensystem (rechts und links); stattdessen bezieht sich die Angabe auf die gewählte Quantisierungsachse des Atoms.
Funkwellen
Funkwellen für den Rundfunk sind horizontal oder vertikal polarisiert, wobei stets der elektrische Feldvektor ausschlaggebend ist. Vertikale Polarisation und Rundstrahlcharakteristik ohne Auslöschungen ist mit einer einzelnen vertikalen Stab- oder Mastantenne (Viertelwellendipol) zu erzielen. Beispiele sind Lang- und Mittelwellensender sowie mobile Anwendungen (Seefahrt, Luftfahrt, Polizei und Militär).
Punkt-zu-Punkt-Datenverbindungen und auch die Satellitenkommunikation verwenden oft Zirkularpolarisation, wobei der Drehsinn von Sendeantenne und Empfangsantenne übereinstimmen muss. Zirkularpolarisation ist nicht anfällig gegenüber polarisationsdrehenden Störungen beim Durchgang durch die Ionosphäre und spart eine Ausrichtungskoordinate bei an Raumfahrzeugen installierten Richtantennen.
Waagerechte lineare Polarisation wird im VHF- und UHF-Bereich genutzt und ist weniger anfällig gegen Reflexionen an (meist senkrechten) Metallmasten und damit verbundenem Mehrwegeempfang (Geisterbilder beim analogen Fernsehrundfunk). Weitverbindungen auf Kurzwelle erzielen hingegen mit waagerechter Polarisation eine bessere Reflexion an der Ionosphäre.
Weblinks
Polarisation bei atomaren Übergängen
Satelliten-Polarisation (PDF; 1,4 MB)
Einzelnachweise
Elektrodynamik
Wellenlehre
Wellenoptik
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Q193760
| 132.618887 |
44570
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https://de.wikipedia.org/wiki/Guam
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Guam
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Guam [] (in der Lokalsprache Chamorro Guåhan geschrieben) ist die größte und südlichste Insel des Marianen-Archipels im westpazifischen Ozean. Sie ist ein nichtinkorporiertes Territorium der Vereinigten Staaten (siehe Außengebiet der Vereinigten Staaten). Die Hauptstadt ist Hagåtña, bevölkerungsreichste Siedlung ist Dededo.
Bekannt geworden ist die Insel durch die dort befindliche strategisch wichtige Andersen Air Force Base, einen Luftwaffenstützpunkt der United States Air Force, sowie das ungewöhnliche Aussterben fast der gesamten einheimischen Vogelwelt durch die vermutlich während des Zweiten Weltkrieges bei Truppen- und Materialtransporten als Neozoon eingeschleppte Braune Nachtbaumnatter (Boiga irregularis).
Geographie
Guam gehört geographisch zu der Inselregion Mikronesien und besteht aus einem flachen, korallinen Kalkplateau auf vulkanischem Untergrund (auch gleichzeitig die Quelle des meisten Süßwassers) mit steil aufragenden Küstenklippen und einer schmalen Küstenebene im Norden, einer flach gewellten Hügellandschaft in der Inselmitte und Bergen im Süden. Die Insel liegt in einer erdbebengefährdeten Zone. In vergangenen Jahren erreichten Erdbeben, deren Epizentren nahe Guam lagen, Stärken von 7,0 bis 8,2.
Die Insel liegt 6298 km westlich von Hawaii, 2058 km östlich der Philippinen (Insel Mindanao) und 2386 km südlich von Japan (Insel Honshū).
Guam ist ungefähr 48 km lang und 18,5 km breit. Die Länge der Küstenlinie beträgt 149 km. Der höchste Punkt der Insel ist der Mount Lamlam (406 m).
Klima
Das Klima auf Guam ist typisch tropisch, es ist generell warm und feucht. Die Trockenzeit dauert in der Regel von Januar bis Juli an, die Regenzeit von Juli bis Dezember. In dieser Zeit kann es auch zu zerstörerischen Taifunen kommen, was jedoch selten ist. In den vergangenen Jahren ist diese Trennung zwischen Trocken- und Regenzeit aber immer schwächer geworden, inzwischen muss man zu jeder Jahreszeit mit heftigem Regen rechnen.
Die jährliche Durchschnittstemperatur des Wassers beträgt 27 °C.
Flora und Fauna
Flora und Fauna der Insel Guam sind heute stark von den Auswirkungen des Eindringens nichteinheimischer Arten geprägt. Besonders ist hierbei das Auftreten und die massenhafte Vermehrung der Braunen Nachtbaumnatter zu nennen, die unter anderem zum beinahe vollständigen Aussterben der Vogelwelt Guams, darunter zwölf endemischer Vogelarten, führte. Die Guamkrähe (Corvus kubaryi) gilt gemäß IUCN-Klassifikation als vom Aussterben bedroht. Das einzige verbliebene einheimische Säugetier ist der Marianen-Flughund (Pteropus mariannus mariannus), während der Guam-Flughund (Pteropus tokudae) vermutlich ausgestorben ist und der Glattnasen-Freischwanz der Art Emballonura semicaudata auf Guam ebenfalls nicht mehr vorkommt, allerdings noch auf anderen Pazifikinseln anzutreffen ist. Aufgrund der dezimierten Vogelwelt ist die Dichte der Gesamtspinnenpopulation Guams 40-mal höher als auf benachbarten Inseln, da die Prädatoren fehlen. Bei vielen Pflanzenarten sind zudem Bestäuber bzw. Vögel zur Samenverbreitung weggefallen.
Bevölkerung
Herkunft
Etwa 37,1 % der Einwohner Guams gehören den Chamorro an, 26,3 % der Bevölkerung sind Filipinos (zum Großteil Malaien), 11,3 % stammen von anderen pazifischen Inseln, 6,9 % sind europäisch, 6,3 % sind koreanischer, chinesischer oder japanischer Herkunft, 2,3 % haben eine andere Herkunft.
Im Jahre 2017 waren 47,5 % der Bevölkerung nicht auf Guam geboren.
Sprache
38,3 % der Bevölkerung sprechen Englisch, das Amts- und Verkehrssprache ist. Daneben sprechen 22,2 % Chamorro, 22,2 % philippinische Sprachen, 7 % eine andere asiatische Sprache, 6,8 % sprechen eine Sprache von anderen Pazifikinseln und 3,5 % eine andere Sprache.
Altersstruktur
29,4 % der Bevölkerung sind unter 15 Jahre alt (davon männlich: 25.645 / weiblich: 23.887),
64,1 % der Bevölkerung sind 15–64 Jahre alt (davon männlich: 55.115 / weiblich: 52.935),
6,5 % der Bevölkerung sind 65 Jahre alt oder älter (davon männlich: 5157 / weiblich: 5825).
Die Lebenserwartung betrug 2016 im Durchschnitt 79,1 Jahre (Männer: 76,1 Jahre, Frauen: 84,2 Jahre).
Religion
85 % der Bevölkerung bekennen sich zum katholischen Glauben, die Hauptstadt ist zugleich Sitz des Erzbistums Agaña. 15 % bekennen sich zu anderen oder keinen Religionen.
Geschichte
Frühgeschichte
Guam und die anderen Inseln der Marianen wurden DNA-Analysen alter Skelette zufolge vor etwa 3500 Jahren von Siedlern von den Philippinen erstmals besiedelt. Eine andere Theorie besagt, dass die Besiedlung der Insel aus dem südöstlichen Indonesien erfolgte. Als Quellen für die Zeit vor den Europäern gelten die Legenden und Mythen der Chamorros, archäologische Grabungen, Aufzeichnungen von Jesuiten und Forschungen von Wissenschaftlern wie Otto von Kotzebue und Louis de Freycinet.
Spanische Herrschaft
Am 6. März 1521 steuerte Ferdinand Magellan den Marianen-Archipel an, den er nach einigen Missverständnissen mit den Einheimischen „Las Islas de los Ladrones“ (Die Inseln der Diebe) nannte. Fünf Jahre später machte auch das Flaggschiff der glücklosen Loaisa-Expedition Halt auf Guam. Dabei traf die Mannschaft zu ihrer Überraschung auf einen Spanier, Gonzalo de Vigo. Vigo war bei Magellans Weltumsegelung desertiert. 1565 wurde Guam von Miguel López de Legazpi für Spanien beansprucht. 1668 erreichten Jesuiten die Insel, verbreiteten den christlichen (katholischen) Glauben und änderten den Namen des Archipels in Marianen, nach Marianne von Österreich, der Witwe von Spaniens König Philipp IV.
In Spanisch-Ostindien war Guam ein bedeutender Stützpunkt, der vor allem von den Manila-Galeonen als Zwischenstation auf ihrer langen Reise über den Pazifik genutzt wurde. Diese Schiffe brachten meist einmal im Jahr fernöstliche Waren von den Philippinen nach Mexiko, weniger häufig auch an die südamerikanische Pazifikküste nach Lima.
Eroberung durch die USA und Zweiter Weltkrieg
Im Spanisch-Amerikanischen Krieg wurde Guam am 21. Juni 1898 ohne Blutvergießen von US-Truppen erobert. Mit dem 1899 ratifizierten Pariser Frieden kam die Insel endgültig unter US-amerikanische Verwaltung.
Trotz zunehmender Spannungen zwischen Japan und den USA im Jahr 1941 wurde Guam von den amerikanischen Streitkräften nicht befestigt. Die Insel erhielt die niedrigste Prioritätsstufe in puncto Verteidigung, obwohl mehrere Unterseekabel über Guam liefen, darunter auch jenes, das die US-Westküste und die Philippinen verband.
Am 8. Dezember 1941, kurz nach dem Angriff auf Pearl Harbor, wurde Guam von den Japanern angegriffen. Die Invasionsflotte bestand aus vier Schweren Kreuzern, vier Zerstörern, zwei Kanonenbooten, sechs U-Jagd-Booten und zwei Minensuchern und erhielt zudem Luftunterstützung vom naheliegenden Saipan. In der ersten Schlacht um Guam sahen sich 547 US-Soldaten, darunter Marines, andere Militärangehörige und Polizisten einer japanischen Übermacht von 5900 japanischen Soldaten gegenüber, die von der Invasionsflotte angelandet wurden. Die Insel blieb bis zum Juli 1944 unter der Herrschaft der Japaner. Die Zeit der Besatzung war eine harte Erfahrung für die Bevölkerung, da die japanische Armee ein brutales Besatzungsregime führte.
Die japanische Besatzungsmacht versuchte durch ein neues Schulsystem, die Bewohner Guams zu japanifizieren.
Mit der Landung amerikanischer Truppen am 21. Juli 1944 begann die zweite Schlacht um Guam, die am 10. August mit dem Sieg der US-Streitkräfte endete, nachdem die japanischen Verteidiger fast drei Wochen lang erbitterten Widerstand geleistet hatten. Ihr Kommandeur Hideyoshi Obata beging rituellen Selbstmord (Seppuku). Einzelne japanische Soldaten, die sich der Gefangennahme entziehen konnten, verübten noch nach der Rückeroberung der Insel durch die Amerikaner verschiedentlich Anschläge aus dem Hinterhalt. Berühmt wurde der Fall des japanischen Unteroffiziers Shōichi Yokoi, der erst am 24. Januar 1972 entdeckt wurde: Er hatte sich nach Ende des Zweiten Weltkriegs fast 28 Jahre lang auf der Insel versteckt gehalten. Noch während der Kampfhandlungen begann, wie vorher schon in Saipan und Tinian, der Ausbau Guams zu einem riesigen Militärstützpunkt. Aber erst im letzten Kriegsmonat griffen B-29 Bomber auch von Guam aus Japan an.
Nach dem Zweiten Weltkrieg
Seit 1946 steht das Territorium auf der UN-Liste der Hoheitsgebiete ohne Selbstregierung. 1949 unterschrieb Harry S. Truman den Organic Act, ein Gesetz, das Guam zu einem externen Territorium der USA mit innerer Autonomie machte, das es bis heute geblieben ist.
Ab 1962 baute die United States Navy den Hafen Apra zu einem Marinestützpunkt für die Atom-U-Boote aus, die mit strategischen Mittelstreckenraketen vom Typ UGM-27 Polaris ausgerüstet sind (SSBN).
1996 führten die USA eine verdeckte Evakuierung durch. Vom 15. September bis 16. Dezember wurden im Rahmen der Operation Pacific Haven / Quick Transit 6.500 Kurden aus dem Irak über Guam in die USA ausgeflogen.
Flugunfälle
Am 6. August 1997 wurde eine Boeing 747-300 der Korean Airlines auf dem Korean-Air-Flug 801 von Seoul nach Agana (Guam) bei heftigem Regen gegen einen Hügel 5 km vor dem Flughafen Hagåtña geflogen. Das Flugzeug brach auseinander und ging in Flammen auf. Von den 254 Menschen an Bord (231 Passagiere und 23 Besatzungsmitglieder) überlebten 26 den Absturz. Ursache war eine Kombination aus Pilotenfehler, unzureichendem Kartenmaterial und einem ausgefallenen Radar des Flughafens. Heute steht an der Absturzstelle ein Denkmal.
Am 23. Februar 2008 stürzte ein B-2-Tarnkappenbomber unmittelbar nach dem Start auf der Andersen Air Force Base ab. Es war der erste Absturz einer Maschine dieses Typs, der als das mit Abstand teuerste Flugzeug der Welt gilt. Beide Piloten konnten sich mit dem Schleudersitz retten, erlitten aber Verletzungen. Als Ursache des Absturzes wurde ein falsch kalibrierter Geschwindigkeitsmesser ermittelt.
Am 21. Juli 2008 stürzte eine unbewaffnete B-52H der US-Luftwaffe (20th Expeditionary Bomb Squadron) an der Ostküste der Pazifikinsel Guam ab. Die Maschine hätte zum 64. Jahrestag der Befreiung der Insel von japanischer Besatzung über eine feiernde Menschenmenge fliegen sollen. Alle sechs Besatzungsmitglieder kamen beim Absturz ums Leben.
Am 19. Mai 2016 stürzte ein US-Bomber des Typs B-52 auf dem Stützpunkt Andersen Air Force Base der amerikanischen Luftwaffe ab. Alle sieben Menschen an Bord blieben unverletzt.
Politik
Die Verbindungen zu den USA werden in der Bevölkerung weitgehend positiv bewertet, auch sind die Militärstützpunkte für die Wirtschaft von Guam wichtig. Unter den Einwohnern ist die US-amerikanische Kultur weit verbreitet.
Die Insel besitzt für die USA eine große strategische Bedeutung. Rund ein Drittel der Insel wird von Einrichtungen der Navy und der Air Force eingenommen. Man befürchtet hohe Arbeitslosigkeit, wenn – wie geplant – vier Marineeinrichtungen geschlossen werden.
Exekutive
Staatsoberhaupt ist der jeweils amtierende US-Präsident, Gouverneurin ist die Demokratin Lou Leon Guerrero, die am 6. November 2018 gewählt wurde und am 17. Januar 2019 ihr Amt antrat.
Legislative
Guam hat ein Einkammerparlament mit 15 Sitzen, die Mitglieder werden für die Dauer von vier Jahren gewählt. Bei der Wahl am 2. November 2010 erhielten die Demokraten neun Sitze, die Republikaner sechs Sitze.
Judikative
Es gibt das US District Court of Guam, das den Federal District Courts und Bankruptcy Courts entsprechende Zuständigkeit hat. Sein Richter wird vom US-Präsidenten ernannt. Zudem gibt es ein Territorial Superior Court, dessen Richter zunächst vom Gouverneur ernannt und nach acht Jahren dann vom Volk gewählt werden. Es gibt zusätzlich spezifische Gerichte, etwa ein Nachlass-, Verkehrs- und Jugendgericht.
Parteien
Auf Guam gibt es eine ähnliche Parteienlandschaft wie in den USA, es gibt eine Demokratische Partei und eine Republikanische Partei.
Status
Guam ist ein externes Territorium der USA mit innerer Autonomie. Die Einwohner sind zwar US-Bürger, dürfen aber nicht an der Wahl zum Präsidenten teilnehmen. Guam schickt einen nicht stimmberechtigten Delegierten ins US-Repräsentantenhaus. Derzeitiger Delegierter ist Michael San Nicolas von den Demokraten.
Städtepartnerschaften
Guam unterhält mit folgenden Städten Partnerschaften:
Manila, Philippinen
Seoul, Südkorea
Quezon City, Philippinen
Riga, Lettland
Vilnius, Litauen
Majuro, Marshallinseln
Taipei, Republik China (Taiwan)
Verwaltungsgliederung
Guam wird in 19 Gemeinden (englisch: Villages) gegliedert.
Infrastruktur
Von den 885 km öffentlich zugänglichen Straßen sind 675 km asphaltiert. Weitere 685 km Straße, die als nicht öffentlich klassifiziert sind, befinden sich zum Teil auf Militärstützpunkten und Regierungseinrichtungen. Es gibt keinen Schienenverkehr.
Flughafen Guams ist der Flughafen Antonio B. Won Pat, der als Drehkreuz für United Airlines dient. Es gibt Flüge nach Japan, Hawaii, Hong Kong, auf die Philippinen, in die Volksrepublik China, Republik China (Taiwan) und Republik Korea (Südkorea).
Da Guam kein Bundesstaat der USA ist, übernimmt die Insel den Zoll- und Quarantänedienst selbst und ist für dessen Durchführung verantwortlich. Die Grenzschutzbehörde United States Customs and Border Protection überwacht lediglich die Einhaltung der Einreisebestimmungen.
Der größte Teil der Insel verfügt über moderne Mobilfunkverbindungen und über Hochgeschwindigkeitsinternetverbindungen über Kabel oder DSL. Guam ist seit 1997 an den nordamerikanischen Nummerierungsplan (NANP) angeschlossen, die Telefonvorwahl ist 671. Dadurch wurden die Gespräche in die kontinentalen USA erleichtert und günstiger, da sie nicht mehr als internationale Fernverbindungen galten. Guam ist auch ein großer Knotenpunkt für interkontinentale Seekabel: Zwölf Kabel verbinden die Weststaaten der USA, Hawaii, Australien und Asien miteinander, von denen die meisten nach China verlaufen.
Seit 1899 wird Guam vom US Postal Service bedient. Die Staatspost behandelt Guam, obgleich kein Bundesstaat der USA, als inländisch in Bezug auf die Tarife. Privatunternehmen wie FedEx, UPS oder DHL hingegen haben keinerlei Verpflichtung, Guam als Teil der 50 Bundesstaaten zu betrachten und verlangen daher Auslandstarife.
Die Schnelligkeit des Transports zwischen den Festlands-USA und Guam hängt vom Gewicht und von der Größe der Briefe und Pakete ab, aber auch von der Jahreszeit: Während leichtere Sendungen mit höherer Priorität für gewöhnlich weniger als eine Woche vom Festland nach Guam benötigen, kann der Transport größerer Sendungen zwischen ein und zwei Wochen benötigen. Weniger dringliche Sendungen wie Magazine werden nicht per Flugzeug, sondern mit dem Schiff via Hawaii von den Kontinental-USA nach Guam gebracht.
Der Hafen von Guam, Apra Harbor, ist die Lebensader der Insel: Die meisten Güter werden über ihn importiert. Zugleich dient er als Durchgangshafen für andere Inseln Mikronesiens mit einer Einwohnerzahl von mehr als 500.000 Menschen. Der Hafen dient ebenso als Versorgungsstation für die Militäreinrichtungen Guams.
Militär
Die Streitkräfte der Vereinigten Staaten verfügen über mehrere Basen, die sich auf insgesamt 16.000 Hektar erstrecken. Dies entspricht etwa 29 % der Gesamtfläche der Insel. Die einzelnen Stützpunkte sind:
Naval Base Guam, United States Navy in Sumay
United States Coast Guard, Sektor Guam, in Sumay
Andersen Air Force Base, United States Air Force in Yigo
Apra Harbor auf der Orote-Halbinsel
Ordnance Annex, United States Navy in den South Central Highlands (zuvor Naval Magazine genannt, mit gleicher Funktion als Arsenal)
Computer- und Telekommunikationsbasis der United States Navy in Barrigada und Finegayan
Gemeinsames Kommando der Guam National Guard in Barrigada und Fort Juan Muna
Neben den Militäreinrichtungen auf der Insel selbst sollen Guam und die restlichen Marianen den westlichsten Trainingsraum für die US-Streitkräfte bilden. Guam ist in der Pazifikregion einer der wichtigsten Stützpunkte für die Navy und die Air Force.
Die US-Streitkräfte hatten vor 2010 geplant, einen Teil der auf der japanischen Insel Okinawa stationierten Marines (8600 Soldaten plus 9000 Angehörige) nach Guam zu verlegen und zugleich eine neue Anlegestelle für Flugzeugträger zu errichten. Zusammen mit den dafür notwendigen Bauarbeitern hätte dies eine (zumindest in Bezug auf die Bauarbeiter temporäre) Zunahme der Inselbevölkerung um 45 % bedeutet. Die Umweltschutzbehörde United States Environmental Protection Agency sprach sich im Februar 2010 öffentlich gegen die Pläne aus, weil sie negative Auswirkungen auf die Wasserversorgung, Müllprobleme und Auswirkungen auf die vorgelagerten Korallenriffe befürchtete. 2012 wurden die Pläne geändert und eine maximale Erhöhung der Zahl der Marines um 4800 beschlossen. Zwei Drittel davon sollen auf Rotationsbasis auf Guam stationiert werden, und zwar ohne die Angehörigen.
Durch die Verlegung der Marines von Okinawa nach Guam und die Vergrößerung der Militärbasen werden die Militäreinrichtungen in den kommenden Jahren rund 40 % der Landfläche Guams einnehmen. Im Januar 2011 wurde bekannt, dass sich der Umzug der Marines auf Grund von Budgetkürzungen verzögern und möglicherweise erst 2020 abgeschlossen werden wird.
Die Einwohner Guams und die Militärangehörigen sind auf vielfältige Weise miteinander verbunden. Bei vielen Einwohnern handelt es sich um pensionierte Militärangehörige. Von den US-Soldaten leben viele außerhalb der Militärbereiche in den Ortschaften der Insel. Außerdem sind manche der Militärangehörigen in sozialen Projekten auf der Insel involviert.
Wirtschaft
Die Einrichtungen der Marine und der Luftwaffe sind der wichtigste Arbeitgeber. 40 % der Arbeitnehmer arbeiten im Dienstleistungssektor, 26 % der Arbeitnehmer arbeiten im öffentlichen Dienst, 24 % arbeiten im Handel, 10 % in der Industrie.
15 % der Inselbewohner sind arbeitslos, 23 % der Bevölkerung leben unter der Armutsgrenze.
Daneben ist der Tourismus sehr bedeutend (nur Hawaii ist ein noch populäreres Ziel im Pazifik), vor allem für Japaner, für die ein Flug von Japan weitaus kürzer ist als nach Hawaii. Wegen der unberührten Korallenriffe und der zahlreichen pazifischen Großfische sowie der warmen Wassertemperaturen und guter Sichtweiten ist Guam ein beliebtes Ziel für Taucher und Schnorchler. Die Insel wird überwiegend von Besuchern aus Ostasien besucht, wobei Japaner deutlich vor Südkoreanern liegen. Von den 1,27 Millionen Besuchern im Jahr 2012 stammten alleine 901.000 aus Japan, 165.000 aus Südkorea. Damit machen Japaner und Südkoreaner 72,7 und 13,3 % der Besucher aus, zusammen also 86 %. Demgegenüber fallen Besucher aus den Vereinigten Staaten mit 4,1 und aus Taiwan mit 4,0 % deutlich ab.
Offizielle Landeswährung ist der US-Dollar (US$). Das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf betrug 2013 kaufkraftbereinigt ca. 30.500 US-Dollar.
Guam verfügt über eine eigene Universität, die University of Guam.
Kultur
Medien
Die Radiostation KPRG sendet aus Hagåtña auf UKW 89,3 MHz. Seit 1977 verbreitet Trans World Radio von Guam aus christliche Programme.
Nationalfeiertag
Nationalfeiertag ist jeweils immer der erste Montag im März (Discovery Day).
Sport
Guam verfügt über ein eigenes Nationales Olympisches Komitee und nahm seit 1988 an allen Olympischen Sommerspielen teil; 1988 schickte man außerdem einen Biathleten zu den Olympischen Winterspielen. Kein Athlet gewann bislang eine Olympiamedaille. Derzeitiger NOK-Präsident ist der ehemalige Judoka Ricardo Blas senior.
Die guamische Fußballnationalmannschaft ist FIFA- und AFC-Mitglied. 2002 nahm Guam zum ersten Mal an der Qualifikation zur Fußballweltmeisterschaft teil, wo man zwei Spiele mit 0 Toren bei 35 Gegentoren absolvierte.
Den ersten Erfolg in einem Länderspiel errang Guam am 11. Juni 2015, als man in einem Spiel zur Qualifikation für die Fußball-Weltmeisterschaft 2018 Turkmenistan mit 1:0 bezwang.
Siehe auch
National Register of Historic Places in Guam
Weblinks
Offizielle Website von Guam
Guam Allgemein (englisch)
Detaillierte, nicht über den Geohack erreichbare Karte
Einzelnachweise
Insel (Guam)
Insel (Australien und Ozeanien)
Insel (Pazifischer Ozean)
Insel der Marianen
Insel (Mikronesien)
Abhängiges Gebiet (Vereinigte Staaten)
US-amerikanische Kolonialgeschichte
Tauchtourismus
Hoheitsgebiet ohne Selbstregierung
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Q16635
| 1,530.974384 |
12424
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https://de.wikipedia.org/wiki/Thermometer
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Thermometer
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Ein Thermometer ( und ) ist ein Messgerät zur Bestimmung der Temperatur.
Viele Thermometer basieren auf der Temperaturabhängigkeit der Ausdehnung von Flüssigkeiten, Gasen oder Festkörpern, deren Ausdehnungskoeffizient bekannt ist. Dazu muss die Messstelle des Thermometers die Temperatur des Messgegenstands annehmen. Neben diesem mechanischen Messeffekt werden verschiedene von der Temperatur abhängige elektrische Einflüsse genutzt, z. B. der Einflusseffekt der Temperatur auf den elektrischen Widerstand.
Pyrometer hingegen messen ohne Berührung des Messgegenstands anhand seiner für die Temperatur charakteristischen ausgesendeten Temperaturstrahlung.
Jedes Thermometer besteht aus einem Temperatur-Sensor (in dem der Messeffekt auftritt) und einer Anzeige (z. B. anhand einer Skale) oder einer Anschlussstelle für ein elektrisches Signal.
Thermometer werden anhand von festen Temperaturpunkten, wie den Tripel- oder Schmelzpunkten bestimmter Materialien, oder anhand eines geeichten Referenzthermometers justiert.
Geschichte
Die Entwicklung des Thermometers lässt sich nicht der Erfindung einer einzelnen Person zuordnen. Vielmehr waren zahlreiche wissenschaftliche Erkenntnisse notwendig, die zu unserem heutigen Temperaturbegriff führten und die Einführung einer Temperaturskala sowie deren technische Umsetzung ermöglichten.
Die Empfindungen „heiß“ und „kalt“ sind unmittelbar mit dem Tastsinn verbunden, der aber kaum eine zuverlässige Bestimmung verschiedener Wärmegrade zulässt. Die griechische Philosophie behandelte das Gegensatzpaar heiß–kalt in ihren Betrachtungen, machte aber keinen Versuch einer zahlenmäßigen Beschreibung. Der griechische Arzt Galen führte im zweiten Jahrhundert acht „Grade der Hitze und Kälte“ ein: Jeweils vier Grade über und unter einem neutralen Mittelpunkt, der einer Mischung gleicher Mengen von Eiswasser und kochendem Wasser entsprechen sollte.
Bereits in der Antike war die durch Temperaturänderungen bewirkte thermische Ausdehnung von Luft dazu verwendet worden, verschiedene Mechanismen in Bewegung zu setzen, so etwa durch Philon von Byzanz oder Heron von Alexandria. Aber erst im frühen 17. Jahrhundert wurde dieses Prinzip in einem Vorläufer des Thermometers, dem Thermoskop, zur Bestimmung von Temperaturen benutzt. Es handelte sich um eine Glaskugel mit einem angesetzten langen dünnen Glasrohr, dessen untere Öffnung in Wasser tauchte. Die durch Temperaturänderungen verursachten Volumenänderungen der eingeschlossenen Luft ließen die Wassersäule im Rohr steigen oder fallen. Das Thermoskop hatte zumindest anfänglich noch keine Skala, die Länge der Wassersäule wurde mit einem Zirkel abgegriffen.
Giovanni Francesco Sagredo beschrieb ab 1612 in Briefen an Galileo Galilei, wie er solche Instrumente, deren Erfindung er Galilei zuschrieb, in verschiedenen Formen herstellte. Er beobachtete damit die Temperatur der kalten Winterluft, führte Buch über eine sommerliche Hitzewelle und verglich die Temperaturen verschieden großer Seen. Der Arzt Santorio Santorio aus Padua, der mit Galileo in Kontakt war, nutzte dessen wissenschaftliche Erkenntnisse medizinisch und verwendete sowohl Thermoskope zur Temperaturmessung, als auch Pendel zum Pulsmessen. Santorio benutzte Schnee und eine Kerzenflamme als zwei Referenzpunkte zur Eichung des Thermoskops.
Alle bis dahin verwendeten Thermoskope nutzten nicht die thermische Ausdehnung der Flüssigkeit, sondern die der Luft. Sie glichen im Grunde einem Barometer und waren daher insbesondere auch vom Luftdruck abhängig, wie spätestens 1643/44 durch Evangelista Torricelli bekannt war. Ferdinando II. de’ Medici, Großherzog von Toscana, ließ 1654 das erste Thermometer herstellen, das die Ausdehnung von Alkohol in einem geschlossenen Glasrohr ausnutzte. Réaumur entwickelte 1730 ein Alkohol-Thermometer und die nach ihm benannte Temperaturskala.
Ab etwa 1714 ersetzte Daniel Gabriel Fahrenheit in Amsterdam den Alkohol durch Quecksilber und erfand das Quecksilberthermometer. 1724 schlug Daniel Gabriel Fahrenheit die nach ihm benannte Temperaturskala vor, die den kältesten Punkt einer Kältemischung als 0 °F, den Schmelzpunkt von Wasser als 32 °F und die Körpertemperatur des Menschen als 96 °F definierte. Anders Celsius legte seine Skala 1742 anhand von Schmelz- und Siedepunkt von Wasser fest, allerdings andersherum als die heute nach ihm benannte Skala.
Anton de Haen verwendete in seinen Krankengeschichte die Temperaturmessung. Auch James Currie verwertete in seinen 1797 veröffentlichten Medical reports on the effect of water cold and warm as a remedy in fever and other diseases die Temperatur für therapeutische Zwecke.
1859 formulierte Gustav Robert Kirchhoff das nach ihm benannte Strahlungsgesetz, das den Grundstein für auf Temperaturstrahlung basierende Thermometer legte.
Arten von Thermometern
Berührungsthermometer
Berührungsthermometer erfordern einen Wärmekontakt zum Messobjekt. Messabweichungen treten hier vor allem aufgrund unzureichenden Wärmekontaktes zum Messobjekt oder bei zu großer Wärmeableitung durch das Thermometer auf.
Ausdehnungsthermometer (Flüssigkeitsthermometer (also auch früher übliche Quecksilber-Fieberthermometer), Bimetallthermometer)
Dampfdruckthermometer (Zusammenhang zwischen Dampfdruck einer Flüssigkeit und der absoluten Temperatur – Clausius-Clapeyron-Gleichung)
Thermoelemente (NiCr/Ni, PtRh/Pt, Fe/CuNi usw.) in Verbindung mit anzeigenden Messgeräten oder Messverstärkern
Widerstandsthermometer mit Platin (Pt100) und Thermistoren/Heißleitern in Verbindung mit anzeigenden Messgeräten oder elektronischen Schaltungen
Temperatursensoren, insbesondere integrierte Schaltkreise mit Temperaturausgabe
Folienthermometer, Temperaturmessstreifen, Klebepads mit irreversiblem Farbwechsel oder Flüssigkristall-Thermometer (z. B. Weinflaschenthermometer) beruhen auf den thermochromen Eigenschaften von Flüssigkristallen.
Gasthermometer (Auswertung einer Druckmessung)
Im weiteren Sinne zählen auch Maximalwert-Indikatoren oder auch Segerkegel zu den Thermometern.
Heizungs-Thermostatventile und Thermostatmischbatterien mit Dehnstoffelementen sind hingegen keine Thermometer, sondern Regler.
Berührungslos messende Thermometer
Berührungslos messende Thermometer (Pyrometer) nutzen die Eigenschaft, dass Objekte aufgrund ihrer Eigentemperatur eine elektromagnetische Temperaturstrahlung aussenden. Bei unter 500 °C (bis zum Einsetzen von Rotglut) liegt sie im Bereich der Infrarotstrahlung. Zur berührungslosen Temperaturmessung in diesem Bereich sind demnach Infrarotsensoren erforderlich.
Pyrometer wurden in der Vergangenheit in folgende Kategorien unterteilt:
Niedertemperaturpyrometer (etwa −20…200 °C), Messwellenlänge um 5 µm…15 µm
Hochtemperaturpyrometer (400…3000 °C), Messwellenlängen 1 µm…1,5 µm
Eine weitere Unterteilung kann anhand der Bandbreite der ausgewerteten Strahlung getroffen werden:
Gesamtstrahlungspyrometer messen einen Großteil der emittierten Wellenlängen (z. B. mittels eines Bolometers)
Bandstrahlungs- und Schmalbandpyrometer messen einen engen Wellenlängenbereich und haben meist einen Fotoempfänger als Strahlungssensor
Quotientenpyrometer messen bei zwei Wellenlängen und können den Einfluss des Emissionsgrades auf den Messfehler verringern ohne ihn zu kennen
Später wurden die Strahlungsthermometer auch nach den Messwellenlängen unterteilt:
Langwellig messende Pyrometer (−50…1600 °C), Messwellenlänge: 3,43 µm…14 µm
Kurzwellig messende Pyrometer (50…3000 °C), Messwellenlänge: 0,8 µm…2,7 µm
Ein Beispiel für ein langwellig messendes Thermometer ist das Infrarot-Fieberthermometer.
Auch Thermografie-Kameras sind zusammen mit einer bilddarstellenden Software als Thermometer geeignet. Sie liefert zweidimensionale Temperaturprofile (Thermobilder), die im Maschinenbau, der Automatisierung, im F&E-Bereich, in der Medizin, der Sicherheits-/Überwachungstechnik und im Bauwesen verwendet werden. Die oft verwendete Falschfarbendarstellung ordnet jeder Farbe eine Temperatur zu. Im Bild ist dazu häufig ein Farbkeil mit einer Temperaturskala eingeblendet.
Sonstige
Ein auf Schwerkraft und temperaturabhängiger Dichte einer Flüssigkeit basierendes Thermometer, das Galileo-Thermometer, wurde nicht von Galileo Galilei erfunden, sondern nur nach ihm benannt.
Ramanthermometer, basierend auf der Ramanspektroskopie (siehe auch Faseroptische Temperaturmessung), benutzen einen frequenzstabilen Messstrahl und werten dessen Rückstreuung aus. Sie können ortsaufgelöst entlang einer Dimension messen.
Kalibrierung
Für die Kalibrierung von Thermometern gibt es die Temperaturskala ITS-90. Anhand dieses Standards kalibriert die Physikalisch-Technische Bundesanstalt (bzw. der Deutsche Kalibrierdienst) Platin-Thermometer, die dann als Referenz für Hersteller hergenommen werden. Dabei werden die folgenden Temperaturpunkte verwendet:
Die Kalibrierung der Referenzthermometer findet in sogenannten Fixpunktzellen statt. Das sind Dewargefäße, in denen zum einen ein Temperaturfixpunkt realisiert wird, indem zum Beispiel Indium zu seinem Schmelzpunkt erhitzt wird. Der (oben genannte) Erstarrungspunkt stellt sich dann während des Erstarrungsvorgangs ein. Eine Röhre ermöglicht, den Sensor des Referenzthermometers in die Fixpunktzelle einzuführen.
Messabweichung bei Berührungsthermometern
Statische Abweichung
Eine Messabweichung eines Thermometers wird verursacht
einerseits durch die begrenzte Ablesbarkeit:
Der Flüssigkeitsstand in einem herkömmlichen Flüssigkeitsthermometer kann kaum genauer als auf ein Millimeter ablesen werden
Bei einem digitalen Thermometer ist die Genauigkeit auf einen Ziffernschritt begrenzt. Entsprechendes gilt für elektrische Messgeräte
andererseits durch die begrenzte Justierbarkeit: Der Hersteller kann nur innerhalb gewisser Grenzabweichungen die Übereinstimmung mit dem richtigen Wert garantieren. Für Flüssigkeitsthermometer sollen sie in einem zugehörigen Datenblatt angegeben sein. Für industriell eingesetzte Thermoelemente und Platin-Widerstandsthermometer gibt es genormte Festlegungen in verschiedenen Genauigkeitsklassen
durch sonstige, weitere Komponenten der Messunsicherheit.
Bei Flüssigkeits-Glasthermometern tritt eine weitere Fehlerquelle auf: Nicht nur die thermometrische Flüssigkeit, sondern auch die Kapillare dehnt sich mit steigender Temperatur aus. Beide müssen dieselbe Temperatur angenommen haben wie die Messstelle. Wird das Thermometer unter anderen Bedingungen betrieben als bei seiner Justierung, ist eine Fadenkorrektur erforderlich. Weiter ist bei Flüssigkeitsglasthermometern der häufig auftretende Parallaxenfehler zu vermeiden. Auch ist darauf zu achten, ob sich die Flüssigkeit bei der Lagerung evtl. in der Kapillare verteilt hat und erst wieder durch Klopfen oder Schleudern zu einem Faden verbunden werden muss.
Dynamische Abweichung
Bei allen Temperaturänderungen folgt der Messwert der tatsächlichen Temperatur mit Verzögerung, weil zur Temperaturangleichung Wärme transportiert werden muss. Für den thermischen Kontakt des Thermometers mit dem Messobjekt sind zu berücksichtigen,
ob es für einen Laborversuch eingesetzt werden soll, oder ob es in einen Produktionsprozess vor korrosiven, aggressiven und abrasiven Medien geschützt werden muss
ob eine Gas- oder Flüssigkeits-Temperatur gemessen werden soll
mit welcher Geschwindigkeit das Messgut das Thermometer umströmt
sein Durchmesser (⌀).
Kennzeichnend für das Zeitverhalten sind Übergangszeiten, in denen der Messwert einer sprunghaften Temperaturänderung folgt, und zwar zu 50 % und zu 90 %. Die nebenstehende Tabelle gibt auszugsweise Erfahrungswerte an aus VDI/VDE 3511, Blatt 2 (Berührungsthermometer).
Siehe auch
Deutsches Thermometermuseum Geraberg
Minimum-Maximum-Thermometer
Literatur
VDI/VDE-Richtlinie 3511 Technische Temperaturmessungen, Blatt 1 bis 5
Weblinks
Fachbereich Temperatur, Physikalisch-Technische Bundesanstalt
Einzelnachweise
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Q646
| 525.509282 |
3788
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https://de.wikipedia.org/wiki/Onkologie
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Onkologie
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Die Onkologie (von onkos ‚Anschwellung, Geschwulst‘, und -logie - Lehre, selten auch Karzinologie von altgriechisch καρκίνος karkínos, „Krebs“, veraltet Cancerologie) oder Lehre von den Geschwulstkrankheiten ist eine medizinische Wissenschaft, die sich insbesondere mit der Erkrankung Krebs befasst. Sie widmet sich vor allem der Prävention, Diagnostik, Therapie und Nachsorge von malignen (bösartigen) Tumoren.
Die Onkologie ist von der interdisziplinären Zusammenarbeit medizinischer Fachrichtungen geprägt. Folgende Fachrichtungen können beispielhaft, etwa im Rahmen eines Tumorboards, beteiligt sein: alle chirurgischen Fachdisziplinen, Internistische Onkologie, Strahlentherapie, Nuklearmedizin, Pathologie, Pharmakologie, Psychoonkologie, Interventionelle Radiologie, Diagnostische Radiologische Endoskopie, Interventionelle Endoskopie.
Geschichte
Bereits in der Antike beschäftigten sich Ärzte mit Tumoren. So wird ein Abschnitt im Papyrus Edwin Smith (ca. 2500 v. Chr.) zitiert, der einen Brusttumor beschreibt. Bekannt sind auch die lakonischen Beschreibungen im Corpus Hippocraticum über „versteckte Krebse“ (karkinoi kryptoi) in der Brust und anderen Körperteilen. Diese „Schwellungen“ galten als unheilbar, auch wenn es Versuche gab, sie durch operative Eingriffe zu entfernen (Archigenes, 2. Jahrhundert). Auch während des Mittelalters konnten die überkommenen pathogenetischen Vorstellungen nicht zu einer erfolgreichen Therapie führen. Erst lange nach Beginn der Aufklärung konnten Forscher wie Henry François Le Dran (1685–1770) in Körpern Verstorbener die wesentlichen Entwicklungsschritte (wenn auch noch nicht die Ursache) von Krebserkrankungen nachvollziehen. Chirurgen wie John Hunter (1728–1793) erkannten, dass solide Tumoren vor ihrer tödlichen Ausbreitung noch eine gewisse Zeit lang örtlich begrenzt und damit heilbar sind.
Chirurgie war im 19. und frühen 20. Jahrhundert die erste Disziplin, die eine stadiengerechte, individuell angepasste Vorgehensweise gegenüber Krebserkrankungen entwickelte; dazu in die Lage versetzt durch Entwicklungen der Asepsis und der Anästhesie, verbunden mit Namen wie William Stewart Halsted, Theodor Billroth, Sampson Handley, und vielen weiteren. Eine wesentliche Aufgabe der Chirurgen war damals, und ist es noch heute, die örtlich begrenzten, operablen Tumoren auszuwählen und nutzlose Eingriffe zu vermeiden. War der Krebs einmal metastasiert, musste man sich auf palliative Behandlungen beschränken. Arbeiten wie die von Stephen Paget brachten subtilere Kenntnisse über die zu erwartende Ausbreitung. Entdeckte man sie dennoch erst während der Operation, so musste man diese unverrichteter Dinge beenden. Bis heute gibt es noch solche diagnostischen Eingriffe, etwa in der Bauchhöhle (explorative Laparotomie), allerdings werden sie mit der Verbesserung der radiologischen Bildgebung immer seltener.
Da zu Beginn nur operierte Patienten überhaupt eine Heilungschance hatten, kam es noch bis in das 20. Jahrhundert zu heroischen, nach heutigem Maßstab unmenschlichen Eingriffen, etwa Halsteds „radikale Mastektomie“, bei der auch Brustmuskeln und Rippenteile entfernt wurden. Sie wurden erst verlassen, als die Strahlentherapie und später die Chemotherapie als weitere „Säulen“ der Krebsbehandlung neben der Chirurgie errichtet wurden.
Als erster Strahlentherapeut der Welt gilt der Wiener Leopold Freund, der 1897 zu veröffentlichen begann und 1908 eine Übersicht seiner Erfahrung mit Röntgenstrahlen gegen Karzinome publizierte. Den physikalischen Entdeckungen auf Schritt und Tritt folgend verbreitete sich zuerst die Behandlung mit Strahlung aus Röntgenröhren (die nur geringe Tiefen erreichte), dann mit natürlichen radioaktiven Proben meist aus dem von den Curies entdeckten Radium, dann mit künstlichen Radionukliden wie I-131, und zuletzt mit hochenergetischer Photonen- und Teilchenstrahlung aus Beschleunigern. Zunächst arbeiteten Radiologen mit allen diesen Verfahren. 1976 machte die zunehmende Differenzierung es notwendig, neue Facharztbezeichnungen für Strahlentherapie und Nuklearmedizin in der Weiterbildungsordnung einzuführen, die in größeren Krankenhäusern nun gemeinsam die onkologischen Konferenzen besetzen müssen. Etwa jeder zweite Krebspatient wird heute auch, oder nur, mit Strahlentherapie behandelt.
Die Chemotherapie begann während des Zweiten Weltkriegs, als im Labor der Yale School of Medicine 1942 zufällig die Wirkung von Senfgas gegen Lymphome, eine Krebserkrankung der blutbildenden Zellen, entdeckt wurde. Nach Kriegsende wurde daraus das erste an Patienten angewendete Zytostatikum Stickstofflost weiterentwickelt. Etwa zur gleichen Zeit gelangen Sidney Farber in Boston die ersten Erfolge gegen Leukämie bei Kindern, mit einem Vorläufer des noch heute eingesetzten Methotrexat. Solche „diffusen“ Krebserkrankungen des Blutes und Knochenmarks waren viel besser durch die Chemotherapie erreichbar als die „soliden“ Tumoren (Brustkrebs, Lungenkrebs etc.), und einige davon sind heute sogar heilbar, sodass die herkömmliche Doktrin, jeder Tumor müsse örtlich radikal behandelt werden, nicht länger haltbar blieb. Die Chemotherapie ist heute die Methode der Wahl gegen Leukämien und Lymphome. Und auch bei soliden Tumoren zielt die in Kooperation der genannten Fachgebiete entwickelte Strategie heute darauf ab, die örtliche Begrenzung der Erkrankung, falls sie nicht mehr gegeben ist, durch Chemotherapie wiederherzustellen, und damit der örtlichen Strahlenbehandlung und Operation wieder einen Zugang zu geben. Die moderne Chemotherapie verwendet „herkömmliche“ Substanzen (Zytostatika), und eine schnell wachsende Zahl von sogenannten Biologicals, also Substanzen, die in die Signalwege der Krebszellen gezielt eingreifen. Die Komplexität dieses Gebietes erforderte 2009 eine eigene Schwerpunktbezeichnung, den Arzt für Hämatologie und Internistische Onkologie.
Risikofaktoren für Krebserkrankungen
Tabak Tabak-Exposition ist die häufigste Ursache für Krebs. Rauchtabak ist stark mit einem erhöhten Risiko für Krebserkrankungen von Lunge, Larynx, Mund, Speiseröhre, Hals, Gehirn, Blase, Niere, Leber, Magen, Pankreas, Kolon, Rektum und Zervix sowie für akute myeloische Leukämie verbunden, rauchloser Tabak (Schnupftabak oder Kautabak) mit einem erhöhten Risiko für Mundkrebs, Speiseröhrenkrebs und Bauchspeicheldrüsenkrebs.
Alkohol Alkoholkonsum erhöht das Risiko für Mund-, Rachen-, Speiseröhren-, Kehlkopf-, Leber- und Brustkrebs. Das Krebsrisiko ist viel höher für diejenigen, die Alkohol trinken und auch Tabak konsumieren.
Adipositas Adipöse Personen haben ein erhöhtes Risiko für Brust-, Dickdarm-, Mastdarm-, Endometrium-, Speiseröhren-, Nieren-, Bauchspeicheldrüsen- und Gallenblasen-Krebs.
Alter Fortgeschrittenes Alter ist ein Risikofaktor für viele Krebsarten. Das Durchschnittsalter der Krebsdiagnose beträgt 66 Jahre.
Krebsverursachende Substanzen Krebs wird durch Veränderungen bestimmter Gene verursacht, die die Funktionsweise unserer Zellen verändern. Einige von ihnen sind das Ergebnis von Umweltexpositionen, die DNA-Schäden verursachen. Diese Expositionen können Substanzen wie die Chemikalien im Tabakrauch oder Strahlung wie Ultraviolettstrahlung von der Sonne und andere Karzinogene umfassen.
Infektionserreger Bestimmte Infektionserreger, einschließlich Onkoviren, Bakterien und Parasiten, können Krebs verursachen.
Immunsuppression Die Immunantwort des Körpers spielt eine Rolle bei der Abwehr von Krebs. Bestimmte Krebsarten treten bei Menschen mit Immunsuppression häufiger auf.
Prävention
Unter Krebsprävention fallen Maßnahmen oder Verhaltensregeln, die die Entstehung von Krebserkrankungen verhindern oder zumindest die Wahrscheinlichkeit für eine solche Erkrankung herabsetzen sollen. Von zentraler Bedeutung ist es, Risikofaktoren zu erkennen. Wird ein Risikofaktor erkannt, versucht man diesen zu reduzieren. Beispiele sind Expositionsverhinderung durch TRK-Werte für krebsauslösende Substanzen oder Verhaltensinterventionen bei Raucherentwöhnung. Anhand von Risikofaktoren können auch besonders gefährdete Personengruppen identifiziert und Screening-Untersuchungen zugeführt werden. Ziel ist hier, malignes Zellwachstum zu erkennen und zu behandeln, möglichst bevor eine Krebserkrankung ausbricht oder sich ausbreitet (Früherkennung).
Diagnostik
Aufgabe der onkologischen Diagnostik ist es, Tumorerkrankungen so früh wie möglich zu erkennen und dann deren Ausbreitung im Körper genau zu beschreiben.
Die Krebsfrüherkennung ist noch keine Aufgabe der spezialisierten Onkologen; vielmehr sind daran alle Arztgruppen, insbesondere Haus- und Frauenärzte und Urologen beteiligt. Krebserkrankungen werden damit nicht verhindert, aber generell sind Tumoren in frühen Stadien viel erfolgversprechender und auch schonender zu behandeln. Da Krebs bei älteren Menschen häufiger auftritt, sind sie stärker zu solchen Untersuchungen aufgerufen. Es haben sich für die wichtigsten Krebsarten feste Untersuchungsrhythmen und -methoden herausgebildet, beispielsweise die Inspektion der Haut alle zwei Jahre, oder die Darmspiegelung alle 10 Jahre. Auch die Patienten selbst können beitragen, etwa mit der Brustselbstuntersuchung. Sogenannte "Tumormarker" im Blut sind zu unspezifisch, um die Vorsorge sinnvoll zu unterstützen; es gibt zu viele falsche Alarme. Nur das PSA hat in der Praxis Bedeutung erlangt. Auch bildgebende Verfahren wie Ultraschall, Computertomographie, oder Kernspintomographie eignen sich wenig zur Prävention in der gesunden Allgemeinbevölkerung. Der Einsatz von Röntgenstrahlen bei Vorsorgeuntersuchungen ist in den Ländern der Europäischen Union sogar verboten, mit Ausnahme des organisierten Brustkrebsscreenings.
Wurde eine Krebserkrankung entdeckt, dann muss ihre Ausbreitung genau festgestellt werden, bevor über die beste Therapie beraten werden kann. Die Erkrankungsfälle werden in Stadien mit ähnlicher Therapie und Prognose eingeordnet. Die Leitlinien enthalten genaue Vorgaben für diese Stadienbestimmung (). Sie basieren auf Anamnese und körperlicher Untersuchung, Blutuntersuchungen, und fast immer auf Schnittbildverfahren wie Computer- und Kernspintomographie sowie der (allerdings teuren) PET. Jede Tumorart bevorzugt bestimmte Ausbreitungswege, etwa bestimmte Lymphknoten, Leber oder Skelett, die gezielt abgesucht werden. Blutmesswerte sind etwa bei Leukämien oder dem multiplen Myelom wesentlich.
Der Allgemeinzustand des Patienten ist eines der wichtigsten Kriterien für die Behandlungswahl; er wird nach standardisierten Skalen dokumentiert. Gleichzeitig muss der Tumor biopsiert und vom Pathologen histologisch (feingeweblich) beurteilt werden: von welchem Ursprungsgewebe stammt er? Wie stark ist seine Entartung, wie hoch seine Teilungsrate (Wachstumstendenz)? Auf welche Medikamente würde er voraussichtlich ansprechen? Zahlreiche Spezialfärbungen der Molekularpathologie sind hier mindestens gleichrangig neben die klassische Betrachtung der Präparate unter dem Mikroskop getreten, und die Befunde aus der Pathologie gehen weit über das herkömmliche Grading hinaus.
Alle diese Informationen müssen möglichst schnell gesammelt und aufbereitet werden. Meist übernehmen in dieser Phase die Fachärzte der "passenden" onkologischen Ausrichtung (beispielsweise Chirurgie beim Lungenkrebs) die Organisation und Patientenführung vom Hausarzt. In den Industrieländern gibt es überall spezialisierte Tumorzentren, die an den größeren Krankenhäusern angesiedelt sind und besonderen Qualitätsrichtlinien folgen. Dazu gehört, dass jeder neue Fall in einer standardisierten Beratung (Tumorboard) unter Klinikern, Radiologen und Pathologen besprochen und der Konsens dokumentiert wird.
Klassifikation
Neu diagnostizierte Tumoren werden in standardisierte Klassifikationen eingeordnet. Besonders umfassend ist die International Classification of Diseases for Oncology, eine Erweiterung der ICD-10 für die Onkologie, die jeden Tumor nach zwei Achsen klassifiziert: ein Code aus Buchstaben und Ziffern kennzeichnet den Ort (z. B. C50.3 L = „unterer innerer Quadrant der linken Brust“), und ein Zifferncode beschreibt die Gewebeart (z. B. 8230/2 = „solides duktales Carcinoma in situ“). Dazu kommen Angaben über die Ausbreitung, meist nach dem sogenannten TNM-Schema, die für jede Tumorart individuell definiert ist (beispielsweise beim Brustkrebs pT1a pN1 M0 L0 = „operativ gesicherte Tumorgröße unter 6 mm, 1-3 befallene Lymphknoten, keine Fernmetastasen, kein Lymphgefäßeinbruch“). Die sogenannte Tumorformel ist prominent in den Protokollen der Tumorboards und allen onkologischen Arztbriefen enthalten. Man kann die Patientin damit in Gruppen mit abnehmender Heilungswahrscheinlichkeit stratifizieren und eine standardisierte Aussage zur Operabilität machen. Oft wird auch nach den UICC-Stadien klassifiziert, die zur Unterscheidung mit römischen Ziffern bezeichnet sind, sonst aber ähnlich aufgebaut sind. Für viele Tumorarten, etwa Lymphome und Melanome, gibt es eigene Systeme. Die Therapieleitlinien stützen sich stark auf solche Klassifikationen.
Therapie
Behandlungsmethoden der Onkologie sind unter anderem:
Chirurgische Tumorentfernung
Strahlentherapie, in der das Tumorgewebe mit ionisierender Strahlung behandelt wird
Chemotherapie mit Zytostatika
Medikamentöse Therapie mit relativ neuen Wirkstoffen wie monoklonalen Antikörpern (Krebsimmuntherapie) oder Tyrosinkinase-Inhibitoren.
Die Therapien der Onkologie zielen entweder auf die Entfernung oder Zerstörung des gesamten Tumorgewebes (kurative Therapie) oder, wenn dies nicht mehr möglich ist, auf die Verkleinerung des Tumorgewebes mit dem Ziel, die Lebenszeit der Patienten zu verlängern und ihre tumorbedingten Beschwerden zu reduzieren (Palliation).
Für verschiedene Geschwulstarten haben sich spezielle Therapieschemata etabliert, die in großen internationalen Untersuchungen laufend optimiert werden (Therapieoptimierungsstudien). Ausgehend vom festgestellten Stadium werden mit dem Patienten mögliche Therapieoptionen erörtert. Hierbei spielen der körperliche Allgemeinzustand und die Begleiterkrankungen eine wesentliche Rolle. Die nach aktuellem Stand der Wissenschaft erfolgversprechende Therapieform wird dem Patienten vorgeschlagen. Möglichkeiten sind die einmalige oder mehrmalige Chemotherapie und/oder Bestrahlung und/oder eine Operation zur Entfernung des Tumorgewebes. Verschiedene Chemotherapeutika können kombiniert werden.
Weitere mögliche Therapiebestandteile mit Onkologiebezug:
Psychoonkologie zur Mitbehandlung psychischer Komplikationen onkologischer Erkrankungen
Patientenkompetenz zur Stärkung der mentalen und emotionalen Verfassung von Krebspatienten
Chronoonkologie zur Verbesserung der Effizienz der Tumorbehandlung bei gleichzeitiger Verringerung unerwünschter Nebenwirkungen
Tumorchirurgie
Tumorchirurgie ist kein eigenes Fachgebiet, sondern Bestandteil der Facharztweiterbildungen aller operativen Gebiete, vor allem der Kopf-Hals-Chirurgie, Thoraxchirurgie, Bauchchirurgie, sowie der urologischen und gynäkologischen Chirurgie. Obwohl die Herangehensweisen in all diesen Körperregionen unterschiedlich sind, gibt es einige gemeinsame Prinzipien. In fast allen Fällen muss die klinische und radiologische Diagnose zuerst durch eine Gewebeprobe gesichert werden. Oft (etwa in der weiblichen Brustdrüse) genügt dazu eine Stanzbiopsie in örtlicher Betäubung, manchmal (etwa aus der Lunge) muss das fragliche Gewebe in einer Operation gewonnen werden. Dazu gibt es herkömmliche (offene), und endoskopische Eingriffe. In einigen Gebieten, vor allem bei Gehirnoperationen, etablieren sich bildgestützte Navigationsverfahren, und viele Operationen der Prostata werden in Deutschland heute robotergestützt durchgeführt.
Wird ein aggressiver Tumor (z. B. ein Sarkom) vermutet, dann muss die Biopsie so geplant werden, dass der Zugangsweg gegebenenfalls später mitentfernt werden kann; es sollte beispielsweise an Extremitäten nicht durch mehrere Muskellogen hindurch biopsiert werden. Die eigentliche Tumorentfernung (Resektion) richtet sich ebenfalls nach onkologischen Erkenntnissen, d. h. es wird nicht nur mit bloßem Auge sichtbares Tumorgewebe entfernt, sondern auch der vermutete nächste Ausbreitungsweg, z. B. aus der Lunge das komplette befallene Segment, oder mit einem Enddarmtumor auch das ganze umliegende Fettgewebe bis zur mesorektalen Faszie. Inoperabilität kann bestehen, weil wichtige Nachbarstrukturen bereits infiltriert sind (vor allem große Blutgefäße), oder weil der Patient in zu schlechtem Allgemeinzustand ist („internistische Inoperabilität“). Manchmal kann in diesen Fällen noch ein begrenzter Eingriff zur Palliation (Symptomlinderung) wirken, etwa um die Blutung eines Speiseröhrentumors zu stoppen, oder den Hirndruck bei einem fortgeschrittenen Glioblastom zu mindern. Dabei ist sorgfältig abzuwägen, ob der Eingriff dem Patienten nicht mehr schaden als nützen würde. Als Alternative gibt es oft weniger invasive palliative Methoden, etwa Hochfrequenzablation von Leberherden, oder Embolisation von blutenden Arterien. Bei der Operation zurückgelassenes Tumorgewebe kann mit einer Strahlentherapie oder Radiochemotherapie nachbehandelt werden.
Strahlentherapie
Die Strahlentherapie von Krebserkrankungen (Radioonkologie) kann kurativ (heilend), adjuvant bzw. additiv (zusätzlich zur Operation), oder palliativ eingesetzt werden. Nach dem Ziel richtet sich die Dosis. Beispielsweise sollte ein in kurativer Absicht bestrahlter Speiseröhrentumor mindestens 60 Gray erhalten; nach der Operation eines Darmtumors werden auf dessen vorherige Region 50 Gy angewendet, und für die palliative Behandlung von Gehirnmetastasen sind ungefähr 36 Gy üblich - immer die konventionelle Aufteilung auf 2 Gy täglich, 5 Termine pro Woche vorausgesetzt. Diese weitverbreitete Aufteilung ist relativ schonend. Andere Fraktionierungen sind möglich, um die Gesamtbehandlungszeit zu verkürzen oder die Wirkung zu erhöhen. Es gibt Bestrahlungen aus der Ferne (mit Linearbeschleunigern) und aus der Nähe (mit aufgelegten oder in den Körper eingeführten radioaktiven Quellen). Moderne Linearbeschleuniger können intensitätsmoduliert arbeiten und besitzen eingebaute Röntgenröhren oder CT zur täglichen Lagekontrolle. Viele Therapien vor allem bei jüngeren Patienten werden zur besseren Wirkung mit Chemotherapie kombiniert. Dafür gibt es definierte Schemata, bei denen beispielsweise während einer 6-wöchigen Strahlentherapie die Chemotherapie in der 1. und 5. Woche zugegeben wird. Nach Operationen sollte die Wundheilung abgewartet werden. Prinzipiell ist es aber sinnvoll, die Strahlentherapie, die mehrere Wochen dauert, so früh wie möglich einzuleiten.
Die Wirkung der Strahlentherapie ist bei einigen Tumoren ähnlich gut wie die der Operation (Speiseröhre, Prostata), bei anderen wird sie unterstützend oder für inoperable Patienten eingesetzt. Das Tumorgewebe spielt eine große Rolle. Lymphome sind zum Beispiel sehr strahlenempfindlich, Sarkome eher wenig. Strahlenempfindliche Körpergewebe wie die Lunge, die Nieren, das Rückenmark müssen peinlich geschont werden. Es gibt nur ein kleines therapeutisches Fenster zwischen der Dosis, die zur Zerstörung von Tumorgewebe notwendig ist, und der maximalen Dosis, die gesundes Körpergewebe ertragen kann. Die Dosisverteilung wird deshalb zu Beginn und oft auch später wiederholt auf Schnittbildern des Patienten individuell berechnet und simuliert. Dazu ist die verantwortliche Mitwirkung von fachkundigen Medizinphysikexperten erforderlich. Die konkrete Bedienung der Geräte obliegt medizinisch-technischen Radiologieassistenten. Diese Berufsgruppen müssen eng zusammenarbeiten. Die Patienten müssen millimetergenau positioniert werden. Eine standardisierte Qualitätssicherung des gesamten Ablaufes ist unabdingbar.
Typische Nebenwirkungen sind örtliche schmerzhafte Hautrötungen, Müdigkeit, und vorübergehende Entzündungen von Schleimhäuten innerhalb des Bestrahlungsgebietes. Schwerwiegende Nebenwirkungen treten bei <5 % auf. Strahlentherapeutische Patienten müssen über längere Zeit nachverfolgt werden, weil solche Nebenwirkungen auch nach Monaten und Jahren auftreten können. Gefürchtete Spätfolgen sind etwa Darmverschlüsse, chronische Harnblasenentzündungen, oder bei Bestrahlung im Brustbereich Herzinfarkte.
Chemotherapie
Klassische Chemotherapeutika sind Zytostatika, also Substanzen, die das Wachstum von Tumorzellen hemmen oder sie möglichst selektiv abtöten. Sie gelangen mit dem Blutstrom in den Tumor, weswegen sie gegen schlecht durchblutete große Tumoren wenig wirken. Zudem erreichen sie in der Regel nur maximal 4–5 Zehnerpotenzen Zellreduktion. Es ist daher oft sinnvoll, große Tumormassen vor der Chemotherapie operativ zu entfernen (debulking). Oft werden die Zytostatika in festen Kombinationen angewendet, etwa die seit Jahrzehnten bewährte CHOP-Therapie gegen Lymphome. Die meisten der etwa 50 verschiedenen Substanzen greifen in die DNA-Synthese ein (Alkylantien, Antimetabolite und weitere) oder stören wie die Mitosegifte die Zellteilung. Es gibt Stoffe in Tablettenform; die meisten werden aber intravenös gespritzt. Ihre Wirkung ist nicht auf Tumorzellen beschränkt, nutzt nur deren höhere Teilungsrate (Wachstumsfraktion). Alle Zytostatika sind deshalb mehr oder weniger toxisch, vor allem auf empfindliche Organe wie das Knochenmark, Keimdrüsen, und der Magen-Darm-Trakt. Oft müssen die Patienten für ihre Chemotherapie ins Krankenhaus, fast immer sind Begleittherapien gegen Übelkeit erforderlich, und schwerkranke Patienten tolerieren nicht immer die volle empfohlene Dosis. Besser verträglich sind antihormonelle Mittel, die gegen hormonabhängige Tumorarten wie Prostatakrebs zumindest verlangsamend wirken.
Beginnend mit Trastuzumab (EU-Zulassung im Jahr 2000) haben sich neue Wirkstoffe etabliert, die in die Signalwege der Zellen eingreifen und deren Teilung verhindern, sie zum Absterben veranlassen, oder gezielt Angriffe der Immunabwehr auf sie richten. Da Krebszellen durch Mutationen zahlreiche Störungen dieser Signalwege aufweisen, ist dieser Ansatz sehr spezifisch und die Nebenwirkungen auf gesunde Gewebe sind leichter. Derzeit (2021) handelt es sich bei diesen neuen Krebsmedikamenten entweder um speziell entwickelte Antikörper, oder um small molecules (engl. für "kleine Moleküle"). Mehr als 60 sind bereits zur Anwendung am Menschen zugelassen, jedes Jahr kommen 10–20 neue dazu. Die Medikamente werden gentechnisch hergestellt und im englischen Schrifttum oft als Biologicals zusammengefasst. Gegen manche Krebsarten wie das Melanom wirken sie besser als herkömmliche Zytostatika; bei anderen (Brust- und Lungenkrebs, Lymphome) haben sie bis jetzt nur unterstützende Bedeutung. Häufigste Nebenwirkung sind Allergien und Ekzeme.
Durch die neuen Medikamentengruppen sind die individuellen Therapieentscheidungen kompliziert geworden. Aktuelle Literatur greift über die nur alle paar Jahre erneuerten Lehrbücher hinaus. Die Änderungsfrequenz der Leitlinien nimmt zu. Molekularbiologische Eigenarten des individuellen Tumors müssen subtil geprüft und berücksichtigt werden. Durch DNA-Sequenzierung von Onkogenen, bei der beispielsweise BRAF-Mutationen beim Melanom, Ras-Mutationen beim Kolorektalen Karzinom, EGFR- und BRAF-Mutationen beim Nicht-Kleinzelligen-Lungenkarzinom identifiziert werden, ändert sich die Wahl der optimalen Therapie. In Deutschland können sich Fachärzte für Innere Medizin oder Allgemeinmedizin gemäß der Musterweiterbildungsordnung über sechs Jahre weiterbilden, um die Schwerpunktbezeichnung „Hämatologie und Internistische Onkologie“ zu erlangen. Chemotherapien werden aber auch von anderen onkologisch tätigen Ärzten (Chirurgen, Strahlentherapeuten) eingesetzt. Alle Anwender sind verpflichtet, sich beständig weiterzubilden.
Rehabilitation und Nachsorge
Schon während der Akutbehandlung, aber vor allem in der späteren Erholungsphase profitieren die Patienten von unterstützenden Maßnahmen wie Schmerztherapie, Beratung durch fachkundige Sozialarbeiter, Ergotherapie, Physiotherapie, und Psychotherapie. Dies ist eine wichtige Aufgabe von spezialisierten Rehabilitationskliniken. Rehabilitative Maßnahmen stehen Arbeitnehmern und Rentnern offen und können auch nach palliativen Behandlungen unheilbarer Tumoren sinnvoll sein. Außer den Krankenversicherungen tragen in Deutschland auch Rentenversicherungen die Kosten solcher Maßnahmen, vor allem in der Form von 3-wöchigen Anschlussheilbehandlungen (AHB). Diese AHB müssen bereits während des Krankenhausaufenthaltes organisiert werden. Onkologische Kliniken haben dafür einen Sozialdienst, dessen Mitarbeiter die Patientin auf ihren Stationen aufsuchen. Sie sind auch Ansprechpartner, wenn absehbar ist, dass Rückkehr in die eigene Wohnung häusliche Krankenpflege oder kurzzeitige Brückenpflege gebraucht wird. Bei Bedarf kann auch Haushaltshilfe beantragt werden, vor allem in Haushalten mit Kindern. Für Schwerkranke mit hohem Betreuungsbedarf gibt es in der GKV die Spezialisierte ambulante Palliativversorgung, in vielen Städten auch stationäre und ambulante Hospizleistungen.
Beginnend der Regel nach drei Monaten erhalten onkologische Patienten Nachsorgeuntersuchungen in regelmäßigen Abständen. Eine häufige Konvention sind vier Untersuchungen im ersten Jahr, zwei im zweiten Jahr, und dann jährliche Kontrollen bis zum 5. Jahr. Ihr Ziel ist es, Tumorrezidive, Metastasen, Therapienebenwirkungen, und andere neue Probleme möglichst frühzeitig zu erfassen. Dabei stehen das Gespräch und die klinische Untersuchung im Vordergrund. Je nach individueller Situation werden zusätzlich auch bildgebende Verfahren wie die Mammografie oder Blutuntersuchungen eingesetzt. Die Nachsorge kann in der operierenden Klinik erfolgen, wird aus praktischen Gründen aber oft an die heimischen Ärzte delegiert.
Alternativmedizin
Die Komplementäre und alternative Medizin (CAM) bietet diagnostische und therapeutische Methoden an, für die keine Wirksamkeitsnachweise vorliegen. Sie können aber zur Unterstützung normaler Verfahren angewendet werden, mit dem Ziel, Nebenwirkungen zu mindern. Völlig unstrittig sind die Empfehlungen für körperliche Bewegung und Ausgleichssport, ausgewogene Ernährung, und zum Verzicht auf Tabakrauchen. Bekannt ist außerdem, dass Fehl- und Mangelernährung Krebspatienten schwächen können, und darum spielen diätetische Maßnahmen eine Rolle.
Sogenannte Krebsdiäten, die den Krebs „aushungern“ oder durch ein angebliches basisches Milieu bekämpfen wollen, liegen allerdings außerhalb des wissenschaftlichen Konsens. Für die Substitution von Vitaminen und Spurenelementen wie Selen gibt es zwar keine Belege, allerdings gilt sie als weitgehend ungefährlich. Dies gilt auch für die Akupunktur, TCM, und die im Bereich der gesetzlichen Krankenversicherung „besondere Therapierichtungen“ genannten Homöopathie, Phytotherapie und Anthroposophie, für die unter bestimmten Bedingungen die Kosten auch übernommen werden. Hyperthermie (Überwärmung der Tumorregion oder des ganzen Körpers) war zeitweise eine konventionelle Methode, die aber wegen ausbleibendem Erfolg verlassen wurde. In manchen Krankenhäusern wird sie noch benutzt. Angebote aus dem Wellnessbereich wie Aromatherapie, Shiatsu, Waldbaden etc. haben mit Sicherheit keine spezifische Wirkung gegen Krebs, können aber unter Umständen das allgemeine Wohlbefinden der Patienten bessern. Sie müssen vom Patienten selbst bezahlt werden.
Ein offener, patientenzentrierter Umgang mit der Thematik ist wichtig, um das Arzt-Patienten-Verhältnis nicht zu belasten. Umfragen zufolge setzt ein großer Teil der Krebspatienten CAM-Methoden, meist Nahrungsergänzungsmittel, selbstständig ohne Rücksprache mit ihren Onkologen ein. Gelegentlich kommt es zu schweren Gesundheitsschäden und sogar Todesfällen, wenn Therapeuten und Patienten das Vertrauen in die konventionelle Behandlung verloren haben, sie ab- oder unterbrechen und durch gefährliche Methoden wie MMS oder die sogenannte GNM zu ersetzen suchen.
Kinderonkologie
Die Kinderonkologie befasst sich mit Krebserkrankungen im Kindes- und Jugendalter. Kinder erkranken seltener an Krebs als Erwachsene, und das Spektrum der pädiatrischen Krebserkrankungen ist ein anderes. Manche Tumoren wie das Retinoblastom im Auge, oder der Wilms-Tumor der Niere, kommen nur bei Kindern vor. Zwar gibt es prinzipiell dieselben Therapiesäulen Operation, Strahlentherapie, und Chemotherapie, jedoch mit spezifischen, abweichenden Methoden. Beispielsweise ist der kindliche Körper wesentlich empfindlicher gegenüber ionisierender Strahlung, auch gegenüber Chemotherapie. Ein krebskrankes Kind hat besondere Bedürfnisse der individuellen Hilfe und Förderung. Auch die Eltern und Geschwister brauchen psychosoziale Unterstützung. Daher ist es sinnvoll, die Therapie auf spezialisierte Zentren zu konzentrieren. Einige Vorgaben für deutsche Zentren sind in der verbindlichen Richtlinie zur Kinderonkologie festgelegt. Die Einrichtungen sind in der Regel an den Universitätskrankenhäusern und Kliniken der Zentralversorgung angesiedelt. Es gibt auch auf Kinder und Jugendliche spezialisierte Rehabilitationseinrichtungen und Nachsorgekliniken. „Pädiatrische Hämatologie und Onkologie“ ist eine Schwerpunktbezeichnung, die Ärzte für Kinder und Jugendmedizin in 5-jähriger Weiterbildung erreichen. Viele dieser Ärzte sind in Deutschland in der Gesellschaft für Pädiatrische Onkologie und Hämatologie (GPOH) organisiert. Das an der Universität Mainz angesiedelte deutsche Kinderkrebsregister sammelt Informationen über Erkrankungsverlauf und Behandlungsergebnisse. Bei rechtzeitiger Behandlung können drei Viertel der jährlich rund 2.000 erkrankten Kinder und Jugendlichen ein Leben ohne weitgehende Einschränkungen führen.
Literatur
Geschichte
Siddhartha Mukherjee: Der König aller Krankheiten. Krebs – eine Biografie. DuMont, 3. Auflage 2018, ISBN 978-3-8321-6232-0
D. J. Th. Wagener: The history of oncology. (englisch) Bohn Stafleu van Loghum, 2009, ISBN 978-90-313-6143-4
Diagnostik
Christian Wittekind, H. Asamura, Leslie H. Sobin: TNM Atlas. Wiley-Blackwell, 6. Auflage 2015, ISBN 978-3-527-33612-8
M. A. Hayat: Cancer Imaging. (englisch) 2 Bände, Academic Press, 2007, ISBN 978-0-12-374183-7
Otmar Schober, Fabian Kiessling, Jürgen Debus (Hrsg.): Molecular Imaging in Oncology. (englisch) Springer, 2. Ausgabe 2020, ISBN 978-3-03042617-0
Gerald Höfler, Hans Kreipe, Holger Moch (Hrsg.): Pathologie – Das Lehrbuch. Urban & Fischer, 6. Ausgabe 2019, ISBN 978-3-437-42390-1
Chirurgie
Michael Gnant, Peter M. Schlag (Hrsg.): Chirurgische Onkologie: Strategien und Standards für die Praxis. Springer, 2008, ISBN 978-3-211-48612-2
Shane Y. Morita, Charles M. Balch, V. Suzanne Klimberg, Timothy M. Pawlik, Glenn David Posner, Kenneth K. Tanabe: Textbook of Complex General Surgical Oncology. (englisch) McGraw-Hill Education, 2017, ISBN 978-0-07-179331-5
Strahlentherapie
Michael Wannenmacher, Frederik Wenz, Jürgen Debus (Hrsg.): Strahlentherapie. Springer, 2. Auflage 2013, ISBN 978-3-540-88304-3
Frank Giordano, Frederik Wenz (Hrsg.): Strahlentherapie kompakt. Urban & Fischer, 3. Auflage 2019, ISBN 978-3-437-23292-3
Edward C. Halperin, David E. Wazer, Carlos A. Perez, Luther W. Brady (Hrsg.): Perez & Brady’s Principles and Practice of Radiation Oncology. (englisch) Lippincott Williams and Wilkins, 7. Auflage 2018, ISBN 978-1-4963-8679-3
Chemotherapie
Dietmar P. Berger, Roland Mertelsmann: Das Rote Buch: Hämatologie und Internistische Onkologie. ecomed, 6. Auflage 2017, ISBN 978-3-609-51221-1
F. Honecker: Taschenbuch Onkologie: Interdisziplinäre Empfehlungen zur Therapie. Zuckschwerdt, 20. Auflage 2020; ISBN 978-3-86371-303-4
Michael M. Boyiadzis, James N. Frame, David R. Kohler, Tito Fojo: Hematology - Oncology Therapy. (englisch) McGraw-Hill Education, 2. Auflage 2014, ISBN 978-0-07-163789-3
Alternative Krebstherapie
Karsten Münstedt: Komplementäre und alternative Krebstherapien. ecomed, 2012, ISBN 978-3-609-16455-7
Ratgeber für Nichtfachleute
Klaus Koch/Stiftung Warentest: Untersuchungen zur Früherkennung - Krebs: Nutzen und Risiken. Stiftung Warentest, 2005, ISBN 978-3-937880-07-5
Isabell-Annett Beckmann / Stiftung Warentest: Diagnose Krebs: Zusammen stark bleiben (Ein Ratgeber für Angehörige und Freunde). Stiftung Warentest, 2020, ISBN 978-3-7471-0195-7
Sarah Majorczyk: Das Handbuch gegen Krebs. ZS Verlag, 2014, ISBN 978-3-89883-448-3
Weblinks
Krebsfrüherkennung beim Bundesgesundheitsministerium
ICD-O-3: Internationale Klassifikation der Krankheiten für die Onkologie, 3. Revision (deutsch) beim DIMDI
Krebsregisterdaten bei der GEKID
Krebsregisterdaten beim Robert-Koch-Institut (RKI)
Deutsches Kinderkrebsregister
Onkopedia: Leitlinien, Substanzen, Wissensdatenbank, und aktuelle Meldungen von der DGHO
Deutsche Leitlinien in der Onkologie, zusammengestellt von der DKG
Krebsinformationsdienst des DKFZ
Kinderkrebsinfo.de – Informationen der DGPO zur pädiatrischen Onkologie für Betroffene und Fachkreise, auch Leitlinien und Listen geeigneter Krankenhäuser in Deutschland
Onkologische Kliniken und Zentren in Deutschland (DKG)
National Comprehensive Cancer Network der USA (englisch)
Studienregister des NIH (englisch)
Deutsches Register für Klinische Studien
Einzelnachweise
Medizinisches Fachgebiet
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Q162555
| 198.508334 |
13773
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https://de.wikipedia.org/wiki/Ob
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Ob
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Der Ob (, fem.) ist ein 3650 km langer Strom in Westsibirien (Russland). Er entspringt in Südsibirien und fließt in die zum Arktischen Ozean (Nordpolarmeer) gehörende Karasee.
Flussnamen
Weitere Namen des Ob sind und (As, wörtlich „großes Wasser“), (Salja-Jam, wörtlich „Landzungen-Fluss“), selkupisch Колд (auch Колтте, Колтту, Колта; entsprechend Kold, Koltte, Kolttu, Kolta), Куай (auch Квай; entsprechend Kuai, Kwai; wörtlich „Seele“), Еме (auch Ема, Эме; entsprechend Jeme, Jema, Eme; wörtlich „Mutter“), (auch Умар, Эмар, Умар-Ыймар, Умар-Дьюмар; entsprechend Omar, Umar, Emar, Umar-Ymar, Umar-Djumar) und teleutisch Тойбодым (Toibodym; wörtlich „großer Fluss“).
Flussverlauf
Der Fluss Ob entsteht durch die Vereinigung der beiden aus dem südsibirischen Altai kommenden Flüsse Bija und Katun nahe der Stadt Bijsk. Er passiert die Stadt Barnaul und fließt in den Nowosibirsker Stausee, an dessen Talsperre die Großstadt Nowosibirsk liegt.
Dann fließt er in nordwestlicher Richtung durch das Westsibirische Tiefland. Dabei passiert er die Städte Nischnewartowsk, Surgut und Chanty-Mansijsk. Nach der zuletzt genannten Stadt und etwa 300 km weiter nordwestlich teilt sich der Ob in den Großen Ob und Kleinen Ob auf (446 beziehungsweise 456 km lang), die sich in nördlicher Richtung – östlich des Urals – fließend noch vor dem nordsibirischen Salechard wieder vereinigen.
Von dieser Stadt, wo der Ob in Richtung Osten abknickt, um etwa parallel des nördlichen Polarkreises zu fließen, ist es für russisch-sibirische Verhältnisse nur noch eine kurze Distanz bis zu seiner Mündung in den Obbusen (Обская губа, Obskaja guba). Dieser 750 km lange sowie bis zu 70 km breite Meerbusen ist allerdings kein Flusslauf mehr, sondern als Ästuar bereits Teil der Karasee, die wiederum zum Arktischen Ozean (Nordpolarmeer) gehört. Allerdings weist er, angetrieben von den großen Wassermassen des Ob, eine starke nach Norden fließende Strömung auf.
Hydrologie
Flusslängen
Die Länge des Obs kann auf verschiedene Weise gemessen werden:
3650 km = Ob ohne Katun (längster Quellfluss)
4338 km = Ob mit Katun = Ob–Katun
5410 km = Irtysch–Ob = Länge des Irtysch (4248 km) + Länge Ob-Unterlauf (1162 km)
Je nach Art der Messung steht der Ob an vierter, sechster, fünfzehnter oder vierundzwanzigster Stelle in der Liste der längsten Flüsse der Erde.
Zu den 5410 km maximaler Flusslänge (Irtysch–Ob) kann man noch die Länge des 750 km langen Obbusen, dem langgezogenen Ästuar des Ob, hinzuzählen, so dass sich von der Quelle des Irtysch bis zum Nordende des Ästuars insgesamt 6160 km Fließstrecke ergeben.
Einzugsgebiet
Das Einzugsgebiet des Obs beträgt 2.972.497 km² (das ist mehr als die 8,3-fache Fläche der Bundesrepublik Deutschland). Dabei entfallen auf seinen längsten Nebenfluss Irtysch rund 1.673.000 km² und auf seine Quellflüsse Bija und Katun rund 37.000 bzw. 70.000 km². Das Einzugsgebiet des Ob ist das siebtgrößte der Erde.
Neben Russland haben auch Kasachstan, die Volksrepublik China und die Mongolei Anteil am Einzugsgebiet des Ob. Die Anteile Chinas und der Mongolei beschränken sich dabei auf den Irtysch und seine Zuflüsse, während Kasachstan daneben noch Anteil am Einzugsgebiet des Alei besitzt.
Rund 85 % des Einzugsgebiets des Ob liegen in der Westsibirischen Tiefebene, lediglich im Süden und Südosten durchfließt der Ob an seinem Oberlauf die südsibirischen Hochgebirge des Mongolischen und Großen Altai und des Kusnezker Alatau sowie den Mittelgebirgszug des Salairrückens.
Dabei durchfließt der Ob Landschaften unterschiedlichster naturräumlicher Bedingungen. Von den Wüsten und Halbwüsten in seinem Quellgebiet über die Steppenlandschaften an seinem Oberlauf und die sumpfige Taigalandschaft an seinem Mittel- und Unterlauf bis zu den südlichen Ausläufern der Waldtundra und Tundra im Bereich der Mündung und des Obbusens quert er auf seinem Lauf die typischen kontinentalen Vegetations- und Klimazonen Zentral- und Nordasiens.
Abflussregime
Der Ob weist ein typisches nivales Abflussregime auf. Bei diesen wird der Abfluss hauptsächlich von der Schneeschmelze gesteuert. Typisch sind daher starke Abflussspitzen im Frühjahr und Frühsommer und Niedrigwasser vom Spätsommer bis zum Ende des Winters. Am Oberlauf des Ob ist das nivale Abflussregime noch in der Variante des Berglandes ausgeprägt, dieses geht jedoch schon bald in ein nivales Regime des Tieflandes über.
So weist der Ob in Barnaul mit durchschnittlich rund 281 m³/s im Februar seine geringsten monatlichen Abflusswerte auf, der Monat mit den größten Abflussmengen ist der Juni mit gut 3660 m³/s, bei einer Einzugsgebietsfläche (total und effektiv) von 169.000 km² (Durchschnittswerte 1922–2000). Das niedrigste Niedrigwasser wurde im März 1956 mit 191 m³/s, das höchste Hochwasser im Juni 1969 mit 7080 m³/s gemessen.
Die Wassermengen nahe an der Mündung bei Salechard betragen etwa im März 3460 m³/s und nach der Schneeschmelze im Juni 32.630 m³/s (Durchschnittswerte 1930–1999), bei einer Einzugsgebietsgröße von 295.000 km² total bzw. 243.000 km² effektiv. Der Mittlere Abfluss beträgt hier 12.490 m³/s. Die niedrigsten gemessenen Abflusswerte in Salechard waren 2120 m³/s im März 1969, die höchsten 43.470 m³/s im August 1979.
Bezogen auf sein jeweiliges Einzugsgebiet weist der Ob eine mittlere jährliche Abflussspende von 8,81 l/(s·km²) am Oberlauf in Barnaul (Durchschnittswerte 1936–1989) bzw. 5,25 l/(s·km²) am Unterlauf in Salechard (Durchschnittswerte 1936–1994) auf.
Eisgang und Eisstoß
Der Ob ist auf seinem Oberlauf durchschnittlich für etwa 150, auf dem Unterlauf im Mittel für 220 Tage im Jahr mit Eis bedeckt. Während des Frühlings kommt es sehr häufig zu Bildung von Eisstößen, wenn das Eis des Flusses auf seinem Oberlauf und der Schnee im Einzugsgebiet im Süden bereits schmilzt, der Mittel- und Unterlauf aber noch gefroren ist.
Die durch den Eisgang aufgetürmten Eisdämme stauen den Fluss auf, der Wasserspiegel kann in kürzester Zeit um mehrere Meter ansteigen. Diese frühjährlichen Überschwemmungen können das Tal des Ob auf einer Breite von über 40 km überfluten. Um das Brechen des Eises zu beschleunigen und Überschwemmungen zu verhindern, werden immer wieder Sprengladungen aus der Luft auf die Eisdämme abgeworfen, etwa in der Region um Nowosibirsk.
Nebenflüsse
Der Irtysch, der beim Zusammenfluss deutlich länger ist als der Ob mit seinen Quellflüssen, ist sein wichtigster Nebenfluss. Im gesamten Einzugsbereich des Obs gibt es rund 150.000 Flüsse.
Flussabwärts betrachtet wird der Ob unter anderem von diesen Flüssen gespeist (erste Zeile: Quellflüsse; mit Angabe des Einzugsgebietes in km², Länge in km und Abfluss in m³/s):
Die Flüsse Nadym, Pur und Tas zählen ebenfalls zur hydrologischen Zone des Ob, denn sie münden in den Obbusen bzw. dessen östlichen Seitenästuar, den Tasbusen.
Bedeutung
Der Fluss Ob ist eine der wichtigen Wasserstraßen zur Erschließung des Nordens von Sibirien neben dem Jenissei in Zentralsibirien und der Lena in Ostsibirien. Der Fluss ist auf seinem Oberlauf durchschnittlich während 190 Tagen und auf dem Unterlauf während 150 Tagen des Jahres schiffbar. Im Flusssystem des Ob existierten 1973 mehr als 260 Häfen und Anlegestellen sowie mehr als 150 Industrie-Kais.
Die wichtigsten Häfen am Ob sind Nowosibirsk (gegründet 1936), Surgut (1964) und Labytnangi (1948). Dabei dient der Ob hauptsächlich dem Transport von Waren wie Rundholz, Schnittholz, Baustoffe, Lebensmittel und Kohle in den bzw. aus dem Norden. Den Transport in west-östlicher Richtung übernimmt die Eisenbahn, etwa die Transsibirische Eisenbahn, die den Ob in Nowosibirsk kreuzt, und ihre Nebenlinien. Neben dem Gütertransport dient der Ob auch der Personenbeförderung, auch auf Langstrecken im Bereich des Flusses und seiner Nebenflüsse, sowie der Ausflugsschifffahrt.
Zusätzlich zur Bedeutung als Binnenwasserstraße wird der Ob auch für die Energiegewinnung genutzt, das Wasserkraftwerk am Nowosibirsker Stausee versorgt beispielsweise Nowosibirsk mit Strom. Die jährlich nutzbaren Energiemengen des Flusssystems Ob wurden auf 250 GWh geschätzt.
Daneben dient das Wasser des Ob auch der Versorgung der Industrie mit Brauchwasser und der Trinkwasserversorgung der ansässigen Bevölkerung.
Die rund 50 im Ob, seinen Nebenflüssen und dem Obbusen vorkommenden Fischarten bilden die Grundlage der Flussfischerei am Ob. Vorkommende Arten sind Störe, darunter beispielsweise der Sterlet, Hecht, Karpfenfische wie verschiedene Rutilus- und Carassius-Arten, Aland und Hasel, Quappe, Flussbarsch sowie verschiedene Lachsfische wie Njelma und Coregonus-Arten wie Muksun, Große Bodenrenke und Peledmaräne.
Ökologischer Zustand
Nach Einschätzung von Greenpeace fließen über den Ob mehr als 125.000 Tonnen Rohöl aus dem Gebiet der westsibirischen Ölkatastrophe jährlich in das Nordpolarmeer. Es kann für die Zukunft nicht ausgeschlossen werden, dass zudem das Wasser des extrem radioaktiv verseuchten Karatschai-Sees über Grundwasserströme in Kontakt mit dem Ob kommt.
Pro Jahr trägt der Ob mit schätzungsweise 796 Tonnen Mikroplastik zu dem Plastikmüll in den Ozeanen bei.
Stauseen
Der Ob durchfließt den Nowosibirsker Stausee (1072 km², maximal 8,8 Mrd. m³).
Umleitungsprojekt
Im Rahmen des 1950 vom Ministerrat der UdSSR verkündeten Dawydow-Plans sollten die Flüsse Ob und Jenissei nach Süden umgeleitet werden, um die weit entfernten Trockengebiete um den Aralsee und das Kaspische Meer durch Bewässerung landwirtschaftlich nutzbar zu machen. Mitte der 1970er Jahre gab der Ministerrat konkrete Planungen in Auftrag. Nach Protesten vieler Intellektueller, darunter die Schriftsteller der umweltbewegten „Dorfliteratur“, an der Spitze Walentin Rasputin, wurde das Projekt während der Perestroika unter Michail Gorbatschow fallengelassen.
Orte am Flusslauf
Die größten Städte am Fluss sind die Millionenstadt Nowosibirsk sowie die Großstädte Barnaul, Surgut und Nischnewartowsk. Nachfolgend sind die heute oder historisch bedeutendsten Orte am Ob, seinen Nebenarmen oder in unmittelbarer Nähe mit ihrer Zugehörigkeit zu den Föderationssubjekten Russlands in Fließrichtung aufgeführt:
Anmerkung: * überwiegend am rechten Ufer
Siehe auch
Liste der längsten Flüsse der Erde
Weblinks
Hydrographische Messpunkte im Einzugsgebiet des Ob und benachbarter Flusssysteme
Einzelnachweise
Fluss in der Region Altai
Fluss im Autonomen Kreis der Chanten und Mansen/Jugra
Fluss im Autonomen Kreis der Jamal-Nenzen
Fluss in der Oblast Nowosibirsk
Fluss in der Oblast Tomsk
Fluss in Asien
Gewässer als Namensgeber für einen Asteroiden
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Q973
| 195.811746 |
14264
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https://de.wikipedia.org/wiki/Kinshasa
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Kinshasa
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Kinshasa [, französisch ] (bis 3. Mai 1966 – Kurzform , ) ist die Hauptstadt der Demokratischen Republik Kongo.
Die Stadt ist mit mehr als 16 Millionen Einwohnern (2023) noch vor Lagos die größte Stadt in Afrika und die größte frankophone Stadt der Welt. Die Metropolregion Kinshasa ist mit 17 Millionen Einwohnern die drittgrößte Metropolregion Afrikas.
Der Hauptstadtdistrikt der Neutralen Stadt (französisch ) hat den Status einer Provinz und wird von einem Gouverneur regiert, der vom Präsidenten ernannt wird. Kinshasa ist das politische, wirtschaftliche und kulturelle Zentrum des Landes. Die Stadt ist Sitz der kongolesischen Regierung, des Parlaments, aller staatlichen Zentralbehörden sowie zahlreicher diplomatischer Vertretungen.
Kinshasa ist der bedeutendste Verkehrsknotenpunkt des Landes mit dem internationalen Flughafen Ndjili und besitzt zahlreiche Universitäten, Hochschulen und Museen.
Geographie
Geographische Lage
Kinshasa liegt am Pool Malebo am Kongo gegenüber von Brazzaville, der Hauptstadt der Republik Kongo, 350 Meter über dem Meeresspiegel.
Vor dem Durchbruch durch die Niederguineaschwelle staut sich der wasserreiche Kongo zu einem See, dem Pool Malebo, auf, der etwa 30 Kilometer lang, 21 Kilometer breit und maximal 16 Meter tief ist.
Der Kongo ist erst nördlich des Pool Malebo schiffbar.
Das Verwaltungsgebiet der Hauptstadt hat eine Fläche von 9.965 Quadratkilometern. Davon hat allein die im Osten gelegene ländlich geprägte Kommune Maluku mit 7.948,8 Quadratkilometern einen Anteil von rund 80 Prozent.
Stadtgliederung
Kinshasa gliedert sich in 24 Gemeinden (communes):
Klima
Die Stadt befindet sich in der tropischen Klimazone. Die Jahresdurchschnittstemperatur beträgt 25,3 Grad Celsius, der Jahresniederschlag 1.378 Millimeter.
Die durchschnittlichen Temperaturen liegen das ganze Jahr über zwischen 22 und 26,8 Grad. Die wärmsten Monate sind März und April mit durchschnittlich 26,7 bis 26,8 Grad Celsius, der kälteste der Juli mit 22,0 Grad Celsius im Mittel.
Hauptregenzeit ist zwischen Oktober und Mai. Der meiste Niederschlag fällt im November mit durchschnittlich 236 Millimetern, der wenigste von Juni bis August mit ein bis fünf Millimeter im Mittel.
Geschichte
Historischer Überblick
Der Ort wurde am 3. Dezember 1881 von Henry Morton Stanley als Handelsposten gegründet und zu Ehren des damaligen belgischen Königs Leopold II. Léopoldville genannt. 1885 bis 1908 war das Kongobecken mitsamt seinem Hinterland Leopolds Privateigentum und Schauplatz der berüchtigten Kongogreuel. 1898 wurde die Eisenbahn zur Küstenstadt Matadi fertiggestellt. Nach der Verlegung der Hauptstadt des Belgisch-Kongo von Boma nach Léopoldville im Jahre 1923 erlebte die Stadt ein rasches Wachstum.
Léopoldville hatte Mitte der 1930er Jahre etwa 40.000 Einwohner, davon ungefähr 2.500 Europäer. 1945 wurde die Einwohnerzahl auf 100.000 geschätzt. Bis Anfang der 1950er Jahre stieg die Zahl auf 250.000, davon 15.000 Europäer, an, zudem erhielt die Stadt eine Hochschule. Administrativ war die Universität Lovanium an die Katholische Universität Löwen angegliedert.
Vor der Unabhängigkeit bestand Léopoldville aus einer Europäerstadt und einer Afrikanerstadt (Quartier Indigène), wobei die Bewohner des einen Teils den anderen nach 21 Uhr abends nicht ohne Sonderausweis betreten durften. Um 1950 erhielt die Stadt das mit 70.000 Plätzen größte Stadion des Kongo.
Gemäß einer kanadische Studie wurden die ersten Blutproben, in denen HIV nachgewiesen wurde, 1959 in Léopoldville und Brazzaville entnommen.
1960 war Léopoldville mit etwa 400.000 Einwohnern die größte Stadt Zentralafrikas. Mit der Unabhängigkeit wurde es Hauptstadt der unabhängigen Demokratischen Republik Kongo. Nach der Machtergreifung 1965 von Mobutu Sese Seko wurde Léopoldville 1966 umbenannt nach dem Namen eines ehemaligen Dorfes Kinshasa, das im Stadtgebiet lag.
Im September 1996 begann, verstärkt unter anderem durch Flüchtlingsströme aus Ruanda und Burundi, im Osten des Landes eine Rebellion unter Führung von Laurent-Désiré Kabila, die militärisch von Ruanda und Uganda unterstützt wurde. Obwohl er lange nicht ernst genommen wurde, gelang Kabila am 16. Mai 1997 der Sturz des alten, schwer kranken und international mittlerweile isolierten Mobutu, er zog mit seinen Truppen in Kinshasa ein und erklärte sich am 29. Mai 1997 zum neuen Präsidenten.
Am Morgen des 30. Dezember 2013 verübten mit Messern bewaffnete Anhänger des evangelikalen Predigers und Milizenführers Mutombo Angriffe auf staatliche Fernsehstudios, den Flughafen Ndjili und die Tshatshi-Militärbasis. Dabei starben ein Oberst der Armee und 54 der Angreifer. Bei Überschwemmungen im Dezember 2022 starben etwa 170 Menschen.
Einwohnerentwicklung
Die folgende Übersicht zeigt die amtlichen Einwohnerzahlen nach dem jeweiligen Gebietsstand, jeweils bezogen auf das verwaltungsmäßige Stadtgebiet. Wie in vielen anderen Metropolen bilden sich auch in Kinshasa vermehrt große Vororte und Satellitenstädte heraus, in denen das Hauptbevölkerungswachstum stattfindet. Die Stadt hat über 9,4 Millionen Einwohner, die Agglomeration Kinshasa-Brazzaville 10,3 Millionen (2010). Verkehrs- und Handelssprache der Bevölkerung ist Lingala.
Kinshasa gehört zu den am schnellsten wachsenden Großstädten der Welt. Für 2050 wird mit einer Bevölkerung von 35 Millionen Menschen gerechnet. Laut derselben Prognose wäre Kinshasa 2075 mit über 58 Millionen Einwohnern die größte Stadt der Welt.
Kultur und Sehenswürdigkeiten
Museen
Im Nationalmuseum der Hauptstadt (Musee National de Kinshasa) sind Werke traditioneller kongolesischer Kunst zu sehen. Seit 2019 besteht das mit südkoreanischer Unterstützung errichtete Nationalmuseum der Demokratischen Republik Kongo. Die Museen der Universität (Musée de l’Université de Kinshasa) beherbergen prähistorische und völkerkundliche Ausstellungen. Die Gebäude der Universität befinden sich in einer rechteckigen Anlage nahe einem Hang, auf dem eine Kapelle steht. Zwischen den Hügeln liegt der See Ma Valée, der von tropischem Regenwald umgeben ist.
Kunst
Zentrum der Kunst in Kinshasa ist die Académie des Beaux-Arts de Kinshasa, die einzige Kunstakademie auf universitärer Ebene in Zentralafrika. Auf dem Gelände der Akademie sind zahlreiche Skulpturen ausgestellt. Die bekannten Künstler des Landes wie Lema Kusa, Alfred Liyolo, Rogers Botembe, Henri Kalama Akulez unterrichten hier. Tieferen Einblick in deren Arbeit gewinnt man beim Besuch ihrer privaten Studios. Weitere bekannte Künstler in Kinshasa sind Nshole, Mavinga, Freddy Tsimba, Claudy Khan.
Musik
siehe Musik in der Demokratischen Republik Kongo
Bauwerke
Die Cité de l’OUA beherbergt die Ministerien der Regierung der Demokratischen Republik Kongo. Das Diplomatenviertel liegt im Stadtteil Gombe. In der Zone de Matonge findet mit zahlreichen Restaurants und Bars das Nachtleben der Hauptstadt statt.
Sehenswert sind unter anderem das Gebäude der Societé Zairois de Commercialization (SOZACOM), das Hochhaus Hotel Memling, der Zentrale Markt und die Académie des Beaux-Arts. Erwähnenswert sind auch der Fischereihafen Kinkole und die Pagoden in den Gärten des Präsidentenpalastes in Nsele. Zu den historischen Bauwerken zählen das 1891 errichtete Gebäude der American Baptist Missionary Society und die 1914 fertiggestellte römisch-katholische Kathedrale.
Eine der wichtigsten Hauptstraßen ist der Boulevard du 30 Juin, benannt nach dem Tag der Unabhängigkeit des Landes am 30. Juni 1960. Dort befinden sich zahlreiche politische und wirtschaftliche Institutionen. Die fünf Kilometer lange Straße verbindet den Stadtteil Gombe im Süden mit Kintambo und der Baie de Ngaliema im Westen. Das 1967 auf Befehl des damaligen Präsidenten Mobutu Sese Seko demontierte sechs Meter hohe Reiterstandbild Leopolds II. befindet sich im Museum am Mont Ngaliema unterhalb des Verteidigungsministeriums.
Der Turm von Limete ist ein 210 Meter hoher unvollendeter Fernsehturm im Stadtbezirk Limete.
Sport
In der Hauptstadt liegt das Nationalstadion Stade des Martyrs mit einem Fassungsvermögen von 80.000 Zuschauern. Bei besonderen Spielen (z. B. Derbys) kommen teilweise bis zu 100.000 Zuschauer in das 2008 renovierte Stadion. Es ist Spielstätte des zwölfmaligen kongolesischen Fußballmeisters DC Motema Pembe und des elfmaligen Meisters AS Vita Club. Das Stade du 24 septembre mit einer Kapazität von 24.000 Plätzen ist Heimstätte des dreimaligen Gewinners der kongolesischen Fußballmeisterschaft AS Dragons.
Das Stade des Martyrs wurde 1994 mit chinesischer Unterstützung errichtet und ersetzte das alte etwa einen Kilometer entfernte Stade Tata Raphaël, in dem 1974 der als Rumble in the Jungle bekannt gewordene Kampf von Muhammad Ali und George Foreman stattfand, als Nationalstadion der DR Kongo. Der „Kampf im Dschungel“ war ein historischer Boxkampf, der am 30. Oktober 1974 stattfand. Er wurde organisiert vom Box-Promoter Don King und – zusammen mit dem Rahmenprogramm (ein Großkonzert, bei dem unter anderem Miriam Makeba, James Brown, B. B. King, The Spinners und The Crusaders auftraten) – größtenteils von Diktator Joseph-Désiré Mobutu als Werbemaßnahme für sein Land und ganz Afrika finanziert. Die gesamte Veranstaltung war für das Selbstwertgefühl der indigenen Bevölkerung Afrikas von ungeheurer Bedeutung, da andere Großereignisse, wie Olympische Spiele oder eine Fußball-WM, auf diesem Kontinent bis zur WM 2010 in Südafrika nicht stattgefunden hatten.
Einer der im Ausland bekanntesten kongolesischen Sportler ist der in Kinshasa geborene Claude Makélélé. Er wurde französischer und spanischer Fußballmeister und gewann 2002 mit Real Madrid die Champions League. 2005 und 2006 kam mit dem FC Chelsea die englische Meisterschaft hinzu.
Zu den besten Verteidigern der US-Basketball-Liga National Basketball Association gehört der in Kinshasa geborene Dikembe Mutombo. Er gewann viermal den NBA Defensive Player of the Year Award. Mutombo begann seine Laufbahn beim Basketballklub BC Onatra in Kinshasa.
Vom 28. Juli bis 6. August 2023 war Kinshasa Austragungsort der IX. Spiele der Frankophonie.
Wirtschaft und Infrastruktur
Wirtschaft
Die Industrie der Hauptstadt hat sich vor allem um die Verarbeitung der vorhandenen Bodenschätze entwickelt. Bedeutend sind auch noch die Ölraffinerien sowie die Herstellung von Zement und Schwefelsäure. Wichtige Erzeugnisse sind Baustoffe, Papier, Reifen, Schuhe, Textilien, Zigaretten, Nahrungsmittel und Bier.
Der gesamte Bereich wurde durch den wirtschaftlichen Niedergang und vor allem die hohe Inflation seit 1990 schwer geschädigt. Verbreitet sind Misswirtschaft und Korruption. Es herrscht großer Devisenmangel, der den Import von Rohstoffen und Ersatzteilen verhindert.
In einer Rangliste der Städte nach ihrer Lebensqualität belegte Kinshasa im Jahre 2018 den 223. Platz unter 231 untersuchten Städten weltweit.
Verkehr
Der internationale Flughafen der Stadt ist der Flughafen Ndjili. Er ist Sitz der drei größten Fluggesellschaften des Landes, der flyCongo, der Compagnie Africaine d’Aviation und der Wimbi Dira Airways. 2004 wurden auf dem Flughafen 516.345 Passagiere abgefertigt. Die Landebahn befindet sich in sehr mäßigem Zustand. Auf dem Gelände stehen Flugzeugwracks. Ein Teil des Flughafens ist an die UNO vermietet.
Die Flugzeugkatastrophe von Kinshasa 1996 war der bislang schwerste Flugunfall auf dem afrikanischen Festland.
Der Schiffsverkehr auf dem Kongo endet wegen der vielen Stromschnellen flussabwärts, die eine Schifffahrt unmöglich machen, in der Hauptstadt. Personen und Güter werden von dort zum Hafen von Matadi am Atlantischen Ozean weitertransportiert.
Das Verkehrswesen der Hauptstadt ist sehr unterentwickelt. Der öffentliche Personennahverkehr (ÖPNV) wird fast ausschließlich von Kollektivtaxis und rund 200 dieselbetriebenen Omnibussen betrieben. Diese sind zumeist maßlos überfüllt und in extrem unzureichendem technischen Zustand. Die Straßen sind in größtenteils schlechtem Zustand, und in der Stadt existiert kein leistungsfähiges öffentliches Verkehrssystem mit hoher Kapazität, wie eine U-Bahn, Stadtbahn oder Straßenbahn, das die Straße entlasten würde. Auf dem Netz der Matadi-Kinshasa-Bahn und zwei Zweigstrecken betreibt die staatliche Verkehrsgesellschaft ONATRA einen Stadtbahn genannten Vorortsverkehr ab dem Ostbahnhof zum Flughafen, Kimwenza und Ngaliema. 2005 standen dazu zwei altersschwache Züge zur Verfügung, welche auf den ersten beiden Linien je vier Kurse pro Tag fuhren. Es gibt Berichte, dass dieser Service mit belgischer Hilfe ausgebaut wird.
Bildung
Die Stadt ist Sitz zahlreicher Universitäten, Hoch- und Fachschulen, Forschungsinstitute und Bibliotheken. Zu den wichtigsten Universitäten gehören:
Université de Kinshasa (UNIKIN), Université américaine de Kinshasa, Université cardinal Malula, Université chrétienne de Kinshasa (UCKIN), Université centrale de Kinshasa, Université Kinshasa Binza, Université libre de Kinshasa (ULK), Université pédagogique nationale (UPN), Université protestante du Congo (UPC), Université Simon Kimbangu und Université William Booth (UWB).
Weitere bedeutende Bildungseinrichtungen sind:
Académie des Beaux-Arts, Centre interdisciplinaires pour l’éducation permanente (CIDEP), École d’Informatique d’Électronique et d’Expertise comptable (EIECO), Institut des bâtiments et des travaux publics (IBTP), Institut facultaire des sciences de l’information et de la communication (IFASIC), Institut national des Arts (INA), Institut supérieur de commerce (ISC), Institut supérieur des techniques appliquées (ISTA), Institut Supérieur de Statistique de Kinshasa (I.S.S./KIN), Institut supérieur des arts et métiers (ISAM), Institut supérieur pédagogique (ISP) und Facultés catholiques de Kinshasa (FACAKIN).
Partnerstädte
Dakar, Senegal
Söhne und Töchter der Stadt
Joseph-Albert Kardinal Malula (1917–1989), Erzbischof von Kinshasa
Hugo Sigal (* 1947), belgischer Sänger
Daniel Nlandu Mayi (1953–2021), katholischer Geistlicher, Bischof von Matadi
Martin Fayulu (* 1956), Politiker
Koffi Olomidé (* 1956), Sänger
Sabine de Bethune (* 1958), belgische Politikerin (CD&V)
Samy Badibanga (* 1962), Politiker
Timothée Bodika Mansiyai (* 1962), römisch-katholischer Bischof von Kikwit
José-Claude Mbimbi Mbamba (* 1962), römisch-katholischer Bischof von Boma
Félix Tshisekedi (* 1963), Politiker, Präsident seit 2019
Vincent Tshomba Shamba Kotsho (* 1963), römisch-katholischer Geistlicher und Bischof von Tshumbe
Jean-Jacques Conceição (* 1964), angolanisch-portugiesischer Basketballspieler
Jupiter Bokondji (* 1965), Musiker
Elombo Bolayela (* 1965), deutscher Politiker (SPD)
Dikembe Mutombo (* 1966), Basketballspieler (NBA)
Joseph-Bernard Likolo Bokal’Etumba (* 1967), römisch-katholischer Geistlicher und Bischof von Lisala
Jean-Crispin Kimbeni Ki Kanda (* 1969), römisch-katholischer Geistlicher und Bischof von Kisantu
Elisabeth Bakambamba Tambwe (* 1971), Tänzerin, Choreografin und Künstlerin
Musemestre Bamba (* 1971), Fußballspieler
Laurent Capelluto (* 1971), belgischer Schauspieler
Sindika Dokolo (1972–2020), Geschäftsmann und Kunstsammler
Claude Makélélé (* 1973), französischer Fußballnationalspieler
Edouard Isango Nkoyo (* 1973), römisch-katholischer Geistlicher, Weihbischof in Kinshasa
Blaise Nkufo (* 1975), Schweizer Fußballspieler
Hervé Nzelo-Lembi (* 1975), kongolesisch-belgischer Fußballspieler
Alain Masudi (* 1978), Fußballspieler
Emil Noll (* 1978), deutsch-kongolesischer Fußballspieler
Carlos Fernandes (* 1979), portugiesisch-angolanischer Fußballspieler
Péguy Luyindula (* 1979), französischer Fußballnationalspieler
Youssoupha (* 1979), französischer Rapper
Didier Ilunga-Mbenga (* 1980), belgisch-kongolesischer Basketballspieler
Gaby Mudingayi (* 1981), belgischer Fußballspieler
Ariza Makukula (* 1981), kongolesisch-portugiesischer Fußballspieler
René Makondele (* 1982), Fußballspieler
Jessy Matador (* 1982), Sänger und Tänzer
Addy-Waku Menga (* 1983), Fußballspieler
Patrick Tshinozola Batshi (* 1984), Fußballspieler
Eric Kabongo (* 1984), belgischer Filmschauspieler
Domi Kumbela (* 1984), deutsch-kongolesischer Fußballspieler
Cédric Makiadi (* 1984), deutsch-kongolesischer Fußballspieler
Safi Nyembo (* 1984), deutsch-kongolesische Fußballspielerin
Mbala Mbuta Biscotte (* 1985), Fußballspieler
Steve Mandanda (* 1985), französischer Fußballnationalspieler
Gims (* 1986), französischer Rapper
Mohombi (* 1986), schwedisch-kongolesischer Popsänger
Gabriel Zakuani (* 1986), Fußballspieler
Youssuf Mulumbu (* 1987), Fußballspieler
Geoffrey Mujangi Bia (* 1989), belgischer Fußballspieler
Charles Nguela (* 1989), Schweizer Satiriker, Kabarettist, Parodist und Stand-up-Comedian
Christian Benteke (* 1990), belgischer Fußballspieler
Wilson Kamavuaka (* 1990), deutsch-kongolesischer Fußballspieler
Junior Mapuku (* 1990), Fußballspieler
Danny Mwanga (* 1991), amerikanisch-kongolesischer Fußballspieler
Magloire Nzeza Mayaula (* 1993), Volleyballspieler
Jonathan Bolingi (* 1994), Fußballspieler
Chadrac Akolo (* 1995), Fußballspieler
Emmanuel Mudiay (* 1996), Basketballspieler
Silas (* 1998), Fußballspieler
Jona Efoloko (* 1999), britischer Sprinter
Jonathan Leko (* 1999), englischer Fußballspieler
Christopher Lungoyi (* 2000), Schweizer Fußballspieler
Pépé Bonet (* 2003), kongolesisch-französischer Fußballspieler
Weblinks
Offizielle Website der Stadt Kinshasa
Stadtplan 2001
Kinshasa Stadt und Tourist Informationen
Monographie de la Ville de Kinshasa
Einzelnachweise
Anmerkungen
Hauptstadt in Afrika
Ort in der Demokratischen Republik Kongo
Provinz in der Demokratischen Republik Kongo
Millionenstadt
Ort in Afrika
Hochschul- oder Universitätsstadt
Gegründet 1881
Belgische Kolonialgeschichte (Afrika)
Ort am Kongo
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Q3838
| 999.469195 |
136546
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https://de.wikipedia.org/wiki/Lydien
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Lydien
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Lydien (; lateinisch Lydia; auch Mäonien) ist der Name einer Landschaft im Altertum. Sie befand sich an der Mittelmeerküste Kleinasiens in der heutigen Türkei gegenüber den der Küste vorgelagerten Inseln Lesbos, Chios und Samos. Das Gebiet erstreckte sich um das heutige Izmir bis etwa Alaşehir ins Landesinnere. In homerischer Zeit wurde das Gebiet von den Griechen Mäonien genannt. Es wurde vom Volk der Lyder (Mäonen) bewohnt.
Geografie
Hinsichtlich der Grenzen bestand schon in der Antike Unklarheit. Das ist zum Teil auf die verschiedenen Bezugsobjekte zurückzuführen: Die Grenzen des lydischen Königreichs bzw. Kerngebiets, des lydischen Kulturraumes, des lydischen Großreichs, der persischen Satrapie und der späteren Provinz der Diokletianischen Reform können sich ganz erheblich voneinander unterscheiden. Andererseits ist man auf eine sehr dünne Belegdecke angewiesen (etwa bei den Grenzen des Kulturraumes) und ganz generell auf unklare Beschreibungen.
Plinius der Ältere gibt eine knappe und gleichermaßen vage Beschreibung des Landes: Zentrum des Kernlandes waren der Berg Tmolos, an dem die Hauptstadt Sardes lag, der Gygische See (heute: Marmara Gölü) und die umgebende fruchtbare Ebene entlang des Hermos (heute: Gediz). Im Süden grenzte Lydien an Karien, im Osten an Phrygien, im Norden an Mysien und reichte im Westen über Ionien hinaus. Sieht man von der westlichen Grenze zu Ionien ab, so gilt die Beschreibung als korrekt. Konkret gab es keine klaren Grenzlinien, sondern Grenzzonen. Als gesichert kann die Grenzzone im Süden gelten: Im Mäander-Tal siedelten gleichermaßen Lyder und Karier. Im Nordosten, quasi zwischen Lydien, Mysien und Phrygien lag der Berg Dindymos. Die Grenzzone zwischen Lydien und Phrygien wird vermutlich an den Flussläufen zwischen Dindymos und Mäander entlanggelaufen sein, die Grenzzone zwischen Lydien und Mysien vermutlich den Murat Dağı-Zug entlang; wie weit ist unklar. Die Grenze zwischen Ionien und Lydien ist völlig unklar, doch der Sipylos scheint ein Grenzpunkt gewesen zu sein. Ladislav Zgusta rechnet das Küstengebiet dagegen weitgehend zu Lydien, statt zu Ionien; er ist allerdings auch an den kulturellen Ursprung von Orten und weniger der politisch-rechtlichen Situation interessiert.
Geschichte
Periodisierung
In der Vergangenheit wurden sehr unterschiedliche, in sich uneinheitliche Periodisierungsschemata verwendet, in denen sich archäologische und historische Kategorien abwechselten. Roosevelt hat in jüngerer Zeit ein einheitliches Schema entwickelt, um den methodischen Schwierigkeiten zu begegnen. Dieses Schema soll hier verwendet werden, leicht angepasst, um dem erweiterten Rahmen gerecht zu werden.
Prälydische Zeit (vor dem 12. Jh. v. Chr.)
Für das Hermos-Tal lässt sich bereits für die Altsteinzeit eine Bevölkerung nachweisen, deren Techniken auf Verbindungen zur Levante und Europa verweisen. Für die Kupfersteinzeit lässt sich eine hohe kulturelle Kontinuität feststellen, allerdings mit einer Ausrichtung nach Zentralanatolien. Die kulturelle Kontinuität besteht auch in der Bronzezeit, doch die Bevölkerung nahm erheblich zu, die materielle Kultur wurde niveauvoller und der Warenaustausch in West- und Zentralanatolien nahm ebenso wie der Fernhandel zu. Spätestens für die Bronzezeit lässt sich eine Besiedelung des Gebiets mit einer luwisch sprechenden Bevölkerung nachweisen. In der späten Bronzezeit wurde die luwische, politisch-kulturelle Entität Arzawa im westanatolischen Raum zur bedeutendsten Macht, bis sie im 14. Jh. v. Chr. dem Hethiterreich endgültig unterlag. Nachfolgestaaten im späteren lydischen Gebiet wurden Mira und besonders das Seha-Flussland, die allerdings Vasallen der Hethiter waren. Das Machtzentrum von Seha lag in vier Zitadellen am Gygischen See. Nach dem Zerfall des Hethiterreiches im frühen 12. Jh. v. Chr. werden die Informationen zu dem Gebiet für einige Jahrhunderte rar.
Frühlydische Periode (etwa 12. Jh. bis 7. Jh. v. Chr.)
Wann sich die Lyder als eigene Entität konsolidierten, bleibt Gegenstand der Forschungsdiskussion, denn die Quellen zeichnen nur ein sehr unklares, mythisch verbrämtes Bild. Es ist gerade hinsichtlich der historischen Quellen stets sehr schwierig zu entscheiden, ob ein Bericht reiner Mythos ist oder einen wahren Kern enthält.
Der historische Befund liefert die zentrale Unklarheit. Der Begriff Lydien selbst taucht zum ersten Mal um das Jahr 664 v. Chr. in den assyrischen Berichten des Rassamzylinders auf: Dort heißt es, dass König Gugu von Luddu (Gyges von Lydien) Kontakt zum König Assurbanipal aufnahm. Allerdings erwähnt Homer die Bewohner der Gegend in der Ilias – dort heißen sie Maionier. Schon in der Antike wurden die Maionier mit den Lydern identifiziert. Herodot berichtet, dass vor der Machtübernahme durch Gyges und der Mermnaden-Dynastie die Herakliden-Dynastie für 505 Jahre die Lyder beherrschte; die Fragmente des Xanthos berichten ebenfalls von der Herakliden-Dynastie. Auch die These der großen Emigration des später als Etrusker bekannten Teils der Bevölkerung wird mit diesem Zeitraum verknüpft, und schon in der Antike angezweifelt.
Der archäologische Befund ist uneindeutig. Einerseits zeichnet sich eine deutliche Kontinuität in der materiellen Kultur von der luwischen bis in die eindeutig lydische Zeit ab, andererseits finden sich im 12. Jh. v. Chr. erhebliche Zerstörungen und ein Wechsel des Machtzentrums von den vier Zitadellen des Gygischen Sees hin zur Akropolis von Sardes am Tmolos. Die Reste dieser Stadt liegen etwa zehn Kilometer westlich vom heutigen Salihli in der westtürkischen Provinz Manisa. Der Befund deutet ebenfalls darauf hin, dass die dominante Sprache in der Zeit vor Gyges und nach dem Zusammenbruch des Hethiterreiches das Lydische war, die von Homer als Maionier bezeichneten Menschen also Träger der lydischen und nicht der luwischen Sprache waren.
Der linguistische Befund weist darauf hin, dass die lydische Sprache einerseits eng mit den indogermanischen Sprachen Luwisch und besonders Hethitisch verwandt ist, aber andererseits auch klar distinkt ist. Vor dem 12. Jh. waren die Träger dieser Sprache anscheinend im nordwestlichen Raum Anatoliens ansässig. Hinsichtlich der Herrschernamen spricht einiges für eine Nähe zu den Hethitern: Sadyattes, Alyattes u. a. nutzen denselben Stamm wie Madduwatta, der Hethitervasall. Allerdings gibt es eine gewisse Kontinuität luwischer Namen hinsichtlich der Bezeichnung der Landmarken. Beekes setzt sich plausibel dafür ein, dass das Wort für „lydisch“ vom Wort für „luwisch“ abgeleitet ist.
Der genetische Befund weist darauf hin, dass die Bewohner des Seha-Flusslands des 3. Jahrtausends v. Chr. eng mit den späteren Lydern verwandt waren. Daraus lässt sich folgende Hypothese ableiten: Zur Zeit der Hethiterherrschaft lebten die Träger der lydischen Sprache (Prälyder) im Nordwesten Anatoliens, während im Hermos-Tal, am Gygischen See und dem Tmolos Träger der luwischen Sprache (Luwier) lebten. Etwa zeitgleich mit dem Zerfall der Hethiterherrschaft wanderten die Phryger in Kleinasien ein und drängten die Prälyder in den Süden ab, wo sie sich besonders am Tmolos festsetzten. Die im griechischen Raum als Maionier bekannten Prälyder errichteten vermutlich im 12. Jh. eine Herrschaft über die epichoren Luwier, die jedoch nicht besonders fest war. Üblicherweise wird hier der Beginn der frühlydischen Periode angesetzt. Bis zum Auftreten des Gyges waren die Luwier und Maionier dann weitgehend zu Lydern verschmolzen.Indes ist die von Josef Keil für unentscheidbar gehaltene Frage, ob die Lyder ein Stamm der Phryger waren, wohl entschieden: Schon Pedley war hinsichtlich dieser These sehr skeptisch, in der aktuellen Forschung spielt sie keine Rolle mehr.
Mittellydische Periode (etwa 7. Jh. bis 547 oder 545 v. Chr.)
Erst mit Gyges (etwa 680 bis 644 v. Chr.) werden die Lyder in historischen Quellen fassbar. Seine Historizität wird sicher vom Rassamzylinder belegt, auch die seiner Usurpation ist kaum zu bezweifeln. Ob es sich dabei um eine Palastrevolte oder um einen „regelrechten Bürgerkrieg“ handelte, ist für die aktuelle Mehrheitsmeinung der Forschung nicht zu entscheiden, da es recht widersprüchliche Berichte gibt, die zum Teil kaum glaubwürdig sind (bei Platon nutzt Gyges einen unsichtbar machenden Ring). Gelegentlich wird ein Aufstand gegen eine maionische Fremdherrschaft angenommen. Gyges ist vielfach mit dem Abwehrkampf gegen die eindringenden Kimmerer verknüpft – anfangs wurden Erfolge erzielt: Gyges schickte um das Jahr 664 v. Chr. kimmerische Gefangene als Geschenk an den Hof des Assyrerkönigs Assurbanipal, wohl um ein Verteidigungsbündnis zu schmieden. Da der Assyrerkönig aber keine Verbündeten, sondern Untertanen wollte, scheiterte Gyges. Nichtsdestoweniger führte Gyges Krieg gegen einige anatolische Griechenstädte, wobei er wohl an Milet und Smyrna scheiterte, aber die Troas weitgehend unter lydische Kontrolle brachte, und unterstützte den Unabhängigkeitskampf des ägyptischen Pharaos Psammetich I. mit einem Söldnerkontingent. Er starb um das Jahr 644 v. Chr. bei der vergeblichen Verteidigung von Sardes gegen die Kimmerer. Die erheblichen Veränderungen zu Gyges’ Zeit wurden von Dolores Hegyi herausgearbeitet.
Die beiden Nachfolger Ardys (etwa 644 bis 625 v. Chr.) und Sadyattes (etwa 625 bis 600 v. Chr.) werden kaum erwähnt. Sie führten weiterhin Krieg gegen die Kimmerer und Milet, wobei Lydien unter Ardys wohl ein Vasallenkönigreich der Assyrer war.
Darauf folgte Alyattes (605 bis 561 v. Chr.), der möglicherweise erfolgreichste Lyderkönig. Unter ihm wurden die Kimmerer endgültig besiegt, und er erzielte Erfolge gegen die kleinasiatischen Griechen, wozu vor allem die Eroberung Smyrnas gehörte. Es gelang ihm vermutlich nicht, Milet zu erobern, wohl aber es in sein Machtsystem einzubinden. Zudem erweiterte er nach harten Kämpfen gegen die Meder sein Reich im Osten bis zum Halys. Ihm wird auch die Einführung des Münzgeldes zugeschrieben, was die Wirtschaft zum Erblühen brachte. Monumentalbauten, zu denen nicht zuletzt sein eigener Grabhügel gehörte, unterstreichen die Machtfülle des Lyderkönigs.
Der letzte lydische König ist der bekannteste: Kroisos (etwa 561 bis 547 v. Chr.) ist als Krösus sprichwörtlich für Reichtum geworden. Dazu dürfte der Umstand geführt haben, dass die lydischen Goldmünzen in der griechischen Welt als „Kroiseids“ bekannt waren und selbst nach Kroisos’ Tod für etwa 30 Jahre die Standardwährung in der Ägäis blieben. Er hat im Wesentlichen die Politik der Dynastie fortgeführt. Dazu gehörte der Krieg gegen anatolische Griechenstädte mit der Eroberung von Ephesos und die generelle Konsolidierung der Herrschaft im Westen Kleinasiens. Nachdem der Perser Kyros II. die Meder unter König Astyages unterworfen hatte, begann Kroisos mit Unterstützung eines – antiken Berichten nach zweideutig formulierten – Orakels aus Delphi den Krieg gegen das Perserreich. Die Motivation ist unklar, doch der Umstand, dass sein Schwager Astyages gerade einem Aggressor erlegen war, könnte eine erhebliche Rolle gespielt haben. Nach anfänglichen Erfolgen, wozu die Zerstörung der Stadt Ptera gehört, kam es zu einer großen Feldschlacht zwischen Lydern und Persern, die kein klares Ergebnis brachte. Kroisos zog sich nach Lydien zurück und entließ seine Söldner und Bundesgenossen entsprechend den Gepflogenheiten jener Zeit im Winter, doch Kyros nutzte die Gelegenheit, setzte nach und stellte Kroisos, der nur noch ein minimales Heer aufbringen konnte, vor Sardes. Vermutlich wurde Kroisos entgegen den Berichten über eine himmlische Rettung von Kyros hingerichtet.
Spätlydische Periode (etwa 547 bis 217 v. Chr.)
Nach der Eroberung durch Kyros den Großen wurde Lydien zur persischen Satrapie Sparda (persisch für Sardes). Die Lyder scheinen sich mit der Perserherrschaft schnell abgefunden zu haben: Unter dem noch von Kyros selbst als Schatzmeister eingesetzten Paktyes kam es zu einem erfolglosen Aufstand, dann blieb es ruhig. Nichtsdestoweniger war es Schauplatz wichtiger Ereignisse, was sich vor allem aus dem Status der „Frontstadt“ ergab: Es wurde von den Persern als westlichste Provinz und damit als Grenze nach Griechenland hin gesehen. So wurde Sardes Ziel griechischer Heereszüge – während des Ionischen Aufstands (500 bis 494 v. Chr.) und des Zuges des spartanischen Königs Agesilaos (396 bis 394 v. Chr.) – und diente als Aufmarschgebiet für persische Heereszüge – im Vorfeld des Griechenlandfeldzuges von Xerxes (480 v. Chr.) und des Aufstandes von Kyros dem Jüngeren (401 v. Chr.). Aber auch der von den Persern vermittelte Königsfrieden zwischen Sparta und ihren griechischen Feinden wurde 387/6 v. Chr. in Sardes unterzeichnet. Wie tiefgreifend die Änderungen in der Verwaltung Lydiens waren, ist Gegenstand der Forschungsdiskussion: Duisinberre geht von erheblichen Veränderungen wie einem neuen Steuersystem aus, Roosevelt von eher geringfügigen – es wäre nur die Elite durch Perser ergänzt worden.
Nach der Schlacht am Granikos 334 v. Chr. ergaben sich der persische Garnisonskommandant Mithrenes und die lydische Elite umstandslos Alexander dem Großen. Während des Hellenismus blieben Sardes und Lydien an Kriegen beteiligt. Nach einer kurzen Zeit von Herrschaftswechseln (319 v. Chr. zu Antigonos I. Monophthalmos, 301 v. Chr. zu Lysimachos) gelangte es 281 v. Chr. zur seleukidischen Machtsphäre, wo es trotz mehrerer Eroberungsversuche des Achaios (220–214) bis 188 v. Chr. verblieb. Die in der Schlacht bei Magnesia siegreichen Römer übergaben es dann den Attaliden, deren Dynastie und Herrschaft 133 v. Chr. endete.
Zwar gewährte Alexander den Lydern ein Leben nach althergebrachten Sitten, doch die Hellenisierung nahm erheblich zu: Spätestens 213 v. Chr. wurde Sardes als Polis mit Gerusia, Volksversammlung und griechischen Ämtern organisiert sowie typisch griechische Einrichtungen wie ein Theater und ein Gymnasium erbaut; zudem wurden keine Inschriften in lydischer Sprache angefertigt. Als Kultur waren die Lyder im fortgeschrittenen 3. Jh. v. Chr. in der hellenistischen aufgegangen. Ratté stellt heraus, dass nach der Plünderung von Sardis 217 v. Chr. durch Antiochos III. und dem Wiederaufbau die Einwohner zwar ihre Sprache und Sitten ersetzt hatten und sich selbst als Griechen dachten, die Stadt aber dennoch in mancherlei Hinsicht fest mit der glorreichen Vergangenheit verwurzelt war. Sicherlich endete die Lydische Periode mit dem Ende des lydischen Selbstbewusstseins.
Postlydische Zeit (fortgeschrittenes 3. Jh. v. Chr. und später)
In der Spätphase des Hellenismus zeigte das Römische Reich einige Aktivität im vormals lydischen Raum: Nach dem Sieg über Antiochos III. wurden in Sardes Verhandlungen mit den Seleukiden geführt, wie auch später mit den Galatern. Mit dem Sieg über die Seleukiden blieb es in Kleinasien lange Zeit ruhig. Als mit dem Tod des Attalos III. die Attalidendynastie 133 v. Chr. endete, vermachte der Herrscher sein Reich – und damit das ehedem lydische Gebiet – den Römern. Diese entließen Sardes und andere lydische Städte in die Unabhängigkeit, wobei sie fest ins römische Amicitia-System eingebunden wurden. Trotz des Umstandes, dass die lydischen Städte relativ unberührt von der Vesper von Ephesos (88 v. Chr.) und dem 1. Mithridatischen Krieg (89 bis 84 v. Chr.) blieben, wurde das Gebiet im Rahmen der Neuordnung Kleinasiens (84 v. Chr.) durch Sulla zum Teil der Provinz Asia. Als kaisertreue Stadt erlebte Sardes nach einem großen Erdbeben (17 n. Chr.) noch einmal eine Blüte, da erhebliche Mittel für den Wiederaufbau der Stadt verwendet wurden: Es blieb für lange Zeit eine große, wirtschaftlich bedeutende Stadt, spielte aber weder im politischen noch im militärischen Rahmen eine Rolle. Im Zuge der diokletianischen Provinzreform im Jahr 297 n. Chr. entstand wieder eine Provinz Lydia, die allerdings nur noch aus dem knapp erweiterten Hermos-Tal, dem Herzen der lydischen Kultur, bestand. Sie blieb Teil von Ostrom bzw. des byzantinischen Reiches, wobei Sardes und das Umland 616/617 n. Chr. massive Zerstörungen durch die Truppen des Sassaniden Chosrau II. erlitten. Danach blieb Sardes eine kleine Burg, bis Timur sie 1402 endgültig zerstörte.
Gesellschaft
Gesellschaftsstruktur
Generell wird eine dem mittelalterlichen Feudalismus ähnelnde Struktur angenommen. Mindestens in der mittellydischen Periode, vermutlich schon früher, lassen sich fünf Gruppen ausmachen: das Haus des Königs, die Elite (Adel und Priester), die Mittelschicht (Krämer, Händler, Handwerker), Arbeiter (freie oder an Güter der Elite gebundene halbfreie) und Sklaven. Weitere Untergliederungen sind sehr unklar; aus den Namen kann man auf aus alter Zeit bestehende 'Stammesstrukturen' schließen. Unklar bleibt, wie weit die lydische Elite in der spätlydischen Periode durch Perser ersetzt wurde. Als sicher gilt, dass die mächtigsten Männer durch den Satrapen ersetzt wurden, für Lyder allerdings die Möglichkeit zu einer gewissen Karriere im persischen Herrschaftssystem bestand. Ob Verwaltung und Besitz generell in lydischer Hand blieben oder ganze Landstriche an persische ‚Herzöge’ und ‚Ritter’ verliehen wurden, bleibt Gegenstand der Diskussion.
Militär
Die griechische Überlieferung zeichnet die Lyder als verweichlichte Barbaren, doch dieses Bild entstand erst, nachdem Lydien persische Satrapie geworden war. In der früh- bis mittellydischen Zeit und wohl auch später stellte der Adel eine schon im 6. Jh. v. Chr. militärisch unnütze Streitwagentruppe und eine gefürchtete Reiterei. In mittellydischer Zeit wurde die lydische Infanterie mit griechischen und karischen Söldnern aufgestockt. Die Bewaffnung der lydischen Soldaten war der der griechischen wohl generell ähnlich. Anhand zweier Skelette von lydischen Soldaten, die bei der Eroberung von Sardes durch die Perser gefallen waren, kann man ablesen, dass schwere Schilde und Helme verwendet wurden. Als Waffen sind kurze Säbel, Kriegssicheln, Schleudern sowie Pfeil und Bogen nachgewiesen. Aus den anhaltenden und letztlich militärisch erfolglosen Feldzügen der Lyder vor allem gegen Milet lässt sich leicht die geringe Entwicklung des lydischen Belagerungswesens ableiten. Andererseits konnte Sardes hinsichtlich der Stärke der Verteidigungsanlagen mit den größten orientalischen Städten mithalten und war allen griechischen Städten seiner Zeit überlegen.
Wirtschaft
Ressourcen
Der Name Lydien wurde schon in der Antike mit Reichtum verknüpft. Zumeist wird in herausgehobener Position erwähnt, dass der Paktolos Gold aus dem Tmolos herausspült, welches zum Reichtum der Lyder geführt hätte. Die Ansicht wurde noch ins 20. Jh. hineingetragen, in den letzten Jahren allerdings zunehmend relativiert. Tatsächlich war Lydien in wirtschaftlicher Hinsicht gut positioniert. Da waren zunächst die Böden, mit denen sich zusammen mit dem milden Klima sehr gute landwirtschaftliche Erträge erzielen ließen. Auch das unkultivierte Land bot viele Weidegründe und jagdbare Tiere, sowie Wälder, die Feuer- und Bauhölzer lieferten. Zudem fanden sich neben dem Gold des Tmolos (wie neuere Forschung ergab, handelte es sich tatsächlich um Gold und nicht um Elektron, wie lange Zeit angenommen wurde) Eisen-, Kupfer-, Blei- und für die Textilfärberei geeignete Mineralstoffvorkommen; weiterhin gab es Marmor, Kalkstein, Jaspis und eine Art Onyx, die nach der Stadt Sardes „Sardonyx“ genannt wurde. Zuletzt ist noch die geostrategisch günstige Lage zu erwähnen: Lydien lag quasi vermittelnd auf der Landroute zwischen dem anatolischen Hochland und den Häfen der Ägäis.
Ackerbau und Viehzucht
Hinsichtlich der Landwirtschaft unterschied sich Lydien nicht wesentlich von den meisten griechischen Städten. Neben Getreide, Hülsenfrüchten, Kürbissen und Oliven wurde ein sehr beliebter Wein angebaut; rötliche Feigen wurden in der Antike „lydische Feigen“ und Maronen, „sardische Eicheln“ genannt. In der Tierhaltung spielten Schafe wegen ihrer Wolle eine große Rolle. Ähnliches galt für die Pferdezucht, aber ob hier bloß das Prestige reflektiert wurde oder ob sie tatsächlich quantitativ einen größeren Stellenwert als die Rinder- und Ziegenhaltung innehielt, bleibt unklar.
Keramik, Textilien und Luxusartikel
Keramik wurde im erheblichen Maß in Lydien produziert, sie war teilweise sogar von hoher Qualität. Außerhalb Lydiens kam ihr allerdings wenig Bedeutung zu, sieht man von dem „Lydion“, einem Gefäß für Duftsalben, ab. Griechische Keramik wurde dagegen schon seit dem 9. Jh. importiert. Infolgedessen brachte die lydische Keramikproduktion vielfach fremde Einflüsse zum Ausdruck. In der postlydischen Zeit verschwanden lydische Eigenarten sehr schnell und die Produkte unterschieden sich nicht mehr von den griechischen. Im Gegensatz zur Keramikproduktion der Lyder war ihre Textilproduktion weithin berühmt. Anscheinend waren lydische Teppiche am persischen Hof beliebt, im griechischen Raum die Chitone, in die Goldfäden eingewoben wurden, und Sappho schwärmte für bunte Tücher (wohl Mitren) und schmiegsame Stiefel. Eher berüchtigt waren die Sandykes, dünne, fleischfarbene Chitone, die lydische Frauen in den Augen von Griechen nackt erscheinen ließen. Gelegentlich wurden diese Dinge zu den Luxusartikeln gezählt. Zweifelsohne gehörten die aus Bakkaris und Brenthon gewonnenen Duftsalben dazu, wie auch die vor allem aus Gold, Elektron und Silber hergestellten Schmuckstücke, wie Diademe mit Rosetten- oder Tiermotiven, Ohrringe, Anstecknadeln oder Siegel. Das lydische Handwerk war nicht nur für die Textilfärberei, sondern auch besonders für das Färben von Elfenbein berühmt.
Handel
Zum wirtschaftlichen Wohlstand hat der erhebliche Warenverkehr ebenfalls beigetragen. So schreibt Herodot den Lydern die Erfindung des Kleinhandels zu – anscheinend wurden viele Waren zentral in Sardes produziert und dann von den „Kapeloi“, einer Art Hausierer, auf dem Land verteilt. Möglicherweise waren sie auch die ersten, die als Ladenbesitzer Töpferwaren usw. verkauften. Herodot hält die Lyder ebenfalls für die ersten Gastwirte – vielleicht sind hiermit Karawansereibetreiber gemeint. Anscheinend wurde nur die Förderung und Produktion von Metallen kontrolliert, zunächst vom lydischen Königshaus, später von durch den Satrapen beauftragten lydischen Adligen. Bekanntestes Beispiel dürfte die Förderung des Elektrons und die Prägung der lydischen Münzen sein. Die Verarbeitung von Bronze, Kupfer und Eisen stand wohl unter ähnlicher Kontrolle. Möglicherweise war die Steinmetzarbeit ursprünglich ebenfalls in königlicher oder adliger Hand; jedenfalls wird die Produktion von Alyattes und Kroisos stark gefördert. Abschließend kommt Hanfmann bei einem Vergleich zwischen den Städten Gordion und Sardes zum Schluss, dass Sardes sich von Gordion vor allem durch die lebendigen Handels- und Handwerksviertel unterscheidet. Insgesamt zeichnet sich eine prosperierende, kosmopolitische Gesellschaft ab. Mindestens zu Alyattes’ und Kroisos’ Zeit war Sardis wohl die wohlhabendste Stadt Westanatoliens und dessen wichtigste Drehscheibe bezüglich des Handels – es finden sich neben zahlreichen griechischen Erzeugnissen u. a. Produkte aus Phoinikien und Assyrien in Sardes.
Münzen
Im 7. Jahrhundert v. Chr. wurden die ersten Münzen als Zahlungsmittel herausgegeben, die die ältesten Münzfunde im Mittelmeerraum darstellen. Die Münzerfindung ließ den Handel des Landes erblühen.
Die Lyder prägten zunächst Elektron und später Goldmünzen mit Löwenköpfen bzw. Löwen- und Stierköpfen. Schon in der Antike wurde ihnen die Erfindung der Münzprägung zugeschrieben. Tatsächlich spricht einiges dafür: Zumindest die ältesten Goldmünzen sind eindeutig lydisch – in der griechischen Welt heißen sie nach dem letzten lydischen König Kroisos „Kroiseids“ und wurden selbst nach seiner Hinrichtung weitergeprägt. Alle älteren Münzen wurden aus Elektron geprägt – eine Verbindung zu Lydiens Elektron-Staub führenden Paktolos liegt nahe. Weiterhin finden sich auf einigen der ältesten Münzen lydische Buchstaben. Schließlich spricht auch das hohe Ansehen von lydischen Münzen und dem Standort Sardes als Münzstätte dafür: Sie wurden in der Ägäis als Standardwährung verwendet und für ca. 30 Jahre blieb die Löwe-und-Stier-Motivik bestehen, auch wenn die künstlerische Ausprägung sich wandelte (sie wurde stilisierter, metallisch-härter, vermutlich aufgrund der für die Massenproduktion benötigten klareren Linien). Auch blieb Sardes noch lange Zeit – durch die Perserzeit, den Hellenismus bis in die römische Zeit – eine Münzstätte. Christopher Howgego hingegen stellt diese These in Frage: Da Münzen sich einerseits besonders schnell im griechischen Raum ausbreiteten, andererseits die ältesten Münzen in einer griechischen Stadt – Ephesos – gefunden wurden. Indes scheint ihm die Behauptung, es sei ein rein griechisches Phänomen, den Umstand außer Acht zu lassen, dass es im lydisch-griechischen Raum entstand. Weiterhin lasse sich die These, die Münzen seien zur Finanzierung von Söldnern geprägt worden, wie sie u. a. von Hanfmann vertreten wurde, kaum untermauern. Dass das in Sardes praktizierte Raffinieren von Gold und Silber vermittels Zementation des Elektrons und darauf folgender Kupellation eine Folge der gestiegenen Anforderungen des Münzwesens war, scheint gesichert zu sein.
Religion
Überblick
Die lydische Religion ist polytheistisch, wobei besonders ab der spätlydischen Epoche nicht immer klar ist, wie weit von lydischer Religion gesprochen werden kann, denn einerseits kam es zu erheblichen Synkretismus mit griechischen Göttern, weiter wurden viele griechische Götter übernommen und andererseits gehen seit der späteren Zeit viele Zeugnisse auf die sich rasant durchsetzende hellenistische Kultur zurück.
Die zentrale Göttin war Kybele bzw. Kuvava, die eng mit der phrygischen Kybele bzw. Matar verknüpft ist. Sie wird zumeist als Frauenfigur mit Löwenbegleitern dargestellt.
Artemis erhielt ebenfalls große Verehrung, zum Beispiel von Kroisos. Die sardische Artemis war zudem eng mit der ephesischen Artemis verknüpft. Weiterhin wurde Kore verehrt, die später mit Persephone identifiziert wurde; hier gibt es nur wenige materielle Überreste der Verehrung. Ob sie schon in der mittellydischen Epoche verehrt wurde, kann nicht eindeutig geklärt werden.
Die Verehrung männlicher Götter hat weniger Überreste hinterlassen. Levs/Lefs („Zeus“) scheint der zentrale männliche Gott gewesen zu sein – seinen Namen findet man am häufigsten. Dargestellt wird er zumeist als Männerfigur, die einen Adler und einen Szepter hält. Möglicherweise wurde er als „Zeus der Stadtbeschützer“ zusammen mit Artemis in ihren Tempel verehrt – ob schon in mittellydischer Zeit ist wiederum unklar. Bacchus/Dionysos wird mit dem lydischen Baki- identifiziert; textliche Hinweise und Satyrenbilder in Sardes machen einen aktiven Kult sehr wahrscheinlich. Außerdem wird Lydien in Euripides’ Theaterstück „Die Bakchen“ als Geburtsort genannt, zudem gibt es römische Münzen, die auf diese Vorstellung hindeuten.
Apollon und „qldans“
Die Opfer der lydischen Könige in Delphi belegen eindeutig, dass Apollon verehrt wurde – ob es allerdings Kultstätten in Lydien selbst gab, ist wiederum unklar, aber wahrscheinlich. Olof August Danielsson las den Götternamen „+ldans“ als "pldans"und identifizierte diesen Gott mit Apollon, was lange Zeit unbestritten war. Seit Alfred Heubecks Argument gegen diese Lesart ist man skeptischer: Seither wird der Göttername als „qldans“ gelesen. Er schlägt eine Identifizierung mit einem Mondgott vor. Gelegentlich wird „qldans“ immer noch mit Apollo identifiziert.
Hermes, Kandaules und das „puppy dinner“
Hermes wird über ein Gedicht des Hipponax mit Kandaules in Verbindung gebracht. Kandaules war anscheinend ein lydischer Gott oder Halbgott, der mit Diebstahl bzw. Raub verknüpft war. Der Beiname „Hundewürger“ verweist außerdem auf das „puppy dinner“, die Opferung von Hundewelpen im Rahmen einer rituellen Mahlzeit. Es gibt Hinweise darauf, dass diese Art des Opfers sich in veränderter Form bis in die hellenistische Zeit gehalten hatte. Anscheinend war der Kult des Kandaules eng mit der Heraklidendynastie verknüpft, denn nach dem Wechsel zur Mermnadendynastie finden sich beim lydischen Adel keine Hinweise mehr, stattdessen nehmen die Hinweise auf den Kult der Artemis zu. Passender Weise hieß der letzte Heraklidenkönig Kandaules.
Verwurzelung des Glaubens
Josef Keil teilte die in Lydien praktizierten Kulte in verschiedene Schichten ein, die einander beeinflussten, indem sie z. T. miteinander verschmolzen, z. T. einander verdrängten, z. T. aber auch nebeneinander bestanden. Schon er hielt fest, dass Anatolien zwar wie eine geschlossene Einheit aussehe, es aber einige Korridore zwischen Europa und Levante gebe, die erheblich den Einfluss ihrer großen Nachbarn ausgesetzt waren, und abgelegene, schwer zugängliche Regionen, in denen sich epichore Eigenheiten viel länger hielten. Keil kommt zum Schluss, dass von 354 Inschriften heidnischer Verehrung, von denen die überwiegende Mehrheit immerhin aus römischer Zeit stammt, ganze 112 altanatolischen Gottheiten gewidmet sind – ein handfester Beleg für die enorme Verwurzelung dieser Gottheiten in der Lebenswirklichkeit der Menschen der lydischen Region. Diese grundlegende Studie wurde verschiedentlich erweitert. Wenig überraschend findet sich in den lydischen Inschriften, die überwiegend aus dem 5. und 4. Jh. v. Chr. stammen, eine erhebliche Mehrheit von anatolischen Götternamen. Außerdem betraf die Hellenisierung mehr die Städte und weniger das Land: Dort finden sich Hinweise auf entsprechende Rituale bis ins 5. Jh. n. Chr. María Paz de Hoz geht von den bestehenden Ergebnissen aus, aktualisiert sie entsprechend dem Forschungsstand und lieferte so gut achtzig Jahre nach Keil eine Gesamtschau. So lässt sich die religiöse Praxis in Lydien hinsichtlich regionaler Unterschiede differenzieren: a) in den nordwestlichen Bereich, b) den nordöstlichen Bereich, c) den mittleren Abschnitt von West nach Ost und d) das Kaystrostal. Während das Zentrum und das Kaystrostal fruchtbare Gebiete waren, die besonders in der Seleukidenzeit urbanisiert wurden, war der östliche Teil als Vorstufe des anatolischen Hochlandes eher schwieriges Gelände; dort war der griechische Einfluss lange Zeit gering. Es lässt sich zeigen, dass im hellenisierten Westen die Kulte ebenfalls hellenisiert wurden und die Inschriften eher von profanem, auf Außenwirkung bedachten Charakter waren, die im Osten dagegen sehr viel traditionellere Formen wählten und eher von privater Frömmigkeit geprägt waren. Es fällt auf, dass sich die Gesamtzahl der epigraphischen Quellen mit 800 mehr als verdoppelt hat; dabei wuchs die Anzahl der Nennungen anatolischer Gottheiten mit Abstand am stärksten an – von 112 auf 565 – während die der griechischen Götter kaum anwuchs – von 117 auf 159. Daraus lässt sich schließen, dass die anderen in Lydien herrschenden Völker kaum Spuren in der lydischen Kultpraxis hinterließen und erst das Christentum die traditionellen Kulte in Ostlydien in der Spätantike zu verdrängen begann. Dagegen geht Dusinberre von einem erheblichen Synkretismus zwischen altanatolischen und persischen Götterkulten in der spätlydischen Epoche aus.
Kultstätten
Es wurden materielle Überreste zweier Tempel in Sardes gefunden, dem Artemis-Tempel und dem Kybele-Tempel; beide lagen außerhalb der Stadtmauer am Paktolos. Der Artemis-Tempel besitzt ein Stufen-Fundament, wie es von persischen Gräbern bekannt ist, die Wände etc. sind dagegen klar von ostgriechischen Strukturen beeinflusst. Hier liegt vielleicht ein Fall von Synkretismus vor. In Sardes ist ebenfalls ein der Kybele geweihter Altar nachgewiesen. Dieser war in der mittellydischen Epoche Teil der Gold-Raffinerie, die vermutlich während der Achaimenidenherrschaft stillgelegt wurde. Hieran anschließend wurde der Tempel überarbeitet und in einen persischen Feuertempel umgewandelt. Außerdem wurde Kybele als Metroon, als göttliche Mutter, in einem weiteren Tempel verehrt. Es gab weitere heilige Orte und Kultstätten außerhalb von Sardes. Der Gygische See war mit dem Kult der Kybele verknüpft; Eindeutiges lässt sich allerdings nicht sagen. Ebenfalls mit diesem See verknüpft ist der Kult der Artemis Koloene (lyd. kulumsis). Weitere Kultstätten dürften Gipfel von Hügeln oder Bergen gewesen sein. Eine besondere Beachtung erhielt die Stadt Hypaipa, in der der Kult der persischen Artemis (Artemis Anaitis) praktiziert wurde; anscheinend verband Sardes und Hypaipa eine heilige Straße. Ein weiteres persisches Heiligtum befand sich in Hierakome. Eine wichtige Kultstätte war die monumentale Figur hethitischen Ursprungs am Fuße des Bergs Sipylos, die in lydischer Zeit als Abbild der Kybele gewertet wurde. Zeus scheint dagegen einerseits auf dem Berg Karios und andererseits in Dioshieron verehrt worden zu sein.
Kunst
Bildende Kunst
Die überwiegende Mehrheit von Zeugnissen der lydischen Kunst entstammen der Bildenden Kunst, wozu neben Werken der Malerei, Bildhauerei und Architektur auch Schmuck zu rechnen ist.
Die Malerei findet Ausdruck in Wandgemälden und Keramiken; es wurden auch Reliefs und Statuen bemalt. Bei den Wandgemälden ist die Quellenlage sehr dünn. Die Überreste finden sich in lydischen Tumulus-Gräbern und stellen daher wohl Szenen aus dem Leben des Toten oder Vorstellungen vom Totenreich dar: Häufige Themen sind Jagd- und Bankett-Szenen. Vom Stil lässt sich wenig erkennen, er ist vermutlich dem in der Ägäis üblichen Stil sehr ähnlich gewesen. Bei den Keramikgefäßen finden sich im Wesentlichen zwei Stilarten: Die meist eher schlichte monochrome oder geometrische anatolische Tradition und die aufwendigere figürliche griechische Tradition, die sich besonders an der orientalisierenden ostgriechischen Tradition orientiert. Anscheinend wurde in der Zeit des Alyattes die Technik zur Herstellung von bemalten Keramikkacheln von den Griechen übernommen. In der mittellydischen und spätlydischen Epoche wurden wohl zunehmend die Häuser mit ihnen dekoriert; hier ist vieles noch sehr unklar.
Die überlieferten Werke der Bildhauerei stammen vor allem aus der spätlydischen Epoche, da es sich vielfach um Grabstelen und Grabreliefs aus dem Umfeld von Tumuli handelt. Die bildlichen Darstellungen zeigen üblicherweise die Verstorbenen beim Bankett. Bei den nicht-figürlichen Darstellungen dominieren Voluten und Palmetten. Daneben gibt es Reliefs aus dem Umfeld von Tempeln und anderen religiös motivierten Darstellungen – sie zeigen zumeist Götter. Es gibt weiterhin zahlreiche freistehende Statuen. Hier gibt es nur sehr wenige anthropomorphe Figuren; wohl wiederum Götterdarstellungen bzw. Darstellungen mythischer Wesen. Allerdings gibt es zahlreiche Statuen, die Tierwesen, häufig Löwen, Löwen-Greife bzw. Sphingen und Adler, darstellen. Eine weitere lydische Eigenheit sind die so genannten Phallosmarker: pilzförmige Stelen, die in der Nähe oder auf Tumuli zu finden sind. Ursprünglich hatte man sie für Phallos-Symbole gehalten, heute ist die Forschung von dieser Idee abgerückt.
Die Architektur wird üblicherweise nicht gerühmt. Prägend ist Herodots Nachricht, die Häuser von Sardes seien mit Stroh gedeckte Hütten. Dagegen sind die eindrucksvollen Monumentalbauten zu halten: Die Stadtmauer von Sardes, die Terrassen von Sardes und die Tumuli gelten als Zeugnisse lydischer Baukunst. Die Stadtmauer war im späten 7. oder frühen 6. Jh. v. Chr. gebaut worden und im Schnitt 15 m hoch und 20 m breit. Die Terrassen waren gewaltige Plattformen aus Kalkstein, die Sardes vermutlich in Ober- und Unterstadt gliederten; wahrscheinlich stand der Palast des Kroisos, das zentrale Verwaltungs- und Repräsentationsgebäude, auf einer solchen Terrasse. Die Tumuli sind Hügelgräber, die vor allem in der spätlydischen Epoche entstanden sind; zunächst waren es vermutlich ausschließlich Königsgräber, später dann allgemein Gräber für die lydische Elite. Es wird spekuliert, ob die erhebliche Zunahme in der frühen Zeit der Perserherrschaft ein Zeichen der kulturellen Abschottung der lydischen Elite war. Herodot vergleicht den großen Tumulus, der später als das Grab des Alyattes identifiziert wurde, mit den großen ägyptischen Pyramiden – tatsächlich ist das Volumen nur unwesentlich geringer. Ebenfalls Beachtung fanden die Begräbnisse in Grabkammern, die direkt in die Felswände der Berge geschlagen wurden; kaum Beachtung dagegen die Steinkisten und direkten Erdbestattungen. Die lydischen Schmuckstücke waren in der Antike weit bekannt und geachtet. Die orientalisch anmutenden Dekorationen (Sphingen, Löwenköpfe) verweisen wohl über griechische Vermittlung auf assyrische und späthethitische Motivik. Ein sehr interessantes Stück ist ein kleiner Elfenbeinkopf, der ein junges Frauengesicht mit mondförmigen Brandmalen auf den Wangen darstellt – wohl eine Sklavin des Mondgottes. Einen beeindruckenden Überblick über die Kunstarbeiten gibt der „Lydische Schatz“, eine Zusammenstellung, die gelegentlich einem Karun Hazineleri, einem reichen Mann der Antike, oder Kroisos zugeordnet wird. Tatsächlich wurde er aus einer Reihe von Tumuli geraubt und gehört daher vermutlich in die spätlydische Epoche. Er besteht aus 363 Objekten und befindet sich heute im Museum von Uşak. Insgesamt lässt sich feststellen, dass die Bildende Kunst der Lyder einen engen Bezug zu religiösen Themen suchte und deutlich von den Kulturen der Umwelt beeinflusst wurde.
Musik
In der lydischen Musik wurden nach den griechischen Quellen vor allem helle, hohe und schrille Töne verwendet. Als Instrumente werden ihnen die paktís, wohl eine Art Harfe oder Lyra, die bárbitos, möglicherweise eine Art tiefere Lyra, die mágadis, vielleicht eine Trommel, eine Flöte oder eher noch eine Lyra, und eine Art Triangel zugeschrieben.
Theater, Dichtung
Hinweise auf diese Künste gibt es nicht.
Kultur
Überblick
Die wichtigsten Nachrichten über die Lebensart der Lyder entstammen den griechischen Quellen. Sie entstanden einerseits in einer Zeit, in der in Griechenland selbst der Adel sich in einer Krise befand, die ganz erheblich mit dem Umgang mit Luxus in Verbindung gebracht wurde (vgl. Athener Luxusgesetze). Von diesem Standpunkt aus wurde besonders der zweifellos im erheblichen Ausmaß vorhandene Luxus der Lyder reflektiert: z. T. wurde eine „lydische Mode“ ausgelebt, ein begehrter Maler Athens hieß „der Lyder“ und ein Adliger nannte seinen Sohn „Kroisos“, z. T. wurde heftige Kritik geübt; einen Höhepunkt findet sie in der Geschichte, der Lyderkönig Kambles habe eines Nachts in seiner Freßgier seine Frau geschlachtet und aufgegessen. Andererseits stammten einige Quellen aus der späteren Zeit, in der Herodots Diktum, der Perserkönig Kyros II. habe den Lydern diesen Luxus quasi aufgezwungen, um sie zu verweichlichen, generell übernommen wurde; diese begegnen den lydischen Luxus mindestens tendenziell ablehnend. Dem gegenüber geht Herodots Bemerkung, dass sich die lydischen Sitten kaum von den griechischen unterschieden, weitgehend unter.
Luxus
Es kann als gesichert gelten, dass in Sardes in der Zeit des Alyattes und Kroisos die Elite über einigen Reichtum verfügte und diesen repräsentativ zur Schau stellte. Dazu gehörten Schmuck, Parfüme, aufwendig gefärbte Kleidung, die aber auch so drapiert wurde, dass es einiger Übung bedurfte, um damit elegant gehen zu können, und aufwendig gestaltete Frisuren. Tatsächlich spielte die Produktion von Kosmetika und dazugehörigen Behältern eine so große Rolle, dass man von einem Wirtschaftszweig sprechen kann. Zumindest z. T. ist auch die Pferdeliebhaberei des lydischen Adels im Rahmen des repräsentativen Reichtums zu sehen. In diese Richtung kann auch der Umstand gedeutet werden, dass im spätlydischen Sardes eine mit dem persischen Adel verknüpfte Trinkschale, ursprünglich ein Luxusgefäß aus Gold oder Silber, für die ärmeren Lyder aus Keramik kopiert wurde. Verblüffend ist dagegen die Hartnäckigkeit, mit der zerbrochene Keramiken geflickt oder zweckentfremdet weiterverwendet wurden.
Nahrung
Die Mahlzeiten unterschieden sich in der Grundstruktur wohl nicht wesentlich von denen der Griechen; nach dem archäologischen Befund waren eintopfartige Gerichte möglicherweise beliebter. Einige Berühmtheit erlangte der Eintopf „kandaulos“, der wegen der Namensähnlichkeit mit dem Götternamen Kandaules und dem „puppy dinner“ in Verbindung gebracht wird, auch wenn sicherlich kein Hundefleisch verspeist wurde. Ebenfalls bekannt war eine Art Blutsuppe namens „karyke“. Die lydischen Bäcker wurden von den Griechen ebenfalls sehr gerühmt, ihre Brote wurden vielfach lobend erwähnt. Zum Luxus-Topos passen die Süßspeisen: Es gab Pfannkuchen mit Sesam, Waffeln mit Honig und eine Art Nougat. Ebenfalls geschätzt war der lydische Wein. Becher mit Schank oder Sieb deuten auf Bier oder möglicherweise Met, fermentierte Milch („kumys“), Gerstenwasser oder Kräutertees hin.
Prostitution
Wesentlicher Unterschied zwischen griechischen und lydischen Sitten sei die lydische Tradition, nach der unverheiratete Frauen sich durch Prostitution ihre Mitgift verdienen, berichtet Herodot. Für gewöhnlich wird von der Forschung angenommen, Herodot habe einen Aspekt der Tempelprostitution mit regulärer Prostitution verwechselt. Schon Ludwig Bürchner merkte lakonisch an: „Phallosdienst ist eben Naturdienst.“ Diese Position wird vielfach noch vertreten. Neuerdings wird die Institution der Tempelprostitution jedoch massiv von Tanja Scheer in Frage gestellt.
Weibliche Eunuchen
Wenig behandelt wurde die auf Xanthos zurückgehende Nachricht, die Lyder hätten Frauen zu Eunuchen gemacht und entsprechend gebraucht. Üblicherweise wird es als griechische Rhetorik ignoriert. George Devereux geht der Frage allerdings nach und kommt zum Schluss, dass eine Reinfibulation unwahrscheinlich scheine, aber nicht ausgeschlossen wäre, vermutlich Xanthos aber eine Kauterisation des weiblichen Geschlechtsorgans beschreibe.
Sprache
Die lydische Sprache wird weitgehend aus Inschriften der Zeit von ca. 600 bis ins 4. Jh. v. Chr. rekonstruiert (wobei die älteste Inschrift aus der zweiten Hälfte des 7. Jh. v. Chr. aus Ägypten stammt – sie wurde wohl von einem der Söldner hinterlassen, die Gyges an Pharao Psammetich I. sandte); anscheinend wurde die Sprache bald nach dem Fall des Perserreiches nicht mehr geschrieben. Strabon berichtet, dass zu seiner Zeit Lydisch nur noch in Kibyra gesprochen wurde.
Lydisch gehört zur anatolischen Sprachgruppe der indogermanischen Sprachfamilie. Als sicher gilt die besondere Verbindungen zu den im Norden Kleinasiens gesprochenen Sprachen Hethitisch und Palaisch, eine communis opinio zu den luwischen Idiomen ist jedoch noch nicht erreicht.
Das Alphabet mit sechsundzwanzig Zeichen wurde wohl nach Vorbild des ostgriechischen Alphabets entwickelt, wobei die Zeichen, die ungebrauchte Laute darstellen, mit neuen Lautwerten versehen wurden; für andere benötigte Lautwerte wurden neue Zeichen entwickelt bzw. aus anderen Alphabeten entliehen. Die Schriftrichtung ist bei den meisten Texten linksläufig, seltener rechtsläufig oder bustrophedon. Die Worte sind für gewöhnlich durch einen klaren Zwischenraum voneinander getrennt.
Sonstiges
Der weibliche Vorname Lydia leitet sich von der geographischen Bezeichnung her.
Siehe auch
Liste der Könige von Lydien
Liste der Satrapen in Lydien
Literatur
Lexika
Clive Foss: Lydien. In: Reallexikon für Antike und Christentum. Band 23, Hiersemann, Stuttgart 2010, ISBN 978-3-7772-1013-1, Sp. 739–762.
Übersichtsdarstellungen
George M. A. Hanfmann: Sardis und Lydien (= Abhandlungen der geistes- und sozialwissenschaftlichen Klasse der Akademie der Wissenschaften und der Literatur in Mainz. Jahrgang 1960, Nr. 6). Mainz/Wiesbaden 1960.
John Griffiths Pedley: Sardis in the Age of Croesus (= The Centers of Civilization Series). University of Oklahoma Press, Norman 1968.
Peter Högemann, Norbert Oettinger: Lydien. Ein altanatolischer Staat zwischen Griechenland und dem Vorderen Orient. De Gruyter, Berlin 2018, ISBN 978-3-11-043966-3.
Elmar Schwertheim: Kleinasien in der Antike. Von den Hethitern bis Konstantin. C. H. Beck, München 2005, ISBN 3-406-50848-0, S. 28–32.
Christopher H. Roosevelt: The Archaeology of Lydia. From Gyges to Alexander. Cambridge University Press, Cambridge u. a. 2009, ISBN 978-1-107-62983-7.
Nicholas D. Cahill (Hrsg.): The Lydians and their World. Yapı Kredi Yayınları, Istanbul 2010, ISBN 978-975-08-1746-5 (Digitalisat aller Beiträge).
Christian Marek: Geschichte Kleinasiens in der Antike. 2. Auflage. C. H. Beck, München 2010, ISBN 978-3-406-59853-1, S. 152–159.
Annick Payne, Jorit Wintjes: Lords of Asia Minor. An Introduction to the Lydians. Harrassowitz, Wiesbaden 2016, ISBN 978-3-447-10568-2.
Inschriften
Enno Littmann: Lydian Inscriptions, Part I (= Sardis VI 1). Brill, Leiden 1916 (Digitalisat).
W. H. Buckler u. a.: Lydian Inscriptions, Part II: A Collection of the Texts in Lydian Script Found at Sardis and Elsewhere (= Sardis VI 2). Brill, Leiden 1924 (Digitalisat).
Roberto Gusmani: Neue epichorische Schriftzeugnisse aus Sardis (1958–1971) (= Archaeological Exploration of Sardis, Monographs 3). Cambridge, MA 1975. (Digitalisat).
Tituli Asiae minoris Bd. 5: Tituli Lydiae linguis Graeca et Latina conscripti.
Peter Herrmann: Fasc. 1: Regio septentrionalis ad orientem vergens. Österreichische Akademie der Wissenschaften, Wien 1981, ISBN 3-7001-0394-8.
Peter Herrmann: Fasc. 2: Regio septentrionalis ad occidentem vergens. Österreichische Akademie der Wissenschaften, Wien 1989, ISBN 3-7001-1516-4.
Georg Petzl: Fasc. 3: Philadelpheia et ager philadelphenus. Österreichische Akademie der Wissenschaften, Wien 2007, ISBN 978-3-7001-3736-8.
Weblinks
The Archaeological Exploration of Sardis. Digital Resource Center
Anmerkungen
Antike Geographie (Kleinasien)
Territorium (Alter Orient)
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Q620765
| 121.506534 |
122881
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https://de.wikipedia.org/wiki/Braunalgen
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Braunalgen
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Die Braunalgen (Phaeophyceae) bilden eine eigene Gruppe innerhalb der Stramenopilen (Stramenopiles), einer Untergruppe der Sar. Es handelt sich um meist marine, oft braune Algen mit Generationswechsel.
Ein Kennzeichen dieser fädig oder blattartigen, auf jeden Fall mehrzelligen Algen sind die braunen Fucoxanthin-Farbstoffe, die das grüne Chlorophyll maskieren, also überdecken.
Merkmale
Die Braunalgen sind eine sehr formenreiche Gruppe. Der Habitus reicht von kleinen, verzweigten Zellfäden, Fadenthalli, pseudoparenchymatischen Thalli bis zu komplexen, vielschichtigen, mehrere Meter großen Protoctisten mit Gewebe- und Organdifferenzierung. Die Organe dieser Tange erinnern an Blatt, Achse und Wurzel der Kormophyten und werden in Analogie Phylloid, Cauloid und Rhizoid genannt. Einzeller fehlen bei den Braunalgen.
Plastiden
Die Braunalgen besitzen wie alle heterokonten Algen komplexe Plastiden (auch Chromatophor genannt) ohne Nucleomorph, die durch sekundäre Endosymbiose entstanden sind. Die Photosynthesepigmente sind die der Heterokonten: Chlorophyll a, c1 und c2. Als akzessorische Pigmente sind β-Carotin und die Xanthophylle Fucoxanthin, Diadinoxanthin und Diatoxanthin vorhanden, wobei die beiden letzteren in geringen Mengen auftreten. Meist ist nur ein Chromatophor pro Zelle vorhanden, selten mehrere. Die DNA ist in einem Genophor vom Ring-Typ angeordnet. Das Reservepolysaccharid ist Chrysolaminarin.
Geißeln
Die einzelligen Schwärmer der Braunalgen (Zoosporen und Gameten) weisen die für die Stramenopilen typischen zwei verschieden gestalteten Geißeln ("heterokont") auf. Die Basis der Schleppgeißel ist angeschwollen und dient vielleicht als Photorezeptor. Sie liegt in der Nähe des Augenflecks, eines rotbraunen Flecks im Chromatophor. Die Schleppgeißel hat immer einen dünnen Haarfortsatz am Ende, die Zuggeißel manchmal. Dieses Merkmal tritt nur hier und bei den Xanthophyceae auf.
Zellwand
Die Zellwände der Braunalgen enthalten neben der Zellulose Alginate als strukturgebende Hauptbestandteile. Die Zellulose bildet den fibrillären Anteil, der die Festigkeit der Zellwände gewährleistet. Die Fibrillen sind in eine amorphe, schleimartige Substanz eingebettet, die aus in Wasser kolloidal gelösten Alginaten besteht. Eine zusätzliche Verstärkung erfolgt durch unlösliche Alginat-Gele. Diese für die Braunalgen spezifische Zellwandstruktur ermöglicht gleichzeitig Festigkeit und Flexibilität, um den mechanischen Belastungen durch die Gezeitenströmungen und die Wellenbewegungen standhalten zu können.
Vermehrung
Die Braunalgen vollziehen einen Generationswechsel. Die Meiosporen werden in uniloculären (einkammerigen) Sporocysten gebildet, die Gameten in pluriloculären (vielkammerigen) Gametangien. Der Generationswechsel ist heterophasisch, d. h., es wechseln sich haploide und diploide Generationen ab. Innerhalb der Braunalgen gibt es eine Entwicklungslinie von gleichartigem (isomorphem) Generationswechsel zu einer Reduktion des haploiden Gametophyten: heteromorpher (verschiedengestaltiger) Generationswechsel. Bei den Fucales ist die haploide Generation fast vollständig rückgebildet, sodass sie fast reine Diplonten sind.
Bei den Gameten gibt es eine Entwicklungslinie von gleichgestalteten Gameten (Isogamie) über verschieden große begeißelte Gameten (Anisogamie) bis hin zu unbegeißelten weiblichen Eizellen (Oogamie).
Vorkommen
Die meisten Arten leben im Meer. Es sind nur fünf Gattungen als Süßwasserbewohner bekannt. Die größte Vielfalt entwickeln sie in den gemäßigten und kalten Breiten der Ozeane. Sie leben als Teil des Benthos und sind als Lithophyten an Felsen, Steinen und Ähnlichem festgewachsen. Manche liegen bei Niedrigwasser frei oder wachsen auch epiphytisch auf anderen Algen. In einigen Gebieten, etwa an der amerikanischen Pazifikküste, bilden sie große unterseeische Wälder (Tangwälder). Hier wachsen die riesigen Tange Lessonia, Macrocystis und Nereocystis. Kleinere Formen wachsen auf Steinen, Seepocken, Schnecken und Algen. Manche Arten wachsen sogar endophytisch in größeren Algen.
Systematik
Die Braunalgen sind eine Gruppe der Stramenopilen. Ihre Schwestergruppe dürfte eine Klade bestehend aus Xanthophyceae, Pinguiochrysidales und Phaeothamniophyceae sein.
Das Taxon Phaeophyceae wurde 1891 von mit dem Rang einer Klasse aufgestellt (in: Die natürlichen Pflanzenfamilien, Teil 1, Abteilung 2. (Engler, A. & Prantl, K. Eds), S. 176–181. Engelmann, Leipzig).
Zu den Braunalgen gehören etwa 1850 Arten. Die innere Systematik beruhte zunächst vielfach auf einer Einteilung nach dem Lebenszyklus, befand sich aber durch molekulargenetische Untersuchungen seit etwa 1990 im Umbruch. Adl et al. (2012) gliederten die Phaeophyceae in 19 ranglose Untergruppen (ehemals Ordnungen). Silberfeld & al. (2014) fassten erstmals sämtliche phylogenetischen Forschungsergebnisse in einer neuen Klassifikation zusammen. Danach können die 304 Gattungen der Braunalgen zu vier großen Verwandtschaftsgruppen (Unterklassen) mit 18 Ordnungen gruppiert werden (Artenzahlen nach AlgaeBASE 2014):
Discosporangiophycidae , mit der einzigen Ordnung
Discosporangiales em. , mit 3 Arten
Ishigeophycidae , mit der einzigen Ordnung
Ishigeales , mit 8 Arten
Dictyotophycidae , mit etwa 353 Arten
Dictyotales , mit etwa 244 Arten, beispielsweise:
Trichteralge (Padina pavonica )
Onslowiales , mit 2 Gattungen und 4 Arten:
Sphacelariales , mit etwa 100 Arten
Syringodermatales , mit der einzigen Gattung Syringoderma , mit 5 Arten
Fucophycidae , mit etwa 1477 Arten
Ascoseirales , mit der einzigen Art Ascoseira mirabilis
Asterocladales , mit der einzigen Gattung Asterocladon , mit 3 Arten
Desmarestiales , mit etwa 32 Arten, beispielsweise
Stacheltang (Desmarestia aculeata )
Ectocarpales , mit etwa 695 Arten
Fucales , mit etwa 528 Arten, beispielsweise:
Knotentang (Ascophyllum nodosum )
Fucus
Golftange (Sargassum )
Laminariales , mit 34 Gattungen und etwa 130 Arten, beispielsweise:
Fingertang (Laminaria digitata )
Palmentang (Laminaria hyperborea )
Riesentang (Macrocystis pyrifera )
Japanischer Blatttang (Saccharina japonica )
Zuckertang (Saccharina latissima )
Nemodermatales M. Parente, R. L. Fletcher, F. Rousseau & N. Phillips, mit der einzigen Art Nemoderma tingitanum ex
Phaeosiphoniellales , mit der einzigen Art Phaeosiphoniella cryophila
Ralfsiales ex , mit etwa 34 Arten
Scytothamnales , mit 8 Arten
Sporochnales , mit etwa 30 Arten
Tilopteridales em. et al. (syn. Cutleriales), mit etwa 19 Arten, beispielsweise:
Saccorhiza polyschides
Unklar ist derzeit noch die Zuordnung von 7 Arten der Gattungen Jonssonia, Porterinema, Sorapion und Zosterocarpus.
Nordostatlantische Arten (Auswahl)
Einige häufigere nordostatlantische Arten sind:
Flügeltang (Alaria esculenta )
Knotentang (Ascophyllum nodosum )
Gabelzweigtang (Bifurcaria bifurcata)
Stacheltang (Desmarestia aculeata )
Sägetang (Fucus serratus )
Spiraltang (Fucus spiralis )
Blasentang (Fucus vesiculosus )
Schotentang (Halidrys siliquosa )
Riementang (Himanthalia elongata )
Fingertang (Laminaria digitata )
Palmentang (Laminaria hyperborea )
Rinnentang (Pelvetia canaliculata )
Zuckertang (Saccharina latissima )
Für die in der Deutschen Bucht vorkommenden Braunalgen siehe auch die Liste der Meeresalgen von Helgoland.
Verwendung
Aus Braunalgen werden Alginate gewonnen, die als Gelbildner Verwendung finden. Alginate sind ein Nebenprodukt bei der Gewinnung von Jod aus Meeresalgen im Nassverfahren. Wegen der vielfältigen Anwendungsmöglichkeiten werden Alginate auch direkt für die Verwendung in der Lebensmittel- sowie der Pharma- und Kosmetikindustrie aus den Braunalgen extrahiert. Mit Trawlern werden dafür Braunalgen der Gattungen Macrocystis, Laminaria, Ascophyllum, Sargassum, Ecklonia, Lessonia und Durvillea geerntet.
Einige Arten werden auch gegessen, so Kombu (Saccharina japonica und andere Saccharina-Arten), Wakame (Undaria pinnatifida) und Cochayuyo (Durvillaea antarctica).
Seit dem 17. Jahrhundert wurde Seetang in Frankreich verbrannt, um die Kalzium-, Iod- und Alkali-reiche Asche für die Glas- und Seifenindustrie zu gewinnen. Die steingefassten Brennstellen werden Algenofen oder Kelp-Ofen genannt (von englisch: kelp). 1719 wurde die Algenverbrennung von James Fea auf Orkney eingeführt. Das seichte Küstenwasser und die lange Küstenlinie machen die Nordinseln der Orkney, besonders North Ronaldsay, Sanday und Stronsay, zu idealen Plätzen der Tanggewinnung. Der Tang wurde bei Ebbe von den Felsen geschnitten oder nach Stürmen an Land gesammelt. An der Spitze der Produktion liegend, gewann man in Orkney jährlich mehr als 3.000 Tonnen Tang. Der Kelp-Boom dauerte 50 Jahre, (von 1780 bis 1830). Als in den 1840er Jahren Jod gefragt war, erwachte die Kelp-Industrie noch einmal auf niedrigerem Niveau.
Literatur
Einzelnachweise
Weblinks
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https://de.wikipedia.org/wiki/Hainbuchen
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Hainbuchen
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Die Hainbuchen oder Weißbuchen (Carpinus) sind eine Pflanzengattung innerhalb der Familie der Birkengewächse. Es sind sommergrüne Bäume oder hohe Sträucher der gemäßigten Gebiete der Nordhalbkugel von Europa bis zum Verbreitungsschwerpunkt in Ostasien. Zwei Arten (Carpinus caroliniana und Carpinus tropicalis) kommen in Nord- und Mittelamerika vor. Die einzige in Mitteleuropa heimische Art ist die Gewöhnliche Hainbuche. Trotz ihres Namens sind die Hainbuchen nicht näher mit den Buchen verwandt.
Beschreibung
Die Hainbuchen-Arten sind sommergrüne Bäume oder manchmal Sträucher. Die Rinde ist grau, glatt oder schuppig. Die Zweige sind dünn. Die Knospen sind spitz kegelförmig oder eiförmig und liegen an den Zweigen an, Endknospen fehlen. Die Knospenschuppen sind in vier Längszeilen angeordnet. Die Laubblätter stehen wechselständig in zwei Zeilen. Die Nebenblätter sind hinfällig oder bleiben bis zum Blattabfall erhalten. Die Blattspreite ist einfach und unregelmäßig doppelt oder einfach gesägt. Es werden abhängig von der Art sieben bis 34 Nervenpaare gebildet.
Die Hainbuchen-Arten sind einhäusig getrenntgeschlechtig (monözisch). Die Blütenstände erscheinen mit dem Blattaustrieb. Die männlichen Blütenstände sind hängende, zylindrische Kätzchen mit zahlreichen überlappenden Tragblättern. Sie wachsen an blattlosen oder wenigblättrigen Kurztrieben. Die Blüten wachsen einzeln in den Achseln der eiförmigen Tragblätter. Sie besitzen weder Perigon noch Vorblatt und haben drei bis 12 Staubblätter mit an der Spitze gegabelten Staubfäden und zweikammrigen Staubbeuteln mit getrennten und an der Spitze behaarten Theken. Die weiblichen Blütenstände sind aufrechte und später hängende, behaarte Kätzchen mit fünf bis 20 Blüten an den Enden junger, beblätterter Triebe. Je zwei Blüten wachsen in den Achseln der eiförmigen und hinfälligen Tragblätter. Sie haben ein unscheinbares Perigon und ein eiförmiges oder dreilappiges Vorblatt. Der Fruchtknoten ist zweifächrig, die zwei fadenförmigen Narben sind rot.
Die Früchte wachsen zu mehreren in bis zu 15 Zentimeter langen ährigen Fruchtständen mit 1 bis 4 Zentimeter langen Stielen. Als Früchte werden 3 bis 10 Millimeter lange, eiförmige, mehr oder weniger abgeflachte, längsrippige Nüsse gebildet, die am Grund mit dem eiförmigen oder dreilappigen, deutlich geaderten Vorblatt verwachsen sind. Die Flügel sind stets viel länger als die Nuss.
Die Chromosomengrundzahl beträgt x=8.
Systematik und Verbreitung
Die Hainbuchen (Carpinus) sind eine Gattung der Familie der Birkengewächse (Betulaceae) in der Ordnung der Buchenartigen (Fagales). Innerhalb der Birkengewächse bilden die Hainbuchen zusammen mit den Hopfenbuchen (Ostrya), den Haseln (Corylus) und der Gattung Ostryopsis die Unterfamilie der Haselnussgewächse (Coryloideae), die von manchen Autoren auch als eigene Familie geführt wird. Die Gattung wurde von Carl von Linné in seinem Werk Species Plantarum 1753 erstmals wissenschaftlich gültig beschrieben. Der von ihm gewählte Gattungsname Carpinus stammt aus dem Lateinischen und wurde schon von den Römern für die Hainbuche verwendet.
Die Hainbuchen-Arten sind von Europa bis Ostasien verbreitet, wobei der Verbreitungsschwerpunkt in Ostasien liegt. Eine Art, die Amerikanische Hainbuche (Carpinus caroliniana) ist in Nordamerika heimisch, eine weitere, Carpinus tropicalis, in Mexiko bis Mittelamerika. Nach der Flora of China werden etwa 50 Arten unterschieden, davon sind 33 in China heimisch, 27 davon kommen nur dort vor.
Folgende Arten werden angegeben:
Gewöhnliche Hainbuche (Carpinus betulus ): Das Verbreitungsgebiet reicht von Europa bis zum Iran.
Amerikanische Hainbuche (Carpinus caroliniana ): Mit zwei Unterarten. Die Heimat ist Kanada und die USA.
Carpinus chuniana : Sie kommt in China vor.
Herzblättrige Hainbuche (Carpinus cordata ): Die Heimat ist China, Korea, Japan und das fernöstliche russische Ostasien. Sie kommt in drei Varietäten vor.
Carpinus dayongiana : Die Heimat ist die Provinz Hunan in China.
Carpinus eximia : Die Heimat ist Korea.
Carpinus faginea : Die Heimat ist der westliche und zentrale Himalaja.
Carpinus fangiana : Die Heimat sind die Provinzen Sichuan und Guangxi in China.
Carpinus fargesiana : Die Heimat ist das östliche und zentrale China. Sie kommt in drei Varietäten vor.
Carpinus firmifolia : Die Heimat ist Guizhou in China.
Carpinus hebestroma : Die Heimat ist Taiwan.
Henrys Hainbuche (Carpinus henryana ): Die Heimat ist China. Sie kommt in drei Varietäten vor.
Carpinus insularis : Die Art wurde 2014 aus Hongkong erstbeschrieben.
Japanische Hainbuche (Carpinus japonica ): Die Heimat ist das zentrale und südliche Japan.
Carpinus kawakamii : Die Heimat ist Taiwan und das südöstliche China. Sie kommt in zwei Varietäten vor.
Carpinus kweichowensis : Die Heimat sind die Provinzen Guizhou und Yunnan in China.
Carpinus langaoensis : Sie wurde 2017 aus der chinesischen Provinz Shaanxi erstbeschrieben.
Lockerblütige Hainbuche (Carpinus laxiflora ): Die Heimat ist Japan und Korea.
Carpinus lipoensis : Die Heimat ist die Provinz Guizhou in China.
Carpinus londoniana : Die Heimat ist Thailand, Laos, Myanmar, Vietnam und das südliche China. Sie kommt in vier Varietäten vor.
Carpinus luochengensis : Die Heimat ist das Autonome Gebiet Guangxi in China.
Carpinus mengshanensis : Die Heimat ist die Provinz Shandong in China.
Carpinus microphylla : Die Heimat ist das Autonome Gebiet Guangxi in China.
Carpinus mollicoma : Die Heimat ist Tibet, das südwestliche Sichuan und Yunnan.
Carpinus monbeigiana : Die Heimat ist Tibet bis Yunnan.
Carpinus omeiensis : Die Heimat sind die Provinzen Sichuan und Guizhou in China.
Orientalische Hainbuche (Carpinus orientalis ): Mit zwei Unterarten. Die Heimat ist Südosteuropa, Ungarn, die Krim und von der Türkei bis zum Iran.
Carpinus paohsingensis : Die Heimat ist China.
Carpinus polyneura : Die Heimat ist das südliche China. Sie kommt in drei Varietäten vor.
Carpinus pubescens : Die Heimat ist China und das nördliche Vietnam.
Carpinus purpurinervis : Die Heimat sind die Provinzen Guizhou und Guangxi in China.
Carpinus putoensis : Die Heimat ist die Provinz Zhejiang in China.
Carpinus rankanensis : Die Heimat ist Taiwan. Sie kommt in zwei Varietäten vor.
Carpinus rupestris : Die Heimat sind die Provinzen Yunnan, Guangxi und Guizhou in China.
Carpinus × schuschaensis (= Carpinus betulus × Carpinus orientalis)
Carpinus shensiensis : Die Heimat sind die Provinzen Gansu und Shaanxi in China.
Carpinus shimenensis : Die Heimat ist die Provinz Hunan in China.
Carpinus tibetana : Sie wurde 2018 aus Tibet erstbeschrieben.
Carpinus tientaiensis : Die Heimat ist die Provinz Zhejiang in China.
Carpinus tropicalis : Mit zwei Unterarten. Die Heimat ist Mexiko bis Mittelamerika.
Carpinus tsaiana : Die Heimat sind die Provinzen Yunnan und Guizhou in China.
Tschonoskis Hainbuche (Carpinus tschonoskii , Syn.: Carpinus mianningensis ): Die Heimat ist das südliche China, Korea und Japan.
Turczaninows Hainbuche oder Koreanische Hainbuche (Carpinus turczaninowii , Syn.: Carpinus coreana ): Die Heimat ist China, Korea und Japan.
Carpinus viminea : Die Heimat reicht vom Himalaja bis Korea und dem nördlichen Indochina.
Verwendung
Das Holz der Hainbuchen ist von geringer wirtschaftlicher Bedeutung. Aufgrund der Härte wird es besonders in Europa zur Herstellung von Hammerköpfen, Werkzeugstielen und Schlagzeugsticks verwendet.
Literatur
Andreas Roloff, Andreas Bärtels: Flora der Gehölze. Bestimmung, Eigenschaften und Verwendung. Mit einem Winterschlüssel von Bernd Schulz. 3., korrigierte Auflage. Eugen Ulmer, Stuttgart (Hohenheim) 2008, ISBN 978-3-8001-5614-6, S. 158.
Helmut Genaust: Etymologisches Wörterbuch der botanischen Pflanzennamen. 3., vollständig überarbeitete und erweiterte Auflage. Nikol, Hamburg 2005, ISBN 3-937872-16-7 (Nachdruck von 1996).
Weblinks
Einzelnachweise
Baum
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https://de.wikipedia.org/wiki/Praetur
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Praetur
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Die Praetur (lateinisch praetura; eingedeutscht auch Prätur) war die wichtigste Gerichtsmagistratur in der Römischen Republik. Im Regelfall war es das dritte Amt nach der Quästur und der Ädilität, dies wurde aber erst spät fixiert. Die Amtsinhaber wurden praetores (Prätoren) genannt. Ein Prätor als Inhaber der Praetur übte eines der höheren Ämter der römischen Ämterlaufbahn, des cursus honorum, aus. Ebenso wie das Consulat war die Praetur mit einem imperium ausgestattet, so dass ihre Inhaber auch als Feldherren unter eigenen Auspizien und als Statthalter fungieren konnten. Prätoren wurden während der Zeit der Römischen Republik vom Volk in den Zenturiatskomitien für die Dauer von einem Jahr gewählt, ab der Kaiserzeit vom römischen Senat bestimmt. In der Spätantike bestand die Praetur als reines Ehrenamt fort.
Der Gerichtsmagistrat durfte Rechtsregeln aufstellen und Verfahrensvorschriften (edictum perpetuum) festlegen, allerdings führte er die Prozesse nicht selbst. Seine Aufgabe bestand darin, festzustellen, ob die Rechtsordnung für den Anspruch, den der Kläger erhob, eine Rechtsgrundlage hat. Bejahendenfalls überwies er den Fall mit einer umschreibenden Formel (vgl. Legisaktionenverfahren, Formularprozess) an den streitentscheidenden Richter (iudex), der zusammen mit seinem Beratungsstab, dem consilium, den Fall verhandelte und das Urteil sprach.
In der frühen Neuzeit kam das Amt des Prätoren wieder auf. Ein Prätor war dann stellvertretend mit Aufgaben der Regierung betraut.
Etymologie
Das Substantiv praetor (frühe Form praitor, von praeitor) leitet sich vom lateinischen Verb prae-ire („vorangehen“) ab und bezeichnet im eigentlichen Sinne jemanden, der vorangeht, also einen Anführer oder einen Vorgesetzten. Im Zivilstand bezeichnet der Prätor einen Bürgermeister (beispielsweise in Capua), den Sufet in Karthago oder den obersten Richter in Rom.
Historische Entwicklung
Entstehung
Die Geschichte der frühen Republik liegt weitgehend im Dunkeln, da die römische Geschichtsschreibung erst um 200 v. Chr. einsetzte und man über die Frühzeit nur noch wenig weiß. Daher ist fast kein Punkt in der historischen Forschung unumstritten.
Die späte römische Überlieferung (insbesondere Titus Livius), der die ältere Forschung lange Zeit folgte, berichtet: Nachdem der letzte König Tarquinius Superbus vertrieben worden sei, sei die königliche Gewalt, die dieser lebenslang innegehabt hatte, nunmehr jährlich von den patrizischen Geschlechtshäuptern reihum geführt worden (Annuitätsprinzip). Doch heute gilt als unwahrscheinlich, dass bereits damals, 509 v. Chr., die ersten beiden Konsuln amtierten, wie die Römer später glaubten.
Der neue Träger der alten königlichen Gewalt wurde wahrscheinlich vielmehr praetor maximus genannt. Einen Kollegen und damit das Prinzip der Kollegialität, dürfte es zunächst nicht gegeben haben. Der praetor maximus blieb der höchste Beamte der frühen Republik, bis er wohl in der Mitte des 5. Jahrhunderts v. Chr. von den Konsuln als höchsten Beamten verdrängt wurde. Die genauen Einzelheiten sind, wie vieles in der Geschichte der frühen römischen Republik, aufgrund der unsicheren Quellenlage in der Forschung umstritten. Jochen Bleicken nahm an, die Konsuln hätten den Prätor zunächst nur unterstützen sollen. Da dieser aber insbesondere durch die Rechtspflege stark beansprucht gewesen sei, hätten die Konsuln immer mehr Aufgaben übernommen und die Praetur zuletzt an Bedeutung übertroffen.
Die ursprüngliche Zugehörigkeit des Amtes zum höchsten Kollegium zeigte sich allerdings noch darin, dass der Prätor bis zum Ende der Republik das imperium besaß, also Heerführer sein konnte. Dies war auch der Grund, wieso die Prätoren genau wie die Konsuln von den Zenturiatskomitien gewählt wurden, die das römische Volk in Waffen repräsentierten. Bezeichnend ist zudem, dass die ersten Provinzen, die ab der Mitte des 3. Jahrhunderts v. Chr. im Zuge der römischen Expansion errichtet wurden und deren Verwaltung militärische Unternehmungen einschloss, Beamten unterstellt waren, die ebenfalls den Titel praetor trugen und von den comitia centuriata gewählt wurden.
Republik
Mit dem Inkraftsetzen der leges Liciniae Sextiae im Jahre 367 v. Chr. gab es einen jährlich neu gewählten praetor urbanus (von urbs, „Stadt“, gemeint ist Rom), der für die Gerichtsbarkeit in der Stadt Rom zuständig war. Öffentliche Rechtssachen zu behandeln stand ihm nur im Auftrag des Volkes (lege populi) zu. Er stellte eine vorläufige Untersuchung der Rechtssache an und übergab alles Weitere (cognitio) den Geschworenenrichtern (iudices selecti), bis diese Sache spruchreif wurde, worauf er dann Recht sprach (ius dicere oder iurisdictio). 242 v. Chr. kam der praetor peregrinus („Fremdenprätor“; peregrinus: „Fremder“ oder „Nichtbürger“) hinzu, der in Rechtsstreitigkeiten zwischen römischen Bürgern und Nichtbürgern tätig war.
Zum Kollegium der Prätoren gehörten auch die Statthalter der ersten Provinzen, wobei diese von den Gerichtsprätoren durch den gänzlich anderen Aufgabenbereich und durch die räumliche Trennung vollkommen verschieden waren. Die ersten Statthalter (Provinzialprätoren) wurden 227 v. Chr. für die ersten beiden römischen Provinzen Sizilien und Sardinien, die in beziehungsweise nach dem ersten punischen Krieg erobert wurden, geschaffen. 197 v. Chr. kamen zwei weitere für die beiden spanischen Provinzen Hispania citerior und Hispania ulterior hinzu.
Der Provinzialprätor hatte in der Provinz die oberste militärische und jurisdiktionelle Gewalt, vertrat die römische Herrschermacht im vollen Umfang und war durch nichts eingeschränkt. Bis Sulla blieb trotz ansteigender Anzahl der Provinzen die Zahl der Prätoren (zwei Gerichtsprätoren, vier Provinzialprätoren) gleich. Sulla erhöhte die Zahl der Prätoren, wahrscheinlich im Jahre 81 v. Chr., auf acht und beschränkte jedoch ihre Zuständigkeit auf die Rechtsprechung in Rom, zu der aber auch die Leitung der ständigen Gerichtshöfe (quaestiones perpetuae) hinzukam. Nach der Prätur konnte man als Proprätor eine Statthalterschaft bekleiden.
Gaius Iulius Caesar erhöhte die Zahl der Prätoren schrittweise von zehn auf zwölf und dann 16. Die Anzahl der Prätoren in der Kaiserzeit schwankte zwischen 10 und 18 Beamten. Statthalter waren aber nun zumeist keine Prätoren, sondern Promagistrate.
In der senatorischen Ämterlaufbahn folgte die Prätur im Regelfall dem Volkstribunat oder dem Amt eines Ädilen und wurde vor dem Konsulat bekleidet. Seit 180 v. Chr. war ein Mindestalter von 40 Jahren vorgeschrieben. Prätoren gehörten, wie erwähnt, zu den Magistraten, die wie die Konsuln ein imperium besaßen, also ein Heer kommandieren durften.
Besonders in Ausnahmesituationen wurde Prätoren ein militärisches Kommando in einer Provinz übertragen, für das bei längerer Dauer die Amtsgewalt über das normale Jahr hinaus verlängert werden konnte. Die Magistrate führten dann den Titel pro praetore; die Abgrenzung zum Titel pro consule ist allerdings nicht immer eindeutig. Ehemalige Prätoren wurden als praetorii („Prätorier“) bezeichnet. Sie bildeten im Senat eine Rangklasse unterhalb der ehemaligen Konsuln (consulares).
Die Prätoren waren die Stellvertreter der Konsuln und insbesondere für die Interpretation der Gesetze und die Rechtspflege im Allgemeinen verantwortlich. Ab 367 v. Chr. lösten sie gerichtsfunktional die Konsuln als Gerichtsherren ab. Sie spielten eine wichtige Rolle bei der Entwicklung des römischen Rechts, da sie im prätorischen Edikt die jeweils geltenden Verfahrensvorschriften festlegten. Die Ehrenzeichen des Prätors glichen denen der Konsuln: In der Stadt begleiteten ihn zwei, außerhalb der Stadt sechs Liktoren. Er trug die toga praetexta, hatte als besondere Gerichtsstätte ein Gerüst (tribunal), wo er auf der sella curulis saß, und daneben auf Sesseln (subsellia) die Richter. Indessen entschied er unerhebliche Rechtssachen auch ohne alle Förmlichkeiten an jedem beliebigen Orte (ex aequo loco).
Kaiserzeit
In der Kaiserzeit bestand das Amt als Bestandteil der senatorischen Laufbahn fort, konnte aber schon in immer jüngeren Jahren bekleidet werden – zuletzt bereits mit 17 Jahren. Wohl bereits unter Augustus entzog man ihnen faktisch die militärische Kommandogewalt. Seit 14 n. Chr. wurden Prätoren und Konsuln zudem nicht mehr vom Volk gewählt, sondern vom Senat bestimmt. Durch die vermehrte Verleihung von Suffektkonsulaten erhielten dafür weitaus mehr gewesene Prätoren als bisher die Möglichkeit, auch das Konsulat zu bekleiden. Kaiser Hadrian ließ diverse prätorische Edikte sammeln und mithilfe des Topjuristen Salvius Iulianus um 128 n. Chr. im edictum perpetuum endgültig kanonisieren und festschreiben; er enthob die Prätoren im Gegenzug ihrer Rechtsetzungsbefugnis. Er selbst nahm sich der Rechtsgestaltung an und übte sie im Benehmen mit dem Senat aus. Aber schon zuvor hatten die Prätoren durch den Ausbau der kaiserlichen Gerichtsbarkeit beständig an Bedeutung verloren. Ihr Geschäftsbereich beschränkte sich nunmehr nur auf geringere Gegenstände wie die cura ludorum (Sorge um die Spiele) und die Besorgung von alltäglichen Rechtsgeschäften.
In der Spätantike wurde die Prätur aufgrund der Verpflichtung, auf eigene Kosten teure Spiele auszurichten, zunehmend als Last empfunden; die Prätoren wurden jetzt zwangsweise von Senat und Kaiser bestimmt, und es gab sie nun nicht mehr nur in Rom, sondern auch in Konstantinopel. Diokletian hatte zudem das Nebeneinander der iura honorarium und gentium, neben dem fortgeltenden ius civile abschaffen lassen, sodass die einst bedeutsamen richterlichen Befugnisse der Prätoren wegfielen (Codex Gregorianus). Seit 372 war gesetzlich vorgeschrieben, dass die Prätoren zehn Jahre im Voraus festzulegen seien, damit ihren Familien genug Zeit blieb, das notwendige Geld für die Feierlichkeiten zu beschaffen. Quintus Aurelius Symmachus beispielsweise kostete die Prätur seines Sohnes im Jahr 401 die überaus hohe Summe von 2000 Pfund Gold. Zuletzt wird das Amt in der Mitte des 6. Jahrhunderts unter Kaiser Justinian I. erwähnt.
Frühe Neuzeit
In Frankreich schlug Ulrich Obrecht der Regierung vor, einen Prätor einzusetzen. Er selbst wurde daraufhin 1685 dazu ernannt, nachdem er zum Katholizismus konvertiert war. Er vermittelte nun zwischen städtischen Behörden und dem Hof von Versailles, stellvertretend für den König. Sein Sohn Johann Heinrich Obrecht erbte nach Ulrich Obrechts Ableben das Amt Prätors. In der Oberlausitz werden die späteren Bürgermeister Erdmann Gottfried Schneider und Johann Wilhelm Gehler als Prätoren genannt.
Literatur
Wolfgang Kunkel, Roland Wittmann: Die Magistratur. Beck, München 1995, ISBN 3-406-33827-5 (Handbuch der Altertumswissenschaft. Abteilung 10: Rechtsgeschichte des Altertums. Teil 3, Band 2: Staatsordnung und Staatspraxis der römischen Republik. Abschnitt 2).
T. Corey Brennan: The Praetorship in the Roman Republic. 2 Bände. Oxford University Press, Oxford 2000, ISBN 0-19-511459-0, ISBN 0-19-511460-4.
Weblinks
Anmerkungen
Römisches Amt
Römisches Recht
Römische Republik
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Q172907
| 128.488967 |
4665
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https://de.wikipedia.org/wiki/Sachsen-Anhalt
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Sachsen-Anhalt
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Sachsen-Anhalt (, , Landescode ST, geläufige Abkürzung LSA) ist eine parlamentarische Republik und als Land ein teilsouveräner Gliedstaat der Bundesrepublik Deutschland. Das Flächenland hat etwa 2,18 Millionen Einwohner. Die beiden größten Städte des Landes sind die Landeshauptstadt Magdeburg und Halle (Saale), ein weiteres Oberzentrum ist Dessau-Roßlau.
Das Land entstand am 21. Juli 1947 durch Vereinigung des Freistaates Anhalt mit den preußischen Provinzen Magdeburg und Halle-Merseburg, die der Freistaat Preußen zum 1. Juli 1944 durch Teilung seiner Provinz Sachsen geschaffen hatte. Das Land Sachsen-Anhalt ging mit der DDR-Verwaltungsreform in Bezirke auf und besteht in der heutigen Form seit der deutschen Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990. Es gliedert sich in elf Landkreise und drei kreisfreie Städte. Angrenzende Länder sind Niedersachsen, Brandenburg, Sachsen und Thüringen, von 1990 bis 1992 auch Mecklenburg-Vorpommern.
Sachsen-Anhalt liegt zentral in Deutschland und Mitteleuropa. Es wird von einer der wichtigsten West-Ost-Verbindungen Europas (A 2) und einer der bedeutendsten Nord-Süd-Verbindungen des Kontinents (A 9, einst Via Imperii) durchquert. Der südliche Teil Sachsen-Anhalts gehört zur Metropolregion Mitteldeutschland. Das Land grenzt an die Metropolregionen Hamburg, Berlin-Brandenburg sowie Hannover und infolge seiner großen Nord-Süd-Ausdehnung (rund 210 Kilometer) liegt der südlichste Teil nur circa 60 Kilometer (Luftlinie) von der Grenze zu Bayern entfernt.
Sachsen-Anhalt besitzt fünf UNESCO-Welterbestätten – das Bauhaus, das Dessau-Wörlitzer Gartenreich, die Luthergedenkstätten in Eisleben und Wittenberg, die Altstadt von Quedlinburg und den Naumburger Dom. Im Land gibt es vielfältige Burgen-, Schlösser- und Kirchenlandschaften sowie weitere wertvolle Kulturdenkmäler. Mit mehreren Hochschulen und Forschungseinrichtungen sind Halle und Magdeburg wissenschaftliche Zentren.
Geographie
Im Norden wird Sachsen-Anhalt von Flachland geprägt. In der dünn besiedelten Altmark befinden sich alte Hansestädte wie Salzwedel, Gardelegen, Stendal und Tangermünde. Den Übergang von der Altmark zur Region Elbe-Börde-Heide mit der fruchtbaren, waldarmen Magdeburger Börde bilden die Colbitz-Letzlinger Heide und der Drömling. In der Magdeburger Börde liegen die Städte Haldensleben, Oschersleben (Bode), Wanzleben-Börde, Schönebeck (Elbe), Staßfurt, Aschersleben sowie Magdeburg, von dem die Region ihren Namen ableitet.
Im Südwesten liegt der Harz mit dem grenzübergreifenden Nationalpark Harz, dem Harzvorland und dem Mansfelder Land sowie unter anderem den Städten Halberstadt, Quedlinburg, Wernigerode, Thale, Lutherstadt Eisleben und Sangerhausen.
An der Grenze zu Sachsen befindet sich der Ballungsraum Halle (Saale)/Merseburg/Bitterfeld-Wolfen (auch „Chemiedreieck“ genannt), der bis ins sächsische Leipzig reicht. Seit dem Ende des 19. und Beginn des 20. Jahrhunderts ist hier die Chemieindustrie mit ihrem wirtschaftlichen Schwerpunkt in Leuna ansässig.
An der Saale, der Weißen Elster sowie der Unstrut im Süden des Landes, wo sich das Weinbaugebiet Saale-Unstrut-Region befindet, liegen Zeitz, Naumburg (Saale), Weißenfels und Freyburg (Unstrut). Schließlich gehört zu Sachsen-Anhalt noch die im Osten gelegene Region Anhalt-Wittenberg mit der drittgrößten Stadt des Landes Dessau-Roßlau, die aus der alten anhaltischen Residenzstadt Dessau hervorgegangen ist, der Lutherstadt Wittenberg und einem Teil des Flämings.
Regionen
Altmark
Anhalt
Anhalt-Wittenberg
Chemiedreieck
Region Magdeburg
Harz
Mansfelder Land
Ostfalen
Saale-Unstrut-Region
Landschaften
Altmark mit
Colbitz-Letzlinger Heide
Drömling
Elbeniederung mit
Biosphärenreservat Mittelelbe
Dessau-Wörlitzer Gartenreich
Fiener Bruch
Magdeburger Börde
Nördliches Harzvorland mit
Großer Fallstein
Hakel
Huy (Höhenzug)
Großes Bruch
Harz/Nationalpark Harz
Naturpark Unteres Saaletal
Fläming/Naturpark Fläming
Naturpark Dübener Heide
Naturpark Saale-Unstrut-Triasland mit
Querfurter Platte
Goldene Aue
Kyffhäuser
Hohe Schrecke
Karower Platte
Mittelgebirge und Berge
Das größte Mittelgebirge Sachsen-Anhalts ist der Harz, in dem auch die höchste Erhebung von Sachsen-Anhalt und ganz Norddeutschlands liegt. Dies ist mit der Brocken.
Gewässer
Insgesamt befinden sich die Gewässer in Sachsen-Anhalt in einem schlechten Zustand. Die hohen Güllemengen aus der Massentierhaltung machen den Gewässern zu schaffen. Nur noch in Sachsen steht es schlechter um die Gewässer.
Flüsse
Die nachfolgenden Flüsse und/oder Ströme durchfließen Sachsen-Anhalt ganz oder nur teilweise. Bekannte Fließgewässer (mit jeweiliger Gesamtlänge) sind:
Seen
Sachsen-Anhalt hatte ursprünglich nur wenige Seen. Wo Salze im Untergrund vorkommen, bildeten sich durch Erdsenkung Vertreter wie der Arendsee in der Altmark und die Mansfelder Seen Süßer- und Salziger See. Die Mehrzahl der größeren Seen Sachsen-Anhalts ist dagegen menschengemacht. Die meisten davon entstanden durch die Renaturierung alter Tagebaurestlöcher aus dem Braunkohlebergbau. Die folgende Liste gibt einen Überblick über die größten Seen Sachsen-Anhalts:
Talsperren
Muldestausee, Rappbode-Talsperre, Talsperre Kelbra, Wippertalsperre
Geologie
Die regionale Geologie Sachsen-Anhalts ist geprägt durch ein wiederholtes Auftreten von herzynisch und variskisch streichenden Störungen, die verschiedene Bruchschollen voneinander trennen. Dadurch können lateral Zonen mit Ausbissen von Gesteinen unterschiedlicher Altersgruppen voneinander getrennt werden. Als bedeutende Bruchschollen sind die folgenden zu nennen.
Im Süden befindet sich die Halle-Merseburg-Scholle, in der überwiegend mesozoische Sedimentite anstehen (Zechstein, Buntsandstein, Muschelkalk), die von jüngeren Lockersedimenten überdeckt sind.
In der nordöstlich anschließenden Halle-Wittenberg-Scholle stehen überwiegend permische Rotliegendsedimentite und Vulkanite wie Rhyolith an, die von jüngeren Lockersedimenten wie tertiären Braunkohlen und pleistozänem Geschiebemergel überdeckt sind.
In der Harzscholle, die im Westen des Bundeslandes liegt, ist großflächig ein paläozoisches, variskisch gefaltetes Grundgebirge mit Tonschiefern, Grauwacken, Kalksteinen, Graniten u. a. aufgeschlossen.
Im nördlich anschließenden Subherzyn stehen wieder die Sedimentite des Mesozoikums und jünger an. Dort kommen ebenfalls Salzdome und Salzkissen permischen Alters im tieferen Untergrund vor, die z. B. in Staßfurt und Bernburg abgebaut werden.
In der wieder nördlich anschließenden Flechtingen-Roßlauer Scholle steht erneut das variskisch geprägte Grundgebirge in Verbindung mit Rotliegend-Sedimenten an.
Nördlich davon stehen in der Altmark-Fläming-Scholle mächtige tertiäre und quartäre Lockersedimente an. Im tieferen Untergrund sind dort ebenfalls wieder Salzstöcke und Salzkissen vorhanden.
Sachsen-Anhalt ist ein Abbaugebiet von tertiärer Braunkohle, mit der ein relevanter Anteil am Strommix erzeugt wird.
Als wichtige Einrichtungen der Geowissenschaften in Sachsen-Anhalt sind das LAGB sowie das Institut für Geowissenschaften und Geographie der Martin-Luther-Universität in Halle (Saale) zu nennen.
Geschichte
Zur Geschichte des Gebietes vor 1944 siehe vor allem bei Anhalt, Altmark, Erzstift Magdeburg, Hochstift Halberstadt, Stift Quedlinburg, Kurkreis und Thüringer Kreis für Teile Kursachsens
Dazu auch einen Anzahl kleinerer Gebiete wie die Grafschaft Wernigerode, Grafschaft Mansfeld, Grafschaft Blankenburg, Grafschaft Hohnstein und Teile vom Herzogtum Braunschweig
Hauptartikeln siehe unter preußische Provinz Sachsen und Geschichte Sachsen-Anhalts
Im Juli 1944 wurde die vormalige preußische Provinz Sachsen, bestehend aus den Regierungsbezirken Magdeburg, Merseburg und Erfurt, aufgeteilt. Es entstanden die Provinzen Magdeburg und Halle-Merseburg. Der Regierungsbezirk Erfurt wurde dem Reichsstatthalter Thüringen unterstellt. Nach der deutschen Kapitulation 1945 wurden von der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland (SMAD) die beiden Provinzen Magdeburg und Halle-Merseburg, ferner der Freistaat Anhalt (um Dessau), die frühere braunschweigische Exklave Calvörde und der östliche Teil des Landkreises Blankenburg im Harz, auch vorher dem Land Braunschweig zugehörig, sowie die thüringische Enklave Allstedt zur neuen Provinz Sachsen vereinigt und der Name im Oktober 1946 in Provinz Sachsen-Anhalt geändert. Im Zuge der Auflösung Preußens verkündete die Provinz Sachsen-Anhalt am 10. Januar 1947 ihre eigene Landesverfassung. Am 21. Juli 1947 erfolgte die Umbenennung in Land Sachsen-Anhalt. Landeshauptstadt wurde Halle. Das Land umfasste 24.576 km².
Im Juli 1952 wurde im Rahmen der Verwaltungsreform in der DDR das Land Sachsen-Anhalt de facto aufgelöst (de jure bestand es noch einige Jahre weiter) und in die zwei Bezirke Halle und Magdeburg aufgeteilt. Dabei wurden Grenzbereinigungen vorgenommen, bei denen einzelne Städte und Gemeinden von den Nachbarkreisen eingegliedert oder dorthin ausgegliedert wurden, wodurch sich die Bezirksgrenzen gegenüber den ehemaligen Landesgrenzen verschoben.
Am 3. Oktober 1990 erfolgte die Wiederherstellung des Landes Sachsen-Anhalt durch das Ländereinführungsgesetz. Sachsen-Anhalt besteht seitdem wieder aus den ehemaligen Bezirken Halle (ohne den Landkreis Artern) und Magdeburg sowie dem Landkreis Jessen, welcher bereits vor 1952 zum Land Sachsen-Anhalt gehörte. Landeshauptstadt wurde Magdeburg. Sachsen-Anhalts Partnerland während des Aufbaus der neuen Strukturen war Niedersachsen. Der Anfang der 1990er Jahre war geprägt durch häufige Wechsel der Landesregierungen und politische Affären. Dies hatte zur Folge, dass die anfangs regierende CDU die zweiten Landtagswahlen nach der Wiedervereinigung verlor und es zu einer von der PDS tolerierten Landesregierung von SPD und Bündnis 90/Grüne kam (Magdeburger Modell). Ministerpräsident Reinhard Höppner regierte das Land über zwei Legislaturperioden in einer Zeit großer wirtschaftlicher und arbeitsmarktpolitischer Umstrukturierungen, nach Ausscheiden der Grünen in einer von der PDS tolerierten SPD-Alleinregierung. Sachsen-Anhalt hatte die höchste Arbeitslosenquote aller Bundesländer zu verkraften. In der dritten Wahlperiode seit der Wiedervereinigung gelang es der rechtsextremen DVU, in den Landtag einzuziehen. Jedoch zerbrach diese Fraktion bald an internen Streitigkeiten und wurde 2002 nicht wieder in den Landtag gewählt. Die anhaltende wirtschaftliche Krise führte bei den Wahlen im Jahr 2002 zu einem erneuten Regierungswechsel. Seither wurde Sachsen-Anhalt anfangs von einer CDU/FDP-Regierung, daraufhin von einer CDU/SPD-Regierung unter Wolfgang Böhmer regiert. Nach der Landtagswahl 2011 wurde er aus Altersgründen von Reiner Haseloff abgelöst, der wiederum seit 2016 eine sogenannte Kenia-Koalition anführt.
Bevölkerung
Volksgruppen
Die Bevölkerung auf dem Gebiet des heutigen Sachsen-Anhalts setzte sich im 7. Jahrhundert n. Chr. aus Niedersachsen (Ostfalen) und Thüringern zusammen. Hinzu kamen die im Zuge der deutschen Ostsiedlung christianisierten Elbslawen. Weiterhin leben in Sachsen-Anhalt auch Nachfahren der in den vergangenen Jahrhunderten eingewanderten Flamen und Hugenotten sowie anderer verfolgter Volksgruppen, die bei den frühneuzeitlichen Landesherren im heutigen Sachsen-Anhalt Zuflucht fanden. Nach dem Zweiten Weltkrieg kam es zur Ansiedlung von Vertriebenen und Flüchtlingen aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten und der Tschechoslowakei. Ab 1990 zogen russlanddeutsche Spätaussiedler nach Sachsen-Anhalt. Vergleichsweise klein ist der Anteil an ausländischen Immigranten; der Ausländeranteil lag Ende März 2017 bei 4,5 %. Hier sind als größte Gruppe Vietnamesen zu nennen, gefolgt von Russen und Ukrainern.
Die historisch korrekte und von den Landesbehörden unterstützte Bezeichnung für die Einwohner des Landes ist Sachsen-Anhalter, das entsprechende Adjektiv sachsen-anhaltisch. Daneben werden in der Umgangssprache fälschlich auch die Bezeichnungen Sachsen-Anhaltiner und der im Duden verzeichnete Ausdruck sachsen-anhaltinisch verwendet, wobei ‚anhaltinisch‘ jedoch einen Bezug zum Adelsgeschlecht der anhaltinischen Linie der Askanier bedeutet.
Ausländische Bevölkerung
Der Anteil der ausländischen Bevölkerung liegt in Sachsen-Anhalt deutlich unter dem Durchschnitt der Bundesrepublik. Während im Jahr 2022 rund 7,5 % der Bevölkerung Ausländerinnen und Ausländer waren, lag der Wert in der gesamten Bundesrepublik bei 14,6 %.
Sprache
Sachsen-Anhalt gehört sowohl zum niederdeutschen als auch zum mitteldeutschen Sprachraum. Im Land wird heute ein eingefärbtes Hochdeutsch gesprochen, das eine Vielzahl spezifischer Wendungen aus dem Mark-Brandenburgischen aufweist, aber auch insbesondere in den südlichen Landesteilen vom Thüringisch-Obersächsischen geprägt ist. Im Nordteil, in der Altmark und in der Börde, trifft man bei älteren Sprechern noch auf die niederdeutsche Sprache. Im Mansfelder Land ist die Mansfäller Mundart anzutreffen, ein Dialekt, den Ortsfremde nur sehr schwer verstehen.
Religionen
In Sachsen-Anhalt wird Religion europaweit die geringste persönliche Bedeutung zugemessen(Stand 2022). Etwa 80 % der Bürger sind konfessionslos. In Sachsen-Anhalt gehörten Ende 2021 14,3 % der Einwohner einer der beiden großen christlichen Konfessionen an. Davon waren 11,1 % der Bevölkerung Mitglieder in den evangelischen Landeskirchen und 3,2 % der Sachsen-Anhalter waren römisch-katholisch.
Im Jahr 2018 gehörten 15,3 % der Einwohner einer der beiden großen christlichen Konfessionen an. Davon waren 11,9 % der Bevölkerung Mitglieder in den evangelischen Landeskirchen, von denen die Evangelische Kirche in Mitteldeutschland und die Evangelische Landeskirche Anhalts die meisten Mitglieder haben; 3,3 % der Sachsen-Anhalter waren römisch-katholisch und hauptsächlich dem Bistum Magdeburg sowie zu kleinen Teilen dem Erzbistum Berlin (Stadt Havelberg) zugeordnet.
Die Region Sachsen-Anhalts gehörte bereits in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu den Gegenden mit vergleichsweise hohen Anteilen von Personen ohne Religionszugehörigkeit. Die geringe Anzahl von Kirchenmitgliedern in Sachsen-Anhalt ist u. a. auch darauf zurückzuführen, dass eine Lösung von kirchlichen Bindungen durch die DDR gefördert wurde.
Die Tendenz ist auch nach der friedlichen Revolution 1989 weiter sinkend für die evangelische and katholische Landeskirchen. Die Zahl der evangelischen und katholischen Christen in Sachsen-Anhalt sinkt kontinuierlich. Durchschnittlich verringerte sich deren Zahl zwischen 2001 und 2018 um 0,4 Prozentpunkte pro Jahr. Sachsen-Anhalt weist gegenwärtig die niedrigste Quote kirchlich gebundener Einwohner in Deutschland auf. 80.000 Einwohner gehören anderen Konfessionen an, davon ca. 11.000 der Neuapostolischen Kirche und 45.000 anderen Religionen (Judentum, Zeugen Jehovas, Islam). Im Vergleich zu vielen anderen deutschen Ländern ist der Anteil muslimischer Bürger sehr gering.
Sachsen-Anhalt zahlt pro Jahr etwa 35 Millionen Euro an Staatsleistungen an die evangelische und die römisch-katholische Kirche. Obwohl Sachsen-Anhalt im Vergleich der Bundesländer den niedrigsten Anteil an Mitglieder dieser Kirchen hat, wird dort pro Einwohner der höchste Betrag an Staatsleistungen gezahlt. Auch wenn man die Staatsleistungen auf die Kirchenmitglieder umlegt, führt Sachsen-Anhalt die Spitze des Ländervergleichs an mit 108 Euro pro Kirchenmitglied im Jahr.
Gesundheitswesen
2005 wurden in Sachsen-Anhalt 1.270.763 Impfungen durch 1.949 niedergelassene Ärzte durchgeführt. Hinzu kommt ein geringer Teil an Impfungen durch die Gesundheitsämter. Gegen Influenza („echte Grippe“) wurden 824.064 Menschen geimpft, der Bevölkerungsanteil, der gegen Influenza geimpft ist, wird auf 33 Prozent geschätzt.
Sachsen-Anhalt hat seit 2008 sowohl im ambulanten als auch im stationären Bereich mit einem Ärztemangel zu kämpfen, dem durch Einstellung von Ärzten aus Osteuropa und Österreich begegnet wird. Im Jahr 2000 gab es 1654 Hausärzte, 2007 waren es 1437. Die Zahl der berufstätigen Ärzte stieg – fast ausschließlich bedingt durch die Zunahme der Zahl ausländischer, berufstätiger Ärzte – von 9200 (2016) auf 9499 (2019) an, wobei unter anderem das Durchschnittsalter sowohl der praktizierenden Ärzte als auch der Patienten weiter gestiegen ist und immer mehr Ärzte nur in Teilzeit arbeiten, weshalb die steigende Zahl der Ärzte – aus Sicht der Ärztekammer – bei Weitem nicht ausreicht, um den Mangel an Medizinern auszugleichen. Zwar ist die Ärztedichte in Sachsen-Anhalt (ein Arzt auf 236 Einwohner) höher als in Brandenburg (249 Einwohner je Arzt) und Niedersachsen (242 Einwohner je Arzt), allerdings nutzen viele Brandenburger die Angebote in Berlin und viele Niedersachsen besuchen Praxen in Hamburg und Bremen, zudem ist das Durchschnittsalter sachsen-anhaltischer berufstätiger Ärzte und Patienten – und damit die „Krankheitslast“ pro Einwohner – höher. Die seit 2010 an den Universitäten in Halle und Magdeburg eingerichteten Lehrstühle für Allgemeinmedizin, die 2020 erstmals umgesetzte Landarztquote und eine bessere Organisation der Facharztausbildung sind Maßnahmebausteine, die einer drohenden weiteren Verschärfung des Medizinermangels – insbesondere hinsichtlich Hausärzten im ländlichen Raum – entgegenwirken sollen.
Die durchschnittliche Lebenserwartung lag im Zeitraum 2015/17 bei 76,2 Jahren für Männer und bei 82,5 Jahren für Frauen. Die Männer belegen damit unter den deutschen Bundesländern Rang 16, während Frauen Rang 14 belegen. Beide Werte liegen damit unter dem Bundesdurchschnitt, jedoch wesentlich – um fast sieben beziehungsweise fast sechs Jahre – über den Werten von 1990. Regional hatten 2013/15 Magdeburg (Gesamtbevölkerung: 80,07 Jahre), Dessau-Roßlau (79,88) und der Saalekreis (79,78) die höchste sowie der Altmarkkreis Salzwedel (78,79), Landkreis Stendal (78,77) und der Salzlandkreis (78,41) die niedrigste Lebenserwartung.
Bevölkerungsentwicklung
Sachsen-Anhalt hatte am 31. Dezember 2019 insgesamt knapp 2,2 Millionen Einwohner. Die Bevölkerungszahl geht seit längerem zurück. Dieser Trend begann schon vor der deutschen Wiedervereinigung. Als Ursache sind in ungefähr gleichem Maße die geringe Anzahl Neugeborener sowie die Abwanderung von Sachsen-Anhaltern in andere Regionen zurückzuführen, wobei seit 2014 ein positiver Wanderungssaldo bestand, seit 2019 auch hinsichtlich der Binnenwanderung der deutschen Bevölkerung.
Im Jahr 2015 wuchs die Bevölkerung um 9.922 Personen. Trotz eines seit 1994 zu verzeichnenden leichten Anstieges der Geburtenzahlen erreichte die Nettoreproduktionsrate nur etwa 50 Prozent.
Der Ausländeranteil (Einwohner ohne deutsche Staatsangehörigkeit; Doppelstaatler zählen nicht als Ausländer) betrug am 31. Dezember 2014 in Sachsen-Anhalt 2,8 Prozent und ist damit im Vergleich zu den anderen deutschen Ländern – nach Thüringen und Brandenburg – der Drittniedrigste.
Die Fertilitätsrate pro Frau lag 2017 bei 1,61 Kindern und damit leicht über dem bundesweiten Durchschnitt von 1,57 Kindern.
Bevölkerungsprognose in den Landkreisen und kreisfreien Städten
Die sechste regionalisierte Bevölkerungsprognose für Sachsen-Anhalt 2016 bis 2030 des Statistischen Landesamtes Sachsen-Anhalt prognostiziert weiterhin einen Bevölkerungsrückgang. Seit der Wende wäre die Einwohnerzahl um rund ca. 30 Prozent geschrumpft. Besonders stark betroffen davon sind die Landkreise Mansfeld-Südharz, Salzlandkreis und Anhalt-Bitterfeld, währenddessen sich die beiden Großstädte stabilisiert haben. Die beiden Großstädte werden zunächst weiter wachsen und erst ab Mitte der 2020er Jahre einen Teil des Zuwachses wieder verlieren. Die Prognose enthält die folgende Einwohnerzahlenentwicklung.
Anmerkungen:
2) sechste regionalisierte Einwohnerprognose des Statistischen Landesamtes Sachsen-Anhalt
Politik
Verfassung
Die Verfassung des Landes Sachsen-Anhalt wurde 1992 vom Landtag von Sachsen-Anhalt beschlossen. Sie gliedert sich in vier Hauptteile.
Wahlen
Bei der ersten freien Wahl nach der (Wieder-)Gründung des Landes 1990 bildeten CDU (39,0 Prozent) und FDP, die mit 13,5 Prozent ihr bislang bestes Ergebnis in Ostdeutschland erreichte, eine schwarz-gelbe Koalition unter dem Ministerpräsidenten Gerd Gies (CDU). Im Juli 1991 trat Gies zurück, ihm folgte der bis dato als Finanzminister amtierende Werner Münch (CDU). Als auch Münch im November 1993 zurücktrat, wurde Christoph Bergner (CDU) zum Ministerpräsidenten gewählt. Hohe Arbeitslosigkeit und die schlechte wirtschaftliche Lage im ehemaligen Schwerpunktgebiet chemischer Industrie und des Schwermaschinenbaus führten zu einer hohen Unzufriedenheit der Wähler mit der schwarz-gelben Koalition. Bei der Landtagswahl 1994 zog die SPD mit 34 Prozent fast gleichauf mit der CDU (34,4 Prozent). Da jedoch die FDP mit 3,6 Prozent aus dem Landtag ausschied, kam der CDU der Koalitionspartner abhanden. So konnte der SPD-Spitzenkandidat Reinhard Höppner mit den Grünen zunächst eine rot-grüne Minderheits-Koalition mit Duldung der PDS bilden. Nach dem Ausscheiden der Grünen aus dem Landtag bei der Landtagswahl 1998 bildete Höppner eine SPD-Minderheitsregierung unter Tolerierung der PDS. Dieses wurde als Magdeburger Modell bekannt. Aufsehen erregte bei dieser Wahl auch der Erfolg der als rechtsextrem geltenden DVU, die 12,9 Prozent erreichte.
Mit der Wahl zum vierten Landtag von Sachsen-Anhalt im März 2002 fiel die vorher regierende SPD mit zweistelligen Verlusten hinter CDU und PDS zurück und wurde nur drittstärkste Partei im Landtag. Die DVU war durch interne Streitigkeiten zerbrochen und schied wieder aus dem Landtag aus. Hingegen konnte die FDP mit einem Ergebnis von 13,3 Prozent erneut in den Landtag einziehen, CDU und FDP bildeten unter dem neuen Ministerpräsidenten Wolfgang Böhmer die Regierung. Bei der Landtagswahl 2006 erlitt die FDP Verluste auf 6,7 Prozent, für eine erneute Koalitionsbildung mit der CDU (36,2 Prozent) reichte es nicht mehr. Daher bildete die CDU mit der SPD eine große Koalition unter dem erneuten Ministerpräsidenten Böhmer. Bei der Landtagswahl 2011 konnten die Grünen, nachdem sie auch 2006 nicht die Fünf-Prozent-Hürde genommen hatten, erstmals seit 1998 wieder in den Landtag einziehen. Die FDP schied mit erneuten Verlusten und einem Ergebnis von 3,8 Prozent wieder aus dem Landtag aus. Eine rechnerisch mögliche rot-rote Koalition unter Führung der Linken (23,7 Prozent) wurde von der SPD (21,5 Prozent) mit ihrem Spitzenkandidaten Jens Bullerjahn strikt ausgeschlossen, da die Linke den Posten des Ministerpräsidenten für sich beanspruchte. Somit bildeten CDU und SPD unter dem neuen Ministerpräsidenten Reiner Haseloff (CDU) erneut eine große Koalition. Amtsinhaber Böhmer trat aus Altersgründen nicht erneut zur Wahl an. Sachsen-Anhalt wies damit von 1994 bis 2016 mit wechselnder Beteiligung ein Vier-Parteien-Parlament auf.
Bei der Landtagswahl am 13. März 2016 wurden die Mehrheitsverhältnisse deutlich verändert: Die erstmals kandidierende AfD erreichte aus dem Stand heraus 24,3 Prozent der Stimmen und löste die Linke als zweitstärkste Kraft im Landtag ab. Die Linkspartei selbst erreichte bei deutlichen Verlusten und 16,3 Prozent den dritten Platz, wohingegen die SPD von 21,5 Prozent der Stimmen auf 10,6 Prozent abstürzte und damit nur noch den vierten Platz erreichte. Weiterhin wurde die CDU mit 29,8 Prozent stärkste Kraft, fünfte Kraft wurden die Grünen.
Erstmals in der Landesgeschichte verfehlten CDU und SPD damit eine eigenständige Mehrheit, so dass Ministerpräsident Rainer Haseloff die bundesweit erste „Kenia-Koalition“ aus CDU, SPD und Bündnis 90/Die Grünen bildete.
Bei der Landtagswahl in Sachsen-Anhalt 2021 erreichte die CDU mit starkem Zuwachs ein Ergebnis von 37,1 % und wurde damit erneut stärkste Kraft. AFD, Die Linke und SPD verloren, teils deutlich, an Zustimmung. FDP und Grüne konnten leicht zugewinnen.
Rainer Hasselhoff blieb Ministerpräsident, änderte jedoch seine Koalitionspartner, so das seit 9. August 2021 eine Deutschlandkoalition regiert. Dies, trotz das CDU und SPD über eine alleinige Mehrheit von 49 Stimmen im Landtag verfügen und so nicht gezwungen gewesen wären, eine Drei-Parteien-Koalition einzugehen.
Landtagspräsidenten von Sachsen-Anhalt
1946–1948 Bruno Böttge, SED
1948–1950 Adam Wolfram, SED
1950–1952 Michael Schröder, SED
1990–1998 Klaus Keitel, CDU
1998–2002 Wolfgang Schaefer, SPD
2002–2006 Adolf Spotka, CDU
2006–2011 Dieter Steinecke, CDU
2011–1. Dezember 2015 Detlef Gürth, CDU
9. Dezember 2015–2016 Dieter Steinecke, CDU
12. April 2016 bis 21. August 2016 Hardy Güssau, CDU
1. September 2016 bis 6. Juli 2021 Gabriele Brakebusch, CDU
seit 6. Juli 2021 Gunnar Schellenberger, CDU
Oberpräsident der Provinz Sachsen-Anhalt
1945–1947: Erhard Hübener, LDPD
Landesregierungen
Volksentscheide
Am 23. Januar 2005 fand im Land ein Volksentscheid zur Betreuung in Kindertagesstätten statt. Dieser scheiterte unecht u. a. an der niedrigen Wahlbeteiligung.
Extremismus
Laut Verfassungsschutzbericht war der Anteil von rechtsextremistisch motivierten Gewalttaten 2005 im Vergleich höher als in anderen deutschen Ländern. Im ersten Quartal 2007 wurde nahezu eine Halbierung der Straftaten verzeichnet, die nur auf eine „andere Auslegung“ von Straftaten durch das Landeskriminalamt zurückzuführen war. 2006 wurden 1.240 rechtsextreme Straftaten verzeichnet.
Im November 2018 wurden in einer Kleinen Anfrage im Landtag von Sachsen-Anhalt, veranlasst aus der AfD-Fraktion, neue Zahlen zur politischen Kriminalität benannt. Demnach gab es im Vorjahr 2017 nach einem deutlichen Abfall nur noch 1.461 rechtspolitisch motivierte Straftaten (darunter 105 Gewalttaten), weiterhin 357 linkspolitisch motivierte Straftaten (darunter 41 Gewalttaten) und 30 religiöse Straftaten sowie 14 politische Straftaten ausländischer Ideologien.
Verwaltungsgliederung
Sachsen-Anhalt untergliedert sich administrativ in elf Landkreise und drei kreisfreie Städte. Die derzeitige Verwaltungsstruktur entstand durch zwei Kreisreformen, wobei in der ersten Kreisgebietsreform am 1. Juli 1994 aus vormals 37 Landkreisen 21 neue Landkreise gebildet wurden, deren Zahl am 1. Juli 2007 auf elf reduziert wurde (siehe auch: Kreisreform Sachsen-Anhalt 2007).
Sachsen-Anhalt gliedert sich in 218 Gemeinden, darunter 104 Städte, von denen drei kreisfrei sind (Stand: 1. Januar 2014). Bis 31. Dezember 2009 gab es 857 Gemeinden, die zur Erfüllung ihrer Aufgaben teils in Verwaltungsgemeinschaften zusammengeschlossen waren. Im Rahmen der Gemeindegebietsreform 2010 wurden die Verwaltungsgemeinschaften aufgelöst und in Verbandsgemeinden oder Einheitsgemeinden umgewandelt.
Bis 2003 gab es in Sachsen-Anhalt mit Dessau, Halle und Magdeburg drei Regierungsbezirke. Diese wurden zum 1. Januar 2004 aufgelöst, die Arbeit der Regierungspräsidien übernahm das für das gesamte Land eingerichtete Landesverwaltungsamt mit Sitz in Halle (Saale) und Nebenstellen in Dessau und Magdeburg.
Bevölkerungsreichste Städte
Wappen und Flagge
Das Wappen Sachsen-Anhalts symbolisiert im oberen Feld die ehemalige preußische Provinz Sachsen, im unteren Feld den ehemaligen Freistaat Anhalt. Die Landesfarben sind gelb-schwarz.
Genaueres siehe in den Artikeln Wappen Sachsen-Anhalts und Flagge Sachsen-Anhalts
Verdienstorden des Landes Sachsen-Anhalt
Verdienstorden des Landes Sachsen-Anhalt
Ehrennadel des Landes Sachsen-Anhalt
Partnerschaften
Das Land Sachsen-Anhalt unterhält folgende Partnerschaften:
Region Centre-Val de Loire (Frankreich), seit 5. Juli 2004
Woiwodschaft Masowien (Polen), seit 13. Oktober 2003
Medien
Die Landeshauptstadt Magdeburg ist Sitz des Landesfunkhauses Sachsen-Anhalt, das zum Mitteldeutschen Rundfunk gehört. Die Medienanstalt Sachsen-Anhalt hat ihren Sitz in Halle (Saale). In einigen Gebieten gibt es private Fernsehsender wie das Magdeburger Fernsehen 1, RAN 1, das Regionalfernsehen Harz oder TV Halle. Die größten Tageszeitungen sind die in Magdeburg erscheinende Volksstimme und die Mitteldeutsche Zeitung in Halle (Saale) mit einer Auflage von jeweils rund 190.000 Exemplaren.
Wirtschaft
Wirtschaftsgeschichte vor 1990
Mit der Gliederung der Länder in Bezirke wurde das Gebiet des heutigen Sachsen-Anhalts 1952 im Wesentlichen in die zwei Bezirke Halle und Magdeburg aufgeteilt. Im planwirtschaftlichen System der DDR wurde der Bezirk Halle zum Chemiestandort ausgebaut, geprägt von großen Chemiefabriken in Leuna (Leunawerke), Schkopau (Buna-Werke) und Bitterfeld/Wolfen, die auch heute noch das sogenannte Mitteldeutsche Chemiedreieck bilden. Auch das Mitteldeutsche Braunkohlerevier, zu dem das Geiseltal und das Bitterfelder Bergbaurevier gehören sowie die Kupfererzförderung im Mansfelder Land und um Sangerhausen beschäftigten Zehntausende von Arbeitern. Die Wirtschaft im Bezirk Magdeburg hingegen war einerseits durch großflächige Landwirtschaft in der Börde und Altmark geprägt, andererseits durch Schwermaschinenkombinate wie SKET, die VEB Schwermaschinenbau „Karl Liebknecht“ oder die VEB Schwermaschinenbau Georgi Dimitroff in Magdeburg, in welchen die zahlreichen Maschinenbaufirmen aus der Zeit vor 1945 zusammengefasst wurden.
Wirtschaftsgeschichte nach 1990
Sachsen-Anhalt verarbeitete den wirtschaftlichen Strukturwandel nach 1990 mit Erfolg und Rückschlägen zugleich. Die großen Kombinate hatten schwere strukturbedingte Schwierigkeiten beim Übergang in die Soziale Marktwirtschaft, da ihre technischen Anlagen meist völlig veraltet waren, durch einen hohen Einsatz von Arbeitskräften geprägt waren und schwere Umweltschäden verursachten. Insbesondere die Kombinate im Maschinenbau, dem Chemiedreieck und im Bergbau brachen rasch nach der Wende zusammen, was den Verlust von mehreren zehntausend Arbeitsplätzen zur Folge hatte. Die Arbeitslosigkeit stieg von 10,3 % (167.127 Menschen) im Jahre 1991 über 16,5 % (208.149 Menschen) im Jahre 1995 auf den Höchststand von 21,7 % 1998/1999 und verharrte auf diesem, in Deutschland zu dieser Zeit höchsten Niveau über mehrere Jahre bis 2005. Ab 2005 sank die Arbeitslosigkeit langsam und kontinuierlich auf 7,1 % im Oktober 2022. Dabei zeigt sich innerhalb des Bundeslandes ein Gefälle: So betrug die Quote im Landkreis Börde im Oktober 2022 4,7 % und lag im Landkreis Mansfeld-Südharz mit 9,4 Prozent doppelt so hoch.
Insgesamt gelang dem Land seit 1990 eine langsame, aber relativ stetige wirtschaftliche Erholung. Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) verdoppelte sich in sieben Jahren von 20,3 Milliarden Euro im Jahr 1991 auf 42,7 Milliarden Euro im Jahr 1998. Die nächsten sieben Jahre bis 2005 waren von einer geringeren Dynamik geprägt, das BIP wuchs lediglich auf 47,4 Milliarden Euro, was rund zehn Prozent Wachstum entspricht. 2006 sprang das Wachstum wieder stärker an und das BIP stieg bis 2008 auf 52,7 Milliarden Euro, was rund elf Prozent in drei Jahren entspricht. Mit einem Rückschlag durch Finanz- und Wirtschaftskrise 2009 liegt das BIP 2010 bei 52,1 Milliarden Euro, womit es im Ländervergleich auf dem 12. Platz liegt. Im Vergleich mit dem BIP der EU, ausgedrückt in Kaufkraftstandards, erreichte Sachsen-Anhalt im Jahr 2014 einen Index von 87,0 (EU 28: 100 Deutschland: 126,0). Nicht nur gemessen am BIP, sondern auch an anderen Indikatoren liegt der Wohlstand von Sachsen-Anhalt unter dem Bundesdurchschnitt. Mit einer Reichtumsquote von 3,0 % belegten Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-Vorpommern 2015 den letzten Platz im Vergleich der Bundesländer (Bundesdurchschnitt 7,5 %). Dagegen hatte Sachsen-Anhalt 2019 nach Bremen mit 21,4 % die zweithöchste Armutsquote und die höchste unter den Flächenländern, nahezu gleichauf mit Mecklenburg-Vorpommern. Wenn allerdings die Berechnung der Armutsgefährdungsquote auf dem mittleren Einkommen des jeweiligen Landes basiert (Landesmedian), wenn also jedes Bundesland für sich betrachtet wird, liegt Sachsen-Anhalt mit einer Quote von 14,8 % nahezu gleichauf mit Bayern (14,7 %) und besser als der bundesweite Durchschnitt (15,9 %).
Im Jahr 2020 war Sachsen-Anhalt das Bundesland, in dem die Wirtschaftsleistung am wenigsten stark zurückging und zeigte damit bundesweit die beste Wirtschaftsentwicklung.
Im April 2021 betrug – inmitten der COVID-19-Pandemie – die Arbeitslosenquote in Sachsen-Anhalt 7,7 % und war damit niedriger als etwa in Hamburg (8 %) und auf dem gleichen Niveau wie in Nordrhein-Westfalen (7,7 %).
Wirtschaftsgeographie
Die Region zwischen Halle und dem in Sachsen liegenden Leipzig bildet eine wirtschaftliche Schwerpunktregion, die besonders von guter verkehrstechnischer Erreichbarkeit profitiert (Autobahnen A 9, A 14, A 38, A 143, Flughafen Leipzig-Halle, Bahnknotenpunkt Halle). Traditionell befindet sich in der Gegend mit dem „Chemiedreieck“ ein Schwerpunkt von Chemie- und Erdölindustrie in Deutschland. Insbesondere in Leuna wurden in den letzten Jahren die größten Auslandsinvestitionen ganz Ostdeutschlands getätigt. Auch die Region nördlich und westlich von Magdeburg ist mit ihrer günstigen Lage zwischen Berlin und Hannover am Kreuz von A 2 und A 14 sowie dem Wasserstraßenkreuz zunehmend ein Investitions- und Ansiedlungsschwerpunkt geworden.
Branchen
Lebensmittelindustrie
Sachsen-Anhalts Nahrungs- und Genussmittelindustrie ist geprägt durch überregional bekannte Marken wie Rotkäppchen, Hasseröder, Halloren, Kathi, Zetti, Argenta und Wikana. Zudem werden in Lutherstadt Wittenberg in Deutschland Margarinen produziert (Rama, Lätta, Becel) und Toast- sowie Brotmarken (Golden Toast, Lieken Urkorn). Rotkäppchen-Mumm aus Freyburg (Unstrut) ist Deutschlands größter Sekthersteller, Halloren aus Halle die älteste Schokoladenfabrik der Bundesrepublik. In Weißenfels befinden sich Deutschlands größter Mineralwasserproduzent (MEG-Gruppe) und der Schlachtereistandort Tönnies. Grundlage für das starke Ernährungsgewerbe sind unter anderem die ertragreichen Böden in der Magdeburger Börde.
Bergbau
In Sachsen-Anhalt wurden und werden verschiedene Rohstoffe im Bergbau abgebaut. Darunter zählen Energierohstoffe wie die Braunkohle bei Bitterfeld, Halle, Weißenfels und Zeitz, die in großflächigen Tagebauen abgebaut wird (siehe Mitteldeutsches Braunkohlerevier). Mit dem Mansfelder und Sangerhäuser Revier befand sich bis in die 1980er Jahre eine bedeutende Kupfermetallurgie im Land (siehe Mansfeld (Unternehmen)). In Bernburg und in Morsleben befinden sich Bergwerke für Stein- und Kalisalz. Im Harz gab es Eisenerzabbau. Außerdem werden im Land verteilt Kalkstein, u. a. für die Betonherstellung, sowie Hartsteinschotter für das Baugewerbe gewonnen.
Metall-, Mineralöl- und Chemische Industrie
Die wichtigsten Wirtschaftszweige sind heute vor allem die Chemie-, Mineralöl- und Pharmaindustrie (Dow Olefinverbund, Total Raffinerie Mitteldeutschland, SKW Piesteritz, Salutas), die Automobilzulieferindustrie (IFA, Thyssenkrupp), der Maschinenbau (FAM, EMAG, KSB), die Metallindustrie (MKM, Novelis, Salzgitter, Trimet), das Gesundheitswesen (Ameos, Salus) und der Tourismus, unterstützt durch eine öffentlich geförderte Forschungslandschaft. Neben den traditionellen Branchen haben sich auch der Dienstleistungssektor und neue Industrien wie Automobilindustrie, Biotechnologie, Informations- und Kommunikationstechnik, Medien, Holzindustrie, Nachwachsende Rohstoffe, Windenergie und Photovoltaik als Branchen etabliert. Die relative Strukturschwäche des Landes bleibt jedoch bestehen, da Neuansiedlungen von Industriebetrieben mit Zehntausenden Beschäftigten in hochentwickelten Industrieländern wie Deutschland heutzutage unüblich sind.
In der chemischen Industrie Sachsen-Anhalts wurden im Jahr 2017 im Land Düngemittel und Stickstoffverbindungen im Wert von 808,6 Millionen Euro produziert, was einem Anteil von 26 Prozent der gesamten Produktion in Deutschland entspricht.
Pharmaindustrie
Zur pharmazeutischen Industrie zählen die Werken von Bayer, Hexal, Dermapharm/Mibe, Klocke-Gruppe/IDT Biologika. So ist Bayer Bitterfeld der Standort, an dem Aspirin für den deutschen Markt hergestellt wird- etwa 10 Milliarden Tabletten jährlich und mehr als 120 Milliarden seit 1995. Darüber hinaus kommt ein wesentlicher Teil (etwa 30 %) der deutschen Impfstoffproduktion aus Dessau-Roßlau (IDT Biologika) und Brehna (Dermapharm/Mibe). Hier werden zur Bekämpfung der COVID-19-Pandemie unter anderem Impfstoffe von AstraZeneca, Johnson und Johnson/Janssen und Biontech produziert.
Automobilindustrie
Mit dem Volkswagenwerk Wolfsburg befindet sich wenige Kilometer westlich der Landesgrenze in Niedersachsen einer der großen Arbeitgeber für die Menschen im nördlichen Sachsen-Anhalt.
In Sachsen-Anhalt selbst sind bei rund 270 Automobilzulieferern ca. 26.000 Beschäftigte zu verzeichnen. Zu den größten Automobilzulieferern des Landes gehört die Haldenslebener IFA-Group, der größte Kardanwellenhersteller Europas. Die Automobilzulieferindustrie Sachsen-Anhalts ist im Cluster MAHREG Automotive organisiert.
Der größte Nutzfahrzeughersteller der Welt, Daimler Truck will bis 2026 bei Halberstadt ein neues globales Logistikzentrum mit bis zu 600 neuen Arbeitsplätzen errichten.
Neue Technologien: Photovoltaik und E-Commerce
Das Photovoltaikunternehmen Hanwha Q Cells hat seinen Hauptsitz für Technologie und Innovation in Thalheim im Solar Valley.
Sachsen-Anhalt weist zudem zahlreiche im elektronischen Handel tätige Unternehmen auf. So kommen aus dem Land einige der ersten deutschen Internetapotheken.
Die Startups Tesvolt und Ecosia wurden von Wittenbergern gegründet.
Im Frühjahr 2022 gab der US-amerikanische Halbleiterhersteller Intel bekannt, bis 2026 auf dem Eulenberg südwestlich von Magdeburg zwei Chipfabriken zu errichten. Es handelt sich dabei mit einem Volumen von mehr als 17 Milliarden Euro um die größte Investition in eine Fertigungsanlage in Deutschland seit Jahrzehnten.
Infrastruktur
Hochschulen und Forschungseinrichtungen
In Sachsen-Anhalt hat sich seit 1990 eine ausgeprägte Forschungs- und Wissenschaftslandschaft entwickelt. Neben der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg und der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg verfügt das Land Sachsen-Anhalt über neun weitere Hochschulen:
Hochschule Anhalt
Hochschule Harz
Hochschule Merseburg
Hochschule Magdeburg-Stendal
Burg Giebichenstein Kunsthochschule Halle
Evangelische Hochschule für Kirchenmusik Halle
Theologische Hochschule Friedensau
Fachhochschule Polizei Sachsen-Anhalt
Steinbeis-Hochschule Berlin, private Fachhochschule
Insbesondere um die beiden Universitäten haben sich Forschungseinrichtungen der großen deutschen Forschungsinstitute angesiedelt. So gibt es heute fünf Institute der Wissenschaftsgemeinschaft Gottfried Wilhelm Leibniz, drei Max-Planck-Institute, eine Max-Planck-Forschungsstelle, zwei Fraunhofer-Einrichtungen und Standorte von zwei Großforschungseinrichtungen der Helmholtz-Gemeinschaft. Hinzu kommt das Julius Kühn-Institut mit Sitz in Quedlinburg.
Des Weiteren unterhält das Robert Koch-Institut eine Liegenschaft mit dem Schwerpunkt Infektionskrankheiten in Wernigerode.
Leibniz-Gemeinschaft
Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung Halle
Leibniz-Institut für Agrarentwicklung in Transformationsökonomien in Halle
Leibniz-Institut für Neurobiologie in Magdeburg
Leibniz-Institut für Pflanzenbiochemie in Halle
Leibniz-Institut für Pflanzengenetik und Kulturpflanzenforschung in Gatersleben
Max-Planck-Gesellschaft
Max-Planck-Institut für Dynamik komplexer technischer Systeme in Magdeburg
Max-Planck-Institut für ethnologische Forschung in Halle
Max-Planck-Institut für Mikrostrukturphysik in Halle
Max-Planck-Forschungsstelle für Enzymologie der Proteinfaltung in Halle
Fraunhofer-Gesellschaft
Fraunhofer-Institut für Fabrikbetrieb und -automatisierung in Magdeburg
Fraunhofer-Institut für Werkstoffmechanik in Halle
Fraunhofer-Center für Silizium-Photovoltaik in Halle
Fraunhofer-Institut für Zelltherapie und Immunologie, Projektgruppe Molekulare Wirkstoffbiochemie und Therapieentwicklung, Halle
Helmholtz-Gemeinschaft
Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung – UFZ in Leipzig, Halle und Magdeburg
Deutsches Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen in Magdeburg
Mit teilweise expliziten Stadtvierteln und Standorten für Forschungsinstitute wie dem Wissenschaftshafen in Magdeburg und dem Weinberg Campus in Halle versuchen die Städte, weitere Ansiedlungen von technik- und forschungsaffinen Einrichtungen besonders zu unterstützen.
Mit der Deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina hat die älteste dauerhaft existierende naturforschende Akademie der Welt ihren Sitz in Sachsen-Anhalt. Am 14. Juli 2008 wurde die Leopoldina zur Nationalen Akademie der Wissenschaften Deutschlands erklärt. Sie hat ihren Sitz seit 1878 in Halle.
Energie
Zu DDR-Zeiten sollte das Kernkraftwerk Stendal als größtes seiner Art entstehen und wäre mit einer Gesamtleistung von 4000 Megawatt auch das größte Kernkraftwerk Deutschlands insgesamt geworden. Das Kraftwerk Schkopau ist das gegenwärtig größte Kraftwerk, das mit fossilen Brennstoffen betrieben wird und eine Leistung von 900 Megawatt hat. Der größte Windpark des Landes befindet sich zwischen den Orten Biere und Borne; er hat eine Leistung von 109 Megawatt.
Im Bundesländervergleich „Erneuerbare Energie“ wurde Sachsen-Anhalt im Jahr 2012 in der Kategorie „Wirtschaftsmotor“ als Sieger ausgezeichnet. In der Gesamtwertung zwar nur auf Platz 5 verortet, steht das Land demnach insbesondere bei den Wirtschafts- und Beschäftigungseffekten der Erneuerbare-Energien-Branche gut da. Durch Produktionsanlagen von Unternehmen der Branche, aber auch durch die eigene intensive Nutzung erneuerbarer Energien wird die regionale Wertschöpfung durch Wind, Sonne und Biomasse vorangetrieben. Gemäß dem Energiekonzept 2020 der Landesregierung sollen erneuerbare Energien bis 2020 einen Anteil von 20 % am Primärenergieverbrauch erreichen.
Große Bedeutung hat insbesondere die Windenergie. Im Jahr 2012 konnten die in Sachsen-Anhalt installierten Windkraftanlagen ca. 55 % des Nettostrombedarfs des Landes decken. Damit rangiert das Land deutschlandweit nach Mecklenburg-Vorpommern auf dem vierten Platz. Mitte 2016 waren 2.731 Windkraftanlagen mit einer Gesamtleistung von 4.689 Megawatt installiert. Die Tradition der verstärkten Windkraftnutzung reicht insbesondere in Anhalt tief in das 19. Jahrhundert zurück.
Das Statistische Landesamt Sachsen-Anhalt veröffentlicht regelmäßig Daten zur Stromerzeugung und zum -verbrauch. Im Jahr 2020 wurden in Sachsen-Anhalt demnach 24,7 Milliarden Kilowattstunden Strom erzeugt. Von diesen wurden 15,5 % durch Braunkohle erzeugt (3,7 Milliarden Kilowattstunden) und 15,8 % durch Erdgas (3,9 Milliarden Kilowattstunden). Den Hauptanteil der Stromerzeugung bildeten mit 62 % die erneuerbaren Energien (15,3 Milliarden Kilowattstunden). Diese 62 % lassen sich aufteilen in 37,2 % Windstrom (9,2 Milliarden Kilowattstunden), weiterhin 12,3 % Biomasse (3,0 Milliarden Kilowattstunden), außerdem 11,1 % Photovoltaik (2,7 Milliarden Kilowattstunden) und 8,1 % Sonstige wie Wasserkraft, Müllverbrennung, Klär- und Deponiegas.
Schienenverkehr
Eine der ersten Bahnstrecken Deutschlands wurde 1840 zwischen Köthen und Dessau eröffnet. Nach dem abschnittsweisen Ausbau der sogenannten Anhalter Bahn über Wittenberg und Jüterbog endete diese Strecke im Berliner Anhalter Bahnhof. Köthen wurde zum ersten Eisenbahnknoten Deutschlands, da es bereits an der Magdeburg-Leipziger Eisenbahn lag. Deren Strecke erreichte im Juni 1840 Köthen, nachdem 1839 zwischen Magdeburg und Schönebeck der Verkehr aufgenommen worden war.
Heute sind die wichtigsten Bahnstrecken des Landes die als Lehrter Bahn bezeichnete Strecke von Berlin nach Hannover über Stendal, die Bahnstrecke Berlin–Halle als Verbindung zwischen Berlin und München, die Strecke Berlin–Magdeburg, die Strecke Magdeburg–Braunschweig mit Verbindungen nach Hannover sowie die Bahnstrecke Magdeburg–Leipzig, mit der Magdeburg und Halle verbunden sind. Hinzu kommt ein Netz aus weiteren Haupt- und Nebenbahnen, welche die Städte des Landes verbinden, beispielsweise von Magdeburg und Halle in die Harzvorstädte und den Harz. Diese Strecken werden überwiegend vom Verkehrsunternehmen Abellio Rail Mitteldeutschland bedient, welches in Sachsen-Anhalt nach der Deutschen Bahn die zweitmeisten Zugkilometer erbringt. Vor allem touristische Zwecke erfüllen die Harzer Schmalspurbahnen (HSB).
Wichtigste Bahnknoten sind Halle und Magdeburg, ferner sind auch die Bahnhöfe in Stendal, Halberstadt, Köthen, Dessau, Lutherstadt Wittenberg, Bitterfeld, Weißenfels, Naumburg und Sangerhausen von Bedeutung.
In den Großräumen Magdeburg und Halle existieren S-Bahnen (S-Bahn Mittelelbe, S-Bahn Mitteldeutschland).
Straßennetz
Von überregionaler Bedeutung sind vor allem fünf Bundesautobahnen, die das Land durchziehen. In Ost-West-Richtung verläuft im nördlichen Sachsen-Anhalt an Magdeburg vorbei die A 2 Berlin–Hannover, im östlichen Teil des Landes verläuft die A 9 Berlin–München in Nord-Süd-Richtung und erschließt die Städte Dessau, Bitterfeld, Halle und Weißenfels. Quer durch Sachsen-Anhalt verläuft die A 14 von Dresden über Halle nach Magdeburg und tangiert dabei Bernburg, Staßfurt und Schönebeck. Geplant ist eine Verlängerung dieser Autobahn nach Norden über Stendal, Osterburg (Altmark) und Wittenberge (Brandenburg) zum Dreieck Schwerin (Altmark-Autobahn). Bei Bernburg beginnt die A 36, die nördlich des Harz die Städte Aschersleben, Quedlinburg, Thale, Blankenburg (Harz) und Wernigerode erschließt und bis Braunschweig führt. Im Süden Sachsen-Anhalts verläuft in ostwestlicher Richtung die A 38 (Leipzig–Göttingen), tangiert Sangerhausen und erschließt den Südharz. Verbunden wird diese Autobahn mit der A 14 durch die noch unfertige A 143, die westlich um die Stadt Halle herumführt und nach Fertigstellung zur Mitteldeutschen Schleife, einem Autobahn-Doppelring um die Städte Halle und Leipzig, werden soll. Ihre Fertigstellung wird jedoch seit mehreren Jahren durch Umweltverbände verhindert.
Das nördliche Sachsen-Anhalt erschließen von Magdeburg aus vor allem die B 71 und B 189, die in Ermangelung einer Autobahn in diesem Gebiet ein hohes Verkehrsaufkommen haben. Die B 71 bindet Haldensleben, Gardelegen und Salzwedel an, die B 189 die Städte Stendal, Osterburg (Altmark) und Seehausen (Altmark). Den Norden Sachsen-Anhalts verbindet die B 190 von Salzwedel nach Seehausen. Die Weiterführung der B 6 vom Autobahnkreuz Bernburg an der A 14 zur A 9 südlich von Dessau ist bis Köthen bereits in Betrieb. Der letzte Teilabschnitt zwischen Köthen und der A 9 südlich Dessau soll 2022 fertiggestellt werden.
Durch Sachsen-Anhalt verläuft als Teil der Transromanica auch die Straße der Romanik, eine Ferienstraße, die wegen des großen romanischen Erbes dieser Landschaft eingerichtet wurde. Ebenfalls durch Sachsen-Anhalt führt die Straße der Familie Bismarck.
Flugverkehr
Zwischen Halle und Leipzig befindet sich auf sächsischem Gebiet der internationale Flughafen Leipzig/Halle. In Magdeburg liegt der Flugplatz Magdeburg, der vorrangig von Sport- und Privatfliegern genutzt wird. In der Nähe der Stadt Aschersleben gibt es den Flughafen Cochstedt, der mehrere Jahre ohne Betrieb war und vom 30. März 2011 bis Ende 2013 von Ryanair genutzt wurde. Im Januar 2016 meldete der Flughafen Insolvenz an.
Wasserstraßen
Durch Sachsen-Anhalt verlaufen mit der Elbe, der Saale, dem Mittellandkanal und dem Elbe-Havel-Kanal wichtige Wasserstraßen, die sich bei der Landeshauptstadt Magdeburg am Wasserstraßenkreuz treffen. Binnenhäfen bestehen u. a. mit dem Hafen Magdeburg und dem Hafen Halle (Saale).
Kultur
Kulturlandschaft
Die Kulturlandschaft Sachsen-Anhalts ist, im Gegensatz zu den angrenzenden Ländern Brandenburg, Sachsen oder Thüringen, regional äußerst unterschiedlich und weist verhältnismäßig wenige Gemeinsamkeiten auf. Zunächst unterscheidet sich das bereits ab 700 besiedelte altdeutsche Bauerngebiet westlich von Saale und Elbe von den während der deutschen Ostkolonialisierung im 12. Jahrhundert germanisierten slawischen Siedlungsgebieten östlich der beiden Flüsse.
So entstand ab 700 zwischen Magdeburg und dem Harz ein Siedlungsgebiet, das – wie das angrenzende Südniedersachsen – zu Ostfalen gezählt wird. Südlich des Harzes entstand gleichzeitig ein thüringisch geprägtes Gebiet zwischen Zeitz und Sangerhausen. Im Norden des Landes bildete sich um das Jahr 1000 das Siedlungsgebiet der Altmark, die dem heutigen Brandenburg sehr ähnlich ist. Gleiches gilt auch für das Jerichower Land zwischen Elbe und Fläming. Im Südosten des Landes, zwischen Halle und Wittenberg, entstand ab 1100 eine Region, die kulturell enge Verbindungen zu Sachsen aufweist. In der Mitte des Landes zieht sich in einem schmalen Streifen vom Harz bis nach Dessau die Region Anhalt hin, die eine Mischregion aus kulturellen Einflüssen Ostfalens, Thüringens, Sachsens und Brandenburgs darstellt.
Damit kann man das heutige Land Sachsen-Anhalt in die Kulturräume Altmark im Norden, Jerichower Land im Osten, Ostfalen/Magdeburger Börde im Westen, thüringisch geprägte Gebiete im Südwesten und sächsisch geprägte Gebiete im Südosten unterteilen. Dazwischen liegt in der Landesmitte Anhalt.
Kulturgeschichte
Die Gegend des heutigen Landes Sachsen-Anhalt war im Frühmittelalter einer der kulturellen Schwerpunkte im deutschsprachigen Raum. Die heutige Landeshauptstadt Magdeburg war zu jener Zeit eines der politischen Zentren im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation. Von der früheren Bedeutung der gesamten Region zeugen heute die für das Land typischen, gut erhaltenen Baudenkmäler aus der Zeit der Romanik und der Gotik (siehe auch: Straße der Romanik), wie die Dome zu Magdeburg und zu Halberstadt, die Quedlinburger Altstadt und viele Burgen und Kirchen. Laut Landesmarketinggesellschaft ist Sachsen-Anhalt das Bundesland mit der höchsten Dichte an UNESCO-Weltkulturerben in Deutschland. Hierzu zählen das Bauhaus Dessau in Dessau-Roßlau, die Luthergedenkstätten in Wittenberg und Eisleben, die Altstadt von Quedlinburg, das Dessau-Wörlitzer Gartenreich mit dem Wörlitzer Park und der Naumburger Dom. Prägend für die hiesigen Ortschaften und Städte sind neben verwinkelten Fachwerkhausaltstädten und eng bebauten Dörfern, ebenfalls oft mit Fachwerkarchitektur und sehenswerten alten Dorfkirchen, auch Gebäude aus der Zeit der preußischen Provinz Sachsen, die seinerzeit als reichste Provinz des Landes galt.
Küche
Nicht-bundeseinheitliche Feiertage
Heilige Drei Könige: 6. Januar
Reformationstag: 31. Oktober
Städte
Am 31. Dezember 2020 lebten 1.179.170 von 2.180.684 Einwohnern in Städten mit mehr als 20.000 Einwohnern, was einem relativ niedrigen Verstädterungsgrad von 54,07 % entspricht. Obwohl die meisten Städte bereits seit 1940 schrumpfen, bilden sie die kulturellen Zentren des Landes. Dies gilt insbesondere für die beiden größten Städte Magdeburg und Halle sowie für die Bauhausstadt Dessau-Roßlau und die Lutherstadt Wittenberg. Bedingt durch die kulturellen Unterschiede der Landesteile unterscheiden sich auch die Stadtbilder erheblich. Von der Backsteingotik des norddeutschen Mittelalters sind beispielsweise die Städte Stendal, Salzwedel, Tangermünde, Gardelegen und Burg geprägt. Durch Romanik und Gotik sind besonders die Städte in der Harzregion wie beispielsweise Halberstadt, Wernigerode, Sangerhausen, Aschersleben, Staßfurt und in besonderem Maße Quedlinburg und Eisleben geprägt. Auch Naumburg, Merseburg, Zeitz und Schönebeck tragen heute noch eine mittelalterliche Prägung in ihrem Weichbild. Die folgenden Stilepochen der Renaissance und des Barocks sind in vielen Städten vertreten, hervorzuheben sind hier vor allem die Renaissancebauten in Wittenberg, das zu dieser Zeit eine Blütephase erlebte. Auch die Residenzstädte Köthen, Bernburg und Weißenfels weisen heute eine Vielzahl an barocken Gebäuden auf. Die größte Stadt des Landes, Halle, hat ein stark durchmischtes Stadtbild von der Gotik bis zur modernen Architektur. Eine industriestädtische Prägung weist vor allem die Stadt Bitterfeld-Wolfen auf. Bedingt durch die starke Zerstörung im Zweiten Weltkrieg sind die Innenstädte Magdeburgs und Dessau-Roßlaus vor allem durch die sozialistische Nachkriegsarchitektur und Bauten der jüngsten Zeit geprägt. Nach dem Ideal der Sozialistischen Stadt entstanden zu DDR-Zeiten große Teile Wolfens sowie Halle-Neustadt, die größte Plattenbaustadt der DDR. Insgesamt sind die Stadtbilder in Sachsen-Anhalt somit von einer enormen Vielfalt geprägt, die die reichhaltige und wechselvolle Geschichte der Region und des gesamten Landes widerspiegelt.
Bauwerke
Burgen
Begünstigt zur Anlage von Burgen waren vor allem die südlichen, hügeligen Landesteile. Im Norden und im Flachland griff man daher vor allem auf die Anlage von Wasserburgen zurück. Entlang der deutsch-slawischen Siedlungsgrenze des frühen Mittelalters entstanden auch Stadtburgen (Magdeburg, Bernburg, Merseburg, Naumburg). Zu den ältesten Burgen des Landes gehören die ottonischen Königspfalzen, die sich unter anderem in Allstedt, Magdeburg, Memleben, Merseburg, Quedlinburg, Tilleda und Westerburg befanden. Zu den bedeutendsten heute erhaltenen Burgen gehören die Burg Falkenstein (Harz), die Burg Landsberg mit einer Doppelkapelle der Stauferzeit, die Neuenburg bei Freyburg an der Unstrut, die großflächige Burg Querfurt, die Rudelsburg und Burg Saaleck über dem Naumburger Saaletal, die Burg Giebichenstein, die Moritzburg in Halle sowie die Burg Wettin als Stammsitz des europäischen Herrschergeschlechts der Wettiner und die Burg Anhalt im Harz als Ursprung Anhalts. Daneben gibt es noch eine Vielzahl von Burgen und Burgruinen, vor allem im Harz, aber auch in anderen Landesteilen.
Später wurde die Stadt Magdeburg durch die Preußen zur Festung ausgebaut und dadurch zu einer der stärksten Festungen Deutschlands (siehe hierzu: Festung Magdeburg).
Schlösser
Die meisten Schlösser Sachsen-Anhalts stammen aus der Zeit der Renaissance und des Barocks. Im Harz gibt es viele Stadtschlösser, die aus Burgen hervorgingen und sich oberhalb der mittelalterlichen Altstädte befinden. Das bekannteste dieser Schlösser ist das Schloss Wernigerode, aber auch das Schloss Stolberg, das Schloss Blankenburg oder das Schloss Mansfeld lassen sich in diese Kategorie einordnen. Oft handelt es sich hierbei um Mischformen aus Burg und Schloss.
Des Weiteren gibt es in Sachsen-Anhalt einige Residenzschlösser. Dazu gehören das Schloss Bernburg (Fürstentum Anhalt-Bernburg), der Johannbau in Dessau (Fürstentum Anhalt-Dessau) das Schloss Moritzburg (Sachsen-Zeitz), das Schloss Neu-Augustusburg (Sachsen-Weißenfels) und das Schloss Wittenberg (Kurfürstentum Sachsen). Eine dritte Gruppe bilden Land- und Sommerresidenzen wie beispielsweise Schloss Mosigkau bei Dessau oder das gesamte Dessau-Wörlitzer Gartenreich mit mehreren Schlösschen. Auch Schloss Oranienbaum und Schloss Zerbst (Katharina die Große) gehören in diese Gruppe. Ein Beispiel für ein Jagdschloss ist das Jagdschlösschen Spiegelsberge aus dem Jahre 1782 bei Halberstadt.
Kirchen und Klöster
Sachsen-Anhalt ist reich an hochmittelalterlichen Kirchen und Klöstern der ottonischen Baukunst, der Romanik und der Gotik. Die Straße der Romanik enthält eine Vielzahl alter Sakralbauten, die in dieser Dichte in Deutschland wohl einzigartig ist.
Dome und Stadtkirchen
Es gibt einige Dome (Magdeburger Dom, Merseburger Dom, Naumburger Dom, Zeitzer Dom, Halberstädter Dom, Hallescher Dom und Havelberger Dom) sowie eine Vielzahl großer Stadtkirchen (z. B. St. Stephani in Aschersleben, St. Stephani in Calbe, die Marienkirche, die Johanniskirche in Dessau, die Martinikirche in Halberstadt, die Marktkirche in Halle, St. Jakob in Köthen, St. Wenzel in Naumburg, die Nikolaikirche in Quedlinburg, St. Jakobi in Schönebeck, St. Marien in Stendal, St. Stephan in Tangermünde und die Stadtkirche in Wittenberg).
In Magdeburg blieben von den ehemals zahlreichen Kirchen der Magdeburger Dom, das Kloster Unser Lieben Frauen sowie die Kirchen St. Petri, St. Sebastian, St. Johannis und St. Nicolai erhalten.
Stifts- und Klosterkirchen
Es sind noch ottonische und romanische Klosterkirchen erhalten wie die Stiftskirchen in Quedlinburg, Walbeck, Gernrode, Halberstadt und Jerichow.
Sehenswert sind auch die Huysburg, das Kloster Drübeck, das Kloster Gröningen, das Kloster Hadmersleben, das Kloster Hamersleben, das Kloster Hillersleben und weitere ehemalige Klöster. Kulturgeschichtlich bedeutsam ist das ehemalige Zisterzienserkloster Pforta, in dem seit dem 16. Jahrhundert die dortige Landesschule zahlreiche bedeutende Persönlichkeiten der Kultur und Politik hervorbrachte.
Da nach der Reformation die meisten Klöster und Stifte aufgelöst wurden, sind einige Bauten in der mittelalterlichen Architektur bis heute erhalten.
Schauspiel und Musik
In den Großstädten Halle und Magdeburg gibt es eine Vielzahl an verschiedenen Theatern und Schauspielhäusern. In Dessau-Roßlau gibt es ebenfalls zwei Theater. Daneben stehen mit der Oper Halle und dem Theater Magdeburg zwei Opernhäuser in Sachsen-Anhalt.
Weitere kleine Spielstätten sind über das Bundesland verteilt.
Museen
Sachsen-Anhalt hat eine umfangreiche Vor- und Frühgeschichte. Zahlreiche Funde werden im Landesmuseum für Vorgeschichte in Halle ausgestellt. Darunter ist zum Beispiel die Himmelsscheibe von Nebra aus dem 2. Jahrtausend vor Christus. In der Nähe der Fundstelle im Burgenlandkreis wurde in den letzten Jahren zusätzlich ein Besucherzentrum gebaut.
Das Bauhaus Museum Dessau präsentiert Sammlungsmaterial der aus der Region stammenden, im 20. Jahrhundert bedeutsamen Kunst, Design und Architekturschule Bauhaus.
Mit dem Leben und Wirken des aus Eisleben stammenden und u. a. in Wittenberg wirkenden Reformators Martin Luther beschäftigen sich die Luthergedenkstätten in Eisleben und Wittenberg.
Die 1698 gegründeten Franckeschen Stiftungen in Halle beherbergen eine Vielzahl an kulturellen, sozialen und wissenschaftlichen Einrichtungen.
Es gibt außerdem eine umfangreiche Ansammlung an weiteren Museen in den Großstädten Magdeburg und Halle, in Dessau sowie in verschiedenen Kleinstädten.
Historische Bibliotheken
Es gibt eine Reihe von Bibliotheken mit bedeutsamem historischen Druckschriftenbestand, zum Beispiel
die Marienbibliothek zu Halle an der Saale
die Bibliothek der Franckeschen Stiftung zu Halle
die Historische Bibliothek der Landesschule Pforta
die Francisceumsbibliothek in Zerbst
die Bibliothek Johann Wilhelm Ludwig Gleims und seiner Freunde im Gleimhaus
in der Universitäts- und Landesbibliothek Sachsen-Anhalt.
Sport
Handball
Sachsen-Anhalt ist eine Hochburg des Handballs. Der traditionsreiche SC Magdeburg spielt in der 1., der Dessau-Roßlauer HV in der 2. Handball-Bundesliga. In der dritten Liga spielen ferner die zweite Mannschaft des SC Magdeburg und der SV Anhalt Bernburg. In der Saison 2017/2018 gelang den Halleschen Handballfrauen „Wildcats – SV Union Halle Neustadt“ der Aufstieg in die 1. Bundesliga.
Basketball
Im südlichen Sachsen-Anhalt ist einer der erfolgreichsten Basketballclubs Ostdeutschlands beheimatet. Der Mitteldeutsche Basketball Club (MBC) aus Weißenfels spielte fünf Jahre lang – von 1999 bis 2004 – in der 1. Basketballbundesliga BBL. 2004 gewann das Team den Europapokal des FIBA Europe Cup Men. Nach einigen Jahren in der 2. Bundesliga Pro A und Vizemeisterschaften 2006 und 2007 gelang dem MBC in der Saison 2008/2009 erneut der Aufstieg in die 1. Liga. In der Saison 2010/11 stieg der Verein allerdings wieder ab, schaffte aber den direkten Wiederaufstieg. 2016 mussten die Weißenfelser die BBL zum dritten Mal verlassen, wobei im Folgejahr wiederum der Aufstieg in die höchste Spielklasse gelang.
Mit den SV Halle Lions stellt Sachsen-Anhalt zudem eine Frauenbasketballmannschaft in der 1. Bundesliga DBBL.
Fußball
In Sachsen-Anhalt ist der ehemalige (1974) Europapokalsieger 1. FC Magdeburg beheimatet, der in der Saison 2022/23 in der 2. Bundesliga spielt. Der Hallesche FC tritt in der 3. Liga an. In der Regionalliga Nordost der Frauen spielt der Magdeburger FFC.
Motorsport
In Oschersleben (Bode) befindet sich die Motorsport Arena Oschersleben, in der nationale und internationale Auto- und Motorradrennen stattfinden. In Teutschenthal befindet sich eine Motocross-Rennstrecke, auf der schon einige Male der Motocross-Weltmeisterschaften stattfanden.
Eishockey
In Halle spielt der Eishockey-Verein Saale Bulls in der Oberliga Nord (Saison 2017/2018). Seit der Saison 2014/15 spielen die Saale Bulls im Sparkassen-Eisdom, da die Volksbank Arena 2013 durch Hochwasser stark beschädigt und ab Frühjahr 2016 schließlich abgerissen wurde.
Sonstige Statistiken
Sachsen-Anhalt hatte im Jahr 2006 die niedrigste Suizidrate aller deutschen Länder, im Jahr 2017 die höchste Rate. Die Suizidrate war in den Jahren 2006, 2017 und 2019 jeweils deutlich niedriger als im Jahr 1990.
In der „Mitte-Studie“ von 2015 wurde die Zustimmung zu ausländerfeindlichen Aussagen in einzelnen deutschen Bundesländern untersucht. Die höchste Zustimmung zu ausländerfeindlichen Aussagen gab es im Vergleich der Bundesländer mit 42,2 % in Sachsen-Anhalt (Bundesdurchschnitt: 24,3 %, Bayern: 33,1 %), wobei antisemitische Einstellungen in Bayern (12,6 %) und Thüringen (12,2 %) weitaus verbreiteter waren als in Sachsen-Anhalt (8,3 %), welches weniger ausgeprägte antisemitische Einstellungen aufwies als Nordrhein-Westfalen (9,4 %) und Berlin (9,0 %).
Sachsen-Anhalt belegt regelmäßig deutschlandweit bei den Impfquoten einen der vorderen Plätze.
Siehe auch
Lied für Sachsen-Anhalt (inoffizielle Landeshymne)
Polizei Sachsen-Anhalt
Literatur
Stefanie Härtel, Michael Schwibbe, Hagen Königseder, Andreas Stephainski: Sachsen-Anhalt – Land im Aufbruch. Saale Verlagsgesellschaft, Halle 2006, ISBN 3-00-019787-7.
Everhard Holtmann (Hrsg.): Landespolitik in Sachsen-Anhalt. Ein Handbuch. Mitteldeutscher Verlag, Halle 2006, ISBN 3-89812-398-7.
Regionalbibliographie Sachsen-Anhalt.
Robert von Lucius: Jubiläum ohne Feier. Sechzig Jahre Sachsen-Anhalt. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung. 23. April 2007, Nr. 168, S. 4.
Frank Mangelsdorf (Hrsg.): Einst und Jetzt: Sachsen-Anhalt. Culturcon Medien, Berlin 2011, ISBN 978-3-941092-74-7.
Steffen Raßloff: Mitteldeutsche Geschichte. Sachsen – Sachsen-Anhalt – Thüringen, Leipzig 2016, überarbeitete Neuausgabe, Sax Verlag, Markkleeberg 2019, ISBN 978-3-86729-240-5.
Steffen Raßloff: Sachsen-Anhalt. 55 Highlights aus der Geschichte. Sutton, Erfurt 2020, ISBN 978-3-96303-162-5.
Hendrik Träger, Sonja Priebus (Hrsg.): Politik und Regieren in Sachsen-Anhalt. Springer VS, Wiesbaden 2017, ISBN 978-3-658-13688-8.
Mathias Tullner (Hrsg.): Persönlichkeiten der Geschichte Sachsen-Anhalts. Fliegenkopf, Halle 1998, ISBN 3-910147-58-5.
Weblinks
Website des Landes Sachsen-Anhalt
Pressemitteilungen und Informationsportale des Landes Sachsen-Anhalt
Offizielles Tourismusportal des Landes Sachsen-Anhalt
Einzelnachweise
Bundesland (Deutschland)
Norddeutschland
|
Q1206
| 502.008009 |
98129
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https://de.wikipedia.org/wiki/Armf%C3%BC%C3%9Fer
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Armfüßer
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Die Armfüßer (Brachiopoda) oder Armfüßler, seltener auch Armkiemer genannt, sind die Angehörigen eines Tierstamms ausschließlich aus meereslebenden bilateral-symmetrischen Tieren mit zweiklappigem Gehäuse. Sie ernähren sich von Kleinstlebewesen und ähneln äußerlich den Muscheln (Bivalvia), haben aber anstatt einer linken und rechten Schale (Klappe) eine obere und eine untere, wobei die bauchseitige Schale meist größer als die Rückenschale ist. Brachiopoden besitzen ferner einen Stiel zum Festklammern und an beiden Seiten des Mundes armförmige Tentakel. Die größten heute lebenden Arten erreichen Schalenbreiten bis sieben Zentimeter, die größten fossilen Schalen sind etwa 30 Zentimeter breit.
Merkmale
Äußere Anatomie
Schale
Das auffälligste Merkmal der Armfüßer ist die zweiklappige Schale, die in eine Dorsal- und eine Ventralschale unterteilt wird. Man kann auch von einer oberen und einer unteren Schale sprechen, wobei letztere meist etwas größer als die obere ist. Die dorsale Schale wird auch Armklappe, die ventrale Schale Stielklappe genannt.
Obwohl sie äußerlich dadurch den Muscheln ähneln, kann man sie auf Anhieb an der Lage der Symmetrieebene erkennen. Diese geht bei ihnen senkrecht durch die Einzelklappe und teilt sie in jeweils zwei symmetrische Hälften, während sie bei Muscheln entlang des Schalenrandes verläuft. Vor allem bei den fossilen Vertretern können die Schalen sehr unterschiedlich geformt sein. So gibt es neben den in beide Richtungen gewölbten bikonvexen Schalen der Mehrheit der Tiere auch konkav-konvexe und von der normalen Form abweichende Formen. Bei einigen Arten ändert sich die Form im Laufe der Entwicklung von einer konvex-konkaven Form zu einer bikonvexen, man spricht dabei man von resupinaten Gehäusen.
Bei den meisten Arten sind beide Klappen stark verkalkt und mit einer organischen Schicht, dem Periostracum, bedeckt. Darunter befinden sich abwechselnd Schichten aus Calciumcarbonat (Calcit) und Proteinhäutchen. Bei einigen Arten liegt darunter noch eine Schicht aus prismenförmigen Calcitkristallen. Die Schalen können feine Kanälchen aufweisen, durch die Ausstülpungen des Mantels mit Sekretzellen, die sogenannten Caeca, reichen. Eine solche Schale wird als punctate Schale bezeichnet. Einige ursprüngliche Arten, wie Lingula, haben dagegen eine wenig verkalkte und biegsame Schale aus Chitinlamellen und Calciumphosphat.
Zusammengehalten werden die beiden Schalenhälften durch eine starke Muskulatur, deren wichtigste Teile der „Öffner“ und der „Schließer“ sind. Diese Muskeln arbeiten gegeneinander und ermöglichen die Öffnung bzw. die Schließung der Schalen. Bei den Articulata existiert außerdem ein Scharnier, die beiden Schalen sind also miteinander artikuliert (daher die Bezeichnung Articulata). Am Schalenaußenrand befinden sich Borsten (Setae). Der Öffnungswinkel der Klappen ist abhängig von der jeweiligen Art und kann zwischen 7° bei Gryphus-Arten und 45° bei Platidia-Arten betragen.
Armapparat
Im Zentrum des Tieres ist der namensgebende Armapparat (Lophophor) befestigt, der häufig (bei den Testicardines) durch ein kalkiges Armskelett an der Dorsal- oder Armschale gestützt wird, dem Lophophorskelett oder Brachidium, und mit dem das Tier Nahrung aus dem Wasser sammelt und atmet. Die Nahrung gelangt über den zentral gelegenen und schlitzförmigen Mund in das Verdauungssystem. Der Körper ist von einem zweilappigen Mantel umgeben, der an der Außenseite die Schalenmaterialien absondert. Der Weichkörper einschließlich der Lophophoren ist vollständig von beiden Gehäuseklappen umschlossen. Die inneren Organe liegen im hinteren Gehäusebereich, der vordere besteht aus einer Mantelhöhle, in welche die Lophophoren hineinragen. Bei geschlossenen Klappen wird der Lophophor in die Filterkammer eingelegt und stellt sich erst wieder auf, wenn die Klappen wieder geöffnet werden.
Stiel
Aus der Ventralklappe, der Stielklappe oder zwischen beiden tritt am hinteren Ende des Tieres häufig ein muskulöser Stiel mit zäher, chitiniger Cuticula aus, mit dem das Tier am oder im Substrat festgewachsen ist. Dieser Stiel ist beweglich und erlaubt den Tieren, eine optimale Position im Wasser einzunehmen. Bei den noch heute in den Meeren vorkommenden Atremata wie der Gattung Lingula kann der Stiel bis zu 30 Zentimeter lang werden. Der muskulöse Stiel wird in den Staaten Südostasiens und in der Südsee von den Menschen gegessen.
Wenige Arten besitzen keinen Stiel und kleben mit der Ventralklappe am Substrat, andere sind nicht festgewachsen (sessil) und bewegen sich mit Hilfe des Stieles durch das Substrat (vagil).
Innere Anatomie
Das Nervensystem der Armfüßer ist sehr einfach aufgebaut. Es besitzt Ganglienkonzentrationen zur neuronalen Versorgung des Lophophors und der Klappenmuskulatur. Als Sinnesorgane sind nur Statocysten und einfache Lichtsinneszellen der Larven sowie bei Ligula bekannt. Der Darm ist bei den verschiedenen Taxa der Armfüßer unterschiedlich aufgebaut. Er folgt bei allen Arten einem erweiterten Magen mit einer paarigen Mitteldarmdrüse, verläuft dann jedoch entweder u-förmig zu einem vorn gelegenen After (Crania), auf die rechte Körperseite ausführend (alle Inarticulata) oder er endet blind (bei allen Testicardines).
Die Leibeshöhle, das Coelom, ist bei den Armfüßern dreiteilig, wobei die einzelnen Teile vollkommen voneinander abgetrennt sind. So besitzen sie ein röhrenförmiges Protocoel am Innenrand des Lophophors, das als „großer Armsinus“ oder Labialkanal benannt wird. Das Mesocoel stellt ebenfalls einen Kanal am Lophophor dar, dieser liegt allerdings als „kleiner Armsinus“ an der Außenseite und besitzt Seitenzweige in den Tentakeln. Das Metacoel ist paarig und bildet im Körperzentrum der Tiere Mesenterien mit darin enthaltenen Gefäßen sowie zwei Paar seitliche Bänder, das Gastroparietal- und das Ilioparietalband. Außerdem verzweigt es sich im Mantel. Das Gefäßsystem ist geschlossen und besteht aus einem Sinus und mehreren Blutkanälen, das hämoglobinhaltige Blut wird von einem kontraktilen Herzen, das oberhalb des Magens liegt, durch den Körper gepumpt. Besonders gut versorgt werden die Außenbereiche des Mantels sowie der Lophophor, da hier der Sauerstoff zur Atmung aus dem Wasser aufgenommen wird.
Die Entsorgung von Stoffwechselendprodukten (Exkreten) erfolgt über ein Paar Metanephridien im Ilioparietalband, bei den Rhynchonellidae über zwei Paare im Gastroparietalband. Durch die Nephridien werden auch die Keimzellen ausgeleitet, die Gonaden liegen dabei im Bereich des Metacoels, entweder an den Mesentherien oder in den Mantelkanälen.
Lebensweise
Ernährung
Armfüßer sind typische sessile Filtrierer, sie filtern also als Strudeler ihre Nahrung aus dem vorbeiströmenden Wasser. Dabei bilden sie keine Kolonien, sind also solitär, liegen jedoch sehr häufig nahe beieinander. Die Nahrung der Tiere besteht hauptsächlich aus Dinoflagellaten und Kieselalgen (Bacillariophyta), die sie mit Tentakeln an den Lophophoren heranstrudeln. Der Lophophor hat zu diesem Zweck an der Oberseite einseitig angeordnete Rinnen und Tentakel mit einer reusenartigen Bewimperung. Durch die Bewegung des Lophophors wird entsprechend ein Wasserstrom erzeugt, der seitlich in die geöffneten Klappen eintritt, und die Nahrungspartikel aus dem Wasser gefiltert. Über die Nahrungsrinne wird die Nahrung zur zentral gelegenen Mundöffnung geleitet.
Fortpflanzung und Entwicklung
Armfüßer sind mit Ausnahme der Vertreter der Gattung Argyrotheca getrenntgeschlechtlich und pflanzen sich ausschließlich sexuell fort. Dabei entwickeln sich die Keimzellen in den Gonaden und werden durch die Nephridien in das freie Wasser entlassen, wo die Befruchtung stattfindet. Bei einigen Arten verbleiben die Eizellen im Bereich des Lophophors oder sogar noch in den Nephridien und werden hier von freischwimmenden Spermien befruchtet, die Larvalentwicklung erfolgt bei ihnen anschließend in der Schale (Brutpflege).
Nach der Befruchtung beginnt die Keimesentwicklung durch eine Radiärfurchung bis zum Stadium der Gastrula. Das Mesoderm wird durch eine Enterocoelie des Darmes gebildet, es schnüren sich also Bläschen des Urdarms ab und bilden die drei paarigen Leibeshöhlen (Coelom). Bei den Inarticulata findet die Larvalentwicklung weitestgehend in der Eihülle statt und die Tiere schlüpfen als Larve, die den ausgewachsenen Tieren weitestgehend ähnelt und sich in dieser Form festsetzen kann. Bei den Articulata entwickelt sich eine freischwimmende Larve mit einer morphologischen Zweiteilung, wobei der Vorderteil mit Zilien ausgestattet ist und der Fortbewegung dient.
Nach etwa zwei Tagen heftet sich die Larve mit dem Hinterteil an das Substrat und es beginnt eine Metamorphose, bei der sich aus dem Hinterteil der Stiel und der Mantel bilden. Letzterer stülpt sich über das Vorderende, das sich zum eigentlichen Körper des Tieres mit dem Lophophor entwickelt. Die Schalen werden abschließend vom Mantel sezerniert, indem sich erst eine Vorschale aus Proteinen bildet (Protegulum). Die eigentliche Schale bildet sich von diesen Protegula ausgehend, die später den zentralen Wirbel bilden. Der Zuwachs kann anhand von Zuwachslinien abgelesen werden, wodurch sich das Alter der Tiere an der Schale abschätzen lässt. Das Lebensalter kann von wenigen Monaten bei Kleinformen bis zu mehreren Jahren reichen, eine ähnliche Altersspanne wird auch für fossile Formen angenommen.
Stammesgeschichte
Phylogenie
Entstehung der Armfüßer
Die Armfüßer sind fossil bereits seit dem frühen Kambrium vor etwa 530 Millionen Jahren bekannt. Dabei sind bis heute Fossilien von mehr als 30.000 ausgestorbenen Arten gefunden worden, die in mehr als 4000 Gattungen eingeordnet werden. Besonders artenreich war das Taxon im Devon (siehe hierzu Abschnitt „Entfaltung der Armfüßer“).
Man geht davon aus, dass die Armfüßer einen gemeinsamen Vorfahren haben und entsprechend monophyletisch sind. Zu möglichen fossilen Vertretern dieser Vorfahren gibt es allerdings keine überzeugenden Kandidaten, folglich ist die evolutionäre Entstehung des Armfüßer-Bauplanes ein umstrittenes Problem. Auf paläontologischer Basis wurden Beziehungen zu den frühkambrischen Halkieriida hergestellt, einer ausgestorbenen Tiergruppe, welche zwei Schalen auf der Rückenseite trägt.
Die Gegner dieser Hypothese bezweifeln unter anderem, dass aus zwei rückenseitig gelegenen Schalen allmählich die Rücken- und Bauchklappe der Armfüßer geworden sein könnte.
Im Vergleich mit heutigen Tierstämmen wurde aufgrund des charakteristischen Lophophor-Organs eine nahe Verwandtschaft mit den Hufeisenwürmern und Moostierchen vermutet, diese beiden Gruppen wurden mit den Armfüßern zu einem Taxon Lophophorata oder Tentaculata vereinigt. Mittels molekularbiologischer Methoden konnte bisher nur die Vermutung eines Schwestergruppenverhältnisses zu den Hufeisenwürmern bekräftigt werden. Im Rahmen der ebenfalls molekularbiologisch begründeten Lophotrochozoa-Hypothese wurde eine Abstammung der Armfüßer und Hufeisenwürmer von ringelwurmartigen Vorfahren (Annelida) in Betracht gezogen – eine Hypothese, die bereits 1871 von E. S. Morse auf morphologischer Basis vertreten worden war. Als morphologische Indizien, die für eine Beziehung der Armfüßer zu den Ringelwürmern sprechen, werden unter anderem identisch aufgebaute Borsten genannt.
Entfaltung der Armfüßer
Im Kambrium lebten vor allem inartikulate Brachiopoden. Dies änderte sich im Ordovizium, als artikulate Formen eine erste große Radiation durchmachten und die inartikulaten in der Artenzahl überflügelten. Eine weitere Zunahme der Artenzahlen erfolgte, mit einem leichten Einbruch im Silur, bis zum Devon, wo die höchsten Artenzahlen in insgesamt sieben Ordnungen bekannt sind. Nach dem Devon kam es zu einem erneuten Einschnitt, nach dem sich vor allem die Strophomeniden stark vermehrten. Der größte Einschnitt in die Artenvielfalt erfolgte zum Abschluss des Perm vor 251 Millionen Jahren. Bei diesem größten bekannten Massenaussterben verschwanden etwa 95 Prozent der marinen Invertebraten wie etwa die Großforaminiferen, die paläozoischen Korallen, die Trilobiten und die Eurypteriden, während die Armfüßer ebenso wie die Bryozoen, die Crinoiden und die Ammoniten stark dezimiert wurden. Bei den Armfüßern wird angenommen, dass das Aufkommen neuer Fressfeinde, der hochangepassten Seesterne, nach der Perm-Trias-Grenze das Aussterben noch verstärkt haben könnte.
In der Trias existierten nur noch sehr wenige Armfüßer-Gruppen, die größtenteils bis heute existieren. Das Massenaussterben am Ende der Kreidezeit vor etwa 65 Millionen Jahren, bei dem neben Wirbeltiergruppen wie Dinosaurier und Flugsaurier vor allem auch die Ammoniten vollständig ausstarben, hatte auf die Armfüßer nur wenig Einfluss. Andererseits entwickelten sich seit der Trias auch die Muscheln, die teilweise als direkte Konkurrenten auftraten, sodass es zu keiner weiteren Radiation kam. Heute leben noch etwa 300 Arten artikulater Brachiopoden, die 75 Gattungen zugeordnet werden. Bei den inartikulaten Formen starben die meisten Formen bereits im Ordovizium und Devon aus. Bis heute haben nur wenige Arten der Ligulidae und der Discinidae in fünf Gattungen und der Craniidae mit kalkiger Schale in drei Gattungen überlebt.
Stratigraphie
Aufgrund ihres zeitlich sehr gut einzuordnenden Vorkommens und ihrer Merkmalskombinationen sowie ihres zahlenmäßig häufigen Vorkommens stellen die Armfüßer wichtige Leitfossilien dar, anhand derer sich das Alter von anderen Fossilfunden aus gleichen Schichten sehr gut abschätzen lässt. Sie sind außerdem vor allem da häufig zu finden, wo andere wichtige Leitfossilien wie die Graptolithen oder die Goniatiten fehlen.
Systematik
Heute existieren etwa 83 Gattungen mit etwa 375 Arten von Armfüßern. Die Systematik dieser Tiergruppe ist bis heute nicht vollständig geklärt. Klassisch werden die rezenten Arten ohne Schalenschloss zu den Inarticulata zusammengefasst, während alle schlosstragenden Armfüßer die Articulata bzw. Testicardines bilden. Letztere haben sich jedoch aus Vertretern der Inarticulata entwickelt, wodurch die Inarticulata eine paraphyletische Gruppe bilden und nicht mehr als Taxon gelten. Die klassische Einteilung sieht entsprechend folgendermaßen aus:
Inarticulata oder Ecardines
Atremata – mit chitiniger Schale, unter anderem Lingula unguis und Glottidia pyramidata
Neotremata – mit kalkiger Schale, unter anderem Crania anomalia
Articulata oder Testicardines
Rhynchonellida
Terebratulida
Vor allem in der Paläontologie wird heute auf der Basis rezenter und fossiler Arten ein Stammbaum diskutiert, der die Phylogenese darstellt. Dieser wurde 1996 von Williams et al. entwickelt:
Die Articulata bilden auch hier eine monophyletische Gruppe, allerdings innerhalb der Rhynchonelliformea. Sie umfassen die Klassen Strophomenata und Rhynchonellata, letztere bilden die einzige überlebende Gruppe der Rhynchonelliformea. Die Inarticulata werden als paraphyletische Gruppe aufgelöst in die Linguliformea und die Craniiformea.
Eine vollständigere Darstellung stellten Williams, Carlson und Brunton 2000 vor, die in der nebenstehenden Tabelle dargestellt wird.
Literatur
Sievert Lorenzen: Brachiopoda, Armfüßer. In: W. Westheide, R. Rieger (Hrsg.): Spezielle Zoologie Teil 1: Einzeller und Wirbellose Tiere. Gustav Fischer Verlag, Stuttgart/Jena.
Bernhard Ziegler: Einführung in die Paläobiologie. Teil 3. ISBN 3-510-65179-0.
E.N.K. Clarkson: Invertebrate Palaeontology and Evolution. ISBN 0-632-05238-4.
U. Lehmann, G. Hillmer: Wirbellose Tiere der Vorzeit. ISBN 3-432-90653-6.
A. Williams, S.J. Carlson, C.H.C. Brunton, L.E. Holmer, L. Popov: A supra-ordinal classification of the Brachiopoda. In: Philosophical Transactions of the Royal Society of London. Series B 351, 1996, S. 1171–1193.
Heinz Sulser: Die fossilen Brachiopoden der Schweiz und der angrenzenden Gebiete. Juragebirge und Alpen. 1999, ISBN 3-9520766-1-9.
S.J. Carlson, M.R. Sandy (Hrsg.): Brachiopods Ancient and Modern: A Tribute to G. Arthur Cooper. In: The Paleontological Society Special Publications. 7, New Haven, 2001, .
A. Williams, S.J. Carlson und C.H.C. Brunton: Brachiopod classification. In: A. Williams et al.: Brachiopoda (revised), Treatise on Invertebrate Paleontology (Kaesler, R.L., ed.). Boulder, Colorado: Geological Society of America and Lawrence, Kansas: The University of Kansas, 2000, ISBN 0-8137-3108-9.
Weblinks
Brachiopoden am UCMP (englisch)
BrachNet (englisch)
Brachiopoden bei palaeos.com
Einzelnachweise
Lebendes Fossil
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Q178272
| 432.455817 |
37885
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https://de.wikipedia.org/wiki/Iowa
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Iowa
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Iowa (e Aussprache ) ist seit dem Beitritt zur Union am 28. Dezember 1846 der 29. Bundesstaat der Vereinigten Staaten von Amerika. Der Staat liegt im Mittleren Westen und ist bekannt für den Anbau von Mais und seine weite Natur. Ausnahmen von der dörflichen und kleinstädtischen Struktur bilden lediglich die Großregionen um Des Moines, Cedar Rapids, Davenport und Sioux City.
Geografie
Geografische Lage
Iowa liegt im Mittleren Westen der USA. Der Staat grenzt im Norden an Minnesota, im Westen an Nebraska und South Dakota, im Süden an Missouri und im Osten an Wisconsin und Illinois.
Der Mississippi River bildet die östliche Grenze des Staates. Im Westen bilden ebenfalls Flussläufe die Staatsgrenze – südlich von Sioux City ist es der Missouri River, nördlich davon der Big Sioux River. Die Topographie des Staates ist durch hügelige Ebenen gekennzeichnet. Löss-Erhebungen finden sich entlang der Westgrenze, manche sind mehrere hundert Meter dick. Zu den wenigen natürlich entstandenen Seen zählen die sogenannten Iowa Great Lakes – namentlich unter anderem Big Spirit Lake, East Okoboji Lake und West Okoboji Lake. Sie befinden sich im Nordwesten des Bundesstaats in unmittelbarer Nähe der Grenze zu Minnesota.
Die jährliche Regenmenge in Iowa nimmt gegen Nordwesten hin ab. Die waldreicheren Gebiete des Südens und Ostens gehen im Norden und Westen in die Hochgrasprärie der Great Plains über.
Der tiefste Punkt ist der Mississippi River bei Keokuk in Südost-Iowa (175 m); der höchste Punkt ist Hawkeye Point (509 m). Im Verhältnis zur Fläche sind die Höhenunterschiede gering.
Mit einer Gesamtfläche von 145.743 km² liegt Iowa auf Platz 26 im Mittelfeld aller US-Bundesstaaten nach Flächengröße. 1.042 km² (0,71 Prozent) des Bundesstaates sind Wasserflächen.
Ausdehnung des Staatsgebiets
Iowa erstreckt sich über eine Breite von 320 km von 40°36'N bis 43°30'N und hat eine Länge von 500 km von 89°5'W bis 96°31'W.
Gliederung
Liste der Countys in Iowa
Bevölkerung
Iowa hat 3.156.145 Einwohner (Stand: 2018 geschätzt), davon sind 88,7 Prozent Weiße, 5,0 Prozent Hispanics oder Latinos, 2,9 Prozent Schwarze oder Afroamerikaner, 1,7 Prozent Asiatische Amerikaner und 0,4 Prozent Abkömmlinge amerikanischer Ureinwohner.
Die meisten Bewohner Iowas haben europäische Vorfahren. Dabei bilden die Deutschstämmigen mit etwa 36 Prozent (2014) die mit Abstand größte Gruppe. Die Amana Colonies am Iowa River sind heute noch deutsch geprägt.
Religionen
Größte Religionsgemeinschaft in Iowa ist die römisch-katholische Kirche, zu der sich rund 23 Prozent der Bevölkerung zählen. Die einzelnen protestantischen Glaubensgemeinschaften sind deutlich weniger stark vertreten. Werden jedoch die verschiedenen protestantischen Gruppierungen addiert, ist Iowa eher protestantisch geprägt. Die mitgliederstärksten Religionsgemeinschaften im Jahre 2000 waren die Katholische Kirche mit 558.092, die Evangelisch-Lutherische Kirche in Amerika mit 268.543 und die United Methodist Church mit 248.211 Anhängern.
Bekannt wurde das Gebäude „Trinity Church“ des Ortes Manning.
Wegen der verringerten Gemeinde wurde sie auf einem Tieflader mühsam in einen 10 km entfernten Ort transportiert.
Auf die Frage „Was ist Ihre Religion?“ antworteten 2001 die Einwohner Iowas:
23 % Katholiken
16 % Lutheraner
13 % Methodisten
6 % andere
5 % keine Antwort
5 % Baptisten
5 % Christen
3 % Presbyterianer
2 % Protestanten
2 % Pfingstbewegung
2 % Kongregationalisten/United Church of Christ
1 % Church of Christ
Größte Städte
Geschichte
Im Nordosten des Bundesstaates liegt am Ufer des Mississippi Rivers das Effigy Mounds National Monument, eine Gedenkstätte und archäologisches Schutzgebiet für Mounds genannte künstliche Hügel, die von einer frühen indigenen Kultur in der Woodland-Periode zwischen 500 v. Chr. und etwa dem Jahr 1200 errichtet wurden.
Der Staat wurde nach der Iowa-Nation benannt und 1846 der 29. Bundesstaat. Iowa wird auch Hawkeye State (Falkenauge-Staat) genannt, als Tribut an Häuptling Black Hawk.
Mit seinen fruchtbaren Prärien und dem Vorherrschen von Landwirtschaft gilt Iowa als einer der typischen Bundesstaaten des Mittleren Westens, denn 90 Prozent der Fläche werden landwirtschaftlich genutzt. Iowa wird auch Corn State genannt, wegen des Anbaus von Mais. Jagd und Fischfang sind beliebt. Außerdem findet man viele Parks von oftmals auch historischer Bedeutung.
Iowas erste Hauptstadt war Iowa City. Als der Bevölkerungsschwerpunkt durch die zunehmende Besiedlung nach Westen rückte, wurde beschlossen, die Hauptstadt näher zur geografischen Mitte des Staats zu verlegen. 1857 wurde Des Moines zur Hauptstadt bestimmt. Iowa unterstützte die Union während des Amerikanischen Bürgerkrieges. Innerhalb des Staatsgebietes fanden keine Schlachten statt. Die nächstgelegene Schlacht war die von Athens, Missouri (1861). Gouverneur Samuel J. Kirkwood schickte 116.000 Männer Iowas in die Unionsarmee (bei einer Gesamtbevölkerung von 675.000).
Vorreiter bei Bürgerrechten
Iowa ist stets ein Vorreiter bei der Gewährung von Bürgerrechten gewesen. 1839 erklärte der Iowa Supreme Court, das höchste Gericht im Staate, die Sklaverei für ungesetzlich, Jahrzehnte, bevor im Nachgange des Bürgerkriegs diese Frage auf nationaler Ebene geklärt wurde. 1868 entschied das Gericht, dass auch Formen der Segregation, also etwa die Rassentrennung in Schulen, in Iowa unzulässig sind, während der Oberste Gerichtshof der USA erst 1954 im Fall Brown v. Board of Education ein entsprechendes Urteil fällte. 1873 entschied der Iowa Supreme Court, dass Rassendiskriminierung in öffentlichen Einrichtungen gegen das Gesetz verstößt, fast hundert Jahre vor der gerichtlichen Entscheidung auf nationaler Ebene.
1869 wurde Iowa der erste Bundesstaat, der Frauen den Zugang zur Ausübung rechtswissenschaftlicher Berufe erlaubte.
2009 entschied der Iowa Supreme Court einstimmig, dass ein Staatsgesetz, das die Eheschließung Homosexueller verbietet, gegen den in der Staatsverfassung verankerten Gleichheitsgrundsatz verstößt und somit nichtig ist. Damit wurde Iowa der nach Massachusetts und Connecticut dritte Bundesstaat, in dem gleichgeschlechtliche Partner heiraten dürfen.
Politik
Eine besondere Bedeutung kommt dem Staat in den Wahlkämpfen um die US-Präsidentschaft zu: Traditionell ist Iowa der Staat, in dem die ersten Vorwahlen der Parteien abgehalten werden. Sie verleihen der Bevölkerung Iowas in Wahljahren ein großes politisches Gewicht.
Ferner ist Iowa ein Swing State, in dem die Vorhersagen von Wahlausgängen schwierig sind. Zwar gab es in Iowa eine demokratische Dominanz von Ende der 1980er bis zur Jahrtausendwende, aber bei der Präsidentschaftswahl 2004 fiel Iowa, mit denkbar knappem Ergebnis, erstmals seit 1984 an die Republikaner. 2008 gewannen wieder die Demokraten die Mehrheit; 2012 gelang dies erneut. Bei der Wahl 2016 gewannen allerdings die Republikaner wieder deutlich; in keinem anderen Staat wechselten gegenüber 2012 so viele Counties von den Demokraten zu den Republikanern. Iowa wird als typisches Beispiel dafür betrachtet, dass der Rückhalt der Demokraten USA-weit in ländlichen Regionen gegenüber den 1990er Jahren deutlich zurückging. Aktuell stellt Iowa seit 2012 sechs Wahlmänner im Electoral College. 1988 waren es noch acht.
Gouverneure
Liste der Gouverneure von Iowa
Liste der Vizegouverneure von Iowa
Kongress
Liste der Mitglieder des US-Repräsentantenhauses aus Iowa
Liste der US-Senatoren aus Iowa
Mitglieder im 117. Kongress
Todesstrafe
1872 wurde die Todesstrafe in Iowa erstmals abgeschafft, aber bereits 1878 wieder eingeführt. 1965 wurde sie wieder abgeschafft. Bemühungen, die Todesstrafe für Fälle einzuführen, in denen Kinder entführt, sexuell missbraucht und getötet wurden, scheiterten 2006 im Senat von Iowa. Dennoch verurteilte im Jahr zuvor das Bundesbezirksgericht von Sioux City zwei Angeklagte zum Tode, was das erste Todesurteil in diesem Bundesstaat seit 40 Jahren war.
Kultur und Sehenswürdigkeiten
Die Metal-Band Slipknot stammt aus Des Moines, Iowa. Außerdem wurde ihr zweites Album nach dem Staat benannt.
Naturdenkmäler
Der National Park Service (NPS) weist für Iowa zwei National Historic Trails aus:
Mormon Trail
Lewis and Clark National Historic Trail
Hinzu kommen sieben National Natural Landmarks (Stand 30. September 2017).
Kulturdenkmäler
Der NPS führt für Iowa eine National Historic Site und ein National Monument:
Herbert Hoover National Historic Site
Effigy Mounds National Monument
Des Weiteren gibt es in Iowa 26 National Historic Landmarks sowie 2365 Bauwerke und Stätten, die im National Register of Historic Places eingetragen sind (Stand 30. September 2017).
Wirtschaft und Infrastruktur
Das reale Bruttoinlandsprodukt pro Kopf (engl. per capita real GDP) betrug im Jahre 2016 USD 57.028 (nationaler Durchschnitt der 50 US-Bundesstaaten: USD 57.118; nationaler Rangplatz: 20). Die Arbeitslosenrate lag im November 2017 bei 2,9 % (Landesdurchschnitt: 4,1 %).
Iowas Haupterzeugnisse sind Schweine, Mais, Sojabohnen, Kartoffeln, Rinder und Milchprodukte. Andere Erzeugnisse sind Güter zur Lebensmittelherstellung, Maschinen, Elektronik, chemische Produkte, außerdem Produkte des Druckgewerbes und der Metallindustrie.
In dem kleinen Dorf Froehlich im Nordosten von Iowa wurde der Traktor erfunden. Heute produziert der Traktorhersteller John Deere einen beachtlichen Teil seiner Produkte in den Werken in Davenport und Waterloo.
Der Bundesstaat Iowa ist Teil des Corn Belt.
Bildung
Die wichtigsten staatlichen Hochschulen sind die Iowa State University, die University of Iowa, University of Northern Iowa und das Morningside College. Weitere Universitäten sind in der Liste der Universitäten in Iowa verzeichnet.
Literatur
William Roba, German-Iowan Studies. Selected Essays, (= New German-American Studies, Volume 28) New York et al. 2004, 132 S., ISBN 0-8204-5287-4.
Weblinks
Offizielle Seite des Staates Iowa
Einzelnachweise
Bundesstaat der Vereinigten Staaten
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Q1546
| 1,645.536159 |
527913
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https://de.wikipedia.org/wiki/Artdirector
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Artdirector
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Ein Artdirector (auch Art-Direktor, engl. , Abkürzung AD, „künstlerischer Leiter“) ist die gängige Berufsbezeichnung für einen erfahrenen und leitenden Grafiker. Auch wenn die Bezeichnung weder geschützt noch einheitlich zu definieren ist, setzt der Beruf doch normalerweise eine mehrjährige Ausbildung (bzw. ein Studium) und ebenfalls eine mehrjährige Berufserfahrung voraus.
Aufgaben und Anforderungen
Ein Artdirector entwickelt allgemein gesprochen die künstlerische, (audio-)visuelle Umsetzung und begleitet dabei alle kreativen Produktionsvorgänge (z. B. Fotoaufnahmen, Filmdreh, Bühnenbild-Gestaltung, Animation, Layout etc.). Damit übernimmt er dann häufig auch die „künstlerische Verantwortung“ für einen Kunden oder eine Produktion.
Ein guter Artdirector zeichnet sich insbesondere durch ein hohes Maß an Kreativität, Team- und Führungsqualität sowie Produktionserfahrung aus. Eine der Hauptaufgaben eines Artdirectors ist es, die kreativen Potenziale mehrerer Mitarbeiter mit ihren individuellen Eigenheiten zu einer stilistischen Einheit zu verschmelzen.
Begrifflichkeiten
Der Artdirector beginnt seinen beruflichen Werdegang als Junior Artdirector (JAD), und in manchen Unternehmen gibt es auch den Senior Artdirector (SAD). Weitere übliche Fachbezeichnungen sind unter anderem Assistant Art Director (AAD) oder Art Director of Photography (ADP).
Der Begriff Artdirector kommt aus dem Amerikanischen, wobei zu beachten ist, dass mit art im Englischen meist die „Angewandte Kunst“ im Gegensatz zu den fine arts, gleichbedeutend mit „Freier Kunst“, gemeint ist. Die englischen Bezeichnungen werden sinngemäß seit den 1960er Jahren auch zunehmend in Deutschland verwendet, da sie sich international etabliert haben.
Weblinks
Art Directors Club Deutschland
Art Directors Club Global
Art Director – Jobprofil
Grafikdesign
Beruf in der Werbung
Medienberuf
Theaterberuf
Beruf (Bildende Kunst)
Beruf (Darstellende Kunst)
Musikberuf
Ballett
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Q706364
| 117.484743 |
157895
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https://de.wikipedia.org/wiki/Ramallah
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Ramallah
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Ramallah () ist eine Stadt in den Palästinensischen Autonomiegebieten im Westjordanland. In der Stadt befinden sich Teile der Regierung – neben Gaza-Stadt –, das Gebäude des Palästinensischen Legislativrates, Teile der Exekutive sowie Büros der palästinensischen West Bank Security Forces.
Name
Der Name Ramallah setzt sich aus den zwei Wörtern Ram (oder Rama) und Allah zusammen. Ram bedeutet im Arabischen ein hoher Ort, Allah ist das arabische Wort für Gott. Eine freie Übersetzung würde Gotteshügel ergeben.
Geschichte
Im Neuen Testament wird in von der jährlichen Pilgerfahrt nach Jerusalem berichtet. Auf dem Rückweg sei Maria und Josef aufgefallen, dass der zwölfjährige Jesus nicht bei ihnen war, woraufhin sie nach Jerusalem zurückkehrten, wo sie ihn im Tempel wiederfanden. Dieses Ereignis wird der Überlieferung nach in Ramallah lokalisiert.
Im 12. Jahrhundert wurde durch französische Kreuzfahrer eine Festung errichtet. Teile der Festung at-Tireh sind in der Altstadt noch erhalten. 1550 gründeten Rashed Haddadeen und seine Familie die Stadt Ramallah an der Festung. Die Bevölkerung wuchs laut der Forschung des Historikers Amnon Cohen in osmanischen Registern von rund 2100 im Steuerjahr 1525/1526 auf 3800 um 1548/1549. Die Zahl hielt sich in den folgenden Jahrzehnten stabil, fiel jedoch um 1596/1597 auf noch 1800. Istanbul beauftragte Ahmad Murad Haken mit der örtlichen Rechtsprechung.
Im 19. Jahrhundert kamen die Quäker nach Ramallah und gründeten 1869 die Knabenschule „Friends Boy School“ die später auch beispielsweise Raja Shehadeh besuchte und darauf eine Mädchenschule. Das historische Versammlungshaus der Quäker steht noch im Zentrum – umgeben von hohen Geschäftshäusern. 1904 waren laut einer Zählung des griechisch-orthodoxen Patriarchats von Jerusalem 4500 der in der Stadt lebenden Christen griechisch-orthodox. Die römisch-katholische Pfarrkirche der Franziskaner (OFM) ist der Heiligen Familie geweiht. 1930 wurde die Straße nach Jaffa fertiggestellt. Am 12. Oktober 1938 wurde der Politiker Hassan Sidqi al-Dajani in Ramallah von einem von Mohammed Amin al-Husseini beauftragten Täter ermordet.
Im Laufe des Arabisch-Israelischen Krieges 1948 übernahm Jordanien die Kontrolle über Ramallah. Danach war der Ort wegen seiner Höhenlage als Sommerfrische beliebt. Während des Sechstagekrieges 1967 wurde die Stadt von der israelischen Armee und Armeeverwaltung besetzt. Die Kämpfe ereigneten sich zwischen ihnen und der jordanischen Armee, da die Zivilbevölkerung nach jahrelanger Beschlagnahmung privater Waffen durch die jordanische Verwaltung unbewaffnet war. Es gab einige Schäden an der Telefon- und Energieinfrastruktur, die sonstigen materiellen Schäden waren laut dem lokalen Menschenrechtsanwalt Raja Shehadeh „minimal“. Die Israelis richteten ihr Hauptquartier im Grand Hotel von Ramallah ein. Der gewählte Bürgermeister Nadeem Zarou wurde nach Jordanien abgeschoben und durch einen politisch gefügigen Nachfolger ersetzt.
1994 wurde Ramallah im Rahmen des Oslo-Friedensprozesses an die palästinensische Selbstverwaltung übergeben. Nadeem Zarou konnte in die Stadt zurückkehren. Obwohl offiziell die Hauptstadt Palästinas mit Jerusalem angegeben wird, ist tatsächlich Ramallah das politische, wirtschaftliche und kulturelle Zentrum der palästinensischen Autonomiegebiete. Mit der Autonomie 1994 bekam die Stadt (neben Gaza) ein Parlamentsgebäude und wurde Sitz mehrerer Ministerien. In der Folge wurden die Büros der ausländischen Vertretungen eröffnet. Die deutsche Vertretung übersiedelte kurze Zeit später von Jericho nach Ramallah (neben das Rathaus).
Am 12. Oktober 2000 wurden im Lynchmord von Ramallah die beiden israelischen Reservisten Vadim Nurzhitz und Yossi Avrahami durch einen palästinensischen Mob in einer Polizeistation von Ramallah ermordet. Die Leichen wurden aus dem Fenster geworfen und in einem Triumphzug durch die Straßen von Ramallah geschleift. Dies wurde von einem italienischen Fernsehteam gefilmt und sorgte international für Entsetzen. Der Vorfall ereignete sich zu Beginn der Zweiten Intifada. 2002 kam es zu einem erneuten Einmarsch israelischer Einheiten mit großen Schäden.
Nach seinem Tod in einem Pariser Krankenhaus wurde Jassir Arafat am 12. November 2004 im Innenhof der Muqataa beigesetzt, die eigentlich in Al-Bireh liegt. Nach den Gemeinderatswahlen im Dezember 2005 wurde die Christin Janet Michael zur Bürgermeisterin gewählt, die erste Frau auf diesem Posten. Im Sommer 2008 beging die Stadt mit zahlreichen Veranstaltungen das 100-Jahr-Jubiläum der Stadtverwaltung. In der Folge wurden die Straßen des Zentrums renoviert und die Metallsäule um den Löwenbrunnen am Manarah Square entfernt. 2011 wurde der Kreisverkehr des historischen Uhrenplatzes, der nun Arafat-Platz heißt, in einen Platz umgebaut. Der wirtschaftliche Aufschwung brachte internationales Flair in die Stadt und ist auch an der Errichtung neuer Hotels zu sehen. So wurde im November 2010 das Luxushotel Mövenpick, dessen Bau wegen der Zweiten Intifada unterbrochen worden war, eröffnet. Daneben gibt es viele neue Geschäfts- und Bürobauten, darunter etliche Hochhäuser. Seit 2012 gibt es ein modernes Geoinformationssystem, das im Internet abgerufen werden kann. Dafür haben zuvor alle Straßen einen Namen erhalten.
In den letzten Jahren entstanden architektonisch bemerkenswerte Gebäude wie der Palestine Trade Tower, das Gebäude des Roten Halbmondes oder das „Salta3 Burger“, ein Nachbau der „Krossen Krabbe“ aus SpongeBob Schwammkopf, das aber nach wenigen Monaten wieder geschlossen wurde und jetzt ein Café ist.
Geographie
Die Stadt liegt auf 850 m Höhe in den Hügeln Zentralpalästinas, 15 Kilometer nordwestlich von Jerusalem. Seit dem Bau der Mauer ist die Stadt von Süden nur über die Grenzstelle Qalandia erreichbar, die einstige Hauptstraße Jerusalem-Nablus 60 wurde in den Osten verlegt. Die Zufahrt über Ofer bei Baituniya dient nur noch dem Warenverkehr.
Inzwischen ist Ramallah mit der gleich daneben entstandenen muslimischen Stadt Al-Bireh im Nordosten zusammengewachsen. Das neue Stadtzentrum, der Manarah Square (Leuchtturmplatz), liegt genau auf der Grenze. Im Südwesten kam es zum Zusammenwachsen des Industriegebietes mit der Stadt Baituniya. Im Süden liegt das große Flüchtlingslager Al-Amari. Östlich von Ramallah/Al-Bireh befindet sich die jüdische Siedlung Psagot.
Bevölkerung
Ramallah war ursprünglich ein fast ausschließlich von arabischen Christen bewohnter Ort. Erst im Zuge der Ansiedlung von vielen muslimischen Flüchtlingen nach dem Entstehen Israels änderten sich die Mehrheitsverhältnisse. Dadurch hat die Stadt eine muslimische Bevölkerungsmehrheit. Die arabischen Christen bilden jedoch eine zahlenmäßig starke Minderheit.
Kultur
Durch die weltoffene Haltung der Bevölkerung und die vielen Ausländer, die in den verschiedenen Organisationen und Vertretungen arbeiten, ist Ramallah die „westlichste“ aller Palästinenserstädte. Es gibt Theater, Kinos und andere Kulturzentren, wie den nach dem Dichter Mahmoud Darwisch benannten Kulturpalast oder das 2004 gegründete Deutsch-Französische Kulturzentrum, eine Kooperation des Goethe-Instituts und des Institut français. Bereits seit 1993 engagiert sich die A. M. Qattan Foundation in der Stadt. 2003 wurde auf Initiative von Daniel Barenboim die Barenboim-Said Foundation mit einem Jugendorchester gegründet. In Ramallah lebte und unterrichtete auch die Dichterin Lily Karniek.
Darwisch-Kulturpalast
Der Darwisch-Kulturpalast (früher nur Kulturpalast) ist der einzige und erste seiner Art in den palästinensischen Autonomiegebieten. Er beherbergt Kunsträumlichkeiten inklusive eines Auditoriums mit 736 Sitzplätzen und Konferenzräumen. Der Bau des Kulturpalastes kostete rund fünf Millionen Dollar und ist das Ergebnis einer sechsjährigen Zusammenarbeit der palästinensischen Autonomiebehörde, des United Nation Development Programme (UNDP) und der japanischen Regierung.
Der palästinensische Dichter Mahmud Darwisch wurde am 12. August 2008 in einem „Staatsbegräbnis“ auf einem Hügel nicht weit vom Kulturpalast begraben, worauf ihm zu Ehren dieser in Darwisch-Kulturpalast umbenannt wurde.
Al-Husseini-Stadion
Seit 2008 verfügt Ramallah mit dem Faisal-Al-Husseini-Stadion über eine von der FIFA akzeptierte Sportstätte. Allerdings befindet sich das Stadion nicht auf dem Gebiet von Ramallah, sondern in Ar-Ram, einem zum palästinensisch verwalteten Teil von Ostjerusalem gehörenden Vorort. Dennoch wird es als das Stadion von Ramallah betrachtet.
Das 7000 Sitzplätze fassende Stadion, benannt nach Faisal Husseini, wurde mit einer Gesamtsumme von vier Millionen Dollar aus dem FIFA-Projekt „Goal“ und Spenden saniert. Es ist das Heimstadion der palästinensischen Nationalmannschaft, die am 26. Oktober 2008 in Anwesenheit von FIFA-Präsident Sepp Blatter und DFB-Direktor Helmut Sandrock ihr erstes Heimspiel in der 80-jährigen Verbandsgeschichte ausrichtete. Gegner der vom israelischen Fußballtrainer Arab Azmi Nassar betreuten Mannschaft war Jordanien. Künftig sollen alle Heimspiele der palästinensischen Nationalmannschaft in diesem Stadion ausgetragen werden.
Persönlichkeiten
Jassir Arafat (1929–2004), Politiker
Abdul ibn Raschid ibn Mahmud, Chirurg, Terrorist
Mahmud Darwisch (1941–2008), Dichter
Rashed Haddad, Schmied, Gründer von Ramallah
Janet Michael, erste Bürgermeisterin
Hovhannes Samueli Donabedian, Architekt, Maler und Zeichner
Nabil Totah (1930–2012), Jazzbassist
Jeannette Zarou (* 1942), Opernsängerin
Hanan Aschrawi (* 1946), Politikerin und Anglistin
Raja Shehadeh (* 1951), Rechtsanwalt und Schriftsteller
Saleh al-Arouri (* 1966), Anführer der Hamas
Sehenswürdigkeiten
at-Tireh, Festung aus dem 12. Jahrhundert.
Löwendenkmal am Manarah Square, fünf Löwen repräsentieren die ersten fünf christlichen Familien, die nach der Vertreibung aus Shobak (Jordanien) die Stadt Ramallah gründeten
Internationale Beziehungen
Ramallah pflegt partnerschaftliche Beziehungen zu den Städten
Medien
Fasl-Alamqal
Tageszeitung Al-Ayyam (Die Tage)
PBC – Palästinensisches Fernsehen
PSC – Palästinensischer Satellitenkanal
Al-Watan TV
Al-Istiklaal TV (Kulturkanal)
Universität und Schulen
Universität Bir Zait, größte Universität im Westjordanland
Friends’ Boys School (Quäker)
Friends’ Girls School (Quäker)
Katholische Privatschule der Schwestern von St. Josef
Lutheran School of Hope
Weitere Organisationen
Sitz des Palästinensischen Pfadfinderverbandes
Weblinks
Ramallah online
Geoinformationssystem Ramallah
Ramallah
Quäker Meetinghouse
Goethe-Institut Ramallah
Einzelnachweise
Ort im Westjordanland
Gouvernement Ramallah und al-Bira
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https://de.wikipedia.org/wiki/Ghaznawiden
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Ghaznawiden
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Die Ghaznawiden oder Ġaznaviden () waren eine türkischstämmige, muslimische Dynastie, welche von ehemaligen Militärsklaven der Samaniden begründet wurde. Sie herrschte von 977 bis 1186 in den östlichen iranischen Ländern, wobei ihr Machtbereich zeitweise im Westen bis nach Dschibal und im Osten bis zum Oxus und nach Nordwestindien reichte. Die Stadt Ghazna in Chorasan, das heutige Ghazni in Afghanistan, war lange Zeit das Zentrum ihres Reiches.
Herkunft und Bedeutung
Die Ghaznawiden waren ursprünglich türkischer Herkunft, jedoch in jeglicher Hinsicht in die Region Chorasan im heutigen Afghanistan assimiliert, weshalb viele Historiker sie auch als „iranisierte“ oder „persifizierte“ Türken bezeichnen. Sie stammen von karlukischen Sklaven ab, die besonders nach dem Sieg der Samaniden über die karlukischen Türken im Jahre 893 in großer Zahl zum Islam konvertierten und fortan als Militär- und Hofsklaven (ghulām) in deren Diensten standen. Der Name der Dynastie ist vom Namen der Stadt Ghazna abgeleitet. In historischen Quellen werden sie auch nach dem Dynastiegründer als „Āl-e Sabuktekīn“ () oder „Banū Sabuktekīn“ () bezeichnet.
Die Herrschaft der streng sunnitischen Ghaznawiden hatte in vielerlei Hinsicht den Charakter einer Fortsetzung der samanidischen Herrschaft, denn die Ghaznawiden erbten die administrativen, politischen und kulturellen Traditionen ihrer Vorgänger und legten damit die Fundamente für einen persischen Staat in Nord-Indien. Dadurch hatten sie, trotz der kurzen Zeitspanne, einen weitreichenden Einfluss auf die Kultur und Geschichte der von ihnen beherrschten Gebiete.
Geschichte
Dynastiegründung
Der Grundstein für die Reichsgründung wurde 962 durch den türkischen General Alp-Tigin in der Region um Ghazna gelegt. Alp-Tigin war ein ehemaliger Sklave im Dienste der Samaniden, der in der Thronfolgefrage gegen den Emir Manṣūr b. Nūḥ (961–976) intrigiert hatte und sich deswegen Ghazna jenseits des Hindukusch-Gebirges aneignete, um der Rache zu entkommen. Er konnte die Stadt 962 besetzen und verstarb im Jahr darauf. Ihm folgten weitere Sklaven-Offiziere, zunächst sein Sohn Isḥāq (963–966), der die Oberherrschaft der Samaniden anerkannte und ihre Hilfe gegen seinen Rivalen Lawik einforderte. Die diese Stadt umgebende Region blieb in der Folge in den Händen türkischer Herrscher.
Schließlich gelang Alp Tigins ehemaligem Sklaven und späterem Schwiegersohn, Sebük Tigin (977–997), die Begründung einer Dynastie, die bis 1186 regieren konnte, wobei auch er anfangs offiziell im Namen der Samaniden herrschte. Den Nachweis für Sebük Tigin Anerkennung der Oberherrschaft der Samaniden liefern die Prägungen auf seinen Münzen. Er half den Samaniden in den Jahren 992 und 995 gegen die Simdschuriden. Sebük Tigin zog zunächst in einen „heiligen“ Krieg gegen die Hinduschāhīs, deren König Djaypal (965–1001) er 979 und 988 besiegte. Damit hatte Sebük Tigin auch die Festungen an der indischen Grenze erobert. Sebük Tigin nahm Djaypal gefangen, ließ ihn aber nach einer Tributzahlung wieder frei. Mit dem Niedergang des Samanidenreichs in Transoxanien gelang ihm 994 die Aneignung weiterer Gebiete, die ihm und seinem Sohn Mahmud nach einer Hilfeleistung für Manṣūr b. Nūḥ unterstellt wurden. Der Emir war von einer Revolte seiner Generäle bedroht worden. Das Reich umfasste nun auch Belutschistan, Ghor, Zabulistan und Baktrien. Auf diese Weise hatte Sebük Tigin – ein außergewöhnlich mächtiger und ehrgeiziger Herrscher und überzeugter Sunnit – das Fundament für eines der langlebigsten Reiche der Region gelegt. Auf diesem Fundament baute dann sein Sohn auf und brachte das Reich zu seinem Höhepunkt. Zwischen 999 und 1005 ging das Samanidenreich endgültig zugrunde, als die Karachaniden die samanidische Hauptstadt Buchara besetzten und sich mit dem Herren von Ghazna verständigten.
Machthöhepunkt unter Mahmud von Ghazni
Unter Sebük Tigins Sohn Maḥmūd Yāmīn ad-Daula (genannt Mahmud von Ghazni) (reg. 998–1030) erreichte die Dynastie ihren Höhepunkt.
Die Legitimation seiner Herrschaft in Chorāsān ließ sich Mahmud durch den abbasidischen Kalifen al-Qādir bi-'llāh zusprechen. Sebük Tigin hatte eigentlich seinen anderen Sohn Ismail als seinen Nachfolger bestimmt, der aber von Mahmud geschickt verdrängt wurde. Ab 999 hatte Mahmud seine Position als Nachfolger gesichert. Mahmud von Ghazni gilt als der wichtigste Herrscher in der Geschichte der Ghaznawiden. Kulturell neigte er stark zum (antiken) Iran und war empfänglich gegenüber der sich entwickelnden neuen persischen Literatur. So engagierte er Abū l-Qāsim-e Firdausī als seinen Hofdichter. Durch ununterbrochene Kämpfe errichtete sich Mahmud Schritt für Schritt ein großes Militärreich, das unter seiner persönlichen Kontrolle stand. Seine siegreichen Schlachten und sein Ruf als erfolgreicher Militärführer waren ein Garant dafür, dass sich immer freiwillige Kämpfer (ghozāt bzw. moṭaweʾūn) aus dem gesamten Osten der islamischen Welt für seine Armee fanden. Diese professionelle Armee der Ghaznawiden setzte sich aus den verschiedensten Völkern des Ghaznawidenreiches zusammen, darunter auch Araber und Dailamiten. Den essentiellen Kern der Armee bildeten jedoch immer türkische Sklaven (ghulāmān-e chāṣ), welche die Elite der ghaznawidischen Armee und die persönliche Leibgarde des Herrschers stellten. Auf dieser militärischen Basis wurden Hof und Verwaltung des Reiches nach Vorbild der Samaniden organisiert.
Als einer der bedeutendsten muslimischen Eroberer begann Mahmud von Ghazni, nach der Verständigung mit den Karachaniden, ab 1001 mit Feldzügen auf dem indischen Subkontinent und drang bis Gujarat, Kannauj und Zentralindien vor. Auch wenn er keine Eroberung Indiens über das Indusgebiet und den Punjab hinaus anstrebte, schwächte er durch seine, in der Regel erfolgreichen Raubzüge, die hinduistischen Staaten erheblich und bereitete so die spätere Eroberung Indiens durch die Ghuriden vor. Durch seine Eroberung des Punjab hatte Mahmud ein weitreichendes Territorium in Indien für den Islam geschaffen und legte damit den Grundstein für die Aufteilung dieser Region nach Religionen. Die Gründung des unabhängigen Staates Pakistan im Jahre 1947 geht auf diese religiöse Aufteilung der Region durch Mahmud zurück.
Mahmud, der wie sein Vater ein überzeugter Sunnit war, ersetzte die Bindungen seines Vaters zu den Samaniden durch die Loyalität gegenüber dem abbasidischen Kalifen al-Qādir bi-'llāh. Diese Loyalität blieb allerdings nur nominell, da zu dieser Zeit Bagdad, die Hauptstadt der Abbasiden, keine Einflüsse auf den weit entfernten Osten ausüben konnte und die sunnitischen Abbasiden selbst wiederum von den schiitischen Buyiden dominiert wurden. Die iranischen Buyiden hatten mittlerweile den Höhepunkt ihrer Macht hinter sich und wurden mehrere Male von Mahmud attackiert, womit dieser auch gleichzeitig seinem Kalifen diente. Zur Zeit seiner 17 Kampagnen im Punjab gelang es Mahmud, die Buyiden um eine bedeutende Strecke zurückzudrängen und Choresmien unter seinen Einflussbereich zu bringen.
Obwohl Mahmuds Schlachten in Indien immer nur profane Raubzüge waren und keine religiös motivierten Kriege für den Islam, wurde sein Ruf als „Hammer für die Ungläubigen“ dennoch bis nach Bagdad und darüber hinaus propagiert.
Weil die Karachaniden mittlerweile in Transoxanien aufgrund ihrer inneren Streitigkeiten keine allzu große Bedrohung darstellten, konnte Mahmud in der Folgezeit auch die schiitischen Buyiden im Westen bekämpften. Eine „Befreiung“ der Abbasiden aus deren Vorherrschaft unterblieb aber mit dem Tod von Mahmud.
Mahmud von Ghazni starb am 30. April 1030 und hinterließ ein Reich, das den Punjab, Teile von Sindh einschließlich einer Reihe von hinduistischen Staaten im Tal des Ganges, die Mahmuds Oberherrschaft anerkannt hatten, das heutige Afghanistan einschließlich Ghazna, nördliche Gebiete des heutigen Belutschistan, Gharjistan und Ghor, wo einheimische Machthaber ebenfalls seine Oberherrschaft anerkannt hatten, Sistan, Chorāsān, Gebiete des heutigen Iran, Tocharistan und einige Grenzregionen am Oxus beinhaltete.
Masʿūd I.
Mahmud von Ghazni folgte für eine kurze Zeit sein Sohn Muḥammad, dem die Macht aber von seinem Bruder Masʿūd streitig gemacht wurde. Masʿūd – ein siegreicher General seines Vaters – wurde auch von der Armee favorisiert. Ein Heer, das von Muḥammad gegen Masʿūd entsandt wurde, desertierte auf die Seite Masʿūds. In der Folge wurde Muḥammad geblendet und gefangen genommen, und Masʿūd bestieg den Thron.
Masʿūd war trinksüchtig, und ihm fehlten die diplomatischen Kapazitäten seines Vaters. Dennoch führte er die Kampagnen seines Vaters in Indien fort und drängte die Buyiden weiter zurück. Für eine kurze Zeit besaß er Kerman (1035). In militärischer Hinsicht war er in einer schlechteren Ausgangslage als sein Vater, zu dessen Zeit es in ganz Persien keinen Mitstreiter des gleichen Kalibers gab. Zu der Zeit, als Masʿūd den Thron bestieg, begannen allerdings die Seldschuken den Oxus zu überqueren und nach und nach Chorāsān zu besetzen. Masʿūds Widerstand war nicht sehr erfolgreich. Zu den Gründen zählten die Abwesenheit eines Großteils seiner Armee, die im Fünfstromland (Punjab) eingesetzt war und die ethnische Diversität seiner Streitmacht, die hauptsächlich aus Iranern unterschiedlicher Abstammungen und indischen Volksgruppen des Reiches bestand. Die gut ausgebildeten und erfahrenen türkischen Militärsklaven waren nur noch spärlich vertreten.
Am 23. Mai 1040 wurde Masʿūds Armee bei der Schlacht von Dandanqan von den Seldschuken unter Toghril entscheidend geschlagen. Masʿūd wurde bei seinem Rückzug nach Indien durch ein Komplott gestürzt und 1041 im Gefängnis getötet.
Spätzeit
Damit war Chorāsān im Wesentlichen an die Seldschuken verloren und die Ghaznawiden konzentrierten sich auf ihre verbliebenen Herrschaftsgebiete und das nordwestliche Indien. Ghazna und Lahore wurden die beiden einzigen Münzprägestätten.
Maudūd b. Masʿūd (1041–1048) unternahm zwar 1043/4 den Versuch einer Rückeroberung Chorāsāns, wurde aber geschlagen und plante erst kurz vor seinem Tod einen neuen Großangriff. Er war sehr damit beschäftigt, sein Reich zusammenzuhalten. Die Provinz Sistan ging bereits in den 1030er Jahren an die Lokaldynastie der Nasriden verloren, welche sich den Seldschuken unterordnete und mit deren Hilfe Maudūd zurückwies (1041). Zudem intervenierten die Seldschuken 1042 in Choresm und vertrieben mit dem dort herrschenden Oghuzen-Fürsten Schah-Malik einen Verbündeten der Ghaznaviden. Maudūds Prestige soll trotz mangelnder Erfolge so groß gewesen sein, dass sich ihm ein Karachaniden-Herrscher Transoxaniens unterwarf.
Auch ʿAbd ar-Raschīd bin Maḥmūd (1048–1052) und Farruchzād bin Masʿūd (1052–1059) stellten sich den Seldschuken energisch entgegen und konnten gegen Toghrils Bruder Chaghri Beg († 1060) und dessen Sohn Alp Arslan zwischenzeitlich Erfolge erzielen, die das Ende der seldschukischen Expansion im Osten einleiteten. Ibrāhīm b. Masʿūd (1059–1099) unternahm einen letzten Versuch zur Rückgewinnung Chorāsāns, wobei der Seldschukenprinz Uthmān gefangen genommen wurde und Sultan Malik Schāh (1072–1092) eine Armee entsandte, um das Kräftegleichgewicht wiederherzustellen (1073). In der Folge kam es zu friedlichen Beziehungen und zu Heiratsverbindungen zwischen den beiden Dynastien, wobei die Provinz Sistan unter der Oberhoheit der Seldschuken verblieb. Ibrāhīm b. Masʿūds Regierung galt als eine Zeit des Wohlstandes und der Konsolidierung.
Der Frieden mit den Seldschuken ermöglichte den Ghaznawiden unter Ibrāhīm und dessen Sohn Masʿūd III. (1099–1115) eine weitere Expansion in Indien. Ein General Masʿūds III. soll hier bei seinen Raubzügen weiter als seinerzeit Mahmud von Ghazni über den Ganges vorgedrungen sein (gegen die Gahadavala aus Kannauj).
Nach einem Thronstreit unter den Söhnen Masʿūds III. wurde Bahrām Schāh (1117–1157) von dem Seldschuken-Sultan Sandschar (1118–1157) in sein Amt eingesetzt und verlagerte das Zentrum des Reichs in den Punjab, nach Lahore. Bahrām Schāh war Sandschar zu einem jährlichen Tribut von 250.000 Dinar und zur Anerkennung in der Chutba verpflichtet. Sein Reich geriet seit der Mitte des 12. Jahrhunderts unter den Druck der Ghuriden-Dynastie aus dem Gebiet des heutigen Zentralafghanistan. Der Streit begann, als Bahrām Schāh ein Mitglied dieser Familie, Quṭb ad-Dīn Muḥammad vergiften ließ und dessen Bruder Saif ad-Dīn Sūrī deswegen bis Ghazna vordrang, wo er 1149 geschlagen und hingerichtet wurde. Danach setzte sich ein dritter Bruder namens ʿAlāʾ ad-Dīn Ḥusain (1149–1161) in Ghor fest, besiegte Bahrām Schāh dreimal und plünderte und zerstörte 1151 Ghazna. Unter anderem ließ er auch die Leichen früherer Ghaznawiden-Herrscher exhumieren und verbrennen.
In der Folge blieb die Ghaznawidenherrschaft praktisch auf Lahore im Punjab beschränkt. 1186 wurde mit der Eroberung der Stadt der letzte Ghaznawidenherrscher Chusrau Malik durch die Ghuriden gestürzt.
Verwaltung
Das Ethos der Ghaznawiden war streng sunnitisch, und die Sultane befolgten die Rechtsschule der Hanafiten. Sultan Mahmud pflegte stets gute Beziehungen zum Kalifat der Abbasiden in Baghdad und stärkte dadurch die religiösen und moralischen Erfordernisse für seine autoritäre Herrschaft. Er ließ dem Kalifen Geschenke zukommen und präsentierte sich als Beschützer der Orthodoxie, vor allem gegen die schiitischen Buyiden, die Ismailiten von Multan und die Mutaziliten von Rayy. Sein Sohn Masʿūd setzte diese Politik fort, bis die Ghaznawiden schließlich von den Seldschuken besiegt wurden und diese fortan als „Beschützer des Kalifats“ fungierten.
Die Ausübung der Macht durch den Sultan und der administrative Staatsapparat befanden sich innerhalb der persisch-islamischen Tradition. Dabei herrschte der Sultan als Despot und mit „göttlichem Beistand“ über alle Schichten der Bevölkerung, deren hauptsächliche Aufgabe darin bestand, dem Sultan respektvoll zu dienen und ihm Steuern zu zahlen.
Während die Armee der Ghaznawiden im Großen und Ganzen von türkischen Militärsklaven abhängig war, befand sich der administrative Staatsapparat in den Händen persischer Bürokraten, die die Traditionen der Samaniden weiterführten. Die Iranisierung des Staatsapparates ging einher mit der Iranisierung des Lebensstils und der Hochkultur am ghaznawidischen Hof, und alle wichtigen Regierungsposten, darunter der des Wesirs, des Kriegsministers, und des Finanzministers, wurden durchgehend von Persern besetzt.
Die Hofsprache der Ghaznawiden war Persisch, während die diplomatische Korrespondenz grundsätzlich auf Arabisch erfolgte. Alle erhaltenen zeitgenössischen Schriften sind entweder auf Arabisch oder auf Persisch verfasst, doch geht aus späteren Berichten auch hervor, dass die Dynastie selbst noch bis zur Zeit der Regentschaft Masʿūds I. (1031–1041) Turki („türkisch“) sprach. Im Vergleich zu anderen türkischen Herrscherhäusern waren die ghaznawidischen Sultane hochgradig kultiviert und gebildet. So beschreibt ʾUtbī, dass Mahmud in den Religionswissenschaften geschult wurde, während der zeitgenössische persische Dichter Baihāqi das Interesse von Mahmuds Sohn Masʿūd an arabischen Werken und dessen außerordentliches Talent für persische Schrift, Sprache und Rhetorik hervorhebt.
Kultur, Kunst und Literatur
Die Ghaznawiden waren türkischer Herkunft, doch waren schon die frühesten Herrscher der Dynastie, angefangen mit Sebük Tigin und Mahmud, durch und durch „iranisiert“. Inwieweit eine „türkische“ Identität bei ihnen ausgeprägt war, ist anhand der Quellen – allesamt auf persisch oder arabisch verfasst – nicht auszumachen. Soweit es überhaupt eine Betonung darauf gab, dann nur in den sehr frühen Jahren der Dynastie, denn wie viele andere türkische Familien und Herrscher jener Zeit, hatten auch die Ghaznawiden schnell die Sprache und Kultur ihrer persischen Herren, Lehrer und Untertanen übernommen, so dass schon sehr früh keine Bindung mehr zu ihrer türkisch-zentralasiatischen Herkunft bestand. Sie wurden in dieser Hinsicht zu einer „persischen Dynastie“ und entwickelten sich, ganz nach dem Vorbild der vorislamischen Perser, zu großzügigen Förderern der iranischen Hochkultur. Vor allem der Hof in Ghazna wurde zu einem weithin berühmten kulturellen Zentrum ausgebaut, das zahlreiche Gelehrte und Dichter aus der Region anzog. Doch scheinen die Ghaznawiden nicht ausreichend privilegiert gewesen zu sein, um wirklich große Dichter an ihrem Hof beschäftigen zu können – die einzige Ausnahme war Firdausi. Auch der Universalgelehrte Biruni wirkte am Hof der Ghaznawiden.
Kunst und Architektur florierten während der ghaznawidischen Ära – nicht nur in Ghazna, sondern auch in Herat, Balch und anderen Zentren des Reiches. Zum einen ging das auf die großzügige Förderung durch die Sultane zurück, zum anderen aber auch auf die großen finanziellen Möglichkeiten, die sich die Ghaznawiden durch ihre Raubzüge aneigneten. Abū l-Fażl Baihaqī schrieb ein wichtiges Geschichtswerk, Tārīch-i Baihaqī.
Liste der Ghaznawiden
Der Stammbaum der Ghaznawiden
Führer der samanidischen ghulāmān-e chāṣ in Ghazna
Alp-Tigin (962–963)
Abū Isḥāq Ibrāhīm (963–966)
Bilge Tigin (966–975)
Böri Tigin (pers: Pīrītegīn; 975–977)
Herrscher (Sultane) von Ghazna
Abū Manṣūr Sebüktigin (977–997; herrschte anfangs noch als Gouverneur im Namen der Samaniden in Chorasan)
Ismāʿīl ibn Sebüktigin (997)
Maḥmūd ibn Sebüktigin (Mahmud von Ghazni) (998–1030)
Muḥammad ibn Maḥmūd (1030–1031; erste Herrschaft)
Masʿūd I. ibn Maḥmūd (1030–1040)
Muḥammad ibn Maḥmūd (1041; zweite Herrschaft)
Maudūd ibn Masʿūd (1041–1048)
Masʿūd II. ibn Maudūd (1048)
ʿAlī ibn Masʿūd (1048)
ʿAbd ar-Raschīd ibn Maḥmūd (1049)
Usurpation in Ghazna durch den Sklavenführer Abū Saʿīd Toghril (1052)
Farruchzād ibn Masʿūd I. (1052–1059)
Ibrāhīm ibn Masʿūd (1059–1099)
Masʿūd III. ibn Ibrāhīm (1099–1115)
Schīrzād ibn Masʿūd III. (1115)
Arslān Schāh ibn Masʿūd III. (1116)
Seldschuken besetzen Ghazna (1117)
Bahrām Schāh ibn Masʿūd III (1117–1150; erste Herrschaft)
Ghuriden besetzen Ghazna (1150)
Bahrām Schāh ibn Masʿūd III. (1152–1157; zweite Herrschaft)
Chusrau Schāh ibn Bahrām Schāh (1157–1160; nur noch im Nordwesten Indiens)
Chusrau Malik ibn Chusrau Schāh (1160–1186; nur noch im Nordwesten Indiens)
Eroberung durch die Ghuriden (1186)
Literatur
Clifford Edmund Bosworth: Ghaznavids. In: Encyclopædia Iranica. Band 10, Faszikel 6, S. 578–583.
Clifford Edmund Bosworth: The Ghaznavids. Their empire in Afghanistan and eastern Iran 994–1040. Edinburgh University Press, Edinburgh 1963 (= History, philosophy and economics. Band 17, ).
G. E. Tetley: The Ghaznavid and Seljuk Turks. Poetry as a Source for Iranian History. Routledge, London u. a. 2009, ISBN 978-0-203-89409-5 (Routledge studies in the history of Iran and Turkey).
Weblinks
Die Anfänge der Ghasnawiden und Ghasnawidische Kunst
Anmerkungen
Geschichte (Afghanistan)
Geschichte Tadschikistans
Geschichte Turkmenistans
Zentralasiatische Geschichte
Muslimische Dynastie
Dynastie (Indien)
Dynastie (Iran)
Geschichte des Islam in Indien
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https://de.wikipedia.org/wiki/Ingolstadt
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Ingolstadt
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Ingolstadt ist eine kreisfreie Großstadt an der Donau in Oberbayern mit 141.900 Einwohnern (Stand: 30. Juni 2023). Im Großraum leben rund eine halbe Million Menschen. Ingolstadt ist nach München die zweitgrößte Stadt Oberbayerns und nach München, Nürnberg, Augsburg und Regensburg die fünftgrößte Stadt Bayerns. Die Stadt überschritt 1989 die Marke von 100.000 Einwohnern und zählt seitdem zu den Großstädten in Deutschland. Ingolstadt ist nach Regensburg die zweitgrößte deutsche Stadt an der Donau.
Die Ersterwähnung erfolgte 806. Im späten Mittelalter war die Stadt neben München, Landshut und Straubing eine der Hauptstädte der bayerischen Teilherzogtümer, was sich in der Architektur widerspiegelt. Ingolstadt wurde dann am 13. März 1472 Sitz der ersten Universität in Bayern, die sich später als Zentrum der Gegenreformation profilierte. Hier gründete sich 1776 auch der freidenkerische Illuminatenorden. Für gut 400 Jahre war die Stadt zudem bayerische Landesfestung. Die historische Altstadt ist im Wesentlichen erhalten.
In der Stadt existieren zwei Hochschulen. Der Ort ist eines der drei Regionalzentren in Bayern. Die Stadt ist überwiegend vom verarbeitenden Gewerbe, wie etwa dem Automobil- und Maschinenbau, geprägt. Die Arbeitslosenquote lag im Februar 2022 bei 3,3 %.
Geographie
Ausdehnung und Lage
Das Stadtgebiet erstreckt sich über 133,35 km². Damit ist Ingolstadt flächenmäßig nach München, Nürnberg und Augsburg die viertgrößte Stadt Bayerns. Die größte Ausdehnung in Ost-West-Richtung beträgt etwa 18 km, in Nord-Süd-Richtung etwa 15 km. Die Stadtgrenze hat eine Länge von 70 km.
Ingolstadt liegt auf 48° 45′ 49″ nördlicher Breite und 11° 25′ 34″ östlicher Länge. Die Stadtgrenze ist ungefähr 14 km vom geographischen Mittelpunkt Bayerns bei Kipfenberg entfernt. Der höchste Punkt befindet sich mit einer Höhe von 410,87 m im Stadtteil Pettenhofen, die Altstadt liegt 374 m über dem Meeresspiegel. Der niedrigste Punkt ist die Schuttereinmündung in die Donau mit . In Ingolstadt gilt wie in ganz Deutschland die Mitteleuropäische Zeit, wobei die mittlere Ortszeit um 14 Minuten zurückbleibt.
Das Stadtgebiet breitet sich am nördlichen und südlichen Ufer der Donau in einem weiten ebenen Becken aus. Das Ingolstädter Becken ist im Norden von den Juraausläufern und im Süden von tertiärem Hügelland begrenzt. Im Südwesten beginnt das Donaumoos, während im Osten die Auwälder der Donau in das Stadtgebiet hineinreichen. Es handelt sich um die zweitgrößte Hartholzaue an der Donau. Der Süden der Stadt wird von der Sandrach, dem einstigen südlichen Hauptarm der Donau durchzogen, die streckenweise die Stadtgrenze bildet. Im Norden durchfließt von Westen her die Schutter Ingolstadt und mündet nahe der Altstadt in die Donau.
Geologie
Das Stadtgebiet liegt südlich der Donau auf der Niederterrasse aus der Würm-Kaltzeit und nördlich des Flusses auf der Hochterrasse aus der Riß-Kaltzeit. Der Grund in Ingolstadt besteht überwiegend aus Schotter und Sand, dem sogenannten Donau-Schwemmland. Im Norden und Süden, wo das Stadtgebiet in tertiäres Hügelland hineinreicht, befindet sich in den tieferen Schichten Süßwassermolasse. Durch die Ablagerung von Löss, dessen Tongehalt im Laufe der Zeit stark angestiegen ist, sind die Böden in Ingolstadt insbesondere dort, wo zusätzlich Auenlehm vorhanden ist, sehr lehmig.
Klima
Das Klima ist mit überwiegend feuchtwarmen Sommern und kühlen Wintern subozeanisch. Mit einer durchschnittlichen jährlichen Niederschlagsmenge von etwa 650 Millimetern ist das Klima in Ingolstadt deutlich trockener als im regenreichen Alpenvorland, wobei der Alpenföhn Ingolstadt noch erreicht. Im Gegensatz dazu halten sich vor allem im Herbst, aber auch im Winter häufig Nebel und Hochnebel, die sich auch im Tagesverlauf nicht auflösen. Der Wind kommt überwiegend aus westlicher und südwestlicher Richtung, im Herbst öfter auch aus Nordosten.
Die durchschnittliche Jahrestemperatur beträgt 8,2 °C, wobei Juli und August mit 18 beziehungsweise 17 °C die wärmsten und Januar und Februar mit −1 bis −2 °C im Mittel die kältesten Monate sind.
Der niederschlagsreichste Monat ist der Juli mit durchschnittlich 101 Millimetern, während der geringste Niederschlag mit durchschnittlich 35 Millimetern im März zu verzeichnen ist.
Gewässer
Die Donau durchfließt das Stadtgebiet von Westen nach Osten auf einer Länge von 14,2 Kilometern von Flusskilometer 2466,9 bis 2452,7 nach internationaler Zählung, der Pegel Ingolstadt befindet sich bei Donaukilometer 129,7 nach bayerischer Zählung. Der Wasserstand beträgt bei Niedrigwasser 96 Zentimeter, während der langjährige mittlere Wasserstand bei 218 Zentimetern liegt. Beim Pfingsthochwasser 1999 lag der Pegel bei 748 Zentimetern. Im Bereich der Stadt Ingolstadt ist die Donau zwischen 80 und 100 Meter breit. Im Stadtbereich liegt die Donaustaustufe Ingolstadt. Östlich davon wird die Donau von der Staustufe in Vohburg beeinflusst. Bei der 1971 errichteten Staustufe Ingolstadt kann die Donau in einem Stausee auf maximal 500 Meter Breite gestaut werden. Mit Ausnahme der Stadtteile Haunwöhr und Gerolfing, die bei Hochwasser durch einen erhöhten Grundwasserspiegel gefährdet sind, blieb Ingolstadt in den letzten Jahrzehnten von Hochwasserkatastrophen verschont. Das Bestreben der Stadt ist, die Donau wieder mehr mit dem städtischen Leben zu verbinden. Dazu wurden im Jahr 2007 an der Nordseite der Donau Uferbefestigungen und Terrassen errichtet. Auf der gegenüberliegenden Südseite befindet sich die von Toni Amler konzipierte Seebühne.
Die Schutter fließt heute über einen Festungsgraben in die Donau, dessen ursprünglicher Verlauf im Stadtgebiet ist heute weitgehend überbaut. Auch Mailinger Bach und Sandrach durchfließen das Stadtgebiet, auf dem sich zudem mehrere Baggerseen befinden. Der größte davon führt offiziell den Namen „Dreigroschensee“, wird aber allgemein nur „Baggersee“ genannt und befindet sich unmittelbar nördlich der Donaustaustufe. Der zweitgrößte ist der Auwaldsee und liegt im Stadtteil Süd-Osten nahe der Autobahn und dem Industriegebiet.
Nachbargemeinden
Der Ort ist von drei Landkreisen umgeben, die wie Ingolstadt zum Regierungsbezirk Oberbayern gehören. Dies sind im Norden der Stadt der Landkreis Eichstätt, im Südosten der Landkreis Pfaffenhofen an der Ilm und im Südwesten der Landkreis Neuburg-Schrobenhausen. Zusammen bilden diese vier Gebietskörperschaften die Planungsregion Ingolstadt (Region 10). Folgende Märkte und Gemeinden der genannten Landkreise grenzen direkt an die Stadtgrenze von Ingolstadt: (sie werden nach dem Uhrzeigersinn beginnend im Nordwesten genannt):
Landkreis Eichstätt: Egweil, Nassenfels, Buxheim, Gaimersheim, Wettstetten, Lenting, Kösching und Großmehring
Landkreis Pfaffenhofen an der Ilm: Manching
Landkreis Neuburg-Schrobenhausen: Karlskron, Weichering und Bergheim
Mit Nürnberg, Schwabach, Kempten (Allgäu), Memmingen, Kaufbeuren und Weiden gehört sie zu den wenigen kreisfreien Städten Bayerns, die nicht Verwaltungssitz eines gleichnamigen Landkreises sind.
Stadtgliederung
Stadtteile sind:
Dünzlau, Dünzlauermühle, Einbogen, Etting, Feldkirchen, Friedrichshofen, Gerolfing, Hagau, Haunwöhr, Heindlmühle, Hennenbühl, Herrenschwaige, Hundszell, Ingolstadt, Irgertsheim, Knoglersfreude, Kothau, Mailing, Moosmühle, Mühlhausen, Niederfeld, Oberbrunnenreuth, Oberhaunstadt, Ochsenmühle, Pettenhofen, Ringsee, Rothenthurm, Samhof, Samholz, Schaumühle, Schmalzbuckel, Schmidtmühle, Seehof, Sonnenbrücke, Spitalhof, Spitzlmühle, Stockermühle, Unsernherrn, Unterbrunnenreuth, Unterhaunstadt, Winden und Zuchering.
Das Stadtgebiet ist in zwölf Stadtbezirke und 61 Unterbezirke gegliedert. In jedem Stadtbezirk gibt es einen Bezirksausschuss, der zwischen 13 und 17 Mitglieder hat. Diese Gremien werden nach jeder Kommunalwahl vom Stadtrat neu bestimmt. Die Bezirksausschüsse sind zu wichtigen, den Stadtbezirk betreffenden Angelegenheiten zu hören. Die endgültige Entscheidung über eine Maßnahme obliegt jedoch dem Stadtrat. Die Bezirksausschüsse gibt es seit 1967, bayernweit ist die Stadt Ingolstadt die einzige Stadt, welche Bezirksausschüsse freiwillig eingeführt hat.
Neben dieser politischen Stadtgliederung existiert eine weitere, die sich aus der Stadtentwicklung ergibt und nicht zuletzt von den beiden Grüngürteln Ingolstadts beeinflusst wird. Unterschieden wird dabei zwischen der Altstadt, die im Wesentlichen aus den vier Altstadtbezirken und dem Unterbezirk Brückenkopf gebildet und vom Glacis, dem inneren Grüngürtel, umschlossen wird, und der Kernstadt. Diese besteht aus den Bezirken Nordost, Nordwest, Südwest, Südost und den westlichen Unterbezirken des Bezirks Mitte, also jenen Stadtteilen, die sich größtenteils innerhalb des äußeren Grüngürtels mit einer geschlossenen Siedlungsfläche befinden. Davon abgegrenzt sind die dörflichen Stadtteile, vor allem die Bezirke Süd, West, Mailing und Etting sowie die Stadtteile Rothenturm, Niederfeld und Unterhaunstadt.
Eine weitere, gröbere Stadtgliederung ergibt sich aus der Lage der Stadtteile zur Donau. So wird zwischen dem Süden, dem Teil südlich der Donau und dem Norden Ingolstadts nördlich des Flusses unterschieden.
Schutzgebiete
Im Stadtgebiet gibt es das Naturschutzgebiet Donauauen an der Kälberschütt, acht Landschaftsschutzgebiete und drei FFH-Gebiete (Stand April 2016).
Siehe auch
Liste der Naturschutzgebiete in Ingolstadt
Liste der Landschaftsschutzgebiete in Ingolstadt
Liste der FFH-Gebiete in Ingolstadt
Geschichte
Vor- und Frühgeschichte
Die ältesten Funde menschlichen Wirkens im heutigen Stadtgebiet Ingolstadts sind Faustkeile des Homo steinheimensis, die in Irgertsheim entdeckt wurden. Die Zeiten des Paläolithikums und des Mesolithikums sind nur durch Einzelfunde, etwa in Etting oder Gerolfing, nachweisbar. Erst für die Jungsteinzeit verdichten sich die Funde von Siedlungsspuren im Raum Ingolstadt.
Während diese frühen archäologischen Zeugnisse in den Vororten Ingolstadts gefunden wurden, liegt für die Bronzezeit erstmals ein Beleg für eine Besiedlung im Bereich der späteren Altstadt vor. Es handelt sich um mehrere Gräber beim Herzogskasten. Welche Bedeutung das Gebiet an der Donau zu dieser Zeit hatte, zeigt der Fund der umfangreichsten Grabanlage der Urnenfelderkultur in Süddeutschland bei Zuchering, die zu den größten Europas zählt. Diese besteht aus etwa 600 Gräbern aus dem Zeitraum zwischen dem 13. und 10. Jahrhundert v. Chr. Ein weiteres Zeugnis dieser Epoche ist das aus fast 3000 Teilen bestehende Bernsteincollier, das 1996 bei Grabungen auf dem Gelände der Audi AG gefunden wurde. Ihr Ende fand diese hoch entwickelte Kultur im Raum Ingolstadt mit der Verbreitung der Eisenverarbeitung.
Für die nachfolgende Hallstattzeit, die frühe Eisenzeit, weisen die archäologischen Befunde etwa die Existenz eines Herrenhofs mit Siedlung für den Bereich Zuchering nach. Ähnliche Spuren fanden sich in Etting und Dünzlau. Aus der Latènezeit stammt mit dem 1,5 km von der heutigen Stadtgrenze entfernten Oppidum von Manching eine der größten keltischen Siedlungen. Im Stadtgebiet selbst gibt es einige kleinere Siedlungen der Kelten, die die Siedlungsgeschichte der bereits zur Hallstattzeit vorhandenen Niederlassungen fortsetzten.
Mit dem Feldzug des Drusus 15 v. Chr. und der Errichtung der Provinz Rätien wurde das Gebiet um Ingolstadt Teil des Römischen Reichs. Etwa 50 Jahre nach dem Feldzug wurde bei Oberstimm, unmittelbar an der heutigen Stadtgrenze, ein römisches Kastell zur Sicherung des 20 km nördlich gelegenen Limes errichtet (siehe Kastell Oberstimm). Auf die wirtschaftliche und militärische Bedeutung der Region weist die hohe Dichte an römischen Straßen hin. Reste des Wegnetzes fanden sich in Hagau, Dünzlau, Etting und Feldkirchen, wo sich der Donauübergang befand. Auf Siedlungen weisen die Reste mehrerer Landhäuser beziehungsweise Landgüter (Villae rusticae) in Etting, Feldkirchen und Unterhaunstadt hin. Auch im Stadtteil Zuchering-Seehof hat das römische Militär Spuren hinterlassen. So entdeckte der Luftbildarchäologe Otto Braasch dort zwischen 1978 und 1982 rund 2,5 Kilometer westlich von Kastell Oberstimm neben Spuren der Donausüdstraße drei frühkaiserzeitliche Truppenlager (siehe Ingolstadt-Zuchering Lager I sowie Ingolstadt-Zuchering Lager II und III). Zudem wurde in dem Gebiet ein spätantiker Burgus identifiziert (siehe Burgus Zuchering-Seehof).
Erste Erwähnung und Stadterhebung (806–1392)
Die erste schriftliche Erwähnung Ingolstadts findet sich in der Reichsteilungsurkunde Karls des Großen, der Divisio Regnorum vom 6. Februar 806, als villa Ingoldesstat, der Stätte des Ingold, vgl. Ingold, die sich schon in oder vor der Zeit der Agilolfinger entwickelte. In der Reichteilungsurkunde, die den Zweck hatte, eine Reichsteilung des Gesamtkönigreichs Kaiser Karls des Großen unter seine drei Söhne Ludwig, Pippin und Karl und potenzielle Nachfolgekämpfe zu vermeiden, steht, dass Ingolstadt seit 788 ein karolingisches Königsgut und schon vorher im achten Jahrhundert agilofingisches Herzogsgut war. Ingolstadt ist in dieser Urkunde zusammen mit Lauterhofen als Königshof besonders hervorgehoben: Beide Höfe sollten an den zukünftigen Kaiser, Karls gleichnamigen Sohn, fallen. Da die Söhne Karls des Großen Karl und Pippin aber vor ihm starben, folgte ihm Ludwig als Kaiser im Frankenreich.
Wo dieser Königshof Ingoldesstat genau lag, konnte bisher archäologisch nicht nachgewiesen werden. Als wahrscheinlich gilt jedoch ein Standort in der heutigen Altstadt, wobei die Archäologie den Stadtteil Feldkirchen nicht ausschließt. 841 wurde das karolingische Kammergut Ingolstadt von Ludwig dem Deutschen, dem Nachfolger Karls des Großen auf dem fränkischen Königsthron, an seinen Kanzler Gozbald, den Abt des Klosters Niederaltaich übertragen. In der Schenkungsurkunde wird erstmals die Größe des Ortes genannt. Er umfasste neben dem Fronhof insgesamt 34 Hufen (Huben), davon zwölf Höfe für königliche Boten (Sintmannen) sowie zwei Eigenkirchen. Zehn Jahre später übertrug der Abt seine Besitzungen dem Kloster.
Es ist nicht ausgeschlossen, dass das ursprüngliche Kammergut Ingoldesstat größer war. Im Hochmittelalter vor der Stadtwerdung Ingolstadts gab es neben dem niederaltaichischen Klostergut noch umfangreichen herzoglichen Besitz. Denkbar ist, dass dieser Besitz den Teil des karolingischen Königsgutes darstellte, der nicht an Niederaltaich übergeben worden war; dass der bayerische Herzog, vielleicht Arnulf der Böse, dem Kloster Besitz entfremdet hat, kann ebenso angenommen werden.
Von den Archäologen diskutiert wird schon für diese frühe Zeit eine Verlegung der Schutter. Geomorphologisch gesehen ist eine ursprüngliche Schuttermündung in die Donau einige Kilometer oberhalb der heutigen Mündung wahrscheinlich. Für eine Siedlung, wie sie das karolingische Kammergut und das niederaltaichische Klostergut Ingoldesstat war, wurde nicht nur eine sichere und strategisch günstige Lage benötigt, sondern auch ein Mühlfluss. Eine Verlängerung der Schutter bis zum heutigen Ingolstadt hätte beides gewährleistet und hätte im Rahmen der damaligen technischen Möglichkeiten gelegen.
Für die Zeit zwischen dem späten 9. und dem beginnenden 13. Jahrhundert fehlen jegliche urkundliche Belege für Ingolstadt. Vermutet wird eine Zerstörung der Siedlung während der Ungarneinfälle im 10. Jahrhundert oder ein großer Brand, der weite Teile Ingolstadts zerstörte und damit den Anstoß für den spätestens um 1200 beginnenden gründlichen Wiederaufbau und die Gewährung der Stadtrechte gegeben hat.
Ingolstadt kann nach der Übernahme des Vogteirechts über Niederaltaich durch die Herren von Bogen nicht ohne Bedeutung gewesen sein. Nach dem Aussterben der Grafen von Bogen 1242 erbten die wittelsbachischen Herzöge den Besitz, daher kann eine Stadtgründung durch die Wittelsbacher vor 1242 nicht in Frage kommen. Mit den Wittelsbachern erscheint ein erneuter Aufstieg des Ortes möglich, da dort eine wichtige herzogliche Zollstätte mit Brücke lag, die die Straße nach Nürnberg bewachte. Da die Brücke von Neuburg bis 1247 in der Hand der Marschälle von Pappenheim war, war die Ingolstädter Brücke die einzige im weiten Umkreis, die den wittelsbachischen Herzögen unterstand.
Im Jahr 1234 wurde die Moritzkirche neu errichtet. Ob es schon zu dieser Zeit die Planstadt Ingolstadt gab, oder ob erst Herzog Otto II. in den 1250er Jahren den Schritt der Vereinigung verschiedener Vorgängersiedlungen zu einer Stadt vollzogen hat, bleibt unklar. Sicher ist jedenfalls, dass es verschiedene Siedlungen auf dem Gebiet der 1312 von Kaiser Ludwig IV. bestätigten Stadt gab, die ebenfalls auf karolingisches Königsgut und niederaltaichisches Klostergut zurückgehen. Um 1280 ist eine erste Stadtmauer nachweisbar. Diese umschloss ein Rechteck mit schachbrettartig angelegten Straßen und einer zentralen Hauptkreuzung beim Schliffelmarkt sowie einer Burg im südöstlichen Eck des Stadtgebiets, dem heutigen Herzogskasten. Der Stadtkern war offensichtlich schon 1258 bewohnbar, da aus diesem Jahr die erste herzogliche Urkunde datiert, die in Ingolstadt ausgestellt wurde. Um 1250 erhielt Ingolstadt Stadtrechte verliehen und später das Münzrecht. Im Jahr 1254 wurde der erste Bürger der Stadt Ingolstadt namens Heinrich Trost urkundlich erwähnt.
Um 1300 wurde Ingolstadt unter Kaiser Ludwig dem Bayern – wenngleich nur für etwa drei Jahre – Hauptstadt des neu gebildeten Teilherzogtums Oberbayern, da Ludwig als Vormund der Söhne Ottos III. von Niederbayern die Teilung Bayerns wieder rückgängig gemacht hatte.
Bereits bei Fertigstellung der ersten Stadtumwallung lag ein beträchtlicher Teil der Bebauung außerhalb der Befestigung, die mit Ausnahme der vier Türme und Tore nicht aus Mauerwerk bestand. In den 1350er Jahren wurde mit der Stadtvergrößerung begonnen. Eine wichtige Vorarbeit war die Heranführung des Donauhauptarms an die Stadt, die um 1360 abgeschlossen war (vgl.: Sandrach). Die Stadterweiterung mit dem Bau einer gemauerten Stadtbefestigung wurde 1362 unter Herzog Meinhard urkundlich gestattet. Mit dem Bau wurde Mitte der 1360er Jahre im Osten am Donauufer begonnen und Ende des 14. Jahrhunderts der Mauerring an der Donau im Westen geschlossen. Die Arbeiten am Donauufer zogen sich noch bis etwa 1430 hin. Seit 1407 war die Stadt in zwei Pfarreien – untere und obere – aufgeteilt.
Herzogtum Bayern-Ingolstadt (1392–1447)
Noch während am Ausbau Ingolstadts gearbeitet wurde, kam es 1392 zur Teilung Bayerns in die Herzogtümer Bayern-München (unter Johann II.), Bayern-Landshut (unter Friedrich dem Weisen) und Bayern-Ingolstadt. Ingolstadt wurde dadurch Haupt- und Residenzstadt eines souveränen Herzogtums unter Stephan III. (Stephan dem Kneißel).
Der Sohn Stephans III., Ludwig VII. (der Gebartete, gestorben 1447), brachte die begonnene Stadterweiterung mit 87 Türmen zum Abschluss, die der Stadt zum Beinamen „die Hunderttürmige“ verhalf.
Er begann das Liebfrauenmünster (die Stadtpfarrkirche zur Schönen Unserer Lieben Frau) als zweite Pfarrkirche und Grablege zu errichten, für die er 1438 das dem Goldenen Rössl vergleichbare Kleinod der (1801 zerschlagenen) „Gnad“ gestiftet hat, und plante seine Residenz an die Stelle des späteren Neuen Schlosses zu verlegen. Stephans Tochter Isabeau heiratete den König von Frankreich. Der junge Ludwig VII. hatte seine Ausbildung am Hof von Paris erhalten. Die Zeit des souveränen Ingolstadt ist vor allem von den Auseinandersetzungen mit dem Teilherzogtum Bayern-Landshut geprägt. 1447 fiel Bayern-Ingolstadt schließlich an die Linie Bayern-Landshut. Ludwig VIII. (der Bucklige), der Sohn Ludwigs VII., hatte sich gegen seinen Vater aufgelehnt und ihn an dessen Vetter Heinrich XVI. ausgeliefert, in dessen Haft Ludwig VII. am 2. Mai 1447 auf der Burg von Burghausen starb. Bereits zwei Jahre vorher war Ludwig VIII. ohne legitime männliche Nachkommen verstorben.
„Die hunderttürmige Stadt“
Vom 14. bis zum 18. Jahrhundert war die mittelalterliche Stadtumwehrung Ingolstadts ein gewaltiges Bauwerk aus Graben, Wall und Türmen. Im 15. Jahrhundert wurde die Stadterweiterung mit 87 Türmen abgeschlossen; dies brachte der Stadt den Beinamen „Die hunderttürmige Stadt“ (lat. ad centum turres) ein. Das zeigt, dass diese Mauer damals, wenn nicht ein Alleinstellungsmerkmal, so doch ein Markenzeichen der Stadt war. Ihre halbrunden Türme, die Angriffen besser widerstanden, machten die Stadtmauer zu einer der innovativsten in Bayern. Für viele Stadtmauern wurde sie zum Vorbild, darunter die von Donauwörth, Aichach oder Pappenheim. Die Halbrundtürme waren mit repräsentativen Zinnen ausgestattet und durch Bauschmuck teils individuell gestaltet. Aufwändig ausgeführt war auch der Wehrgang, der auf Bögen und gestuften Konsolen ruhte. Mit der Einebnung der neuzeitlichen Festungsanlagen in napoleonischer Zeit büßte sie durch die Verfüllung des Grabens und die Überdeckung des Walles einen Gutteil ihrer dominanten Erscheinung dauerhaft ein. Unter dem heutigen Straßenniveau ist diese Wallgrabenanlage jedoch weitgehend erhalten geblieben.
Universitätsstadt und Landesfestung (1472–1800)
Das Ende des souveränen Herzogtums bedeutete für Ingolstadt keinen Bedeutungsverlust oder wirtschaftlichen Niedergang. Die Stadt fiel nun an Bayern-Landshut. 1472 gründete Herzog Ludwig IX. (der Reiche) mit päpstlichem Privileg die erste bayerische Universität. Die Errichtung der Universität Ingolstadt bedeutete den Zuzug von etwa 600 Universitätsangehörigen und somit eine nicht unbeträchtliche Stärkung der Wirtschaft. Zur Ausbildung der Studenten wurde 1520 das Pädagogium und 1549 das Jesuitenkolleg Ingolstadt gegründet. Das war die Grundlage für Ingolstadts Bedeutung als Hauptort der Gegenreformation. Zahlreiche Jesuiten und Theologen, darunter vor allem der Ingolstädter Professor Johannes Eck zählten zu den heftigsten Widersachern Martin Luthers. So erschien 1520 in Ingolstadt Ecks De primatu Petri adversus Ludderum, eine Verteidigungsschrift des päpstlichen Primats. Doch die Universität Ingolstadt erlangte nicht nur durch die theologische Fakultät Bekanntheit. Besonders die astronomischen und geographischen Forschungen, etwa von Christoph Scheiner sowie Peter und Philipp Apian sind hervorzuheben. Mit dem Werk Annales ducum Boiariae von Johannes Aventinus hatte die bayerische Geschichtsschreibung ihren Ursprung an der Universität Ingolstadt. Johann Adam von Ickstatt, Professor und ab 1746 auch Direktor an der Universität, begründete zusammen mit Ludwig Fronhofer das bayerische Realschulwesen.
Die Herzöge bauten auch das von Ludwig dem Gebarteten begonnene Neue Schloss weiter aus und errichten ab 1479 mit dem neuen Palas dort eine hochmoderne Residenzarchitektur.
Neben der Universität war Ingolstadt bereits im 14. Jahrhundert zu einem bedeutenden Handelszentrum insbesondere für Salz geworden. Aber auch der Weinmarkt spielte eine wichtige Rolle, die jedoch im 15. Jahrhundert zugunsten des Bieres abnahm. Der Bierumsatz stieg von 15.000 Hektolitern im 15. Jahrhundert auf mehr als 34.000 im Jahr 1546.
Im Dezember 1503 starb der letzte Herzog von Bayern-Landshut Georg in Ingolstadt.
Nach dem Landshuter Erbfolgekrieg und der Wiedervereinigung der bayerischen Teilherzogtümer mussten auch die bis dahin unterschiedlichen bayerischen Landrechte bereits unter Albrecht IV. harmonisiert werden. Die neue Landesordnung wurde schließlich am 23. April 1516 durch die bayerischen Herzöge Wilhelm IV. und Ludwig X. in Ingolstadt erlassen. Bekannt ist heute vor allem eine Textpassage dieser Landesordnung, die in der Bierwerbung meist als „bayerisches Reinheitsgebot“ bezeichnet wird.
Im Jahr 1537 wurde Ingolstadt zur bayerischen Landesfestung Ingolstadt ausgebaut, die es mit einer kurzen Unterbrechung 400 Jahre blieb. Dies brachte der Stadt den Namen die Schanz ein und noch heute nennen sich viele Ingolstädter Schanzer. Unter Graf Solms, dem Herrn zu Münzberg, entstand eine Renaissancefestung mit Bollwerken, wobei die mittelalterliche Stadtmauer erhalten blieb. Die Bauphase dauerte bis etwa 1565. Noch bevor die Arbeiten beendet waren, lagen sich 1546 im Schmalkaldischen Krieg die Truppen des Schmalkaldischen Bundes und die kaiserlichen Truppen Karls V. vor den Stadttoren für zwei Wochen gegenüber. Mit dem Abzug der Schmalkaldener hatte die Festung ihre erste Bewährungsprobe bestanden.
In den Hexenprozessen von 1588 bis 1704 wurden elf Frauen Opfer der Hexenverfolgungen. Besonders bekannt wurden die sogenannten Kinderhexenprozesse 1618 und 1624, die nach langem Prozessverlauf mit der Freisprechung aller Beteiligten endeten. Die 24-jährige Barbara Dietrich wurde 1704 als letzte Frau wegen Hexerei in Ingolstadt hingerichtet.
Im April 1632 belagerte Gustav II. Adolf von Schweden im Dreißigjährigen Krieg die Stadt, brach aber nach wenigen Tagen die verlustreiche Belagerung ab. Sein Pferd war ihm während eines Erkundungsritts förmlich „unter dem Hintern“ weggeschossen worden und ist heute im Stadtmuseum zu sehen, da es nach dem Abzug der Schweden in die Stadt geholt und präpariert wurde. Der „Schwedenschimmel“ gilt als das älteste erhaltene Tierpräparat Europas. Am 30. April 1632 starb in den Mauern der Stadt der Heerführer der katholischen Liga, Johann T’Serclaes Graf von Tilly, an einer Verwundung, die er sich in der Schlacht bei Rain zugezogen hatte. Dass die Festung Ingolstadt von den Schweden nicht erobert werden konnte, wurde ein wichtiger Beitrag für die rasche militärische Erholung Bayerns, trotz der Eroberung von München, Regensburg und weiteren bayerischen Städten. So wurde der Abbruch der Belagerung zum ersten Misserfolg Gustav Adolfs in seinem Feldzug und gleichzeitig zum Anlass für den weiteren Ausbau der Festung nach Ende des Krieges zwischen 1654 und 1662. Kurfürst Maximilian I., der den ganzen Krieg über regiert hatte, starb im September 1651 auf einer Wallfahrt in Ingolstadt.
Im Spanischen Erbfolgekrieg hatte sich Kurfürst Maximilian II. Emanuel mit Frankreich verbündet, in der Folge belagerten Truppen des Markgrafen Ludwig Wilhelm von Baden-Baden 1704 die ausgebaute Festung, jedoch wurde die Belagerung nach dem Sieg bei Höchstädt aufgehoben, da die Truppen für die Besetzung Ulms benötigt wurden. Am Ende des Jahres wurde im Vertrag von Ilbesheim trotzdem die Übergabe Ingolstadts an die gegnerischen kaiserlichen Truppen vereinbart, die die Festung erst nach Ende des Krieges Anfang 1715 zurückgaben. 1742 erhielt die Festung anlässlich der Kaiserkrönung von Kurfürst Karl Albrecht eine starke Besatzung, die zu einem erheblichen Teil aus verbündeten französischen Truppen bestand. Durch diese wurden ansteckende Krankheiten eingeschleppt, welche zur Plage der Bevölkerung wurden. Den gegnerischen Truppen fielen 1743 riesige Vorräte an Lebensmitteln und Waffen in die Hand, allein auf den Wällen standen 115 Geschütze (gegen 40 Geschütze der Angreifer). Dazu kamen weitere Kanonen im Zeughaus, wo sich auch 10.000 Gewehre befanden.
Anfang und Mitte des 18. Jahrhunderts wurde an der Universität Ingolstadt vor allem die medizinische Fakultät aufgebaut und erlangte europaweite Bedeutung. Im Umfeld der Universität wurde am 1. Mai 1776 der Illuminatenorden durch Adam Weishaupt gegründet. 1773 wurde nach der Auflösung des Jesuitenordens durch Kurfürst Maximilian III. Joseph das Jesuitenkolleg Ingolstadt geschlossen. Mit dem Einzug der französischen Revolutionsarmee im Juli 1799 verlor die Stadt mit der Festung und der Universität ihre beiden wichtigsten Einrichtungen. Ende 1799 wurde die Festung von den Franzosen geschleift und ein Jahr darauf die Universität nach Landshut verlegt. Durch die Verlegung wurde zu Beginn der in Bayern unter Kurfürst Maximilian IV. Joseph besonders streng durchgeführten Säkularisierung versucht, die noch immer jesuitisch und somit konservativ geprägte Universität zu erneuern. Sie gelangte von dort schließlich unter dem Nachfolger 1826 nach München und ist heute die Ludwig-Maximilians-Universität.
→ siehe auch: Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt
Festungsstadt (1806–1938)
Die Auswirkungen dieser Entwicklung für die Stadt waren enorm. Die Einwohnerzahl halbierte sich nahezu und ein Großteil der für das Wirtschaftsleben der Stadt wichtigen Professoren und Offiziere verließ Ingolstadt. Obgleich Ingolstadt 1803 einen Polizeikommissär erhielt und damit unmittelbar der Regierung unterstand – eine Vorform der kreisfreien Stadt – wechselte Ingolstadt die Kreiszugehörigkeit und gehörte zunächst zum Oberdonaukreis, später zum Regenkreis und nach Auflösung der alten Kreise schließlich zu Oberbayern.
Bereits wenige Jahre nach Schleifung der Festung Ingolstadt gab es Überlegungen hinsichtlich einer Neuerrichtung. Die Entscheidung fiel bereits 1806, jedoch begannen die Arbeiten erst 1828, als die durch die napoleonischen Kriege belasteten Staatsfinanzen es erlaubten. Der Bau der Königlich Bayerischen Hauptlandesfestung war das größte und teuerste Bauprojekt unter König Ludwig I. und beschäftigte bis 1848 gut 5.000 Bauarbeiter. Die Festung der Bayerischen Armee bestand aus fünf Fronten und sechs Kavalieren. Dies hatte zur Folge, dass beispielsweise 1861 7.193 zivile Einwohner 12.750 Uniformierten gegenüberstanden. Dementsprechend hoch war das Mitspracherecht des Militärs bei der städtebaulichen Entwicklung. Jegliche Bebauung im Rayon der Festung musste von ihm bewilligt werden, was die wirtschaftliche Entwicklung hemmte. Jedoch brachte der Festungsbau gleichzeitig eine Verbesserung der Infrastruktur mit sich. Ingolstadt erhielt 1867 Eisenbahnanschluss und es kam eine zaghafte Industrialisierung, vor allem durch Rüstungsbetriebe wie die Königlich Bayerische Geschützgießerei in Gang.
Während des Ersten Weltkriegs war Ingolstadt zeitweise mit über 40.000 Soldaten belegt, die Festungsbauten wurden als Kriegsgefangenenlager genutzt und drei Lazarette in der Stadt eingerichtet. Die berühmtesten Kriegsgefangenen des Weltkrieges waren der spätere französische Präsident Charles de Gaulle und der spätere sowjetische Marschall Michail Tuchatschewski. Ab 1916 herrschte ein großer Mangel an Lebensmitteln. Im November 1918 bildete sich ein Arbeiter- und Soldatenrat. Vom Balkon des Rathauses rief man kurzfristig eine Räterepublik aus. Der Friedensvertrag von Versailles hatte eine starke Reduzierung der deutschen Armee zur Folge, und die Ingolstädter Rüstungsunternehmen waren zur Produktionsumstellung gezwungen. Besonders erfolgversprechend schien die Herstellung von Spinnereimaschinen durch die Deutsche Spinnereimaschinenbau AG Ingolstadt (Despag). Wegen der Weltwirtschaftskrise 1929 wurden 60 % der Arbeiter entlassen, 500 blieben übrig.
Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg (1933–1945)
Die Machtübernahme der Nationalsozialisten vollzog sich am 27. April 1933, als der neu gebildete Stadtrat zwei NSDAP-Mitglieder als Zweiten und Dritten Bürgermeister wählte. Der seit 1930 amtierende Oberbürgermeister Josef Listl blieb bis 1945 im Amt. Bis Ende Juni legten die Stadtratsmitglieder der SPD und der BVP ihre Mandate nieder. Nationalsozialistische Übergriffe richteten sich in den ersten Monaten vor allem gegen Politiker und Mitglieder der KPD, die überwiegend in den Arbeitersiedlungen im Osten der Stadt wohnten. Das Gewerkschaftshaus wurde verwüstet. Mehr als 50 Personen wurden in das Konzentrationslager Dachau deportiert. Beim Novemberpogrom 1938, als SA-Leute die Synagoge im Stegmeier-Haus verwüsteten, lebten noch 46 jüdische Einwohner in Ingolstadt. Die Hälfte der ursprünglich rund 100 Ingolstädter Juden hatte die Stadt seit dem Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft wegen ständiger Repressalien und Boykotte bereits verlassen. Am Morgen des 10. November 1938 mussten die letzten Ingolstädter Juden die Stadt innerhalb einer Frist von einer Stunde verlassen.
Die Ingolstädter Sintiza Maria Herzenberger wurde am 11. Juni 1943 im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau ermordet. Im Januar 2019 wurde im Luitpoldpark eine Stele als Erinnerung an sie eingeweiht, die „der erste öffentliche Hinweis auf die Verfolgung und Ermordung“ dieser „Minderheit in der NS-Zeit in Ingolstadt“ ist.
Der zwischenzeitlich ohnehin bedeutungslose Status als Festung war Ingolstadt 1937 aberkannt worden. Im letzten Jahr des Zweiten Weltkrieges war das Fort VIII bei Manching die Außenstelle des zerstörten Wehrmachtsgefängnisses München. Dort wurden 1944/45 76 Wehrmachtsangehörige wegen Wehrkraftzersetzung bzw. Fahnenflucht hingerichtet. Später bettete man sie um auf den Ehrenhain des Westfriedhofs.
Mit dem Ende der Festung konnte die Stadt noch in den 1930er Jahren expandieren, und es entstanden besonders im Süden und Osten Ingolstadts zahlreiche neue Siedlungen zwischen den Festungsgürteln. 1938 wurde zudem die Autobahn bei Ingolstadt fertiggestellt. Obwohl die Stadt Standort einer Garnison und zahlreicher Rüstungsbetriebe war, blieb Ingolstadt bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs von Bombenangriffen verschont. Erst ab Januar 1945 war Ingolstadt mehrmals Ziel alliierter Luftangriffe. Schwer in Mitleidenschaft gezogen wurden insbesondere die südliche und östliche Innenstadt sowie der Bereich des Hauptbahnhofes. Weit über 600 Tote waren zu beklagen. Die Bomben trafen neben vielen Wohngebäuden unter anderem das Stadttheater, den Salzstadel, die Sankt-Anton-Kirche und das Gouvernementsgebäude. Bedeutendster kulturhistorischer Verlust war wohl die barocke Augustinerkirche von Johann Michael Fischer, bei deren Zerstörung über 100 Menschen starben. Obwohl Stadtkommandant Paul Weinzierl die Stadt nach eigener Aussage kampflos übergeben wollte, kam es in und um Ingolstadt im Laufe des 26. und 27. April 1945 zu Gefechten mit der anrückenden 86. US-Infanteriedivision. Im Rahmen der Kämpfe wurden auch die drei Donaubrücken von deutschen Truppen gesprengt. Am 27. April 1945 wurde die Stadt schließlich durch Oberst Marschall aus Eichstätt den Amerikanern übergeben.
Wirtschaftsstadt (seit 1945)
Die Ankunft von etwa 5.000 Flüchtlingen und Vertriebenen verknappte den Wohnraum zusätzlich. Festungsbauten waren als Notunterkünfte nur eine provisorische Lösung. Nach Würzburg und Regensburg wies Ingolstadt die dichteste Wohnraumbelegung im Bayern der Nachkriegszeit auf. Einen wirklichen Neuanfang ermöglichte erst der soziale Wohnungsbau, vor allem durch die „Gemeinnützige Wohnungsbaugesellschaft“.
In vakanten Kasernen- und Festungsarealen fanden zahlreiche Unternehmen Ersatz für zerstörte Produktionsstätten. Zur Sicherstellung der Ersatzteilversorgung für die in der späteren Trizone noch vorhandenen Fahrzeuge der Auto Union wurde in Ingolstadt Anfang Dezember 1945 zunächst das „Zentraldepot für Auto Union Ersatzteile“ gegründet, aus dem mit Krediten der Bayerischen Staatsregierung und Marshallplan-Hilfen Anfang September 1949 die neue Auto Union GmbH entstand. Die eigentlich in Chemnitz beheimatete Auto Union AG war im August 1948 aus dem Handelsregister gelöscht worden, sodass die Markenrechte an Audi, DKW, Horch und Wanderer an das neu gegründete Unternehmen in Ingolstadt übertragen werden konnten. Dennoch wurde auch in Sachsen die Produktion von Fahrzeugen unter diesen Markennamen fortgesetzt, sodass 1949 das erste DKW-Motorrad aus Ingolstadt die Bezeichnung DKW RT 125 W (für Westen) trug, um es von der IFA-DKW RT 125 aus Zschopau abzugrenzen. Beide Fahrzeuge basierten auf dem ab 1939 produzierten Vorkriegsmodell der RT 125. Ebenfalls 1949 begann in Ingolstadt die Produktion eines DKW-Schnellasters. 1950 folgte die ebenfalls aus Chemnitz stammende Schubert & Salzer Maschinenfabrik AG, die bereits 1938 Mehrheitseigner der Despag geworden war.
Eine Kaserne, die spätere Pionierkaserne auf der Schanz, wurde mit der Aufstellung der Bundeswehr ab Mitte der 1950er Jahre errichtet und 1957 durch erste Einheiten belegt.
In den 1950er und 1960er Jahren entstanden in der Innenstadt zahlreiche Gebäude, darunter das Neue Rathaus, deren Gestaltung keinerlei Rücksicht auf die historisch gewachsene Altstadt nahm. Die Einstellung zum städtischen Bauen wandelte sich in den 1970er Jahren. Wegweisend war der Neubau Klinikum Ingolstadt im Stadtteil Friedrichshofen. Häuser in der zentralen Ludwigstraße erfuhren eine Renovierung ebenso wie zahlreiche andere historische Bauten. Bei der Kreisreform von 1972 fiel der Landkreis Ingolstadt weg. Die Stadt selbst blieb kreisfrei und vergrößerte ihr Gebiet durch Eingemeindungen erheblich. 1989 wurde Ingolstadt wieder Universitäts- und mit über 100.000 Einwohnern auch Großstadt.
1992 fand hier die Landesgartenschau statt, die im Vorfeld zur Entstehung des Klenzeparks und zur Renovierung der Festungsanlagen am Brückenkopf führte. 2006 feierte Ingolstadt das 1200-jährige Stadtjubiläum.
Seit 2017 ist die Stadt Sitz des Bayerischen Transitzentrums Manching-Ingolstadt.
Die für 2020 in Ingolstadt geplante Landesgartenschau Ingolstadt 2020 wurde aufgrund der Covid-19-Pandemie auf 2021 verschoben. Nach Abschluss der Veranstaltung entstand dort der Piuspark.
Eingemeindungen
Durch die starke Bevölkerungszunahme von 57 % zwischen 1945 und 1960 war Anfang der 1960er Jahre nahezu das gesamte Gebiet der Stadt Ingolstadt bebaut und es gab kaum mehr Flächen zur Expansion. Das Stadtgebiet war aufgrund der 1813 erfolgten Ausgliederung der Audörfer südlich der Donau erheblich zu klein gewesen. Um das weitere Wachstum zu ermöglichen, schritt man 1962 zunächst zur Eingemeindung der Gemeinde Unsernherrn aus dem Landkreis Ingolstadt. Der größte Gebietszuwachs ergab sich dann nach der Auflösung des Landkreises Ingolstadt am 1. Juli 1972 im Rahmen der Gebietsreform in Bayern.
Folgende ehemals selbständige Gemeinden und Gemarkungen wurden zwischen 1962 und 1972 in die Stadt Ingolstadt eingegliedert:
Bevölkerung
Einwohnerentwicklung
Seit dem Mittelalter und am Anfang der Neuzeit gab es in Ingolstadt nur ein langsames Bevölkerungswachstum, das immer wieder durch die zahlreichen Kriege, Seuchen und Hungersnöte unterbrochen wurde. Bevölkerungszuwächse ergaben sich vor allem nach der Stadtvergrößerung im 14. Jahrhundert und durch die Gründung der Universität Ingolstadt. Der Rückgang der Einwohnerzahl zwischen 1762 und 1803 von 8.000 auf 4.800 Personen ist auf die Auflösung des Jesuitenordens 1773, die Verlegung der Universität nach Landshut 1800 und die Schleifung der Festung und Audörfer durch die napoleonischen Truppen während der Besetzung der Stadt 1800/01 zurückzuführen.
Mit Beginn der Industrialisierung im Laufe des 19. Jahrhunderts beschleunigte sich das Wachstum der Bevölkerung langsam. Doch gerade der Ausbau Ingolstadts zur königlich-bayerischen Hauptlandesfestung, der zunächst ein starkes Wachstum mit sich brachte, wirkte sich später hemmend aus, da jede Bautätigkeit im Umkreis der Stadt vom Militär bewilligt werden musste. Erst nach Aufhebung des Festungsstatus 1938 und der Vergrößerung des Stadtgebiets nach 1962 konnte sich die Stadt ungehindert entwickeln.
1914 hatte Ingolstadt 25.000 Einwohner, bis 1959 verdoppelte sich diese Zahl auf 50.000. Die Grenze von 100.000 Einwohnern überschritt die Stadt 1989 und ist damit Bayerns jüngste Großstadt. Am 31. Dezember 2019 sind laut amtlichem Melderegister 138.716 Einwohner gelistet.
Ingolstadt gehörte zu den am schnellsten wachsenden Städten in Deutschland, jedoch ist die Einwohnerzahl im Jahr 2020 erstmals seit 1975 wieder gesunken.
Demografie
Die Bevölkerung ist im Vergleich mit den übrigen bayerischen Großstädten die Jüngste. So hat sie mit 18,1 % den höchsten Anteil an unter 18-Jährigen und gleichzeitig mit 18,0 % nach München (17,4 %) und Fürth (17,9 %) den drittniedrigsten Anteil an über 65-Jährigen. Zudem leben in Ingolstadt etwas mehr Frauen als Männer. Der Anteil der weiblichen Bevölkerung liegt bei 50,6 %, der der männlichen Bevölkerung entsprechend bei 49,4 %. Seit gut 20 Jahren (mit Ausnahme des Jahres 2005) zeigt die natürliche Bevölkerungsbewegung eine positive Tendenz. Das bedeutet, dass die Anzahl der Sterbefälle niedriger ist als die der Geburten. Dieser Umstand erklärt zum Teil das starke Einwohnerwachstum Ingolstadts. Hinzu kommt, dass Ingolstadt in den vergangenen sieben Jahren einen Wanderungsüberschuss von ungefähr 1000 Personen pro Jahr verzeichnen konnte. Von den Zuwanderern stellen die 18- bis 25-Jährigen mit gut 40 %, gefolgt von den 25- bis 30-Jährigen mit etwa 20 %, den größten Anteil. Auch bei den Zuwanderern der letzten Jahre ergibt sich ein Frauenüberschuss.
Der Ausländeranteil an der Ingolstädter Bevölkerung lag 2005 bei 12,7 %, davon wiederum kommen 26,6 % aus den EU-Mitgliedstaaten. Der Anteil der Menschen mit Migrationshintergrund liegt bei ca. 38,9 % (Stand 2013). Die größte Gruppe der ausländischen Einwohner bilden die Türken mit 4.906 Personen, gefolgt von 1.205 Serben, 1.012 Rumänen, 792 Kroaten und 719 Italienern. Zwischen den Stadtbezirken gibt es große Unterschiede beim Anteil der ausländischen Bevölkerung. So leben in den Stadtbezirken Süd und West unter 5 % ausländische Bürger, während es in den Bezirken Nordost und Nordwest über 20 % sind.
Religionen
Konfessionsstatistik
Beim Zensus 2011 gaben 49,6 % der Einwohner an, römisch-katholisch zu sein, 18,0 % evangelisch und 32,4 % konfessionslos oder einer anderen Glaubensgemeinschaft anzugehören oder machten keine Angabe. Ende 2022 hatte Ingolstadt 142.307 Einwohner, davon 34,6 % katholisch, 12,8 % evangelisch und 52,6 % waren konfessionslos oder Angehörige sonstiger Glaubensgemeinschaften. Im Jahr 2022 bis zum 1. Dezember haben 2416 Bürgerinnen und Bürger mit Haupt- oder Nebenwohnsitz in Ingolstadt oder fast 2 % der Gesamtbevölkerung ihren Kirchenaustritt erklärt.
Christentum
Ingolstadt gehörte von Anfang an zum Bistum Eichstätt, das 741 errichtet wurde und zum Erzbistum Mainz gehörte. Politisch gehörte die Stadt zum Herzogtum Bayern, das über die Jahrhunderte hinweg katholisch blieb. Ältestes heute noch erhaltenes Gotteshaus ist die 1234 errichtete Moritzkirche, die an der Stelle einer älteren Kirche entstand.
Im Zeitalter der Reformation wurde Ingolstadt mit dem Einzug der Jesuiten zu einem Bollwerk des Katholizismus. Im Rahmen politischer Veränderungen mit Beginn des 19. Jahrhunderts wurde das Bistum Eichstätt 1817/21 der neuen Kirchenprovinz Bamberg zugeordnet, zu der es bis heute gehört. Die Pfarrgemeinden der Stadt sind Teil des Dekanats Ingolstadt, des südlichsten Dekanats des Bistums Eichstätt. Nur Zuchering mit den Pfarreifilialen in Hagau und Winden gehört zum Dekanat Pfaffenhofen des Bistums Augsburg, was durch die alte Diözesangrenze an der Sandrach (ehemals südlicher Hauptlauf der Donau) zu erklären ist. Die moderne Kirche St. Josef entstand 1963.
Die Zahl der Katholiken ist seit 1994 rückläufig. Damals gab es in Ingolstadt gut 69 000 Katholiken, 2016 waren es 58 000. Die Evangelisch-Lutherische Kirche hatte um die Jahrtausendwende einen Höchststand von gut 23 000 Mitgliedern, 2016 sind es rund 21 400. In prozentualen Anteilen an der zeitgleich angestiegenen Gesamtbevölkerung sind die Rückgänge vor allem bei den Katholiken noch stärker ausgefallen. Obwohl die Gruppe der Konfessionslosen deutlich größer ist als jene der Katholiken, gehört Ingolstadt zu den bayerischen Städten und Gemeinden, in denen Mariä Himmelfahrt (15. August) ein gesetzlicher Feiertag ist.
Die Katholiken in Ingolstadt verteilen sich auf 18 Gemeinden. Auch befinden sich seit dem 13. Jahrhundert die beiden Franziskanerklöster „Gnadenthalkloster“ und „Kloster Ingolstadt“ in der Stadt.
Mit Beginn des 19. Jahrhunderts zogen erste Protestanten in die Stadt. 1824 erhielt die Gemeinde ihren ersten evangelischen Pfarrer und errichtete mit „St. Matthäus“ ihre erste Kirche. Die neue Gemeinde gehörte zur Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern. Innerhalb dieser Landeskirche wurde Ingolstadt 1935 Sitz eines Dekanats, zu dem heute alle sieben evangelischen Kirchengemeinden der Stadt gehören (siehe auch: St. Johannes (Ingolstadt)). Das Dekanat Ingolstadt ist Teil des Kirchenkreises Regensburg.
Die Mennonitengemeinde Ingolstadt entstand im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts durch den Zuzug pfälzischer Familien. Nachdem man über 90 Jahre sich zunächst in Bauernhöfen der Gemeindemitglieder und seit der Jahrhundertwende in einem gemieteten Saal versammelt hatte, konnte 1982 ein eigenes Jugend- und Gemeindezentrum an der Eigenheimstraße bezogen werden. Die Gemeinde, deren offizieller Name Evangelische Freikirche Mennonitengemeinde Ingolstadt lautet, gehört dem regionalen süddeutschen Verband deutscher Mennonitengemeinden an und ist Mitglied der bundesweiten Arbeitsgemeinschaft Mennonitischer Gemeinden in Deutschland.
Am 14. Oktober 1945 wurde die Ukrainische Orthodoxe Kirchengemeinde Ingolstadt gegründet, die bis heute in dem historischen Gebäude „Pulverhaus 25“ (ehem. Patronenhaus) existiert und regelmäßig ihre Gottesdienste abhält.
Auch andere orthodoxe Christen, darunter die russisch-orthodoxe Auslandskirche sowie die griechisch-orthodoxe Kirche, unterhalten in Ingolstadt Gotteshäuser.
Die Ingolstädter Evangelisch-Freikirchliche Gemeinde (Baptisten) wurde 1948 gegründet. Keimzelle der Gemeinde waren Flüchtlinge aus den ehemals deutschen Ostgebieten. Ein erstes Kirchengebäude wurde 1962 in der Nürnberger Straße errichtet und 1973 erweitert. Im Dezember 1994 zogen die Baptisten in ein neu erbautes Gemeindezentrum um. Es befindet sich im Stadtteil Hollerstauden. Der Onckenweg, an dem das neue Gotteshaus liegt, wurde nach Johann Gerhard Oncken, dem Gründervater der deutschen Baptisten, benannt. Die Baptistengemeinde Ingolstadt gehört zum Landesverband Bayern des Bundes Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden.
In der Stadt wirken darüber hinaus eine Reihe weiterer Freikirchen, darunter eine Freie evangelische Gemeinde, eine Freie Christengemeinde, die Siebenten-Tags-Adventisten (STA) sowie die Christusgemeinde Ingolstadt, die dem Hensoltshöher Gemeinschaftsverband (einem dem Evangelischen Gnadauer Gemeinschaftsverband zugehörigen Werk) angehört.
In Ingolstadt ist auch eine Gemeinde der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage (Mormonen) ansässig.
Die Zeugen Jehovas sind mit acht Gemeinden und fremdsprachigen Gruppen vertreten.
Judentum
In Ingolstadt bestand im Mittelalter eine jüdische Gemeinde, die bereits in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts schriftlich erwähnt wird. Das jüdische Wohngebiet mit Synagoge befand sich im Süden der Altstadt im Bereich der heutigen Schutter- und Spitalstraße. Judenverfolgungen gab es in Ingolstadt in den Jahren 1348 und 1450, wobei sich zwischen den Vertreibungen wieder mehrere jüdische Familien in der Stadt ansiedelten. Nach der Vertreibung von 1450 erhielten Juden erst ab 1861 wieder das Recht, sich in Ingolstadt niederzulassen, 1871 wurde ihnen das volle Bürgerrecht in Ingolstadt zuerkannt. Bis 1933 stieg die Zahl der Gemeindemitglieder auf 100 und es entstand in einem Hinterhof an der Theresienstraße erneut eine Synagoge. Durch die Repressalien in der Zeit des Nationalsozialismus waren alle Angehörigen der jüdischen Gemeinde gezwungen, die Stadt zu verlassen oder sie wurden deportiert. Beim Novemberpogrom 1938 wurden „die noch etwa 40 in der Stadt lebenden Juden [...] ultimativ aufgefordert, innerhalb kürzester Frist Ingolstadt zu verlassen. Ihre bisherigen Wohnungen wurden noch am gleichen Tage leergeräumt und beschlagnahmt, das Inventar in ein Speditionslager am Nordbahnhof geschafft.“ Die Hauptverantwortung für diese vergleichsweise radikale Ausführung hatte NSDAP-Kreisleiter Lambert Friederichs.
Nach 1945 kehrten nur wenige der jüdischen Ingolstädter zurück, und die wiedereröffnete Synagoge musste 1952 geschlossen werden. 1968 lebten 16 jüdische Personen in Ingolstadt. Die verdrängte Geschichte der Ingolstädter Juden hat der Historiker Theodor Straub erforscht und in seinen Publikationen öffentlich gemacht. An die jüdischen Opfer des Nationalsozialismus erinnern die im Stadtgebiet und vor allem im Luitpoldpark aufgestellten blauen Stelen.
Islam
In Ingolstadt lebten einer Schätzung des Stadtplanungsamtes zufolge Ende des Jahres 2009 etwa 9.000 Muslime (Volkszählung 1987: 4566), hauptsächlich türkischer Herkunft. Die verschiedenen islamischen Gemeinden unterhalten Gebetsräume und Moscheen, darunter die Kocatepe-Moschee, Bayerns größte Moschee und Ingolstadts jüngstes Gotteshaus, die am 18. Mai 2008 im Bezirk Nordwest eröffnet wurde. In einem Abschnitt des Südfriedhofs befindet sich überdies ein muslimischer Friedhof.
Seit 1988 besteht auch eine alevitische Gemeinde, die seit 2001 ein eigenes Gotteshaus im Augustinviertel besitzt.
Politik
An der Spitze der Stadt stand anfangs der „Rat“, der erstmals für das Jahr 1309 bezeugt ist. Dieser Stadtrat bestand aus zwei Kammern, dem „Inneren Rat“, der eigentlichen obrigkeitlichen Stadtverwaltung und dem „Äußeren Rat“, der als beratendes und kontrollierendes Organ fungierte und von den Bürgern der Stadt gewählt wurde. Seit 1407 ist erstmals ein Bürgermeister nachweisbar, der aus den Reihen des Inneren Rats kam.
Das Amt des Bürgermeisters wechselte halbjährlich, später vierteljährlich. Nach 1447 leitete ein landesherrlicher Beamter als Pfleger die Stadt. Ab 1803 wurde in Ingolstadt nach und nach die Magistratsverfassung eingeführt, wobei der Magistrat ab 1818 von den Gemeindebevollmächtigten gewählt wurde. An der Spitze des Magistrats stand ein Bürgermeister. Teilweise wurden den Bürgermeistern der Titel Oberbürgermeister verliehen. Nach dem Zweiten Weltkrieg trugen nahezu alle Bürgermeister diesen Titel.
Oberbürgermeister und Bürgermeisterinnen
Der Oberbürgermeister und der Stadtrat werden für eine Wahlperiode von sechs Jahren gewählt. Oberbürgermeister ist seit dem 1. Mai 2020 Christian Scharpf (SPD), der sich zuvor am 29. März in einer Stichwahl gegen den bisherigen Amtsinhaber Christian Lösel (CSU) durchgesetzt hatte. Stellvertreterinnen sind die vom Stadtrat gewählten Bürgermeisterinnen Dorothea Deneke-Stoll (CSU) und Petra Kleine (Bündnis 90/Die Grünen).
Stadtrat
Der Stadtrat setzt sich aus 50 gewählten Mitgliedern und dem Oberbürgermeister zusammen. Zusätzlich unterstützen ihn zwei Ortssprecher für die Stadtteile, Hagau und Irgertsheim beratend. Nach der letzten Kommunalwahl am 15. März 2020 zogen in den Stadtrat ein:
Die Stadtratsmitglieder der Unabhängige Demokraten Ingolstadts (UDI) und Bürgergemeinschaft Ingolstadt (BGI) haben sich einige Monate nach Konstituierung des Stadtrates zur neuen Fraktion Unabhängige Wählergemeinschaft (UWG) zusammengeschlossen.
Bundes- und Landespolitik
Ingolstadt gehört zum Wahlkreis Ingolstadt (Bundestagswahl 2005: Nr. 218, 2009: 217), dem auch der Landkreis Eichstätt und der Landkreis Neuburg-Schrobenhausen ohne die Gemeinde Aresing angehören. Seit 2009 ist der gebürtige Ingolstädter Reinhard Brandl dort für die CSU direkt gewählter Bundestagsabgeordneter. Horst Seehofer, gleichfalls gebürtiger Ingolstädter, hatte dort das Direktmandat, bis er 2008 Ministerpräsident des Freistaats Bayern wurde. Von 2018 bis 2021 war er Bundesminister des Innern, für Bau und Heimat.
Bei der Landtagswahl in Bayern 2018 ging das Direktmandat im Stimmkreis Ingolstadt an Alfred Grob (CSU).
Wappen und Flagge
Die Stadtflagge von Ingolstadt hat vier gleich breite, horizontale Streifen in den Farben Weiß-Blau-Weiß-Blau und ein Seitenverhältnis von 3:5. Im Zentrum zeigt sie das Stadtwappen auf weißem Grund. Bei der Bannerflagge verlaufen die vier Streifen vertikal und das Seitenverhältnis beträgt 5:2.
Städtepartnerschaften
Die Geschichte der Ingolstädter Städtepartnerschaften begann nach dem Zweiten Weltkrieg, als das Britische Generalkonsulat in München mit dem Wunsch zum Aufbau einer freundschaftlichen Beziehung zu einer britischen Stadt an bayerische Städte herantrat. Nachdem bereits mehrere Partnerschaften zwischen bayerischen und schottischen Städten geschlossen worden waren, war die 1962 geschlossene Städtepartnerschaft zwischen Ingolstadt und Kirkcaldy im County Fife die zehnte ihrer Art zwischen den beiden Regionen. An die Partnerschaft erinnert heute unter anderem eine Stele im Klenzepark, sie wird durch zahlreiche Schüleraustausche gepflegt.
Im selben Jahr entstand die Partnerschaft zwischen Ingolstadt und der Stadt Carrara im Norden der Toskana. Zu Ehren der Partnerstadt wurde der Platz zwischen der Reitschule und dem Herzogskasten in Carraraplatz umbenannt; zahlreiche Skulpturen aus Carrara-Marmor befinden sich im Stadtgebiet.
Im Zuge des deutsch-französischen Freundschaftsvertrages von 1963 kam es im selben Jahr zur Unterzeichnung eines Partnerschaftsvertrages mit Grasse in Südfrankreich, womit die erste Phase von Städtepartnerschaften abgeschlossen war. Sichtbar ist die Beziehung in Ingolstadt unter anderem durch das 1992 im Klenzepark errichtete Provence-Haus.
16 Jahre später entstand die Verbindung zur damals jugoslawischen und heute slowenischen Stadt Murska Sobota; danach dauerte es weitere 16 Jahre bis 1995 die Partnerschaft mit dem Zentralen Verwaltungsbezirk von Moskau geschlossen wurde. 1998 folgte die Verbindung mit der türkischen Stadt Manisa, deren Bürgermeister, ein Architekt, sich am Entwurf der Ingolstädter Moschee beteiligte.
Die jüngsten Ingolstädter Städtepartnerschaften wurden zwischen 2003 und 2008 mit den Städten Kragujevac, Oppeln und Győr geschlossen. Mit der Verbindung mit dem oberschlesischen Oppeln war ein Städtenetzwerk aus den Städten Carrara, Grasse, Ingolstadt und Oppeln entstanden, die jeweils Partnerstädte sind. Die Verbindung zur ungarischen Stadt Győr entstand vor allem aus dem Umstand, dass die Audi AG dort seit 1994 ein Motorenwerk betreibt.
Am 27. Juni 2013 haben die beiden Partnerstädte Ingolstadt und Grasse einen Vertrag über Projektpartnerschaft mit der Gemeinde Legmoin in Burkina Faso abgeschlossen, dessen Ziel die Durchführung von Entwicklungsprojekten in dem strukturschwachen Gebiet der afrikanischen Partnergemeinde ist.
Patenschaften
1953 wurde die Patenschaft für die Deutschböhmen aus der Stadt Niemes im Kreis Deutsch Gabel übernommen.
1973 übernahm die Stadt Ingolstadt die bereits im Mai 1967 vom Landkreis Ingolstadt geschlossene Patenschaft für die Deutschböhmen aus der Stadt und dem Kreis Prachatitz im Böhmerwald. Grund für die Patenschaft war, dass sich viele Prachatitzer in und um Ingolstadt niederließen. Im Rahmen der Patenschaft für beide sudetendeutsche Städte entstand im ehemaligen Pedellhaus der Hohen Schule das Heimatmuseum Niemes-Prachatitz.
Seit 1987 besteht außerdem eine Patenschaft für die Banater Schwaben in Bayern.
Ingolstadt als Namensgeberin
Der Name Ingolstadt wurde für folgende Lufthansa-Maschinen vergeben:
1985 bis 1996: Boeing 737-200 (D-ABMB)
1997 bis 2005: Airbus A319-114 (D-AILI, zeitweilig unter anderem Namen verleast)
seit 2008: Airbus A330-300 (D-AIKL)
Am 27. November 2003 erhielt im Hauptbahnhof Ingolstadt ein ICE 3 (Triebzug 336) den Namen Ingolstadt.
Kultur und Sehenswürdigkeiten
Theater
Nachdem das alte Stadttheater in Ingolstadt im Zweiten Weltkrieg zerstört worden war, dauerte es bis 1966, ehe eine neue Spielstätte errichtet wurde. Das neue Stadttheater Ingolstadt wurde vom Architekten Hardt-Waltherr Hämer konzipiert und bietet 663 Plätze. Neben diesem Großen Haus verfügt das Theater Ingolstadt über vier kleinere weitere Spielstätten. Das Kleine Haus am Turm Baur, die Freilichtbühne im Turm Baur, das Studio im Herzogskasten und die Werkstattbühne, die sich ebenfalls im Hämer-Bau befindet. Insgesamt finden in Ingolstadt rund 500 Vorstellungen im Jahr statt. In der Stadt ist zudem eine große Zahl weiterer Bühnen zu finden, die von Theatergruppen mit unterschiedlichen Trägern geführt werden.
Das Theater wird seit 2007 unter hohem Kostenaufwand saniert, eine Generalsanierung ist ab Ende 2027 geplant.
Museen
Ingolstadt verfügt über 13 Museen unterschiedlicher Träger.
Größtes und ältestes Museum in der Stadt ist das Bayerische Armeemuseum mit einer Sammlung von Waffen, Ausrüstungsgegenständen, Uniformen, Fahnen, Standarten, Gemälden und Orden mit dem Schwerpunkt auf der Bayerischen Armee sowie der Bayerischen Armeebibliothek. Das Museum ist im Neuen Schloss und im Reduit Tilly untergebracht und deckt die Militärgeschichte bis einschließlich des Ersten Weltkriegs ab.
Das 1973 eröffnete Deutsche Medizinhistorische Museum, das in der „Alten Anatomie“ untergebracht ist, zeigt die Entwicklung der Medizin seit der Zeit des Alten Ägyptens und ist das einzige Museum dieser Art in Deutschland. Neben Gegenständen der Chirurgie verfügt das Museum über einen botanischen Garten mit einer Fülle von Arzneipflanzen.
Im Stadtmuseum Ingolstadt werden zahlreiche Exponate gezeigt, die die Entwicklung der Stadt und der Region von der Frühzeit bis in die jüngste Gegenwart darstellen. So ist im Kavalier Hepp neben dem Bernsteincollier und einer Kopie des Stadtmodells von Jakob Sandtner auch der Schimmel des Schwedenkönigs Gustav Adolf ausgestellt. Seit 1998 ist im Kavalier Hepp darüber hinaus das Spielzeugmuseum eingerichtet. Ebenfalls zum Stadtmuseum gehört das Bauerngerätemuseum im Stadtteil Hundszell.
Von den Museen unter privater Trägerschaft ist besonders das Audi museum mobile der Audi AG im Audi Forum hervorzuheben. Es zeigt die Unternehmensgeschichte beispielsweise in Form von über 50 Autos und mehr als 30 Fahr- und Motorrädern.
Die Moderne Kunst ist in Ingolstadt museal vor allem durch das Museum für Konkrete Kunst mit der umfassendsten Sammlung in ganz Europa vertreten. Daneben existiert noch das Museum des Bildhauers Alf Lechner.
Kleinere Museen und Dokumentationsstätten sind das Heimatmuseum Niemes-Prachatiz, das die Heimatsammlung der Stadt Niemes und des Landkreises Prachatitz in Böhmen zeigt, die Dokumentationsstätte Marieluise Fleißer, die in Fleißers Elternhaus untergebracht ist, das Heinrich-Stiefel–Schulmuseum am Brückenkopf und das Europäische Donaumuseum Ingolstadt mit einem Ausstellungsraum im Stadtmuseum und dem alten Messpegelhaus am Brückenkopf.
Jüngstes Museum in Ingolstadt ist das Bayerische Polizeimuseum im Turm Triva im Klenzepark, das 2011 eröffnet wurde. Darin wird die Entwicklung der Polizei in Bayern seit dem Jahr 1918/19 dokumentiert.
Musik
Ingolstadt ist der Heimatort einiger, teilweise deutschlandweit bekannter Musikinterpreten und -bands. Hierzu zählen insbesondere die Hard-Rock-Band Bonfire und das Dance-Projekt Groove Coverage. Weitere bekannte Bands sind Slut, Hotwire, Blues Lick, The Scandal Rock Band, Vectom und Kevins Campfire.
Seit 1990 hat das Georgische Kammerorchester seinen Sitz in Ingolstadt als Exilorchester. Auch sind in der Stadt zahlreiche Chöre aktiv, beispielsweise die Ingolstädter Nachtigallen, der Jugendkammerchor Ingolstadt, der Kammerchor „incanto corale“, der Schanzer Kosaken-Chor und der Motettenchor Ingolstadt e. V.
Bauwerke
Ingolstadt zeichnet sich durch eine weitgehend erhaltene historische Altstadt mit Bauwerken aus allen Epochen der Stadtgeschichte aus. Nach Angaben des Bayerischen Landesamtes für Denkmalpflege gibt es in der Stadt 582 Baudenkmäler. Der Scherbelberg, ein historischer Trümmerberg aus den napoleonischen Kriegen, sowie der Pfeifturm, ein ehemaliger Wachturm der Stadt aus dem 14. Jahrhundert, gewähren einen Überblick über die Altstadt.
Mittelalter
Aus der Zeit der ersten Stadtumwallung und Stadtwerdung sind unmittelbar neben dem jüngeren Pfeifturm die Moritzkirche (auch Untere Pfarr) aus dem Jahr 1234, eine dreischiffige gotische Basilika, die auch noch romanische Bauteile aufweist, erhalten, sowie der Herzogskasten, das Alte Herzogsschloss. Ebenfalls aus dem 13. Jahrhundert stammen die frühesten Bestände der beiden Ingolstädter Klöster, des Gnadenthalklosters und des Franziskanerklosters mit der Franziskanerkirche. Von der zweiten Stadtumwallung aus dem 14. Jahrhundert sind weite Teile der Stadtmauer sowie das Kreuztor – eines der vier Haupttore – erhalten. Teil der Stadtmauer sind auch die beiden Nebentore Taschenturm und Münzbergtor aus dem Jahr 1390. Ebenfalls aus dem 14. Jahrhundert stammen das Spital von 1319 und die Spitalkirche Heilig Geist sowie das Alte Rathaus. Erstmals wurde dieses bereits im 16. Jahrhundert umgebaut, letztmals 1882.
Aus der Zeit des souveränen Herzogtums Bayern-Ingolstadt stammen das Neue Schloss und das Münster Zur Schönen Unserer Lieben Frau, die „Obere Pfarr“. Beide Bauwerke, die von Ludwig dem Gebarteten in Auftrag gegeben wurden, sind eindrucksvolle Beispiele der Spätgotik. Auf den Ingolstädter Herzog geht das 1429 gestiftete Pfründnerhaus zurück, die Hohe Schule, in der ab 1472 die Universität untergebracht war. Der Bau von St. Johann im Gnadenthal entstammt ebenfalls noch der späten Gotik, ebenso wie das Georgianum und die Sebastianskirche, aus der Zeit der Landshuter Herzöge.
Neben diesen repräsentativen Bauten finden sich in Ingolstadt viele sehenswerte Bürgerhäuser. Das älteste ist das Birnbaumhäusl aus der Zeit um 1470. Daneben das Haus des Theologen Johannes Eck und zahlreiche weitere Wohnhäuser von Ingolstädter Professoren.
Neuzeit
Einige der gotischen Häuser wurden in späteren Zeiten umgebaut. Hervorzuheben sind auch das Tillyhaus, das Kaisheimer Haus, ursprünglich eine Renaissancebau, sowie das Ickstatthaus, das durch die höchste Fassade des Barock in Süddeutschlands besticht. In den Außenbezirken der heutigen Stadt wurde die Kirche Mariä Geburt in Pettenhofen sowie St. Salvator in Unsernherrn in barocker Zeit umgestaltet.
Ebenfalls aus der Zeit als Universitätsstadt stammt die Alte Anatomie, ein spätbarocker Prachtbau aus dem Jahr 1723 im Stil einer Orangerie, in dem die medizinische Fakultät der Universität untergebracht war. Um 1730 entstand die Jesuitenbibliothek. Die Kirche Maria de Victoria (Asamkirche) wurde zwischen 1732 und 1736 als Oratorium der marianischen Studentenkongregation erbaut und gilt mit ihrem monumentalen Deckenfresko und ihrer Ausstattung als Höhepunkt des Schaffens der Brüder Asam. Mit der Lepanto-Monstranz besitzt die Asamkirche eine der wertvollsten Monstranzen der Welt. Ein Opfer des Zweiten Weltkrieges wurde die Augustinerkirche aus der Rokokozeit, erbaut von Johann Michael Fischer. Das Amtsgebäude der bayerischen Landschaft entstand ab 1771.
Von der klassizistischen Festungsanlage des 19. Jahrhunderts sind ebenfalls große Teile erhalten. Hierzu zählen die Bauten am sogenannten Brückenkopf, dem Reduit Tilly und den Türmen Baur und Triva, an deren künstlerischer Ausgestaltung Leo von Klenze mitwirkte. Darüber hinaus sind vier Kavaliere, darunter Kavalier Hepp und Kavalier Zweibrücken sowie eine der Fronten sowie mehrere Batteriestellungen und Flankenbatterien erhalten. Von den großen Militärbauten aus späterer Zeit existieren unter anderen noch die Friedenskaserne und das Kriegsspital.
Sehenswert ist darüber hinaus die Dampflokomotive 98 507 (Bayerische D XI), die 1968 vor dem Hauptbahnhof als Denkmal aufgestellt wurde. Diese wurde 1903 von Krauss gebaut und ist die letzte Vertreterin von 147 Exemplaren der Baureihe „98.4–5“. 1960 wurde diese Lokalbahnlokomotive im Bahnbetriebswerk Nürnberg Rbf ausgemustert.
Die 1993 entstandene Wohnsiedlung Permoserstraße im Auftrag der Bayerischen Staatsregierung wurde von namhaften Vertreter der Moderne, teilweise unter Verwendung experimenteller Materialien, errichtet.
Das von Gunter Henn gestaltete Audi Forum ist neben dem IN-Tower ein Beispiel für moderne Architektur in Ingolstadt. Die Kocatepe-Moschee ist die größte Moschee Bayerns. Mit dem Theater Ingolstadt hat Ingolstadt zudem das jüngste Baudenkmal Bayerns. Der Nordfriedhof entstand 1979.
Parks und Naturräume
Ingolstadt ist eine grüne Stadt mit zahlreichen Parks, Grünanlagen und Wäldern. Am prägendsten ist das Glacis, das Vorfeld des ehemaligen Festungsgürtels rund um die eigentliche Innenstadt. Sie ist heute der innere Grüngürtel und damit grüne Lunge und Pufferfläche zwischen Autoverkehr und Wohnbebauung und Schulen. Durchzogen wird sie von weitläufigen Fuß- und Radwegen mit guter Sicht auf einige der ehemaligen Festungsbauten inklusive eines gut erhaltenen Stücks am Künettegraben. Auch der Klenzepark, das Gelände der Landesgartenschau von 1992 am ehemaligen Brückenkopf der klassizistischen Festung, ist Teil des Glacis. Der Übergang vom Park zum Wald wird im Luitpoldpark deutlich, der am Brückenkopf als Teil des Glacis beginnt und im Westteil zunehmend waldähnlichen Charakter annimmt. Der größte Park der Stadt ist seit 2022 der 23 Hektar große Piuspark im Nordwesten der Stadt, der auf dem Gelände der Landesgartenschau 2021 entstand.
Der äußere Grüngürtel verläuft im Bereich der ehemaligen Vorwerke der Festung. Zu ihm gehören unter anderem der Spielpark Fort Peyerl, der Fort-Haslang-Park und der Stadtteilpark Am Augraben.
Größter Wald in Ingolstadt ist der Auwald (Schüttel) am nördlichen und südlichen Donauufer. Es ist eines der größten durchgängig erhaltenen Auwaldstücke in Deutschland, größtenteils gelegen zwischen Neuburg und Ingolstadt mit Ausläufern bis ins Stadtgebiet und darüber hinaus. Der Auwald dient als Naturreservat mit in der Region zum Teil einzigartiger Vegetation und Tiervorkommen, zudem als grüne Lunge und (naturnahes) Naherholungsgebiet. Auch der Zucheringer Wald, das Naherholungsgebiet Am Auwaldsee sowie das Naherholungsgebiet Irgertsheim mit seinen zahlreichen Weihern und Seen sind Reste des Auwalds.
Der Westfriedhof ist ein weiterer Naturraum, der vielen Vögeln als Nist- und Futtermöglichkeit dient.
Sport
Das Sportleben in der Stadt wird vor allem von den 83 eingetragenen Sportvereinen getragen. Größter Verein ist der MTV 1881 Ingolstadt mit über 3000 Mitgliedern in 16 Abteilungen. Insgesamt zählen die Ingolstädter Sportvereine etwa 41.000 Mitglieder. Ingolstadt ist besonders durch den Fußballsport und Eishockey bekannt.
Der 1964 gegründete ERC Ingolstadt spielt seit der Saison 2002/2003 in der DEL. Mit Ausnahme der Aufstiegssaison und des Spieljahres 2007/2008 hat die Mannschaft jedes Jahr die Play-offs erreicht, davon bereits sechsmal das Halbfinale und sogar zweimal das Finale der Play-offs. Die beste Vorrundenplatzierung erreichte der ERC in der Saison 2005/2006 mit Platz zwei. In der Saison 2013/2014 wurde der ERC Ingolstadt in seinem 50. Gründungsjahr Deutscher Meister. In der Saison 2022/2023 wurde der ERC Vizemeister.
Der Fußballverein FC Ingolstadt 04 entstand 2004 durch die Fusion der Fußballabteilungen der Sportvereine MTV Ingolstadt und ESV Ingolstadt. In der Saison 2007/08 stieg er von der damals dritthöchsten Spielklasse, der Regionalliga Süd, in die 2. Bundesliga auf. Nach der Saison 2008/2009 stieg der Verein jedoch als Vorletzter wieder ab. Ab der Saison 2010/11 spielte der FC Ingolstadt erneut in der 2. Liga. 2015/16 und 2016/17 spielte der FC Ingolstadt in der Bundesliga. 2019 und erneut 2022 stieg der Verein in die Dritte Liga ab.
Im Motorsport erzielten Werksteams und Fahrer von DKW bzw. Audi zahlreiche Erfolge. Nach Ende des Zweiten Weltkrieges traten zunächst einige ehemalige Werksfahrer privat auf DKW-Vorkriegsmaschinen an. So wurde Hermann Paul Müller 1947, 1948 und 1950 Deutscher Motorradmeister, wobei er den letzten Titel wieder als Werksfahrer errang. 1954 gewann DKW die Rallye-Europameisterschaft. Zu Beginn der 1980er dominierte der Audi Quattro die Rallye-Szene und holte 1982 und 1984 den Herstellerweltmeistertitel nach Ingolstadt. 1990 und 1991 gewann Audi die Deutsche Tourenwagen-Meisterschaft und 2004, 2007, 2011, 2014, 2016 sowie 2017 den Titel der Nachfolgeserie DTM.
2007 wurden mit den Ingolstadt Dukes ein American-Football-Team gegründet. Diese spielten nach dem Aufstieg 2016 bis 2019 in der GFL. Aktuell spielt man in der Regionalliga.
Das 1985 gegründete Baseball-Team Ingolstadt Schanzer spielte zwischenzeitlich erstklassig und tritt nun in der 2. Bundesliga an.
Das 1999 gegründete Rugby-Team Ingolstadt Baboons stieg 2009 mit den Ex-Nationalspielern Felix Martin und Miguel Burgaleta als Trainer in die Regionalliga auf.
Mit dem Team Panthers Lacrosse des TSV Ingolstadt Nord gibt es seit Ende 2008 eine Lacrosse-Mannschaft. Gegenwärtig wird die Mannschaft durch den langjährigen Nationalspieler Florian Klaus trainiert.
Seit einigen Jahren ist auch Floorball in Ingolstadt durch mehrere Vereine vertreten. Der bekannteste und bislang erfolgreichste ist der ESV Ingolstadt, der seit der Saison 2007/08 in der 2. Bundesliga spielt und dort auf Anhieb die Playoffs um den Aufstieg in die 1. Liga erreichte.
Wichtigster Schwimmverein Ingolstadts ist der SC Delphin, unter anderem der Heimatverein der derzeitigen Europarekordhalterin Janine Pietsch (50 Meter Rücken) und der deutschen Meisterin Raphaela Piehler (200 Meter Rücken). Die Wasserballmannschaft des SC Delphin Ingolstadt spielt in der Oberliga Bayern.
Der jährlich im Mai ausgetragene „Ingolstädter Halbmarathon“ ist mit mehr als 3.000 Startern die teilnehmerstärkste, regelmäßig stattfindende, Sportveranstaltung in Ingolstadt. Die 21,1 Kilometer lange Route führt vorwiegend durch die Altstadt und den Klenze- sowie den Luitpoldpark südlich der Donau. Seit 2010 findet am Baggersee neben dem Donau-Stausee jährlich der Ingolstädter Triathlon statt, mit 2.500 Teilnehmern und 15.000 Zuschauern der fünftgrößte Triathlon Deutschlands.
In Ingolstadt startet seit 1969 jährlich Ende Juni die Tour International Danubien (TID), die mit 2.080 km längste Kanu- und Ruderwanderfahrt der Welt.
Die im Jahr 2003 errichtete Saturn-Arena ist die größte Sporthalle in Ingolstadt. Sie ist Austragungsort der Heimspiele des ERC Ingolstadt und bietet 4816 Zuschauern Platz. Für Trainingszwecke wurde eine weitere Eissporthalle in direkter Nachbarschaft zur Saturn-Arena gebaut. Bis zum Abriss im Frühjahr 2014 war ferner das nicht mehr überdachte Eisstadion an der Jahnstraße, der sogenannte Pantherkäfig, vorhanden.
Das größte Fußballstadion in Ingolstadt ist der Audi-Sportpark, der am 24. Juli 2010 seiner Bestimmung übergeben wurde und etwa 15.000 Zuschauern Platz bietet. Der Audi-Sportpark löst somit das Tuja-Stadion (ehem. ESV) im Stadtteil Ringsee als Austragungsort der Heimspiele des FC Ingolstadt 04 ab. Im alten ESV-Stadion wurden während der Olympischen Sommerspiele 1972 mehrere Vorrundenspiele im Fußball ausgetragen. Das Stadion war darüber hinaus jahrelang Austragungsort des „Ingolstädter Leichtathletik Meetings“, das 2001 letztmals stattfand. Daneben existieren drei weitere Bezirkssportanlagen in den Stadtbezirken Südwest, Nordwest und Nordost. Für Hallensportarten stehen insgesamt sechs Dreifach- und vier Doppelsporthallen im Stadtgebiet zur Verfügung.
Der Poolbillardverein BSC Ingolstadt wurde 1995 und 1996 Deutscher Mannschaftsmeister.
2021 bewarb sich die Stadt als Host Town für die Gestaltung eines viertägigen Programms für eine internationale Delegation der Special Olympics World Summer Games 2023 in Berlin. 2022 wurde sie als Gastgeberin für Special Olympics San Marino ausgewählt. Damit wurde sie Teil des größten kommunalen Inklusionsprojekts in der Geschichte der Bundesrepublik mit mehr als 200 Host Towns.
Veranstaltungsorte
Ingolstadt verfügt über eine Vielzahl verschiedener Veranstaltungsorte für unterschiedlichsten Zwecke. Größter Veranstaltungsraum ist die Saturn-Arena, eine Multifunktionshalle für Konzerte und kleinere Messen. Für größere Messen wurde das Messegelände Ost nördlich von Mailing errichtet. Für musikalische Veranstaltungen wird auch die Kleinkunstbühne Neue Welt, die neun und die Eventhalle Westpark als Austragungsort genutzt. Weitere Veranstaltungsorte für verschiedene Anlässe sind das Audi Forum und der Große Festsaal im Ingolstädter Stadttheater.
Regelmäßige Veranstaltungen
Die ersten größeren kulturellen Veranstaltungen des Jahres in Ingolstadt sind die Ingolstädter Kabarett-Tage und die Ingolstädter Literaturtage. Im April folgt das Fest zum reinen Bier, der Verkündung des Reinheitsgebots für Bier in Ingolstadt im Jahr 1516.
Vor Ostern findet seit dem Jahr 2000 auf dem Paradeplatz vor dem Neuen Schloss das Brunnenfest statt. Im Zentrum steht der mit über 3000 Ostereiern, Thujen- und Buchszweigen geschmückte Brunnen mit dem Denkmal Kaiser Ludwigs des Bayern, um den sich etwa 30 Verkaufsstände gruppieren.
Die Anfänge des „Pfingstfestes“ gehen auf die Verleihung eines ewigen freien dreiwöchigen Markts durch Kaiser Ludwig den Bayern zurück, der alljährlich 14 Tage nach Pfingsten stattfinden soll. Seine heutige Form hat das Pfingstfest seit 1946. Seit 1972 wurde es vom alten Volksfestplatz vor dem Taschenturm auf den neuen, etwa 40.000 Quadratmeter großen Volksfestplatz verlegt. Das Volksfest dauert heute nur mehr 10 Tage und verfügt über zwei Bierzelte und einen Warenmarkt.
Seit 1985 fand alljährlich am ersten Wochenende im Juli das große Bürgerfest statt. Im Jahr 2006 beschloss der Stadtrat, dieses nur noch jedes zweite Jahr, im Wechsel mit dem erstmals 2006 anlässlich des 1200-jährigen Stadtjubiläums veranstalteten Historischen Fest, abzuhalten. Seit 2008 heißt das Historische Fest nun Ingolstädter Herzogsfest.
Weitere Veranstaltungen im Sommer sind der Ingolstädter Kultursommer sowie das Kurzfilmfestival 20 min/max und das bereits im Juni stattfindende Carrara-Weinfest der Partnerstadt Carrara auf dem Paradeplatz.
Am letzten Wochenende im August findet im benachbarten Oberstimm (direkt hinter der Stadtgrenze, zu Manching gehörend) der Barthelmarkt statt, das größte und älteste Volksfest der Region.
Im September stehen zwei größere Feste auf dem Veranstaltungskalender. Diese sind die Septemberdult auf dem Paradeplatz sowie das „Herbstfest“, das zweite Ingolstädter Volksfest.
Am ersten September-Wochenende findet alle zwei Jahre das Open Flair Festival im Klenzepark statt. Es wird seit 1978 veranstaltet.
Der Spätherbst ist in Ingolstadt von zahlreichen kulturellen Veranstaltungen, wie den „Ingolstädter Jazz-Tagen“ oder den „Der Oktober ist eine Frau Künstlerinnentage“ geprägt.
Im Dezember findet auf dem Platz zwischen Stadttheater und Herzogskasten der Ingolstädter Christkindlmarkt statt. Er wurde bereits im Jahr 1570 von Herzog Albrecht V. als „Jahrmarkt an Nicolai“ gewährt, womit er zu den ältesten Weihnachtsmärkten in Bayern gehört. Neben den über 50 Buden ist ein historisches Holzkarussell Bestandteil des Christkindlmarkts. Ehe er an seinen jetzigen Platz verlegt wurde, fand der Weihnachtsmarkt auf dem Rathausplatz statt.
Bibliotheken
In Ingolstadt gibt es zahlreiche Bibliotheken und Büchereien. Hauptstelle der Stadtbücherei, der „Marie-Luise-Fleißer-Bücherei“ ist der Herzogskasten. Daneben existiert mit der Stadtteilbücherei Südwest eine Filiale und mit dem Bücherbus, der 39 Haltepunkte anfährt, wird das gesamte Stadtgebiet abgedeckt. Von der Stadt werden in ihren Bibliotheken 180.000 Medien angeboten.
Die Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt unterhält in Ingolstadt eine „Teilbibliothek der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät“. Weitere wissenschaftliche Bibliotheken sind die Bibliothek der Technischen Hochschule und die „Wissenschaftliche Bibliothek des Stadtmuseums“. Darüber hinaus bietet die „Bayerische Armeebibliothek“ 130.000 Bücher an.
Überdies existieren diverse Schulbibliotheken, Pfarrbüchereien, aber auch die Patientenbibliothek im Klinikum Ingolstadt und die Werksbibliothek des Audi-Werkes.
Die Stadt als literarische Kulisse
Der Nachhall der medizinischen Experimente an der Ingolstädter Universität war so groß, dass sie noch 18 Jahre nach ihrem Ende Mary Shelley zu ihrem Erstlingsroman Victor Frankenstein oder der moderne Prometheus inspirierten. Sie lässt darin ihren tragischen Helden im Ingolstadt des 18. Jahrhunderts studieren und forschen und hier seine legendäre Kreatur erschaffen. Noch heute erinnert eine nächtliche Gruselführung durch die Altstadt daran.
Die Heimatstadt Ingolstadt spielt im Werk Marieluise Fleißers eine zentrale Rolle. In Ingolstadt verbrachte sie über 60 ihrer 72 Lebensjahre, hier spielen ihre bekanntesten Stücke, ihr Roman und mehrere Erzählungen. Die Provinz mit ihren Menschen, die kleinbürgerliche Welt der Handwerker, Soldaten, Schüler und Dienstmädchen ist Thema und Nährboden für viele ihrer Stücke. Aus ihrer bayerischen Verwurzelung kommt die Kraft ihrer Sprache. Pioniere in Ingolstadt wurde von Rainer Werner Fassbinder für das ZDF verfilmt.
Robert Shea und Robert Anton Wilson ließen einige Teile der Handlung ihrer Romantrilogie Illuminatus!, die das Genre der belletristischen Verschwörungsliteratur begründete, in Ingolstadt stattfinden. Fiktiv ist allerdings der bei Ingolstadt gelegene Totenkopfsee, an dessen Ufer sich das Finale abspielt.
Wirtschaft und Infrastruktur
Wirtschaftliche Situation und Struktur
Die Stadt Ingolstadt gehört zu den wirtschaftlich am stärksten wachsenden Gebietskörperschaften Deutschlands. Dazu trägt neben der allgemein günstigen Lage in Bayern die gute Verkehrsanbindung bei. Diese starke Position wird der Stadt regelmäßig in verschiedenen voneinander unabhängigen Studien eingeräumt, so etwa im Zukunftsatlas 2016, wo sie Platz 3 belegte und damit zu den Orten mit „Top Zukunftschancen“ zählt. Dieser Rang wurde vom Zukunftsatlas 2019 bestätigt.
Im Jahre 2016 erbrachte Ingolstadt, innerhalb der Stadtgrenzen, ein Bruttoinlandsprodukt von 16,965 Milliarden € und belegte damit Platz 22 innerhalb der Rangliste der deutschen Städte nach Wirtschaftsleistung. Das BIP pro Kopf lag im selben Jahr bei 127.523 € (Bayern: 44.215 €, Deutschland 38.180 €). Ingolstadt weist damit unter allen kreisfreien Städten in Deutschland das zweithöchste Bruttoinlandsprodukt je Einwohner auf. In der Stadt gibt es 2016 ca. 125.000 erwerbstätige Personen.
Die Arbeitslosenquote hatte 1997 mit knapp über 8 % ihren Höchststand erreicht und sank seitdem auf 2,7 % im September 2010, womit sie den niedrigsten Wert einer deutschen Großstadt erreichte. Zudem hat Ingolstadt eine hohe Arbeitsplatzdichte, was durch das positive Pendlersaldo von 31.078 Pendlern dokumentiert wird.
Ingolstadt ist stark vom produzierenden Gewerbe geprägt, was sein hoher Anteil von 59,0 % (Stand 2004) an der Bruttowertschöpfung zeigt. Die Dienstleistungsbereiche kommen zusammen auf einen Wert von 40,8 %, während die Land- und Forstwirtschaft mit 0,2 % der kleinste Wirtschaftsbereich ist. Die Anzahl der Handwerksbetriebe ist mit 1.190 im Verhältnis zur Größe der Stadt relativ gering; ihre Umsätze liegen jedoch über dem bayerischen Durchschnitt.
Obwohl sich die Anzahl an Übernachtungen seit 1994 verdoppelte, liegt Ingolstadt im Vergleich zu anderen bayerischen Großstädten in der Bedeutung des Fremdenverkehrs zurück. 2006 wurden in Ingolstadt in 42 Beherbergungsbetrieben (inklusive Jugendherbergen) 2475 Gästebetten angeboten, die 295.674 Übernachtungen, davon 115.163 von ausländischen Gästen, aufzuweisen hatten. 2019 lagen die Gästeübernachtungen bei 558.567, davon 166.083 Auslandsgäste.
Unternehmen
Automobilindustrie
Ingolstadt, ein wichtiger Standort der deutschen Automobilindustrie, ist Unternehmenssitz und größter Produktionsstandort des Automobilherstellers Audi, eines Tochterunternehmens von Volkswagen. Audi war ursprünglich ein Kraftfahrzeughersteller, der 1909 im westsächsischen Zwickau gegründet wurde und seit 1932 zur Auto Union AG Chemnitz gehörte. Die ehemals im sächsischen Staatsbesitz befindliche Aktiengesellschaft wurde in der Sowjetischen Besatzungszone durch die russische Besatzungsmacht demontiert und nach dem Willen der Siegermächte des Zweiten Weltkrieges entschädigungslos enteignet. Im August 1948 erfolgte die Löschung des Konzerns im Chemnitzer Handelsregister. Die in die damalige Trizone vertriebenen Konzernführungskräfte der Auto Union, allen voran Richard Bruhn und Carl Hahn, erreichten danach mit Krediten der bayerischen Staatsregierung und Marshallplan-Hilfen in Ingolstadt die Neugründung der Auto Union. Aus der Fusion der Auto Union GmbH mit der NSU Motorenwerke AG ging 1969 die Audi NSU Auto Union AG Neckarsulm hervor. 1985 kam der Firmensitz verbunden mit der Umbenennung in Audi AG nach Ingolstadt. Audi beschäftigt (Stand 1. Januar 2008) in Ingolstadt 31.337 Mitarbeiter, davon 19.995 Arbeiter, 9.903 Angestellte und 1.439 Auszubildende aus 72 Ländern der Erde.
Infolge dieser Firmenansiedlung haben sich hier zahlreiche Zulieferunternehmen, wie EDAG, Samvardhana Motherson Peguform, Semcon, Dräxlmaier oder Continental Automotive Systems (zuvor TEMIC, ehemals Telefunken und AEG) mit einem Standort zur Entwicklung und Produktion von Automobilelektronik, niedergelassen. Ein Großteil dieser Betriebe hat seinen Sitz im Güterverkehrszentrum Ingolstadt (GVZ-I) im Nordwesten Ingolstadts. Audi hat zusammen mit den Zulieferbetrieben große wirtschaftliche Bedeutung für die Stadt und die Region.
Ölindustrie
Ingolstadt und seine Umgebung sind überdies ein wichtiges Zentrum der Erdölindustrie, das neben Burghausen das zweite und größte in Bayern ist. In den 1960er Jahren setzte sich der damalige bayerische Wirtschaftsminister Otto Schedl für Bayern als Zentrum der Ölverarbeitung ein. In Ingolstadt und unmittelbarer Nähe wurden in der Folge drei Raffinerien errichtet. Zwei weitere im benachbarten Vohburg an der Donau und Neustadt an der Donau. Alle Anlagen wurden und werden ausschließlich von den Pipelines CEL (stillgelegt) und TAL (Umschlagplatz bei Lenting) mit Rohmaterial versorgt.
Die Entwicklung der ölverarbeitenden Industrie, die unter anderem zu Überkapazitäten in Europa geführt hat, wirkt sich auch auf den Raffineriestandort Ingolstadt aus. Nach den Stilllegungen der Raffinerien von Shell (1982) und Bayernoil (2008) ist nur noch eine Anlage im Nordosten der Stadt verblieben. Diese war in Besitz von Esso, bis sie im Jahr 2007 durch die Schweizer Mineralölgesellschaft Petroplus erworben wurde. Nachdem die Betreibergesellschaft im Januar 2012 Insolvenz anmelden musste, wurde die Raffinerie im Mai 2012 vom Rohstoffhändler Gunvor übernommen. Die ehemalige Shell-Raffinerie auf dem Gebiet der Ingolstädter Nachbargemeinden Kösching und Großmehring ist mittlerweile in das Gewerbegebiet Interpark umgewandelt. Der Betriebsteil Ingolstadt der Bayernoil wurde 2008 stillgelegt. Im Gegenzug wurden die Standorte Vohburg und Neustadt östlich von Ingolstadt ausgebaut. Auf dem freiwerdenden Gelände im Südosten Ingolstadts wurde 2010 der Audi-Sportpark (Fußballstadion des FC Ingolstadt 04) eröffnet. Für die restliche Fläche wurde 2011 ein städtebaulicher Wettbewerb (Europan) durchgeführt. Dessen Siegerentwurf sieht neben einer Erweiterung des Sportparks die Schaffung von Gewerbeflächen, Bildungseinrichtungen und Wohnraum vor.
Weitere Branchen
Die Airbus Group ist in der Nachbargemeinde Manching mit der Tochter Airbus Defence and Space und mehreren Tausend Mitarbeitern stark vertreten. Hier wird unter anderem der Eurofighter gebaut, getestet und erweitert.
Von Bedeutung für Ingolstadt ist die Bekleidungsindustrie, die mit den Firmen Rosner und Bäumler vertreten war.
In Ingolstadt befindet sich außerdem der Hauptsitz der Metro-Tochtergesellschaft Media-Saturn-Holding als Obergesellschaft der Media-Markt- und Saturn-Elektronik-Handelshäuser. Im Mai 2010 wurde der europäische Hauptsitz der Kaspersky Labs GmbH, einer Tochter der Russischen Kaspersky ZAO, eröffnet. Auch Schubert & Salzer hat seinen Hauptsitz in Ingolstadt. Von der allgemeinen Kaufhauskrise ist die Stadt dennoch betroffen.
In Ingolstadt, der „Stadt des Bayerischen Reinheitsgebots“, haben überdies sieben Bierbrauereien – Nordbräu, Herrnbräu, Westparkbräu 1516, Yankee & Kraut, Danielbräu, Schwalbenbräu und Griesmüllers Altstadtbrauerei – ihren Standort. Die Brauerei Ingobräu hat ihren Betrieb 2007 eingestellt.
Das Klinikum Ingolstadt ist das viertgrößte Krankenhaus in Bayern und mit über 3000 Mitarbeitern der zweitgrößte lokale Arbeitgeber.
Verkehr
Ingolstadt ist ein wichtiger Verkehrsknotenpunkt in Bayern und hatte durch seine Donau-Furt über Jahrhunderte hinweg eine wichtige strategische Bedeutung.
Straßenverkehr
Die bedeutsamste Straßenanbindung von Ingolstadt ist die sechsspurig ausgebaute Bundesautobahn 9 (A 9). Die Stadt ist an diese durch die Anschlussstellen Ingolstadt Süd (frühere Bezeichnung „Auwaldsee“) und Ingolstadt Nord/ Ost (frühere Beschilderung „Autobahnkreuz IN-Nord“) angeschlossen. Darüber hinaus verlaufen mehrere Bundesstraßen durch das Stadtgebiet von Ingolstadt. Die B 16a, die Ingolstadt mit Vohburg verbindet, kreuzt die A 9 im Bereich der Autobahnanschlussstelle Ingolstadt Nord/Ingolstadt Ost (frühere Beschilderung: Kreuz Ingolstadt-Nord) und endet in Ingolstadt. Im Stadtgebiet ist diese durchgehend vierspurig ausgebaut. Ebenso wie die B 16a, durchquert die B 16 die Stadt in Ost-West-Richtung. Sie ist eine wichtige Verbindungsstraße nach Donauwörth und Regensburg. Von Norden nach Süden verläuft die vorwiegend im Stadtgebiet vierspurig ausgebaute B 13, die Ingolstadt nach Norden mit Eichstätt, beziehungsweise nach Süden mit Pfaffenhofen und München verbindet. Weiter südlich von Ingolstadt verläuft die B 300 Augsburg-Ingolstadt, die eine wichtige Verbindungsachse zwischen den beiden Oberzentren Augsburg und Ingolstadt darstellt. Verkehrstechnisch von Bedeutung sind darüber hinaus die vier für den Straßenverkehr bestimmten Brücken über die Donau (siehe auch: Liste von Brücken in Ingolstadt). Dies sind neben der Autobahnbrücke die Schillerbrücke, die Konrad-Adenauer-Brücke und die Glacisbrücke (Aufzählung von Ost nach West).
Die Autodichte der Stadt bei 707 PKW auf 1000 Einwohner (der bundesweite Durchschnitt liegt bei 692 PKW auf 1000 Einwohner). Der hohe Wert erklärt sich nicht zuletzt dadurch, dass viele Werksangehörige von Audi, die in den umliegenden Landkreisen wohnen, Leasingwagen von Audi fahren, die in Ingolstadt zugelassen sind. Am 1. Januar 2019 waren 98760 PKW zugelassen, was einer Zunahme von 3200 gegenüber dem Vorjahr entspricht. Davon rund 60 Prozent mit Benzin- und 37 Prozent mit Dieselmotor. Die restlichen 5 Prozente fielen auf Gas- sowie Elektromotoren und Hybridantriebe. Die Autodichte hat auf 707 pro 1000 Einwohner leicht abgenommen, hingegen haben die PKWs im Vergleich mit 2008 um rund 21000 zugenommen.
Schienenverkehr
An das Bahnnetz ist Ingolstadt mit dem Hauptbahnhof Ingolstadt und dem Bahnhof Ingolstadt Nord für den Personenverkehr sowie mit drei Rangierbahnhöfen für den Güterverkehr angeschlossen.
Am 21. Juli 2016 unterzeichneten Vertreter des Freistaats Bayern, der Deutschen Bahn AG, der Stadt Ingolstadt sowie der Audi AG den Finanzierungsvertrag für einen eigenen Audi-Werksbahnhof. Dieser ging zum Fahrplanwechsel im Dezember 2019 in Betrieb. Auch Nicht-Audi-Mitarbeiter können diesen Bahnhof nutzen, etwa zur Landesgartenschau 2020.
Im Fernverkehr wird Ingolstadt über die Schnellfahrstrecke Nürnberg–Ingolstadt zweistündlich von ICE-Zügen der Relation München–Nürnberg–Berlin–Hamburg und München–Nürnberg–Kassel–Hannover–Hamburg/Bremen angefahren. Im Abschnitt Nürnberg–Ingolstadt–München überlagern sich diese zu einem Stundentakt. Zusätzlich halten in der Hauptverkehrszeit ICE-Züge der Linie München–Nürnberg–Frankfurt/M.–Köln(–Dortmund), die zusammen mit den anderen ICE-Zügen in den Morgen- und Abendstunden einen Halbstundentakt bilden.
Im Regionalverkehr verkehren an Werktagen stündlich Regionalbahnen nach München, Treuchtlingen, Donauwörth/Ulm, Regensburg und Augsburg. An den Wochenenden und an Feiertagen verkehren die Züge nach Regensburg und Donauwörth nur im Zweistundentakt. Darüber hinaus verkehren stündlich Züge des München-Nürnberg-Express sowie in der Hauptverkehrszeit zusätzliche Züge zwischen München und Ingolstadt. Durch Regionalbahn und München-Nürnberg-Express ergibt sich auf der Bahnstrecke Ingolstadt-München ein Halbstundentakt, wie auch in die Nachbargemeinden Pfaffenhofen und Rohrbach an der Ilm.
Nahverkehr
Der öffentliche Personennahverkehr in Ingolstadt geht auf die Errichtung einer Pferdebahn zurück, die 1878 zwischen dem Hauptbahnhof und der Altstadt betrieben wurde. Diese Straßenbahn Ingolstadt wurde ab März 1921 durch Omnibusse ersetzt, wobei Pläne für die Errichtung eines Straßenbahnnetzes erst in den 1960er Jahren verworfen wurden. Seit 1988 wird der öffentliche Personennahverkehr durch die Ingolstädter Verkehrsgesellschaft (INVG) durchgeführt, die 56 Buslinien mit einer Gesamtstreckenlänge von 791 km über das städtische Busunternehmen Stadtbus Ingolstadt GmbH und weitere Subunternehmer betreibt.
Zum 1. September 2018 gründen die Landkreise Landkreis Eichstätt, Landkreis Neuburg-Schrobenhausen, Landkreis Pfaffenhofen an der Ilm und die Stadt Ingolstadt den Zweckverband Verkehrsverbund Großraum Ingolstadt (VGI). Im Gebiet des VGI gilt ein einheitlicher Tarif.
Flugverkehr
Der ursprünglich nur militärisch genutzte Flugplatz Ingolstadt-Manching befindet sich acht Kilometer von der Stadtgrenze entfernt an der Bundesstraße 16. Dieser wird seit einigen Jahren vor allem von den ortsansässigen Unternehmen Audi und Airbus Defence and Space auch zivil genutzt sowie von der Fluggesellschaft Private Wings bedient, seit dem Sommerflugplan 2019 auch für regelmäßige Linienflüge. Nahegelegene Flughäfen für den internationalen Linienverkehr sind der 70 Kilometer entfernte Flughafen München bei Erding und der Flughafen Nürnberg.
Etwa fünf Kilometer nördlich des Zentrums, im Stadtteil Etting, liegt das Segelfluggelände Ingolstadt-Etting.
Schifffahrt
Über viele Jahrhunderte war die Donau für Ingolstadt ein zentraler Verkehrsweg. Mit der Eröffnung der Bahnstrecken Regensburg–Ingolstadt und Ingolstadt–Neuoffingen entlang der Donau sank jedoch die Bedeutung der Schifffahrt für die Stadt und führte 1874 zur gänzlichen Einstellung der Donaudampfschifffahrt in Ingolstadt. Dennoch gab es bis in die 1950er Jahre noch Ausflugsschiffe, die in Ingolstadt in unregelmäßigen Abständen anlegten. Die einstige Hafenanlage lag im Bereich des Stadttheaters. Während des Zweiten Weltkriegs wurden zahlreiche Kriegsschiffe, darunter sechs U-Boote Typ II, per Schwertransport über die Autobahn nach Ingolstadt transportiert, im Bereich der heutigen Schillerbrücke zu Wasser gelassen und ins Schwarze Meer überführt. Heute ist die Donau bei Ingolstadt eine Landeswasserstraße und mit motorisierten Fahrzeugen nur mit Sondergenehmigung zu befahren.
Ingolstadt ist Ausgangspunkt der Bootsfernwanderfahrt TID (siehe Abschnitt Sport).
Fernradweg
Ingolstadt liegt am Donauradweg, der von der Donauquelle über Passau, Wien und Budapest bis zur Mündung in das Schwarze Meer führt sowie am teils parallel verlaufenden europäischen Fernradweg Flüsseroute EuroVelo 6, die vom Atlantik bis zum Schwarzen Meer entlang von sechs Flüssen verläuft.
Medien
Die einzige lokale Tageszeitung für Ingolstadt ist der Donaukurier. Das Blatt erscheint bei der Donaukurier Verlags GmbH & Co. KG und erreicht eine Auflage von etwa 90.000 Exemplaren. Zusammen mit den Heimatzeitungen (zum Beispiel Eichstätter Kurier für den Landkreis Eichstätt), die in einem gemeinsamen Mantelteil einen eigenen Lokalteil platzieren, erreicht er täglich die gesamte Planungsregion Ingolstadt. Daneben informiert täglich die Augsburger Allgemeine in ihrer Regionalausgabe Neuburger Rundschau über Ingolstadt und die Region.
Wöchentlich erscheinen die Anzeigenblätter IZ-Regional (ein Tochterunternehmen des Donaukurier), Blickpunkt Wochenende, Schanzer Zeitung und tip – Das Wochenblatt.
Monatlich werden die Stadtmagazine espresso Magazin, megazin, INVG Haltestelle, Wirtschaft10plus aus Wettstetten, 60plus (ein Tochterunternehmen der IZ-Regional) und ERCI-Panther publiziert. Alle zwei Monate wird das Familienmagazin Family by megazin aufgelegt.
Als Online-Portale erscheinen das Bürgerforum von bingo-ev, dem Bürgernetz Ingolstadt e. V. sowie die Webportale megazin, ingolstadt-today, ingolstadt-reporter.de, stattzeitung.in, das Bilderportal kbumm, Schanzer-leben.de. nra aus Vohburg (netradioactive), bei-uns aus Beilngries (partys-bei-uns), shootyou, kidnetting, nightlifemagazine aus Altmannstein (Kurzform nlm).
Das Funkhaus Ingolstadt ist der lokale Rundfunkanbieter für Ingolstadt und die gesamte Region. Von dort wird der Sender Radio IN mit dem Kulturkanal-Ingolstadt, Radio K1, einem kirchlichen Programm und Radio Pegasus, der Welle der Universität Eichstätt-Ingolstadt ausgestrahlt. Daneben existieren noch Radio Galaxy. An Radio IN und Radio Galaxy ist der Donaukurier beteiligt.
Am Bayernwerk bei Ingolstadt steht ein Sender der Deutschen Telekom (), von dem aus Ingolstadt mit Radioprogrammen versorgt wird. Zudem strahlt Deutschlandradio seine beiden Hörfunkprogramme von einem Senderstandort bei Stammham () ab.
Bildung
In Ingolstadt wurde 1472 die erste Bayerische Landesuniversität, die Universität Ingolstadt gegründet, jedoch musste Ingolstadt nach der Verlegung der Universität im Jahr 1800 bis 1989 warten, bis es durch die Eröffnung der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät Ingolstadt der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt (KU) wieder Universitätsstadt wurde. Die Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät (WFI) bietet Studiengänge in Betriebswirtschaftslehre und Wirtschaftsprüfung an. Im Jahr 1994 wurde mit der Hochschule Ingolstadt die zweite Hochschule in Ingolstadt gegründet (seit 2013 Technische Hochschule Ingolstadt). Sie ist deutschlandweit bekannt für den BWL- und Wirtschaftsingenieurstudiengang. Derzeit studieren an den Ingolstädter Hochschulen etwa 5000 Studenten, wobei eine Vergrößerung der Einrichtungen angestrebt wird. Seit 2004 befindet sich das Zentrum für Hochschuldidaktik in Ingolstadt in der Hohen Schule.
Ingolstadt verfügt mit dem Apian-Gymnasium (naturwissenschaftlich-technologisch, sprachlich und wirtschaftswissenschaftlich), dem Christoph-Scheiner-Gymnasium (naturwissenschaftlich-technologisch und sprachlich), dem Gnadenthal-Gymnasium (musisch), dem Katharinen-Gymnasium (sprachlich, wirtschafts- und sozialwissenschaftlich und naturwissenschaftlich-technologisch) und dem Reuchlin-Gymnasium (sprachlich, humanistisch und naturwissenschaftlich-technologisch) über fünf Gymnasien, die alle in Bayern möglichen Zweige anbieten. Von den Ingolstädter Gymnasien befinden sich vier in der Innenstadt.
Ingolstadt hat ferner 17 Grundschulen, zwölf Hauptschulen, davon drei Teilhauptschulen, fünf Förder- und Sonderschulen und drei Realschulen. Darüber hinaus verfügt die Stadt über mehrere berufliche Schulen, darunter zwei Berufsschulen, eine Wirtschaftsschule, die Staatliche Fachoberschule und Berufsoberschule Ingolstadt mit Fachoberschule und Berufsoberschule sowie 14 Berufsfachschulen. Hinzu kommen weitere Bildungseinrichtungen privater und öffentlicher Träger. Hierzu zählen beispielsweise die Volkshochschule Ingolstadt, die EURO Ingolstadt als staatlich anerkannte Fachakademie für Übersetzen & Dolmetschen sowie die David-Oistrach-Akademie, die städtische Simon-Mayr-Sing- und Musikschule und die private Musikschule im Lukashaus, die Berufsbildungszentren der Handwerkskammer und der Industrie- und Handelskammer sowie die Beruflichen Fortbildungszentren der Bayerischen Wirtschaft (bfz) GmbH.
Bezogen auf die Schülerzahlen führen die Berufsschulen, gefolgt von den Gymnasien und Grundschulen.
Gesundheitswesen
Ingolstadt besitzt mit dem Klinikum Ingolstadt ein Krankenhaus der Schwerpunktversorgung der dritten Versorgungsstufe mit 1073 Betten. Es ist das viertgrößte kommunale Krankenhaus Bayerns und verfügt über 55 Stationen. Mit Christoph 32 ist ein Rettungshubschrauber des ADAC am Klinikum stationiert. Daneben bestehen drei Privatkliniken, die Klinik Dr. Maul und die Klinik Dr. Reiser (mittlerweile vom Klinikum Ingolstadt übernommen) mit zusammen 112 Betten sowie die Danuvius-Klinik für Psychiatrie mit 87 Plätzen. In der Stadt praktizieren 151 Fachärzte, 95 Zahnärzte und 64 praktische Ärzte. Seit 1996 gibt es in Ingolstadt ein städtisches Gesundheitsamt.
Persönlichkeiten
Literatur
Gerd Treffer: Kleine Ingolstädter Stadtgeschichte. Pustet, Regensburg 2004, ISBN 3-7917-1912-2.
Friedrich Mader (Hrsg.): Ingolstadt. Ingolstadt 1988, ISBN 3-920253-21-3.
Siegfried Hofmann: Geschichte der Stadt Ingolstadt. 2 Bände. Ingolstadt 2000–2006, .
Beatrix Schönewald, Gerd Riedel (Hrsg.): Vom Werden einer Stadt – Ingolstadt seit 806. Ingolstadt 2006, ISBN 3-932113-43-8.
Theodor Müller, Wilhelm Reissmüller (Hrsg.) in Zusammenarbeit mit Siegfried Hofmann: Ingolstadt. Die Herzogstadt, die Universitätsstadt, die Festung. 2 Bände. Ingolstadt 1974.
Theodor Müller, Siegfried Hofmann: Ingolstadt. Schnell und Steiner, Regensburg 1998, ISBN 3-7954-1128-9.
Gerstner: Prospectus einer Geschichte der Stadt Ingolstdt. In: Oberbayerisches Archiv für vaterländische Geschichte. Band 12, München 1851–1852, S. 304–310 (online).
Weblinks
Offizielle Website der Stadt Ingolstadt
Rundgang durch die Ingolstädter Altstadt
Kultur, Archäologie und Geschichte Ingolstadts
Einzelnachweise
Kreisfreie Stadt in Bayern
Ehemaliger Residenzort in Bayern
Ehemalige Herzogsresidenz
Ort an der Donau
Bayern-Ingolstadt
Deutsche Universitätsstadt
Ehemalige Kreisstadt in Bayern
Ersterwähnung 806
Stadtrechtsverleihung im 13. Jahrhundert
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Q3004
| 176.336811 |
45600
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https://de.wikipedia.org/wiki/Kristallstrukturanalyse
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Kristallstrukturanalyse
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Kristallstrukturanalyse ist die Bestimmung des atomaren Aufbaus eines Kristalls durch Beugung geeigneter Strahlung am Kristallgitter.
Sehr häufig wird hierfür monochromatische Röntgenstrahlung verwendet, da sie sich verhältnismäßig einfach als charakteristische Röntgenstrahlung einer Röntgenröhre erzeugen lässt. Hierfür hat sich der Begriff Röntgenstrukturanalyse (Röntgenkristallographie) eingebürgert.
Alternativ lassen sich auch Neutronenstrahlen oder Synchrotronstrahlung verwenden.
Die Kristallstrukturanalyse mit Elektronenstrahlen ist aufgrund der starken Wechselwirkung zwischen den eingestrahlten Elektronen und dem Kristall besonders schwierig und für Routineuntersuchungen noch nicht ausgereift.
Funktionsweise
Aus dem beobachteten Beugungsmuster kann die Kristallstruktur berechnet werden. Die Geometrie der Elementarzelle des Kristallgitters kann vollständig anhand der Winkel abgeleitet werden, unter denen die Beugungsmaxima auftreten. Aus der Stärke der Beugungsmaxima kann mittels verschiedener mathematischer Methoden die Anordnung der Atome innerhalb der Elementarzelle berechnet werden. Die hierbei benötigten Rechnungen werden allerdings bereits für mittelgroße Moleküle (ab etwa 10 Nicht-Wasserstoff-Atomen) so komplex, dass sie ohne Computer nicht durchführbar sind. Die erste Proteinstruktur wurde 1958 auf dem Cambridger Hochleistungscomputer EDSAC von 1949 analysiert, während Forscher bereits 1934 herausgefunden hatten, dass das Enzym Pepsin regelmäßige Kristalle bildet.
Bei der Kristallstrukturanalyse mittels Röntgen-, Elektronen- oder Synchrotronstrahlung werden streng genommen nicht die Positionen der Atome, sondern die Verteilung der Elektronen in der Elementarzelle bestimmt, da diese mit der Strahlung in Wechselwirkung treten. Man erhält also eigentlich eine Karte der Elektronendichte, und bei sehr exakten Kristallstrukturanalysen von Molekülen mit leichten Atomen findet man in der Tat Bindungselektronen. Neutronen treten dagegen mit dem Atomkern in Wechselwirkung. Allerdings ist der Unterschied in der Position in den meisten Fällen vernachlässigbar. Eine genaue Beschreibung der Beugungseffekte an Kristallen und deren Interpretation ist im Artikel Röntgenbeugung zu finden.
Idealerweise wird die Beugung an einem Einkristall durchgeführt. Häufig ist dies aber nicht möglich, da nicht immer genügend große Einkristalle einer Substanz zur Verfügung stehen. Heutzutage ist es möglich, auch das Beugungsmuster von Kristallpulvern im Rahmen einer Kristallstrukturanalyse auszuwerten (Rietveld-Methode). Allerdings geht durch die hierbei auftretende Überlagerung von Beugungsmaxima Information verloren, so dass die Ergebnisse im Allgemeinen von geringerer Qualität sind.
Anwendung
Neben der eigentlichen kristallographischen Anwendung der Methode, bei welcher der Kristall selber von Interesse ist, wird die Kristallstrukturanalyse auch zur Aufklärung von Molekülstrukturen verwendet. Dies ist heute eine Standardmethode der Chemie und der Biochemie und damit ein Teilgebiet der Strukturbiologie. Hierfür ist allerdings die Kristallisation der Moleküle Voraussetzung, was insbesondere bei Proteinkristallen sehr schwierig sein kann. Durch Kristallisation in Gegenwart von Substraten kann versucht werden, verschiedene metabolische Zustände des Proteins zu erfassen.
Die Struktur von Proteinen kann nicht nur mittels Röntgenkristallstrukturanalyse bestimmt werden, sondern auch mittels NMR-Spektroskopie, derzeit allerdings nur für Proteine kleiner oder mittlerer Größe.
Auf dem Gebiet der Kristallstrukturanalyse gab es mehrere Nobelpreise, angefangen bei Max von Laue und Wilhelm Conrad Röntgen, die die Grundlagen legten, über zum Beispiel Dorothy Crowfoot Hodgkin, die viele biologisch relevante Moleküle erstmals strukturell bestimmte, bis zu Robert Huber, Johann Deisenhofer und Hartmut Michel, die Proteine (unter anderem auch das chlorophyllhaltige Photoreaktionszentrum) als Proteinkristalle untersuchten. Eines der bekanntesten Beispiele für die Strukturaufklärung mittels Röntgenbeugung ist die Entschlüsselung der DNA-Struktur durch James Watson und Francis Crick, deren Modell wesentlich auf Röntgenbeugungsdaten von Maurice Wilkins und Rosalind Franklin beruhte. 1985 wurde Jerome Karle und Herbert A. Hauptman der Nobelpreis für Chemie für deren Beiträge zur Entwicklung der „Direkten Methoden“ zur Kristallstrukturanalyse zuerkannt.
Trivia
Da der Ausdruck Röntgenstrukturanalyse semantisch irreführend ist, bestehen manche Autoren auf „Röntgenstrahlenstrukturanalyse“. Weitere korrekte Bezeichnungen sind „Kristallstrukturbestimmung durch Röntgenbeugung an Einkristallen“ und „Einkristallstrukturanalyse“.
Hersteller
Frühere Hersteller von Einkristalldiffraktometern waren die Firmen Enraf-Nonius, Siemens und Oxford Diffraction. Diese stellten zum Beispiel die Einkristalldiffraktometer CAD-4, Kappa CCD (beide von Enraf-Nonius), Smart(Siemens), Xcalibur, SuperNova (beide von Oxford Diffraction) her. Nach mehreren Umstrukturierungen und Verkäufen existieren heute noch folgende Hersteller von Einkristalldiffraktometern:
Bruker AXS bietet Geräte der D8 Reihe für die Einkristallstrukturanalyse an.
Rigaku hat 2015 Oxford Diffraction übernommen und verkauft Geräte der Reihe XtaLAB.
Die STOE & Cie GmbH aus Darmstadt bietet das STADIVARI und IPDS-Diffraktometer an.
Moderne Einkristalldiffraktometer verfügen über leistungsfähige Mikrofokus- oder Metaljet-Röntgenquellen. Als Detektoren werden nahezu ausschließlich Flächendetektoren eingesetzt. Diese ermöglichen deutlich kürzere Messzeiten gegenüber den Punktdetektoren.
Siehe auch
Röntgendiffraktometrie
Systematische Auslöschung
Literatur
Werner Massa: Kristallstrukturbestimmung. Vieweg + Teubner Verlag, 6. Auflage, Wiesbaden 2009, ISBN 978-3-8348-0649-9.
C. Giacovazzo: Fundamentals of Crystallography. Oxford University Press, 3rd ed. 2011, ISBN 978-0-19-957366-0.
S. Boutet, L. Lomb u. a.: High-Resolution Protein Structure Determination by Serial Femtosecond Crystallography. In: Science. 337, 2012, S. 362–364, doi:10.1126/science.1217737.
Weblinks
Pulverdiffraktometrie (PDF-Datei)
Proteinstrukturfabrik (in Englisch; Archiv-Link)
Einzelnachweise
Kristallographie
Proteinstruktur
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Q826582
| 87.529845 |
87221
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https://de.wikipedia.org/wiki/Pernambuco
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Pernambuco
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Pernambuco, amtlich , ist ein Bundesstaat im Nordosten Brasiliens mit der Hauptstadt Recife.
Das Territorium Pernambucos hat eine Ausdehnung von rund 98.000 km² und ist damit etwa vergleichbar mit der Größe Portugals. Die Bevölkerungszahl wurde zum 1. Juli 2021 auf 9.674.793 Einwohner geschätzt, die sich pernambucanos nennen.
Geografie
Pernambuco im Nordosten Brasiliens besitzt eine vergleichsweise schmale Küstenzone, eine höhere Übergangszone, die Agreste genannt wird, und eine dritte Zone im Landesinneren, der sogenannte Sertão Pernambucano. Benachbarte Bundesstaaten sind im Norden Ceará und Paraíba; nach der Küste folgen Alagoas, Sergipe und Bahia im Süden und Piauí im Westen. Der nordöstlich im Südatlantik gelegene Archipel Fernando de Noronha sowie die etwa 960 km vor der Küste des Bundesstaats Rio Grande do Norte befindlichen Sankt-Peter-und-Sankt-Pauls-Felsen gehören auch zum Staatsgebiet.
Geschichte
Pernambuco wurde als Kapitanat Pernambuco (Capitania, Vorform der späteren Provinzen im brasilianischen Kolonialreich Portugals) gegründet. König João III. unterstellte es Duarte Coelho, einem portugiesischen Edelmann, der schon bei der Kolonisierung Indiens viele Erfahrungen gesammelt hatte. Er trieb die wirtschaftliche Entwicklung des Landes mit Anbau von Zuckerrohr voran. Pernambuco war auch eines der wenigen prosperierenden Kapitanate.
Seit 1534 stand die Region unter portugiesischer Herrschaft mit einem kurzen Zwischenspiel der Holländer von 1630 bis 1654 als Niederländisch-Brasilien. Bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts hatte sie eine hohe Bedeutung als Zuckerexporteur. Im 19. Jahrhundert war Pernambuco Schauplatz mehrerer politischer Revolten. Heute ist Pernambuco einer der wirtschaftlich am schnellsten wachsenden Staaten in Brasilien.
1821 wurde die Provinz Pernambuco als Teil des Kaiserreich Brasiliens gegründet, nach 1889 wurde daraus ein eigener Bundesstaat.
Politik
Bei den Wahlen in Brasilien 2018, hier bei den Gouverneurswahlen für die Exekutive, wurde Paulo Câmara des PSB für die Amtszeit von 2019 bis 2023 zum 57. Gouverneur wiedergewählt. Er hatte dieses Amt bereits seit 2015 inne. Bei der Gouverneurswahl in Pernambuco 2022 wurde er durch Raquel Lyra (Raquel Teixeira Lyra Lucena) des Partido da Social Democracia Brasileira (PSDB) mit 3.113.312 oder 58,70 % der gültigen Stimmen als 58. Gouverneurin für die Amtszeit 2023 bis 2027 abgelöst.
Die Legislative wird von 49 gewählten Abgeordneten in der Legislativversammlung von Pernambuco ausgeübt. Der Staat entsendet 25 Bundesabgeordnete in die Abgeordnetenkammer und drei Bundessenatoren in den Bundessenat des Nationalkongresses.
Die Judikative liegt bei dem obersten Gericht Tribunal de Justiça do Estado de Pernambuco.
Wirtschaft
Der Dienstleistungssektor hatte 2016 mit 73,2 % den größten Anteil am BIP, gefolgt vom Industriesektor mit 22 %. Der Agrarsektor repräsentierte 4,8 % des BIP (2016).
Städte
Pernambuco hat mit Stand 1. Juli 2019 gesamt 185 einzelne Städte, die municípios, und den Staatsdistrikt Fernando de Noronha.
Weblinks
Governo de Pernambuco, Seite der Regierung von Pernambuco (brasilianisches Portugiesisch)
ALEPE, Website der Legislativversammlung von Pernambuco (brasilianisches Portugiesisch)
Pernambuco – Panorama, aktualisierte statistische Angaben zu Pernambuco des IBGE (brasilianisches Portugiesisch)
Einzelnachweise
Brasilianischer Bundesstaat
Gegründet 1889
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Q40942
| 272.283174 |
93464
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https://de.wikipedia.org/wiki/Poker
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Poker
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Poker ist der Name einer Familie von Kartenspielen, die normalerweise mit Pokerkarten des anglo-amerikanischen Blatts zu 52 Karten gespielt werden und bei denen mit Hilfe von fünf Karten eine Hand (Pokerblatt) gebildet wird. Dabei setzen die Spieler ohne Wissen um das (genaue) Blatt des Gegners einen unterschiedlich hohen und mehr oder weniger wertvollen Einsatz (Spielmarken, Chips, Geld etc.) auf die Gewinnchancen der eigenen Hand. Die von den Spielern eingesetzten Chips eines Spieles („Pot“) fallen schließlich demjenigen Spieler mit der stärksten Hand zu oder dem einzig Übriggebliebenen, wenn alle anderen Spieler nicht bereit sind, den von ihm vorgelegten Einsatz ebenfalls zu setzen. Dies eröffnet die Möglichkeit, durch Bluffen auch mit schwachen Karten zu gewinnen. Das Ziel im Poker ist es, möglichst viele Chips, Spielmarken oder Geld von anderen Spielern zu gewinnen.
Je nach Spielvariante hat der Spieler verschiedene Möglichkeiten, sein Blatt zusammenzustellen. Auch die maximale und die bevorzugte Spieleranzahl sind je nach Variante verschieden. In manchen gewinnt nicht die beste Hand (High), sondern die schlechteste (Low) oder der Pot wird zwischen der besten und der schlechtesten Hand geteilt (High-Low).
In Casinos werden auch Spielvarianten angeboten, in denen die Spieler nicht alle gegeneinander um einen Pot spielen, sondern jeweils einzeln gegen das Haus.
Poker wird in Deutschland rechtlich gesehen weit überwiegend zu den Glücksspielen gezählt.
Ablauf eines Pokerspiels
Der Dealer
Das Mischen und Austeilen der Karten ist im privaten Umfeld die Aufgabe eines der Mitspieler, des sogenannten Dealers. In Casinos werden die Karten üblicherweise von einem Angestellten des Hauses verteilt. Die Position des Dealers unter den Spielern wird dann durch eine Spielmarke, den Dealer-Button auf dem Spieltisch markiert.
Mindesteinsätze
Je nach Spielvariante müssen die Spieler am Spielbeginn Mindesteinsätze erbringen. Dies wird mittels Blinds oder Antes durchgeführt. Die Blinds werden von Spielern eingesetzt, die eine bestimmte Position relativ zum Dealer innehaben. Antes werden von allen Mitspielern oder, um den Ablauf zu vereinfachen, gelegentlich reihum durch einen einzigen Spieler stellvertretend für alle eingesetzt.
Ablauf eines Spiels
Nachdem die Mindesteinsätze gesetzt wurden, erhalten alle Spieler vom Dealer ihre ersten Karten. Danach folgen eine oder mehrere Setzrunden, in denen die Spieler ihre Karten einschätzen und ihre Einsätze machen. Zwischen den einzelnen Setzrunden wird die Verteilung der Karten verändert, indem der Dealer weitere Karten verteilt, oder den Spielern Gelegenheit zum Tausch von Karten gibt. Innerhalb der Setzrunden scheiden in der Regel einige Spieler freiwillig aus (folden). Deren Einsatz verbleibt im Pot. Wenn in einer Setzrunde ein Spieler einen Einsatz macht, der von keinem der Mitspieler durch einen Einsatz in gleicher Höhe aufgewogen wird (Call), endet das Spiel. Der Spieler gewinnt den Pot; die verdeckten Karten der Spieler müssen normalerweise nicht aufgedeckt werden.
Die letzte Setzrunde ist erreicht, wenn alle im Spielschema vorgesehenen Kartenausgaben oder Kartentausche ausgeführt wurden, oder wenn die Einsätze den vereinbarten Höchstwert (Limit) erreicht haben. Haben zwei oder mehr Spieler den gleichen Betrag gesetzt, kommt es zum Showdown: Die im Spiel verbliebenen Mitspieler decken ihre Karten auf, und der Wert der jeweiligen Hände bestimmt, wer den Pot erhält.
Ablauf einer Setzrunde
In einer Setzrunde wetten die Spieler auf den Wert ihrer (oft noch unvollständigen) Hand. Dazu platzieren sie ihre Einsätze üblicherweise vor sich auf dem Spieltisch. Eine Setzrunde beginnt in einigen Varianten immer beim Spieler links des Dealers. In anderen Varianten kann der Beginn der Setzrunde variieren. Das Spielrecht wandert reihum mindestens genau einmal um den Tisch. Werden Erhöhungen durchgeführt, wandert das Spielrecht gerade so weit weiter, dass jeder Spieler auf die letzte Erhöhung reagieren kann. Dafür wird der erste Einsatz der Runde als Erhöhung (von Null aus) angesehen. Am Ende einer Setzrunde haben entweder alle verbliebenen Spieler nichts gesetzt, haben Einsätze in derselben Höhe gemacht oder sind alle bis auf einen Spieler ausgestiegen. Die vor den Spielern liegenden Einsätze werden am Ende der Setzrunde in den Pot gegeben.
Mögliche Spielzüge in einer Setzrunde
Wurden in einer Setzrunde noch keine Einsätze gemacht (Blinds gelten nicht als Einsatz), so kann ein Spieler entweder schieben (checken) oder einen Einsatz (bet) machen. Haben andere Spieler bereits gesetzt oder erhöht, so kann der Spieler entweder aus dem Spiel ausscheiden (fold), selber einen Einsatz in gleicher Höhe machen (call) oder einen höheren Einsatz setzen (raise). Für die gesetzten Beträge und für die Anzahl der Erhöhungen pro Setzrunde gelten je nach Spielvariante verschiedene Mindest- und Höchstzahlen (Limit).
Kombinationen
Eine Hand wird im Poker nach der Höhe der Kombination bewertet. Je unwahrscheinlicher eine Kombination ist, desto besser ist die Hand. Falls zwei Spieler die gleiche Kombination haben, entscheidet als letztes Kriterium die Beikarte (Kicker), wer den Pot erhält. Falls zwei Spieler allerdings die gleichen fünf Karten haben, kommt es in der Regel zu einem Split Pot; die Farben spielen dabei keine Rolle.
Die Bildung des eigenen Blattes aus nur fünf Karten wird bei den inzwischen weniger verbreiteten Draw-Varianten sowie dem Five Card Stud angewendet. Bei den verbreiteten Varianten Texas Hold’em und Seven Card Stud stellt sich der Spieler sein ebenfalls fünf Spielkarten umfassendes Blatt aus den insgesamt sieben verfügbaren Karten zusammen; daher ergeben sich bei sieben Karten höhere Wahrscheinlichkeiten für die höherwertigen Kartenkombinationen.
Bei einer Straße darf das Ass entweder am oberen Ende nach dem König oder am unteren Ende als Eins stehen. Eine Straße (Straight) von Ass bis Fünf ist also gültig, ebenso wie eine Straße von Zehn bis Ass. Round The Corner Straights (Straße um die Ecke), beispielsweise von König bis Vier gelten dagegen nicht. Daraus folgt, dass eine Straße stets eine 5 oder eine 10 enthalten muss.
Spielvarianten
Um eine Pokervariante vollständig zu beschreiben, müssen die Spielart, die Setzstruktur, die Blindstruktur und Wertungsvariante sowie gegebenenfalls Sonderregeln vorgegeben werden. Die Spielart legt fest, welche Karten der Spieler sehen darf und welche Karten er für die Bildung der besten Hand verwenden darf. Die Setzstruktur gibt vor, wie viel der Spieler setzen oder erhöhen darf. Die Blindstruktur bestimmt, wie der Grundstock von Einsätzen für das Spiel gebildet wird. Mit den Sonderregeln kann das Spiel auf beliebige Weise abgeändert werden.
Grundsätzliche Spielarten
Man unterscheidet grob zwischen drei verschiedenen Kategorien des Kartenpokers.
In die Kategorie Hold’em fällt neben Texas Hold’em, das seit einiger Zeit mit Abstand die beliebteste Variante ist, auch Omaha Hold’em, die der erstgenannten Variante sehr ähnlich ist. Bei diesen und allen weiteren Hold’em-Varianten kommen im Laufe der Zeit so genannte Community Cards (dt. Gemeinschaftskarten oder engl. Board Cards), bei diesen beiden Varianten sind es fünf, auf den Tisch. Mit diesen Karten kann jeder Spieler seine Hand bilden. Zusätzlich zu diesen Karten erhält jeder Spieler zu Beginn einer Runde Hole Cards. Diese Karten sind nur für diesen Spieler ersichtlich, können also nur von diesem Spieler genutzt werden. International ist die Variante No Limit Texas Hold’em am weitesten verbreitet. No Limit bedeutet, dass jeder Spieler in jedem Zug alle seine Chips setzen kann. Speziell bei der Variante Omaha Hold’em ist das Limit Pot Limit sehr weit verbreitet. Der Grund für die Popularität von Texas Hold’em ist, dass das Spiel zwar für Anfänger leicht zu erlernen ist, es aber dennoch seine Zeit braucht, bis ein Spieler ein hohes Niveau erreichen kann.
Beim Stud Poker erhält jeder Spieler sowohl offene, als auch verdeckte Karten. Ein weiteres Merkmal dieser Variante ist, dass die Position des Spielers, der die Runde eröffnet, sehr häufig wechselt. In diese Kategorie fällt neben dem Casinospiel Tropical Stud auch das weit verbreitete Seven Card Stud, welches das ältere Five Card Stud fast völlig verdrängt hat. Stud wird in der Regel immer mit Ante und Fixed Limit gespielt. Seven Card Stud war bis vor einigen Jahren meistens die einzige Variante, die in Casinos angeboten wurde. Mittlerweile offerieren aber auch immer mehr Spielbanken Texas Hold’em.
Die dritte Kategorie, das Draw Poker, wird als die Älteste angesehen. Hier erhält jeder Spieler eine, je nach Variante, festgelegte Anzahl an Karten, die er verdeckt in seiner Hand hält. Draw Poker ist die einzige Kategorie, bei der ein Spieler keine Karten des Gegners zu Gesicht bekommt. Die bekannteste Variante ist Five Card Draw. Bei dieser Variante hält jeder Spieler fünf Karten in der Hand. Er kann in mehreren Setzrunden Karten gegen unbekannte Karten tauschen, um seine Hand zu verbessern. Five Card Draw war auch lange Zeit die beliebteste, am weitesten verbreitete Variante und wurde auch in vielen Filmen thematisiert. Da die Variante im Wilden Westen sehr weit verbreitet war, findet sie sich insbesondere in Western wieder.
Weitere verbreitete Casinopokervarianten, die nicht direkt zu diesen Kategorien gehören, sind Pai Gow Poker und Easy Poker.
Poker kann auch mit Spielwürfeln gespielt werden. Pokerwürfel entstanden um 1880 in den Vereinigten Staaten. Es existiert ein Patent aus dem Jahr 1881. Pokerwürfel zeigen an den sechs Flächen die Kartensymbole Ass, König, Dame, Bube, Zehn und Neun. Das Ass liegt der Neun, der König der Zehn und die Dame dem Buben gegenüber.
Die drei grundlegend verschiedenen Formen des Würfelpoker sind Poker Dice oder Offenes Würfelpoker, Liar Dice oder Verdecktes Würfelpoker (franz. Poker menteur) und Escalero.
Setzstruktur
Die Setzstruktur gibt an, wie viel ein Spieler setzen und um wie viel er erhöhen darf. Auch hier wird zwischen verschiedenen Variationen unterschieden.
In der No Limit-Variante darf der Spieler jederzeit seine gesamten Chips setzen, man sagt: er ist All In. Dieses Limit wird besonders häufig in den Hold’em-Varianten eingesetzt.
Die Pot Limit-Variante unterscheidet sich von dem oben genannten No Limit nur dadurch, dass höchstens soviel gesetzt werden kann, wie sich bereits im Pot befindet. Wenn ein Spieler einen Einsatz leistet, wird dieser sofort zum Pot dazu addiert.
Fixed Limit (oft auch nur Limit genannt) schreibt die Höhe der Einsätze und Erhöhungen direkt für jede einzelne Setzrunde vor. Es ist zwar möglich, dass in jeder Setzrunde das gleiche Limit verwendet wird, jedoch ist dies unüblich. Weit verbreitet ist es, dass der Grundeinsatz nach der Hälfte der Setzrunden verdoppelt wird. Eine weitere, häufig angewendete Regelung ist, dass in einer Setzrunde höchstens dreimal erhöht werden darf. Dieses Limit ist dem No Limit sehr gegensätzlich. Der Unterschied rührt daher, dass es bei dieser Variante sehr schwer ist, den Gegner aus einer Hand zu bluffen.
Spread Limit ist bei weitem nicht so verbreitet, wie die drei anderen Varianten. Hier darf nur innerhalb eines bestimmten Bereichs gesetzt oder erhöht werden.
Bei allen Limit-Varianten muss ein Spieler, der erhöhen will, den Einsatz mindestens um den Big Blind erhöhen. Bei Fixed Limit wird dies dem Spieler sogar vorgeschrieben; er muss also genau um den Blind erhöhen.
Eine Ausnahme stellt bei den Varianten No- und Pot Limit das all in dar.
Eine weitere Ausnahme bildet der sogenannte Cap, hierbei wird der maximale Einsatz eines einzelnen Spielers über alle Setzrunden auf einen festen Betrag limitiert. Effektiv wird somit der Stack der Spieler für jede laufende Hand auf den Cap limitiert. Normalerweise werden nur No Limit und Pot Limit Cash Games mit hohen Blinds bzw. Antes mit einem Cap gespielt.
Struktur der Mindesteinsätze
Siehe auch Abschnitt Mindesteinsätze
Damit ein gewisser Druck auf die Spieler ausgeübt wird, muss sich vor dem Beginn einer Spielrunde eine gewisse Menge an Chips im Pot befinden. Je nach Variante sind die beiden Lösungen Blind und Ante verbreitet. Während Erstere nur von zwei Spielern entrichtet werden, dem so genannten Small- und Big Blind, muss das Ante von allen Spielern gezahlt werden.
Bei Hold’em-Varianten werden traditionell immer Blinds verwendet. Dem entgegen stehen sowohl Stud- als auch Draw-Varianten bei denen fast ausschließlich Antes geleistet werden müssen. Besonders im späteren Verlauf bei großen Hold’em-Turnieren, aber auch in Cash Games, werden oftmals sowohl Blinds als auch Antes verwendet.
Wertungsvarianten
Die Wertungsvariante gibt die Reihenfolge der Kombinationsmöglichkeiten einer Hand an.
Die klassische Variante ist High. Hier gewinnt die beste Hand, gemessen an den gewöhnlichen Kombinationsmöglichkeiten. Der Royal Flush ist also die stärkste Hand, während High Card die schwächste Kombination darstellt. High ist heute am Weitesten verbreitet.
Bei Low (auch Lowball) gewinnt nicht die nach obigen Maßstäben beste, sondern die schwächste Hand. Low ist eigentlich nur ein Überbegriff, der wiederum verschiedene Wertungsvarianten kennt.
Die am weitesten verbreitete Untervariante von Low wird Lowball ace to five genannt. Sie kennt weder Straights noch Flushes. Die niedrigste Karte ist das Ass, die eine Eins repräsentiert. Auf das Ass folgt die gewöhnliche Reihenfolge, also 2-10, gefolgt von den Bildkarten. Die beste Hand in oben angesprochener Variante ist also eine Kombination der Karten von Ass bis Fünf, die Schwächste ist ein Vierling aus Königen mit einer Dame als Kicker.
Eine weitere Untervariante ist Lowball Deuce to Seven. Hier gibt es alle gewöhnlichen Kombinationen, also auch Straights und Flushes. Das Ass gilt als höchste Karte. Die beste Hand ist also Zwei bis Sieben ohne Sechs.
Falls mehrere Spieler bei Low die gleiche Kombination haben, verliert der Spieler mit der höchsten Karte. Falls diese identisch ist, zählt die zweit-, danach die dritthöchste Karte. Falls zwei oder mehr Spieler die gleiche beste Hand halten, kommt es wie gewohnt zu einem Split Pot.
Daneben gibt es auch High/Low. Diese Variante vereint die beiden anderen Wertungsvarianten. Der Pot wird am Ende in zwei gleich große Teile aufgeteilt. Ein Teil geht wie bei High an die beste, der andere wie bei Low-Variante an die niedrigste Hand. Es ist durchaus möglich, wenn auch unwahrscheinlich, mit einer Hand sowohl die beste Low-, als auch die beste High-Hand zu halten (Scoop). Besonders die Hand Ass bis Fünf (das sogenannte Wheel) wird angestrebt, da sie sowohl eine Straight, als auch die Low Nuts darstellt.
Eine andere interessante Untervariante, welche häufig in unten beschriebenen High/Low-Varianten zur Anwendung kommt, ist das sogenannte Eight or better. Um sich hierbei für eine Low-Hand zu qualifizieren, benötigt der Spieler fünf ungepaarte Karten mit dem Wert 8 als höchstem erlaubten Wert. Das Ass zählt als Eins, Flushes und Straights zählen nicht gegen den Spieler.
Sonderregeln
Neben Home Games werden Sonderregeln des Öfteren auch bei Cash Games verwendet. Wenn bei einem solchen Spiel alle im Pot verbliebenen Spieler einen Regeländerungsvorschlag akzeptieren, wird dieser in der Regel auch angewendet.
Eine bekannte Sonderregel ist, dass ein Spieler eine Mindesthand haben muss, damit er zu Beginn setzen darf. Bei dem Casinospiel Let it Ride bekommt der Spieler erst Geld ausgezahlt, wenn er eine bessere Hand als ein Paar Zehner hat.
Ebenfalls weit verbreitet ist die Regelung, dass bestimmte Karten eines Decks zu Jokern erklärt werden. Dafür können Wildcards eingeführt werden. Dadurch wird auch ein Fünfling möglich. Diese Hand schlägt nach den gängigen Regeln sogar einen Royal Flush.
Daneben gibt es eine Reihe von modifizierten Varianten, wie etwa Royal Hold’em oder Speedpoker.
Begriffe, Spieltheorie und Psychologie
Fachausdrücke
Durch die Jahre haben sich für fast alle Verläufe einer Hand spezifische, meist englische, Begriffe eingebürgert. Diese Begriffe müssen meistens je nach Spielvariante differenziert werden, um korrekt verstanden zu werden. Der Grund, warum beinahe alle Ausdrücke in Englisch gehalten sind, besteht darin, dass das Spiel seine Wurzeln in den Vereinigten Staaten hat und die wichtigsten Entwicklungen dort stattgefunden haben.
Spieltheorie
Poker diente verschiedenen Pionieren der mathematischen Spieltheorie als Beispiel. So kündigte John von Neumann bereits 1928 einen mathematischen „Beweis der Notwendigkeit des ‚Bluffens‘ beim Poker“ an. Da „das wirkliche Pokern ein viel zu komplizierter Gegenstand für eine erschöpfende Diskussion“ ist, wurden allerdings nur stark vereinfachte Modelle untersucht. Die ersten Ergebnisse, welche die Notwendigkeit und die Natur des Bluffens formal anhand eines ein Zwei-Personen-Poker-Modells erklärten, veröffentlichten John von Neumann und Oskar Morgenstern 1944. Auch John Nashs Dissertation aus dem Jahr 1950 an der Princeton University, für die er im Jahr 1994 zusammen mit Reinhard Selten und John Harsanyi den Wirtschaftsnobelpreis erhielt, enthält als Beispiel für seinen nicht-kooperativen Lösungsansatz (Nash-Gleichgewicht) eine 3-Personen-Version eines sehr einfachen Poker-Modells.
Die spieltheoretischen Begründungen von Entscheidungen greifen insbesondere im Onlinepoker, wo es unmöglich ist, Spielern über physische Körperreaktionen (Augen, Hände, verbales Verhalten etc.), auch Tells genannt, anzusehen, ob sie gute Karten haben oder nicht. Das klassische Werk, in dem Poker spieltheoretisch analysiert wird, ist The Theory of Poker von David Sklansky. Aus theoretischer Sicht ist es in jeder Situation optimal, die Entscheidung mit dem höchsten Erwartungswert zu treffen, das heißt die Entscheidung, die einem im Mittel die meisten Chips bzw. das meiste Geld einbringt. Beispielsweise ist eine Entscheidung, bei der man in 10 Prozent der Fälle 15 € gewinnt und in 90 Prozent der Fälle 1 € verliert, klar einer anderen Spielweise vorzuziehen, in der man in 50 Prozent der Fälle 10 € verliert und in den anderen 50 Prozent 10 € gewinnt. Dafür ist es wichtig, das Konzept der Pot Odds verstehen und anwenden zu können.
Wichtig ist ferner, die eigene Position bei Entscheidungen zu berücksichtigen. Eine von mathematischer Seite besonders weit erschlossene Pokerform stellen Turniere der Form Sit and Go dar. Für deren Spätphase, in der die Chips der Spieler klein sind gegenüber den Blinds, existiert mit dem Independent Chip Model ein mathematisches Modell, mit dessen Hilfe Entscheidungen getroffen werden können.
Psychologische Komponente
Ein guter Spieler kann durch das Beobachten der anderen Spieler erahnen, mit welcher Strategie der Gegner spielt. Er achtet auf das Setz- und Spielverhalten, sowie auf das Tempo, mit dem Entscheidungen getroffen werden.
Neben dem Beobachten der Spielweise kann man auch an dem Verhalten der Spieler Zeichen erkennen, die auf die Stärke der Hände hinweisen (so genannte Tells). So sagt man, dass ein langes Betrachten der Karten ein Zeichen für eine starke Hand sei.
Außerdem kann man erkennen, ob ein Spieler nervös ist. Um dies festzustellen, beobachten die Spieler die Körperhaltung, die Augen, das Gesicht und die Hände der Gegenspieler.
Wenn ein Spieler absolut keine Informationen über tells preisgibt, also beispielsweise keine Nervosität zeigt, spricht man von einem Pokerface. Dies erfordert eine sehr starke Disziplin. Deshalb benutzen viele professionelle Pokerspieler unter anderem Sonnenbrillen, um die Augen zu verdecken. Weitere Methoden sind die Karten nur möglichst kurz anzusehen und über Kopfhörer Musik zu hören, um sich abzulenken.
Wenn Spieler ihre noch vorhandenen Chips zählen, zeigt dies oft, dass sie zwar nur noch wenige besitzen, aber dennoch diese Hand spielen wollen. Andere führen Tricks mit den Chips vor, um ihre Gegner abzulenken.
Außerdem geben einige Spieler Ratschläge für andere Spieler oder kommentieren die aufgedeckten sowie die eigenen Karten. Einige Spieler provozieren die Gegner sogar durch harte verbale Attacken.
Wenn man erkennt, in welchen Situationen und wie die Spieler reden, kann man daraus ebenfalls einen Vorteil ziehen. Mit dieser Methode kann man seine Gegner verunsichern. Um die eigene Sicherheit zu zeigen, bestellen sich einige Spieler, nachdem sie all in gegangen sind, ein Getränk, um anzudeuten, dass sie noch lange am Tisch sitzen werden.
Gute Spieler beherrschen diese Methoden und können sie variabel, also auch dann wenn sie eigentlich unüblich sind, einsetzen.
In den meisten Onlinecasinos werden deshalb Chats angeboten. Dort kann der Spieler aber nicht die Mimik der Gegner lesen, sondern nur das gespielte Verhalten und die Strategie deuten.
Geschichte und Etymologie
Vorläufer
Als ältester Vorläufer des Pokerspiels wird häufig das persische Kartenspiel As Nas genannt, doch ist diese Behauptung mit Sicherheit falsch. Tatsächlich sind in erster Linie das deutsche Poch oder französische Poque als frühe Formen des Pokerspiels anzusehen. Weitere Vorläufer sind das im 16. Jahrhundert verbreitete Primero (span. oder ital.: Primiera und franz.: Prime). Weitere Spiele, die die Entwicklung des Pokers beeinflusst haben, sind das englische Brag und das französische Bouillotte (Brelan) und Belle, Fluss und Einunddreißig.
Die Namen Poch und Poque leiten sich vom Verb „pochen“ ab, welches auf Englisch to poke heißt. Daraus entwickelte sich in weiterer Folge der Name Poker; dieser ist allerdings erst im Jahre 1836 nachgewiesen.
Frühe Entwicklungen
Das Spiel wurde um 1829 von französischen Siedlern nach New Orleans in die Vereinigten Staaten gebracht. Der englische Schauspieler Joseph Crowell berichtete zu dieser Zeit, dass das Spiel mit einem Paket zu 20 Karten von vier Spielern gespielt worden ist. Die Spieler setzen auf die vermeintlich beste Hand. Von dort ausgehend, breitete sich das Spiel vor allem über Mississippi-Dampfschiffe über den gesamten Osten des Landes aus. Jonathan E. Green warnte 1834 als erster schriftlich vor dem Kartenspiel. Er bezeichnete es als Schummelspiel, das viele Siedler ihr ganzes Vermögen kostete.
Während des Goldrausches Mitte des 19. Jahrhunderts breitete sich das Spiel im Westen der Staaten aus. Nachdem sich das Spiel über die ganze USA ausgebreitet hatte, wurde einheitlich mit einem Paket zu 52 Karten gespielt. Zusätzlich dazu wurde der Flush eingeführt.
Entwicklung der Varianten
Viele Pokervarianten, wie Stud Poker oder Draw Poker, wurden zum ersten Mal während des Sezessionskrieges (1861–1865) gespielt. In dieser Zeitspanne wurde auch das Straight als Hand aufgenommen.
Die jüngste Gruppe stellen die Hold’Em-Varianten dar. Die älteste Poker-Variante mit Community Cards ist Spit in the Ocean, sodass die Hold’Em-Varianten in der Literatur oft unter der Bezeichnung Spit Poker zusammengefasst erscheinen. Spit in the Ocean ähnelt freilich mehr dem klassischen Five Card Draw als dem modernen Texas Hold’em. Eine engere Verwandtschaft besteht zwischen den modernen Hold’em-Spielen und Cincinnati, einer der unzähligen Dealer's-Choice-Varianten. Interessanterweise findet sich eine Beschreibung des Texas Hold’em im „Hoyle“ von 1983 (A. Morehead und G. Mott-Smith) unter dem Namen Omaha. Den großen Boom erlebten die Hold’em-Varianten erst in den späten 1990er Jahren, als diese Varianten von den Casinos favorisiert wurden.
Pokerboom
Einen Aufschwung in der Beliebtheit erlebte Poker bei Beginn der World Series of Poker Anfang der 1970er Jahre. Davor galt es als reines Glücksspiel, ohne strategische Elemente. Dieses verbreitete Bild wurde dadurch bestärkt, dass es in früherer Zeit, besonders im 19. Jahrhundert, des Öfteren zu handgreiflichen Auseinandersetzungen aufgrund von Betrügereien kam, die auch blutig enden konnten.
Der Pokerboom fand mit dem Gewinn des Amateurspielers Chris Moneymaker bei der WSOP 2003 seinen Anfang und wurde in seinem Ausmaß durch die Entwicklung des Onlinepokers möglich. So haben sich die Teilnehmerzahlen für dieses Turnier in den folgenden drei Jahren auf über 8000 Spieler (im Jahr 2006) verzehnfacht. Das prozentuale Wachstum des Marktes ist in den europäischen Ländern hoch, die traditionell keine Affinität zum Pokern besaßen, so auch in Deutschland. Eine weitere Entwicklung ist, dass immer mehr Spieler, auch Anfänger, über das Internet Poker spielen. Die Anbieter fördern dies zusätzlich mit intensiven Werbemaßnahmen.
Der Boom hat zur Folge, dass immer mehr Pokersendungen, hauptsächlich Turniere, im deutschsprachigen Fernsehen übertragen werden. Um den vielen Anfängern den Einstieg in das Spiel zu vereinfachen, produzieren viele Unternehmen Pokersets, denen das wichtigste Zubehör beiliegt; ebenso hat sich ein Markt für Pokertische etabliert. Diese Veränderungen haben dazu beigetragen, dass Poker in Deutschland in den letzten Jahren „salonfähig“ geworden ist und von vielen gespielt wird.
Gesellschaftliche Entwicklung
Poker hatte lange Zeit einen sehr schlechten Ruf als Glücksspiel und wurde vor allem mit Kartenhaien und Falschspiel in Verbindung gebracht. Während der Entstehungszeit des Pokers im 19. Jahrhundert wurde es meist von Berufsspielern verbreitet, die Neulinge und Amateure durch überlegene Beherrschung des Spiels, teilweise durch Betrug, um ihren Einsatz brachten.
Tatsächlich ist die Verteilung der Karten zufällig, doch durch die freie Entscheidung der Spieler darüber, wann und wie viel sie setzen, ergibt sich eine starke strategische und psychologische Komponente. Gute Spieler verstehen es, durch Kenntnis der Wahrscheinlichkeiten und Beobachten der anderen Spieler schlechte Hände frühzeitig aufzugeben, Verluste gering zu halten und Gewinne zu maximieren.
Bei einzelnen Turnieren, wie der World Series of Poker, spielt das Glück weiterhin eine Rolle, da durch die Setzstruktur relativ kurze Spiele mit wenigen Händen erzwungen werden – mittlerweile gilt es als nahezu ausgeschlossen, dass sich ein Spieler zweimal in Folge durchsetzen kann.
Trotzdem waren es diese Turniere, ebenso wie eine immer weitere Verbreitung freundschaftlicher Pokerrunden (zuerst in den USA, inzwischen auch in Europa), die die strategischen Aspekte des Spiels bekannter und es damit salonfähig machten. In jüngster Zeit werden immer öfter Pokerturniere im Fernsehen übertragen – dadurch wird die Bekanntheit und Akzeptanz in der Bevölkerung erhöht. Dies liegt im Interesse der Onlinepoker-Anbieter, die sowohl die Turniere als auch die Fernsehübertragungen mitfinanzieren.
Gefahren
Wie fast jedes Spiel, das Glücksspielaspekte mit einem Geldeinsatz verbindet, birgt auch Poker Abhängigkeitsrisiken.
Die weite Verbreitung und die einfachen Regeln geben Anfängern den Eindruck, dass es nicht schwer sei, Gewinn zu machen. Dieser Eindruck wird durch die scheinbar geringen Einsätze vor allem in Onlinecasinos unterstützt. Das Ziel des Anbieters ist es, einen potentiellen Spieler anzulocken. Einmal im Spiel, können sich die kleinen Einsätze zu beachtlichen Summen addieren.
Allgemein gilt die Regel, dass der Spielbetreiber einen festgelegten Anteil jedes Pots erhält. Das kann bei langen, ausgeglichenen Spielverläufen dazu führen, dass alle Spieler am Ende einer Sitzung verloren haben.
Speziell beim Onlinespiel gibt es eine weitere Gefahr, nämlich das Fehlen jeglicher sozialer Kontrolle, sei es durch menschliche Mitspieler oder Kasinoangestellte.
Verbreitung
Homegames
Unter diesem Begriff werden Spielrunden von Bekannten oder Freunden verstanden, die vorwiegend zur Unterhaltung spielen. Insbesondere in den USA treffen sich Freunde oder Kollegen regelmäßig zum Spielen. Poker nimmt hier eine ähnliche Stellung wie Skat oder Doppelkopf in Deutschland ein. Im Zuge des Pokerbooms der letzten Jahre werden Homegames in Deutschland beliebter.
In Homegames wird im Allgemeinen auch um Geld gespielt, allerdings meist um wesentlich geringere Beträge als in Casinos üblich.
In den privaten Spielrunden werden oft andere Spielvarianten als in Casinos gespielt. Weit verbreitet sind Draw Poker. Oft werden die Spielregeln um Sonderregeln erweitert. Eine besondere Form ist es, dass der Geber die Spielvariante und die Sonderregeln bei jedem neuen Spiel festlegt. Durch die Fernsehübertragungen ist Texas Hold’em eine beliebte Variante für Homegames geworden.
Homegames können in der Turniervariante gespielt werden, Gewinner ist der Spieler, der am Ende alle Chips gewonnen hat, oder als Cash Game wo einkaufen möglich ist, wenn die Chips verloren wurden.
Öffentliche Pokerräume
Anders als in Deutschland ist es in einigen Bundesstaaten der USA, etwa in Kalifornien, möglich, ohne Glücksspiellizenz eine professionelle Umgebung für das Pokerspielen anzubieten. In diesen öffentlichen Pokerräumen werden Tische mit Geber für verschiedene Pokervarianten bereitgestellt. Der Geber mischt und gibt die Karten, ermittelt den Gewinner und verteilt den Gewinn.
Die öffentlichen Pokerräume finanzieren sich meist genauso wie Spielbanken über einen Anteil am Pot, den so genannten Rake, der vom Geber in jeder Runde eingesammelt wird. Alternativ wird von jedem Spieler regelmäßig ein bestimmter Geldbetrag eingesammelt, dies kann in bestimmten Zeitabständen, z. B. einer halben Stunde oder, wenn der Spieler eine bestimmte Position einnimmt, z. B. wenn er eigentlich Geber wäre, erfolgen.
In öffentlichen Pokerräumen sind die gleichen Spielvarianten wie in den Casinos verbreitet, in den USA also vor allem Texas Hold’em und Seven Card Stud.
Wie in Casinos auch gehören bestimmte Verhaltensweisen in öffentlichen Pokerräumen zum guten Ton. Dazu gehört unter anderem das so genannte Toke. Dies ist ein Trinkgeld für den Geber bei einem hohen Gewinn, wie es auch beim Roulette mit einem Plein üblich ist.
Casinos
Spielbanken sind in Deutschland die einzigen legalen Anbieter von Pokerspielen um Geld. Früher wurde Poker nur in wenigen Spielbanken angeboten, mittlerweile bieten jedoch die meisten auch Poker an. Sie finanzieren sich genauso wie die öffentlichen Pokerräume. Auch die Regeln sind gleich.
In Casinos wird meist nur eine begrenzte Anzahl von Pokervarianten angeboten. In Europa war Seven Card Stud lange Zeit die am häufigsten, manchmal auch einzige, angebotene Variante. Im Zuge des Pokerbooms durch die Fernsehübertragungen wird aber auch Texas Hold’em immer häufiger angeboten.
Casinos sind die wichtigsten Anbieter von Turnieren. So werden alle Turniere der wichtigsten Turnierserien (World Series of Poker, World Poker Tour und European Poker Tour) in Casinos ausgetragen. Die World Series of Poker wurde 2007 in Las Vegas, NV im Rio ausgetragen, die European Poker Tour im Casino Baden im September 2007. Die Kosten für Geber und Räumlichkeiten werden durch eine Gebühr zusätzlich zum Einsatz, den jeder Spieler zahlen muss, gedeckt. Die Gebühr beträgt meist 10 Prozent des Einsatzes, bei geringen Einsätzen können die Gebühren aber deutlich höher liegen. Aus den Einsätzen werden die Preisgelder bezahlt.
Mittlerweile gibt es auch in Deutschland von verschiedenen Anbietern organisierte Amateurturniere in mehreren deutschen Städten, gespielt wird dabei ausschließlich um Sachpreise, die sich nicht aus den Antrittsgebühren der Spieler, sondern nur durch Sponsoren finanzieren dürfen.
In Österreich ist Pokern, das hier erst seit wenigen Jahren als Glücksspiel gilt, seit 1. Januar 2020 nur mehr in Spielbanken erlaubt, also den teilstaatlichen Casinos Austria vorbehalten. Im Glücksspielgesetz eine eigene Pokerlizenz auszuschreiben wurde vom Gesetzgeber entgegen Ankündigungen nicht realisiert. Peter Zanoni betrieb seit 1993 bis zu etwa 13 Pokercasinos – überwiegend in Österreich und je eines in Prag und Bratislava – durch die Firmen CBA Spielapparate- und Restaurantbetriebs GmbH (bis Juni 2015), Montesino und Concord Card Casinos (CCC-Gruppe). Zanoni kämpfte erfolglos (Entscheidung des VwGH mit Stand Februar 2016) gegen die Kriegsopferabgabe des Landes Vorarlberg auf den Spieleinsatz und sieht eine Ungleichbehandlung gegenüber den Casinos Austria. Die Stadt Bregenz schreibt weiter Vergnügungssteuer vor. Anfang Februar 2016 wurde über CBA ein Konkursverfahren eröffnet, Zanoni betrieb dann die Casinos über die Montesino Gruppe weiter. Zanonis Konzession (Gewerbeberechtigung) galt nur bis Ende 2019. Nach Razzien schloss Zanoni mit 31. Januar 2020 seine etwa 12 Betriebe in Österreich, mit denen er mit rund 600 Mitarbeitern 30 Mio. Euro Jahresumsatz machte. Die kleineren Mitbewerber schlossen ebenfalls zum Jahreswechsel 2019/20. Das Anbieten von Pokern ist in Österreich ab 2020 an eine Spielbankenkonzession gebunden und damit nur den Casinos Austria vorbehalten.
Onlinepoker
Im Zeitalter von Computer und Internet wird auch das Pokerspielen über das Internet immer beliebter. So spielten nach Angabe von casinoportalen.de Anfang 2007 eine Viertelmillion Deutsche regelmäßig Poker gegen andere menschliche Spieler über den Computer. Die Gründe dafür sind vielschichtig. So ist es speziell für Anfänger sehr einfach, die Regeln zu lernen und erste Erfahrungen zu sammeln. Da fast alle Pokerräume auch Tische anbieten, bei denen um Spielgeld gespielt wird, besteht auch nicht die Gefahr, Geld gegen erfahrene Spieler zu verlieren. Professionelle Spieler schätzen dagegen die Möglichkeit, an mehreren Tischen zur gleichen Zeit zu spielen, und damit die Möglichkeit zu haben, ihren durchschnittlichen Gewinn pro Stunde zu optimieren.
Des Weiteren sind für gewöhnlich zu jeder Tageszeit Pokerspieler online, sodass man fast immer Mitspieler findet.
Beide Aspekte zusammen führen dazu, dass ein Spieler beim Onlinepoker pro Tag weit mehr einzelne Runden spielen kann als in Casinos. Dadurch können Onlinespieler relativ schnell den Rückstand in Spielerfahrung gegenüber Offline-Spielern aufholen, die teilweise schon seit mehreren Jahrzehnten professionell spielen.
Onlinepoker hat jedoch auch einige Nachteile. So versuchen die großen Anbieter, Anfänger zu ködern, und vermitteln ihnen den Eindruck, dass das Spiel sehr leicht zu erlernen ist. Oftmals wird auch betont, dass es kostenlos ist, das gilt jedoch nur für Spielgeldtische, bei denen das Spielniveau noch dazu meist deutlich niedriger ist als bei Echtgeldtischen. Zudem besteht die Gefahr, dass der Spieler von seinen Mitmenschen isoliert wird. Ein weiterer Kritikpunkt ist, dass viele Aspekte, die Poker von anderen Kartenspielen unterscheiden, wegfallen wie beispielsweise, dass die Verhaltensweise des Gegners bei Mimik und Gestik nicht gelesen werden kann.
Der Anbieter finanziert sich darüber, dass er von jedem Pot oberhalb einer bestimmten Größe einen Anteil einbehält. Dieses so genannte Rake ist auch in Casinos üblich und bewegt sich zwischen 4 und 20 Prozent der Potgröße.
Daneben gibt es aber auch Spiele um virtuelles Spielgeld.
Viele Spieler verwenden Programme, die parallel auf ihren Rechnern laufen und dem Spieler detaillierte Informationen über statistische Wahrscheinlichkeiten geben und ihn teilweise bei Routinerechnungen entlasten.
Die Einsätze bewegen sich dabei in einer großen Bandbreite von Limits wie 2 Cent bis hin zu einer Größe des Big Blinds von 2.000 US-Dollar.
Die Legalität von Onlinepoker ist in vielen Rechtsordnungen fraglich. Das deutsche Strafrecht gestattet das Betreiben von Glücksspielen grundsätzlich nur mit einer entsprechenden Konzession. Sowohl das Anbieten (§ 284 StGB) als auch die Teilnahme (§ 285 StGB) an einem nicht genehmigten Glücksspiel sind grundsätzlich mit Strafe bedroht, dies gilt auch für Onlinecasinos.
Professionelles Poker
Es gibt Spezialisten, die mit dem Pokerspiel so viel Geld verdienen, dass sie davon leben können. Das bedeutet, dass diese Spieler über weite Strecken einen Stundengewinn haben, der dem Stundenlohn eines Arbeitnehmers mindestens gleichkommt. Besonders geeignete Spielvarianten für professionelles Poker sind die Formen, bei denen viele Hände gespielt werden und die Gebühren für das Casino niedrig sind.
Einnahmequellen
Viele professionelle oder semi-professionelle Spieler erzielen den größten Teil ihrer Einnahmen beim Onlinepoker. Das hat den Grund, dass man sich die Spielzeiten flexibel einteilen kann, da zu jeder Zeit Mitspieler verfügbar sind und der Spieler deshalb nicht auf bestimmte Turniere oder Cash Games in Spielbanken oder seltener im privaten Bereich angewiesen ist, die zu einer ganz bestimmten Zeit stattfinden. Dadurch lässt sich das Budget für den Spieler besser planen. Gerade aber durch die fehlende Möglichkeit, Mimik, Gestik und Verhalten der Gegenspieler zu beobachten und zu analysieren, wird der spielerische Leistungsunterschied zwischen den einzelnen Spielern geringer. Dagegen ist es möglich, mehr Hände pro Stunde zu spielen, da man mehrere Tische gleichzeitig spielen kann und es keine Wartezeiten gibt, die durch menschliche Dealer verursacht werden. Da man als professioneller Spieler davon ausgeht, einen prinzipiellen Vorteil zu haben, bedeuten mehr Hände pro Stunde auch einen höheren Gewinn pro Stunde.
Der größte Teil der Spieler, der seinen Unterhalt mit Poker bestreitet, hat sich auf Cash Games spezialisiert. Diese Spielart hat den Vorteil, dass die Spieler relativ zu den Blinds einen größeren Stack haben, was die Komplexität des Spiels und damit auch die Gewinnraten guter Spieler erhöht. Ein weiterer Grund, weshalb Cash Games oft bevorzugt werden, liegt darin, dass der Spieler zu jeder Zeit aussteigen kann und die Spielzeiten somit flexibler gestaltbar sind. Bei Turnieren muss man oft Stunden spielen, größere Live-Events gehen gar über Tage.
Nur wenige professionelle Pokerspieler sind Turnierspieler, da bei Turnieren unter anderem der Glücksfaktor deutlich höher ist. Dies liegt daran, dass durch die relativ kleinen Stacks im Verhältnis zu den Blinds nur wenige Entscheidungen getroffen werden können. Andererseits ist der durchschnittliche Turniergegner deutlich schlechter als der durchschnittliche Cashgamegegner. Viele Turnierspieler verdienen ihr Geld gar nicht durch den Turniererfolg, sondern durch Verdienste aus Sponsorverträgen. Dies ist im begrenzten Umfang auch in Online-Cash-Games möglich.
In den Jahren 2002, 2003, 2004, 2005 und 2006 wurde das Main Event, das Hauptturnier der World Series of Poker, von Amateurspielern gewonnen. Dies zeigt, dass gerade im Turnierspiel die unbekannten Spieler den großen Pokerstars während einer einzelnen Meisterschaft nicht zwingend unterlegen sein müssen.
Bedeutende Spieler
Durch den Glücksfaktor, den Poker mit sich führt, ist es schwer oder gar unmöglich zu beurteilen, wer der weltbeste Spieler ist, da kein Spieler zu jeder Zeit perfekt spielt und es bisher nicht gelungen ist, die meisten Pokerspiele mathematisch zu analysieren oder auch nur ein Näherungsverfahren für gute Entscheidungen anzugeben. Dennoch gibt es eine gewisse Anzahl an Spielern, die über Jahre hinweg durch besonders herausragende Leistungen in bestimmten Bereichen auf sich aufmerksam machen konnten.
Abgesehen davon gibt es selbst bei professionellen Spielern nur eine geringe Zahl, die sich nicht auf eine bestimmte Spielvariante spezialisiert haben. International wurde oftmals der aus den Vereinigten Staaten stammende David „Chip“ Reese als der beste Allrounder bezeichnet, was durch den Gewinn eines der renommiertesten Pokerturniere, der Poker Player’s Championship, bei der fünf Pokervarianten im Wechsel gespielt werden, unterstrichen wurde.
Gemessen an Siegen bei der World Series of Poker ist der US-Amerikaner Phil Hellmuth der erfolgreichste Spieler. Seit 1989 gewann er insgesamt 17 Turniere, womit er vor Doyle Brunson, Johnny Chan und Phil Ivey liegt, die jeweils 10 Turniersiege für sich verbuchen können.
Der nach Turniergewinnen erfolgreichste Spieler ist Bryn Kenney, der sich in seiner Karriere mehr als 65 Millionen US-Dollar erspielt hat. Erfolgreichster deutscher Spieler ist Fedor Holz, der weltweit gesehen lange in den Top 5 lag. Eine große Bedeutung vor allem für Onlinepoker erlangte der US-Amerikaner Chris Moneymaker, der 39 US-Dollar bei PokerStars einzahlte und daraus 2003 beim Main Event der World Series of Poker 2,5 Millionen US-Dollar machte. Diese Geschichte wird seitdem von PokerStars oft als Werbung genutzt und führte zu einem Pokerboom.
Künstliche Intelligenz
Es wurde als große Herausforderung angesehen, eine künstliche Intelligenz zu erstellen, die auch gegen professionelle Pokerspieler bestehen kann. Auf dem Gebiet des Schachspiels können heute selbst PC-Programme auf Standardhardware die allermeisten Spieler problemlos schlagen. Für die Computer begünstigend ist, dass Schach ein Spiel mit vollständiger Information ist, das heißt, beide Spiel-Parteien verfügen über alle Informationen über den Spielstand. Die Fähigkeit von Computern, Millionen von möglichen Zugkombinationen im Voraus zu berechnen und vorausschauend abrufen zu können, ist deshalb der menschlichen Fähigkeit zum abstrakten taktischen Denken meist überlegen. Beim Poker kennt der Computer jedoch nur seine eigenen Karten. Er muss aus dem (keinen festen Regeln unterworfenen) Setzverhalten des Gegners die Stärke seines Blatts ableiten, Bluffs erkennen und selbst möglichst vorteilhaft setzen, ohne dabei berechenbar zu werden, da berechenbares Verhalten vom Gegner ausgenutzt werden kann. Aus diesen Gründen wurde Poker in letzter Zeit für Spieltheoretiker immer interessanter.
Der Poker-Spielbaum gilt als nicht berechenbar, da mögliche Entscheidungen kalkuliert werden müssten – mehr als Atome im Universum.
Vorentwicklung
Im Juli 2006 traten im Rahmen der Jahreskonferenz der amerikanischen KI-Forscher in Boston die besten Pokercomputer gegeneinander an. Im Juli 2007 spielte das von einem Team der University of Alberta entwickelte Programm Polaris in Vancouver gegen die beiden Pokerprofis Ali Eslami und Phil Laak. Dabei wurden in vier Sitzungen insgesamt 1995 Hände $10/$20 Limit Texas Hold’em gespielt. Um den Glücksfaktor zu vermindern, wurden jeweils zwei parallele Heads-Up-Matches mit umgekehrter Kartenverteilung gespielt. Die menschlichen Spieler gewannen knapp, sie erzielten ein Plus von 395 $.
Im Juli 2008 gewann Polaris gegen die Pokerprofis Nick Grudzien, Kyle Hendon, Rich McRoberts, Victor Acosta, Mark Newhouse, IJay Palansky und Matt Hawrilenko unter den gleichen Bedingungen (allerdings mit $1000/$2000 Limit) nach sechs Sitzungen mit 3,5:2,5 (drei Siege, ein Unentschieden, zwei Niederlagen) und erzielte ein Plus von 195000 $.
Sieg der Maschinen
Anfang 2017 gelang es erstmals zwei Teams mit „DeepStack“ und „Libratus“ – zwei unterschiedlich konzipierte KI-Programme – im Spiel „Eins-gegen-Eins“ gegen Profispieler zu gewinnen (in der turnierüblichen Variante Texas Hold’em Heads-Up No Limit, d. h. zwei Spieler mit je zwei verdeckten Handkarten):
Die auf Deep Learning basierende Künstliche Intelligenz „DeepStack“ (University of Alberta, Universität Prag) spielte zunächst zehn Millionen Pokerpartien gegen sich selbst. Das neuronale Netz entwickelte eigenständig sowohl das Bluffen als auch eine Art von Intuition, so dass lediglich sieben Spielzüge voraus zu berechnen waren, um menschliche Spieler schlagen zu können. Im Dezember 2016 wurden in 3000 Partien 10 der 11 Profispieler deklassiert. Das Programm ist auf einem Laptop einsatzfähig und vergleichbar mit AlphaGo.
Die auf Counterfactual Regret Minimization basierende Künstliche Intelligenz „Libratus“ (Carnegie Mellon University) ermittelt auf Basis eines stark beschnittenen Entscheidungsbaums den optimalen Spielzug. Es benötigt dazu einen Supercomputer; auch konnte das Programm nach jedem Spieltag manuell nachjustiert werden. Der im Vergleich beste Pokerprofi, d. h. mit dem geringsten Verlust gegen die KI, Dong Kim, beschrieb das Spiel gegen Libratus „als spiele man gegen jemand der betrüge, als ob es meine Karten sehen könne“.
Mediale Verwendung
Videopoker
Videopoker kann in Casinos an speziellen Automaten, den einarmigen Banditen, gespielt werden. Das Spiel ähnelt der Variante Five Card Draw, mit den Unterschieden, dass schon vor dem Erhalten der ersten fünf Karten Geld gesetzt wird und dass die Karten nur einmal getauscht werden können. Falls man am Ende mindestens ein Paar Buben hat, bekommt man von dem Automaten Geld ausbezahlt. Der Bankvorteil liegt je nach Automat bei etwas unter zwei Prozent.
Die ersten Automaten wurden Mitte der 1970er-Jahre in den Casinos eingeführt, eine positive Resonanz unterstützte in der Folge eine weitere Ausbreitung. Heute sind auch im Handel kleine Geräte erhältlich, mit denen Videopoker gespielt werden kann.
Videospiele
Infolge des Pokerbooms erschienen in den letzten Jahren einige Computer- und Videospiele, in denen der Benutzer virtuell pokern kann. Besonders wichtig ist dabei die Qualität der künstlichen Intelligenz der Gegenspieler. Die bekannteste Serie, die auch in Europa veröffentlicht wurde, ist dabei die World Series of Poker-Serie von Activision.
Fernsehen
Seit einiger Zeit erleben Pokerübertragungen im Fernsehen einen Aufschwung, was zur Folge hat, dass immer mehr Turniere ausgetragen und auch in Deutschland ausgestrahlt werden. Da Turniere, die in der Variante No Limit Texas Hold’em gespielt werden, das größte Zielpublikum ansprechen, werden fast ausschließlich Formate in dieser Variante produziert. Der Vorteil von Texas Hold’em ist, dass sie für Anfänger schnell zu erlernen und weniger komplex als andere Varianten ist. Eine andere Theorie besagt, dass Texas Hold’em seine Beliebtheit vor allem der Tatsache verdankt, dass der Glücksfaktor bei dieser Variante am geringsten ist.
Bei Fernsehübertragungen sieht der Zuschauer durch spezielle Kameras, die in den Tisch integriert sind, die Karten der Spieler. Dadurch können sie beobachten, wie professionelle Spieler ihre Blätter spielen und haben so die Möglichkeit, ihr eigenes Spiel zu verbessern. Außerdem wird oftmals eine Wahrscheinlichkeit eingeblendet, die angibt, wie hoch die Chance eines Spielers ist, dass dieser die aktuelle Hand gewinnt. Dabei wird angenommen, dass alle Spieler ihre Hand bis zur letzten Karte halten. Daneben kommentiert ein Moderator die verschiedenen Spielzüge und das Setzverhalten so, dass die Aussage auch für Anfänger verständlich ist.
Im deutschen Fernsehen überträgt hauptsächlich Sport1 Pokerprogramme. Des Weiteren produzierte das Deutsche Sportfernsehen (im April 2010 in Sport1 umbenannt) eigene Formate, wie etwa die DSF Poker-Schule, Pokerstars.de Online Show oder DSF Poker-Champion. Außerdem veranstaltete der Sender ProSieben regelmäßig Pokernächte im Rahmen der Unterhaltungsshow TV total, bei denen fünf Prominente und ein Onlinequalifikant um ein Preisgeld von insgesamt 100.000 € spielten.
Spielfilme, Oper und Ballett
In vielen nordamerikanischen Spielfilmen und Fernsehserien veranstalten die Darsteller ein Pokerspiel. Das wird hauptsächlich deshalb gemacht, um das Klischee des Durchschnittsbürgers zu unterstreichen und die Handlung dabei weiterzutreiben. Als Beispiele sind die Sitcoms Roseanne, King of Queens und Malcolm mittendrin, sowie die Fernsehserien Desperate Housewives und Raumschiff Enterprise: Das nächste Jahrhundert zu nennen.
Dem entgegen stehen Spielfilme, bei denen das Pokerspiel ein zentrales Element des Handlungsstrangs darstellt. Beispiele hierfür wären Produktionen wie Rounders, Cincinnati Kid, Glück im Spiel, Maverick, James Bond 007: Casino Royale oder Bube, Dame, König, grAs.
Auch in Opern und im Ballett werden gelegentlich Pokerszenen gezeigt, in denen sich die Figuren an Stelle eines Kampfs waffenlos duellieren. So geschehen ist das im Ballett Jeu de Cartes von Igor Strawinski und in der Oper La fanciulla del West von Giacomo Puccini.
Sonstiges
Das Gerücht, Österreich hätte Poker als Geschicklichkeitsspiel eingestuft, ist nicht richtig und rührt wahrscheinlich daher, dass im Jahre 1995 der Verwaltungsgerichtshof einem Einspruch Recht gab, dass die Finanzbehörde zu beweisen hat, dass es sich bei Seven Card Stud um ein Glücksspiel handelt, nötigenfalls mit einem Sachverständigengutachten. Der Verwaltungsgerichtshof der Republik Österreich hat 2005, aufgrund eines ebensolchen Gutachtens entschieden, dass Poker und seine Spielvarianten Seven Card Stud, Texas Hold’em und Five Card Draw Glücksspiele und somit keine Geschicklichkeitsspiele seien, da der Zufallscharakter überwiege.
Eng verwandt mit Poker ist das steirische Kartenspiel Einundvierzig, das zeitweise auch in einigen österreichischen Spielbanken angeboten wurde.
Poker wird heute in Italien als Bezeichnung für vier Tore eines Spielers in einem Fußballspiel benutzt.
Die bekannte Phrase „Ich will sehen“ stammt aus dem Draw Poker und gibt an, dass ein Spieler sein Blatt für gut genug hält, um die Hand des Gegners zu schlagen.
Siehe auch
Liste von Pokervarianten – Aufzählung und Beschreibung der wichtigsten Spielvarianten
Liste der erfolgreichsten Pokerspieler – Aufzählung und Informationen zu bekannten Pokerspielern
Pokerturnier – Erklärung und Ablauf von Pokerturnieren
Literatur
Barry Greenstein: Ace on the River. Last Knight Publishing, 2005, ISBN 0-9720442-2-1.
David Sklansky: The Theory Of Poker (Deutschsprachige Ausgabe). AniMazing, 2006, ISBN 3-9808562-5-9.
Doyle Brunson: Super System. Heel, 2007, ISBN 978-1-58042-081-5.
Dan Harrington: Harrington on Hold'em. Expertenstrategie für No-Limit-Turniere Band 1: Strategisches Spiel. Deutschsprachige Ausgabe. Premium Poker Publishing, 2007, ISBN 978-3-9811543-0-6.
Mike Caro: Caro’s Book of Poker Tells. Cardoza, 2003, ISBN 1-58042-082-6.
Phil Gordon: Phil Gordon's Poker Box Set: Phil Gordon's Little Black Book, Phil Gordon's Little Green Book, Phil Gordon's Little Blue Book. Simon Spotlight Entertainment, 2006, ISBN 1-4169-3642-4.
Chris Moorman: Moorman’s Book of Poker: Improve your poker game with Moorman1, the most successful online poker tournament player in history. D&B Publishing, 2014, ISBN 978-1-909457-39-3.
Weblinks
Hendon Mob Poker Database (englisch)
Stern: Tricksen, Tarnen, Täuschen
Einzelnachweise
Kartenspiel mit traditionellem Blatt
Spiel mit Strategie und Zufall
Casinospiel
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Q80131
| 92.734642 |
64759
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https://de.wikipedia.org/wiki/Jeollabuk-do
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Jeollabuk-do
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Jeollabuk-do (Nord-Jeolla) ist eine Provinz im Südwesten von Südkorea. Im Norden grenzt sie an Chungcheongnam-do, im Osten an Gyeongsangnam-do und Gyeongsangbuk-do. Im Süden ist die Provinz begrenzt durch Jeollanam-do, im Westen durch das Gelbe Meer.
Geographie
Das Noryong-Gebirge teilt die Provinz. Die östliche Hälfte ist ein Hochplateau, die westliche eine Ebene. Vier Flüsse fließen durch die Ebenen im Westen: Somjin, Mankyong, Tongjin und Kum.
Auf dem Gebiet Jeollabuk-do´s befinden sich vier Nationalparks. Im Südosten der Jirisan-Nationalpark, der sich auch über die Provinzen Jeollanam-do sowie Gyeongsangnam-do erstreckt. Südlich gelegen der Naejangsan-Nationalpark der bis in die Provinz Jeollanam-do hineinreicht. Im Nordwesten der Byeonsanbando-Nationalpark und im Nordosten der Deogyusan-Nationalpark der sich bis in die Provinz Gyeongsangnam-do zieht.
Wirtschaft
Die Küstenebene ist eine der größten Kornkammern von Südkorea. Außer Reis werden auch Baumwolle, Gerste, Hanf und Maulbeeren für die Papierproduktion angebaut. Viehzucht ist auch von Bedeutung und wird hauptsächlich auf dem Hochplateau im Osten betrieben.
1960 wurde die Honam-Autobahn erbaut, die die Hauptstadt Jeonju mit Daejeon und Seoul im Norden und Gwangju im Süden verbindet. Außerdem entstand ein Anschluss für Iksan (früher Iri) und die Hafenstadt Gunsan.
In der Küstenregion entstand eine Industrie- und Freihandelszone (Gun-Jang) mit Ansiedlungen großer Konzerne wie Daewoo und Hyundai. Das Wirtschaftswachstum im früher nur wenig entwickelten Jeollabuk-do ist eines der höchsten in Südkorea. Es bestehen Partnerschaften mit den Bundesstaaten Washington und New Jersey in den USA, den Präfekturen Kagoshima und Ishikawa in Japan sowie der Provinz Jiangsu in China.
Verwaltungsgliederung
Jeollabuk-do ist in 6 Städte und 8 Landkreise gegliedert.
Städte
Jeonju-si (, ) – Provinzhauptstadt
Gimje-si (, )
Gunsan-si (, )
Iksan-si (, )
Jeongeup-si (, )
Namwon-si (, )
Landkreise
Buan-gun (, )
Gochang-gun (, )
Imsil-gun (, )
Jangsu-gun (, )
Jinan-gun (, )
Muju-gun (, )
Sunchang-gun (, )
Wanju-gun (, )
Weblinks
Webseite der Provinz (englisch/koreanisch)
Einzelnachweise
Südkoreanische Provinz
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Q41157
| 151.601426 |
256685
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https://de.wikipedia.org/wiki/Physiokratie
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Physiokratie
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Physiokratie oder Physiokratismus ( ‚Herrschaft der Natur‘, Kompositum aus und ) ist eine von François Quesnay im Zeitalter der Aufklärung begründete ökonomische Schule mit der Annahme, nach welcher allein die Natur Werte hervorbringe und somit der Grund und Boden der einzige Ursprung des Reichtums oder Wohlstands eines Landes sei. Somit könne nur die Arbeit in der Landwirtschaft, Forstwirtschaft, Fischerei oder im Bergbau einen Überschuss der Produktion über die Vorleistungen erzielen (die Urproduktion), während das Gewerbe lediglich Vorprodukte umforme.
Vorgeschichte
Diese Theorie entwickelte erste systematische Ansätze zur Erklärung volkswirtschaftlicher Strukturen und Prozesse; Quesnays ist die erste Darstellung des Wirtschaftskreislaufs. Der Begriff „Physiokratie“ wurde 1768 von Pierre Samuel du Pont de Nemours geprägt.
Ausgangspunkte der Physiokraten waren der Niedergang der Landwirtschaft infolge der merkantilistischen Wirtschaftspolitik Jean-Baptiste Colberts in der späten Regierungszeit Ludwigs XIV. sowie die wirtschaftlichen Turbulenzen in der Zeit Philipps von Orléans unter dem „Lawschen System“.
Theorie
Die zentrale These der Physiokraten lautet, Grund und Boden sei die einzige Quelle des Reichtums, die Wertschöpfung erfolge nur daraus. Dies verlegt die Entstehung von Mehrwert in die Produktionssphäre, d. h. in das Verhältnis zwischen Arbeit und Kapital. Der mehrwerthaltige Überschuss, den die produktive Arbeit innerhalb der o. g. Bereiche erzielt, wird als eine „Gabe der Natur“ bezeichnet. Wenn man die Wertentstehung in der Produktionssphäre sucht, ist es gewiss naheliegend, dass man sie zuerst im Austausch Mensch-Natur erblickt. Die Physiokratie stand damit im Gegensatz zum Konzept des profit upon expropriation bei englischen Ökonomen, welche die Quelle des Reichtums in die Sphäre der Zirkulation verlegten.
Nach den Auffassungen der Physiokraten sollten die administrativen Organe ihre Eingriffe sowohl in den Wirtschaftsprozess auf ein Mindestmaß einschränken – was sich als eine Reaktion auf den Merkantilismus mit seinem umfangreichen, zumeist aber konzeptionslosen Dirigismus erklären lässt – als auch in das Privateigentum an Produktionsmitteln, um damit eine freie wirtschaftliche Betätigung der Menschen zu gewährleisten. Man war für die Aufhebung von Leibeigenschaften und Zünften. Durch François Quesnay, einen der Hauptautoren der Theorie der Physiokratie, so Tableau économique (1758), wurde das wirtschaftliche Kreislaufmodell analog zum Blutkreislauf konzipiert und durch ein Dreiklassen-Modell der Makroökonomie wurden die gegenseitigen Abhängigkeiten der Wirtschaftszweige dargelegt. Quesnay machte für das Funktionieren seines Kreislaufmodells folgende Voraussetzungen: eine freie Preisgestaltung, ein freier Handel, ein kapitalistisches Pachtsystem sowie der Geldfluss und Warenaustausch zwischen drei Klassen, den productives oder Bauern und Landwirten, den stériles oder Handwerkern, Kaufleuten, Händlern und den propriétaires den Adeligen und Grundbesitzern. Für Quesnay war die Gewährleistung eines kontinuierlichen Geldumlaufs essentiell für den Wohlstand eines Landes. Eine Akkumulation von Geldkapital sollte verhindert werden, da ein Zurückbehalten sich schädlich auf die wirtschaftlichen Aktivitäten auswirke.
Die Theoretiker der Physiokratie teilen die Gesellschaft nach ihrer ökonomischen Bedeutung ein, so sprach man von der wichtigsten Gruppe, der classe productive. Das waren in der Landwirtschaft tätige Menschen, etwa Bauern und Pächter, nicht aber Landarbeiter. Als Gruppe der Grundeigentümer, als classe propriétaire, wurden der Adel, die Kirche und der König bezeichnet. Diese Gruppe erwirtschaftete keine Waren, sie führten aber die Grundrenten erneut in den Umlauf, in die Zirkulation ein, eine Voraussetzung für den volkswirtschaftlichen Reinertrag (). Unter der unproduktiven Gruppe, classe stérile wurden etwa die Kaufleute und die Handwerker verstanden, sie bildeten die Gruppe, die im Wirtschaftsprozess nur ihre eigene Arbeit hinzufügten ohne aber neue Werte zu schaffen. Der Kreislauf bestand somit in der jährlichen Reproduktion des von den einzelnen Gruppen oder Klassen, classes in den Wirtschaftsprozess eingebrachten Kapitals. Eine volle Reproduktion war nur innerhalb des ordre naturel denkbar, der Kreislauf konnte aber auch innerhalb eines ordre positif sowohl mit einem volkswirtschaftlichen Plus als auch Minus enden.
Das menschliche Zusammenleben wurde im physiokratischen Sinne als eine Verbindung aus ordre naturel, dem Naturrecht der Aufklärung und dem ordre positif also dem vom Menschen geschaffenen Recht erklärt. Aus den Prinzipien des Naturrechts leiteten die Physiokraten eine unabhängige und objektiv gegebene Norm ab, aus deren Beachtung sich die größtmögliche Wohlfahrt für alle Menschen erwirken ließe. Dennoch würde aber durch spontanes Handeln einzelner Menschen keine dieser der natürlichen Ordnung, entsprechend einem Gesellschaftsvertrag, hervorgebracht werden können. Vielmehr würde erst durch einen aufgeklärten Herrscher nicht nur eine Ordnung konstituiert, sondern auch gewährleistet werden, eben die ordre positif die dann im weitesten Sinne einer natürlichen Ordnung entspräche.
Denn der Wert des Arbeitsvermögens, also das, was ein Landarbeiter zum Leben braucht, wurde als eine natürlich bestimmte Konstante angenommen. Der Landarbeiter produziert in der Regel mehr, als er selber zum Leben benötigt. Dieser Zusammenhang wird gerade in der Landwirtschaft am sinnfälligsten, wo Aufwands- und Ertragsgrößen in Naturaleinheiten miteinander verglichen werden können. Daher gilt den Physiokraten die Landarbeit als einzig produktive Arbeit, die Grundrente als einzige Form des Mehrwerts. Der Profit für den Kapitalisten erscheint nur in der Form von Einkünften, welche er als eine Art Arbeitslohn zu seinem Lebensunterhalt bezieht. Geldzinsen werden zum naturwidrigen Wucher erklärt.
Eine weitere Einsicht können die Physiokraten für ihre Anschauung geltend machen: Geht man von einer geschlossenen Wirtschaft aus, dann leben die übrigen Wirtschaftsteilnehmer vom Bodenertrag, in welcher Form auch immer; dessen jeweilige Produktivität gibt bestimmte Grenzen des Wachstums vor.
Es war das große Verdienst Quesnays, die Formen der wirtschaftlichen Vorgänge als physiologische Formen der Gesellschaft aufzufassen, d. h. als aus der Produktion selbst hervorgehende Formen, die von Willen, Politik usw. unabhängig sind. Sie wurden indes als für alle Gesellschaftsformationen gleichermaßen gültig angesehen. So haben sie die Formen des Kapitals in der Zirkulation gesehen, denen später Adam Smith nur noch die Namen „fixes Kapital“ und „zirkulierendes Kapital“ geben musste.
Das von den Physiokraten entwickelte Kreislaufmodell des Tableau économique modelliert erstmals ökonomische Interdependenzen und kann damit als Vorläufer einer volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung genannt werden. Auch erkannten sie erstmals die Bedeutung von Nettoinvestition und Kapitalakkumulation.
Vertreter
Sie selbst nannten sich économistes. Physiokratie ist nach griechisch „Herrschaft der Natur“ gebildet. Der Begriff wurde 1768 von Pierre Samuel du Pont de Nemours (s. dort) geprägt.
Richard Cantillon, ein irischer Bankier in Frankreich, formulierte die physiokratischen Ideen 1756 im Essai sur la nature du commerce en géneral (Aufsatz über die Natur des Handels im Allgemeinen). Später wurden diese Ideen von François Quesnay und Vincent de Gournay systematisch ausgebaut.
Hauptvertreter des Physiokratismus war der Franzose François Quesnay (1694–1774). Quesnay war Leibarzt von Ludwig XV. Er übertrug den 1628 von William Harvey entdeckten Blutkreislauf auf das soziale Gefüge, insbesondere auf die Wirtschaft. Mit seinem Tableau économique entwarf Quesnay das erste Modell eines Wirtschaftskreislaufs mit den Komponenten Entstehung, Verwendung und Verteilung (= historische Grundlage für das Konzept des Sozialproduktes). Dieses makroökonomische Modell wird durch Tauschakte zwischen den sozialen Klassen vollzogen, wobei die Klassen rein vom ökonomischen Standpunkt aus gesehen werden.
Ein Schüler Quesnays war Jacques Turgot (1727–1781), der von 1774 bis 1781 Generalkontrolleur der Finanzen und anschließend Finanzminister unter Ludwig XVI. war. Er konnte in seinen Funktionen einige Vorstellungen der Physiokraten in der Wirtschaftspolitik Frankreichs verwirklichen. Andere Ideen wie eine Steuerreform oder die Aufhebung der Zünfte scheiterten an dem Widerstand von Interessengruppen und führten schließlich zu Turgots Absetzung.
Die durch ihn durchgeführte Aufhebung von Festpreisen auf Grundnahrungsmittel verschlechterte die Situation in Frankreich erheblich.
Nach dem Tode Quesnays verlor der Physiokratismus an Einfluss. Einzelne seiner Lehren finden sich aber noch in der Steuerreform Josephs II. in Österreich oder später in Baden in der „Einsteuer“ wieder. Neu aufgenommen und mit anarchistischem und freiwirtschaftlichem Gedankengut verknüpft wurden die physiokratischen Ideen zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Besonders zu nennen sind hier Georg Blumenthal, Herausgeber der Zeitschrift Der Physiokrat, und Silvio Gesell, der Begründer der Freiwirtschaftslehre.
Wichtige Vertreter
Richard Cantillon (1680–1734)
François Quesnay (1694–1774)
Vincent de Gournay (1712–1759)
Victor Riquetti (1715–1789)
Mercier de La Rivière (1719–1801)
Pedro Rodríguez de Campomanes (1723–1802)
Paul Boësnier de l’Orme (1724–1793)
Pablo de Olavide (1725–1803)
Anne Robert Jacques Turgot (1727–1781)
Guillaume-François Le Trosne (1728–1780)
Nicolas Baudeau (1730–1792)
Johann August Schlettwein (1731–1802)
Pierre Samuel du Pont de Nemours (1739–1817)
Honoré Gabriel de Riqueti, comte de Mirabeau (1749–1791)
Ökonomische Klassen
Die Physiokraten unterscheiden vier ökonomische Klassen:
die Landwirtschaft, Bauern und Pächter, wurde zur einzig produktiven Klasse (classe productive) erklärt.
die Besitzlosen (classe passive),
die Handwerker, Händler (classe stérile) und
die Grundeigentümer (classe propriétaire).
Die fundamentale These lautet, dass einzig und allein die Landwirtschaft einen Mehrwert, einen Überschuss produziere (bei den Merkantilisten wurde der Reichtum auf den Handel zurückgeführt).
Eine konkrete Forderung an die Politik war daher der Rückzug des Staates aus den wirtschaftlichen Angelegenheiten, von Vincent de Gournay 1751 in die berühmten Worte Laissez-faire, laissez-passer, le monde va de lui-même! gefasst.
Wirtschaftspolitik
Die Physiokraten setzten gegen die merkantilistische Maxime, den Reichtum des absolutistischen Herrschers zu mehren, das Konzept der „natürlichen Ordnung“ (ordre naturel). Diese lasse sich mit Hilfe der Vernunft erkennen. Aufgabe der Regierung sei es, die tatsächliche politische Ordnung (ordre positif) an die natürliche Ordnung anzupassen und alle Gesetze abzuschaffen, die der natürlichen Ordnung widersprächen.
Konkrete Forderungen dazu waren:
Freihandel mit allen Staaten
Aufhebung von zu hohen Zöllen und Steuern
Abschaffung von staatlichen Monopolen und Handelsprivilegien
Abschaffung der unbezahlten Zwangsarbeit der Bauern
nur zwei Steuern, und zwar 1/3 auf die Reinerträge und 1/3 auf den Pachtzins der produktiven Klasse an die Klasse der Grundbesitzer
staatliche Garantie des Privateigentums
Auflösung der Zünfte und Gilden, damit Zugang zur Arbeit nach Eignung
Auf die Wirtschaftspolitik des absolutistischen Frankreich hatten die Physiokraten zwar keinen großen Einfluss, dafür aber auf die späteren Theorien von Adam Smith, der während eines Aufenthalts in Paris 1764–1766 Kontakt zu den Physiokraten hatte.
Da der Nationalökonom Johann August Schlettwein den Markgrafen Karl-Friedrich von diesem System überzeugt haben soll, wurde zwischen 1770 und 1801 in der Markgrafschaft Baden in drei Musterdörfern der weltweit einzig bekannte Versuch der Einführung dieser Wirtschaftstheorie unternommen, nämlich in Dietlingen, Bahlingen und Teningen.
In Dietlingen begann der Versuch 1770 und wurde nach einer Modifikation (1795) im Jahre 1801 definitiv abgebrochen. In Bahlingen und Teningen (am Kaiserstuhl) begann der Versuch, bei dem unter anderem dort die sogenannte Einsteuer () eingeführt wurde, im Jahre 1771, er wurde schon 1776 wieder beendet.
Für Karl Marx lag eine starke Ironie darin, dass die erste bürgerliche ökonomische Theorie im Gewand des Feudalismus auftrat: Die erste Bedingung des Kapitalismus, die Trennung von Arbeit und Kapital, wird als Naturgesetz dargestellt; aber der Kapitalist erscheint in der Gestalt des Grundbesitzers; der Kapitalist als ein unproduktiver Konsument. Diese Verwirrung war indes der Anlass, dass vor allem das Grundeigentum besteuert wurde. Damit war die Industrie steuerlich privilegiert, blieb von staatlichen Interventionen weitgehend frei und in erster Linie dem Wettbewerb überlassen. Der feudalistische Schein war demnach der Entwicklung des Kapitalismus durchaus förderlich.
Heutiger Gebrauch des Wortes
In der Diskussion um die Grenzen des Wirtschaftswachstums wird heute der Begriff „Physiokrat“ abwertend verwendet. Physiokraten wird der „Pessimismus“ eines Thomas Robert Malthus vorgeworfen, der vorwiegend für das Bevölkerungswachstum physikalische Grenzen sah. Heute werden Physiokraten kritisiert, weil sie nicht die Möglichkeiten sähen, dass qualitatives Wachstum und immaterielles Wachstum (z. B. durch eine Verlagerung des Wachstums vom industriellen Sektor in den Dienstleistungs- und Informationsbereich) die Grenzen eines physikalischen Wachstums in einer „gewichtslosen Welt“ überwinden könnten. In der Vergangenheit ging immaterielles Wachstum mit materiellem Wachstum einher, ersteres organisierte letzteres: Innerhalb kurzer Zeit vervielfachte sich dabei der Energieumsatz pro Kopf der menschlichen Bevölkerung um Größenordnungen in einer Weise, für die es kein geschichtliches Beispiel gibt. In der Moderne wird Landwirtschaft, der Ausgangspunkt der Physiokratie, aber zunehmend auch ein Element der Energiewirtschaft. Der Hoffnung auf immaterielles Wachstum stehen heute Entwicklungen gegenüber, die das Konzept der Physiokratie hervorgebracht hatten. Eine positive Bewertung der Physiokraten unter dem Aspekt der Erhaltung der Naturgrundlagen des Wirtschaftens gibt dagegen z. B. Immler (1985).
Literatur
Reinhard Bach: Rousseau und die Physiokraten. Politische Ideengeschichte im begrifflichen Wandel zwischen Aufklärung und Revolution. Böhlau Verlag Wien Köln Weimar 2018. ISBN 978-3-412-50019-1.
Hans Immler: Natur in der ökonomischen Theorie. Band 1/2: Teil 1: Vorklassik – Klassik – Marx. Teil 2: Naturherrschaft als ökonomische Theorie – Die Physiokraten. Westdeutscher Verlag, Opladen 1985, ISBN 3-531-11715-7.
Birger P. Priddat: Le concert universel. Die Physiokratie. Eine Transformationsphilosophie des 18. Jahrhunderts. Metropolis-Verlag, Marburg 2001, ISBN 3-89518-325-3.
Weblinks
The New Physiocratic League
Physiokratie und China
Fritz Helmedag; Urs Weber: Die Zig-Zag-Darstellung des Tableau Économique. Chemnitz Volkswirtschaftslehre, WISU 1/02 (PDF; 59 kB)
Susan Richter: Der Monarch am Pflug-Von der Erweiterung des Herrschaftsverhältnisses als erster Diener zum ersten Landwirt des Staates. Das achtzehnte Jahrhundert Jhrg. 34 Wallstein-Verlag, Wolfenbüttel (2010) S. 40–64 (PDF; 3,2 MB)
Darstellungen der Physiokraten (Auswahl)
Einzelnachweise
Staatstheorie und -praxis des Barock
Wirtschaftsgeschichte der Frühen Neuzeit
Überholte Theorie
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Q183244
| 98.432015 |
163725
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https://de.wikipedia.org/wiki/Tourismus
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Tourismus
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Der Tourismus (auch Touristik oder Fremdenverkehr) ist die temporäre Ortsveränderung durch Reisen von Personen in Destinationen, die sich außerhalb ihres üblichen Wohn- oder Arbeitsorts befinden. Die reisenden Personen werden Touristen genannt.
Etymologie und Abgrenzungen
Das Lehnwort Tourismus stammt aus „kreisförmige Bewegung, Spaziergang, Ausflug, Reise“ (), zum Verb für „drehen, umdrehen, wenden“ (), das wiederum aus „runden“ () entlehnt ist. Mit „runden, wenden“ ist die einer Reise immanente Rückkehr gemeint. Zunächst tauchte das Wort „Tourist“ auf, erstmals um 1800 im Englischen, 1816 im Französischen und um 1830 im Deutschen. Der Begriff „Tourismus“ erschien in Deutschland erstmals häufiger nach dem Zweiten Weltkrieg und ersetzte zunehmend den Begriff „Fremdenverkehr“. Die französischen Wörter tourisme und touriste wurden als offizielle Bezeichnungen erstmals vom Völkerbund verwendet, um Reisende zu beschreiben, die mehr als 24 Stunden im Ausland verbringen. Der Völkerbund hatte Französisch als Verkehrssprache.
Merkmale
Der Tourismus umfasst heute nicht nur grenzüberschreitende Reisen, sondern auch den Binnentourismus. Touristische Reisen dienen sowohl der Erholung und Entspannung (Erholungsurlaub) als auch der Bildung (Bildungsurlaub, Kulturtourismus) und Wellness. Darüber hinaus werden auch Dienst- und Geschäftsreisen von der Reisebranche als Tourismus angesehen, deren Zweck weitgehend zur Arbeitszeit zu zählen ist. Deshalb findet Tourismus nicht nur in der Freizeit (Urlaub) der Touristen statt. Auch die „United Nations Conference on International Travel and Tourism“ fasste 1963 für statistische Zwecke „Geschäft“ und „Konferenz“ zum Tourismus. Bedingung war ein mindestens 24 Stunden dauernder Aufenthalt in der Destination, unterhalb von 24 Stunden hießen die Reisen „Ausflug“. Beiden gemeinsam ist, dass die temporäre Reise mit einer Rückfahrt in das Herkunftsland enden muss. Die Vorgängerin der Eurostat (SAEG) setzte 1991 voraus, dass Tourismus eine vorübergehende Ortsveränderung außerhalb des gewöhnlichen Aufenthaltsortes zur Folge hat und dieser Aufenthalt nicht entlohnt wird.
Den Begriff Fremdenverkehr definierten 1942 die Schweizer Walter Hunziker und Kurt Krapf als die „Beziehungen und Erscheinungen, die sich aus der Reise und dem Aufenthalt Ortsfremder ergeben, sofern daraus keine dauernde Niederlassung entsteht und damit keine Erwerbstätigkeit verbunden ist“. Das Wort selbst dürfte auf Louise Otto-Peters zurückgehen, die in Recht der Frauen auf Erwerb (1866) den starken Fremdenverkehr in Dresden erwähnte. Der Wortbestandteil „fremd“ ist heute eher negativ konnotiert, weswegen überwiegend von Tourismus gesprochen wird, auch wenn er noch in Fremdenverkehrsamt, Fremdenverkehrsbeitrag, Fremdenverkehrsgemeinde und anderen Zusammensetzungen vorkommt.
Allgemeines
Zum Tourismus zählen mehrere Wirtschaftszweige, wie z. B. Personentransportunternehmen, Reisebüros, Hotellerie und Gastgewerbe oder Freizeitwirtschaft. Tourismus wird in verschiedene Kategorien untergeordnet, z. B. mit welchem Transportmittel man reist oder um welche Art von Reisen es sich handelt (Safari, Erholungsurlaub etc.).
Als wirtschaftliche Grundlage des Tourismus gelten im Wesentlichen die Kulturgüter und die Natur des Reiseortes. Aber selbst die gegenwärtige oder ehemalige Staatsform eines Landes können für den Tourismus entscheidend sein. So bringt zum Beispiel die Faszination der britischen Königsfamilie jedes Jahr Millionen von Touristen nach Großbritannien und damit der Volkswirtschaft jährlich rund 600 Millionen Euro. In Zentraleuropa ist die Familie Habsburg zu nennen. Nach Einschätzung dürfte die Marke Habsburg allein für Wien für Tourismus-Umsätze von 60 Mio. Euro im Jahr sorgen.
Die Branche zählt weltweit zu den größten Wirtschaftszweigen. 2004 wurden nach Angaben der Welttourismusorganisation in diesem Bereich Erlöse von etwa 623 Milliarden US-Dollar erzielt. Mit weltweit rund 100 Millionen Beschäftigten gilt der Tourismus als einer der bedeutendsten Arbeitgeber. Grenzüberschreitende Reisen machen 25 bis 30 Prozent des Welthandels in diesem Dienstleistungsbereich aus. Auswertungen und Trends zum Thema liefert die Tourismusstatistik. Etwa 8 Prozent der globalen Treibhausgasemissionen entfallen auf den globalen Tourismus.
Tourismus kann folgendermaßen definiert werden: Die in einem bestimmten Ort oder Gebiet durch den Zustrom von Zugereisten oder wenigstens nicht dort Ansässigen (Freizeitreisenden, Geschäftsreisenden, Verwandten- und Bekanntenbesuchern, Eigentümern bzw. Mietern von Wochenendhäusern und Zweitwohnungen) entstehende wirtschaftliche und gesellschaftliche Veränderung und die daraus dort und anderswo resultierende Industrie oder Tätigkeit. Aus beruflichen Gründen täglich in einen anderen Ort fahrende Unternehmer oder Arbeitskräfte (Pendler) werden hier nicht erfasst.
Das Bildungswesen bleibt bei diesen Definitionen weitgehend ausgeklammert. Befindet sich ein Student, der aus seinem Wohnort für zehn Monate in ein Studentenheim einer Universitätsstadt zieht, dort aus „geschäftlichen Motiven“? Wird diese Frage bejaht, so lassen seine 300 Nächtigungen in diesem Heim ohne Weiteres in die Tourismusergebnisse der Universitätsstadt aufnehmen. In der praktischen Anwendung der Definitionen bestehen in Europa unterschiedliche Vorgangsweisen, soweit eine amtliche Tourismusstatistik überhaupt geführt wird.
Für einen erweiterten Begriff von Tourismus- und Freizeitwirtschaft wird der nicht-touristische Freizeitkonsum der Ortsansässigen am Wohnort hinzugerechnet. Dieses volkswirtschaftliche Konzept erfordert nicht mehr, gleiches Verhalten (etwa Kinobesuch, Baden, Schifahren) in der Skalierung der jeweiligen Ortsansässigkeit (einer Stadt, einer Region, eines Staates) getrennt zu betrachten und mehrfach zu erheben. Damit zerfällt Tourismus- und Freizeitwirtschaftliche Rechnung in drei Bilanzen, Incoming (in eine Region Einreisende, von außen eingebrachte Dienstleistungen), Outgoing und Binnentourismus (Freizeit und Tourismuswirtschaft der Bewohner der Region). So lassen sich soziologisch-geographisch etwa typische Tourismusregionen (hohe Wertschöpfung, hoher Incoming Tourismus) oder „lebendige“ Regionen (hoher Binnenanteil) feststellen.
Segmente des Tourismus
Unter den Begriff Tourismus fallen unterschiedliche Reisearten und -formen. Diese lassen sich nach unterschiedlichen Kriterien klassifizieren, wobei sich demographische von verhaltensorientierten Kriterien unterscheiden lassen. Üblich sind Klassifikationen z. B. nach Motivation (z. B. Kultur- oder Bildungstourismus, Filmtourismus, naturnaher Tourismus, Sporttourismus etc.), Dauer, Organisationsform (Individual-/Veranstalterreisen), Teilnehmerzahl (Massen-/Exklusivtourismus), Zielort, Entfernung, Transportmittel, Ökobilanz (Sanfter Tourismus), Herkunft der Touristen (Ausländer-/Binnentourismus), Unterkunftsart, Alter, Familienstand und Reisezeit. Als „schwarzer Tourismus“ oder Thanatourismus werden Besichtigungen von Gedenkstätten oder historisch relevanten Tatorten, wie Auschwitz, Ground Zero und Verdun, bezeichnet. Das Phänomen findet besonders in der Tiefenpsychologie, Konfliktstudien und den Kulturwissenschaften Beachtung.
Darüber hinaus gibt es noch Bezeichnungen für Tourismus-Zwecke, die in der Presse und in der Umgangssprache zu finden sind, die aber in der Tourismus-Branche selbst und der Werbung meist keine Verwendung finden, so die Bezeichnungen Sextourismus, Sauftourismus (englisch: alcotourism), Ballermann-Tourismus, Party-Tourismus etc.
Je nach der Anzahl der zu einer bestimmten Destination reisenden Touristen unterscheidet man zwischen Individual- und Massentourismus. Je nach Reisedauer gibt es Tagesausflüge (1 Tag), Städtereisen (Kurzurlaubsreisen; 2 bis 4 Tage) oder Erholungsreisen (5 Tage und mehr). Eine Reise muss statistisch fünf Tage dauern, um in der Reisestatistik erfasst zu werden. Die durchschnittliche Reisedauer der Deutschen betrug 2019 12,3 Tage, wobei der Trend zu einer Verkürzung der Reisedauer führt.
Geschichte
Entwicklung des Reisens und der Urlaubsgestaltung
Waren es anfangs praktische Gründe wie die Suche nach Nahrungsplätzen oder Wasser oder die Flucht vor Naturkatastrophen, die Menschen zu Reisenden werden ließen, so änderten sich die Gründe nach ihrem Sesshaftwerden.
Schon im alten Ägypten und in anderen Hochkulturen auf allen Kontinenten gab (und gibt) es Fahrten bzw. Reisen aus religiösen Gründen: Wallfahrten zu den Tempeln der Gottheiten, so zum Beispiel die Hadsch genannten Pilger-Reisen frommer Muslime nach Mekka oder die Treffen von Hindus zum rituellen Bad im Ganges. Weitere Reiseanlässe waren der Fernhandel, Erkundungsfahrten über den „eigenen Horizont“ sowie die eigene Umgebung hinaus und die wirtschaftlichen und machtpolitischen Beziehungen zu Kolonien und anderen abhängigen Gebieten. Reiche Römer besaßen Güter in Provinzen des römischen Reiches, die sie von Zeit zu Zeit besuchten. Die „Nordmänner“ bereisten Grönland und Amerika, die Araber den gesamten Indischen Ozean. Nicht selten wurden damals Reisen von den „Bereisten“ als Aggression oder Krieg verstanden.
Europa erholte sich nach der Völkerwanderung (Reisemotiv: bessere Lebensbedingungen) nur langsam von seinem wirtschaftlichen und politischen Niedergang (während zum Beispiel in China und Japan stabile Verhältnisse herrschten). Bald entwickelte sich in Europa reger Wallfahrtstourismus. Entlang solcher Pilgerwege und an verkehrsgeografisch begünstigten Orten (Häfen, Kreuzungen von Handelsrouten) entstanden in allen Kontinenten Handelszentren, die wiederum Handelsreisende hervorbrachten. Seewege entwickelten sich zu Reisewegen, hier seien, was Europa betrifft, die Seerepublik Venedig sowie Portugal und Spanien als frühe Kolonialmächte erwähnt. Die „Serenissima“ hatte regelmäßige Schiffsverbindung mit Konstantinopel, Marco Polo reiste, soweit seinen Angaben glaubhaft sind, auf dem Landweg nach China.
Der moderne Tourismus kann auf die Grand Tour zurückgeführt werden, die eine traditionelle Reise durch Europa war. Im Jahre 1624 begann der junge Prinz von Polen, Ladislaus Sigismund Wasa, der älteste Sohn von Sigismund III., eine Reise durch ganz Europa. Er reiste durch Territorien Deutschlands, Belgiens, der Niederlande, wo er die Belagerung von Breda durch spanische Truppen bewunderte, Frankreich, Schweiz nach Italien, Österreich und Tschechien. Es war eine pädagogische Reise und eines der Ergebnisse war die Einführung der italienischen Oper in der Republik Polen-Litauen.
Christliche Pilger waren bis ins 19. Jahrhundert auf Kost und Logis in kirchlichen Herbergen angewiesen, da die meisten von ihnen arm waren. Selbstbestimmt zu reisen war in Europa bis in die 1950er Jahre dem kleinen Teil der Bevölkerung vorbehalten, der die teuren Reisen bezahlen konnte. Insbesondere Reisen zu Bildungszwecken waren lange Zeit Privileg des Adels, der seine Söhne auf Kavaliersreisen schickte, sowie später des gehobenen Bürgertums. Erholungsreisen waren unbekannt. Diese kamen in Europa erst im 19. Jahrhundert auf. Die rasche Ausbreitung des Schienennetzes und die Industrielle Revolution erleichterten das Reisen. Während Reisen vor der Industriellen Revolution meist einen bestimmten Zweck erfüllen sollten, wurde nun zunehmend das Reisen selbst zum Zweck.
Die Geschichte des Tourismus ist mit der Geschichte des Reisens größtenteils identisch. Allerdings gab und gibt es in der Entwicklung starke regionale Unterschiede. Der Alpinismus, der Ende des 18. Jahrhunderts auf dem europäischen Kontinent stärker einsetzte, brachte bescheidenen „Fremdenverkehr“ zunächst in der Schweiz, im 19. Jahrhundert in Österreich (am 28. Juli 1800: Erstbesteigung des Großglockners, dann 1856: Besuch von Kaiser Franz Joseph I. mit seiner Gattin Elisabeth der Franz-Josefs-Höhe), um die Wende zum 20. Jahrhundert in Küstenorten wie Binz, Heiligendamm, Heringsdorf, Nizza, Grado und Opatija. Es waren zumeist europäische Bergsteiger, die lohnende Ziele in anderen Kontinenten fanden: Berge, zu deren Besteigung die Einheimischen, wie zuvor in Europa, keinen Anlass sahen. Bädertourismus schied, von rituellen Waschungen abgesehen, in vielen anderen Kulturen aus religiösen Gründen aus.
Begründer des internationalen „Erlebnistourismus“ in Europa waren die Briten: Thomas Cook (1808–1892) gilt als der Erfinder der Pauschalreise. In den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts waren die oberen Gesellschaftsschichten des United Kingdom so wohlhabend, dass sie sich Reisen in weit entfernte, für den Tourismus noch kaum erschlossene Gebiete leisten konnten. Die militärische Macht des British Empire (mit Stützpunkten in allen Kontinenten) und die britische Flotte boten dazu die erwünschte Sicherheit. Das britische Beispiel wurde in Kontinentaleuropa bald nachgeahmt.
1891 startete der deutsche Geschäftsmann Albert Ballin von Hamburg aus ins Mittelmeer mit dem Schiff Augusta Victoria. Das weltweit erste Kreuzfahrtschiff war die 1901 gebaute Prinzessin Victoria Luise. Dies war der Beginn der Kreuzfahrtreisen.
Das Recht auf Urlaub (Urlaubsanspruch) ist in Europa und Nordamerika etwa seit 1880 bekannt, konnte aber, soweit es sich nicht um unbezahlten Urlaub handelte, sondern um freie Tage, in denen der Gehaltsanspruch weiter läuft, auf breiter Basis erst im 20. Jahrhundert durchgesetzt werden. Nach § 24 der Menschenrechtskonvention gibt es das Recht auf Erholung. Sogar die UdSSR hatte in einer ihrer letzten Verfassungen in Artikel 41 die Förderung des Tourismus ausdrücklich erwähnt.
Im deutschsprachigen Raum war im 20. Jahrhundert das organisierte Reisen des Kraft-durch-Freude-Programms des NS-Staates der erste Ansatz zum Massentourismus. Nach Kriegsbeginn wurden die KdF-Schiffe allerdings zu Lazarett-Schiffen umgenutzt.
Nach dem Zweiten Weltkrieg war es in Deutschland und Österreich zunächst schwierig, überhaupt zu reisen. Die Zonengrenzen der alliierten Besatzungszonen waren für die Mehrheit der Bevölkerung unpassierbar. Anfang der 1950er Jahre setzte in Westdeutschland und Österreich ein Anstieg der Reisetätigkeit aller Bevölkerungsschichten ein, auch weil infolge der technischen und sozialen Entwicklung die Freizeit deutlich zunahm.
In sehr großen Staaten wie den USA tritt vor allem Inlandstourismus auf, da Tausende Kilometer gereist werden kann, ohne das Land verlassen zu müssen. Deshalb besitzt die Mehrheit der US-Bürger keinen Reisepass, obwohl die Menschen teilweise überaus mobil sind. In den 1970er Jahren bremste die Ölkrise vorübergehend den Aufschwung. Dann aber führte der allgemeine wirtschaftliche Aufschwung in Europa zum neuen Phänomen des Massentourismus. In den anderen Kontinenten ist Tourismus meist nach wie vor nur für die höheren Gesellschaftsschichten finanzierbar. In vielen Ländern besitzt der Durchschnittsbürger kein Geld für touristische Reisen.
Gesellschaftliche Bedeutung
Der Anstieg des Tourismus kann in den bereisten Ländern und Regionen gravierende Folgen für die einheimische Bevölkerung, für Natur und Kultur haben. Für die Touristen wird dabei oft eine entsprechende Infrastruktur (Hotelanlagen, Straßen, Transportmöglichkeiten bis hin zu eigens gebauten Flughäfen) errichtet. Naturerhaltung, Kultur und traditionelle Strukturen können dabei zu kurz kommen. Andererseits kann die neugeschaffene Infrastruktur auch der einheimischen Bevölkerung zugutekommen.
Tourismus entsteht oft in abgelegenen bislang landwirtschaftlich genutzten Regionen. Der Kontakt zwischen Einheimischen und Touristen kann auf Seiten der einheimischen Bevölkerung zu geänderten Konsummustern und Werthaltungen führen.
Kulturelle Auswirkungen
Je stärker die Anpassung an die Erfordernisse der Tourismuswirtschaft erfolgt, desto eher werden lokale kulturelle Traditionen nur noch als Show und Inszenierung für die Touristen weitergeführt. Der Tourismus wird so zur Monokultur, dem sich ganze Landstriche aus Profitgründen unterordnen. Der Tourismus ist damit, wie die Unterhaltungsindustrie, Teil der ökonomischen Globalisierung, die in vielen Teilen der Welt bisher zu einer „Verwestlichung“ führt. Touristen reisen in als solche beworbene und wahrgenommene „exotische (Urlaubs-)Paradiese“ und tragen gerade dadurch mit dazu bei, dass die kulturellen Eigenheiten dieser Länder zurückgedrängt werden. Das „Fremde“ wird den Wünschen der Gäste und den Vorgaben der Reiseveranstalter angepasst und damit letztlich zur Kulisse.
Dies kann durchaus als Teufelskreis bezeichnet werden. Denn die Touristen wiederum spüren, dass die traditionelle Gastfreundschaft der Einheimischen vielerorts pragmatischem Geschäftssinn gewichen ist. Sie beklagen sich über „Touristenfallen“ und den Verlust der Ursprünglichkeit des Reiseziels.
Auswirkungen auf Umwelt und Natur
Beträchtlich sind die Schäden an Umwelt und Natur: Zu nennen ist zunächst die durch die Reisetätigkeit hervorgerufene Luftverschmutzung. Die Schwefeldioxid- und Kohlenmonoxid-Belastung kann in kleineren Tourismusorten wie Davos oder Grindelwald das sonst nur in Großstädten übliche Niveau erreichen und überschreitet bisweilen die in den USA zulässigen Grenzwerte. Kritisiert werden vor allem die Auswirkungen von Verkehrsmittel wie Auto und Flugzeug. Nach Untersuchungen des Tourismusexperten Martin Lohmann benutzen zur Anreise insgesamt 47 % das Auto, 37 % das Flugzeug, 9 % den Bus, 5 % die Bahn und 2 % das Fahrrad oder das Schiff. Zudem verursachte der Tourismus weltweit im Jahr 2013 ca. 4,5 Mrd. Tonnen klimaschädlicher Kohlenstoffdioxidemissionen (CO2), was ca. 8 % der weltweiten CO2-Emissionen entspricht. Die Emissionen wachsen dabei im Vergleich zur Weltwirtschaft überproportional stark.
Wasser und Boden sind lokalen Verschmutzungen etwa durch das Öl von Sportbooten oder Sonnenschutzmittel Badereisender ausgesetzt. Ein zunehmendes Problem stellt der von Touristen zurückgelassene Abfall dar. In Gebirgsgegenden etwa oder an Stränden kann dieser häufig nur mit ungleich höherem Aufwand entsorgt werden. Die allein in den österreichischen Alpen zurückgelassene Abfallmenge wird auf jährlich ca. 4.500 Tonnen geschätzt, die Abwassermenge auf 90.000 Kubikmeter. Am Mount Everest haben sich Schätzungen zufolge aufgrund der jährlich bis zu 40.000 Trekker 600 Tonnen Müll in freier Natur angesammelt.
Weiterhin führt Tourismus zum verstärkten Verbrauch natürlicher Ressourcen: So bringt etwa die Lebensweise westlicher Touristen in vielen Reiseländern mit den notwendigen Klimaanlagen, Swimmingpools und Golfanlagen einen problematischen Anstieg des Energie- und Wasserverbrauchs mit sich. Letzterer verursacht häufig ein Absinken des Grundwasserspiegels mit all seinen Konsequenzen für die örtliche Trinkwasserversorgung, die Bewässerung in der Landwirtschaft und die Verödung von Landstrichen.
Schließlich beeinträchtigt Tourismus vielfach bestehende Naturräume, Biotope und Ökosysteme, und damit die Lebensgrundlage für Tiere und Pflanzen. Teilweise ist dies auf die mit der Errichtung von Unterkünften und Ferienanlagen typischerweise verbundene Bodenversiegelung zurückzuführen. Zu nennen sind die durch Rodungen für Skipisten bedingte Erosion, die Ausbeutung der Wasserreserven für Schneekanonen, die Schädigung von Wasserbiotopen durch Segler, Surfer und Taucher, sowie die Störung der einheimischen Tierwelt etwa durch Mountainbiker, Langläufer und Tiefschneefahrer. Rodungen für Holz-Lodges in Nepal und deren Beheizung mit Brennholz haben in Nepal unabhängig vom Skitourismus zu Erosionsproblemen geführt. Anzumerken ist in diesem Zusammenhang schließlich die ästhetische Verunstaltung gewachsener Natur- und Kulturlandschaften durch touristische Infrastrukturen.
Nicht vergessen werden darf allerdings, dass die ökonomischen Interessen der mächtigen und finanzstarken Tourismuswirtschaft vielfach zum Schutz und Erhalt gefährdeter Naturräume beigetragen haben. Eine intakte und ästhetisch reizvolle Umwelt ist ein werbewirksames Angebot im Tourismus. So wurden etwa Feuchtgebiete auf Jamaika und kanadische Wälder ebenso aus touristischen Erwägungen erhalten und geschützt wie afrikanische Großwildbestände oder Bauernhäuser in der Toskana. In vielen Ländern hat die Natur erst durch den Tourismus einen materiellen Wert bekommen und konnte so geschützt werden. Der Tourismus hat vielerorts vom Niedergang bedrohte Wirtschaftszweige erhalten und – wie etwa in den Westalpen – der Entvölkerung ganzer Landstriche entgegengewirkt.
Auch in Zusammenhang mit der Corona-Pandemie wird ein positives Bild von Tourismus gezeichnet.
Fairer Handel im Tourismus
Mit seinen klaren Grundsätzen zur Förderung von benachteiligten Produzenten und Arbeitnehmern eröffnet der Faire Handel auch im Tourismus einen konkreten Weg für eine sozial gerechte und nachhaltige Entwicklung. Dazu hat der Arbeitskreis Tourismus und Entwicklung zusammen mit Partnern aus Süd und Nord Konzeptarbeit geleistet und anhand von Praxisbeispielen Grundlagen entwickelt, die den Aufbau des zukunftsweisenden Fairen Handels im Tourismus ermöglichen. Analog zum Fairen Handel bei Produkten hat der Faire Handel im Tourismus zum Ziel, die Lebensbedingungen von Tourismusangestellten und Kleinunternehmern zu verbessern, ihre Lebensgrundlagen zu sichern und ihnen eine würdige Existenz zu ermöglichen.
Zentral für den Fairen Handel im Tourismus ist ein gerechter Austausch zwischen allen beteiligten Akteuren. Dazu sind alle Akteure gefordert, auf ihrer jeweiligen Ebene fair zu handeln, Transparenz über ihre Aktivitäten zu schaffen und im vollen Respekt von Demokratie und Partizipation gleichberechtigte, partnerschaftliche Beziehungen aufzubauen und zu pflegen. Produkte des Fairen Handels sind in der Regel durch ein Label gekennzeichnet, das Konsumenten gegenüber die Einhaltung der Fairtrade-Kriterien deklariert. Unter der Vielzahl an Labels im Tourismus zertifiziert erst ein einziges, nämlich das Gütesiegel von Fair Trade in Tourism South Africa (FTTSA), Angebote wie Hotels und Ausflüge nach den Grundsätzen des Fairen Handels. Derzeit laufen auf internationaler Ebene erste Abklärungen, ob und wie im Rahmen des für die Fairtrade-Zertifizierung weltweit maßgeblichen Dachverbandes Fairtrade Labelling Organizations International (FLO) der Tourismus bewertet werden kann. Ziel der Entwicklung des Fairen Handels im Tourismus ist nicht, einfach eine neue Nische zu schaffen, sondern konkret den Weg zu weisen, wie die gesamte Tourismusbranche sozial gerechter wirtschaften kann. Die Herausforderung ist dabei, einen Tourismus zu realisieren, der umfassend – ökonomisch, ökologisch und sozial – nachhaltig ist oder zur nachhaltigen Entwicklung beiträgt und den Erwartungen der Reisenden nach einem attraktiven erholsamen Urlaub ebenso nachkommt wie denjenigen der Einheimischen am Reisezielort nach neuen Einkommen, dem Respekt ihrer Lebensgrundlagen und kulturellen Vielfalt sowie ihrer Würde.
Zukunft
Trends
Neue Tourismussparten
Gesundheitstourismus: Menschen verbinden Urlaub mit medizinischen Operationen, vor allem Zahn- und Schönheits-OPs. Wichtigste Zielländer sind Indien und Thailand, insgesamt sollen in diesem Bereich 2010 weltweit mehr als 100 Milliarden Dollar umgesetzt worden sein.
Weltraumtourismus: Plänen zufolge sollten schon 2016 die ersten Menschen mit dem SpaceShipTwo ins All reisen. Der Preis von 150.000 EUR wird weitaus günstiger sein als die bisherigen Flüge mit der Sojus-Kapsel für mehr als 20 Millionen EUR.
Internet
Im Buchungsverhalten der Gäste spielt das Internet eine große Rolle. Viele Gäste informieren sich auf Webseiten über Kommentare von ihresgleichen über den Urlaubsort und in Frage kommende Hotels, bevor sie buchen. Die Buchungen erfolgen oft sehr viel kurzfristiger als früher. Während gedruckte Reiseführer als Nachschlagewerke noch stark verbreitet sind (z. B. Baedeker, Marco Polo, Michelin und Varta), erfahren Webportale wie der freie Reiseführer Wikivoyage und Virtualtourist oder Austausch- und Bewertungsplattformen wie trivago, Opodo, Expedia, TripAdvisor und Holidaycheck zunehmende Verbreitung. Buchungsportale wie HRS, Booking.com, Hotel-ami, KAYAK, Unister, Travel24.com und hotel.de werden häufiger für Hotelbuchungen genutzt als klassische Reisebüros, welche jedoch für Gesamtpakete und personalisierte Angebote weiterhin Bedeutung haben. Auch Urlaubsaktivitäten und der Besuch von Sehenswürdigkeiten werden häufig über das Internet bestellt, beispielsweise über GetYourGuide.
Das Interesse an Destinationen im zeitlichen Verlauf kann anhand der Suchbegriffe bei Google grafisch dargestellt werden. Dabei wird deutlich, dass die Suche nach passenden Urlaubsregionen ab April ansteigt und im Sommer ihren Höhepunkt erreicht.
Aussichten
Prognosen über die Entwicklung des Tourismus begegnen erheblich größeren Schwierigkeiten als in anderen Wirtschaftszweigen. Zum Teil hängt dies damit zusammen, dass zentrale ökonomische Begriffe im Tourismusbereich oft weniger eindeutig definiert sind. Schwieriger zu fassen ist bereits das touristische Produkt: Nachgefragt werden von den Reisenden nämlich nicht nur materielle Leistungen wie Unterkünfte oder Transfers, sondern auch immaterielle „Attraktionen“ wie Sehenswürdigkeiten, reizvolle Landschaften, bestimmte Wetterverhältnisse, Urlaubsglück und Erholung, Stimmungen und Träume aller Art, die schwer herzustellen und zu erneuern sind und sich ökonomischer Bewertung zu entziehen scheinen.
Auch der touristische Konsum lässt sich nur schwer quantifizieren, werden doch viele von Touristen nachgefragte Waren und Dienstleistungen wie etwa Leistungen der Gastronomie und des Verkehrsbereichs auch von Einheimischen genutzt, ohne dass eine Abgrenzung möglich wäre. Auch fehlt es an zuverlässigen Methoden, den Kapitaleinsatz zu berechnen. Die Tourismuswissenschaft ist jedoch dabei, solche Methoden zu entwickeln.
Die Unschärfe der Begriffe erschwert auch die Erhebung einer verlässlichen Datenbasis. Als weitere Unwägbarkeit kommt hinzu, dass das Nachfrageverhalten der Touristen in weitaus stärkerem Maße von irrationalen, subjektiven Determinanten bestimmt wird als das anderer Marktteilnehmer. In die Entscheidung fließen oft diffuse, von Zeitströmungen, Modetrends und kulturellen Prägungen abhängige Erwartungen, Bedürfnisse und Motive ein, die schwer analysierbar sind und auch durch gezielte Produktwerbung nur in sehr begrenztem Maße manipuliert werden können. Schließlich ist das touristische Produkt weder transportier- noch lagerbar: Es muss am Ort seiner Entstehung zu einem bestimmten festgelegten Zeitpunkt konsumiert werden, der Reisende muss sich also termingerecht zum Produkt hinbegeben. Unvorhersehbare Störungen wie etwa Naturkatastrophen, Terrorismus, Bürgerkriege und Streiks wirken sich daher auf den Tourismus erheblich fataler aus als auf andere Branchen.
So führten z. B. die Proteste in Chile 2019 zu einem Rückgang bei den Hotelbuchungen.
Erstaunlicherweise „erholen“ sich Zielgebiete, die von Terroranschlägen und daraufhin von Gästerückgängen betroffen waren (wie Ägypten), mitunter relativ schnell. Gefahren für das gewünschte Urlaubserlebnis werden emotional offenbar sehr rasch ausgeblendet, auch wenn sie rational noch nicht vergessen sind.
All diese Probleme führen dazu, dass ökonomische Theorien nur sehr allgemeine und pauschale Aussagen zur Entwicklung der Tourismusbranche treffen können, wie etwa dass die Kosten der Raumüberwindung weiter abnehmen werden, eine stärkere Diversifizierung bei Angebot und Nachfrage zu beobachten sein werde und die Urlaubsreisen „in vielen Fällen durch mehr als ein Motiv bestimmt“ sind. Vereinzelte Versuche, durch mathematische Formeln und Modelle ein tatsächlich nicht vorhandenes Maß an Objektivität und Rationalität zu suggerieren, vermögen daran nichts zu ändern. Die Tourismuswissenschaft ist trotz aller Schwierigkeiten jedoch dabei, aussagekräftige Methoden der Marktforschung zu entwickeln.
Die Schwierigkeit bei der Erstellung verlässlicher Prognosen hat immer wieder zu Fehlinvestitionen geführt. Bekanntestes Beispiel ist der 1992 eröffnete Freizeitpark Disneyland Paris, der seinen Betreibern allein in den ersten beiden Jahren fast eine Milliarde Euro Verlust eingebracht hat. Aber auch großangelegte Ferienanlagen an der Costa del Sol und in den Westalpen sowie der verstärkte Ausbau der Hotelkapazitäten in westdeutschen Großstädten in den 1970er Jahren haben sich als Fehlinvestitionen erwiesen. Künstliche Inseln in Arabien, die riesige Hotelanlagen umfassen, werden sich ebenfalls nicht kurzfristig rentieren.
Zu den wichtigsten bestimmenden Zukunftsfaktoren des Ferntourismus zählen, wie die Entwicklung seit Herbst 2008 zeigt, zweifellos die weltwirtschaftliche Konjunkturentwicklung und der Erdölpreis. Die 2009 voll realisierte Wirtschaftskrise hat die Tourismusnachfrage beträchtlich gedämpft. Das erwartete Steigen des Kerosinpreises wird die Erhöhung der Flugpreise unvermeidlich machen und die Nachfrage ebenfalls dämpfen. Experten (etwa bei der Ludwig-Bölkow-Systemtechnik GmbH, einer Gründung des einstigen Flugpioniers Ludwig Bölkow, oder bei der Deutschen Bank) rechnen damit, dass sich schon auf mittlere Sicht der Tourismus stärker auf den nationalen und regionalen Nahbereich konzentrieren wird. Im Flugverkehr ist mit einer Konsolidierungsphase zu rechnen, in der die Anzahl der Fluganbieter sinken wird.
Galt speziell Europa traditionell als sicherste Urlaubsregion, wachsen vor allem angesichts von islamistischen Terroranschlägen die Bedenken, insbesondere bei Gästen aus dem ostasiatischen Raum, die zu den am stärksten nachfragenden Touristengruppen gehören.
Probleme
Der amerikanische Futurologe Herman Kahn erstellte 1979 in The Futurist eine Prognose für den Tourismus bis 2029. Darin rechnete er weiterhin mit überdurchschnittlichen Wachstumsraten und stabilen gesellschaftspolitischen und nationalökonomischen Voraussetzungen. Was damals fehlte, waren nicht quantifizierbare und vor allem unberechenbare menschliche Faktoren.
Erste Kritik kam Anfang der 1970er Jahre angesichts der Massentourismus in Ländern wie Spanien auf: 1973 hatte das Land ebenso viele Urlauber wie Einwohner.
Schon in den 1980er Jahren erkannte Mohamed A. Tangi vom United Nations Environment Program, was für ein verträgliches Neben- und Miteinander von Gästen und Einheimischen notwendig sein wird:
Die Unterbringung von Touristen soll nicht länger auf Hotels beschränkt werden, das werde zu Freundschaften zwischen Gästen und der örtlichen Bevölkerung führen.
Der Tourismus soll sich von den überfüllten Küstenregionen weg in Gegenden hin entwickeln, die dünn besiedelt sind.
In allen Tourismusregionen müssen Naturreservate geschaffen werden.
Es sollen sowohl auf seiten der Gastgeber wie der Gäste besondere Vermittler ausgebildet werden, die nach Kenntnissen und Charakter geeignet sind, wechselseitiges Verständnis zu wecken.
Es muss ein Tourismuskodex entwickelt werden, den beide Seiten anerkennen.
Bei allen am Meer gelegenen Orten müssen Höchstraten für den Touristenstrom festgesetzt werden, etwa ein Maximum von 600 Menschen pro Hektar Strand.
Bislang wurde im Grunde kein einziger Punkt realisiert, wenn von Ansätzen zur Schaffung von Naturreservaten abgesehen wird. Das bedeutet, dass die Zukunftsprobleme für den Tourismus in diesen Ansätzen zu finden sind. Einer Reihe von Empfehlungen, die eine nachhaltige Entwicklung im Tourismus und die Beziehung zwischen Tourismus und Raumordnung verbessern sollten, wurden bei einem Seminar (CEMAT) des Europarats in Palma (Spanien) im Mai 1999 erarbeitet. In anderen Kontinenten werden das Geschäft einschränkende Bedenken, wie sie in Europa diskutiert werden, von den lokalen Oligarchien zumeist kaum beachtet.
Wirtschaftliche Bedeutung
Weltweit
Der Tourismus zählt weltweit zu den größten Wirtschaftszweigen. 2011 erzielte er nach Angaben der Welttourismusorganisation einen Gesamtumsatz von etwa 1030 Milliarden US-Dollar. Er absorbierte 2004 11 % der Konsumausgaben der westlichen Industriestaaten. Mit weltweit rund 100 Millionen Beschäftigten ist er eine große Branche. Grenzüberschreitende Reisen machen 25 bis 30 % des Welthandels im Dienstleistungsbereich aus. Höhere Umsätze werden allenfalls noch in der Auto- und der Mineralölindustrie erzielt. Für viele Regionen ist der Tourismus zur wichtigsten Beschäftigungsgrundlage geworden.
Gleichwohl sind die Einnahmen höchst ungleich verteilt, werden doch 50 % davon in nur sieben Ländern (Vereinigte Staaten, Vereinigtes Königreich, Frankreich, Italien, Spanien, Deutschland, Österreich) erzielt. Insbesondere die USA konnten von 2008 bis 2017 ihre Einnahmen auf 203,7 Milliarden CHF verdoppeln und nahmen fast 15 % aller weltweiten touristischen Exporteinnahmen ein. Dagegen gaben die Chinesen (inklusive Hongkong und Macao) im selben Zeitraum ungefähr neunmal so viel Geld durch Reisen ins Ausland aus. Nachfolgend die weltweit wichtigsten Staaten im grenzüberschreitenden Tourismus im Jahr 2017:
Die wirtschaftlichen Wirkungen des Tourismus können in direkte, indirekte und induzierte Wirkungen unterteilt werden. Die direkten Wirkungen entstehen dort, wo touristische Ausgaben getätigt werden (also zum Beispiel in der Hotellerie oder Gastronomie). Die indirekten Wirkungen entstehen durch Vorleistungen (also zum Beispiel Bau von touristischer Infrastruktur, Lebensmittel für die Gastronomie). Die induzierten Wirkungen entstehen durch das Ausgeben der Einnahmen, die durch die direkten und indirekten Effekte geschaffen wurden.
Für nationale Volkswirtschaften ist auch von Bedeutung, inwiefern die Einnahmen aus dem Tourismus in dem jeweiligen Land verbleiben. Durch den Import von Gütern für den touristischen Konsum (zum Beispiel Lebensmittel) oder durch Tätigkeiten von ausländischen Unternehmen entstehen Gewinnabflüsse ins Ausland (sog. Sickerrate oder Leakages).
Beschäftigung. Die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) geht davon aus, dass eine Stelle im touristischen Kerngeschäft, anderthalb weitere Stellen schafft. Damit schafft die Tourismusindustrie (direkt und indirekt) über 230 Millionen Stellen. Dies stellt etwa 8 % der weltweiten Arbeitskraft dar. Zwischen 60 % und 70 % der Arbeitskräfte sind Frauen und mehr als die Hälfte sind unter 25 Jahre alt. Nach einer Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) sichern 15 deutsche Touristen je einen Arbeitsplatz in ihren Reiseländern.
Auch wenn es Rationalisierungsbestrebungen gibt, bleibt der Tourismus ein arbeitsintensiver Sektor, der vor allem in Entwicklungsländern wertvolle Beschäftigungsmöglichkeiten für Niedrigqualifizierte mit sich bringt.
Die Entwicklung des Tourismus erfolgt über die wirtschaftliche Entwicklung, den Umweltschutz und die Wahrung der Identität der lokalen Bevölkerung. Eine enge Verbindung lässt sich auch zwischen der Entwicklung des Tourismus und der Entwicklung des kulturellen Erbes herstellen: Der Tourismus schafft nicht nur Einkommen und Beschäftigung, sondern trägt auch zur Entwicklung einer lokalen und regionalen Identität bei. Der Tourismus bietet Beschäftigung und Einkommen für Personen, die in entwicklungsschwachen Regionen leben.
Tourismusländer
Die im grenzüberschreitenden Reiseverkehr meistbesuchten Länder sind laut einer Studie der Welttourismusorganisation (Ankünfte von Übernachtungsgästen pro Jahr):
Der Tagestourismus (Reisen ohne Übernachtung am Zielort) ist in diesen Zahlen ebenso wenig berücksichtigt wie der Binnenreiseverkehr innerhalb des jeweiligen Landes. Dieser ist für viele Länder (darunter Deutschland) bedeutender als der internationale Reiseverkehr.
Deutschland
Deutsche Touristen
2010 unternahmen Deutsche 63,3 Millionen Urlaubsreisen (Zweck: Erholung; Mindestdauer: fünf Übernachtungen), von denen 33 % ins Inland führten. Dabei buchten sie 1,4 Milliarden Übernachtungen und gaben 120 Milliarden Euro aus. Im Ausland beliefen sich die Ausgaben deutscher Touristen im Jahr 2010 auf 59 Milliarden Euro.
48,7 Millionen Deutsche über 14 Jahre haben an mindestens einer Urlaubsreise teilgenommen, was einer Reiseintensität von 75,1 % entspricht. Das beliebteste Reiseziel hierbei war Deutschland selbst mit 33,0 %, wovon anteilmäßig 6 Prozent allein auf Mecklenburg-Vorpommern und 5,9 Prozentpunkte auf Bayern entfielen. Es folgten Spanien mit 13,0 %, Italien mit 7,7 %, die Türkei mit 7,0 % und Österreich mit 5,2 %.
Die Tourismusanalyse der Stiftung für Zukunftsfragen – eine Initiative von British American Tobacco zeigt, dass auch 2021 mit 55,5 % noch immer Deutschland selbst das beliebteste Reiseziel ist. Auch die Urlaubsregionen Bayern und Mecklenburg-Vorpommern sind mit jeweils 9,2 % und 7,8 % beliebt wie eh und je. Innerhalb Europas haben Spanien (7,5 %) und Italien (7,2 %) die Gunst der Deutschen. Die Türkei (3,3 %) hat dagegen aufgrund von Terroranschlägen und politischen Unruhen an Zuspruch verloren und rangiert mit Österreich (3,3 %) jetzt gleichauf. Auch Kroatien (2,5 %) konnte in diesem Jahr im Zeitvergleich deutlich weniger Touristen anlocken. Skandinavien (3,7 %) wird dafür für deutsche Touristen immer attraktiver und auch Griechenland (3,8 %) befindet sich unter den Top-10-Reisezielen.
Reiseweltmeister. Lange wurden die Deutschen als Reiseweltmeister bezeichnet, weil sie mehr Geld für Reisen ausgaben als alle andere Nationen. Dieser Titel wird ihnen in letzter Zeit allerdings von den Chinesen streitig gemacht.
Reisekriterien. Ein gutes und faires Preis-Leistungs-Verhältnis ist dabei für mehr als drei Viertel aller Deutschen eine Grundvoraussetzung. Sonne, gesundes Klima und schöne Natur sind zudem deutlich wichtiger als materielle Qualitätsmerkmale wie etwa abwechslungsreiche Abendunterhaltung, gute Einkaufsmöglichkeiten, Wellness-, Aktiv- oder Kulturangebote. Deutsche Urlauber schätzen bei ihren Reisen gemütliche Atmosphäre, Gastfreundschaft und Harmonie mit den Reisepartnern.
Altersgruppen. Ruheständler und Jungsenioren werden dabei für die Tourismusbranche immer wichtiger. Verreisten 2004 nur 44 Prozent aller Ruheständler, sind es 2014 bereits fast 50 Prozent. Die ältere Generation ist damit genauso reiselustig wie junge Erwachsene im Alter zwischen 18 und 24 Jahren und sogar öfter als Singles im mittleren Alter. Darüber hinaus steigt auch die Anzahl der aktiven Jungsenioren zwischen 50 und 64. In dieser Zielgruppe gibt es mittlerweile mehr Reisende als bei den Familien.
Reiseart. Bei 48 % der Reisen erfolgte die An- und Rückreise mit dem PKW, bei 36 % mit dem Flugzeug, bei 8 % mit dem Bus und bei 5 % mit der Eisenbahn. Hauptreiseländer mit dem PKW sind Dänemark, Italien, Kroatien, Österreich, die Schweiz und Ungarn. Die Reisedauer betrug durchschnittlich 12,3 Tage, die Kosten 861 Euro pro Person.
Tourismus in Deutschland
In Deutschland erzielte der Fremdenverkehr 2012 mit 2,8 Millionen direkt Beschäftigten einen Umsatz von 140 Milliarden Euro. 125,3 Millionen Gäste (101,5 Mio. aus dem Inland, 23,5 Mio. aus dem Ausland) tätigten 351,4 Mio. Übernachtungen (davon 298,5 Mio. durch Inländer und 52,9 Mio. durch Ausländer) in 54.166 Unterkünften mit etwa 2,6 Mio. Betten.
Das wichtigste Herkunftsland ist Deutschland (113.139.484 Ankünfte 2010). Aus dem Ausland ergibt sich folgende Reihenfolge:
4.000 der 12.431 Gemeinden Deutschlands sind in Tourismusverbänden organisiert, 310 davon sind als Heilbäder oder Kurorte anerkannt.
Österreich
2007 wurden in Österreich 31,1 Millionen Gäste und 121,4 Millionen Nächtigungen (im Vergleich zu 2006: gesamt: +1,6 %, davon: Ausländer +1,3 %, Inländer +2,7 %) registriert. Acht der zwölf nächtigungsstärksten Quellmärkte wiesen 2007 ein Plus auf (in Klammern der Anteil an den Gesamtnächtigungen in Österreich):
Deutschland (39,7 %): −1,4 %
Österreich (27,2 %): +2,7 %
Niederlande (7,5 %): +3,6 %
Vereinigtes Königreich (3,2 %): +3,8 %
Schweiz (3,0 %): +3,4 %
Italien (2,5 %): −3,1 %
Belgien (2,1 %): +2,9 %
Frankreich (1,4 %): −3,0 %
Ungarn (1,2 %): +7,9 %
Vereinigte Staaten (1,2 %): −2,6 %
Dänemark (1,2 %): +10,3 %
Tschechien (1,1 %): +12,5 %
2007 entfielen die Übernachtungen vor allem auf die Bundesländer Tirol (41,8 Millionen), Salzburg (23,4 Millionen), Kärnten (12,8 Millionen), Steiermark (10,0 Millionen) und Wien (9,7 Millionen). Die Österreicher bevorzugten als Reiseziele im Inland die Bundesländer Steiermark (6,4 Millionen), Salzburg (5,5 Millionen) und Kärnten (4,7 Millionen). Die durchschnittliche Aufenthaltsdauer lag für ausländische Gäste bei 4,3, für Inländer bei 3,2 Nächtigungen pro Ankunft.
Schweiz
Besonders in den wirtschaftlich schwachen Bergregionen der Schweiz ist der Tourismus ein bedeutender Wirtschaftsfaktor. In Graubünden und im Wallis beträgt der Anteil am Bruttoinlandprodukt (BIP) bis zu 30 Prozent, schweizweit waren es im Jahr 2015 2,6 Prozent und etwa 200.000 Beschäftigte. 2016 schrieben 65,4 % aller Gastbetriebe Verlust; und auch die Tourismusbilanz war erstmals seit langem negativ mit 300 Mio. Schweizerfranken, nachdem sie 2011 noch einen Gewinn von über 3 Mia ausgewiesen hatte.
Die beliebtesten Ferienregionen sind Graubünden, das Wallis, die Berner Alpen und das Tessin. Daneben verzeichnen auch Städte wie Luzern, Zürich, Genf und Lausanne viele Besucher, wozu oft auch Geschäftsreisende und Kulturliebhaber gehören.
2011 zählte die Schweiz zählte 35.486.256 Logiernächte in der Hotellerie, dies ist im Vergleich zu 2010 ein Rückgang von 2,0 %. 1990 wurde mit 37,5 Millionen Logiernächten ein Rekordwert erreicht. Von 2007 bis 2016 haben die Destinationen Basel, Zürich, Waadt und Berner Oberland zugelegt, alle andern Regionen haben Gäste verloren. Die Logiernächte verteilten sich in den Jahren 2014 und 2017 wie folgt:
Das wichtigste Herkunftsland war die Schweiz selbst mit 16.920.000 Logiernächten im Jahr 2017, das entspricht einer Zunahme von 4,2 % gegenüber 2016 und einem Plus von 8,7 % gegenüber 2007. Bei den ausländischen Gästen haben in den letzten zehn Jahren alle westeuropäischen Länder und Japan deutlich abgenommen. Mehr Gäste kamen dagegen aus China, den Golfstaaten, Korea, Indien und auch aus den USA. Die nachfragestärksten Nationen waren folgende (Ankünfte 2013 – Logiernächte 2017):
Die durchschnittliche Aufenthaltsdauer in Hotels lag 2011 für ausländische Gäste bei 2,3 Nächten, für Inländer bei 2,0.
Der Tourismus in der Schweiz war seit Jahren rückläufig – insbesondere aus dem westeuropäischen Raum –, obwohl er mit staatlichen Geldern unterstützt wurde. So kritisierte der Hotelunternehmer und ehemalige Politiker Peter Bodenmann aus Brig verfehlte Werbestrategien und mangelndes Unternehmertum der Tourismusverantwortlichen. Die Aufhebung des Euro-Mindestkurses in der Schweiz im Januar 2015 hatte die negative Entwicklung noch verschärft. Politische Probleme waren auch der nicht realisierte Freihandel und der damit verbundene fehlende Wettbewerb.
Südtirol
2010 wurden in Südtirol ca. 5,7 Millionen Gäste und 28 Millionen Nächtigungen (bei ca. 500.000 Einwohnern) gezählt.
Weitere europäische Länder
Über den Tourismus in anderen europäischen Ländern geben entsprechende Länderartikel nähere Auskunft:
Tourismusstatistiken
Die amtlichen Tourismusstatistiken dienen dazu, die Entwicklung des Tourismus zu beobachten und darüber alle Interessierten aktuell und objektiv zu informieren. Diese Statistiken werden nach den Vorschriften und Usancen des jeweiligen Staates erstellt und können daher von sehr unterschiedlicher Qualität sein.
So werden zum Beispiel in Deutschland, Österreich und der Schweiz auf Grund gesetzlicher oder verordnungsmäßiger Verpflichtung der Beherbergungsbetriebe von diesen monatlich die Summen der Ankünfte und Nächtigungen von Gästen (nach Herkunftsländern der Gäste gegliedert) gemeldet. Außerdem wird der Bestand an Beherbergungsbetrieben sowie deren Zimmer- und Bettenanzahl erhoben.
In Großbritannien und Irland, wo (auch für Einheimische) keine der mitteleuropäischen Rechtslage entsprechende Verpflichtung, seinen Wohnsitz oder vorübergehenden Aufenthalt zu melden, besteht, entstehen die Tourismusresultate aus Zählungen ankommender Gäste auf Flughäfen und in Häfen und aus Stichprobenerhebungen in der Hotellerie. In den Zahlen können daher hier auch Besuche bei Freunden und Verwandten (VFRs – Visits of Friends and Relatives) inkludiert sein, die in Deutschland nicht erhoben werden.
Bei internationalen Vergleichen für Regionen und Städte ist außerdem das Gebiet zu berücksichtigen, für das die Zahlen publiziert werden. Bei internationalen Vergleichen der Beherbergungskapazität ist zu berücksichtigen, was im jeweiligen Staat unter einem Beherbergungsbetrieb oder unter gewerblicher Beherbergung (im Unterschied zu Privatzimmern) verstanden wird.
In Deutschland werden zwei zentrale Statistiken erstellt:
Die Monatserhebung im Tourismus berichtet über das Beherbergungsgewerbe in Deutschland, also über die Anbieterseite. Die Beherbergungsbetriebe liefern Angaben über die Zahl der Ankünfte und Übernachtungen von Gästen, wobei bei Gästen mit ständigem Wohnsitz im Ausland noch nach Herkunftsländern unterschieden wird. Ergänzt werden diese Daten um Angaben zu den Kapazitäten in Form der angebotenen Betten und bei Campingplätzen der angebotenen Stellplätze.
Bei der Statistik über die touristische Nachfrage werden Deutsche nach ihrem Reiseverhalten befragt. Damit liefert diese Erhebung Angaben über die Nachfrager touristischer Leistungen. In telefonischen Interviews werden vierteljährlich bis zu 2500 Reisende nach Reiseziel, Zahl der Übernachtungen und Reiseausgaben gefragt.
Tourismusvermarktung
Klassischerweise begann das Tourismusmarketing mit dem örtlichen „Fremdenverkehrsbüro“ (später „Tourist Info“), die sich aus „Ortsverschönerungsvereinen“ oder Interessengemeinschaften (Hoteliers, Bergführerverbände) schon um die Jahrhundertwende und besonders in den 1920ern entwickelten, in der Wiederaufbauzeit Europas und Internationalisierung des Reisens als Besucherlenkung, sowie seit den 1960ern als Werbung in den klassischen Medien.
In jüngeren Jahren wird die Tourismusvermarktung auch zunehmend Anliegen der staatlichen Wirtschaftsförderung und ist eng mit Raumordnung und Standortvermarktung verbunden. Die meisten Staaten haben eigene Dienststellen für Angelegenheiten des Tourismus, und vermarkten ihren Landesnamen als Marke und Destination selbst.
Das wichtigste Kommunikationsmedium mit potentiellen oder tatsächlichen Gästen sind die entsprechenden Webportale der Institutionen, der Tourismusbetriebe und der Dachverbände. Neben Information über den Ort und die Region und über aktuelle Umstände (etwa Wetter, Schneelage, Badeseetemperatur, Veranstaltungen und ähnliches) wird auf diesen Websites oft auch die Möglichkeit geboten, Angebote online zu buchen. Vermarkter besitzen bei Bedarf, um bei Buchungen alle Gästewünsche erfüllen zu können, einen gewerblichen Reisebürobetrieb.
Informationen über Vermarktungsstrukturen und -aktionen finden sich oft auf den B2B-Webseiten der Organisationen, die die Tourismusvermarktung betreiben.
Strukturen und Organisation
International
Association Internationale d’Experts Scientifiques du Tourisme (AIEST)
Alliance Internationale de Tourisme (AIT)
Bureau International du Tourisme Social (BITS)
Fédération mondiale du thérmalisme (FEMTEC)
Federation of International Youth Travel Organizations (FIYTO)
International Congress and Convention Association (ICCA)
International Association of Professional Congress Organizers (IAPCO)
International Civil Aviation Organization (ICAO)
Universal Federation of Travel Agents Associations (UFTAA)
World Tourism Organisation (UNWTO)
Europa
European Travel Commission (ETC)
European Cities’ Marketing (ECM)
National
Offizielle Tourismuswerbeorganisationen werden neuerdings in der Branche als Destinationsmarketingorganisationen oder Destinationsmanagementorganisationen (DMO) bezeichnet.
Jost Krippendorf definiert:
Paul Bernecker erkannte, dass der Tourismus durch seine starke wirtschaftliche Verflechtung mit großteils kapitalintensiver Struktur angesichts der immer kürzer werdenden Amortisationsfristen zur Steuerung seiner wirtschaftlichen Umwelt gezwungen wird. Das geschieht am ehesten mit Vermarktungsmethoden und -instrumenten.
Destinationsmarketingorganisationen auf nationaler Ebene sind
Deutsche Zentrale für Tourismus (DZT).
Österreich Werbung mit der Marke Urlaub in Österreich als zentrales Portal und Anlaufstelle.
Atout France (vormals Maison de la France) in Frankreich Siehe auch: Fédération nationale des offices de tourisme et syndicats d’initiatives
Visit Britain im Vereinigten Königreich.
ENIT (Ente Nazionale Italiana del Turismo) in Italien.
Schweiz Tourismus
In der Schweiz gibt es neben Schweiz Tourismus als Interessenvertretung des Tourismus auf politischer und wirtschaftlicher Ebene den Schweizer Tourismus-Verband (STV), der Lobbying betreibt. Zudem bringt die Basler Fachorganisation Arbeitskreis Tourismus und Entwicklung auf dem Reiseportal „Fair unterwegs“ die aktuellen Zahlen und Fakten aus entwicklungspolitischer Sicht zur wirtschaftlichen Bedeutung des Tourismus.
Daneben gibt es nationale Interessenvertretungen wie als Dachverband der Deutschen Tourismuswirtschaft den Bundesverband der deutschen Tourismuswirtschaft (Bundesverband der Deutschen Tourismuswirtschaft – BTW) die Organisationen der Reiseveranstalter (zum Beispiel United States Tour Operators Association – USTOA), der Reisebüros (zum Beispiel Deutscher Reisebüroverband – DRV), der Reisevermittler, der Hoteliers (zum Beispiel Österreichische Hoteliervereinigung – ÖHV), Autobusunternehmer (zum Beispiel Ring deutscher Autobusunternehmer – RDA), der Guides, der Hotelportiere (Les Clefs d’Or), der Seilbahnunternehmer, der Restaurants und der Unterhaltungsbetriebe.
National koordiniert sind auch die gesetzlichen Regelungen (spezielle Tourismusgesetze und anderes Wirtschafts-, Handels- sowie einschlägiges Gewerberecht, Verkehrsrecht und Arbeitsrecht), die Tourismuspolitik, die Belange der öffentlichen Verwaltung (etwa in Ministerien mit Kompetenzen für Tourismus, in manchen Staaten auch explizite Tourismusministerien) sowie die Tourismusförderung.
Regional und lokal
Auf regionaler und lokaler Ebene sind oft Tourismusverbände (TV, früher „Fremdenverkehrsverbände“, FFV) der Gemeinden und Regionen Interessensvertretungen und Vermarktungsorganisationen; sie betreiben im Allgemeinen die meist Tourist-Information genannten Informations- und Auskunftsstellen für Gäste am Reiseziel. Die jeweilige Institution koordiniert Angebot, Nachfrage, Zeit- und Werbepläne sowie Vermarktung des Angebots und fasst oft alle beteiligten Interessensgruppen zusammen. Vielerorts fungieren Abteilungen von Stadt- und Regionsverwaltungen als Tourismusbüro (DMO, Destination Marketing Organization), zunehmend werden diese als öffentliches Unternehmen geführt. In den USA fungieren Convention and Visitor Bureaus (CVB) in diesem Sinn. In Europa heißen solche Organisationen meist auf Englisch Tourist Board.
Vereine und Verbände beruhen oft auf rechtlicher Basis (Tourismusgesetzgebung, Raumordnung, amtliche Statistik), die teils auch die Rechtsform (öffentlich-rechtlich, privatrechtlich nach dem Vereinsgesetz, privatrechtlich nach dem GesmbH-Gesetz) festlegen können. Die jeweilige Institution vertritt eine Tourismusgemeinde oder eine Tourismusregion. Diese beruht auf freiwilliger oder von staatlicher Seite durch die Steuerung von Finanzierungsquellen erwirkter Zusammenarbeit mehrerer benachbarter Gemeinden.
Daneben gibt es auch andere touristisch orientierte private Gesellschaften und Vereine (zum Beispiel Dachverbände der Tourismusakteure, Berufsverbände der Gästeführer, Verschönerungsvereine, regionale Hoteliervereine, Direktvermarktungskooperativen).
Tourismusmessen
Bedeutende internationale Fachmessen für Tourismus.
Internationale Tourismus-Börse (ITB) in Berlin, Deutschland, die weltweite Leitmesse im Tourismus.
imex: auf der Frankfurter Messe in Frankfurt am Main, für die MICE-Industrie mit 3.000 ausstellenden Unternehmen aus 140 Ländern, nationale und internationale Tourismusbüros, Hotelgruppen, Airlines, DMCs, Dienstleister, Branchenverbände und mehr. Über 3.000 Hosted Buyers aus mehr als 50 Ländern bilden einen Anteil an den insgesamt 7.000 Besuchern (2005). Vor allem Kongressveranstaltungen in Hotels werden vermittelt. Ein weiterer Schwerpunkt sind Incentive-Reisen.
Caravan, Motor und Touristik: Bei der Stuttgarter Urlaubsmesse mit den Schwerpunkten Caravaning, Camping, Motor, und Tourismus präsentieren sich jährlich die Anbieter aus den Bereichen nationale und internationale „Fremdenverkehrsverwaltungen, -ämter, -verbände“, Bäder- und Kurverwaltungen, Reiseveranstalter, Reisebüros, Freizeiteinrichtungen, Unterbringung und Unterkunft, sowie die touristische Fachliteratur und Presse.
Salon International du Tourisme et des Voyages (SITV) in Colmar, Frankreich
Vakantiebeurs in Utrecht, Niederlande
World Travel Market (WTM) in London, Großbritannien
Ferien-Messe in Wien, Österreich
Borsa del Turismo Italiano (BIT) in Mailand, Italien
FITUR in Madrid, Spanien
Je intensiver eine DMO die von ihr definierten Quellmärkte ihres Gästeaufkommens direkt bearbeitet, umso weniger ist sie auf Messekontakte angewiesen. Für viele DMOs sind touristische Fachmessen allerdings trotz Internet eine kostengünstige Methode zur Kontaktaufnahme und -pflege mit (potentiellen) Geschäftspartnern im Ausland.
Tourismusberufe und Ausbildung
Tourismus kann in Deutschland meist als Schwerpunkt innerhalb der BWL, im Rahmen der Geographie oder als eigener Studiengang Tourismus/Touristik bzw. Tourismusmanagement oder Tourismus-BWL studiert werden.
Die Themenbereiche werden in einigen Hochschulen und Ausbildungseinrichtungen mit Lehrmodulen aus dem Freizeit- und Veranstaltungsmanagement angeboten.
In mehreren Bundesländern in Deutschland gibt es auch eine umfassende und praxisorientierte Tourismusausbildung an Berufsfachschulen. Sie dauert zumeist zwei Jahre und endet mit der staatlichen Abschlussprüfung zum Touristikassistenten.
Durch bundeseinheitliche Ausbildungsordnungen sind die Ausbildungsberufe Reiseverkehrskaufmann/-frau bzw. Tourismuskauffrau/-mann (seit 2011) und Kaufmann/-frau für Tourismus und Freizeit festgelegt. Ein deutscher Abschluss auf Meisterebene ist der Geprüfte Tourismusfachwirt, der durch IHK-Prüfung erlangt wird.
Tourismusforschung
Relativ jung ist die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Phänomen des Tourismus. Gleichwohl hat sie in kurzer Zeit eine ganze Reihe spezialisierte Fachdisziplinen hervorgebracht, zu deren wichtigste etwa Tourismusgeographie, -soziologie, -psychologie, -ökonomie und -geschichte gehören. Die Tourismuswissenschaft selbst ist ihrerseits bereits Gegenstand historischer Betrachtung und nahe verwandt mit Freizeitsoziologie.
1941 wurden gleichzeitig an der Universität Bern das Forschungsinstitut für Fremdenverkehr (FIF) und an der Hochschule St. Gallen das Seminar für Fremdenverkehr gegründet. Die erste gemeinsame Studie von Walter Hunziker und Kurt Krapf 1942 – Allgemeine Fremdenverkehrslehre – war bereits interdisziplinär aufgebaut und gilt noch immer als Standardwerk.
Jost Krippendorf, der ehemalige FIF-Direktor und erste Leiter der IKAÖ, löste mit seinem Buch Die Landschaftsfresser (1975) eine ökologische Diskussion im Tourismus aus.
2007 wurde im Auftrag des österreichischen Bundesministeriums für Wirtschaft und Arbeit das Internetportal tourism-knowhow.at zum Export von österreichischem Tourismus-Know-how entwickelt und im April des Jahres gestartet.
Das Wortfeld „Fremdenverkehr“ in der Kritik
Das Englische und das Französische kennen nur die Bezeichnung „tourism“ bzw. «tourisme», das Deutsche hingegen noch die ältere Bezeichnung Fremdenverkehr. Im deutschen Sprachgebrauch tauchte die Bezeichnung „Tourismus“ in den 1960er Jahren auf. Seit den 1980er Jahren wurden die Bezeichnungen vieler offizieller Fremdenverkehrsinstitutionen im deutschen Sprachraum auf Tourismus umgestellt, da Gäste nicht länger als „Fremde“ bezeichnet werden sollten, weil bei der Verwendung des Begriffs „Fremder“ leicht die Konnotation „Fremdenfeindlichkeit“ aufkommt und der Volkswirtschaft nützliche Menschen nicht abgeschreckt werden sollen. Dass Reisende tatsächlich keineswegs immer bei Einheimischen willkommen sind, zeigt die um 2000 aufgetauchte Wortprägung Kriminaltourismus. Ebenso unwillkommen sind vielen Einheimischen Reisende, die als Nicht-EU-Inländer mit einem Touristenvisum in ein Land der EU einreisen, um sich dort dauerhaft illegal aufzuhalten (und zu arbeiten).
Rechtliche Stellung der Touristen
Die meisten Bestimmungen, die die rechtliche Stellung des Touristen beeinflussen, zählen zum Privatrecht (in Österreich: Zivilrecht), d. h. zu den zwischen Reisendem und Leistungserbringer vertraglich zu vereinbarenden Regeln. Zum Schutz des schwächeren Vertragspartners, des Reisenden, kommt zumeist zwingend das Konsumentenschutzrecht seines Wohnsitzlandes zur Anwendung. Konsumentenschutzorganisationen kontrollieren das „Kleingedruckte“ der Buchungen und bringen gegen unfaire Klauseln gelegentlich Verbandsklagen ein.
In Europa hat die Europäische Union mit folgenden Regelungen den Konsumentenschutz im Tourismus verbessert:
Fluggesellschaften sind nunmehr auf Grund der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Februar 2004 verpflichtet, bei größeren Flugverspätungen oder beim Ausfall eines Fluges an die Passagiere Ausgleichszahlungen zu leisten.
Die Höhe der Mautgebühren auf Mautstraßen in der EU darf nicht willkürlich festgelegt werden und unterliegt ggf. der Kontrolle durch die EU-Kommission (So wurde zum Beispiel Slowenien ermahnt, weil keine Autobahnvignette für durchreisende Urlauber angeboten wurde und diese eine Halbjahresvignette kaufen mussten.)
Der Europäische Gerichtshof hat demgemäß verfügt, dass günstigere Eintrittspreise für Einheimische (wie sie zum Beispiel in einigen österreichischen Gemeinden bei Schwimmbädern und Skiliften üblich waren) dem Gemeinschaftsrecht widersprechen und unzulässig sind.
Im Rahmen der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik der EU wurde vereinbart, dass Touristen bei Reisen außerhalb der EU von diplomatischen Vertretungen anderer EU-Mitgliedstaaten Hilfe geleistet wird, wenn der Wohnsitzstaat des Reisenden im betreffenden Land keine Vertretung betreibt.
Im Schengener Abkommen, dem die Mehrzahl der EU-Mitgliedstaaten sowie Norwegen, die Schweiz und Island beigetreten sind, wurden die Personenkontrollen an den Binnengrenzen des Schengenraums abgeschafft. Reisende können diese Binnengrenzen nunmehr an jeder beliebigen Stelle überqueren (müssen allerdings Reisepass oder Personalausweis weiterhin mitführen).
In Deutschland und Österreich verpflichten gesetzliche Bestimmungen Reiseveranstalter, einen Fonds zu finanzieren, aus dem im Fall ihrer Zahlungsunfähigkeit der Heimtransport der Gäste beglichen werden kann.
Gegen Personen, die sich auf der Durchreise befinden, kann im schweizerischen Schuldbetreibungs- und Konkursrecht ein Arrest bewilligt werden „für Forderungen, die ihrer Natur nach sofort zu erfüllen sind“ (Art. 271 Abs. 1 Z. 3 SchKG).
Touristen, die sich in unsichere Gebiete begeben, können damit rechnen, dass ihr Wohnsitzstaat ggf. an ihrer Befreiung aus Geiselnahme, ihrer medizinischen Versorgung und ihrem Heimtransport mitwirkt. Sie müssen allerdings damit rechnen, dass ihnen der Staat zumindest einen Teil der ihm dabei entstandenen Kosten zur Begleichung vorschreibt – vor allem, wenn die Gefahr, in die sie sich begeben haben, schon vorher allgemein bekannt war.
Tourist
Das Wort Tourist ist nicht nur das Nomen Agentis von Tourismus, sondern auch die unterste Preisklasse einer europaweit geltenden Kategorie von Hotelzimmern, die von der DEHOGA übernommen wurde:
Es handelt sich um eine europaweite Klassifizierung (Hotelstars Union). Sie ist drei Jahre gültig, danach erfolgt eine erneute Überprüfung nach den dann aktuellen Kriterien.
Siehe auch
Ethischer Tourismus
Historisches Archiv zum Tourismus
Städtereise
Urlaub
Freizeit
Natourismus
Liste der meistbesuchten Städte
Literatur
Anneliese Donhauser: Trendbranche Tourismus. Bildung und Wissen Verlag, Nürnberg 2004, ISBN 978-3-8214-7635-3.
Axel Dreyer/Arnd Krüger: Sporttourismus. München: Oldenbourg 1995, ISBN 3-486-23099-9.
Hans Magnus Enzensberger: „Vergebliche Brandung der Ferne. Eine Theorie des Tourismus.“ in: Merkur 12 (1958). S. 701–720.
Ernst Spatt: Allgemeine Fremdenverkehrslehre. Inn-Verlag, Innsbruck 1975, ISBN 3-85123-018-3.
Ferner, Müller, Zolles: Marketingpraxis im Fremdenverkehr. ORAC Verlag Wien, ISBN 3-7015-0182-3, 1989 und spätere Ausgaben.
Hans Högl: Bin kein Tourist, ich wohne hier. Fremdenverkehrsgemeinden im Stress. Verlag für Ethik und Gesellschaft, Wien 2002, ISBN 3-900944-15-6.
Hans-Jörg Weber: Die Paradoxie des Städtetourismus: zwischen Massentourismus und Individualität: Eine Studie zu touristischen Praktiken und Mobilität unter Verwendung von GPS- und Fragebogendaten sowie Reiseführerliteratur am Beispiel der Stadt Berlin. Mensch und Buch Verlag, Berlin 2012. ISBN 3-86387-261-4.
Harald Pechlaner, Frieda Raich (Hrsg.): Gastfreundschaft und Gastlichkeit im Tourismus. Erich Schmidt Verlag, Berlin 2007, ISBN 978-3-503-10031-6.
Marcus Spangenberg/Bernhard Lübbers (Hrsg.): Traumschlösser? Die Bauten Ludwigs II. als Tourismus- und Werbeobjekte. Peter Morsbach, Regensburg 2015, ISBN 978-3-937527-83-3.
Josef Steinbach: Tourismus. Oldenbourg Wissenschaftsverlag, 2002, ISBN 978-3-486-27308-3.
Heinz Hahn/Jürgen Kagelmann (Hrsg.): Tourismuspsychologie und Tourismussoziologie. Ein Handbuch zur Tourismuswissenschaft, Quintessenz-Verlag München 1993.
Voyage. Jahrbuch für Reise- & Tourismusforschung, München/Wien/Berlin (lfd. seit 1997).
Walter Kiefl, Reinhard Bachleitner: Lexikon zur Tourismussoziologie, Profil Verlag München 2005, ISBN 3-89019-542-3.
Weblinks
World Tourism Organisation Welttourismusorganisation der Vereinten Nationen (UNWTO)
Statistisches Bundesamt – Daten und Aufsätze zum Tourismus
Grafik: Weltweiter Tourismusverkehr, aus: Zahlen und Fakten: Globalisierung, www.bpb.de
Deutscher Tourismusverband
Schweizer Tourismusverband
Österreichischer Tourismusverband
Die offizielle Internetseite des Niederländischen Büro für Tourismus
Institut für Tourismus- und Freizeitwirtschaft der WU Wien, Informationen zu tourismusrelevanter Forschung
www.visumtourism.ch Wissensplattform für nachhaltige Entwicklung im Tourismus
Arbeitskreis Tourismus & Entwicklung (Schweiz)
Christopher Kopper: Die Reise als Ware. Die Bedeutung der Pauschalreise für den westdeutschen Massentourismus nach 1945, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 4 (2007), S. 61–83.
Hasso Spode: Zur Geschichte der Tourismusgeschichte (PDF; 10,9 MB), in Voyage. Jahrbuch für Reise- & Tourismusforschung, Bd. 8/2009
Rüdiger Hachtmann: Tourismus und Tourismusgeschichte, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 22. Dezember 2010
Rüdiger Hachtmann: Tourismusgeschichte – ein Mauerblümchen mit Zukunft! Ein Forschungsüberblick, in: H-Soz-u-Kult, 6. Oktober 2011
Zukunftsfähig und entwicklungsfreudig. In: E+Z, Jg.56.2015:4
Studienführer mit allen Tourismus Studiengängen
Google Trends
Einzelnachweise
ur:سیاح
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Q49389
| 1,175.758549 |
108456
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https://de.wikipedia.org/wiki/Schnabelfliegen
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Schnabelfliegen
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Die Schnabelfliegen (Mecoptera), auch Schnabelhafte, bilden eine Ordnung der Insekten innerhalb der Neuflügler (Neoptera) und gehören zu den Holometabolen Insekten (Holometabola). Sie umfassen rund 750 Arten, von denen 10 Arten auch in Deutschland vorkommen.
Beschreibung
Die Körperlänge der Tiere beträgt zwischen 3,5 und 20 mm, die Flügelspannweite zwischen 20 und 40 mm. Schnabelfliegen besitzen zwei Paar nahezu identischer Flügel und ein nicht weiter differenziertes Abdomen. Die Flügel können in Teilgruppen (Boreidae) auch stark verkleinert sein. Dies lässt auch Schlüsse auf die systematische Stellung dieser Teilgruppe zu (siehe unten).
Das auffälligste Merkmal der Schnabelfliegen ist die namensgebende Verlängerung der Mundwerkzeuge bei den erwachsenen Tieren. Diese kommt zustande durch eine Verwachsung und Verlängerung der Oberlippe (Labrum) mit der Stirn (Clypeus) sowie einer gleichzeitigen Verlängerung der Maxillen und des Labiums. Die großen Flügel können bei einigen Arten fehlen. Eine besonders auffällige Umgestaltung des Hinterendes weisen die männlichen Skorpionsfliegen auf. Hier ist das letzte Hinterleibssegment in einen Kopulationsapparat umgewandelt, der optisch an den Stachel der Skorpione erinnert.
Entwicklung
Die Larven der Schnabelfliegen wirken raupenähnlich, haben an den Brustsegmenten echte Beine, die Hinterleibssegmente weisen Bauchfüße auf. Sie werden, wie auch die Larven der Pflanzenwespen, als Afterraupen bezeichnet. Am letzten Hinterleibssegment findet sich häufig eine Haftgabel, die den Tieren eine Fortbewegung ähnlich der der Spannerraupen ermöglicht.
Systematik der Schnabelfliegen
Zu den Mecopteren werden traditionell 9 Familien gezählt. Die Familien Panorpidae (ca. 500 Arten) und Bittacidae (ca. 200 Arten) stellen dabei über 90 % aller Mecopteren. Die übrigen Arten verteilen sich auf sieben weitere Familien. Neuere systematische Analysen molekularer Daten (Whiting, 2002) deuten jedoch darauf hin, dass die Mecopteren ein Paraphylum bilden.
Stattdessen geht man nun davon aus, dass die Winterhafte (Boreidae) näher mit den Flöhen (Siphonaptera) verwandt sind als mit den übrigen Schnabelfliegen. Hierfür sprechen zusätzlich die Anzahl der Geschlechtschromosomen, Merkmale im Vorderdarm sowie bei der Oogenese.
Die europäischen Schnabelfliegen gehören drei verschiedenen Familien an, diese werden als Winterhafte (Boreidae), Mückenhafte (Bittacidae) und Skorpionsfliegen (Panorpidae) bezeichnet.
Schnabelfliegen – Mecoptera
Winterhafte – Boreidae (in Mitteleuropa Boreus hyemalis und Boreus westwoodi) – weltweit etwa 30 Arten in borealen oder alpinen Gebieten der Nördlichen Hemisphäre
Mückenhafte – Bittacidae (in Europa nur Bittacus italicus und sehr selten Bittacus hageni) – weltweit knapp 200 Arten, die Gattung Bittacus ist dabei weltweit verbreitet, die anderen Gattungen nur in Amerika, Australien und Südafrika
Skorpionsfliegen – Panorpidae (mitteleuropäische Beispiele: Panorpa alpina (Gebirgs-Skorpionsfliege), Panorpa cognata, Panorpa communis (Gemeine Skorpionsfliege), Panorpa germanica (Deutsche Skorpionsfliege), Panorpa hybrida (Bastard-Skorpionsfliege) und Panorpa vulgaris, in Südeuropa z. B. noch Panorpa meridionalis und Panorpa rufostigma) – weltweit knapp 500 Arten
Die weiteren Familien sind:
Apteropanorpidae (4 Arten – Südaustralien und Tasmanien)
Choristidae (8 Arten – Australien)
Eomeropidae (1 Art – Chile)
Meropeidae (3 Arten – Nordamerika, Westaustralien, Brasilien)
Nannochoristidae (8 Arten – Neuseeland, Südaustralien, Tasmanien, Chile)
Panorpodidae (13 Arten – Nordamerika, Japan, Korea)
Fossile Belege
Die ältesten bekannten Schnabelfliegen sind im Unteren Perm gefunden worden. Zu der Zeit umfasste die Ordnung etwa doppelt so viele Familien wie heute. Ferner sind Vertreter der Familien Bettacidae, Panorpidae und Panorpodes aus Baltischem Bernstein beschrieben. Insgesamt sind mit Stand 2012 34 ausgestorbene Familien der Schnabelfliegen mit insgesamt 98 Gattungen bekannt. Zu ihnen zählt beispielsweise Juracimbrophlebia aus der Familie Cimbrophlebiidae.
Quellen
Literatur
Weblinks
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Q205301
| 135.943399 |
16248
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https://de.wikipedia.org/wiki/Y
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Y
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Y bzw. y (gesprochen []; in der Schweiz auch i grec [] = frz. für „griechisches i“) ist der 22. Buchstabe des klassischen und der 25. Buchstabe des modernen lateinischen Alphabets. Das Y war im ursprünglichen lateinischen Alphabet nicht vorhanden. Es wurde erst zur Zeit Sullas als 22. Buchstabe vor dem Z eingefügt und in lateinischen Texten nur zur Wiedergabe des Y in griechischen Lehnwörtern verwendet.
Einordnung
Wie das prinzipiell bei jedem Vokalbuchstaben möglich ist, steht y als Vokalbuchstabe in den Schreibsystemen moderner Sprachen teils für einen oder mehrere Vokale, teils je nach Stellung für Vokale oder einen Konsonanten (so im Englischen). In einigen Sprachen wird y aber auch als Konsonantenbuchstabe verwendet (so im Türkischen). y kommt auch als Bestandteil fester Zeichenkombinationen (Digraphen) für einzelne Phoneme vor (so im Ungarischen).
Im Deutschen wird y vorwiegend in Lehn- und Fremdwörtern verwendet und hat dann (üblicherweise und annähernd) den Lautwert der Herkunftssprache. In deutschen Eigennamen (Sylt, Pyhrn) ist die grundlegende Aussprache bei vokalischer Verwendung (langes/geschlossenes oder kurzes/offenes) , also identisch mit ü; im unbetonten Auslaut jedoch (wie beim Namen Willy). Bei einer Verwendung als Konsonant oder Halbvokal ist die Aussprache dann .
Der Buchstabe Y hat in deutschen Texten eine durchschnittliche Häufigkeit von 0,04 %. Er ist damit nach Q und X der drittseltenste Buchstabe.
Das Fingeralphabet für Gehörlose bzw. Schwerhörige stellt den Buchstaben Y dar, indem die geschlossene Hand vom Körper weg zeigt und Daumen und kleiner Finger nach oben abgespreizt werden.
Herkunft
Griechisches Y
Die Bezeichnung Ypsilon stammt aus dem Griechischen und bedeutet „einfaches ü“ (; : „schlicht, einfach, bloß“).
Das Ypsilon ist einer der jüngsten Buchstaben im lateinischen Alphabet und teilt sich einen Großteil seiner Geschichte mit dem U, dem V und dem W (und dem F). Es hat seinen Ursprung im phönizischen Buchstaben Waw, der den Lautwert [w] hatte. Ins griechische Alphabet wurde der Buchstabe als Ypsilon übernommen, der ursprünglich ebenso den Lautwert [u] hatte. Auf dem Weg über die Etrusker wurde daraus das lateinische U.
Das klein geschriebene griechische Ypsilon sieht im Gegensatz zur Lateinischen Schrift fast so aus wie ein klein geschriebenes lateinisches U. Im griechischen Alphabet existiert kein Buchstabe, der dem U-Laut entspricht. Stattdessen wird er durch die Abfolge eines Omikrons und eines Ypsilons wiedergegeben. Deshalb ist es bei Transkriptionen aus dem Griechischen in die lateinische Schrift üblich, statt eines einfachen „u“ ein „ou“ zu schreiben, obwohl es sich nur um einen U-Laut handelt.
Bis zum 1. Jahrhundert v. Chr. hatte sich infolge des Sprachwandels der Lautwert des griechischen Ypsilons jedoch gewandelt, es stand nun für den Laut (wie ü in „Lüge“). Als die Römer um diese Zeit begannen, verstärkt griechische Begriffe zu verwenden, behalfen sie sich zuerst mit der Umschreibung mit U, fügten jedoch dann das Ypsilon an das Ende ihres Alphabets hinzu.
Ligatur ij
Im Frühneuhochdeutschen und im Mittelniederländischen wurde der lange []-Laut bisweilen als ij wiedergegeben. Dies entspricht einem ii, doch die Verdoppelung des Buchstabens i wurde vermieden, indem an zweiter Stelle das j verwendet wurde, das damals noch eine freie Variante des i war. Dieses ij sah gleich aus wie ein ÿ und konnte deshalb durch dieses ersetzt werden. In der Folge wurde ÿ mit dem griechischen Ypsilon gleichgesetzt. Zuweilen wurde auch bewusst zwischen y in Wörtern griechischer Herkunft und ÿ in Wörtern deutscher Herkunft unterschieden.
Im Schweizer Hochdeutsch, in alemannischen Texten und im Afrikaans wird ein solches y, das als Ligatur aus ij entstanden ist, bis heute verwendet. Beispiele aus der Schweiz, welche die Praxis der eidgenössischen Kanzleisprache fortsetzen, sind geographische Namen wie Schwyz, Pfyn und Mythen sowie in Familiennamen wie Pfyffer und Schnyder; zum Vorkommen in der Verschriftung der schweizerdeutschen Mundarten siehe Dieth-Schreibung. Im Schweizer Kontext steht y bis heute für ein langes (allenfalls sekundär gekürztes), geschlossenes . Im Afrikaans hingegen steht y für den Diphthong , der aus dem mittelniederländischen entstanden ist. Im Niederländischen hingegen wird für den gleichen Diphthong heute die Ligatur ij gebraucht.
Verwendung
Allgemein
Seit der Spätantike wird das Ypsilon im Griechischen (Υ/υ) als [i] ausgesprochen, bezeichnet also denselben Laut wie i. Daher und durch den Gebrauch griechischer Fremdwörter (bzw. auf griechischem Vorbild aufgebauter Kunstwörter) gibt es in den heutigen Orthographien anderer Sprachen sehr verschiedenartige Verwendungen des y:
y als Variante des Buchstabens i (z. B. Englisch, Französisch, Spanisch): Insbesondere wird das y am Wortende anstelle eines i verwendet (z. B. engl. happiness – happy oder span. reina – rey). Ähnliche Tendenzen gab es bis ins 18. Jahrhundert auch in der deutschen Rechtschreibung; am längsten halten konnte sich diese Verwendung bei der Unterscheidung der Wörter sein – seyn (mit y wegen der Form sey), die bis ins 19. Jahrhundert üblich war.
y als Konsonant: Im Englischen und in englischen Transkriptionen nichtenglischer Namen hat das y am Wort- und Silbenanfang den Lautwert des deutschen j, z. B. yes, yellow; Yekaterinburg (deutsch Jekaterinburg).
y nur als Bestandteil von Digraphen (z. B. Katalanisch, Ungarisch): Als an sich nicht gesprochener Buchstabe wird das y zur Modifikation anderer Buchstaben verwendet, z. B. im Digraph ny für [ɲ].
y als Bezeichnung spezieller Laute (z. B. Finnisch, Schwedisch, Norwegisch, Dänisch, Polnisch, Niedersorbisch, Obersorbisch, Walisisch).
Keine Verwendungen von y außer in Fremdwörtern und (geografischen und Familien-) Namen (z. B. Deutsch, Italienisch, Portugiesisch).
Seit Einführung des Buchdrucks ist das y manchmal als Ersatz für ähnliche Buchstaben bzw. Buchstabenkombinationen verwendet worden, so im Englischen anstelle eines þ (beispielsweise ye olde shoppe statt þe/the olde shoppe „der alte Laden“) oder im Frühneuhochdeutschen und Niederländischen anstelle eines ij (siehe oben).
Y als Elementsymbol für das chemische Element Yttrium.
Im Griechischen wandelt sich die Lautbedeutung des Ypsilons in Kombination mit anderen Vokalen. „Ου“ (o+y) wird als U gesprochen, „αυ“ (a+y) neugriechisch als „af“ und „ευ“ (e+y) als „ef“. Das griechische Präfix „αυτο-“ wird beispielsweise somit „afto“ gesprochen.
Verwendung und Aussprache im Deutschen
In der heutigen deutschen Rechtschreibung wird das y fast ausschließlich in Fremdwörtern und Eigennamen verwendet. Bei griechischen Fremdwörtern hat sich unter dem Einfluss der Schulbildung die Aussprache [y ʏ] (ü) weitgehend durchgesetzt (beispielsweise Typ, Xylophon). Noch im früheren 19. Jahrhundert war hingegen die Aussprache [i] üblich. Im Schweizer Hochdeutsch ist in gut eingebürgerten griechischen Fremdwörtern die Aussprache [i] bis heute üblich, beispielsweise in Asyl, Ägypten, Forsythie, Glyzerin, Glyzinie, Gymnasium, Gymnastik, Hydrant, Lydia, Zylinder, neben [ʏ] auch etwa in Physik, Psychologie, Pyramide, System. In Fremdwörtern aus anderen Sprachen wird im Allgemeinen die fremde Aussprache übernommen, z. B. bei englischen Fremdwörtern als [i] (meist Wortende, beispielsweise Party, Hobby) oder (beispielsweise Nylon), und am Wortanfang vor weiterem Vokalbuchstaben als [j] (beispielsweise Yen, Yoruba, Yo-Yo).
In Eigennamen (Familien- und geografischen Namen) wird y teils wie ü gesprochen (Sylt, Thyssen, Byhleguhre-Byhlen), teils als i (Kyffhäuser, Gysi). In alemannischen Namen wird das y regelmäßig als geschlossenes [] ausgesprochen, beispielsweise in Schwyz oder Mythen, denn diese Verwendung geht auf das ij zurück (siehe oben). Ferner kommt das y als Variante von unsilbischem i (als Bestandteil von Diphthongen) in verschiedenen Namen vor, beispielsweise in Speyer, sowie in Fremdwörtern wie „loyal“ oder „Boykott“. Ansonsten war es bis Ende des 19. Jahrhunderts in den Diphthongen ey und ay weit verbreitet, dann wurden diese Schreibungen jedoch, von Eigennamen und Fremdwörtern abgesehen, durch ei und ai ersetzt. Im Schreibgebrauch der Kanzleien wurde bis ins 19. Jahrhundert der Buchstabe y auch als Kürzel für die lateinische Endung -us verwendet. In Eigennamen kann y auch Bestandteil von anderen, sonst unüblichen Mehrgraphen sein: in uy (neben ui) für langes ü (z. B. Huy) oder für eu (Gruyter), in oey für langes ö (Oeynhausen).
Y ist der erste Buchstabe der Erkennungsnummer der Kraftfahrzeugkennzeichen der Bundeswehr. Daher wird die Bundeswehr in Deutschland mit humorigem bis ironischem Unterton auch „Y-Reisen“ oder „Y-Tours“ genannt. Der Name des Magazins Y – Das Magazin der Bundeswehr leitet sich ebenfalls davon ab.
Internet
Auf englisch, das „y“ wird als einzelnen Buchstaben /waɪ/ (sprich: wai) ausgesprochen, so wie auch das englische Wort für warum, nämlich „why“. Folglich, im Netzjargon wird y aufgrund seiner Homophonie mit diesem englischen Wort als Abkürzung für die Frage „Warum?“ verwendet.
In Klammern gesetzt, wird (y) auf Facebook als Shortcut für den „Gefällt mir“-Button benutzt.
Siehe auch
Ÿ
Weblinks
http://www.wam.umd.edu/~rfradkin/sin2phoen-animate.html
http://www.ancientscripts.com/greek.html
Einzelnachweise
Lateinischer Buchstabe
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Q9973
| 306.177894 |
12432
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https://de.wikipedia.org/wiki/Infrarotstrahlung
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Infrarotstrahlung
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Infrarotstrahlung (kurz IR-Strahlung, selten Ultrarotstrahlung) ist in der Physik elektromagnetische Strahlung im Spektralbereich zwischen sichtbarem Licht und der längerwelligen Terahertzstrahlung. Üblicherweise ist damit Licht (i. w. S.) mit einer Wellenlänge zwischen 780 nm und 1 mm gemeint. Dies entspricht einem Frequenzbereich von 300 GHz bis 400 THz bzw. einem Wellenzahlbereich von 10 cm−1 bis 12.800 cm−1. Sie bildet die Grundlage von Anwendungen zum Beispiel in der Thermografie, Fernerkundung, bei Fernbedienungen und Nachtsichtgeräten.
Der lateinische Namensbestandteil infra bedeutet „unterhalb“, insgesamt also „unterhalb rot“ und bezieht sich auf die Frequenz.
Einteilung des Spektralbereichs
Eine Einteilung des infraroten Spektralbereichs, Infrarot genannt (kurz IR), beruht auf den Arten der Molekülschwingungen, die sich auf die Anwendungen auswirken. Die Begriffe und Grenzen sind nicht eindeutig wie im sichtbaren Bereich definiert und werden teils durch Anwendungen oder spezielle physikalische Phänomene bestimmt, weshalb es mehrere unterschiedliche Festlegungen gibt. Das International Commission on Illumination (CIE) und DIN schlagen die Einteilung in drei Bänder vor: IR-A, IR-B und IR-C. Die Festlegung mit den Bezeichnungen NIR, MIR und FIR folgt der ISO 20473.
Auch andere Festlegungen sind üblich, beispielsweise eine häufig im angloamerikanischen Raum genutzte Unterteilung und bei der Spezifikation von Erderkundungskameras angewandte ist:
nahes Infrarot (englisch: , NIR) ist kurzwellige IR-Strahlung, die sich direkt an den sichtbaren (roten) Bereich anschließt von 780 nm bis 1400 nm.
kurzwelliges Infrarot (englisch: , SWIR) 1,4 bis 3,0 µm
mittleres Infrarot (englisch: , MWIR) mit Wellenlängen von 3,0 µm bis 8 µm.
langwelliges Infrarot (englisch: , LWIR) 8 bis 15 µm
fernes Infrarot (englisch: , FIR) ist langwellige IR-Strahlung von 15 µm bis 1 mm und reicht in den Bereich der Terahertzstrahlung.
Geschichte
Die IR-Strahlung wurde um 1800 vom deutsch-britischen Astronomen, Techniker und Musiker Friedrich Wilhelm Herschel bei dem Versuch entdeckt, die Temperatur der verschiedenen Farben des Sonnenlichtes zu messen. Er ließ dazu Sonnenlicht durch ein Prisma fallen und platzierte Thermometer in den einzelnen Farbbereichen. Er bemerkte, dass jenseits des roten Endes des sichtbaren Spektrums das Thermometer die höchste Temperatur anzeigte. Es war zunächst unklar, ob die Ursache hierfür eine neue Art Strahlung oder eine unsichtbare Form des Lichts war. Sie wurde zunächst und bis Anfang des 20. Jahrhunderts als „Wärmestrahlung“ oder „Ultrarot“ bezeichnet. Der Name „Infrarot“ setzte sich erst ab den 1880er Jahren durch. Der genaue Ursprung der Bezeichnung ist unbekannt.
Quellen
Da die Thermorezeptoren des Menschen auf einen Teil des Infrarotspektrums reagieren, wird Infrarotstrahlung oft mit Wärmestrahlung gleichgesetzt. Richtig ist: Mikrowellen, sichtbares Licht und der ganze elektromagnetische Spektralbereich tragen unabhängig von der Wahrnehmung zur Erhöhung der Temperatur bei. Auch breitbandige IR-Quellen (zum Beispiel Glühlampen und Heizstrahler) sind thermische Strahler. Für spezielle Anwendungen wurden Infrarotstrahler wie Globar und Nernst-Stift entwickelt.
Nachweis
Zum Nachweis von IR-Strahlung aller Wellenlängen eignen sich thermische Detektoren (Thermoelemente oder Bolometer). Im kurzwelligen Bereich werden halbleiterbasierte Detektoren verwendet (siehe dazu innerer photoelektrischer Effekt). Auch Digitalkameras sind geeignet, wenn ihr IR-Sperrfilter nicht zu stark ausgelegt ist. Zur Aufnahme von IR-Bildern im nahen Infrarotbereich eignen sich weiterhin spezielle fotografische Filme und bei längeren Wellenlängen (mittleres Infrarot) werden gekühlte Halbleiterdetektoren, pyroelektrische Sensoren (PIR-Sensoren) oder Thermosäulen verwendet.
Anwendungen
Heizung
Eine wesentliche Anwendung ist die Heizung durch Strahlung. Jeder Heizkörper sendet infrarote Strahlung aus, insbesondere bei Temperaturen deutlich über 100 °C. Darunter überwiegt meist die Wärmeabgabe an die Luft; allerdings steigt die Behaglichkeit durch den Strahlungsanteil. Komplette Hausheizungen oder Übergangsheizungen im Bad werden mittels Infrarot-Panels ausgeführt. Die Raumstation Mir wurde seit 1986 auf diese Art beheizt. Andere Beispiele sind Heizpilze und Infrarotgrills.
Chemische Analytik und Verfahrenstechnik
Infrarotstrahlung regt Moleküle zu Schwingungen und Rotationen an. Die Infrarotspektroskopie ist ein physikalisch-chemisches Analyseverfahren. Die Absorption von infrarotem Licht definierter Wellenlängen wird zur Strukturaufklärung unbekannter Substanzen eingesetzt. Durch quantitative Bestimmung lässt sich die Reinheit von bekannten Substanzen bestimmen. Die Infrarotspektroskopie wird bei der Abfalltrennung von Kunststoffen genutzt.
Die Absorptionszentren der Molekülschwingungen sind direkt mit dem Brechungsindex der Materialien und somit ihrem Reflexionsverhalten verknüpft. Im infraroten Bereich wird dies unter anderem bei der Infrarotreflektographie ausgenutzt.
Kunstwissenschaft
Die Infrarotreflektographie ist eine hauptsächlich in der Kunstwissenschaft angewandte Untersuchungsmethode, mit der sich über die Reflexionseigenschaften der auf einem Bildträger aufgebrachten Farbmittel Zeichnungselemente aus stärker reflektierenden Stoffen sichtbar machen lassen. Mit dieser berührungs- und zerstörungsfreien Technik ist es möglich, die obere Malschicht eines Gemäldes zu durchdringen und die sonst nicht sichtbare Unterzeichnung zu dokumentieren.
Astronomie
In der Infrarotastronomie beobachtet man „kühle“ Objekte (kälter als 1100 K), die in anderen Spektralbereichen kaum zu sehen sind, oder Objekte, die in oder hinter einer interstellaren Wolke liegen. Zusätzlich hilft die IR-Spektroskopie bei der Analyse der betrachteten Objekte. Hierbei werden wie in der Chemie mittels Infrarotspektroskopie Banden bestimmter Substanzen nachgewiesen, beispielsweise das Methangas auf dem Exoplaneten bei Fixstern HD 189733.
Elektronik und Computertechnik
Infrarotfernbedienungen, Optokoppler und die meisten Lichtschranken arbeiten im nahen Infrarot bei 880 bis 950 nm Wellenlänge, da hier Silicium-Photodioden und Phototransistoren ihre höchste Empfindlichkeit haben. Infrarotschnittstellen von Computern arbeiten ebenfalls in diesem Wellenlängenbereich und ermöglichen eine drahtlose Kommunikation mit Peripheriegeräten. Die optische Datenübertragung mittels IR-Laser durch die Atmosphäre wird durch die optische Freiraumübertragung charakterisiert.
Eines der ersten Unternehmen, die Infrarottechnik mit der EDV verbunden haben, war Hewlett-Packard. Im Jahre 1979 integrierte man dort erstmals eine IR-Schnittstelle in einen Taschenrechner, um so eine Verbindung zu einem Drucker herzustellen. Im Jahre 1990 wurde dann eine IR-Schnittstelle in einen Personal Computer integriert. Diese Schnittstelle wurde zu einem Standard. Da sie seriell arbeitete, wurde sie Serial Infrared (serielles Infrarot), abgekürzt SIR benannt. Aus Geschwindigkeitsgründen ist dieser Standard durch das abwärtskompatible Fast-IR abgelöst worden und mittlerweile weitestgehend durch Bluetooth ersetzt.
In der Telekommunikation wird IR-A aufgrund der geringen Absorption und Dispersion bevorzugt in Lichtwellenleitern verwendet. Die Standardwellenlänge liegt bei 1550 nm.
Die Wii-Fernbedienung und andere Anwendungen nutzen Infrarot-Leuchtdioden und Kameras zur Lage- und Bewegungserkennung im Raum.
Lichtstrahltelefon-Verbindungen auf Infrarotbasis konnten sich nicht durchsetzen.
Vegetation
Im nahen Infrarot besitzt die grüne Vegetation eine ungefähr sechsfach höhere Reflexion als im sichtbaren Spektralbereich, da frisches Blattgewebe ein gutes Reflexionsvermögen aufweist und die übrigen Wellenlängen vom Chlorophyll und den begleitenden Karotinoiden absorbiert werden. Dieser Effekt wird zur Erkennung von Vegetationsflächen genutzt. Es werden von einer Szene zwei Bilder genommen, eines im sichtbaren, das andere im nahen infraroten Bereich. Häufig werden Multispektralkameras verwendet. Durch Division beider Bilder wird die Vegetation deutlich sichtbar und kann leicht unterschieden werden.
Die auf diese Weise erkannte Vegetation wird von einem Fahrzeug oder Flugzeug vermessen. Die Vergleichsmessung von Vegetation in Innenräumen beobachtet eine Pflanze über einen längeren Zeitraum. Die Vermessung der Vegetation von Fahrzeugen aus gibt eine Aussage über die lokal vorherrschenden Bedingungen. Die Bestimmung des Flächenanteils der Vegetation zur gesamten Grundfläche aus der Luft aufgenommener Bilder ist ein häufiger Fall und das Vegetationsvolumen innerhalb eines vordefinierten Raumes wird bestimmt. Diese Volumenvermessung von Vegetation ist für Autobahn- und Straßenmeistereien sowie Betreiber von Schienennetzen von Bedeutung. Vegetation, die in das Lichtraumprofil von Fahrzeugen hineinragt, wird automatisch erkannt und der Rückschnitt kann veranlasst werden.
Über die spektrale Reflexion insbesondere im nahen bis fernen Infrarot von grüner Vegetation werden Vegetationstypen unterschieden, der jeweilige Gesundheitszustand der Vegetation wird erkannt. Der Gesundheitszustand der Pflanzen hängt in erster Linie von ihrer Wasserversorgung ab. Gemessen wird die Trockenheit, Pilz- und Insektenbefall ist zu erkennen.
Fotografie
Infrarot-Fotografie
In der Analogfotografie können im nahen infraroten Bereich bis 820 nm sensibilisierte, sogenannte Infrarotfilme eingesetzt werden. Das sichtbare Licht wird durch vorgesetzte Filter gänzlich oder zum Großteil (Rotfilter) ausgeschaltet. Typisches Ergebnis ist der Wood-Effekt: ein dunkel abgebildeter Himmel und helle chlorophyllhaltige Pflanzenteile (Laub, Gras). Infrarot-Kameras können wegen der geringeren Streuung aufgrund der größeren Wellenlänge leichten Dunst und Nebel besser durchdringen.
IR-Aufnahmen werden bei Luftaufnahmen für Spionage und militärische (Luft- und Gelände-)Aufklärung eingesetzt. Weitere Nutzungen finden in der Astronomie und in Fahrerassistenzsystemen statt.
Farbfilme mit „Falschfarbenwiedergabe“ werden eingesetzt, um verschiedene infrarote Wellenlängen als Farben darzustellen. Einsatzgebiet dieser Materialien sind Luftbildaufnahmen zur Waldschadenskartierung und in der Luftbildarchäologie oder allgemein zur Untersuchung von Gemälden und Farbflächen.
Entfernungsmessung
Entfernungsmessung im Fotobereich kann mittels Infrarot-Laufzeitverfahren erfolgen. Die zurückgelegte Zeit zwischen dem ausgesandten Licht vom eingebauten Infrarotsenders zum Empfängersensor wird ausgewertet und automatisch auf das Objektiv oder in das eingebaute Blitzgerät übertragen. Manche Ausführungen arbeiten teilweise im sichtbaren Lichtspektrum und erlauben den Einsatz von optischen Autofokus-Systemen bei schlechten Lichtverhältnissen.
Medizin
Heizlampen strahlen im Infraroten und sind schon seit langem für medizinische Zwecke im Einsatz.
Wärmestrahlung von Heizstrahlern, wie keramische Infrarotstrahler mit langwelliger IR-Strahlung oder vorrangig nahes Infrarot emittierende Rotlichtlampen, werden zur örtlichen Behandlung von Entzündungen (beispielsweise der Nasennebenhöhlen) eingesetzt. Für die Ganzkörper-Behandlung kommen Infrarotwärmekabinen zum Einsatz. Infrarotstrahlung wird in der Medizin häufig in Form von Lasern genutzt. Die Einsatzgebiete umfassen dabei insbesondere die Haut-, Augen- und Zahnheilkunde (Messen, Veröden, Schneiden, Koagulieren, Lichttherapie). Außerdem wird mit Infrarot nach den (wärmeren) eigentlichen Entzündungsherden gesucht, um diese effektiver behandeln zu können. Zum Auffinden lokaler Entzündungsherde wird Thermografie eingesetzt.
Nahes Infrarot dringt tief in und unter die Haut ein, während insbesondere MIR bereits an der Oberfläche der Haut und der Hornhaut des Auges absorbiert wird. Nahes Infrarot hoher Intensität (Laserstrahlung) ist daher besonders gefährlich für Augen und Haut, da es im Auge unbemerkt bis zur Netzhaut gelangt, dort fokussiert wird und Zerstörungen verursachen kann. Am Körper wird es in Regionen absorbiert, in denen sich keine Temperatursensoren befinden und kann daher oft unbemerkt Schäden verursachen.
Zur Fiebermessung werden Pyrometer verwendet, die die Temperatur im Ohr anhand der Wärmestrahlung im mittleren Infrarot messen. Schließlich dient die Pulsoxymetrie zur Messung der Sauerstoffsättigung roter Blutkörperchen.
Polizei und Militär
Polizei und Militär nutzen tragbare Nachtsichtgeräte und Restlichtverstärker im Nahen Infrarot, dessen zentrales Bauteil Bildverstärker sind, um in der Dunkelheit ansonsten nicht sichtbare Objekte erkennen zu können. Zusätzlich kann mit Infrarot beleuchtet werden. Hubschrauberpiloten fliegen nachts mit Hilfe einer am Helm befestigten Nachtsichtbrille, bei der vor jedem Auge ein einfarbiges Abbild der Nahinfrarotstrahlung von Objekten am Boden erzeugt wird. Außen am Hubschrauber kann ein bewegliches Kamerasystem montiert sein, das im sichtbaren wie im mittleren Infrarot Videos und Wärmebilder liefert. Diese werden zum Beispiel bei der Suche nach vermissten oder flüchtigen Personen auch in der Dunkelheit benutzt.
Viele Typen selbständig zielsuchender Lenkflugkörper finden ihr Ziel über Wärmestrahlung, die sichtbare heiße Teile, insbesondere Abgasdüsen und -rohre von Turbinen, Verbrennungs- und Raketenmotoren ausgesandt wird. Zur Abwehr verfügen neuere Kampfflugzeuge und Militärschiffe über Einrichtungen, die Täuschkörper (Flares) ausstoßen, um diese Waffen vom Zielobjekt wegzuleiten.
Imaging Infra-Red (IIR) erzeugt Bilder im Infraroten und verarbeitet diese, um typische Ziele besser erkennen zu können.
Thermografie
Mit Hilfe der Thermografie lassen sich „Wärmebilder“ erzeugen, für die die Infrarotstrahlung der Wärme von Gegenständen genutzt wird. Eine bekannte Anwendung ist die Bauthermografie zur Qualitätssicherung und Visualisierung von Wärmebrücken und Wärmeverlusten an Gebäuden. Im Ergebnis können dann wärmedämmende Maßnahmen gezielt eingesetzt werden. Die Feuerwehr benutzt tragbare Wärmebildkameras zum Aufspüren von Brandherden und Glutnestern oder zu rettenden Personen in verrauchten Innenräumen.
In der Diagnose und Instandhaltung von elektrischen, elektronischen und mechanischen Baugruppen, Anlagen oder Maschinen wird die Thermografie als ergänzende Messmethode zur präventiven Mängel- und Schadenserkennung eingesetzt. Berührungslos können damit kritische Zustände (englisch: „hot spots“) von Maschinen, Anlagen und Installationen während des Betriebes ermittelt werden, um frühzeitig Maßnahmen zum Begrenzen der Wirkungen zu treffen und Ausfälle und Schäden zu vermeiden.
Die Thermografie wird bei der Schwingungsanalyse und Festigkeitsprüfung eingesetzt. Risse und lose Verbindungen verraten sich durch ihre Wärmeentwicklung. Mit Infrarotpyrometern werden berührungslos Prozesstemperaturen und Temperaturen von Bauteilen und Kühlkörpern gemessen und kontrolliert.
Materialbearbeitung
Viele thermische Verfahren in der Industrie werden durch Infrarotstrahlung vorgenommen. Hierzu zählt das Trocknen (zum Beispiel von Papierbahnen), das Aushärten mittels Wärme und das Erweichen von Kunststoffen, um sie zu verformen. Hierfür werden Infrarotstrahler eingesetzt, die mit Gas oder elektrisch beheizt werden.
Die meisten Laser zur Laser-Materialbearbeitung (zum Beispiel Laserschneiden, Schweißen, Härten, Lasergravieren, Bohren) arbeiten bei Infrarot-Wellenlängen.
Sicherheitsmerkmale
Infrarotsensitive Sicherheitsmerkmale in Pässen und Geldscheinen werden mit Infrarot-Testgeräten überprüft. So erscheinen bei Euroscheinen aufgrund abweichender Infrarotabsorption bestimmter Druckfarben Motive. Bei Bestrahlung mit Infrarot (zum Beispiel mit einer Infrarot-Leuchtdiode) und Betrachtung mithilfe einer infrarotempfindlichen Kamera werden diese Motive sichtbar – andere, mit bloßem Auge sichtbare Motive verschwinden hingegen.
Gastronomie
Infrarotstrahlung wird in der Gastronomie eingesetzt. In Form von Heizstrahlern und Heizpilzen sind sie für Außen- und Raucherbereiche häufig anzutreffen. Zudem werden sie auch für den kulinarischen Genuss eingesetzt, in Form von Infrarotgrills (als großer Gastrogrill oder kleiner Tischgrill). Im Vergleich zu klassischen Holz-, Elektro- oder Gasgrills, haben sie durch die Wärmestrahlung den Vorteil, dass kein Fett auf die Heizelemente trifft, da die Strahler oberhalb des Grillguts angebracht sind. Dadurch wird auch Rauchentwicklung verhindert.
Literatur
Weblinks
Einzelnachweise
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Q11388
| 666.956362 |
179599
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https://de.wikipedia.org/wiki/Ostkap
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Ostkap
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Ostkap (, , IsiXhosa IPhondo yaMpuma-Koloni) ist eine südafrikanische Provinz im Südosten der Republik. Die Provinz Ostkap entstand 1994 durch die Vereinigung des Südostens der Kapprovinz mit den ehemaligen Homelandgebieten Ciskei und Transkei. Die Hauptstadt ist Bhisho.
Mit einem Indexwert von 0,617 im Jahr 2015 hat das Ostkap den niedrigsten Index der menschlichen Entwicklung unter allen Provinzen des Landes.
Geographie
Die größte Stadt des Ostkaps und neben East London wichtigster Industriestandort ist Gqeberha. Weil sich in Ostkap keine nennenswerten Bodenschätze befinden, ist die Provinz eine Region des Landes mit geringer Industrialisierung und einkommensschwachen, ländlich geprägten Siedlungen. Ihre wesentlichen wirtschaftlichen Potenziale liegen in der Land- und Forstwirtschaft.
Die Landschaft ist über weite Strecken noch unberührt und bietet eine außerordentliche Vielfalt an morphologischen Erscheinungen und Ökosystemen, die vom Ödland der Great Karoo über den Knysna-Wald, Berggebieten bis über 2000 Metern Höhe und bis zum fruchtbaren Ackerland zwischen den Ebenen Little Karoo und dem Langkloof reicht. Die Vegetation ist sehr abwechslungsreich: Es gibt sowohl Reste immergrüner außertropischer Wälder als auch Fynbos-Vegetation, Graslandschaften und Dornbusch-Savanne. Bei Hogsback und im Tsitsikamma-Nationalpark befinden sich immergrüne Wälder mit einheimischen Baumarten.
Die Höhenlagen der Provinz sind stark differenziert und geologisch sowie naturräumlich breit gefächert. Zu den wichtigsten Gebirgslandschaften zählen Teilabschnitte der Großen Randstufe, wie Sneeuberg, Bamboesberg, Stormberge und die westlichen Ausläufer der Drakensberge, ferner die Regionen Bankberg, Winterberge und Amathole-Berge sowie die Erhebungen innerhalb der Faltungszone der Kap-Supergruppe die Grootwinterhoekberge, Baviaanskloofberge und die Tsitsikammaberge. Besonders zerklüftet ist die Bergszenerie der Wild Coast einschließlich ihres Binnenlandes.
Distrikte mit den Gemeinden
Die Territorialstruktur der Provinz Ostkap besteht aus 6 Distrikten mit 31 Lokalgemeinden sowie zwei Metropolgemeinden (Stand Juli 2020):
Verkehr
Flugverkehr
In East London, Gqeberha und Mthatha gibt es Binnenflughäfen. Sie werden vorrangig von Flughäfen in Kapstadt und Johannesburg angeflogen.
Schiffsverkehr
Die größeren Hafenstädte an der Küste besitzen einen frachtfähigen Hafen. Die Schwerpunkte liegen dabei in Gqeberha, dem Hafen Ngqura und in East London. Einen Binnenschiffsverkehr mit Frachtaufkommen gibt es nicht. Die geringe Wasserführung, die Sedimentfracht der Flüsse und einige wasserwirtschaftliche Bauwerke lassen das nicht zu.
Straßennetz
In der Provinz Ostkap bildet heute das Straßennetz die Hauptverkehrsverbindung zwischen den Ortschaften. Das früh entstandene Eisenbahnnetz hat vergleichsweise an Bedeutung verloren. Die Nationalstraße N2 durchquert die Provinz von Südwesten nach Nordosten. Dabei verbindet sie, von Kapstadt kommend, die Städte Gqeberha, Makhanda, King William’s Town, Mdantsane, East London, weiter nach Mthatha, wo sie das unwegsame Gebiet der Wild Coast umfährt. Von dort verläuft sie weiter nach Kokstad in der Nachbarprovinz KwaZulu-Natal und führt weiter in Richtung Durban. Zwischen King William’s Town und East London sowie westlich von Gqeberha bis zur Ortschaft Thornhill ist sie als vierspurige Autobahn ausgebaut.
Die Nationalstraße N6 beginnt in East London und schafft eine Verbindung mit dem nordwestlich dieser Stadt liegenden Binnenland. Dabei berührt sie die Städte Macleantown und Stutterheim, überwindet danach die östlichen Ausläufer der Amathole-Berge, ferner Cathcart, Queenstown und den Verkehrsknotenpunkt Aliwal North. Bei letzterer Stadt überquert sie den Oranje, damit die Provinzgrenze und führt weiter nach Bloemfontein in der Provinz Freistaat.
Von Westen, aus der Region um Oudtshoorn erstreckt sich die Nationalstraße N9 über den westlichen Teil der Provinz. Sie erreicht am Ghwarriepoort (Gebirgspass) das Gebiet, führt durch relativ gering bewohnte Landschaften nach Graaff-Reinet. Danach streift sie die östlichen Ausläufer des Sneeuberg-Massivs mit der Ortschaft Bethesdaweg und erreicht danach Middelburg. Dort folgt sie kurz dem Verlauf der N10, verlässt südlich der Ortschaft Carlton das Provinzgebiet in nördliche Richtung nach Colesberg, wo sie in der N1 endet.
Aus der Provinz Nordkap über Britstown führt die Nationalstraße N10 in den westlichen Teil der Provinz Ostkap und erreicht nördlich von Middelburg ihr Gebiet. Dabei vereinigt sie sich kurz mit der N9, die sie nach dieser Stadt wieder verlässt und über Cradock bis in das küstennahe Gebiet führt. Bei der Ortschaft Ncanaha kurz vor Gqeberha wird sie von der N2 aufgenommen.
Das Verkehrswegenetz zwischen den Nationalstraßen bilden Regionalstraßen durch teilweise unwegsame, trockene und gebirgige Gebiete. Es gibt in den abgelegenen Regionen zahlreiche unbefestigte Straßen.
Seit dem Jahr 2003 regelt ein Gesetz der Provinz (Eastern Cape Roads Act, No. 3 / 2003) die Aufgaben der Provinzverwaltung für das in ihrer Zuständigkeit liegende Straßennetz. Damit wurden die Regelungen der Roads Ordinance von 1976 aufgehoben. Die Provinz erhält finanzielle Zuschüsse aus dem nationalen PRMG-Fond (Provincial Road Maintenance Grant) für die Straßenunterhaltung.
Demografie
Nach den Ergebnissen der Volkszählung von 2011 rechneten sich 86,3 % der schwarzen Bevölkerungsgruppe zu, 4,7 % den Weißen, 8,3 % den Coloureds und 0,4 % den Indern und Asiaten. isiXhosa gaben 78,8 % der Bevölkerung als Muttersprache an, Afrikaans 10,58 %, Englisch 5,61 % und Sesotho 2,46 %.
Die folgende Übersicht zeigt die Einwohnerzahlen nach dem jeweiligen Gebietsstand seit der Volkszählung 1996.
Politik
Bei den Wahlen 2019 zur Provincial Legislature blieb der ANC in der Provinz Ostkap die stärkste Partei. Die Mandate verteilen sich wie folgt.
Städte (Auswahl)
Hochschuleinrichtungen
Auf dem Gebiet der Provinz existieren vier Hochschuleinrichtungen. Zwei von ihnen verfügen über ausgeprägte internationale Beziehungen und haben zur wissenschaftlichen Entwicklung des Landes Südafrikas über einen Zeitraum von mehr als einhundert Jahren maßgeblich beigetragen. Es handelt sich um die:
Nelson Mandela University
Rhodes-Universität
Universität von Fort Hare und
Walter-Sisulu-Universität.
Von historischer Bedeutung für die agrarwirtschaftliche Ausbildung im gesamten Land ist das Fort Cox College of Agriculture and Forestry bei Keiskammahoek.
Nationalparks und Naturschutzgebiete
Persönlichkeiten
Die alte Universitätsstadt Grahamstown – seit 2018 Makhanda – mit Bischofssitz, das ehemalige britische Verwaltungszentrum King William’s Town sowie die Hafenstädte East London und Gqeberha sowie weitere Orte waren und sind die Wirkungsstätten vieler für Südafrika historisch bedeutsamer Persönlichkeiten. Zu ihnen zählen der deutschstämmige Naturforscher Selmar Schönland, sein Sohn Basil Schonland, der preußische Offizier Richard von Stutterheim, die Entdeckerin Marjorie Courtenay-Latimer, die Missionare James Stewart und Jane Elizabeth Waterston sowie der Künstler Churchill Madikida und der Musiker Alex van Heerden.
Viele bekannte Persönlichkeiten der Anti-Apartheidsbewegung, wie Nelson Mandela, Govan Mbeki und Thabo Mbeki, Walter Sisulu, ferner Chris Hani, Steve Biko und Albertina Sisulu stammen aus dieser Provinz, da auf ihrem Gebiet die früheren Homelands Ciskei und Transkei lagen, traditionelle Siedlungsgebiete der Xhosa. Auch andere Bürgerrechtler, wie Allan Hendrickse, wurden im Ostkap geboren.
Galerie
Weblinks
Office of the Premier, Eastern Cape: Webpräsenz der Provinzverwaltung. auf www.ecprov.gov.za (englisch)
Provincial Government Handbook – South Africa: Eastern Cape Government. auf www.provincialgovernment.co.za (englisch)
Eastern Cape Parks & Tourism Agency: Getting Out & About in the Eastern Cape. auf www.visiteasterncape.co.za (englisch)
Statistics South Africa: Statistics by place. auf www.statssa.gov.za (englisch), interaktive Darstellung der Provinzen
Department of Water and Sanitation: Development of an internal strategic perspective for the Amatole-Kei Area of the Mzimvubu to Keiskamma Water Management Area (WMA No. 12). auf www.dws.gov.za (englisch; PDF-Datei; 6,3 MB), Strategische Perspektiven zur Wassergewinnung in der Provinz
Department of Water and Sanitation: Amatole-Kei internal strategic perspective, Appendices. auf www.dws.gov.za (englisch; PDF-Datei; 307 kB), Wassergewinnungssysteme in der Provinz
Einzelnachweise
Provinz in Südafrika
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Q130840
| 203.258974 |
54259
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https://de.wikipedia.org/wiki/Haarlem
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Haarlem
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Haarlem () ist eine Stadt in der Region Kennemerland-Süd und die Hauptstadt der Provinz Nordholland, Niederlande. Die Stadt liegt am Fluss Spaarne, was ihr den Beinamen Spaarnestad eingebracht hat.
Die Gemeinde Haarlem zählt Einwohner (, CBS) und ist Sitz von zwei katholischen Bischöfen, einem des altkatholischen Bistums Haarlem und einem des römisch-katholischen Bistums Haarlem-Amsterdam.
Geografie
Haarlem liegt am nordwestlichen Rand der „Randstad“. Die Gemeinde grenzt im Uhrzeigersinn an die Gemeinden Velsen, Haarlemmermeer, Heemstede und Bloemendaal. Östlich liegen Amsterdam (19 km) und der Flughafen Schiphol (13 km). Die Häfen von IJmuiden liegen im Norden und die Nordseeküste ist ca. 7 km westlich von Haarlem.
Die Stadt hat eine wichtige regionale Funktion. Ihr primäres Versorgungsgebiet ist der nördliche Teil von Südholland, Bollenstreek, Zuid-Kennermerland, IJmond und ein Teil vom Haarlemmermeer.
Die Gemeinde Haarlem ist aufgeteilt in fünf Stadtteile, neun Viertel und vierzig sogenannte „buurten“, was so viel bedeutet wie Nachbarschaften.
Geschichte
Haarlem entstand als Geestsiedlung an der Spaarne und entwickelte sich auf dem Verbindungsweg von Süd nach Nord. Die Stadt wurde Residenz der Grafen von Holland. Graf Wilhelm II. von Holland verlieh Haarlem 1245 Stadtrechte. Ein Kontingent der Bürger von Haarlem hatte früher in diesem Jahrhundert, 1217–1219, unter Graf Wilhelm I. mit mehreren Schiffen am Fünften Kreuzzug teilgenommen. Daher findet sich bis heute ein Schwert und ein Kreuz im Stadtwappen, die an die legendenhaft verklärten Leistungen dieser Haarlemer Kreuzfahrer während der Belagerung von Damiette in Ägypten (1218) erinnern sollen.
Im Jahr 1429 bekam die Stadt das Zollrecht. Das spätmittelalterliche Haarlem kannte Textilherstellung, Schiffbau und viele Bierbrauereien. Der Reichtum ging zu Ende durch einen etwa dem deutschen Bundschuh-Aufstand ähnelnden Bürgerkrieg namens „Hoeker und Kabeljau-Streit“ (Hoekse en Kabeljauwse Twisten) und den Aufstand der Käser und Bäcker (Kaas- en Broodvolk). Im Jahr 1573 fiel die Festung nach einer monatelangen spanischen Belagerung durch Don Fadrique (Sohn des bekannten Herzogs von Alba). Nach dem Vertrag von Veere zogen sich die Spanier 1577 zurück, nachdem Protestanten und Katholiken gleiche Rechte erhielten. Flämische und französische Immigranten brachten der Stadt eine neue Blütezeit (Leinenweberei, wie auch in Leiden).
1658 gründete der Holländer Petrus Stuyvesant Nieuw Haarlem an der Ostküste Nordamerikas. Später wurde Nieuw-Haarlem als Bezirk Harlem Teil der Stadt New York.
Im 19. Jahrhundert wurden die Stadtbefestigungen geschleift und als Park gestaltet. 1839 fuhr der erste niederländische Zug zwischen Haarlem und Amsterdam.
1927 wurde die Gemeinde Schoten eingemeindet. Teile der Gemeinden Bloemendaal, Haarlemmerliede en Spaarnwoude und Heemstede wurden ebenfalls eingemeindet. So wurde Haarlem zur fünftgrößten Stadt der Niederlande nach Amsterdam, Rotterdam, Den Haag und Utrecht.
Nach der Erfindung der Buchdruckerei, in deren Frühzeit der Haarlemer Laurens Janszoon Coster eine wichtige Rolle spielte, bekam Haarlem eine bleibende Reputation als Druckerstadt. Die älteste Tageszeitung wird noch immer in Haarlem gedruckt. Im Jahr 1656 erschien zum ersten Mal de Oprechte Haerlemse Courant, die heute unter dem Namen Haarlems Dagblad firmiert. Die Firma Johan Enschedé ist eine bekannte Spezialdruckerei, die auch für das Ausland u. a. Geldscheine und Ausweisdokumente herstellt. Hinzu kommt die Tradition als Stadt der Schriftsteller.
Religion
Das größte Gotteshaus der Stadt ist die Grote Kerk genannte St.-Bavo-Kirche. 1578 wurde an dieser Kirche die Reformation eingeführt, heute ist sie evangelisch-unierte Pfarrkirche.
Wenige Jahre nachdem das Utrechter Domkapitel aus eigenem Recht einen ersten Erzbischof der Alt-Katholischen Kirche gewählt hatte, wurde Hieronymus de Bock 1742 erster alt-katholischer Bischof von Haarlem. Seither ist das Bistum Haarlem eines der drei Bistümer der Alt-Katholischen Kirche der Niederlande. Kathedrale ist die Kirche St. Anna und Maria.
Das Bistum Haarlem der römisch-katholischen Kirche wurde am 5. März 1853 errichtet. Am 1. Januar 2009 erhielt es den neuen Namen Bistum Haarlem-Amsterdam. Bischofskirche ist die St.-Bavo-Kathedrale.
Sehenswürdigkeiten und Kultur
Sehenswürdigkeiten
Bakenesser Kirche
Große oder St.-Bavo-Kirche
St.-Bavo-Kathedrale
Großer Markt
Janskirche, ehemalige Klosterkirche des Johanniterordens, heute Archiv der Provinz Nordholland
Vleeshal (Fleischhalle, eine Markthalle aus der Renaissance)
Amsterdamse Poort, östliches, letztes erhaltenes Stadttor (Richtung Amsterdam), Teil der mittelalterlichen Befestigung, im 14. Jahrhundert erbaut
Philharmonie mit Cavaillé-Coll-Orgel (bis 2002 Concertgebouw Haarlem)
Haarlem ist bekannt für seine vielen malerischen Hofjes (von reichen Bürgern zur Versorgung älterer alleinstehender Frauen gestiftete Wohnhöfe) aus dem 17. und 18. Jahrhundert
Hauptwache Haarlem
Museen
Frans Hals Museum
Teylers Museum am Spaarne-Ufer (gegründet 1778) ist das älteste Museum der Niederlande. Es ist aus einer Privatsammlung entstanden und folgt dem Konzept einer Wunderkammer
Politik
Bürgermeister
Ab 2006 war Bernt Schneiders (* 2. April 1959) von der PvdA Bürgermeister. Am 21. September 2016 folgte ihm Jos Wienen (CDA) in diesem Amt.
Sitzverteilung im Gemeinderat
In Haarlem tagt der Gemeinderat seit 1982 in folgenden Konstellationen:
Anmerkungen
Städtepartnerschaften
Haarlem unterhält Städtepartnerschaften mit Osnabrück (seit 1961) sowie dem westfranzösischen Angers (seit 1964).
Söhne und Töchter der Stadt
Joost van Aken (* 1994), Fußballspieler
Hendrik Andriessen (1892–1981), Komponist
Jurriaan Andriessen (1925–1996), Komponist
Mari Andriessen (1897–1979), Bildhauer
Jan de Baen (1633–1702), Porträtmaler
Frédéric L. Bastet (1926–2008), klassischer Archäologe, Historiker und Autor
Nicolaas Beets (1814–1903), Schriftsteller
Cornelis Pietersz. Bega (1631/32–1664), Barock-Maler und Radierer
Jan Bender (1909–1994), Kirchenmusiker und Komponist
Oscar Benton (1949–2020), Sänger
Gerrit Adrianszoon Berckheyde (1638–1698), Maler
Cor de Best (1918–2006), Radrennfahrer
Vera Beths (* 1946), Geigerin
Cor Bijster (1922–1998), Radrennfahrer
Jacob Bijster (1902–1958), Organist und Komponist
Corrie ten Boom (1892–1983), christliche Missionarin und Schriftstellerin
Gerard Boter (* 1954), Klassischer Philologe und Hochschullehrer
Emilie Bouwman (* 1943), „Frau Antje“, Modedesignerin und Fotomodell
Floris Jan Bovelander (* 1966), Hockeyspieler
Joseph de Bray (1628/34–1664), Maler
Salomon de Bray (1597–1664), Maler
Jesper de Jong (* 2000), Tennisspieler
Karel Hendrik van Brederode (1827–1897), Bahnhofsarchitekt
Arnoldus Johannes Petrus van den Broek (1877–1961), Anatom
Adriaen Brouwer (1605/06–1638), Maler
Dieric Bouts (1410/20–1475), Maler
Roderik Bouwman (* 1957), Hockeyspieler
Matthijs Büchli (* 1992), Bahnradsportler
Jacob van Campen (1596–1657), Baumeister
Willem Naudin ten Cate (1860–1942), Seeoffizier und Politiker
Jordy Clasie (* 1991), Fußballspieler
M. J. Cohen (* 1947), Politiker
Salomon Coster (≈1622–1659), Uhrmacher
Laurens Janszoon Coster (≈ 1370–1440), Buchdrucker
Midas Dekkers (* 1946), Biologe, Schriftsteller und Journalist
Yvonne Dold-Samplonius (1937–2014), Mathematikhistorikerin
Ko Doncker (1874–1917), Zeichner, Schattenspielkünstler und Autor
Jenny Duncalf (* 1982), englische Squashspielerin
Hendrik Dyserinck (1838–1906), Seeoffizier, Konteradmiral und Politiker
Frederik van Eeden (1860–1932), Psychologe, Sozialreformer und Schriftsteller
Marjolein Eijsvogel (* 1961), Hockeyspielerin
Piet Emmer (* 1944), Kunsthistoriker
Mannes Francken (1888–1948), Fußball-Nationalspieler
Yannick Franke (* 1996), Basketball-Nationalspieler
Philipp Galle (1537–1612), Zeichner und Kupferstecher
Ruud Geels (* 1948), Fußballspieler
Yvonne van Gennip (* 1964), ehemalige Weltmeisterin und Olympiasiegerin im Eisschnelllauf
Serdar Gözübüyük (* 1985), Fußballschiedsrichter türkischer Abstammung
Scott Griekspoor (* 1991), Tennisspieler
Tallon Griekspoor (* 1996), Tennisspieler
Tamara Haggerty (* 1996), Handballspielerin
Dirck Hals (1591–1656), Maler
Frans Hals (1580/85–1666), Maler
Frans Hals der Jüngere (1618–1669), Maler
Anton Gerard van Hamel (1842–1907), Romanist und Mediävist, Hochschullehrer
Gerardus Antonius van Hamel (1842–1917), Jurist, Universitätsrektor und Politiker
Jan de Hartog (1914–2002), Schriftsteller
Kenau Simonsdochter Hasselaer (1526–1588), Freiheitskämpferin
Willem Claeszoon Heda (≈1594–1670/82), Maler
Maarten van Heemskerck (1498–1574), Maler
Ig Henneman (* 1945), Bratschistin und Komponistin
Geert Hofstede (1928–2020), Kulturwissenschaftler und Sozialpsychologe
Gilles Holst (1886–1968), Physiker
Hans Hugenholtz Junior (* 1950), Autorennfahrer und Unternehmer
Petrus Huizing (1911–1995), römisch-katholischer Kirchenrechtler
Eric Ineke (* 1947), Jazzmusiker
Dirk Jan Hendrik Joosten (1818–1882), Maler
Hanns Joosten (* 1961), Fotograf
Dick Kaart (1930–1985), Jazzmusiker
Ray Kaart (1934–2011), Jazzmusiker
Christiaan van der Kamp (* 1967), Jurist und Politiker
Mitchell Kappenberg (* 1986), Fußballspieler
Lieven de Key (≈1560–1627), Baumeister
Albert de Klerk (1917–1998), Komponist, Dirigent und Stadtorganist in Haarlem
Frederik Marinus Kruseman (1816–1882), Landschaftsmaler
Dennis van de Laar (* 1994), Automobilrennfahrer
Pieter van Laer (1592/99–1642), Maler, genannt Il Bamboccio
Michael Johannes Antonius Lans (1845–1908), Komponist, Musikwissenschaftler und katholischer Priester
Fred Leeflang (1945–2018), Jazzmusiker
Judith Leyster (1609–1660), Malerin
Bart van Lier (* 1950), Jazzmusiker
Erik van Lier (* 1945), Jazzmusiker
Cornelis Lieste (1817–1861), Landschaftsmaler und Lithograph
Antonius van der Linde (1833–1897), Historiker, Bibliothekar, Theologe und Schachhistoriker
Jacobus van Looy (1855–1930), Maler und Schriftsteller
Martin Lucas (1894–1969), römisch-katholischer Priester und päpstlicher Diplomat
Margot Marsman (1932–2018), Schwimmerin
Isaac Massa (1586–1643), Kaufmann, Diplomat in Russland und Kartograf
Jakob Matham (1571–1631), Kupferstecher
Woutherus Mol (1785–1857), Maler
Bartholomeus Molenaer (um 1618 – 1650), Genremaler
Merel Mooren (* 1982), Beachvolleyball-Spielerin
Jan Mul (1913–1971), Komponist, Organist und Chorleiter
Harry Mulisch (1927–2010), Schriftsteller
Frederik Muller Jzn. (1883–1944), klassischer Philologe
Jean Charles Naber (1858–1950), Rechtswissenschaftler
Johanna Naber (1859–1941), Feministin
Jan Antoon Neuhuys (1832–1891), Historien- und Genremaler
Adriaen van Ostade (1610–1685), Maler
Roelof Theodorus Overakker (1890–1945), Generalmajor der Infanterie
Bram Peper (1940–2022), Soziologe und Politiker
Gerard Peters (1920–2005), Radrennfahrer
Piet Peters (1921–?), Radrennfahrer
Amy Pieters (* 1991), Radrennfahrerin
Roy Pieters (* 1989), Radrennfahrer
Margot Pilz, geborene ter Heege (* 1936), bildende Künstlerin
Pieter Post (1608–1669), Architekt
Ard Posthuma (* 1942), Übersetzer
Youri Regeer (* 2003), Fußballspieler
Ludovit Reis (* 2000), Fußballspieler
Marjan Ridder (* 1953), Badmintonnationalspielerin
Piet Ridder (* 1951), Badmintonnationalspieler
Rob Ridder (* 1953), Badmintonnationalspieler und -funktionär
Patricia Riekel (* 1949), Journalistin, Chefredakteurin
Coba Ritsema (1876–1961), Porträtmalerin
Joan Röell (1844–1914), Staatsmann
Herman Roosdorp (1895–1965), niederländisch-belgischer Autorennfahrer
Jacob van Ruisdael (≈1628/29–1682), Maler
Michiel de Ruyter (1926–1994), Radiomoderator und Musikproduzent
Pieter Jansz Saenredam (1597–1665), Maler
Lara Schnitger (* 1969), Künstlerin
Janneke Schopman (* 1977), Hockeyspielerin
Uta Schotten (* 1972), Künstlerin
Cornelius Schrevelius (1608–1661), Altphilologe
Theodorus Schrevelius (1572–1649), Humanist, Dichter und Autor
Brenda Schultz-McCarthy (* 1970), Tennisspielerin
Bram Schwarz (* 1998), Ruderer, Vize-Weltmeister im Achter
Jopie Selbach (1918–1998), Schwimmerin
Charlie Setford (* 2004), englisch-niederländischer Fußballtorhüter
Tialda van Slogteren (* 1985), Sängerin bei Room2012
Claus Sluter (≈1350–1405/06), Bildhauer
Jiske Snoeks (* 1978), Hockeyspielerin
Kelvin Snoeks (* 1987), Rennfahrer
Ben Sonnemans (* 1972), Judoka
Margaret Staal-Kropholler (1891–1966), Architektin
Jan Steen (≈1626–1679), Maler
Maarten Stekelenburg (* 1982), Fußballspieler
Peter Stevenhaagen (* 1965), Radrennfahrer
Jan Striening (1827–1903), Genremaler und Kunstpädagoge
Bernardus Franciscus Suerman (1783–1862), Mediziner
Jonas Suyderhoef (≈1613–1686), Kupferstecher
Jacobus van Tongeren (1913–1996), Kanute
Jelle van Tongeren (* 1980), Jazzmusiker
Jan Tulleken (1883–1962), Radrennfahrer
Frank Verlaat (* 1968), Fußballspieler
Willem Adolf Visser ’t Hooft (1900–1985), evangelisch-reformierter Theologe, Generalsekretär des Weltrates der Kirchen
Adri Voorting (1931–1961), Radrennfahrer
Cornelis Visscher (1629–1662), Graveur
Hugo de Vries (1848–1935), Biologe
Cornelis Vroom (≈1591/92–1661), Maler und Zeichner
Bert Wijbenga (* 1964), Polizist, Manager und Politiker
Cornelius Ludovicus Baron de Wijkerslooth (1786–1851), katholischer Priester und Theologe sowie Titularbischof von Curium
Laurien Willemse (* 1962), Hockeyspielerin
Johan Winkler (1898–1986), Journalist, Autor und Übersetzer
Pieter Wispelwey (* 1962), Cellist
Joan van Woensel (1705–1773), Mediziner
Hendrik Zwaardemaker (1857–1930), Physiologe
Weblinks
Offizielle Website der Gemeinde (niederländisch)
Tourismusportal von Haarlem (deutsch, niederländisch, englisch, französisch)
Einzelnachweise
Gemeinde in Noord-Holland
Niederländische Provinzhauptstadt
Ort in Noord-Holland
Stadt in den Niederlanden
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Q9920
| 173.662476 |
146460
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https://de.wikipedia.org/wiki/Roraima
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Roraima
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Roraima, amtlich , ist der bevölkerungsärmste der 27 Bundesstaaten von Brasilien und liegt im Norden der Großregion Norte. Zunächst als ein von der Zentralregierung 1943 eingerichtetes und ihr unterstelltes Bundesterritorium () wurde Roraima 1988 zum Bundesstaat erhoben. Die Hauptstadt von Roraima ist Boa Vista, sie ist die einzige brasilianische Hauptstadt, die vollständig auf der Nordhalbkugel liegt.
Geographie
Roraima grenzt an die brasilianischen Bundesstaaten Pará und Amazonas sowie an Venezuela und Guyana. Der Bundesstaat umfasst den Süd- und Südost-Abfall der Tafelgebirge Serra Parima und Serra Pacaraima, Teile des welligen Berglandes von Guyana sowie die Schwemmlandebenen des Rio Branco.
Ein Großteil des Bundesstaates ist vom tropischen Regenwald bedeckt; die jährlichen Niederschlagsmengen belaufen sich auf etwa 1500 bis 2000 mm. Im Osten dehnt sich ein kleines Savannengebiet aus. Einer der höchsten Berge Brasiliens und der Namensgeber des Bundesstaats, der Roraima-Tepui, befindet sich im Roraima-Nationalpark.
Demografie
Roraima hatte nach der Volkszählung von 2000 des Instituto Brasileiro de Geografia e Estatística (IBGE) 324.397 Einwohner auf einer Fläche von rund 224.300 km². Die Bevölkerungsdichte lag bei 1,45 Einwohnern pro km².
Die letzte Volkszählung von 2010 ergab eine Einwohnerzahl von 450.479 Personen auf einer Fläche von rund 224.301 km² und einer Bevölkerungsdichte von 2,09 Einwohnern pro km².
Neuere Schätzungen der Einwohnerzahlen wurden zum 1. Juli 2021 durch das IBGE veröffentlicht.
Bevölkerungsentwicklung
Quelle: IBGE (2011)
Ethnische Zusammensetzung
Ethnische Gruppen nach der statistischen Einteilung des IBGE (Stand 2000 mit 30.880 Einwohnern, Stand 2010 mit 34.656 Einwohnern):
Quelle: SIDRA
Städte
Roraima hat insgesamt 15 Städte mit großen Gemeindeflächen, die nach brasilianischem Kommunalrecht den Status eines (Munizip) haben.
Die drei größten Städte sind: Boa Vista als einzige Großstadt und höchstem jährlichen Zuwachs (2020 geschätzt: 419.652 Einwohner), Rorainópolis (2020 geschätzt: 30.782 Einwohner) und Caracaraí (2020 geschätzt: 22.283 Einwohner).
Politik
Gouverneur ist seit 1. Januar 2019 Antonio Denarium, der bereits seit Dezember 2018 als Bundesinterventor fungierte. Bei den Gouverneurswahlen in Brasilien 2018 erlangte er 136.612 oder 53,34 % der gültigen Stimmen bei der Stichwahl. Bei der Gouverneurswahl in Roraima 2022 anlässlich der Wahlen in Brasilien 2022 wurde er im ersten Wahlgang mit 163.167 oder 56,47 % der Stimmen für die Amtszeit von 2023 bis 2027 wiedergewählt.
Die Legislative liegt bei der Legislativversammlung von Roraima aus 24 gewählten Abgeordneten.
Im Nationalkongress ist Roraima mit drei Senatoren im Bundessenat und mit acht Bundesabgeordneten in der Abgeordnetenkammer vertreten.
Der hohe Anteil der indigenen Bevölkerung in Roraima führte bei den Kommunalwahlen in Brasilien 2020 dazu, dass Indigene in zwei Städten ab 2021 den Stadtpräfekten (Bürgermeister) und einen Vizestadtpräfekten stellen.
Weblinks
Regierungsportal von Roraima (brasilianisches Portugiesisch)
Regierungsportal Transpârencia (brasilianisches Portugiesisch)
Einzelnachweise
Brasilianischer Bundesstaat
Amazonien
Gegründet 1988
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Q42508
| 206.485534 |
751485
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https://de.wikipedia.org/wiki/Saprobiont
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Saprobiont
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Saprobionten ( sapros ‚faul‘, ‚verfault‘) sind heterotrophe Organismen, die in toter, sich zersetzender organischer Substanz leben, also zum Beispiel der Streuschicht von Wäldern, in Faulschlamm, Kot, Aas oder Mulm. Dies schließt auch die in diesem Substrat lebenden Prädatoren und Parasiten mit ein.
Organismen, die sich vom toten Material selbst ernähren, heißen Saprophage. Die zugehörige Lebensweise wird manchmal als saprobiontisch bezeichnet. Wenige Autoren verwenden den Begriff Saprobionten auch anders, als Oberbegriff für Saprophyten und Saprophage.
Begriffe
Im Umfeld der Saprobionten gibt es eine Vielzahl von Begriffen mit teils ähnlicher und überschneidender Bedeutung:
saprophil sind Organismen, Pflanzen oder Tiere, die an oder in toten organischen Substanzen leben.
saprotroph sind Organismen, die die tote organische Substanz als Nahrung nutzen. Der Begriff ist vor allem für Pilze üblich.
saprophag (auch saprovor) sind Organismen, die tote organische Substanz fressen. Hier werden von einigen Autoren Untergruppen unterschieden:
Phytosaprophage, oder Saprophage im engeren Sinne, fressen totes pflanzliches Material. Gleichbedeutend ist detritivor (auch: detritophag), abgeleitet vom Begriff Detritus.
Zoosaprophage sind allgemein Organismen, die sich von toter Substanz tierischer Herkunft ernähren. Der Begriff wird insbesondere in der Parasitologie verwendet, um Arten zu bezeichnen, die sich von absterbendem oder gerade abgestorbenem Gewebe ernähren, etwa im nekrotischen Gewebe vereiterter Wunden.
Koprophage fressen tierische Exkremente.
Nekrophage fressen tierische Kadaver.
Saprophyten beinhalten Bakterien, saprophytische Pilze sowie einige Pflanzen, die nicht oder nur eingeschränkt zur Photosynthese fähig sind und daher von abgestorbener organischer Materie leben. Einige Blütenpflanzen, aus der Familie der Orchideen, wie zum Beispiel die Korallenwurz, zählen ebenfalls zu den Saprophyten.
Saprobier (oder auch: Saprobien) sind aquatische (im Süßwasser lebende) Arten, die im Rahmen des sog. Saprobiensystems als Bioindikatoren für die Klassifizierung der Gewässergüte herangezogen werden. Die Saprobier umfassen sowohl saprophage Arten als auch Pflanzenfresser und Räuber mit einer Vielzahl unterschiedlicher Vorzugshabitate und Lebensweisen. Die meisten von ihnen sind also nicht saprobiont.
Ökologische Bedeutung
Saprophage sorgen für einen geschlossenen Stoffkreislauf in einem Ökosystem. Sie schließen das anfallende organische Material auf und nutzen die dabei anfallenden organischen Moleküle für ihren eigenen Energie- und Baustoffwechsel. Da sie selbst wieder Teil des Nahrungsnetzes eines Ökosystems sind, werden diese organischen Stoffe dem biogenen Stoffkreislauf zugeführt.
Saprophage kann man funktionell in zwei Gruppen unterteilen:
Mineralisierer: Fäulniserregende (saprogene), Sauerstoff benötigende (aerobe) Bakterien und Pilze bauen die organischen Nährstoffe zu anorganischen Stoffen wie Kohlenstoffdioxid oder Nitraten ab, die von den Pflanzen als Primärproduzenten für die Umwandlung in organische Stoffe (Assimilation) benötigt werden. Funktional werden sie auch als Destruenten bezeichnet.
Zerkleinerer: Durch Zerkleinern des toten organischen Materials und Ausscheiden von nährstoffhaltigem Feinmaterial (Kot) sorgen diese Tiere für eine vergrößerte Oberfläche für den Angriff der Bakterien und Pilze und damit für einen beschleunigten Abbau und Stoffkreislauf. Hierzu gehören Aasfresser (Nekrophagen) wie Aaskäfer, Krebstiere oder Geier, Totholzfresser wie die Termiten oder der Gescheckte Nagekäfer, Substratfresser wie der Wattwurm und Regenwurm und Kotfresser (Koprophagen) wie der Pillendreher.
Saprophage sind Teil von Organismengemeinschaften (Biozönosen), die an Land (terrestrische Ökosysteme) für die Humusbildung sorgen und in Gewässern (aquatische Ökosysteme) für die Bildung von Faulschlammschichten (Sapropele) verantwortlich sind.
Von den im Boden lebenden Organismen (Edaphon) machen die saprophagen Tierarten in der Regel einen ganz erheblichen Anteil aus. Neben der Ernährung von Falllaub, Totholz, Streu und Humus, die auf abgestorbene Teile von Pflanzen zurückgehen, ist ein entscheidender Teil ihrer Ernährungsbasis die Biomasse der darin lebenden mineralisierenden Bakterien und Pilze. Sie sind also zu einem großen Anteil eigentlich Pilzfresser (mycetophag) und Bakterienfresser (manchmal als mikrophytophag bezeichnet), nehmen diese aber nicht gezielt, sondern als Bestandteil der zersetzten Pflanzenbiomasse mit auf, so dass diese Gruppen in der Regel gemeinsam behandelt werden. In mitteleuropäischen Waldböden sind die wichtigsten saprophagen Bodenbewohner die Schalenamöben (Thecamoeba oder Testacea), die Fadenwürmer (Nematoda), die Enchyträen (Enchytraeidae), die Regenwürmer (Lumbricidae), viele Milben (Acari), insbesondere Hornmilben, die Springschwänze (Collembola) sowie die Larven von Zweiflüglern (Diptera) und Käfern (Coleoptera).
Beispiele
Beispiele für Saprobionten, die im Tierreich zur sogenannten Aasfauna zählen, sind verschiedene Fadenwürmer, Aaskäfer (wie der Totengräber Nicrophorus), die Larven diverser Fliegenarten (wie Schmeißfliegen, Calliphoridae und Fleischfliegen, Sarcophagidae) sowie verschiedene Milben.
Symbiosen
Saprobionte Mikroorganismen leben als Symbionten im Verdauungstrakt von Säugern (Rinder, Mensch) und Insekten (Termiten). Dort zersetzen sie organische Stoffe, die durch die Verdauungsenzyme des Wirtstieres nicht zerlegt werden können.
Gefäßpflanzen, die wenig oder gar kein Chlorophyll besitzen und keine Haustorium-Parasiten sind, wurden früher als „Saprophyten“ bezeichnet. Allerdings konnte nie nachgewiesen werden, dass Gefäßpflanzen sich direkt, etwa durch enzymatisches Aufschließen, von toter organischer Bodensubstanz (Detritus) ernähren können. Denkbar ist allenfalls eine parasitische Symbiose mit saprotrophen Pilzen. Aber auch diese Möglichkeit ist nur in ganz wenigen Fällen tatsächlich belegt. Stattdessen leben die meisten myko-heterotrophen Pflanzen in parasitärer Symbiose mit Ektomykorrhizapilzen und beziehen organische Kohlenstoffverbindungen indirekt von deren Symbiosepartnern, den Waldbäumen. Diese Ernährungsweise unterscheidet sich fundamental von der Saprotrophie, sie wird als Epiparasitismus bezeichnet. Beispiele sind die beiden Fichtenspargel-Arten sowie die Orchideen Korallenwurz, Vogel-Nestwurz und Violetter Dingel.
Einzelnachweise
Weblinks
Ernährungstyp
Lebewesen – Ökologische Gruppe
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Q114750
| 94.547922 |
2955252
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https://de.wikipedia.org/wiki/Hyperriese
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Hyperriese
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Ein Hyperriese (Leuchtkraftklasse 0) ist ein Stern mit gewaltiger Masse und Leuchtkraft.
Eigenschaften
Hyperriesen haben ein ähnlich großes Volumen wie Überriesen, sind aber noch massereicher und zeichnen sich durch eine sehr hohe Leuchtkraft aus. Einige Hyperriesen haben mehr als 100 Sonnenmassen, wobei sie am Anfang ihrer Entwicklung sogar 200 bis 250 Sonnenmassen enthalten haben könnten. Damit reichen sie an die Eddington-Grenze heran, eine theoretische Höchstgrenze der Sternenmasse, ab der ein Stern so viel Strahlung erzeugt, dass seine äußeren Schichten nicht mehr ausreichend durch die Gravitation angezogen werden. Die genauen Mechanismen der Entstehung und Entwicklung derart massereicher Sterne sowie des numerischen Wertes der Eddington-Grenze sind Gegenstand aktueller Forschung.
Hyperriesen sind mit der tausend- bis millionenfachen Sonnenleuchtkraft die hellsten Sterne im Universum. Ihre Oberflächentemperaturen sind jedoch sehr unterschiedlich. Sie reichen von 3.500 K bis über 35.000 K. Beinahe alle Hyperriesen zeigen Variationen in ihrer Leuchtkraft. Die Gründe liegen in Instabilitäten in ihrem Inneren bei moderaten Temperaturen und hohen Drücken.
Aufgrund des großen inneren Energieumsatzes beträgt die Lebensdauer der Hyperriesen nur wenige Millionen Jahre. Danach explodieren sie als Supernova oder als (hypothetische) Hypernova. Es wird vermutet, dass ein Hyperriese ein stellares Schwarzes Loch hinterlässt. Jedoch könnte er auch durch eine besondere Form der Supernova, die Paarinstabilitätssupernova, komplett zerstört werden.
Bekannte Hyperriesen
Hyperriesen sind aufgrund ihrer Seltenheit schwierig zu beobachten und zu untersuchen. Es scheint für die kühleren, gelb- oder rotleuchtenden Hyperriesen eine obere Grenze ihrer Leuchtkraft zu geben. Keiner von ihnen ist heller als etwa −9,5m absoluter Helligkeit. Dies entspricht etwa der 500.000-fachen Lichtstärke der Sonne. Die Gründe dafür sind bis heute unbekannt.
Leuchtkräftige Blaue Veränderliche (LBV)
Die massereichsten Exemplare der hellen blauen Veränderlichen gehören zur Gruppe der Hyperriesen und zu den hellsten bekannten Sternen:
Deneb, der von der Erde aus hellste Stern im Sternbild des Schwans, der zusammen mit Altair und Wega das Sommerdreieck bildet. Er ist der bekannteste LBV.
P Cygni ebenfalls im Sternbild des Schwans, dessen extrem schwankende absolute Helligkeit die von Deneb derzeit sogar noch übertrifft.
S Doradus in der nahen Galaxie Große Magellansche Wolke. Diese befindet sich im südlichen Sternbild Schwertfisch. In dieser Galaxie fand auch die Supernova 1987A statt.
Eta Carinae innerhalb des Carinanebels (NGC 3372). Dieser Stern befindet sich im südlichen Sternbild Kiel des Schiffs. Eta Carinae ist extrem massereich, möglicherweise hat er eine bis zu 120 oder 150-fache Sonnenmasse und ist 4 oder 5 Millionen Mal heller als die Sonne.
Der Pistolenstern im Quintuplet-Sternhaufen nahe dem Zentrum unserer Galaxie im Sternbild Schütze. Es ist möglich, dass dieser Stern die 150-fache Sonnenmasse aufweist und 1,7 Millionen Mal heller als die Sonne ist.
Mehrere Sterne im Sternhaufen 1806–20. Diese befinden sich auf der unserem Sonnensystem gegenüberliegenden Seite unserer Galaxie. Einer dieser Sterne, LBV 1806–20, ist der hellste bisher bekannte Stern, etwa 2 bis 40 Millionen Mal so hell wie die Sonne. Gleichzeitig gehört er zu den massereichsten Sternen überhaupt.
Blaue Hyperriesen
Zeta-1 Scorpii, der hellste Stern der OB Zusammenballung Scorpius OB1 und ein LBV-Kandidat.
MWC 314 im Sternbild Adler, ein anderer LBV-Stern.
HD 169454 im Sternbild Schild.
BD −14° 5037 in der Nähe von Cygnus OB2.
Cygnus OB2 #12, den manche Autoren als LBV betrachten.
QPM-241 im Quintuplet-Sternhaufen im Sternbild Schütze
Gelbe Hyperriesen
Gelbe Hyperriesen bilden eine extrem seltene Klasse von Sternen. Es sind wahrscheinlich sehr wenige große Sterne, die nicht die erforderliche Masse haben, um LBV zu werden. Sie wandeln sich kurz vor ihrem Ende zu Hyperriesen mit einer gelben oder weißen Phase um. Nur sieben Exemplare sind in unserer Galaxie bekannt:
Rho Cassiopeiae (7 Cas) im nördlichen Sternbild Kassiopeia ist etwa 550.000 mal heller als die Sonne und 10.000 Lichtjahre von uns entfernt. Aufgrund seiner derzeitigen Pulsationen ist er ein Kandidat für die nächste Supernova in unserer Galaxie.
V509 Cassiopeiae (HR 8752)
V382 Carinae (x Carinae)
IRC+10420, im Sternbild Adler
HR 5171 A, im Sternbild Zentaur
einige Sterne im Sternhaufen Westerlund 1
Rote Hyperriesen
RW Cephei
NML Cygni
VX Sagittarii
S Persei (IDS 02156+5808 A)
WOH G64
Besonderheit
Einer der massereichsten bekannten Sterne ist R136a1 im Tarantelnebel der Großen Magellanschen Wolke. Er ist etwa eine Million Jahre alt, hat noch die 265-fache Masse unserer Sonne (von ehemals etwa 320 Sonnenmassen) und strahlt zehn Millionen Mal heller als diese. Bisher war man davon ausgegangen, dass es jenseits von 150 Sonnenmassen keine stabilen Sterne gebe. R136a1 ist Teil eines ganzen Clusters von jungen, massereichen Riesensternen; die Sternendichte ist dort 100.000 Mal höher als die in der Nachbarschaft unserer Sonne.
Siehe auch
Supermassereicher Stern
Anmerkungen und Einzelnachweise
Weblinks
UV-Spektroskopie von 3 Hyperriesen
Sternklasse der Riesensterne
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Q231982
| 86.90813 |
27568
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https://de.wikipedia.org/wiki/Wahlsystem
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Wahlsystem
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Ein Wahlsystem oder Wahlverfahren ist eine formalisierte Methode, um für eine Wahl festzulegen,
welche Möglichkeit zur Auswahl den Wahlberechtigten vorgelegt wird und
wie aus den gültigen Stimmen zu folgern ist, an welche Kandidaten Ämter zu vergeben sind.
Wahlsysteme werden zum Beispiel in der Politik, in Vereinen und bei der Preisvergabe im Sport eingesetzt.
Wichtige Klassen von Wahlsystemen sind die Mehrheitswahl und die Verhältniswahl. (In der Schweiz und in mancher Fachliteratur spricht man von Majorz und Proporz.) Es gibt sie in zahlreichen Varianten und auch in Mischformen.
Wahlsysteme können bestimmte Parteien begünstigen und andere benachteiligen. Wenn es in einem Parlament zur Abstimmung über das Wahlgesetz kommt, votiert jede Partei daher in der Regel entsprechend ihrem eigenen Interesse: „Wahlrecht ist auch Machtrecht“.
Ziele
Ein Wahlsystem soll mehrere Ziele gleichzeitig erreichen; diese stehen jedoch im Konflikt miteinander. Zu ihnen gehören:
Proportionalität: Die Anteile der Mandate der Partei soll möglichst proportional zu ihren Stimmenzahlen sein.
Repräsentation: Alle Mandatsinhaber sollen möglichst gleich viele Wähler vertreten. Alle Stimmen sollen nicht nur im Zählwert, sondern auch im Erfolgswert gleich sein.
Stabilität: Das Wahlsystem soll die Bildung einer stabilen Regierung fördern, einer Zersplitterung der Parteienlandschaft entgegenwirken. Die Wählerschaft soll möglichst direkt über die Bildung der Regierung entscheiden können und nicht die Parteien in ihren Verhandlungen nach der Wahl.
Einfachheit: Ein System, das von vielen Wählern nicht verstanden wird, kann zu Stimmabgaben führen, die dem Wählerwillen nicht entsprechen.
Typologie nach Nohlen
Dieter Nohlen teilt die Wahlsysteme in fünf Mehrheits- und fünf Verhältniswahlsysteme ein, wobei er betont, dass sich noch weitere Systeme finden lassen, die nicht ohne weiteres diesen zehn Typen zugeordnet werden können.
Mehrheitswahlsysteme:
Relative Mehrheitswahl in Einerwahlkreisen, zum Beispiel in Großbritannien
Absolute Mehrheitswahl in Einerwahlkreisen, zum Beispiel in Frankreich
Mehrheitswahl mit Minderheitenvertretung, wie Nicht übertragbare Einzelstimmgebung, Single Nontransferable Vote (SNTV)
Mehrheitswahl in kleinen Mehrpersonenwahlkreisen
Mehrheitswahl mit proportionaler Zusatzliste, darunter auch ein segmentiertes Wahlsystem wie das Grabenwahlsystem
Verhältniswahlsysteme:
Reine Verhältniswahl, zum Beispiel in den Niederlanden
Verhältniswahl in (relativ großen) Mehrpersonenwahlkreisen, zum Beispiel in Spanien
Kompensatorische Verhältniswahl mit oder ohne Sperrklausel
Personalisierte Verhältniswahl mit oder ohne Sperrklausel, zum Beispiel in Deutschland
Übertragbare Einzelstimmgebung, Single Transferable Vote (STV)
Wahlverfahren
Diese Verfahren können auch zur gleichzeitigen Wahl mehrerer gleichberechtigter Mandatsinhaber dienen; dies ist der Sonderfall, bei dem der Rang ungenutzt bleibt. Die Besetzung eines einzigen Amtes ist ein anderer Sonderfall; dieser ist anwendbar zum Beispiel bei der Mehrheitswahl und für die Wahl eines Bürgermeisters. (Auch wo die Beschreibung eines Wahlverfahrens sagt, das Verfahren diene zur Bestimmung eines einzigen Siegers, kann man den als vorletzten Ausscheidenden auf Platz 2 sehen.)
Einzelsieger-Wahlsysteme:
Abstimmung durch bloße Bezeichnung von Kandidaten:
Wahl durch relative Mehrheit: die Anzahl der Stimmen bestimmt den Rang
Wahl mit Quorum (oft „mehr als die Hälfte der Stimmen“), meist mit Stichwahl bei Nichterreichen
Wahl durch Zustimmung (Approval Voting)
Veto-Wahl (Anti-Plurality voting)
Wahl durch Angabe einer Rangfolge einiger oder aller Kandidaten, wobei alle Rangzuweisungen verschieden sein müssen (Präferenzwahl):
Borda-Wahl
Bucklin-Wahl
Coombs-Wahl
Dodgson-Wahl
Integrierte Stichwahl
Abstimmung durch Angabe einer Rangfolge einiger oder aller Kandidaten, wobei derselbe Rang mehreren Kandidaten zugewiesen werden darf:
Kemeny-Young-Wahl
Ranked Pairs
Schulze-Methode
Abstimmung durch Angabe einer Bewertung oder Benotung einiger oder aller Kandidaten:
Bewertungswahl
Majority Judgment
Wahlsysteme zur Zuteilung von mehreren Mandaten (Sitzzuteilungsverfahren):
Hare/Niemeyer-Verfahren
D’Hondt-Verfahren, äquivalent mit dem Hagenbach-Bischoff-Verfahren
Sainte-Laguë-Verfahren
Hill/Huntington-Verfahren
Dean-Verfahren
Adams-Verfahren
Penrose-Verfahren
Doppeltproportionales Zuteilungsverfahren
Verhältniswahlen die auch Präferenzwahlen sind:
Übertragbare Einzelstimmgebung
Ersatzstimme (Wahlrecht)
Siehe auch
Abstimmung
Condorcet-Methode
Duvergers Gesetz (eine widerlegte Vermutung)
Gallagher-Index
Kumulieren und Panaschieren (bei Personen-Mehrstimm-Wahlsystemen)
Literatur
Wolfgang Ernst: Kleine Abstimmungsfibel. Leitfaden für die Versammlung, Buchverlag Neue Zürcher Zeitung, Zürich, 2011, ISBN 978-3-03823-717-4
Dieter Nohlen: Wahlrecht und Parteiensystem, 4. Auflage, Opladen Leske und Budrich 2004.
Dieter Nohlen: Wahlsysteme der Welt. Daten und Analysen. Ein Handbuch Piper, 1978, ISBN 3-492-02277-4.
Hendrik Träger: Die Auswirkungen der Wahlsysteme: elf Modellrechnungen mit den Ergebnissen der Bundestagswahl 2013, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen, 44. Jg. (2013), H. 4, S. 741–758.
Weblinks
Die verschiedenen Wahlsysteme und ihre Vor- und Nachteile
Vergleich zwischen Mehrheits- und Verhältniswahl
Schweizer Proporzwahlsystem
Belege
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Q182985
| 219.980583 |
15913
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https://de.wikipedia.org/wiki/Zellzyklus
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Zellzyklus
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Der Zellzyklus ist die Abfolge verschiedener Aktivitätsphasen zwischen den Teilungen eukaryotischer Zellen. Da der DNA-Gehalt einer Zelle bzw. eines Zellkerns bei der Teilung (Mitose) halbiert wird, muss er vor der nächsten Teilung wieder verdoppelt werden. Diese beiden Vorgänge werden als M-Phase und S-Phase (von Synthese) bezeichnet. Zwischen ihnen liegen sogenannte Gap-Phasen (engl. Lücke): G1 und G2.
Phasen
Nach Teilung der Mutterzelle beginnen die Tochterzellen die Interphase. In dieser Phase zwischen zwei Mitosen sind die einzelnen Chromosomen auch nach Anfärbung nicht als einzelne Einheiten zu erkennen. Die Genaktivität steuert den Stoffwechsel der wachsenden Zelle. Ihr Zellkern entwickelt mindestens einen Nukleolus. Wegen des Gehaltes an ribosomaler RNA sind Nukleoli Voraussetzung und Anzeichen für den zellulären Stoffwechsel. Ein wichtiger Prozess während der Interphase ist die Verdoppelung der Chromosomen.
Dies geschieht während der Synthese- oder S-Phase. Ihr voraus geht die G1-Phase. Entsprechend folgt auf die S-Phase die G2-Phase.
G1-Phase Die Bezeichnung G1-Phase kommt von gap (engl. Lücke, Abstand), da dies der Zeitraum zwischen Kernteilung und DNA-Synthese ist. In dieser (postmitotischen bzw. präsynthetischen) Phase werden Zellbestandteile (Zytoplasma, Zellorganelle) ergänzt. Die Produktion von mRNAs für Histone und Replikationsenzyme (DNA-Polymerasen, Ligasen) ist Voraussetzung für die bevorstehende S-Phase. Aus dem gleichen Grund steigt der Vorrat an Desoxyribonukleosid-Triphosphaten. Im Zytoplasma tierischer Zellen trennen sich die beiden Zentriolen voneinander.Jedes Chromosom besteht aus nur einer Chromatide bzw. einer DNA-Helix. Der DNA-Gehalt der G1-Zelle kann mittels DNA-Zytometrie als 2 C bestimmt werden. Der C-Wert steht für die Größe des (haploiden) Genoms eines Organismus.
Zellen wechseln von der G1-Phase in die G0-Phase, wenn keine weitere Vermehrung der Zelle bevorsteht (ruhende Zelle). Es kann sich dabei um Zellen handeln, die sich nie wieder teilen werden, wie Nervenzellen und Muskelzellen der gestreiften Muskulatur. Andere Zelltypen verbleiben nach ihrer Ausdifferenzierung für Wochen oder Monate in G0, können aber bei besonderen Ereignissen wie Verletzung oder Zellverlust wieder zum G1-Zustand zurückkehren und sich nachfolgend teilen. Beispiele hierfür sind Leberzellen (Hepatozyten) und Lymphozyten.
S-Phasesteht für Synthesephase, wegen der Verdopplung der DNA im Zellkern. Ausgelöst von genetischen Signalen, beginnt in jedem Chromosom an mehreren Ursprüngen die Replikation, die Verdoppelung der DNA-Helix. Aus dem Zytoplasma gelangen entsprechende Mengen neuer Histone in den Zellkern, welche die replizierte DNA verpacken. Auch die Zentriolen verdoppeln sich. Die S-Phase endet, sobald die DNA-Verdopplung abgeschlossen ist und jedes Chromosom aus zwei Chromatiden besteht. Die DNA-Menge steigt in dieser Phase von 2 C auf 4 C.
G2-Phase In diesem (postsynthetischen bzw. prämitotischen) Intervall werden RNA-Moleküle und zellteilungsspezifische Proteine synthetisiert, um die nachfolgende Mitose vorzubereiten. Das Endoplasmatische Retikulum wird eingeschmolzen. In Geweben lösen sich die Kontakte zu den Nachbarzellen; die Zelle rundet sich ab und vergrößert sich durch Flüssigkeitsaufnahme.
M-Phase oder Mitose-Phase: Hier finden die Zweiteilungen der Chromosomen (Mitose), des Zellkernes (Karyokinese) und der Zelle (Zytokinese) statt. Während der Mitose folgen aufeinander: Prophase, Prometaphase, Metaphase, Anaphase und Telophase, die Zellteilung beginnt meist schon parallel zu den letzten Phasen der Mitose. Durch die Zellteilung halbiert sich die DNA-Menge von 4 C wieder auf 2 C.
Wird keine Zellteilung durchgeführt und die DNA-Menge weiter verdoppelt, spricht man von Endoreplikationen. Genutzt wird dies in manchen Hochleistungszellen für erhöhte Proteinbiosynthese.
Dauer
Die Dauer des Zellzyklus, d. h. die Zeit zwischen aufeinanderfolgenden Zellteilungen, kann sehr unterschiedlich sein:
Sie ist mit am kürzesten während der Furchungsteilungen im frühesten Entwicklungsstadium tierischer Embryonen, in der eine große Cytoplasma-Masse innerhalb kurzer Zeit in viele Zellen aufgeteilt werden und ein Zyklus knapp 10 Minuten dauert. Dabei entfallen die G1- und die G2-Phase fast völlig, S- und M-Phase sind beschleunigt.
Sie ist am längsten bei Zellen, die sich zeitweilig oder endgültig nicht mehr teilen. In diesen erfolgt nach der letzten Mitose keine Replikation mehr, die Zelle verharrt in der G0-Phase.
Regulation
Äußere Faktoren
Zu den Faktoren, die den Zellzyklus regulieren, gehören die Zellgröße und das Nährstoffangebot. Auch die An- oder Abwesenheit von Nachbarzellen spielt eine Rolle. Tierische Zellen, die dicht gewachsen sind, teilen sich nicht mehr weiter, sie gehen in das G0-Stadium über. Weiterhin steuern in Geweben die für sie bestimmten Wachstumsfaktoren den Verlauf des Zyklus.
Bestimmte Chemikalien können in Kultur wachsende Zellen in einem bestimmten Zellzyklusstadium festhalten und so die Zellen einer Kultur synchronisieren. Dazu werden zum Beispiel Desoxythymidin und Aphidicolin verwendet, welche die Zellen in der S-Phase halten.
Innere Faktoren und Kontrollpunkte
Dauer und Abfolge der Phasen werden an Kontrollpunkten (Checkpoints) überwacht. Sie sorgen dafür, dass der nächste Schritt im Zellzyklus erst dann erfolgt, wenn der vorhergehende abgeschlossen ist. An den Checkpoints besteht die Möglichkeit, den Zellzyklus lediglich zu unterbrechen (Arretierung) oder den programmierten Zelltod (Apoptose) einzuleiten.
Es existieren spezielle Zellzyklusproteine wie die CDKs (Cycline Dependent Kinases) und die Cycline. Zu bestimmten Zeitpunkten im Zyklus werden diese Proteine verstärkt exprimiert, bis ihre Konzentration ein Maximum erreicht. Von diesem Maximum nimmt man an, dass es den Kontrollpunkt darstellt. Danach werden die Cycline schnell abgebaut. CDKs und die zugehörigen Cycline bilden Komplexe, deren Aktivierung (Dephosphorylierung von Thr14 und Tyr15 durch cdc25) beziehungsweise Deaktivierung unter anderem durch Wachstumsfaktoren und Protoonkogene gesteuert wird. Die CDKs phosphorylieren und aktivieren spezifisch eine Reihe anderer Proteine und steuern so den Zellzyklus.
Beispiel für einen Checkpoint ist der
Kontrollpunkt für DNA-Schäden: Fehlen Nukleotide, ist der DNA-Stoffwechsel anderweitig gestört oder ist die DNA durch Strahlen oder chemische Stoffe (Mutagene) geschädigt, erzeugt dies ein Signal (p53, das p21 aktiviert). Es bewirkt, dass die Zelle in einer der beiden G-Phasen oder in der S-Phase verharrt. Trifft es die S-Phase, wird die DNA-Synthese gestoppt mittels Inhibition des Cyclin D/CDK4/6-Komplexes, des Cyclin E/CDK2-Komplexes und der Delta-Untereinheit der DNA-Polymerase. Reparaturgene werden aktiviert, um die DNA-Schäden zu beheben.
Kontrollpunkt der Spindelbildung: Die Trennung der Chromatiden in der Anaphase der Mitose wird so lange unterbunden, bis alle Zentromere (Kinetochore) mit Transportfasern des Spindelapparates verbunden sind und die Chromosomen in der Äquatorialplatte nebeneinander angeordnet sind.
Einleitung der Zellteilung
Die Kernteilung (Mitose) und schließlich die Zellteilung wird bei Eukaryoten durch den Mitosis Promoting Factor (MPF) eingeleitet. Der Proteinkomplex MPF besteht aus der Cyclin-abhängigen Kinase „CDK1“ und dem „Cyclin B“. In der aktiven Form phosphoryliert der Komplex verschiedene Eiweiße – wie etwa das Histon H1 – und beginnt damit die Prophase der Mitose. Die aktivierten Histone bewirken eine Spiralisierung, das sogenannte „Supercoiling“ der DNA, welches eine der Grundvoraussetzungen für den Beginn der Kernteilung ist.
Zellzyklus und Krebs
Der Zellzyklus neoplastischer Zellen (Krebszellen) wird nicht mehr durch den Organismus kontrolliert. Diese Zellen teilen sich autonom. Die Dauer eines Zellzyklus ist gegenüber normalen Zellen verändert.
Die Entdeckung des Zellzyklus ermöglichte einen tieferen Einblick in die Krebsentstehung. Fehlregulationen im Zellzyklus können zu einem unkontrollierten Zell- und damit Gewebewachstum führen. Dabei gehen wichtige Regulationsproteine (z. B. p53) durch Mutation verloren oder werden übermäßig exprimiert.
Nobelpreis für Medizin
Für ihre Entdeckungen zur Kontrolle des Zellzyklus erhielten die Wissenschaftler Leland H. Hartwell (USA), Tim Hunt (UK) und Paul M. Nurse (UK) im Jahre 2001 den Nobelpreis für Medizin.
Weblinks
Lexikon der Biologie: Zellzyklus. Spektrum, Heidelberg 1999.
Einzelnachweise
Genetik
Zellbiologie
Fortpflanzung
Entwicklungsbiologie
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Q188941
| 112.428333 |
403023
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https://de.wikipedia.org/wiki/Polydor
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Polydor
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Polydor (LC 00309) ist ein deutsches Musiklabel, das heute zu dem Major-Label Universal Music des Medienunternehmens Vivendi gehört.
Geschichte
Gründung als Exportlabel
Die Deutsche Grammophon AG durfte aufgrund des Versailler Vertrages außerhalb des Deutschen Reiches ihr Markenzeichen Stimme seines Herrn sowie den Namen Grammophon nicht mehr verwenden. In Europa behielt die Gramophone Company im britischen Hayes die Markenrechte. Die Amerika-Rechte verkaufte der Unternehmenschef Emil Berliner 1924 an die Victor Talking Machine Company. Für den Export gründete die Deutsche Grammophon AG daher im gleichen Jahr die Marke Polydor als zusätzliches Label. Den Namen kreierte man aus dem Griechischen (πολύς polýs „viel“ und δῶρον dōron „Geschenk“) – Viele Geschenke. Bekannte Tanzorchester der 1920er und frühen 1930er Jahre bei diesem Label waren Arthur Briggs, Oskar Joost, Ilja Livschakoff und vor allem Paul Godwin, bekannte Interpreten unter anderem Max Hansen, Lilian Harvey, Johannes Heesters, Theo Lingen, Otto Reutter und Claire Waldoff.
Zweiter Weltkrieg
1941 übernahm die Siemens & Halske AG die Deutsche Grammophon. Die Schellackplatten erschienen danach zeitweise unter dem Label Siemens-Polydor. Bis zur weitestgehenden Einstellung der Produktion wegen Materialmangels um 1943 entstanden zum Teil hochwertige Pressungen von unter anderem Hans Georg Schütz, Friedrich Schröder, Willi Stech und Mimi Thoma. Da die Platten der Polydor nach wie vor für den Export bestimmt waren, veröffentlichte man auch Swing-Titel.
Nachkriegszeit
Die Presswerke der Deutschen Grammophon in Berlin-Tempelhof hatten den Zweiten Weltkrieg weitgehend unbeschadet überstanden. Schon 1946 konnte die Produktion wieder aufgenommen werden. Die Firma veröffentlichte fortan fast alle Aufnahmen von Tanz- und Unterhaltungsmusik unter den noch verschiedenfarbigen Polydor-Labels. 1949 wurde das einheitliche rote Sternchenlogo eingeführt. Zum ersten Hit der Nachkriegszeit avancierte das bereits 1943 von Magda Hain interpretierte Lied Capri-Fischer, das auch von Rudi Schuricke im selben Jahr für Siemens-Polydor aufgenommen worden war, aber erst nach Kriegsende in seiner Version erfolgreich veröffentlicht wurde. Weitere erfolgreiche Interpreten in der ersten Hälfte der 1950er Jahre waren unter anderem Lale Andersen, Bully Buhlan, Renée Franke, Friedel Hensch und die Cyprys, Evelyn Künneke, Bruce Low, Liselotte Malkowsky, Werner Müller, Jupp Schmitz, Gerhard Wendland und Helmut Zacharias, ferner René Carol mit dem Erfolgsschlager Rote Rosen, rote Lippen, roter Wein (erste Goldene Schallplatte nach dem Krieg; 1953).
Ab 1953 erschienen die Etiketten mit dem orangefarbigen Sternchenlogo. 1955 erscheinen bei Polydor einzelne Schallplatten im eigenen Cover. Die Musikproduzenten in den Studios Hamburg, Köln und Wien lieferten mit Peter Alexander, Caterina Valente, Freddy Quinn, Max Greger, Margot Eskens oder Lolita zahlreiche Erfolgsinterpreten, die genau den Zeitgeschmack trafen und die deutschen Hitparaden anführten. Besonders erfolgreich war man auch mit Operettenaufnahmen. In den 1950er und 1960er Jahren produzierte der Dirigent Franz Marszalek reihenweise Operettenquerschnitte und sogenannte Komponistenbilder, die millionenfach verkauft wurden. Als in der zweiten Hälfte des Jahrzehnts der Rock ’n’ Roll populär wurde, profilierte sich insbesondere das Studio Wien unter dem Produzenten Gerhard Mendelson mit Coverversionen US-amerikanischer Hits. Peter Kraus und Ted Herold avancierten zu den erfolgreichsten deutschen Interpreten dieser Musikrichtung.
1960er Jahre
Bill Ramsey, Gus Backus, das Hazy-Osterwald-Sextett und das Orchester von Bert Kaempfert zählten zu den zugkräftigen Polydor-Stars der frühen 1960er Jahre. 1963 führte man das bis heute verwendete rote Logo ein. Als gegen Mitte des Jahrzehnts immer mehr englische Beat-Titel in die deutschen Hitlisten drängten, ging der Absatz deutschsprachiger Musik deutlich zurück. Auch die Polydor hatte zunächst Schwierigkeiten, sich an den neuen Geschmack anzupassen. Zwar konnte man mit Roy Black, Karel Gott, Renate Kern, Chris Roberts oder Wencke Myhre auch noch erfolgreiche Schlagerinterpreten etablieren. Das Repertoire wurde gegen Ende des Jahrzehnts auch durch internationale Interpreten wie den Bee Gees, Jimi Hendrix, The Who oder dem deutschen Protestsänger Franz Josef Degenhardt erweitert. Die erfolgreichsten Langspielplatten stammten nunmehr von James Last.
1970er Jahre bis heute
In den 1970er Jahren erschienen bei der Polydor, die seit 1972 zur Polygram gehörte, Schallplatten namhafter nationaler und internationaler Stars, darunter Barry Ryan, Neil Sedaka, Daliah Lavi, James Brown, Plácido Domingo, Konstantin Wecker, Ougenweide, Georg Danzer, Barclay James Harvest, Slade und ABBA. In den 1980er Jahren folgten Hits von Volker Lechtenbrink, Hubert Kah, Rolf Zuckowski, Haindling, Level 42 und Patricia Kaas. Auch war Cyndi Lauper mit ihrer Band Blue Angel bei Polydor unter Vertrag, bevor sie Solo die Charts stürmte. Chart-Erfolge der Polydor in den 1990er Jahren stammten unter anderem von Matthias Reim, Rosenstolz, Ronan Keating, Andrea Bocelli und André Rieu. 1998 erwarb Seagram PolyGram und vereinigte es mit seiner Universal Music. 2000 fusionierte der französische Mischkonzern Vivendi mit Seagram zum weltweit zweitgrößten Musikkonzern Vivendi Universal mit Hauptsitz in Frankreich. Am 20. April 2006 beschlossen die Aktionäre den Namen des Unternehmens wieder in Vivendi zu ändern. Das Label Polydor ist als dessen Plattenlabel heute noch präsent.
Zubehör, Plattenspieler und Musikschränke
Die Firma Polydor vertrieb auch Zubehör über den Fachhandel, speziell Geräte zur Plattenreinigung.
Ferner wurden einige Jahre unter der Handelsmarke Polydor Schallplattenspieler und Musikschränke verkauft.
Deutsche Nummer-eins-Hits der Polydor (1951 bis 1990)
Da eine offizielle Hitparade in Deutschland erst seit 1959 existiert und die Firma Polydor erst seit 1975 Daten gespeichert hat, sind die Nummer-1-Hits der Jahre 1951–58 nur anhand von Plattenverkaufszahlen ermittelt, die in Presseberichten genannt wurden.
Musikalben (Auswahl)
Siehe auch
Heliodor (Label)
Literatur
Bettina Greve: Sternenhimmel. Die Chronik einer deutschen Schallplattenmarke. Hannibal, 2001, ISBN 978-3-85445-205-8.
Manfred Günther, Günter Lotz: Ein Name wie Musik. Die Polydor Singles Deutschland 1953–1970. Bear Family Records, 2001, ISBN 978-3-89795-821-0.
Weblinks
Polydor Single-Datenbank (1960er Jahre)
Polydor Cover-Galerie (1960er Jahre)
Deutsches Musiklabel
Pop-Label
Rock-Label
Major-Sublabel
Echo-Pop-Preisträger
Gegründet 1913
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Q155152
| 112.381281 |
66997
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https://de.wikipedia.org/wiki/Buxoro
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Buxoro
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Buxoro, (; ; persisch und , neupersische , neben Bochoro; ), international auch Bukhara, ist eine der bedeutendsten Städte Usbekistans und Hauptstadt der gleichnamigen Provinz.
Das historische Zentrum von Buchara mit seinen Baukunstwerken, darunter zahlreiche Moscheen und Medressen, wird von der UNESCO seit 1993 zum Weltkulturerbe gezählt.
Die Stadt liegt an einer der alten Seidenstraßen, hatte im Jahr 2008 ca. 235.500 Einwohner und ist heute eines der bedeutendsten Handels- und Industriezentren Zentralasiens. Der größte Teil der Einwohner der Stadt sind Tadschiken und sprechen als Muttersprache Tadschikisch, die zentralasiatische Form des Persischen.
Geschichte
Frühe Zeit
Die Oase, in der sich Buchara befindet, liegt in der historischen Landschaft Sogdien, die zunächst Teil des persischen Achämenidenreiches war. Ab wann sich die Siedlung Buchara entwickelte und wann die Stadt gegründet wurde, ist unbekannt. Die älteste gefundene Töpferei im Stadtgebiet stammt aus der Zeit des Hellenismus, als die Region Teil des griechisch-baktrischen Königreichs war, das nach den Feldzügen Alexanders des Großen entstand. Da einige ältere Siedlungen in der Oase archäologisch nachgewiesen wurden, kann eine frühere Siedlungstätigkeit im heutigen Stadtgebiet nicht ausgeschlossen werden. Man schätzt eine Gründung im 6. Jahrhundert v. Chr. Die Bedeutung der Stadt in vorislamischer Zeit zeigt sich in den Münzen, die die Herrscher der Stadt prägen ließen. Buchara war in der Spätantike, als die Region Grenzgebiet zum neupersischen Sassanidenreich war, einer der prosperierenden sogdischen Stadtstaaten, die vor allem am Fernhandel interessiert waren. In den zwei oder mehr Jahrhunderten vor der Etablierung der islamischen Herrschaft über die Region war Sogdien – und damit auch Buchara – auf dem Höhepunkt wirtschaftlichen und kulturellen Reichtums.
Ab der Ankunft der Araber
673/674 begann mit dem Angriff von Ubaidallah ibn Ziyad im Rahmen der arabischen Eroberungsfeldzüge eine Serie von Raubzügen der muslimischen Araber gegen das von Truppen türkischer Völker unterstützte Buchara. Obwohl jeweils siegreich, waren die Araber zunächst nicht in der Lage, eine dauerhafte Herrschaft über Transoxanien zu sichern. Dies änderte sich erst unter Qutaiba ibn Muslim, der zwischen 706 und 709 unter Schwierigkeiten die Bewohner Bucharas zu islamisieren versuchte und 710 als Herrscher Bucharas eingesetzt wurde. In frühislamischer Zeit waren die Herrscher Bucharas als Buchār Chudāt (bzw. Buchār Chudāh) bekannt.
Die Umayyaden hatten allerdings Schwierigkeiten, sich in Zentralasien zu behaupten. Abu Muslim war mitverantwortlich für den Sieg der Abbasiden, doch seine Herrschaft wurde in Buchara nicht akzeptiert, wo es 750 zu einer ersten Revolte kam, die blutig niedergeschlagen wurde. Weitere Aufstände mit verschiedenen Allianzen und Zielen folgten, so zwischen 776 und 779 unter Al-Mukanna. Diese Phase der Unruhe fand erst ihr Ende, als die persischen Samaniden im Jahr 865 an die Macht kamen und Buchara Hauptstadt eines mächtigen Reiches wurde, ein blühendes Zentrum von Handel und Handwerk sowie ein geistiger Pol des Islams im Osten.
Nach dem Ende der Samanidenherrschaft durch den Einfall türkischer Völker verlor der Ort unter der Oberhoheit der türkischen Karachaniden ab 999 zwar an politischer Bedeutung, von der kulturellen Blüte der Stadt unter den westlichen Karachaniden zeugen jedoch zwei bedeutende Baudenkmäler: das Kalon-Minarett (Minār-i Qalyān, durch eine Inschrift auf 1127 datiert) und die zu dieser Zeit erneuerte Südfassade der Mag'oki-Attori-Moschee (Masǧid-i maġāk-i ʿaṭṭārī). Vor allem die lange Herrschaft des Arslan Khan (1102–1130) war von relativem Wohlstand und Stabilität geprägt. Allerdings mussten die westlichen Karachaniden seit dem späten 11. Jahrhundert die Oberherrschaft der Großseldschuken anerkennen, welcher 1141 die der nichtmuslimischen Kara-Chitai folgte. Buchara wurde während dieser Zeit wechselnder Oberherrn (12. bis frühes 13. Jahrhundert) meist von der Lokaldynastie der Burhaniden regiert, bei der es sich um eine Reihe geistlicher Führer (Hanafiten) mit dem Titel Sadr handelte. Nachdem bereits der Choresm-Schah Atsiz 1139/40 die Stadt attackiert hatte, wurde sie 1182 (und vielleicht noch einmal 1198) von dessen Enkel Ala ad-Din Tekisch erobert und kam 1207 schließlich unter die Herrschaft von Tekischs Sohn Muhammad II.
Ab der Mongolenherrschaft
Im Jahr 1220 wurde Buchara von Dschingis Khans Truppen erobert und größtenteils zerstört. Unter seinem Nachfolger Ögedei Khan konnte sich die wiederaufgebaute und von den geflohenen Bewohnern wiederbesiedelte Stadt wirtschaftlich erholen, auch wenn es nur wenige Nachweise mongolischer Bautätigkeit gibt. Eine nachhaltige Entwicklung wurde unter anderem durch innermongolische Konflikte und solche zwischen Fraktionen der Bevölkerung behindert, 1238 kam es zum Tarabi-Aufstand der armen Stadtbevölkerung. 1263 eroberte der mongolische Khan Hülegü die Stadt und ließ mehrere Tausend Menschen töten. 1273 folgten mongolische Truppen aus Iran unter Abaqa Khan – wieder wurden viele Einwohner getötet und versklavt. 1276 suchten Truppen des Ilkhans und des Tschagatai Khans die ländlichen Gebiete der Oase Buchara heim. Insgesamt kam es in den 1270er Jahren zu vielen schweren Zerstörungen mit angeblich Zehntausenden Toten.
Unter Qaidu Khan und dem Verwalter Masud Beg konnte sich die Stadt zum Ende des 13. Jahrhunderts wieder erholen.
Während der Mongolenzeit erreichte Buchara seinen Tiefpunkt und unter den Timuriden im 14. Jahrhundert war die Stadt nur ein Provinzzentrum im Schatten des etwas östlich von Buchara gelegenen Samarqand. 1316 wurde die Stadt vollständig verwüstet, in den 1330er Jahren beschrieb Ibn Battuta die Stadt als "...wenig bevölkert und ruinös". Bis zum Ende des 15. Jahrhunderts hatte Buchara seine führende Rolle in Politik, Militär und Handel verloren, in Wissenschaft und Mystik konnte sie sie behalten.
Aus den Nachfolgekämpfen am Ende der Timuridenzeit entstand mit dem Usbeken-Khanat eine neue Macht in Zentralasien, unter der Buchara im 16. und 17. Jahrhundert eine neue Blüte erlebte. Die erste usbekische Dynastie waren die Scheibaniden (1500–1599), deren Hauptstadt 1533 unter Ubaidullah Buchara wurde. 1540 wurde die Miri-Arab-Madrasa eröffnet. Die Stadt wuchs, wurde zur wichtigsten in ganz Zentralasien und erhielt unter Abdullah II. (Abdullah Khan) zahlreiche Baudenkmäler, die das Stadtbild bis heute bestimmen. Auch die nachfolgenden Dschaniden hinterließen mit reger Bautätigkeit Spuren in der Stadt. 1598 drang der kasachische Khan Tawakkul bis nach Buchara vor. Als die orthodoxe Geistlichkeit 1647 die Absetzung des weltlich gesinnten Khans Nadir Mohammed betrieb, hofften die indischen Moguln diesen Thronstreit zur Rückeroberung ihrer alten Stammsitze nutzen zu können. Eine Armee Schah Dschahans eroberte 1647 Buchara, ohne auf größere Gegenwehr zu stoßen. Der hinhaltende Widerstand der Usbeken schwächte die Armee aber so sehr, dass der spätere Schah Aurangzeb den Rückzug seiner Truppen aus Buchara nach Indien befahl.
Die politische und militärische Stärke der Herrscher von Buchara sank nach der Blütezeit ab Mitte des 17. Jahrhunderts und die Bevölkerung ging zurück. Ab 1710 verbündeten sich die Keneges und Kitai-Kiptschaken und riefen in Samarkand einen Gegenkhan aus. In den Folgejahren und insbesondere um 1723 flüchteten große Gruppen von Kasachen vor den Dschungaren nach Buchara und Samarkand. Sie verbündeten sich mit verschiedenen usbekischen Gruppierungen und belagerten bis 1729 mehrfach Buchara. Buchara war 1730 stark verwüstet.
1740 wandten sich die Perser unter Nader Schah nach dem Raubzug gegen Delhi gegen Buchara. Die Dschaniden kapitulierten, nachdem das bucharische Heer auf Grund der überlegenen persischen Artillerie besiegt worden war. Der Schah zog in Buchara ein, das er als unbedeutende Provinzstadt ansah, auf deren Plünderung und Zerstörung er daher verzichtete. Der Herrscher Abu'l Faiz wurde ein Vasall Persiens. Der Niedergang Bucharas endete unter der Manghitendynastie ab 1747.
Die Stadt war früher ein Hauptsklavenmarkt. Sklavenhandel fand auch noch nach Mitte des 19. Jahrhunderts statt.
Ab der Herrschaft der Russen
Das Emirat Buchara verlor seine Unabhängigkeit nach der russischen Eroberung großer Teile Mittelasiens. Zwar wurden Buchara und sein Umland im Gegensatz zu den östlichen Teilen des Emirats (einschließlich Samarqand) nicht von Russland annektiert und in das neue Generalgouvernement Turkestan eingegliedert, der russisch-bucharische Handelsvertrag von 1868 besiegelte jedoch die faktische Kontrolle Russlands über Buchara, insbesondere über dessen Außenbeziehungen und Wirtschaft. Das Emirat bestand innerhalb des Russischen Reiches bis 1920 fort.
Am 2. September 1920 besetzte die Rote Armee während des russischen Bürgerkrieges Buchara. Bei schweren Kämpfen sollen dabei 75 % der Stadt zerstört worden sein. Am 14. September 1920 wurde die Sowjetische Volksrepublik Buchara (BNSR, ab dem 19. September 1924 Sowjetische Sozialistische Republik Buchara, BSSR) ausgerufen, die durch eine Reihe von Verträgen mit der Russischen SFSR eng an die Sowjetunion angebunden wurde. Im November 1924 wurde Buchara in die neu gegründete Usbekische Sozialistische Sowjetrepublik und damit in die Sowjetunion eingegliedert. Die 1945 wiedereröffnete Miri-Arab Madrasa mit 60 Studienplätzen bildete mit Ausnahme der kurzlebigen Baraq-Khan-Madrasa in Taschkent, die von 1956 bis 1961 bestand, die einzige islamische Bildungsinstitution der Sowjetunion. Sie wurde deswegen auch von Muslimen aus der Wolgaregion besucht, die eine islamisch-religiöse Ausbildung absolvieren wollten. Am 1. September 1991 wurde Usbekistan ein unabhängiger Staat.
Demographie
1900: ca. 75.000, darunter viele Juden und Hindus
1911: 70.000
1920: 50.000
2008: 235.517
Seit römischen Zeiten hatten sich Menschen jüdischen Glaubens angesiedelt. Seit dem 16. Jahrhundert waren diese als Bucharische Juden bekannt. Der jüdische Friedhof von Buchara zählt 10.000 Gräber. In der Stadt lebten im Jahr 2018 jedoch nur noch 150 Mitglieder der Gemeinschaft, wovon sich wenige an die Riten hielten.
Politik und Verwaltung
Buxoro ist eine bezirksfreie Stadt in der Provinz Buxoro und gleichzeitig deren Hauptstadt.
Partnerstädte
Stadtbild und Architektur
Das historische Zentrum von Buchara wurde 1993 zur Liste des UNESCO-Weltkulturerbes hinzugefügt, weil es das vollständigste und unberührteste Beispiel einer mittelalterlichen zentralasiatischen Stadt darstelle, die ihr Stadtgefüge bis heute bewahren konnte. Buchara habe im Hinblick auf die urbane Struktur und Bauwerke einen tiefgreifenden Einfluss auf die Entwicklung und Planung von Städten in einem weiten Bereich Zentralasiens gehabt. Südöstlich der Altstadt entstanden zu sowjetischer Zeit großzügige Straßen und Plätze sowie zahlreiche Verwaltungsgebäude, Hotels und Gebäude für Bildungseinrichtungen.
Sehenswürdigkeiten
Westlich der Altstadt befindet sich mit dem Samaniden-Mausoleum (Ismoyil Somoniy maqbarasi) das älteste erhaltene Bauwerk Zentralasiens, das in den Jahren vor Ismoyil Somoniys Tod im Jahre 907 erbaut wurde und starken Einfluss auf die nachfolgende islamische Baukunst ausübte. In seiner Nähe befindet sich das im Kern vermutlich auf die Timuridenzeit zurückgehende Chashmai-Ayyub-Mausoleum (Hiobsbrunnenmusoleum) mit einem Quellbrunnen, der auf Ijob zurückgehen soll.
Die im 18. Jahrhundert auf einer künstlichen Anhöhe – der Stelle des mittelalterlichen Vorgängerbaus – erbaute Zitadelle Ark, beherbergt in ihrem Inneren den ehemaligen Palast des Emirs sowie eine Moschee von 1712. Westlich der Zitadelle liegen der Registan und an dessen Westseite die Bolo-Hovuz-Moschee. Südöstlich der Zitadelle befindet sich das Ensemble Poi Kalon mit dem Kalon-Minarett von 1127, die ein Wahrzeichen von Buchara ist, der Kalon-Moschee (15. Jahrhundert) und der ihr gegenüberliegenden Mir-Arab-Madrasa (1536). In dem Ensemble Labi Hovuz im Zentrum der Altstadt gruppieren sich die Koʻkaldosh-Madrasa (1568), die Nodir-Devonbegi-Chanaqa und die ursprünglich als Karawanserei geplante Nodir-Devonbegi-Madrasa (1622) um ein Wasserbecken.
Die älteste erhaltene Moschee Zentralasiens aus dem 9. bis 10. Jahrhundert, die Magʻoki-Attori-Moschee, steht an der Stelle eines ehemaligen sogdischen Tempels. Die älteste erhaltene Madrasa Zentralasiens ist die 1417 erbaute Ulugʻbek-Madrasa, der 1652, dem Kosch-Prinzip entsprechend, die Abdulaziz-Khan-Madrasa gegenübergestellt wurde. In der Nähe dieses Ensembles steht die auf die Timuridenzeit zurückgehende, reich ausgestattete Baland-Moschee. Zu den Gebäudekomplexen, bei denen mehrere verschiedene Bauwerke, z. B. Madrasa, Moschee, und Minarett, gemeinsam auf einem Grundstück errichtet wurden, zählen der Hodscha-Zaynuddin-Komplex, der Hodscha-Gaukuschan-Komplex und der Xalfa-Xudoydod-Komplex.
Mehrere der aus dem 16. Jahrhundert stammenden überkuppelten Basare, die vorwiegend über Straßenkreuzungen errichtet wurden, existieren heute noch, darunter der Toqi Sarrofon, der Toqi Telpak Furushon, der Toqi Zargaron und der Tim Abdullah Khan. Das viertürmige Gebäude von Chor Minor, eigentlich das Tor- oder Pförtnerhaus einer heute verschwundenen Madrasa, wurde 1807 von einem reichen Kaufmann erbaut. Das 1891 ebenfalls von einem reichen Kaufmann erbaute Xoʻjayev-Haus zeigt als Museum die Wohnkultur des ausgehenden 19. Jahrhunderts sowie Andenken an seinen letzten Bewohner, den kommunistischen Politiker Fayzulla Xoʻjayev.
Außerhalb des historischen Zentrums liegen im Süden die offene Namozgoh-Moschee, im Osten das Sayfiddin-Boharziy-Mausoleum und das Bayan-Kuli-Khan-Mausoleum dicht beieinander, im Nordosten die Fayzobod-Chanaqa und etwa 4 Kilometer nach Norden Sitorai Mohi Xosa, der Sommerpalast des letzten Emirs von Buchara. Westlich der Stadt liegt die Nekropole Chor Bakr.
Impressionen
Wirtschaft und Infrastruktur
Verkehr
Der internationale Flughafen von Buxoro liegt östlich der Stadt.
Der Bahnhof Buxoro 1 ist der Fernbahnhof der Stadt und liegt an der Transkaspischen Eisenbahn.
In Buxoro kreuzen sich die Fernstraße M37, die als Abschnitt der Europastraße 60 von der turkmenischen Grenze nach Samarqand führt, und die A380 von Nukus nach Gʻuzor.
Bildung
Staatliche Universität Buxoro
Buxoroer Technologisches Institut für Lebensmittel- und Leichtindustrie
Buxoroer Staatliches Medizinisches Institut Abu Ali Ibn Sina
Filiale des Taschkenter Instituts für Bewässerung und Landgewinnung
Kultur
Theater
In Buxoro befinden sich das Bucharaer Musik- und Dramatheater Sadriddin Ayni und das Bucharaer Puppentheater.
Museen
Sehenswert ist das Buxoroer Staatliche Architektur- und Kunstmuseum mit den Abteilungen für Geschichte, Numismatik und Epigraphik, Zeitgeschichte und Ethnografie sowie Natur. Es umfasst außerdem Sammlungen von dekorativer und angewandter Kunst, Büchern und Dokumenten sowie das Kamoliddin-Behzod-Kunstmuseum.
Sport
Der Fußballverein FK Buxoro spielt Stand 2023 in der höchsten usbekischen Spielklasse, der Uzbekistan Super League. Heimspielstätte ist das 22.700 Zuschauer fassende Stadion der Stadt, das 2002 eröffnet wurde. Von 2000 bis 2008 fand das Tennisturnier Bukhara Challenger in Buchara statt.
Söhne und Töchter der Stadt
al-Buchārī (810–870), bedeutender islamischer Gelehrter und Hadithsammler
al-Kalābādhī († 10. Jh.), persischer Sufi, Autor des Kitab at-ta'arruf
Narschakhi (um 950), voller Name: Abu Bakr Muhammad ibn Dschafar Narschakhi (oder Narschachi), persischer Geschichtsschreiber (Tārich-e Bochārā) aus Narschak.
Avicenna, latinisiert aus Ibn Sīnā (980–1037), geboren in Afschāna, berühmter persischer Arzt und Philosoph – einer der bedeutendsten Gelehrten des Mittelalters
Sayyid Adschall Schams ad-Din Umar (um 1210–1279), Beamter der Yuan-Dynastie und der erste Statthalter Chinas in der Provinz Yunnan
Abdurauf Fitrat (1886–1938), dschadidistischer Politiker, Schriftsteller und Agitator
Fajsulla Chodschajew (1896–1938), sowjetisch-usbekischer Politiker
Sorodschon Jussufowa (1910–1966), sowjetisch-tadschikische Geochemikerin und Hochschullehrerin
Muchtar Aschrafi (1912–1975), usbekisch-sowjetischer Komponist
Josef Elsner (1914-1972), tschechischer Schauspieler
Muhammadschon Schakurij (1925–2012), tadschikischer Schriftsteller und Literaturwissenschaftler
Bachtijor Ichtijarow (* 1940), sowjetisch-usbekischer Schauspieler
Iskander Machmudow (* 1963), russischer Unternehmer usbekischer Herkunft
Oksana Chusovitina (* 1975), deutsch-usbekische Turnerin
Ulugʻbek Baqoyev (* 1978), usbekischer Fußballspieler
Sitora Farmonova (* 1984), usbekische Schauspielerin
Shavkat Salomov (* 1985), usbekischer Fußballspieler
Ixtiyor Navroʻzov (* 1989), usbekischer Ringer
Wladimir Obuchow (* 1992), russischer Fußballspieler
Nigina Sharipova (* 1995), usbekische Sprinterin
Im Schelmenroman Chodscha Nasreddin von Leonid Wassiljewitsch Solowjow ist Buchara der Heimatort des Helden.
Literatur
Stephanie Clasemann: Heiliges Usbekistan: Auf den Spuren großer Sufis. silsile, Wien 2021, ISBN 978-3903221185, S. 84–179.
Ashirbek Muminov et al.: Islamic education in Soviet and post-Soviet Uzbekistan. In: Michael Kemper, Raoul Motika, Stefan Reichmuth (Hrsg.): Islamic Education in the Soviet Union and Its Successor States. Routledge, London 2010, S. 223–279.
Anette Gangler, Heinz Gaube, Attilio Petruccioli: Bukhara – The Eastern Dome of Islam. Axel Menges, Stuttgart 2004, ISBN 3-932565-27-4.
Yuri Bregel: An Historical Atlas of Central Asia. Brill, Leiden 2003, ISBN 90-04-12321-0, S. 80–81 mit Tafel 40 (Stadtplan von Buchara im 19. Jahrhundert).
Attilio Petruccioli (Hrsg.): Bukhara. The Myth and the Architecture. Aga Khan Program for Islamic Architecture, Cambridge 1999, .
Dschalol Ikromij: Die Zwölf Tore Bucharas (, ), 1961–1974 (Eine historische Trilogie).
Filme
Die Störche bleiben in Buchara, DEFA-Dokumentarfilm, Regie: Kurt Tetzlaff, 1968
Weblinks
Bernhard Peter: Bukhara – Essays und Photogalerien. Architektur und Architekturgeschichte, viele Grundrisse historischer Gebäude
Website des Museums von Buchara
Anmerkungen
Ort in der Provinz Buxoro
Seidenstraße
Ehemalige Hauptstadt (Usbekistan)
Provinzhauptstadt in Usbekistan
Gegründet im 1. Jahrtausend v. Chr.
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Q5764
| 152.943643 |
4951
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https://de.wikipedia.org/wiki/S%C3%BC%C3%9Fgr%C3%A4ser
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Süßgräser
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Die Süßgräser (Poaceae = Gramineae) sind eine Pflanzenfamilie in der Ordnung der Grasartigen (Poales). Mit etwa 12.000 Arten in rund 780 Gattungen sind sie eine der größten Familien innerhalb der Blütenpflanzen. Sie sind weltweit in allen Klimazonen verbreitet und durch eine typische grasartige Gestalt gekennzeichnet.
Viele Arten der Süßgräser gehören zu den ältesten Nutzpflanzen und sind seit alters für den Menschen von lebenswichtiger Bedeutung. Alle Getreide wie Weizen, Roggen, Gerste, Hafer, Hirse, Mais und Reis zählen zu dieser Pflanzengruppe. Sie stellen in Form von Marktfrüchten oder als Viehfutter in der Veredelung heute die Basis für die Ernährung der Weltbevölkerung dar. Als Vorkommen in Gras- oder Grünland – wie Wiesen und Weiden, aber auch Steppen und Savannen – prägen sie in weiten Teilen der Erde das Landschaftsbild.
Lebenszyklus und Morphologie
Süßgräser umfassen sowohl kurzlebige als auch langlebige Arten. Sie weisen eine charakteristische Morphologie sowohl der vegetativen als auch der generativen Organe auf, mit einem gemeinsamen „grasförmigen“ Grundbauplan der verschiedenen Arten. Gräser sind meist schlankwüchsig und verfügen über lange, dünne, durch Knoten gegliederte Halme, parallelnervige, lange Blätter und oft unauffällige, einfache Blütenstände. Innerhalb der Unterfamilien, Tribus und Gattungen sind dagegen deutliche taxonspezifische Abwandlungen der Merkmale vorhanden.
Lebensformen und Ausdauer
Viele Arten sind einjährig und schließen ihren gesamten Lebenszyklus in einer Vegetationsperiode ab. Sie leben meist nur wenige Monate und überdauern die ungünstige Jahreszeit als Samen im Boden. Diese Formen, zu denen auch viele Getreidesorten gehören, werden Therophyten genannt.
Andere Arten sind mehrjährig und damit Hemikryptophyten. Sie verfügen über bodennahe Erneuerungsknospen und überdauern ungünstige Zeiten geschützt durch den Boden, Laubstreu oder Schnee. Dazu gehören zweijährige Arten, die im Laufe des Sommers oder Herbstes keimen und erst im folgenden Jahr Früchte und Samen bilden, ebenso wie ausdauernde und mehrjährige Arten, die wenige oder viele Jahre leben. Diese besitzen überwinterungsfähige Horste oder Rosetten. Die Individuen einer Generation ausdauernder Arten können bis zu 400 Jahre alt werden, so zum Beispiel der Rot-Schwingel (Festuca rubra). Die Gemeine Quecke (Elymus repens) ist ein Beispiel dafür, dass sich Gräser aus Ausläuferfragmenten erneuern können (Rhizom-Geophyten). Die meisten Hemikryptophyt-Arten sind krautig; deren Halme nach etwa einem Jahr Lebensdauer oberirdisch absterben. Ausnahmen bilden holzige Bambus-Arten (Bambuseae), deren Triebe dickwandig und fest sind und mehrere Jahrzehnte ausdauern können.
Wuchsformen und Wurzeln
Etliche Süßgräser sind zart gebaut und werden nur wenige Zentimeter groß (z. B. Einjähriges Rispengras). Andere Arten haben verholzte Halme und erreichen Wuchshöhen bis zu 40 Metern und mehr, wie beispielsweise die Bambus-Art Dendrocalamus giganteus. Ein- und zweijährige Arten haben gewöhnlich einzelne oder wenige Triebe in lockeren Büscheln mit weicheren Blättern. Bei diesen Süßgräsern tragen alle oder die meisten der Sprossachsen Blütenstände. Die ausdauernden Arten bilden in den meisten Fällen festere Halme und Blattspreiten und neben blühenden Trieben eine größere oder kleinere Anzahl an nicht blühenden Trieben. Sie wachsen in lockeren oder dichten Horsten oder rasenförmig. Letztere Wuchsform ergibt sich, indem sich die Pflanzen entweder über mehr oder weniger lange, oberirdisch kriechende, grünliche oder rötliche Sprossachsen, namentlich Stolonen (z. B. das Weiße Straußgras) oder über unterirdische, weiße oder braune Rhizome ausbreiten (z. B. die Kriech-Quecke). Außer an der Farbe lassen sich die beiden Typen von sich an den Knoten bewurzelnden Ausläufern auch daran unterscheiden, dass Stolonen an jedem Knoten (Nodus) über vollständige Blätter mit Blattscheide und Blattspreite verfügen, Rhizome dagegen an diesen Punkten lediglich kleine, dünne, schuppenförmige Niederblätter entwickeln. Bei horstbildenden Arten bilden sich nur kurze Ausläufer, oder die jungen Seitentriebe entwickeln sich innerhalb der Blattscheiden des Muttertriebes (intravaginal), so beim Schaf-Schwingel (Festuca ovina). Auf diese Weise entsteht durch die gedrängt stehenden Triebe die typische büschelige, dicht horstige Wuchsform vieler Gräser. Wachsen die Triebe die untere Blattscheide durchstoßend (extravaginal), ist der Aufwuchs meist locker-horstig oder rasenförmig (z. B. Rot-Schwingel).
Die meisten Süßgräser sind Flachwurzler; sie bilden keine Haupt- und Pfahlwurzeln. Am Stängelgrund und an den Knoten der Ausläufer werden zahlreiche sprossbürtige Wurzeln gebildet, die ihrerseits Seitenwurzeln 1. und 2. Ordnung entwickeln können. Auf diese Weise können Wurzelsysteme von beachtlicher Länge entstehen. So kann sich eine einzige Pflanze des Rot-Schwingels etwa 250 Meter im Durchmesser ausbreiten.
Halme und Blätter
Die Stängel der Süßgräser werden als Halme (über althochdeutsch halm ableitbar von germanisch halma, „Stroh, Getreidestängel, Grasstängel“) bezeichnet. Sie sind meist hohl und rund. Nur wenige Grasarten besitzen markige Stängel. Sie sind durch feste, mit Gewebe gefüllte Knoten (Nodien) gegliedert. Die Abschnitte zwischen den Knoten werden als Internodien bezeichnet. Unmittelbar oberhalb der Knoten liegen die Wachstumszonen, die Halme wachsen also mit eingelagerten Meristemen. An diesen Stellen setzen die faserigen Verstärkungselemente, die den Halmen zusätzliche Stabilität und Zugfestigkeit verleihen, aus. Die Halme bleiben auf diese Weise beweglich und biegsam. Sie sind so in der Lage, sich nach Wind- und Regeneinwirkung wieder aufzurichten. Sie können entweder senkrecht hochwachsen, von einem gebogenen Grund aufsteigen oder gänzlich am Boden niederliegend wachsen. Grashalme variieren in Größe, Festigkeit und Zahl der Knoten. Sie sind im Querschnitt meist rund, selten etwas zusammengedrückt wie beim Zusammengedrückten Rispengras (Poa compressa). Bei einigen Süßgrasarten sind die untersten Internodien mehr oder weniger angeschwollen und verdickt. Die Halme etlicher Gräser sind unverzweigt, bei einigen Arten bilden sich von den Knospen in den Blattachseln ausgehende Seitenzweige. Die Beblätterung der Halme ist bei Süßgräsern immer wechselständig und fast ausnahmslos zweizeilig (distich) – im Gegensatz zur dreizeiligen Beblätterung der Sauergräser (Cyperaceae).
Die Blätter der Süßgräser bestehen immer aus zwei verschiedenen Abschnitten: der Blattscheide und der Blattspreite. Die Blattscheide entspricht dem Blattgrund, setzt am Knoten an und umschließt das Internodium bis fast zum nächsten Halmknoten. Die Scheiden sind bei der Mehrzahl der Gräser an einer Seite offen. Bei wenigen Grasarten sind die Ränder verwachsen und damit die Blattscheiden röhrig geschlossen, wenngleich sie früh im oberen Bereich aufreißen. Während die basalen Blattscheiden die Wachstumspunkte der jungen Triebe schützen, erfüllen diejenigen an den Halmen diese Schutzfunktion für die dortigen Wachstumszonen oberhalb der Knoten und sorgen außerdem für zusätzliche Stabilität. Der obere Teil der Blattscheiden kann bauchig aufgeblasen sein. Die Vorderseite des Blattscheidenendes kann in mehr oder weniger spitze, meist stängelumfassende „Öhrchen“ ausgezogen sein oder Büschel von Haaren tragen. Die Blattscheide geht am oberen Ende in die vom Halm abstehende Blattspreite über. Diese ist flach, gerollt oder gefaltet; stets länglich und mehr oder weniger spitz zulaufend. Sie zeigt die kennzeichnende Paralleladerung einkeimblättriger Pflanzen. Jede Blattader entspricht einem Leitbündel, der dem Stofftransport und der Aussteifung der Blattfläche dient.
Am plötzlichen Übergang von der Blattscheide zur Blattspreite sitzt bei den meisten Arten ein häutiges Anhängsel, das Blatthäutchen (Ligula). Es erscheint meistens als farbloser, durchscheinender Fortsatz der Oberhaut auf der Innenseite der Blattscheide und stellt eine Verlängerung der inneren Epidermis der Blattscheide dar. Es schützt vor Verletzungen durch Reibung des sich beim Wind hin und her bewegenden Halmgliedes sowie vor dem Eindringen von Schmutz und Parasiten in den Raum zwischen Halm und Scheide. Wegen seiner Gestaltungsvielfalt ist das Blatthäutchen für die Artbestimmung hilfreich. Es ist behaart oder unbehaart, kragenförmig, zugespitzt, langgezogen, sehr kurz oder sehr lang. Teilweise ist das Blatthäutchen durch eine Reihe von Haaren ersetzt, selten fehlt es ganz.
Blütenstände und Blüten
Die Blütenstände (Infloreszenzen) der Süßgräser bestehen aus einer Vielzahl von Teilblütenständen, seltener Einzelblüten, die in Ähren, Rispen und Trauben an einer Blütenstandsachse (Rhachis spicae) angeordnet sind. Die Teilblütenstände werden als Ährchen bezeichnet. Sie bestehen ihrerseits aus ein- bis mehreren, überwiegend zweigeschlechtigen Blüten. Sitzen die Ährchen ungestielt direkt an der Blütenstandsachse, handelt es sich um eine Ähre. Bei Fingergräsern befinden sich mehrere Ähren am Halmende in fingerartiger Anordnung. Sogenannte Kolben entstehen durch Abwandlungen von Ähren durch Vergrößerung des Achsengewebes. In Trauben befinden sich die Ährchen an unverzweigten Stielen. Die Ährchen können alle in die gleiche Richtung weisen (einseitswendig) oder sich in zwei Reihen an gegenüberliegenden Seiten der Achse befinden. Sind die Seitenäste einseits- oder allseitswendig verzweigt, handelt es sich um Rispen. In Ährenrispen oder Scheinähren sind die Seitenäste so kurz, dass die Blütenstände äußerlich wie Ähren erscheinen. Erst beim Umbiegen einer solchen Ährenrispe werden die tatsächlichen Verzweigungsmuster erkennbar.
Süßgräser zeichnen sich durch eine charakteristische Reduzierung der Blüten aus. Die Ährchen werden am Grunde von einer inneren und einer äußeren Hüllspelze (Gluma), die miteinander verwachsen sein können, eingefasst. Oberhalb davon stehen ein oder mehrere Blüten, jede mit einer Deck- sowie Vorspelze. Die Deckspelzen können als Tragblätter der Einzelblüten aufgefasst werden. Die Spelzen variieren in ihrer Form und Größe sehr. Die beiden Hüllspelzen können gleich oder verschieden gestaltet sein. Die Deckspelzen sind vielförmiger gestaltet. Sie können an den Enden spitz, stumpf oder verschiedenartig gezähnt sein. Auf dem Rücken sind sie gerundet, zusammengedrückt oder gekielt. Die Mittelrippe kann in einen Stachel oder eine Granne verlängert sein.
Die Blüten bestehen aus einer Vorspelze und zwei, selten drei, zuweilen an den Rändern verwachsenen Schwellkörperchen (Lodiculae), durch deren Anschwellen die Spelzen geöffnet werden. Es sind ferner meist drei Staubblätter (Stamina) vorhanden (selten sechs, zwei oder nur eines), von denen jedes einen Stiel (Filament) und einen den Pollen tragenden, zweiteiligen Staubbeutel (Anthere) aufweist. In jeder Blüte gibt es schließlich einen runden, aus zwei oder drei Fruchtblättern verwachsenen, oberständigen Fruchtknoten (Ovarium). Dieser verfügt an seiner Spitze über einen Stempel (Pistillum), der seinerseits auf kurzen Stielen ein, zwei oder selten drei fedrige Narbenäste (Stigmae) trägt. Der Fruchtknoten enthält die Samenanlage, die mit Fruchtknotenwänden zu einer Einheit, der Karyopse, verwächst.
Bei manchen Arten enthalten einige Blüten nur männliche Organe oder sind steril. Ferner sind etliche Arten verschiedenährig, das heißt, die Blüten mit nur weiblichen und nur männlichen Organen befinden sich getrennt in verschiedenen Blütenständen desselben Individuums (einhäusig), so beim Mais. Bei anderen Arten wie dem Pampasgras befinden sich die Geschlechter getrennt in den Blütenständen verschiedener Individuen einer Grasart. Sie sind zweihäusig.
Früchte und Samen
Die Frucht ist bei den meisten Grasarten eine trockene Karyopse, eine Sonderform der Nussfrucht. Seltener sind die Früchte Beeren oder Steinfrüchte mit saftigen oder fleischigen Fruchtwänden, so wie bei einigen Bambus-Arten. Während der Reifezeit verwächst die Fruchtwand (Perikarp) mit der Samenschale (Testa) zu einer einsamigen, trockenen Schließfrucht. Die „Samenkörner“ stellen also keine Samen, sondern vielmehr Früchte dar. Unterhalb der Fruchtwand und der Samenschale liegt die eiweißreiche Aleuronschicht. Darunter folgt das den restlichen Samen ausfüllende stärkereiche Nährgewebe, das Endosperm. Gräser sind einkeimblättrig (monokotyl); bei ihnen ist das eine Keimblatt (Kotyledon) zu einem Scutellum (Schildchen) und zu einer Keimscheide (Koleoptile) umgestaltet. Das Scutellum liegt zwischen dem Endosperm und dem Embryo und spielt eine wichtige Rolle für den Stofftransport und die Hormonsynthese. Der Embryo verfügt bereits über deutlich erkennbare Wurzel- und Sprossanlagen. Die Koleoptile ist ein zylinderförmiges Schutzorgan, welches das Primärblatt des auskeimenden Embryos umgibt. Da die Koleoptile ein umgewandeltes Keimblatt darstellt, ist es als Organ ein Blatt. Wie alle Blätter besitzt es zwei Epidermen (außen und innen), Stomata und Leitbündel. Die Stärke und die Proteine dienen dem Embryo als Starthilfe für die Keimung, bevor es sich durch Photosynthese selbst versorgen kann. Die ausgereiften Früchte der Gräser sind in ihrer Gestalt und ihrem Aufbau charakteristisch. Die ehemalige Bauchnaht des Fruchtknotens erscheint auf einer Flanke des Korns als tiefe Furche.
An verschiedenen Stellen des Fruchtstandes bilden sich Zonen eines speziellen Gewebes, entlang dessen ein glatter Bruch entsteht, sobald der Samen reif ist. Bei den meisten Gräsern erfolgt dieser Bruch in der Ährchenachse unterhalb der Deckspelze. Die Karyopse ist in diesen Fällen meistens in Deckspelzen und Vorspelzen fest eingeschlossen und stellt als Gesamtheit die Ausbreitungseinheit (Diaspore) dar. Bei einigen Arten erfolgt der Bruch unterhalb der untersten Deckspelze des Ährchens (z. B. Perlgräser), unter dem einzelnen Ährchen oder in einem Büschel von Ährchen (Gerste), selten in der Hauptachse des Fruchtstandes (Dünnschwanz). Gräser mit nackten Früchten sind in den tropischen Gattungen Sporobolus und Eragrostis häufig. Bei diesen steht das Korn frei und wird ausgestreut, nachdem sich ein Bruch am Grunde der sie haltenden Deckspelze entwickelt hat.
Chemische Merkmale
Die Samen sind reich an Stärke. Diese kann aus einzelnen Stärkekörnern (Roggen, Weizen, Gerste) bestehen oder aus zu mehreren zusammengesetzten (Hafer). Auch in den Rhizomen und anderen vegetativen Organen speichern die Gräser Stärke, Saccharose und/oder Fructane. Bei den Fructanen kommt neben dem unverzweigten „Inulin-Typ“ der verzweigte „Phlein-Typ“ vor. Das Fructanmuster ist wie der Polymerisationsgrad oft kennzeichnend für die Art. Die äußere Endospermschicht (Aleuronschicht) der Karyopsen ist reich an Reserveproteinen. Sie enthält vor allem Albumine, Globuline, Gluteline (nur in verdünnten Säuren und Laugen löslich) und Prolamine (in 70–80%igem Ethanol löslich). Letztere sind beim Roggen- oder Weizenmehl Voraussetzung für die Backfähigkeit.
Einige Triben der Panicoideae bilden ätherische Öle in schlauchförmigen, verkorkten Zellen. Cymbopogon nardus liefert das Aetheroleum Citronella, das hauptsächlich aus Citronellal und Geraniol besteht und bei der Herstellung von Melissengeist oft das echte Melissenöl ersetzt. Weitere Cymbopogon-Arten werden angebaut, da sie Parfümöle wie Palmarosaöl und Lemongrasöl liefern. Diese Öle bestehen überwiegend aus Mono- und Sesqui-Terpenen, während Phenylpropanoide selten sind. Alkaloide sind selten. Es gibt Protoalkaloide und vereinzelt Pyrrolizidin- und β-Carbolintyp-Alkaloide. Cyanogene Glykoside (blausäure-produzierende Verbindungen) sind weit verbreitet, kommen aber immer nur in geringen Mengen vor. Cumarine kommen wahrscheinlich bei allen Vertretern vor, aber nur beim Gewöhnlichen Ruchgras (Anthoxanthum odoratum) und beim Duftenden Mariengras (Hierochloe odorata) in größeren Mengen. Polyphenole sind in geringeren Mengen enthalten.
In den Blattepidermen wird wie bei den Sauergräsern (Cyperaceae) häufig Kieselsäure in Form von Kieselsäurekörpern eingelagert. Oxalatkristalle scheinen vollkommen zu fehlen.
Etliche dieser Inhaltsstoffe zeigen als Bitterstoffe eine fraßhemmende Wirkung oder wirken toxisch auf Bakterien oder Pilze.
Ökologie
Vegetatives Wachstum, Ausbreitung und Regeneration
Bei ausdauernden Arten erfolgt die vegetative Ausbreitung überwiegend über Stolonen und Rhizome, die sich an den Knoten bewurzeln. Etliche Arten bedienen sich zusätzlich der unechten Viviparie, bei der keine Samen gebildet, sondern Brutknospen (Bulbillen), die erbgleiche Tochterpflanzen hervorbringen. Ein bekanntes Beispiel ist das Alpen-Rispengras (Poa alpina). Bei diesem Gras entwickeln sich im Blütenstand anstelle von Blüten grüne Pflänzchen, die an der Mutterpflanze verbleiben oder zu Boden fallen und als Diasporen dienen. Beim Zwiebel-Rispengras (Poa bulbosa) bilden sich basale, zwiebelartige Brutknospen, in denen Reservestoffe eingelagert sind. Jede Brutknospe bildet die Grundlage für eine neue Pflanze.
Gräser sind zur raschen Regeneration nach Verbiss oder Mahd befähigt. Dies liegt in der geschützten Lage ihrer Blattwachstumszonen (Meristeme) und Nebentriebknospen begründet. Die Wachstumszonen befinden sich an der Basis der Graspflanzen nahe der Erdoberfläche. Die Triebe bestehen aus unterschiedlich alten und gegenständig angeordneten Blättern. Junge Blätter wachsen an der Basis der Blattscheide (Interkalarmeristem). Ein erneutes Wachstum der Blätter nach Verlust durch Mahd oder Beweidung wird dadurch ermöglicht. Auch die einzelnen Blätter verfügen wie die Halme am oberen Ende der Blattscheiden im Übergang zu den Blattspreiten über teilungsfähiges Gewebe, das Nebentriebe bilden kann. Ferner sind die Halme durch das unterschiedliche Wachstum der teilungsfähigen Zonen oberhalb der Knoten zu einem Wiederaufrichten des Stängels nach Regen oder Tritt befähigt.
Die beschriebenen Wachstumsbereiche sind in verschiedene Zonen unterteilt: An der Basis findet die Zellteilung und damit eine Zellproduktion statt. Darauf folgt ein Bereich der Zellstreckung. In der folgenden Zone der Zelldifferenzierung erfolgt die Ausbildung der Blattzellen. Die Zellproduktion und Zellstreckung verschieben das ausdifferenzierte Blatt nach oben. Sobald das Blatt aus der Blattscheide ans Licht tritt, ist es photosynthetisch aktiv.
Generative Vermehrung und Ausbreitung
Alle Süßgräser sind windblütig (anemogam). Die Blüten öffnen sich nur wenige Stunden am Tag, um Staubblätter und Narben dem Wind auszusetzen. Eine Selbstbestäubung wird durch die meist frühere Reife der Staubblätter verhindert (Proterandrie). Die starke Reduzierung der Blüten ist eine Anpassung an diese Form der Bestäubung. Gräser können auf auffällige Formen und Farben der Blüten und auf ein Nektarangebot zur Anlockung von Tieren verzichten. Die passive Pollenübertragung über den Wind und Luftströmungen erfolgt dabei weit weniger gezielt als bei der Tierbestäubung. Diesen Mangel gleichen die Windblüher mit der Massenproduktion von Blütenstaub aus. Dies führt während der Blütezeit zu regelrechten Staubwolken, die garantieren, dass zumindest ein kleiner Teil des weniger als einen Tag lebensfähigen Pollens seinen Bestimmungsort, die weiblichen Narben, erreicht. Beispielsweise bildet der Roggen (Secale cereale) pro Ähre etwa vier Millionen Pollenkörner; eine einzelne Blüte bis zu 57.000. Eine große Blütenhülle wäre bei der Pollenverbreitung nur hinderlich. Die Lodiculae schwellen durch Wasseraufnahme an und drängen die Spelzen auseinander – die „Grasblüte“ öffnet sich. Die Filamente sind lang und dünn und lassen die Staubbeutel frei aus der Blüte heraushängen. So kann der Wind ungehindert den trockenen, nicht verklebten und leichten Pollen heraustragen. Die Fruchtknoten haben gefiederte und dadurch mit großer Oberfläche versehene Narben, die den Pollen gewissermaßen wieder aus Luft herauskämmen können. Die Effizienz dieser Form der Pollenverbreitung wird durch das Herausheben der Blütenstände über die Ebene des Blattwerkes sowie durch eine hohe Individuendichte der Graspflanzen verstärkt. Eine Sonderform der geschlechtlichen Ausbreitung ist die echte Viviparie, bei der die Samen schon auf der Mutterpflanze auskeimen. Die Samenausbreitung erfolgt auf vielfältige Weise; überwiegend durch den Wind (Anemochorie), über das Wasser (Hydrochorie) oder durch Tiere (Zoochorie).
Mykorrhiza
Das Wurzelsystem der Wiesengräser bildet arbuskuläre Mykorrhiza (AM), eine Symbiose mit einem Pilz. Diese erleichtert der Graspflanze die Erschließung und Aufnahme von Nährstoffen aus dem Boden. Ein Pilzmycel verbindet mehrere Pflanzen derselben Art und andere Pflanzenarten, wodurch nicht nur das Gras selbst und der Pilz, sondern schließlich Wiese und Pilz eine Lebensgemeinschaft bilden.
Photosynthese
Unter den Gräsern gibt es sowohl C3- (die meisten heimischen Gräser wie Deutsches Weidelgras) als auch C4-Pflanzen (z. B. Mais, Hirse und Zuckerrohr), letztere mit effizienterer Photosynthese bei hohem Wärme- und Lichtangebot. C3-Pflanzen weisen dagegen bei kühleren Temperaturen und weniger Licht eine effizientere Photosynthese auf. Die Forschung hat gezeigt, dass der C4-Mechanismus zuerst bei den Gramineen, wahrscheinlich im Oligozän vor etwa 23 bis 34 Millionen Jahren entwickelt wurde, wobei es Hinweise auf über zehn unabhängige Entwicklungen gibt. Bei der geographischen Verbreitung ergibt sich eine auffällige klimatische Abhängigkeit der Photosynthesetypen. So ist der Anteil der C4-Pflanzen unter den Gräsern in kühlen und humiden Klimaten deutlich niedriger als in trockenen bis extrem ariden Regionen der Erde.
Synökologie, Biotope und Bedeutung
Natürliche und anthropogene Grasländer
Etwa ein Fünftel der Pflanzendecke der Erde wird von Gräsern eingenommen. Savannen und Steppen bilden die großen, natürlichen Grasländer der Erde in Klimazonen, die für Wald nicht geeignet sind. Dem gegenüber stehen die durch menschliche Tätigkeit entstandenen Kulturgrasländer vor allem Mitteleuropas, die in einem langen nacheiszeitlichen Prozess vom Wald zur offenen, durch Wiesen und Weiden geprägten Landschaft entstanden.
Die dauerhaften, mehr oder weniger geschlossenen Grasbestände erfüllen vielfältige ökologische und biologische Aufgaben. Sie verhindern vor allem durch ihr dichtes und eng vernetztes Wurzelsystem die Abtragung der Bodenschicht durch Wind und Wasser (Erosion). Ferner erzeugen sie durch ihr Wurzelwerk einen hohen Gehalt an organischer Substanz im Boden. Etwa zwei Drittel der pflanzlichen Primärproduktion bleiben in Grasländern unterirdisch zurück und führen so zur Humusbildung. Dazu trägt das jährlich absterbende oberirdische Pflanzenmaterial zusätzlich bei, das als Mulch zurückbleibt und nur langsam zersetzt wird. In vielen Grasländern spielen natürliche Feuer eine Rolle. Blitze entzünden am Ende der Vegetationszeit die abgestorbene Pflanzenmasse. Die in der Asche enthaltenen anorganischen Nährstoffe fördern als Dünger den Neuaustrieb der Pflanzen. Darüber hinaus wird der Gehölzaufwuchs zerstört, die Brände tragen so zur Offenhaltung der Graslandschaft bei. Grasländer beherbergen und ernähren eine artenreiche und vielfältige Tierwelt: eine Vielzahl von Insekten (Termiten und Ameisen), Spinnen, Vögel, Kleinsäuger und zahlreiche im Boden lebende Tiere, nicht zuletzt Großsäuger wie jene der großen Tierherden in den afrikanischen Savannen. Letztere tragen wie die regelmäßigen Feuer dazu bei, die Verjüngung der Gehölze zu hemmen. Ihre Exkremente düngen den Boden. Durch den Fraß wird die Regeneration der Gräser so angeregt, dass die Primärproduktion um mehr als zwei Drittel zunimmt. Ferner sind sie für die Verbreitung der Früchte und Samen durch Epi-, Endo- oder Dysochorie von Bedeutung. Naturnahe Grasländer gehen heute weltweit zurück. Die Ursachen liegen in der Umwandlung in Acker- und Siedlungsland, der Aufgabe traditioneller Wiesen- oder Weidenutzungen sowie in der Intensivierung (Düngung) und Degradierung (Überweidung).
Steppen und Prärien
Die baumfreien Steppen finden sich in den semiariden, gemäßigten Zonen vorwiegend auf der Nordhalbkugel. Auf der Südhalbkugel ist die argentinische Pampa eine zu den eurasischen Steppen und den nordamerikanischen Prärien analoge Vegetationsform. Es wird kontrovers diskutiert, ob sie auf natürliche Weise entstanden ist. Steppen unterliegen durch strenge Kälte im Winter und anhaltende Trockenheit im Sommer im Jahresverlauf zwei Perioden der Vegetationsruhe. Die im Frühjahr, Frühsommer und Spätherbst anfallenden Niederschläge reichen für das Wachstum der Steppenvegetation aus. Kennzeichnend für Steppen ist ihre hohe bodenbiologische Aktivität bei einem hohen Humusanteil (bis zu 10 %). Es können sich fruchtbare Schwarzerdeböden mit Humushorizonten bis zu einem Meter Mächtigkeit bilden. Die osteuropäischen Steppen lassen sich grob in etwa vier Vegetationstypen gliedern, die der zunehmenden Kontinentalität in Richtung Südost folgen. In Russland und der Ukraine finden sich Wiesensteppen mit Aufrechter Trespe (Bromus erectus), Flaumigem Wiesenhafer (Avenula pubescens), Schillergräsern (Koeleria) und vielen anderen Grasarten. Sie sind reich an einjährigen, und nicht grasartigen ausdauernde krautige Pflanzen. Darauf folgt die durch Pfriemengräser der Gattung Stipa dominierte Federgrassteppe mit schmalblättrigen „Horstgräsern“ und weniger Stauden, und schließlich die Kurzgrassteppe mit xerophytischen Festuca-Arten. Westliche Vorposten der osteuropäischen Steppen finden sich beispielsweise in der Pannonischen Tiefebene Ungarns. Im gemäßigten Nordamerika entspricht den Steppen die flächenmäßig deutlich kleinere Prärie zwischen Mississippi und den Rocky Mountains. Sie ist im Gegensatz zu den osteuropäischen Steppen weniger kontinental geprägt. Sie erreicht in West-Ost-Ausdehnung 1000 Kilometer, in Nord-Süd-Ausdehnung 2750 Kilometer. Im Osten findet sich die Hochgras-Prärie mit Wiesen-Rispengras (Poa pratensis), dem Pyramiden-Schillergras (Koeleria pyramidata), Prärie-Bartgras (Andropogon scoparius), Rutenhirse (Panicum virgatum) und vielen krautigen Pflanzen. Im Südteil folgt Richtung Westen die Mischgras-Prärie im Übergang zur am Fuße der Rocky-Mountains befindlichen Kurzgras-Prärie mit dem Moskitogras (Bouteloua gracilis) und Buchloe dactyloides. Die Bedeutung geschlossener Grasdecken als Schutz vor Erosion zeigen die verheerenden Sandstürme der 1930er Jahre in der danach benannten „Dust Bowl“ Nordamerikas durch großflächige Bodenzerstörungen im Zuge der Umwandlung in Ackerland. Noch im 17. und 18. Jahrhundert zogen Büffelherden mit einer geschätzten Bestandsgröße von 50 bis 70 Millionen Tieren über die Prärien. Heute sind es über 100 Millionen Hausrinder.
Savannen
Die Savannen umfassen etwa 15 Millionen Quadratkilometer. In den wechselfeuchten Sommerregengebieten der Tropen der Südhalbkugel erreichen sie ihre größte Ausdehnung in Afrika. Analoge Formationen der Savannen sind die Llanos Venezuelas und Kolumbiens, die Cerrados Brasiliens sowie die Eukalyptus-Steppen Nordaustraliens. Savannen sind im Gegensatz zu den Steppen und Prärien mit Bäumen und Sträuchern durchsetzt. Die Savannen Afrikas würden ohne Feuer und den Einfluss der großen Elefanten- und Huftierherden in kurzer Zeit mit Gehölzen zuwachsen. In den Savannen findet sich häufig ein kleinräumiges Oberflächenrelief aus flachen Hügeln und Senken mit Höhenunterschieden unter einem Meter. Dadurch unterscheiden sich die Standorte vor allem hinsichtlich der Wasserverfügbarkeit. Die unterschiedliche Wasserverfügbarkeit bestimmt schließlich die Nährstoffverfügbarkeit und die Vegetation. In Savannen spielen neben den Großtieren Termiten, Ameisen und Heuschrecken eine maßgebliche Rolle als Regulative im Ökosystem. Der Artenreichtum der Pflanzen der Savannen ist vergleichsweise gering. Die Hauptkomponenten sind C4-Gräser wie die Lampenputzergräser (Pennisetum) und Andropogon-Arten in Afrika. In Australien sind die Savannen, das sogenannte Spinifex- oder Hummock-Grasland, durch Igelkopfgräser der Gattungen Triodia und Plectrachne gekennzeichnet. Dagegen ist der Artenreichtum der Tiere ausgesprochen groß. So leben etwa 1,5 Millionen Großtiere in den Savannen der Erde, allein in der Serengeti Ostafrikas sind es 98 große Weidetiere pro Quadratkilometer. Die Zoomasse wird auf 150 bis 250 Kilogramm Trockenmasse pro Hektar geschätzt – jene der Wälder der gemäßigten Zone wird mit nur 10 Kilogramm Trockenmasse pro Hektar angegeben.
Kulturgrasland
In der Naturlandschaft Europas ist natürliches Grasland auf wenige Bereiche beschränkt. Nur in hohen Berglagen oberhalb der Waldgrenze, in Seemarschen, in oft überschwemmten Auenbereichen und im Randbereich von Hochmooren konnten sich kleinräumig natürliche, weitgehend baumfreie Grasländer, sogenannte Urwiesen, entwickeln. Sie sind heute stark vom Menschen überprägt. Kulturgrasland dient dem Menschen wirtschaftlich als Grundlage der Viehzucht. Die durch Gräser dominierten Wiesen- und Weidelandschaften des gemäßigten Europa sind im Wesentlichen das Ergebnis jahrhundertelangen menschlichen Wirkens. Noch vor etwa 10.000 Jahren war Mitteleuropa nahezu reines Waldland. Die Entwicklung bäuerlicher Kulturen, die sich vom Nahen Osten ausgehend vor etwa 6700 bis 6400 Jahren (Neolithikum) nach Mitteleuropa ausbreiteten, ermöglichte das Sesshaftwerden der Menschen und führte zu immer stärkeren Eingriffen in die natürliche Pflanzendecke. Es gab Siedlungen, erste Äcker und Nutztiere, die ihre erste Nahrung im Wald suchten. Der Fraß der Tiere, Brand und Holzeinschlag führten im Laufe längerer Zeit zu Auflichtungen in den Wäldern. Mit Beginn der Eisenzeit wurde die Landnutzung verstärkt, und mit Erfindung der Sense wurde die Gewinnung von Heu und Streu möglich. Auf diese Weise entstanden erste größere Wiesenareale. Im Mittelalter vollendete sich die Landschaftsentwicklung in einer offenen und differenzierten Kulturlandschaft aus Siedlungen, Waldresten, Feldgehölzen, Gebüschen, Äckern sowie artenreichen Wiesen und Weiden. Die typische Landschaft wird in der Literatur vielfach als „Parklandschaft“ oder „europäische Savanne“ beschrieben. Im Zuge der Agrarentwicklung in der Neuzeit wird die Landwirtschaft durch die Technisierung, Flurbereinigungen, Melioration sowie gezielte Ansaat ausgewählter Grasarten immer unabhängiger von natürlichen Gegebenheiten. Die artenreichen, extensiven Wiesen und Weiden wurden weitgehend von artenarmen, monotonen Wirtschaftswiesen und -weiden abgelöst. Zu den wichtigsten angebauten Futtergräsern des Dauergrünlandes gehören heute das Deutsche Weidelgras (Lolium perenne), das Wiesen-Lieschgras (Phleum pratense), das Gewöhnliche Knäuelgras (Dactylis glomerata) sowie Wiesen- und Rohr-Schwingel (Festuca pratensis, Festuca arundinacea).
Küsten- und Hochwasserschutz
Etliche Gräser verhindern durch ihr dünnes Netzwerk aus Wurzeln und die Bedeckung des Bodens mit ihren oberirdischen Pflanzenteilen nicht nur dessen Abtragung durch Wind und Wasser, sondern sorgen zusätzlich für dessen Aufhöhung. Dafür sind besonders solche Arten geeignet, die unter vergleichsweise ungünstigen Standortbedingungen weitreichende Rhizome und Stolonen bilden können. So ist beispielsweise der Gewöhnliche Strandhafer (Ammophila arenaria) maßgeblich an der Festlegung der Treibsande sowie am Aufbau der Weißdünen auf den Inseln und an den Festlandsküsten beteiligt und erfüllt so eine wichtige Funktion im Küstenschutz. Auf regelmäßig überfluteten Schlickflächen der Küsten ist es der Strand-Salzschwaden (Puccinellia maritima), der mit seinen sich bewurzelnden Stolonen allmählich die kurzen dichten Rasen der Salzwiesen bildet und mit seinen kurzen steifen Halmen und Blättern den Schlamm gewissermaßen einfängt und die Oberfläche der Marsch langsam aufhöht. Dort, wo andere Süßgräser nicht mehr gedeihen können, übernimmt das Salz-Schlickgras (Spartina anglica) an ähnlichen Standorten die Funktion der Festlegung und Aufhöhung von Schlick der seewärtigen Seiten im Wattenmeer und entlang der Priele. Die Deiche der Küsten und Ströme werden schließlich mit einer Pflanzendecke ausgestattet, die von bodenhaltenden Süßgräsern dominiert wird.
In den Ebenen entlang der Flussufer des Binnenlands schützen Gräser den Boden vor Erosion und erfüllen eine ebenso wichtige Aufgabe im Hochwasserschutz. Beispielsweise bilden das Rohr-Glanzgras (Phalaris arundinacea) und der Wasser-Schwaden (Glyceria maxima) auf Schlammflächen und an Ufern dichte und hohe Aufwüchse mit kräftigen Rhizomen. Flussauen stellen nicht nur Retentionsflächen für Hochwässer dar, sondern sind aufgrund der Großgräser eine Senke („Falle“) für Sedimente, Nähr- und Schadstoffe.
Nutzung und Bedeutung für den Menschen
Die Familie der Süßgräser bietet ein breites Spektrum an Nutzungsmöglichkeiten. Demgegenüber stehen jedoch nur relativ wenige Gattungen, die schließlich als Nutzpflanzen für den Menschen von Bedeutung sind. So werden lediglich 6 bis 7 Prozent der 600 bis 700 Gattungen als Nahrung oder als Werk- und Baustoffe verwendet. Nur etwa 15 Gattungen, das sind knapp 2 Prozent (ohne Berücksichtigung der Bambus-Gattungen), spielen dabei eine größere Rolle.
Getreide
Von großer weltwirtschaftlicher Bedeutung sind die Getreide. Grasfrüchte, beziehungsweise Getreidekörner, dienen dem Menschen als Grundnahrungsmittel. Sie liefern über 50 % der Welternährungsenergie. Weizen (Triticum-Arten), Mais (Zea mays) und Reis (Oryza sativa) nehmen dabei eine führende Rolle ein. Gerste, Roggen, Hirsen und Hafer decken etwa ein Zehntel ab. Weizen, Gerste und Roggen haben ihren Ursprung im sogenannten Fruchtbaren Halbmond, der sich von Ägypten über Palästina bis zum Persischen Golf erstreckt. Hier wurden die Wildformen in Kultur genommen, die über verschiedene Auslese- und Kreuzungsprozesse zu den heutigen Kulturformen entwickelt wurden. Reis hat seinen Ursprung in China oder Indien; Mais stammt aus Mexiko. Unter Hirsen werden Gräser verschiedener Gattungen mit kleinfrüchtigen Körnern zusammengefasst, wie Digitaria, Echinochloa, Eragrostis, Panicum, Setaria, Sorghum.
Sonstige Nutzungen
Neben den Grasfrüchten werden die Stängel, die Blätter und Wurzeln genutzt. Süßgräser sind eine wichtige Rohstoffquelle zur Gewinnung von Stärke, Zellulose, Zucker sowie Fetten und ätherischen Ölen. Sie können als Werk-, Bau- und Füllstoffe verwendet werden. Vor allem werden die verholzten Halme verschiedener Bambus-Arten in tropischen und subtropischen Gebieten Asiens zur Herstellung von Möbeln, Ess- und Trinkgefäßen oder Zäunen verwendet und nicht zuletzt im Haus- und Gerüstbau eingesetzt. In Nordwesteuropa wird das hier im Überfluss wachsende Schilf zu Eindeckung von Häusern verwendet.
Die Eismumie Ötzi soll einen Mantel aus Süßgräsern getragen haben.
Bambussprosse werden als Gemüse gegessen.
Zitronengräser (Cympopogon) werden als Gewürz- und Heilpflanzen verwendet. Ferner dienen Gräser zur Herstellung von alkoholischen Getränken wie Bier, Rum oder Korn. Als nachwachsende Rohstoffe gewinnen Süßgräser, vor allem Bambus und Zuckerrohr, zunehmende Bedeutung zur Herstellung von Bioalkohol als Treibstoff.
Schließlich sei noch die Verwendung zahlreicher Süßgrasarten mit auffälligen Blütenständen, wie beispielsweise das Pampasgras, als Ziergräser im Garten- und Landschaftsbau genannt.
Die landwirtschaftliche Nutzung umfasst neben dem Getreideanbau die Nutzung zahlreicher Grasarten als Futterpflanzen für Rinder, Schafe oder Pferde in Form von Kulturgrasland wie Wiesen (Mahd zur Heugewinnung, Streunutzung, Silage) oder Weiden. Darüber hinaus werden geeignete Gräser für Rasen in privaten Gärten, in Parks, auf Golf- oder Sportplätzen eingesetzt, mit der Nutzungsart und -intensität angepassten Sortenmischungen.
Gesundheit
Bei empfindlichen Menschen können Pollen von Süßgräsern die Bildung von Antikörpern Immunglobulin E (IgE) auslösen, was als Heuschnupfen bekannt ist. Sogenannte wasserlösliche I-Glykoproteine haften an der Pollenoberfläche, werden leicht an die Schleimhäute abgegeben und können allergische Reaktionen erzeugen. Ferner können in der Aleuronschicht der Getreidekörner enthaltene Prolamine durch eine immunologische Überempfindlichkeitsreaktion die als Zöliakie bezeichnete Krankheit auslösen.
Vorkommen
Süßgräser sind weltweit verbreitet. Sie kommen von den Meeresküsten bis ins Hochgebirge, vom Äquator bis jenseits der Polarkreise in nahezu allen terrestrischen Ökosystemen vor und besiedeln dabei Standorte von großer ökologischer Bandbreite. Sie wachsen sowohl auf dauernassen bis extrem trockenen Böden als auch in sehr heißen bis arktisch kalten Klimaten.
Man findet Süßgräser flutend in Gewässern, bestandsbildend als Röhrichte, als Unterwuchs in Wäldern, auf wechselfeuchten wie auch trockenen Böden, an Straßenrändern, an Böschungen, auf Felsen – selbst Schotterflächen und Mauerkronen werden besiedelt. Die Familie der Süßgräser deckt nahezu alle denkbaren Standorttypen ab, wobei die einzelnen Arten und Populationen im Rahmen des Wettbewerbs um die Ressourcen (Konkurrenz) ihre jeweils eigenen Vorzugs- oder Existenzbereiche besiedeln. Etliche Pflanzenformationen außerhalb der Wälder werden im Wesentlichen durch Gräser aufgebaut. Die nordamerikanische Prärie, die Steppen Osteuropas, die Savannen Afrikas und die Pampa Südamerikas, aber auch die Wirtschaftswiesen und -weiden Europas sind die landschaftsprägenden natürlichen sowie unter menschlichen Einfluss entstandenen Grasländer der Erde, in denen Bäume und Sträucher zurücktreten oder ganz fehlen.
Stammesgeschichte
In der Erdneuzeit (Känozoikum) entstanden die modernen Familien der Blütenpflanzen, so auch die Gräser. Sie waren zunächst auf bewaldete und sumpfige Gebiete beschränkt. Mit der Entwicklung des kontinuierlichen Wachstumsprozesses und der Windbestäubung wurden ab dem Oligozän die offenen Länder erobert. Steppen und Grasländer breiteten sich vor allem im Miozän aus. Man nimmt an, dass die Evolution der Süßgräser mit jener der großen Weidetiere (Wiederkäuer, Pferde, Kamele etc.) parallel ging.
Erkenntnisse indischer Wissenschaftler aus dem Jahr 2005 gehen einem Bericht der Zeitschrift Science zufolge davon aus, dass sich Gräser bereits in der Kreidezeit, dem letzten Abschnitt des Erdmittelalters (Mesozoikum), entwickelt haben. Diese Annahme geht auf Funde von Pflanzenbestandteilen zurück, die im fossilen Dung (Koprolith) von Dinosauriern gefunden wurden und auf reis- und bambusähnliche Gräser deuten.
Süßgräser gehören zu den im Verlauf der Evolution sekundär entstandenen windblütigen Angiospermen. Spuren von Pollenkitt in Gräsern weisen darauf hin, dass die Vorgänger biotisch durch Vögel und Insekten bestäubt wurden. Pollenkitt verklebt die Pollenkörner zu größeren Übertragungseinheiten, was bei der Windbestäubung, die schwebfähige und leichte Pollen verlangt, störend wäre.
Im Zuge des Übergangs zur Windblütigkeit wurden die Blüten reduziert. Entwicklungsgenetische Befunde deuten darauf hin, dass die Vorspelzen ein Verwachsungsprodukt zweier Blütenhüllblätter von ursprünglich drei und die Schwellkörperchen aus inneren Tepalen hervorgegangen sind. Die Gräserblüte lässt sich somit vom Grundtypus der dreizähligen Blüten einkeimblättriger Pflanzen ableiten mit zwei Kreisen à drei Blütenhüllblättern, zwei Kreisen à drei Staubblättern sowie drei Fruchtblättern. Der dreifächrige Fruchtknoten der Süßgräser wurde einfächrig und enthält nur noch eine Samenanlage. Vom äußeren und inneren Staubblattkreis blieb nur der äußere Ring erhalten. Vom inneren Hüllblattkreis blieben nur die zwei als Schwellkörperchen dienenden Schuppen, die dritte Tepale fiel aus. Nur bei einigen tropischen Arten sind noch drei Lodiculae vorhanden. Der äußere Hüllblattkreis besteht nur noch aus der Vorspelze, die aus zwei getrennten Blütenhüllblättern entstanden ist. Bei wenigen tropischen Gräsern sind zwei getrennte Vorspelzen erhalten. Die dritte Tepale fiel wiederum aus.
Etwa 80 % der Grasarten haben mehr als einen Chromosomensatz im Zellkern. Hybride, zum Teil auch fruchtbare, sind bei Süßgräsern selbst zwischen Gattungen nicht selten. Viele der heutigen Gräser waren in der Naturlandschaft vermutlich nicht in der jetzigen Form vorhanden. Es wird angenommen, dass viele Graslandarten ihren Ursprung in diploiden Sippen haben, die während der Eiszeiten in südlichen Rückzugsgebieten überdauerten. In einem langen Prozess der Rückwanderung, der Anpassung an veränderte Standortbedingungen und verschärfter Konkurrenz sowie durch die vom Menschen seit dem Neolithikum neu geschaffenen Lebensräume konnten durch Kreuzungen diploider Elternarten tetra-, bis polyploide Sippen (Allopolyploidie) entstehen. So sind zum Beispiel Anthoxanthum odoratum, Agrostis stolonifera, Dactylis glomerata und Poa pratensis Hybride alter diploider Sippen.
Systematik
Die Typusgattung der Familie der Poaceae ist Poa. Der Gattungsname Poa ist vom griechischen Wort póa abgeleitet und bedeutet Kraut, Gras, Pflanze. Die veraltete Bezeichnung für die Familie lautet Gramineae. Nach dem Internationalen Code der Botanischen Nomenklatur Artikel 14 ist die weitere Verwendung des alten Begriffes als Ausnahme von den strengen Regeln erlaubt und damit legitim: Poaceae = Gramineae Jussieu nom. cons. (nomina conservanda) et nom. alt. (nomen alternativum).
Süßgräser sind Bedecktsamer (Magnoliopsida). Im Gegensatz zu den Nacktsamern (Gymnospermae) ist bei ihnen die Samenanlage im Fruchtknoten eingeschlossen. Die Familie der Süßgräser gehört innerhalb der Einkeimblättrigen Pflanzen (Monokotyledonen) zur Ordnung der Süßgrasartigen (Poales). Die Familie umfasst etwa 10.000 Arten mit je nach verwendeter Systematik 600 bis 700 Gattungen. Die Poaceae sind in 13 Unterfamilien von ungleicher Größe unterteilt, die noch weiter in insgesamt 46 Tribus gegliedert sind. Die Unterfamilien können vom phylogenetischen Standpunkt aus zu zwei Hauptgruppen, „BEP-clade“ und „PACC-clade“ zusammengefasst werden.
Übersicht über die Systematik der Poaceae mit einer Auswahl an Gattungen und Arten
Quellen
Die allgemeinen Informationen dieses Artikels entstammen den unter Literatur und Weblinks aufgeführten Referenzen (Morphologie, Standorte, Verbreitung etc.). Darüber hinaus sind einzelne Aspekte, Spezialthemen, Zahlen usw. den aufgeführten Einzelpublikationen entnommen.
Literatur
Weblinks
R. J. Soreng, G. Davidse, P. M. Peterson, F. O. Zuloaga, E. J. Judziewicz, T. S. Filgueiras, O. Morrone, K. Romaschenko: A World-wide Phylogenetic Classification of Poaceae (Gramineae). Die erste Veröffentlichung erfolgte am 13. Januar 2000 als Classification of New World Grasses (Poaceae/Gramineae). Die Daten werden fortlaufend aktualisiert, zuletzt am 5. April 2014.
Die Familie der Poaceae bei der APWebsite. (Abschnitt Systematik)
Gramineae Juss. bei L. Watson und M. J. Dallwitz: The Families of Flowering Plants, Beschreibung im DELTA-Format. (Abschnitt Beschreibung)
Einzelnachweise
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Q43238
| 731.733353 |
44101
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https://de.wikipedia.org/wiki/Fliegen
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Fliegen
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Die Fliegen (Brachycera) bilden neben den Mücken (Nematocera) eine von zwei Unterordnungen der Zweiflügler (Diptera). Innerhalb der Fliegen gibt es zahlreiche Familien.
Nach der Art, wie die Fliegen aus ihren Puppen schlüpfen, gliedert man sie in die Untergruppen der Spaltschlüpfer (Orthorrhapha) und Deckelschlüpfer (Cyclorrhapha). Die Spaltschlüpfer schlüpfen durch einen Längsspalt oder T-förmigen Spalt aus ihren Mumienpuppen. Die Deckelschlüpfer sprengen mit ihrer Stirnblase den Deckel ihrer Tönnchenpuppe ab.
Merkmale
Fliegen kommen in sehr unterschiedlichen Größen vor von unter 1 mm, wie z. B. Euryplatea nanaknihali mit 0,4 mm, bis 70 mm Länge mit etwa 100 mm Spannweite bei Gauromydas heros. Typische Vertreter, wie die Stubenfliege werden etwa 7 mm lang und 3 mg schwer.
Die Larven der Fliegen sind typischerweise beinlose Maden. Fliegen haben leckend-saugende oder stechend-saugende Mundwerkzeuge. Bei einigen Arten sind die Mundwerkzeuge auch verkümmert.
Die Fühlergöße ist reduziert mit acht oder weniger Flagellomeren.
Die Kiefertaster haben zwei oder weniger Segmente.
Der hintere Teil der Kopfkapsel der Larven reicht in den Prothorax (das vordere Segment des Thorax, das das vorderste Beinpaar trägt).
Der Kiefer der Larven besteht aus zwei Teilen.
Das Epandrium und Hypandrium der männlichen Genitalien der Fliegen sind getrennt.
Es ist kein Premandibe auf der Unterseite des Labrum vorhanden.
Die Anordnung der CuA2 und A1 Flügeladern ist typisch.
Lebensweise
Die Lebensdauer einer ausgewachsenen Fliege beträgt oft nur wenige Wochen oder Tage. Die größte Lebensspanne nimmt das Larven-Stadium ein, wobei diese in unterschiedlichsten Lebensräumen und auf unterschiedlichen Substraten vorkommen. Ihre Hauptaktivität als Imago entfaltet sie in unseren Breiten von April bis Oktober. Den Winter können die Tiere in allen Lebensstadien an und in geschützten Lebensräumen überstehen. Zahlreiche Arten sind sogar als erwachsene Tiere nur im Winter aktiv.
Ernährung
Fliegen ernähren sich von allen organischen Substanzen, sowohl von im Zerfall befindlichen organischen Stoffen wie auch als Jäger anderer Insekten oder als Parasiten. In den meisten Fällen nehmen sowohl die larvalen Jugendstadien als auch die Imagines Nahrung auf. Einige Fliegen sind für den Menschen Konkurrenten, weil sie von diesem angebaute Pflanzen bevorzugen, und werden daher als Schädlinge bezeichnet (z. B. zahlreiche Bohrfliegen).
Vermehrung
Zahlreiche Arten legen ihre Eier sehr unspezifisch ab und betreiben kaum Brutfürsorge. Daher sind zum Überleben der Art sehr große Mengen an Eiern abzulegen. Es finden sich aber auch Fliegen mit ausgeprägter Brutfürsorge, insbesondere unter den Parasiten. Andere parasitische Arten, wie z. B. Metopia argyrocephala, sind larvivipar. Das bedeutet, dass die Larven schon innerhalb des Uterus des Weibchens schlüpfen und dort im ersten Larvenstadium so lange vorgehalten werden, bis ein geeigneter Wirt gefunden ist. Es kommt somit nicht zur Ablage von Eiern, sondern von Larven.
In den gemäßigten Breiten mit ihrem deutlichen Jahreswechsel finden sich zahlreiche Arten, die mehrere Generationen in einem Jahr durchlaufen können. Die meisten Arten besitzen wohl einen einjährigen Generationswechsel. Die Vermehrungsrate ist sehr von Witterung und Nahrungsangebot abhängig und kann daher von Jahr zu Jahr sehr schwanken.
Besondere Anpassungen
Fliegen sind in der Lage, festen Halt auch auf glatten Oberflächen zu finden. Hierzu nutzen sie, wie beispielsweise auch Spinnen und Geckos, sogenannte Van-der-Waals-Kräfte, also Anziehungskräfte, die zwischen den Molekülen der Oberfläche und denen ihrer Beine entstehen. Fliegen verstärken diese Klebewirkung noch durch eine Strategie, die bisher nur bei ihnen beobachtet wurde: Die feinen Härchen, die sogenannten Setae, mit denen ihre Beine bedeckt sind, münden in winzige ovale Läppchen. Diese sondern einen dünnen Flüssigkeitsfilm ab, der sich zwischen der glatten Oberfläche und dem Fliegenbein befindet. Auf diese Weise entfalten sich Kapillarkräfte, die durch eine klebrige Substanz eine zusätzliche Haftwirkung vermitteln.
Einige Fliegenarten verbringen Teile ihres Lebenszyklus in Fleisch, Kot oder verwesendem organischen Material. Dort ist es möglich, dass sie pathogene Keime aufnehmen, diese als Vektoren transportieren und auf Mensch und Tier übertragen.
Besonders diverse Arten der Familien Schmeißfliegen (Calliphoridae), Fleischfliegen (Sarcophagidae) und Echte Fliegen (Muscidae, z. B. die weit verbreitete Stubenfliege), haben eine Bedeutung als Lästlinge und Krankheitsüberträger. Ihre Maden sind Abfallverwerter und leben überwiegend von toten pflanzlichen und tierischen Substanzen. Einzelne Arten leben auch in lebendem Gewebe und lösen dort als Krankheitserreger eine Myiasis aus (meint im engeren Sinne das durch parasitären Hautmadenfraß, unter anderem Larva migrans, verursachte Krankheitsbild).
Systematik
Man teilt die Fliegen in zwei Gruppen auf – Spaltschlüpfer (Orthorrapha) und Deckelschlüpfer (Cyclorrhapha), deren Vertreter sich vor allem in der Art unterscheiden, wie die adulte Fliege aus dem Kokon schlüpft. Unter Systematik der Zweiflügler findet sich eine systematische Darstellung der Tiere, die sich vor allem auf mitteleuropäische Arten konzentriert. Nachfolgend ein Diagramm der Brachycera bis zur systematischen Höhe der Familie. Die Systematik der Fliegen ist Gegenstand aktueller Forschung und neue Erkenntnisse führen regelmäßig zu Änderungen in der Systematik. Der Status einiger aufgeführter Familien ist umstritten.
Dipterensammlungen
Stift Admont: Die Dipteren-Sammlung von Pater Gabriel Strobl (1846–1925) im Naturhistorischen Museum des Stiftes Admont (Steiermark, Österreich) zählt mit ihren etwa 80.000 aufbewahrten Exemplaren und ca. 7500 verschiedenen Arten zu den bedeutenden Fliegen-Kollektionen in Europa.
Die Dipterensammlung des Senckenberg Deutschen Entomologischen Institutes umfasst ca. 855.000 Exemplare in 19.200 Arten.
Das Naturhistorische Museum Wien hat eine Dipterensammlung mit etwa 800.000 Exemplaren.
Die Zoologische Staatssammlung München hat eine Dipterensammlung mit ca. 12.500 determinierten Arten.
Das Natural History Museum of Denmark hat eine Sammlung mit etwa 150.000 Exemplaren mit besonderem Fokus auf westpaläarktische Brachycera.
Das Biological Museum der Universität Lund führt eine bedeutende Entomologische Sammlung die eine Dipteren Sparte enthält.
Das Natural History Museum in London hat eine sehr bedeutende Sammlung mit 2,5 Millionen Exemplaren.
Das Muséum national d’histoire naturelle in Paris hat eine sehr bedeutende Dipterensammlung mit etwa 2,5 Millionen Exemplaren in ca. 30.000 Arten.
Das Naturalis Biodiversity Center in Leiden unterhält eine bedeutende Entomologische Sammlung mit einer Dipteren Sparte.
Das CeNak in Hamburg beherbergt eine Dipterensammlung mit 2218 Arten, darunter 1784 Brachyceren.
Literatur
Joachim Haupt, Hiroko Haupt: Fliegen und Mücken. Beobachtung – Lebensweise. Weltbild, Augsburg 1998, ISBN 3-89440-278-4.
Peter Geimer: Fliegen. Ein Portrait. Hrsg. von Judith Schalansky. Matthes & Seitz, Berlin 2018, ISBN 978-3-95757-617-0.
Einzelnachweise
Weblinks
Lukian: Die Fliege (Μυίας ἐγκώμιον/Lob der Fliege)
Anatomical Atlas of Flies Seite zum Verständnis der Fliegenanatomie (Engl.; großer Daten-Download notwendig)
Dipterensammlung Naturhistorisches Museum Stift Admont (1866–1910)
Wikipedia:Artikel mit Video
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Q27584
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49309
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https://de.wikipedia.org/wiki/Drehbuch
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Drehbuch
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Ein Drehbuch (auch Filmskript oder Skript, vor allem historisch auch Filmdrama; in der Filmpraxis oft bloß Buch genannt) ist die textliche Grundlage eines Films bzw. Spielfilms. Der Autor eines Drehbuchs ist der Drehbuchautor. Anhand seiner Vorlage treffen Filmschaffende anderer Gewerke ihre organisatorischen, technischen und künstlerischen Entscheidungen.
Das Spielfilm-Drehbuch stellt die Handlung und die Dialoge eines fiktionalen Films Szene für Szene, in der finalen Fassung manchmal Einstellung für Einstellung dar. Die Informationen in einem Drehbuch sind auf das sicht- und hörbare Wesentliche der Handlung konzentriert. Es beinhaltet Figuren, Requisiten, Ausstattung, Licht- und Wettersituationen, Geräusche und Stimmen, sofern sie für die Handlung von Bedeutung sind. Drehbücher finden auch in handlungsstarken Videospielen sowie im Dokumentarfilm Verwendung.
Drehbücher können Romane oder Dramen für den Film adaptieren (adaptiertes Drehbuch), oder sie entstehen aus einer originären Idee des Autors oder eines beteiligten Filmemachers (Originaldrehbuch).
Das Drehbuch wird grundsätzlich nicht als eine eigenständige literarische Gattung betrachtet, dennoch werden Drehbücher auch veröffentlicht. Verlegt werden etwa erfolgreich verfilmte Drehbücher oder auch Drehbücher, die gar nicht zur Filmproduktion vorgesehen sind und vom Leser ähnlich einem Lesedrama konsumiert werden.
Entstehungsgeschichte
Drehbücher wurden zu Beginn der Filmgeschichte noch nicht gebraucht. Das Interesse an einer inszenierten bzw. dramaturgisch gestalteten Handlung wie im Theaterstück kam erst langsam auf. Filme entstanden ohne schriftliche Planung oder nach rudimentären Aufzeichnungen. Außerdem wurden mitunter Texte anderer Medien verwendet, etwa Zeitungsberichte für die Nachstellungen berühmter Boxkämpfe.
Der Filmpionier Georges Méliès erkannte als Erster das erzählerische Potential des jungen Mediums und drehte ab 1896 ausschließlich inszenierte Filme. Für die Verfilmung von Theaterstücken wurden damals die jeweiligen Theaterstücke selbst verwendet, und auch die ersten Drehbücher – die frühesten erhaltenen stammen von 1904 – unterscheiden sich formal nicht vom Drama. Diese ersten Drehbücher heißen Scenario, der Begriff stammt vermutlich aus der Commedia dell’arte.
Seit 1905 wurden Autoren sporadisch im Film genannt, seit 1912 regelmäßig. Damals wurden Filme sogar den Autoren zugeordnet, wie im Drama. Um 1909 wurden die Drehbücher detaillierter; das erste voll entwickelte amerikanische Drehbuch schrieb die Schauspielerin Gene Gauntier: From the Manger to the Cross (USA 1912). Amerikanische und französische Passionsspiele spielten eine wichtige Rolle in der Entwicklung langer Filmformen und damit für die Entwicklung des Drehbuchs. Zu dieser Zeit gewann das Drehbuch an Bedeutung, auch dank Produzent Thomas Ince, der in Zusammenarbeit mit Autoren ein sogenanntes Continuity Script als Vorlage für den Film entwickelte. In Filmzeitschriften fanden sich erstmals Hinweise, wie Drehbücher zu verfassen seien. In den USA entstand zudem das Scenario Fever, mit dem Drehbuchschreiben zum Volkssport wurde; zahlreiche Preise wurden ausgeschrieben. Das Fever endete mit der Etablierung des amerikanischen Studio-Systems und der Festanstellung von Autoren.
Inzwischen konnten anerkannte Schriftsteller und Dramatiker für das Verfassen von Drehbüchern gewonnen werden. Ihr Renommee verhalf dem Film zu künstlerischer Anerkennung und einem größeren Kreis an Zuschauern. Ein erstes deutsches Beispiel war Paul Lindau, der das Drehbuch zu Der Andere (Deutschland 1913) verfasste. Der italienische Schriftsteller und Dichter Gabriele D’Annunzio konzipierte Schrifttafeln für Cabiria (Italien 1914). Auch in den USA gab es Versuche, zum Beispiel von Samuel Goldwyn, namhafte Autoren für die Studioproduktion zu gewinnen; viele Drehbücher und Filme erschienen aber „zu literarisch“.
Im Verlauf der 1920er Jahre, spätestens mit dem Aufkommen des Tonfilms, wurde der Drehbuchautor zu einem Stamm-Mitarbeiter in der Filmproduktion. Mit dem Tonfilm fand das Drehbuch auch seine (beinahe) endgültige Form, das Master Scene Script.
Drehbuchentwicklung
Die Drehbuchentwicklung gründet ein Vertragsverhältnis: Der Autor verpflichtet sich zur Entwicklung des Erzählstoffs, dafür stehen ihm Leistungen des Produzenten zu. Die Arbeit an einem Drehbuch verläuft in mehreren Entwicklungsphasen und entlang verschiedener Textformen, zum Beispiel für die Einreichung bei Produktionsfirmen, Fernsehsendern oder zur Filmförderung. Nicht alle diese Phasen werden immer, manche von ihnen hingegen mehrfach durchlaufen.
Das Exposé stellt ähnlich wie beim Exposé in der Literatur die grundlegende Stoffidee dar, den Spannungsaufbau, die Figuren und ihre Handlungen. Im Treatment werden die Handlung und ihre Hintergründe ausformuliert und erzählchronologisch gegliedert. Eine Aufteilung in Szenen erfolgt meist noch nicht. Über die Länge, Detailtiefe und die Unterscheidung zwischen den einzelnen Textformen gibt es unterschiedliche Auffassungen. So kann ein Exposé zwei bis vier aber auch 15 bis 20 Seiten lang sein, was an anderer Stelle wiederum als Treatment verstanden werden kann. Zudem kann zwischen Treatment und Szenarium (auch Bildertreatment, wobei Bild hier synonym für Szene ist, vgl. das Bild im Theater) unterschieden werden, einer detailliert szenischen Form. Es ist in der Zusammenarbeit also oft eine Verständigung über die Vorstellungen und Erwartungen über den zu verfertigenden Text nötig.
Die Drehbuchentwicklung wird während dieser Schritte von Sitzungen mit den Produktionspartnern begleitet. Dabei werden auch Regisseure und gegebenenfalls Dramaturgen oder Script Doctors in den Prozess einbezogen. Mit dem Einverständnis von Autor und Produzent (und oft Sender) beginnt der Autor schließlich, das Drehbuch zu schreiben. Drehbücher werden in mehreren Fassungen überarbeitet und dabei Eingebungen des Regisseurs, des Produzenten oder anderen in die Drehbuchentwicklung involvierten Filmschaffenden berücksichtigt. Frühe Fassungen mögen nur kurze Anregungen für konkrete Einstellungen und andere Entscheidungen anderer Gewerke enthalten, bis zu den Dreharbeiten entsteht jedoch eine detaillierte Drehfassung (auch Shooting Script). Bis die Drehfassung steht, vergehen mehrere Monate und viele Besprechungen. Oft arbeiten mehrere Autoren an einem Buch, und es kann vorkommen, dass der ursprüngliche Autor nicht mehr an der Entstehung der Drehfassung beteiligt ist.
Drehbuchformat
Früher unterschied sich in Europa und den USA die formale Gestaltung des Drehbuchs; so wurde in Europa lange Zeit das Sichtbare und das Hörbare des Films in zwei getrennten Spalten nebeneinander geschrieben. Inzwischen hat sich die amerikanische Drehbuchform, das Master Scene Format, durchgesetzt. Es existiert in seiner heutigen Form etwa seit der Mitte des 20. Jahrhunderts. Daraus erklärt sich auch die verwendete Schriftart Courier, eine Schreibmaschinenschrift mit fester Zeichenbreite. Das Tabellenformat findet noch sporadisch im Dokumentarfilm oder als Vorlage für den Filmschnitt Anwendung.
Die amerikanische Drehbuchform normiert neben der Schriftart auch Schriftgröße und Layout. Der große Vorteil liegt darin, dass in den meisten Fällen eine Drehbuchseite etwa einer Filmminute entspricht. Das gilt nicht exakt für jede Seite, gleicht sich aber meist aus. Das Drehbuch für einen Film von 90 Minuten besteht dementsprechend aus etwa 90 Seiten. Damit weiß der Drehbuchautor bereits beim Schreiben anhand der Seitenzahl, in welcher Filmminute sich eine Szene ungefähr befindet. Bei Drehbüchern mit wenig Dialog oder einer ungewöhnlichen Erzählform ist diese Faustregel allerdings nicht anwendbar.
Ein Drehbuch ist in Szenen gegliedert, die nach Zeit und Räumlichkeit voneinander unterschieden werden. Ein Schauplatzwechsel oder ein Zeitsprung bedeuten das Ende der alten und den Beginn einer neuen Szene. Eine neue Szene beginnt mit einer Überschrift in Großbuchstaben, die Ort und Zeit der Szene bestimmt. Für die Filmproduktion werden Orte nach Innen- und Außen-Motiven unterschieden und Zeiten auf Tag und Nacht, selten Dämmerung reduziert, also auf die Verfügbarkeit von natürlichem Licht.
Auf die Überschrift folgt eine Beschreibung der Szene, zum Beispiel der Figuren, Requisiten, Ausstattung, Geräuschkulisse, des Wetters und der beobachteten Handlungen – sofern und nur in dem Maße, indem sie für den Film von Bedeutung sind und noch nicht in einer früheren Szene beschrieben wurden. Einstellungen, Kameraanweisungen und Töne werden groß geschrieben.
Sprechen Figuren, werden Figurenname, darunter der Dialogtext und gegebenenfalls Sprechanweisungen, die sich aus der Handlung nicht ergeben, eingerückt wiedergegeben. Die Dialog-Anmerkung Off oder O.S. für Off Screen heißt, dass die sprechende Figur sich zwar in der Szene befindet, jedoch nicht im Bild zu sehen ist, während V.O. für Voice-over eine Stimme bezeichnet, die in der Post-Produktion in die Szene eingefügt wird.
Literatur
Siehe auch: Spielfilmdramaturgie#Literatur
Claus Tieber: Schreiben für Hollywood. Das Drehbuch im Studiosystem. Lit Verlag Münster, 2008, ISBN 978-3-8258-1166-2.
Claus Tieber: Drehbuchforschung zwischen Narratologie und Produktionsästhetik. In: MEDIENwissenschaft. Ausgabe 3/2015, Schüren Verlag 2015, S. 311–324 (PDF; 0,85 kB).
Eugene Vale: Die Technik des Drehbuchschreibens für Film und Fernsehen. UVK Verlagsgesellschaft mbH, 2004, ISBN 978-3-89669-688-5.
Nicole Mosleh: Drehbuchschreiben. Das Geheimnis glaubwürdiger Charaktere und fesselnder Geschichten. UVK Verlagsgesellschaft, 2013, ISBN 978-3-86764-372-6.
Philipp Knauss: Die 11 Erzählkonzepte. UVK, München 2020, ISBN 978-3-8252-5449-0.
Martin Thau: Wie ein Drehbuch aussieht: Format-Angaben und inhaltliche Hinweise, Norderstedt 2022, ISBN 978-3-7568-1918-8
Siehe auch
Autorenfilm
Drehbuchsoftware
Filmszenario
Liste von Drehbuchpreisen
Skript (Comic)
Spielfilmdramaturgie
Storyboard
Verband Deutscher Drehbuchautoren
Weblinks
Wie ein Drehbuch aussieht – Beschreibung der gültigen Form und inhaltlicher Merkmale auf Ergocinema
BBC Writersroom (englisch) – Ressourcen zum Thema Drehbuch schreiben
Verband Deutscher Drehbuchautoren (VDD)
Stichwort:Drehbuch – Podcast des VDD
Einzelnachweise
Buchart nach Inhalt
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Q103076
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1588
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https://de.wikipedia.org/wiki/Frankreich
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Frankreich
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Frankreich (französisch [], amtlich la République française [], ) ist ein demokratischer, interkontinentaler Einheitsstaat in Westeuropa mit Überseegebieten. Ihr Staatsgebiet befindet sich auf allen Kontinenten mit Ausnahme von Asien.
Metropolitan-Frankreich, d. h. der europäische Teil des Staatsgebietes, erstreckt sich vom Mittelmeer bis zum Ärmelkanal und zur Nordsee sowie vom Rhein bis zum Atlantischen Ozean. Sein Festland wird wegen der Landesform als Hexagone (Sechseck) bezeichnet. Frankreich ist flächenmäßig das größte und nach Einwohnern (hinter Deutschland) das zweitgrößte Land der Europäischen Union. Es umfasst (nach Russland und der Ukraine) das drittgrößte Staatsgebiet in Europa. Paris ist die Hauptstadt und als Agglomeration mit dem Gemeindeverband Métropole du Grand Paris und den umliegenden Gebieten der Region Île-de-France größter Ballungsraum des Landes vor Lyon, Marseille-Aix-en-Provence, Lille und Toulouse.
Aus dem westlichen Teil des Fränkischen Reiches hervorgegangen, erweiterte Frankreich während des Mittelalters, meist in Rivalität mit dem Königreich England und dem Heiligen Römischen Reich, seinen kulturellen und militärischen Einfluss in Europa, bis Frankreich schließlich im 17. und 18. Jahrhundert eine europäische Führungsrolle und Vormachtstellung innehatte.
Bedeutend war die politische und kulturelle Ausstrahlung: Die Hofhaltung Ludwigs XIV. wurde zum Vorbild absolutistischer Staaten in ganz Europa und die Französische Revolution mit der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte gab zusammen mit Okkupationen durch Napoleon Bonaparte in vielen Ländern den Auftakt zu der immer wieder von Rückschlägen unterbrochenen Entwicklung zur Demokratie.
In Übersee baute Frankreich zweimal ein Kolonialreich auf. Das erste umfasste u. a. große Teile Nordamerikas und ging großenteils Mitte des 18. Jahrhunderts im Siebenjährigen Krieg verloren; das zweite mit Schwerpunkt in Afrika war im 19. und frühen 20. Jahrhundert das zweitgrößte der Welt. Im 21. Jahrhundert gilt Frankreich mit Deutschland als treibende Kraft der europäischen Integration.
Die Französische Republik wird in ihrer Verfassung als unteilbar, laizistisch, demokratisch und sozial erklärt. Ihr Grundsatz lautet: „Regierung des Volkes durch das Volk und für das Volk“. Das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen zählt Frankreich zu den Ländern mit sehr hoher menschlicher Entwicklung. Gemessen am nominalen Bruttoinlandsprodukt ist es die siebtgrößte Volkswirtschaft der Welt. Lebensstandard, Bildungsgrad und Lebenserwartung gelten als hoch. Als meistbesuchtes Land der Welt empfängt Frankreich rund 83 Millionen ausländische Touristen pro Jahr.
Die französischen Streitkräfte gehören zu den sieben stärksten der Welt und sind die drittstärksten in der NATO. Das Land ist die einzige Atommacht der Europäischen Union, eines der fünf ständigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrates und hatte 2010 die weltweit dritthöchste Anzahl an Kernwaffen. Es ist Gründungsmitglied der Europäischen Union und der Vereinten Nationen, Mitglied der Frankophonie, der G7, der G20, der NATO, der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD), der Welthandelsorganisation (WTO) und der Lateinischen Union.
Geographie
Das gesamte Territorium der Französischen Republik zählt 632.733,9 Quadratkilometer. Das „französische Mutterland“ in Europa, auch Metropolitan-Frankreich () genannt, hat eine Fläche von 543.939,9 Quadratkilometern. Es wird wegen seiner Form als Hexagone (Sechseck) bezeichnet.
Als eines der größten Länder Europas weist Frankreich zahlreiche, zum Teil sehr unterschiedlich geprägte Landschaftsformen auf. Das Landschaftsbild wird überwiegend von Ebenen oder Hügeln geprägt. Im Südosten und an der Grenze zur Iberischen Halbinsel ist das Land gebirgig. Hauptgebirge sind die Pyrenäen im Südwesten, das Zentralmassiv im Zentrum der Südhälfte des Landes sowie im Osten (aufgezählt von Norden nach Süden) die Vogesen, der Jura und die Alpen. Der höchste Berg Frankreichs ist der 4805 Meter hohe Mont Blanc in den Alpen; er wird oft auch als höchster Berg Europas angesehen. Der Elbrus im europäisch-asiatischen Grenzbereich ist zwar höher, aber keinem Kontinent eindeutig zugeordnet.
Frankreich hat Meeresküsten im Süden zum Mittelmeer, im Westen und im Norden zum Atlantischen Ozean, zum Ärmelkanal und zur Nordsee. Es grenzt im Südwesten an Spanien und Andorra, im Norden und im Osten an Belgien, Luxemburg, Deutschland, die Schweiz und Italien sowie im Südosten an Monaco. Zudem grenzt Frankreich durch das Übersee-Département Französisch-Guayana an die Länder Suriname und Brasilien und durch das Überseegebiet Saint-Martin an das autonome Land Sint Maarten des Königreichs der Niederlande.
Regionen
Frankreich ist in 18 Regionen unterteilt, davon befinden sich 13 in Europa, und fünf sind französische Überseegebiete (, FOM) – Französisch-Guayana, Guadeloupe, Martinique, Mayotte und Réunion. Bis zum 31. Dezember 2015 war Metropolitan-Frankreich in 22 Regionen unterteilt (Frankreich hatte einschließlich der fünf FOM 27 Regionen).
Naturschutzgebiete
Frankreich unterhält Naturschutzgebiete verschiedener Kategorien im europäischen Kernland und in den Übersee-Départements. Es sind
elf Nationalparks mit einer Fläche von etwa 4,5 Millionen Hektar,
neun Meeresnaturparks,
54 regionale Naturparks mit einer Fläche von mehr als neun Millionen Hektar und
eine Vielzahl von Schutzzonen, wie Naturreservate (réserve naturelle), Natura-2000-Gebiete der EU und Biosphärenreservate der UNESCO.
Städte
Im Jahr 2021 lebten 81 Prozent der Einwohner Frankreichs in Städten.
Bevölkerung
Demografie
Frankreich hatte am 1. Januar 2022 67,8 Millionen Einwohner, wobei 65,2 Millionen Einwohner auf Metropolitan-Frankreich, den europäischen Teil Frankreichs, entfielen. 2021 betrug das jährliche Bevölkerungswachstum + 0,3 %.
Die Bevölkerung Frankreichs im Jahre 1750 wurde auf etwa 25 Millionen geschätzt. Damit war es das bei weitem bevölkerungsreichste Land Westeuropas. Bis 1850 stieg die Einwohnerzahl bis auf 37 Millionen; danach trat eine im seinerzeitigen Europa einzigartige Stagnation der Bevölkerungsentwicklung ein. Als Ursache hierfür werden der relative Wohlstand und die fortgeschrittene Zivilisation Frankreichs angesehen. Empfängnisverhütendes Sexualverhalten wurde praktiziert und war weiter verbreitet als in anderen Ländern, zugleich war der Einfluss der katholischen Kirche bereits geschwächt. So wuchs die Einwohnerzahl in knapp 100 Jahren nur um drei Millionen: 1940 zählte Frankreich, trotz starker Zuwanderung nach 1918, nur etwa 40 Millionen Einwohner. Diese Bevölkerungsstagnation wird als eine der Ursachen dafür angesehen, dass sich Frankreich während der beiden Weltkriege gegen den bevölkerungsstärkeren Nachbarn Deutschland nur mit großer Mühe behaupten konnte. Noch dazu hatte Frankreichs Armee im Ersten Weltkrieg die relativ höchsten Verluste aller kriegführenden Staaten erlitten. Nach dem Zweiten Weltkrieg war dann nach langer Zeit wieder ein Geburtenzuwachs und Bevölkerungsanstieg zu verzeichnen, der zum Teil durch die transnationale geburtenstarke Generation ebenso verursacht war wie durch verstärkte Zuwanderung vor allem aus früheren französischen Kolonien.
Zum Bevölkerungswachstum 2021 trug ein Geburtenüberschuss (Geburtenziffer: 10,9 pro 1000 Einwohner vs. Sterbeziffer: 9,7 pro 1000 Einwohner) bei.
Die Anzahl der Geburten pro Frau lag 2020 statistisch bei 1,8 und damit über dem Wert der Europäischen Union von 1,5. Die Lebenserwartung der Einwohner Frankreichs ab der Geburt lag 2020 bei 82,2 Jahren (Frauen: 85,3, Männer: 79,2). Der Median des Alters der Bevölkerung lag im Jahr 2020 bei 40,1 Jahren und damit unter dem europäischen Wert von 42,5.
Im Jahr 2021 wurden 3,2 Ehen pro 1000 Einwohner geschlossen. Zahlreiche Franzosen wählten alternativ den Zivilen Solidaritätspakt als Form des Zusammenlebens. Diese Pacs genannte Partnerschaft wurde 1999 eingeführt; 2009 wurden 175.000 Pacs geschlossen.
Migration
Aufgrund des langsamen Bevölkerungswachstums kannte Frankreich bereits in der Mitte des 19. Jahrhunderts das Problem des Arbeitskräftemangels. Seit Beginn der Industrialisierung kamen deshalb Gastarbeiter aus verschiedenen europäischen Ländern (Italiener, Polen, Deutsche, Spanier, Belgier) nach Frankreich, etwa in den Großraum Paris oder in die Bergbaureviere und Montangebiete von Nord-Pas-de-Calais und Lothringen. Ab 1880 lebten und arbeiteten somit etwa eine Million Ausländer in Frankreich; sie stellten sieben bis acht Prozent der Erwerbstätigen. Das Phänomen einer Massenauswanderung, das gleichzeitig in Deutschland herrschte, kannte Frankreich nicht. Während des Ersten Weltkrieges waren etwa drei Prozent der Bevölkerung Frankreichs Ausländer, es kam zu ersten ausländerfeindlichen Tendenzen, bis 1931 wuchs der Ausländeranteil auf 6,6 Prozent. Danach wurde die Einwanderung stark eingeschränkt, Flüchtlinge etwa aus dem Spanischen Bürgerkrieg ausgewiesen oder interniert. Nach dem Zweiten Weltkrieg warb Frankreich wiederum Gastarbeiter vor allem aus Spanien und Portugal an und behielt bis 1974 eine sehr liberale Einwanderungspolitik bei. Europäer, vor allem Italiener und Polen, hatten 1931 mehr als 90 Prozent der ausländischen Bevölkerung ausgemacht, in den 1970er-Jahren lag dieser Anteil nur noch bei etwa 60 Prozent, der größte Anteil waren nun Portugiesen.
Der Anteil der ausländischen Wohnbevölkerung 2006 betrug 5,8 Prozent, dazu kamen 4,3 Prozent Français par acquisition, also Menschen, die im Ausland geboren sind und die französische Staatsbürgerschaft angenommen haben. Im Jahr 2008 lebten 5,23 Millionen Einwanderer in Frankreich, was 8,4 % der Gesamtbevölkerung ausmachte. Davon hatten 2,72 Millionen die französische Staatsbürgerschaft angenommen. Nachkommen von Einwanderern, bei denen mindestens ein Elternteil mit ausländischer Staatsangehörigkeit im Ausland geboren wurde, wurden im Jahr 2010 auf etwa 10,4 % der Gesamtbevölkerung geschätzt. Heute (2014) sind die meisten Einwanderer in Frankreich nordafrikanischen Ursprungs (Algerier, Marokkaner, Tunesier), gefolgt von Südeuropäern (Portugiesen, Italiener, Spanier).
2018 wurden 273.000 Einwanderer registriert (davon 39 % aus Afrika und 35 % aus Europa).
Die höchste Konzentration von Einwanderern lebt im Großraum Paris oder im Südosten Frankreichs (in der Region Marseille).
Seit dem Beginn der europäischen Flüchtlingskrise sind viele Migranten aus Afrika, auch aus ehemaligen französischen Kolonien in Subsahara-Afrika, nach Frankreich gekommen.
Bildungswesen
Die Verfassung der Fünften Französischen Republik definiert, dass der Zugang zu Bildung, Ausbildung und Kultur für alle Bürger gleich zu sein hat und dass das Unterhalten eines unentgeltlichen und laizistischen öffentlichen Schulwesens Aufgabe des Staates ist. Demnach ist das Bildungssystem Frankreichs zentralistisch organisiert; die Gebietskörperschaften müssen die Infrastruktur bereitstellen. Es koexistieren private und öffentliche Einrichtungen, wobei die größtenteils katholischen Privatschulen in der Vergangenheit mehrmals Gegenstand intensiver politischer Auseinandersetzung waren. Im Gegensatz zu den Schulsystemen der deutschsprachigen Länder liegt in Frankreich mehr Schwerpunkt auf Auslese und Bildung von Eliten, bzw. Ausbildung über Bildung. Seit 1967 herrscht Unterrichtspflicht bis zum 16. Lebensjahr; Hausunterricht ist erlaubt. In Frankreich lag die mittlere Schulbesuchsdauer von über 25-Jährigen bei 11,6 Jahren (Stand: 2015).
Der Kindergarten heißt in Frankreich École maternelle und bietet Vorschulerziehung für Kinder ab zwei Jahren an. Er wird von einem hohen Prozentsatz der Kinder besucht. Der Besuch ist ganztägig und gebührenfrei, nur optionale Zusatzangebote für Betreuung zu Randzeiten sowie die mittägliche Verpflegung müssen von den Eltern bezahlt werden. Die École maternelle wird in Frankreich sehr viel stärker als Schule betrachtet, als dies bei den Kindergärten in deutschsprachigen und anderen Ländern der Fall ist. Die Betreuer in den Maternelles haben eine Lehrerausbildung und sind von der staatlichen Schulbehörde Éducation nationale angestellt, die auch die Lehrpläne festlegt.
Die auf die Maternelle folgende, der deutschen Grundschule entsprechende École élémentaire dauert fünf Jahre. Nach ihrem Abschluss besuchen die Kinder das Collège, eine vier Jahre dauernde Gesamtschule, und machen dort den Abschluss Brevet des collèges.
Hiernach hat der Jugendliche mehrere Möglichkeiten. Er kann in eine berufsbildende Schule eintreten, die er mit dem Certificat d’aptitude professionelle abschließt; ein duales Ausbildungssystem wie in Deutschland ist sehr wenig verbreitet. Das Lycée entspricht in etwa dem Gymnasium. Es führt nach zwölf Schuljahren zum Baccalauréat. Mehrere Schulzweige wie naturwissenschaftlich, wirtschaftlich oder literarisch werden unterschieden. Wer ein Lycée professionnel oder ein Centre de formation d’apprentis besucht, kann nach 13 Schuljahren mit einem Baccalauréat professionnel abschließen. Im Fremdsprachenunterricht wird eher Englisch und Spanisch gelehrt als Deutsch, das als „Intello-Idiom“ gilt.
Die akademische Bildung wird geprägt von der Koexistenz der Grandes écoles und der Universitäten. Die Grandes écoles haben gegenüber den Universitäten Frankreichs eine höhere Reputation, niedrige Studentenzahlen und hohe persönliche Betreuung. Man kann sie meist erst nach dem Besuch der Classe préparatoire besuchen, die in der Regel von Lycées angeboten wird. Zu den bedeutenderen der Grandes écoles zählen die École polytechnique, die École normale supérieure, die École nationale d’administration, die École des hautes études en sciences sociales und die École Centrale Paris. Im Zuge der europaweiten Harmonisierung der Studienabschlüsse im Rahmen des Bologna-Prozess wurde auch an französischen Hochschulen das LMD-System eingeführt. LMD bedeutet, dass nacheinander die Licence bzw. Bachelor (nach drei Jahren), der Master (nach fünf Jahren) und das Doktorat (nach acht Jahren) erworben werden können. Die traditionellen nationalen Diplome (DEUG, Licence, Maîtrise, DEA und DESS) sollen im Rahmen dieses Prozesses entfallen. Ende 2009 studierten rund 2,25 Millionen Studentinnen und Studenten an französischen Hochschulen.
Im PISA-Ranking von 2015 erreichen Frankreichs Schüler Platz 26 von 72 Ländern in Mathematik, Platz 16 in Naturwissenschaften und Platz 19 beim Leseverständnis. Frankreich liegt damit im Mittelfeld unter den OECD-Staaten.
Gesundheitswesen
Das Gesundheitswesen ist Teil der öffentlichen Sozialversicherung Sécurité Sociale, die 1945 gegründet wurde und eine paritätische Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertretung beinhaltet. Die Organisation des Systems obliegt dem Staat sowie der gesetzlichen Krankenversicherung. Private Zusatzversicherungen sind aber weit verbreitet. Nach Einschätzung des Europäischen Verbraucherzentrums liegen die Ausgaben für Medikamente höher als in Deutschland, obwohl Arzneimittel in Frankreich vergleichsweise günstiger sind.
Im Jahr 2019 praktizierten in Frankreich 32,7 Ärztinnen und Ärzte je 10.000 Einwohner. Probleme der medizinischen Versorgung bestehen vor allem in den unzureichend finanzierten Krankenhäusern. Hinzu kommt Personalmangel, da das Einkommen der Pflegekräfte unter dem nationalen Durchschnitt liegt. Auf 1000 Einwohner kommen in Frankreich 5,6 Klinikbetten, in Deutschland liegt das Verhältnis bei 1000 zu 7,9. Insbesondere die Intensivstationen bieten nur mangelhafte Kapazitäten. Seit März 2019 kommt es zu Protesten von Mitarbeitern in Notaufnahmen sowie von Ärzten.
Sprachen
Die französische Sprache entwickelte sich aus der Sprache des französischen Königshofes, die wahrscheinlich auf der romanischen Mundart der Île-de-France (seit dem 19. Jahrhundert in der Linguistik als francien bezeichnet) beruhte und zugleich Einflüsse der Mundarten angrenzender Gebiete (namentlich der Champagne) aufnahm. Diese Sprache wurde als françoys ([frãswè]) bezeichnet und breitete ihren kulturellen Einfluss etwa in dem Maße aus, in dem die französischen Könige ihr Herrschaftsgebiet ausdehnten. Im Jahr 1539 verfügte König Franz I., dass die „französische Muttersprache“ („langage maternel françoys“) die Verwaltungssprache seines Königreiches sein sollte, womit vor allem das Lateinische zurückgedrängt wurde. Regionalsprachen kamen in den Provinzen z. B. als Gerichtssprache weiterhin zum Einsatz; siehe Edikt von Villers-Cotterêts. Zu dieser Zeit sprachen etwa 10 bis 20 Prozent der Bevölkerung Frankreichs Französisch; im 18. Jahrhundert sollen es etwa 50 Prozent gewesen sein. Nach der Französischen Revolution wurden die Regionalsprachen zurückgedrängt. Französisch, die Sprache der Aufklärung, galt als Sprache der Vernunft und der Wissenschaft und wurde zur einzigen Sprache der Republik und mit Einführung der allgemeinen Schulpflicht zur einzigen Unterrichtssprache erhoben. Erst ein 1951 verabschiedetes Gesetz erlaubte Unterricht in Regionalsprachen. Auch heute legt Artikel 2 der Verfassung von 1958 Französisch als alleinige Amtssprache Frankreichs fest. Es ist nicht nur die in Frankreich allgemein gesprochene Sprache, sondern auch Träger der französischen Kultur in der Welt. Die in Frankreich gesprochenen Regionalsprachen drohen aufgrund interner Wanderungen und der fast ausschließlichen Verwendung des Französischen in den Medien auszusterben. Die Europäische Charta der Regional- oder Minderheitensprachen hat Frankreich zwar unterschrieben, jedoch nicht ratifiziert. Unter anderem urteilte der Verfassungsrat im Jahr 1999, dass Teile der Charta mit der französischen Verfassung unvereinbar seien. Seit 2008 erwähnt die Verfassung in Artikel 75-1 die Regionalsprachen als Kulturerbe Frankreichs.
Regionalsprachen, die in Frankreich gesprochen werden, sind die romanischen Oïl-Sprachen in Nordfrankreich, die teilweise als französische Dialekte angesehen werden, wie Picardisch, Normannisch, Gallo, Poitevin-Saintongeais, Wallonisch und Champenois, das Franko-Provenzalische im französischen und (west-)schweizerischen Alpen- und Juraraum, Okzitanisch in Südfrankreich, Katalanisch im Département Pyrénées-Orientales, Elsässisch und Lothringisch im Nordosten Frankreichs, Baskisch und seine Dialekte im äußersten Südwesten, Bretonisch im Nordwesten, Korsisch auf Korsika und Flämisch im Norden des Landes. Weiterhin werden in den Überseebesitzungen verschiedenste Sprachen wie Kreolsprachen, Polynesische Sprachen oder Kanak-Sprachen in Neukaledonien gesprochen.
Anders als z. B. in Italien gibt es in Frankreich keine regionalen Amtssprachen.
Auch bei den Ortsnamen und Flurnamen spiegeln sich regionale Einflüsse nur bedingt wider. So sind deutschsprachige Bezeichnungen im Elsass noch sehr weit verbreitet, nicht jedoch in Lothringen. Analog dazu blieben auf Korsika die italienischen Namen auch nach der Angliederung an Frankreich weitestgehend bestehen, dies ist bei den Gebieten auf dem Festland (Savoyen, Grafschaft Nizza bzw. Alpes-Maritimes), welche früher mit Italien assoziiert waren, dagegen nicht der Fall. Der Ortsname Nizza stammt zwar aus dem Italienischen (), vor Ort ist jedoch nur die französische Bezeichnung Nice die offiziell gebräuchliche.
Im äußersten Norden Frankreichs, in den Grenzgebieten zu Flandern, gibt es einige niederländische Ortsnamen, wogegen in den Grenzgebieten zu Spanien baskische und katalanische Einflüsse zu erkennen sind.
Französisch ist Arbeitssprache bei den Vereinten Nationen, der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, der Europäischen Kommission und der Afrikanischen Union. Um die französische Sprache vor der Vereinnahmung durch Anglizismen zu schützen, wurde 1994 die Loi Toubon verabschiedet. Mit dem Durchführungsdekret von 1996 wurde ein Mechanismus zur Einführung neuer Wörter festgelegt, der von der Délégation générale à la langue française et aux langues de France und der Commission générale de terminologie et de néologie gesteuert wird. Dieses Dekret verpflichtet die Behörden, die im Amtsblatt und im Wörterbuch FranceTerme veröffentlichten Neuschöpfungen zu gebrauchen.
Die Einwanderer verschiedener Nationen, vor allem aus Portugal, Osteuropa, dem Maghreb und dem restlichen Afrika, haben ihre Sprachen mitgebracht. Im Unterschied zu den traditionellen Sprachen konzentrieren sich diese Sprechergemeinden besonders in den großen Städten, sind aber keinem bestimmten geographischen Gebiet zuzuordnen.
Religionen
Frankreich ist offiziell ein laizistischer Staat, das heißt, Staat und Religionsgemeinschaften sind vollkommen voneinander getrennt. Da von staatlicher Seite keine Daten über die Religionszugehörigkeit der Einwohner erhoben werden, beruhen alle Angaben über die konfessionelle Zusammensetzung der Bevölkerung auf Schätzungen oder den Angaben der Religionsgemeinschaften selbst und weichen deshalb oft erheblich voneinander ab, weshalb auch die folgenden Zahlen mit Vorsicht zu behandeln sind. In einer Umfrage von Le Monde des religions bezeichneten sich 51 Prozent der Franzosen als katholisch, 31 Prozent erklärten, keiner Religion anzugehören, und etwa 9 Prozent gaben an, Muslime zu sein. 3 Prozent bezeichneten sich als Protestanten. Fast alle protestantischen Kirchen in Frankreich, von denen die Vereinigte Protestantische Kirche Frankreichs die mitgliederstärkste ist, arbeiten im Französischen Evangelischen Kirchenbund zusammen. Ein Prozent bezeichneten sich als Juden. Dies entspricht auf die Bevölkerungszahl hochgerechnet 32 Millionen Katholiken, 5,7 Millionen Muslimen, 1,9 Millionen Protestanten und 600.000 Juden sowie 20 Millionen Nichtreligiösen. 6 Prozent machten andere oder keine Angaben. Unter den Katholiken ist laut Umfragen nur ein geringer Teil tatsächlich gläubig und praktizierend, allerdings sind umgekehrt auch Strömungen des katholischen Traditionalismus in Frankreich stark vertreten. Außerdem leben in Frankreich, bedingt durch Zuwanderung aus Osteuropa und dem Nahen Osten, etwa eine Million Orthodoxe und Angehörige orientalisch-orthodoxer Kirchen. Vorrangig aus dem ehemaligen Französisch-Indochina stammten die Vorfahren der etwa 600.000 Buddhisten. Weiterhin gibt es eine größere Zahl an Hindus.
Eine repräsentative Umfrage im Auftrag der Europäischen Kommission im Rahmen des Eurobarometers ergab 2020, dass für 26 Prozent der Menschen in Frankreich Religion wichtig ist, für 25 Prozent ist sie weder wichtig noch unwichtig und für 48 Prozent ist sie unwichtig.
Schätzungen der 2018 veröffentlichten (SMRE) gehen für den Zeitraum 2000 (1996 bis 2005) von 51,7 Prozent Katholiken, 2,3 Prozent Protestanten, 0,2 Prozent Orthodoxen, 0,5 Prozent Juden, 0,5 Prozent Muslimen, 44,2 Prozent Personen ohne Religionszugehörigkeit und 0,6 Prozent Anderen aus. Für den Zeitraum 2010 (2006 bis 2015) gehen die Schätzung der SMRE von 40 Prozent Katholiken, 1,7 Prozent Protestanten, 0,3 Prozent Orthodoxen, 0,8 Prozent anderen Christen, 0,3 Prozent Juden, 5,1 Prozent Muslimen, 50,5 Prozent Personen ohne Religionszugehörigkeit und 1,3 Prozent Anderen aus.
Christliche Konfessionen
Historisch war Frankreich lange Zeit ein katholisch dominierter Staat. Seit Ludwig XI. († 1483) trugen die französischen Könige mit Einverständnis des Papstes den Titel eines roi très chrétien (allerchristlichsten Königs). In der Reformationszeit blieb Frankreich immer mehrheitlich katholisch, auch wenn es starke protestantische Minderheiten (Hugenotten) gab. Diese mussten aber spätestens nach der Bartholomäusnacht 1572 die Hoffnung auf ein protestantisches Frankreich aufgeben. Als der Protestant Heinrich von Navarra Thronerbe Frankreichs wurde, trat er aus politisch-taktischen Gründen zum katholischen Glauben über (Paris vaut bien une messe, „Paris ist eine Messe wert“), garantierte aber gleichzeitig im Edikt von Nantes 1598 den Protestanten Sonderrechte und insbesondere Religionsfreiheit. Das Edikt von Nantes wurde 1685 unter Ludwig XIV. wieder aufgehoben, was trotz schwerster Strafandrohungen zu einer Massenflucht der Hugenotten ins benachbarte protestantische Ausland führte. Erst kurz vor der Französischen Revolution erhielten die Protestanten eine begrenzte Glaubensfreiheit zugestanden. Die Französische Revolution hob dann alle Beschränkungen der Glaubensfreiheit auf. Es kam in den Jahren nach der Revolution in der Ersten Französischen Republik zu einer kurzen Phase einer heftigen Kirchenfeindlichkeit, da die katholische Kirche als Vertreterin des Ancien Régime gesehen wurde. Nicht nur die Privilegien der Kirche, sondern sogar der christliche Kalender und Gottesdienst wurden abgeschafft und durch einen Revolutionskalender bzw. einen „Kult des höchsten Wesens“ ersetzt. Unter Napoleon Bonaparte kam es mit dem Konkordat von 1801 aber wieder zu einem Ausgleich zwischen katholischer Kirche und Staat. Unter der bourbonischen Restauration nach 1815 gewannen die katholisch-monarchistische Ideen wieder die Oberhand: So wurden die 1823 zur Niederschlagung der liberalen Revolution nach Spanien entsandten bourbonischen Truppen als die „100.000 Söhne des heiligen Ludwig“ bezeichnet, die jesuitische Mission in Übersee wurde gefördert.
In der Dritten Republik ergab sich erneut ein Konflikt zwischen Kirche und Staat. Letztlich war dieser Konflikt Teil der Auseinandersetzungen zwischen den republikanischen, „liberalen“ Kräften auf der einen Seite und restaurativen, konservativen Strömungen, die einen autoritären Umbau des Staates bis hin zur Wiedereinführung der Monarchie anstrebten, auf der anderen. Die katholische Kirche als Institution wurde zu den letzten gerechnet, und viele Republikaner nahmen ausgesprochen antiklerikale Standpunkte ein. Mit dem am 9. Dezember 1905 verabschiedeten Gesetz zur Trennung von Kirche und Staat wurden der Kirchenbesitz weitgehend enteignet und die strikte Trennung von Kirche und Staat festgeschrieben. Da die heutigen drei Départements Moselle, Haut Rhin und Bas Rhin damals als Reichsland Elsaß-Lothringen zum Deutschen Kaiserreich gehörten, fand das Gesetz dort keine Anwendung und wurde auch später, als Elsaß-Lothringen nach dem Ersten Weltkrieg 1918 wieder zu Frankreich kam, dort nicht eingeführt. Dort gilt bis heute im Wesentlichen die Regelung von 1801. Katholische Priester, protestantische Pfarrer und jüdische Rabbiner werden in diesen drei Départements vom französischen Staat bezahlt und an öffentlichen Schulen wird katholischer und protestantischer Religionsunterricht angeboten. Außerdem sind die kirchlichen Feiertage Karfreitag und zweiter Weihnachtsfeiertag dort weiterhin arbeitsfreie Feiertage.
Judentum und Islam
Die jüdische Gemeinschaft in Frankreich hat eine wechselhafte Geschichte. Seit der Römerzeit lebten Juden in Frankreich. Sie wurden jedoch in zwei Wellen 1306 unter Philipp IV. und 1394 unter Karl VI. alle des Landes verwiesen. Über viele Jahrhunderte gab es danach kaum ein jüdisches Leben in Frankreich. Einzige Ausnahme blieben die im 18. und 19. Jahrhundert erworbenen Gebiete im Osten des Landes, insbesondere das Elsass, das lange einen Sonderstatus besaß. Die Französische Revolution gewährte schließlich den Juden die bürgerliche Gleichberechtigung. Frankreich blieb aber bis Anfang des 20. Jahrhunderts ein Land mit vergleichsweise geringer jüdischer Bevölkerung. Nach dem Ersten, aber vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg setzte eine starke Zuwanderung aus Osteuropa und dem arabischen Mittelmeerraum ein, sodass Frankreich heute das Land Europas mit der größten jüdischen Bevölkerungsgruppe darstellt.
Im Zusammenhang mit einem rasant steigenden Antisemitismus und der stagnierenden Wirtschaft gibt es jedes Jahr Tausende von jüdischen Auswanderern. Es wird vermutet, dass zwischen den Jahren 2010 und 2015 mehr als 100.000 Juden das Land verlassen haben, so dass es nur noch etwa 400.000 Juden in Frankreich gibt.
Ebenfalls seit Ende des Zweiten Weltkrieges ist eine starke Zunahme des Anteils an Muslimen zu verzeichnen, die auf Zuwanderung aus den ehemaligen Kolonien zurückgeht. Der französische Zentralstaat fördert eine „Gallikanisierung des Islam“; er traut ihm Reformfähigkeit zu und fordert, dass der Islam eine Körperschaft als zentralen Ansprechpartner für den Staat benennt.
Geschichte
Urgeschichte bis Frühmittelalter
Es wird geschätzt, dass das heutige Frankreich vor etwa 48.000 Jahren besiedelt wurde. Aus der Altsteinzeit sind in der Höhle von Lascaux bedeutende Felsmalereien erhalten geblieben. Ab 600 v. Chr. gründeten phönizische und griechische Händler Stützpunkte an der Mittelmeerküste, während Kelten vom Nordwesten her das Land besiedelten, das später von den Römern als Gallien bezeichnet wurde. Die keltischen Gallier mit ihrer druidischen Religion werden heute häufig als Vorfahren der Franzosen gesehen und Vercingetorix zum ersten Nationalhelden Frankreichs verklärt, wenngleich kaum gallische Elemente in der französischen Kultur verblieben sind. (Siehe auch Keltomanie)
Zwischen 58 und 51 v. Chr. eroberte Caesar im Gallischen Krieg die Region; es wurden die römischen Provinzen Gallia Belgica, Gallia cisalpina und Gallia Narbonensis eingerichtet. In einer Periode von Prosperität und Frieden übernahmen diese Provinzen römische Fortschritte in Technik, Landwirtschaft und Rechtsprechung; große, elegante Städte entstanden. Ab dem 5. Jahrhundert wanderten vermehrt germanische Völker nach Gallien ein, die nach dem Zerfall des Römischen Reiches 476 eigene Reiche gründeten. Nach einer vorübergehenden Dominanz der Westgoten gründeten die Franken unter Chlodwig I. das Reich der Merowinger. Sie übernahmen zahlreiche römische Werte und Einrichtungen, u. a. den Katholizismus (496). Im Jahre 732 gelang es ihnen, in der Schlacht von Tours und Poitiers der von der iberischen Halbinsel ausgehenden Islamischen Expansion Einhalt zu gebieten. Die Karolinger folgten den Merowingern nach. Karl der Große wurde 800 zum Kaiser gekrönt, 843 wurde das Frankenreich mit dem Vertrag von Verdun unter Karls Enkeln geteilt; aus dem westlichen Teil entwickelte sich das Königreich Frankreich.
Mittelalter
Das französische Mittelalter war geprägt durch den Aufstieg des Königtums im stetigen Kampf gegen die Unabhängigkeit des Hochadels und die weltliche Gewalt der Klöster und Ordensgemeinschaften. Die Kapetinger setzten, ausgehend von der heutigen Île-de-France, die Idee von einem Einheitsstaat durch, die Teilnahme an verschiedenen Kreuzzügen untermauerten dies. Die Wikinger fielen ab der ersten Hälfte des 9. Jahrhunderts wiederholt in den Unterlauf der Seine ein und siedelten sich dort an. Nachdem im Jahr 911 der westfränkische König Karl der Einfältige den Normannenführer Rollo mit der Grafschaft Rouen betraut hatte, wurde das Gebiet als Normandie bekannt. Im Jahre 1066 eroberten die romanisierten Normannen England. Unter König Ludwig VII. begann eine lange Serie kriegerischer Auseinandersetzungen mit England, nachdem Ludwigs geschiedene Frau Eleonore von Aquitanien 1152 Heinrich Plantagenet, ab 1154 König von England, geheiratet hatte und damit etwa die Hälfte des französischen Staatsgebiets an England gefallen war. Philipp II. August konnte England zusammen mit den Staufern bis 1299 weitgehend aus Frankreich verdrängen; der englische König Heinrich III. musste zudem Ludwig IX. von Frankreich als Lehnsherrn anerkennen. Ab 1226 wurde Frankreich zu einer Erbmonarchie; im Jahre 1250 war Ludwig IX. einer der mächtigsten Herrscher des Abendlandes.
Nach dem Tod des letzten Kapetingers wurde 1328 Philipp von Valois zum neuen König gewählt, er begründete die Dynastie der Valois. Die Bevölkerung Frankreichs wird für diese Zeit auf 15 Millionen geschätzt. Das Land verfügte mit der Scholastik, der gotischen und romanischen Architektur über bedeutende kulturelle Errungenschaften. Thronansprüche, die Eduard III. Plantagenet, König von England und Herzog von Aquitanien, erhob, führen 1337 zum Hundertjährigen Krieg. Nach großen Anfangserfolgen Englands, das den gesamten Nordwesten Frankreichs eroberte, konnte Frankreich die Invasoren zunächst zurückdrängen. Eine Rebellion Burgunds und die Ermordung des Königs führten dazu, dass England sogar Paris und Aquitanien besetzen konnte. Erst der von Jeanne d’Arc entfachte nationale Widerstand führte zur Rückeroberung der verlorenen Gebiete (mit Ausnahme von Calais) bis 1453. Zusätzlich zum Hundertjährigen Krieg raffte die Pest von 1348 etwa ein Drittel der Bevölkerung dahin.
Frühe Neuzeit
Mit der Eingliederung Burgunds und der Bretagne in den französischen Staat befand sich das Königtum auf einem vorläufigen Höhepunkt seiner Macht, wurde jedoch während der Renaissance in dieser Position durch Habsburg bedroht – der habsburgische Kaiser Karl V. beherrschte ein Reich, dessen Länder sich rund um Frankreich gruppierten. Ab der Reformation im frühen 16. Jahrhundert breitete sich, vor allem durch das Wirken von Johannes Calvin, der Protestantismus nach Frankreich aus. Die französischen Calvinisten, genannt Hugenotten, wurden in ihrer Glaubensausübung stark unterdrückt. Die Hugenottenkriege führten zu bis zu 4 Millionen Toten. Als Höhepunkt gilt die Bartholomäusnacht im Jahre 1572. Erst der erste Herrscher aus dem Haus Bourbon, Heinrich von Navarra, gewährte den Hugenotten im Edikt von Nantes 1598 Religionsfreiheit.
Die Zeit der Renaissance war auch von einer stärkeren Zentralisierung geprägt, der König wurde von der Kirche und dem Adel unabhängig. Es gelang den leitenden Ministern und Kardinälen Richelieu und Jules Mazarin, einen absolutistischen Staat zu errichten. Auf Betreiben Richelieus griff 1635 Frankreich aktiv in den Dreißigjährigen Krieg in Mitteleuropa ein; im Zusammenhang damit kam es zum Krieg gegen Spanien. Im Westfälischen Frieden von 1648 erhielt Frankreich Gebiete im Elsass zugesprochen; das Heilige Römische Reich und Spanien wurden geschwächt. Es begann das Zeitalter der französischen Dominanz in Europa. Alle Herrscher Europas orientierten sich am Vorbild der französischen Kultur. Das Französische wurde zur dominierenden Bildungssprache. Die teuren Kriege und die Adelsopposition führten jedoch zum Staatsbankrott und zum Aufstand (Fronde). Mit dem Edikt von Fontainebleau 1685 hob Ludwig XIV. die Religionsfreiheit der Hugenotten wieder auf. Trotz schwerer Strafandrohungen flohen abermals zirka 200.000 Hugenotten. Mehr als 400.000 hintergebliebenen Protestanten konvertierten zum Katholizismus und weniger als 200.000 verblieben beim reformierten Glauben, zumeist im Languedoc (überwiegend in den Cevennen). Unter Ludwig XIV., dem sogenannten Sonnenkönig, der 1643 als Vierjähriger inthronisiert wurde und bis 1715 herrschte, erreichte der Absolutismus seinen Höhepunkt. In dieser Zeit wurde das Schloss Versailles errichtet.
Zeitalter der Revolutionen
Die Kriege, die die absolutistischen Könige führten (etwa Devolutionskrieg, Holländischer Krieg, Pfälzischer Erbfolgekrieg, Spanischer Erbfolgekrieg, Siebenjähriger Krieg, Teilnahme am Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg), ihre teure Hofhaltung und Missernten lösten eine große Finanzkrise aus, die König Ludwig XVI. dazu zwang, die Generalstände einzuberufen. Die Nationalversammlung arbeitete eine Verfassung aus, beschränkte die Macht des Königs und beendete das Ancien Régime. Die sich weiter verschlechternden Lebensbedingungen des Volkes führten 1789 zur Französischen Revolution mit der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte als zentraler Errungenschaft. Die Kirche wurde enteignet und sogar ein neuer Kalender eingeführt. Die 1791 verabschiedete Verfassung machte Frankreich zu einer konstitutionellen Monarchie. Nach der versuchten Flucht des Königs wurde dieser verhaftet und 1793 hingerichtet, die Erste Republik wurde verkündet. Die erste Erfahrung mit republikanischer Herrschaft, die auf dem Gleichheitsprinzip beruhte, endete jedoch im Chaos und der Terrorherrschaft unter Robespierre.
Napoleon Bonaparte ergriff in dieser Situation 1799 mit einem Staatsstreich die Macht als Erster Konsul; 1804 krönte er sich selbst zum Kaiser. In den folgenden Koalitionskriegen brachte er fast ganz Europa unter seine Kontrolle. Sein Russlandfeldzug 1812 wurde jedoch ein Fehlschlag, die Völkerschlacht bei Leipzig 1813 besiegelte die Niederlage der französischen Truppen. Während des Exils in Elba regierte mit Ludwig XVIII. wieder ein Bourbone, Napoleon kam 1815 zurück und regierte weitere hundert Tage. Nach der Niederlage in der Schlacht bei Waterloo wurde er endgültig verbannt. Die Restauration brachte wieder die Bourbonen auf den Thron, die darangingen, das verlorene Kolonialreich wieder aufzubauen. In Frankreich fand gleichzeitig die Industrielle Revolution statt, wobei sich langsam eine Arbeiterklasse herausbildete. Die Julirevolution von 1830 stürzte den despotisch regierenden Karl X., der durch den Bürgerkönig Louis-Philippe I. ersetzt wurde. Eine erneute bürgerliche Revolution brachte Frankreich 1848 die Zweite Republik.
Zum Präsidenten der Zweiten Republik wurde Louis Napoléon Bonaparte gewählt, der sich bereits 1852 als Napoleon III. zum Kaiser krönen ließ. Unter seiner Herrschaft wurde Opposition gewaltsam unterdrückt, außenpolitisch gelangen jedoch Unternehmen wie der Erwerb von Nizza und Savoyen, die Eingliederung von Äquatorialafrika und Indochina ins Kolonialreich und der Bau des Sueskanals. Seine Herrschaft fällt zusammen mit der Nationalstaatsbildung in Deutschland unter Führung des Norddeutschen Bundes. Der Deutsch-Französische Krieg, den Napoleon III. begann, um einen mächtigen Konkurrenten um die Hegemonie in Europa zu verhindern, endete mit einer Niederlage, Wilhelm I. ließ sich im Spiegelsaal von Versailles zum deutschen Kaiser proklamieren. Die Pariser Kommune, ein Aufstand, der sich gegen die Kapitulation richtete, wurde mit Gewalt und zahlreichen Todesopfern niedergeschlagen.
Imperialismus, Kolonialismus, Erster und Zweiter Weltkrieg
Schon unter Karl X. wurde zur Ablenkung von innenpolitischen Schwierigkeiten unter einem Vorwand 1830 Algier besetzt. 1831 wurde zur Absicherung die Fremdenlegion gegründet. Algerien wurde zur Kornkammer Frankreichs. Bis 1906 stieg der Anteil der französischen Siedler, später „Pieds-noirs“ genannt, auf 13 Prozent der Bevölkerung. 1854 wurden an der Küste des Senegal erste französische Stützpunkte errichtet. Bis zum Jahr 1891 kam das gesamte Gebiet des heutigen Senegal unter französische Kontrolle.
Die Dritte Republik währte von 1871 bis 1940. In dieser Zeit dehnte sich das französische Kolonialreich auf eine Fläche von 7,7 Millionen Quadratkilometer aus. Die Industrialisierung Frankreichs führte zu einem Wirtschaftsaufschwung: 1878, 1889 und 1900 fanden in Paris Weltausstellungen statt.
Zwischen Frankreich und dem Vereinigten Königreich kam es zu einem Wettlauf um Afrika. Beide Länder praktizierten Imperialismus. Höhepunkt des „Wettlaufs“ war die Faschoda-Krise 1898 zwischen den beiden Ländern. Das Vereinigte Königreich hatte sich zum Ziel gesetzt, einen Nord-Süd-Gürtel von Kolonien in Afrika zu erobern, vom Kap der Guten Hoffnung bis Kairo („Kap-Kairo-Plan“). Frankreich wollte dagegen einen Ost-West-Gürtel von Dakar bis Dschibuti. Die Ansprüche beider Staaten kollidierten schließlich in dem kleinen sudanesischen Ort Faschoda. Frankreich gab letztlich kampflos nach; die beiden Länder steckten im März 1899 ihre Interessengebiete ab („Sudanvertrag“). Die Dritte Republik erlebte mit dem Panamaskandal (1889–1893), der Faschoda-Krise und der Dreyfus-Affäre (1894–1905) drei große Krisen innerhalb von zehn Jahren.
Die Römisch-katholische Kirche in Frankreich praktizierte jahrzehntelang eine antimodernistische Haltung; unter anderem deshalb wurde Frankreich – auch im Zuge der Dreyfus-Affäre – zu einem ausgeprägt laizistischen Staat („Gesetz zur Trennung von Religion und Staat“ im „Gesetz zur Trennung von Kirche und Staat“ vom Dezember 1905).
1904 schloss Frankreich mit dem Vereinigten Königreich die „Entente cordiale“ und trat 1914 in den Ersten Weltkrieg ein mit dem Ziel, Elsass-Lothringen zurückzugewinnen und Deutschland entscheidend zu schwächen. Nach dem Krieg war Frankreich zwar auf der Siegerseite, Nordfrankreich war jedoch weitgehend verwüstet. Zu den 1,5 Millionen gefallenen Soldaten kamen 166.000 Opfer der Spanischen Grippe 1918/19.
Die Zwischenkriegszeit war in Frankreich vor allem von politischer Instabilität gekennzeichnet. Im Friedensvertrag von Versailles wurde Deutschland 1919 verpflichtet, hohe Reparationen an die Siegermächte zu leisten. Vor allem der französische Ministerpräsident und Außenminister Poincaré bestand auf einer kompromisslosen und pünktlichen Erfüllung der Leistungen. Französisches Militär nahm Verzögerungen der Lieferungen mehrfach zum Anlass, in unbesetztes Gebiet einzurücken. Beispielsweise besetzten am 8. März 1921 französische und belgische Truppen die Städte Duisburg und Düsseldorf in der Entmilitarisierten Zone. In der Folge wurde vorübergehend sogar das Ruhrgebiet besetzt.
Die ab 1934 regierende „Volksfront“ war vor allem auf den Erhalt des Status quo aus, sodass Frankreich schlecht auf den Zweiten Weltkrieg vorbereitet war: In ihrem Westfeldzug umgingen die deutschen Truppen die Maginot-Linie und marschierten in ein unverteidigtes Paris ein. Marschall Pétain musste am 22. Juni 1940 den „zweiten Waffenstillstand von Compiègne“ (in Frankreich: Armistice de Rethondes) unterzeichnen. Frankreich wurde in eine zone occupée und eine zone libre geteilt, wobei in Letzterer das von Deutschland abhängige konservativ-autoritäre Vichy-Regime regierte. Bereits kurz nach der Unterzeichnung des Waffenstillstands bildeten sich Gruppen der Résistance, in London gründete Charles de Gaulle die Exilregierung Forces françaises libres. In der von den Alliierten durchgeführten Operation Overlord wurde Nordfrankreich 1944 zurückerobert. Einen Monat nach der Befreiung von Paris im August 1944 bildete de Gaulle eine provisorische Regierung. Diese beschloss unter anderem im Oktober 1944 das Frauenwahlrecht, das den Französinnen bis dahin verwehrt geblieben war. Zur Anwendung kam es das erste Mal bei den Kommunalwahlen am 29. April 1945 und auf nationaler Ebene bei den Wahlen zur Nationalversammlung am 21. Oktober 1945.
Nachkriegszeit und europäische Einigung
Die Verfassung der Vierten Republik war bereits am 13. Oktober 1946 durch einen Volksentscheid beschlossen worden. Frankreich, das sich auf Seiten der Siegermächte wiederfand, wurde zum Gründungsmitglied der Vereinten Nationen und erhielt im Sicherheitsrat ein Veto-Recht. Frankreich erhielt zur Förderung des Wiederaufbaus unter anderem Unterstützungsleistungen aus dem Marshallplan; unter Ökonomen ist umstritten, ob diese volkswirtschaftlich nennenswerte Wirkungen hatten. Der nach dem Zweiten Weltkrieg einsetzende lange wirtschaftliche Nachkriegsboom wurde als Trente Glorieuses bezeichnet. 1949 war Frankreich Gründungsmitglied der NATO; 1951 wurde mit der Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl der erste Schritt zur Europäischen Integration gesetzt. Im März 1957 wurden die Römischen Verträge unterzeichnet; zum 1. Januar 1958 wurde die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) gegründet, aus der mittlerweile die Europäische Union geworden ist und in der Frankreich ein aktives und bedeutendes Mitglied ist.
Die Nachkriegszeit war auch durch den Zerfall des Kolonialreiches geprägt. Der erste Indochinakrieg (1946–1954) endete mit der Schlacht um Điện Biên Phủ und dem Verlust aller französischen Kolonien in Südostasien. Einen noch tieferen Schnitt bedeutete der Algerienkrieg (1954–1962), der mit großer Härte geführt wurde und an dessen Ende Algerien in die Unabhängigkeit entlassen werden musste. Hunderttausende Pied-noirs flohen nach Frankreich, wo ihre Integration in die französische Gesellschaft nicht immer reibungslos verlief (siehe auch Dekolonisation Afrikas).
Innenpolitisch wurde die instabile Vierte Republik im Oktober 1958 durch die Fünfte Republik abgelöst, die einen starken, von der Legislative weitgehend unabhängigen Präsidenten vorsieht. Diese Fünfte Republik wurde durch Studentenproteste und einen Generalstreik im Mai 1968 im Rahmen der weltweiten 68er-Bewegung erschüttert, was langfristig kulturelle, politische und ökonomische Reformen nach sich zog. Um 1971, also schon vor der Ölpreiskrise von 1973, beschloss Frankreich, sich durch Nutzung der Kernenergie vom Erdöl unabhängiger zu machen (siehe Kernenergie in Frankreich).
Eine weitere Zäsur war 1981 die Regierungsübernahme durch die Sozialistische Partei und die Präsidentschaft von François Mitterrand, die bis Mai 1995 andauerte. Während ihr wurden unter anderem Verstaatlichungen vorangetrieben, die Todesstrafe abgeschafft, die 39-Stunden-Woche und andere soziale Reformen eingeführt; 1992 wurde der Vertrag von Maastricht zur europäischen Integration ratifiziert. Mitterrands Nachfolger Jacques Chirac setzte die Einführung des Euro um und verweigerte 2002/2003 die Teilnahme am Irakkrieg.
Dem ab 2007 amtierenden Staatspräsidenten Nicolas Sarkozy (UMP) folgten 2012 François Hollande (Parti socialiste) und 2017 Emmanuel Macron, der unter Hollande Minister gewesen war, die Regierung aber 2016 verlassen und seine eigene Partei En Marche gegründet hatte.
Im Rahmen der Eurokrise werden seit etwa 2010 Frankreichs Netto-Neuverschuldung, Staatsquote, Reformfähigkeit und anderes kritisch diskutiert.
2015 war Paris von mehreren islamistischen Terroranschlägen betroffen: Am 7. Januar kamen bei einem Attentat auf die Redaktion der Satirezeitschrift Charlie Hebdo zwölf Menschen ums Leben. Am 9. Januar wurden bei der Geiselnahme an der Porte de Vincennes in einem koscheren Supermarkt vier Menschen ermordet. Am Abend des 13. November verübten Terroristen an sechs verschiedenen Orten in der Stadt Anschläge, bei denen 130 Menschen starben. Zu diesen Anschlägen bekannte sich die Terrororganisation „Islamischer Staat“ (IS). Am Folgetag wurde der Ausnahmezustand verhängt. Nach sechsmaliger Verlängerung wurde der Ausnahmezustand zum 1. November 2017 offiziell beendet. An seine Stelle trat ein neues Anti-Terror-Gesetz, das den Sicherheitskräften mehr Befugnisse verleiht; insbesondere kann seither ohne Richterbeschluss die Bewegungsfreiheit von Gefährdern drastisch eingeschränkt werden.
Politik
Seit der Annahme einer neuen Verfassung am 5. Oktober 1958 wird in Frankreich von der Fünften Republik gesprochen. Diese Verfassung macht Frankreich zu einer zentralistisch organisierten Demokratie mit einem semipräsidentiellen Regierungssystem. Gegenüber früheren Verfassungen wurde die Rolle der Exekutive und vor allem jene des Präsidenten weitgehend gestärkt. Dies war die Reaktion auf die politische Instabilität in der Vierten Republik. Sowohl Präsident als auch Premierminister spielen eine aktive Rolle im politischen Leben, wobei der Präsident nur dem Volk gegenüber verantwortlich ist. Die Macht des Parlaments wurde in der Fünften Republik eingeschränkt. Seit den 1980er-Jahren wurde die Verfassung modernisiert, vor allem durch die Dezentralisierung.
Die Verfassung enthält keinen Grundrechtekatalog, sondern verweist auf die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 und die in der Verfassung der Vierten Französischen Republik von 1946 festgehaltenen sozialen Grundrechte.
Absolventen der 1946 gegründeten Elitehochschule ENA konnten sich in politischen Ämtern, in Schlüsselpositionen der Verwaltung und im Management großer französischer Unternehmen durchsetzen.
Exekutive
Laut Verfassung ist der direkt vom Volk gewählte Staatspräsident das höchste Staatsorgan. Er steht über allen anderen Institutionen. Er wacht über die Einhaltung der Verfassung, sichert das Funktionieren der öffentlichen Gewalten, die Kontinuität des Staates, die Unabhängigkeit, die Unverletzlichkeit des Staatsgebietes und die Einhaltung von mit anderen Staaten geschlossenen Abkommen. Er tritt als Schiedsrichter bei Streitigkeiten zwischen staatlichen Institutionen auf. Er verkündet Gesetze (Art. 10) und hat das Recht, sie dem Verfassungsrat zur Prüfung vorzulegen. Er darf Gesetze oder Teile davon an das Parlament zur Neuberatung zurückweisen, hat aber kein Vetorecht. Dekrete und Verordnungen werden vom Ministerrat, dessen Vorsitz der Präsident führt, beschlossen; gegenüber diesen hat der Präsident ein aufschiebendes Veto. Bei der Außen- und Sicherheitspolitik verfügt der Staatspräsident sowohl über die Richtlinien- als auch über die Ratifikationskompetenz, sodass er sowohl die Außenpolitik gestaltet als auch völkerrechtliche Vereinbarungen für Frankreich verbindlich eingeht. Diese Praxis schälte sich in der Regierungszeit de Gaulles heraus und ist nicht zwingend der Verfassung zu entnehmen. Auf Antrag der Regierung oder des Parlamentes darf der Präsident Volksabstimmungen initiieren. Er ernennt Mitglieder wichtiger Gremien, etwa drei der neun Mitglieder des Verfassungsrates, alle Mitglieder des Obersten Rates für den Richterstand sowie die Staatsanwälte. Der Staatspräsident ist keiner Kontrolle durch die Judikative unterworfen, dem Parlament gegenüber ist er nur bei Hochverrat verantwortlich. Außerdem befiehlt der Staatspräsident über die Streitkräfte und den Einsatz der Atomwaffen; im Falle der Ausrufung des Notstandes hat der Präsident fast unbeschränkte Autorität. Dem Präsidenten steht das Präsidialamt als Berater und Unterstützer zur Seite.
Der Präsident leitet die ihm verliehene staatliche Autorität an den Premierminister und die Regierung weiter, wobei die Regierung die vom Präsidenten vorgegebenen Richtlinien umzusetzen hat. Dies erfordert eine enge Zusammenarbeit zwischen Präsidenten und Premierminister, die in einer Cohabitation schwierig sein kann, also wenn Präsident und Premierminister aus zwei entgegengesetzten politischen Lagern kommen. Der Präsident ernennt formell ohne jegliche Einschränkungen einen Premierminister und, auf Vorschlag des Premierministers, die Regierungsmitglieder. Die Regierung hängt in der Folge vom Vertrauen des Parlamentes ab, der Präsident kann eine einmal ernannte Regierung formal nicht entlassen. Die Regierung besteht aus Ministern, Staatsministern, ministres délegués, also Ministern mit speziellen Aufgaben, und Staatssekretären. Regierungsmitglieder dürfen in Frankreich kein anderes staatliches Amt, keine sonstige Berufstätigkeit oder Parlamentsmandat ausüben. Sie sind in ihrer Funktion dem Parlament verantwortlich.
Legislative
Das Parlament der V. Republik besteht aus zwei Kammern. Die Nationalversammlung (Assemblée nationale) hat 577 Abgeordnete, die direkt auf fünf Jahre gewählt werden. Der Senat hat 348 Mitglieder (seit 2011, Stand 2015). Diese werden indirekt für eine Amtszeit von sechs Jahren gewählt. Die Wahl des Senats wird auf Ebene der Départements durchgeführt, wobei das Wahlkollegium aus den Abgeordneten des Départements, den Generalräten und Gemeindevertretern besteht.
Die Wahlen zur Nationalversammlung 1967, 1973, 1978, 1986, 2002, 2007, 2012 und 2017 fanden turnusgemäß statt, die übrigen waren vorgezogene Wahlen.
Die Initiative für Gesetze kann vom Premierminister oder einer der beiden Parlamentskammern ausgehen. Nach der Debatte in den Kammern muss der Gesetzestext von beiden Kammern gleichlautend verabschiedet werden, wobei das Weiterreichen des Textes als navette bezeichnet wird. Nach der Annahme durch das Parlament hat der Präsident nur einmal das Recht, einen Gesetzestext zurückzuweisen. Das Parlament hat zudem die Aufgabe, die Arbeit der Regierung durch Anfragen und Aussprachen zu kontrollieren. Die Nationalversammlung hat die Möglichkeit, die Regierung zu stürzen. Das Parlament hat nicht die Befugnis, den Staatspräsidenten politisch herauszufordern. Der Staatspräsident darf jedoch die Nationalversammlung auflösen; von diesem Recht wurde in der Vergangenheit wiederholt Gebrauch gemacht, um schwierige Phasen der Cohabitation zu beenden. Eine häufige Erscheinung ist Ämterhäufung: Viele Senatoren und Abgeordnete sind zugleich als Bürgermeister in der Kommunalpolitik aktiv. Dies sollte ab 2017 nicht mehr legal sein.
Recht
Nach einer wechselvollen Geschichte des Rechts in Frankreich übernimmt heute, in der Fünften Republik, der Verfassungsrat (Conseil constitutionnel) die Kontrollfunktion innerhalb des politischen Systems. In einem nicht erneuerbaren Mandat ernennen der Staatspräsident und die Präsidenten der Nationalversammlung und des Senats jeweils drei Abgeordnete für eine Amtszeit von neun Jahren. Der Rat überprüft Gesetze auf Anfrage, überwacht die Gesetzesmäßigkeit von Wahlen und Referenden. Für eine Überprüfung von Gesetzen sind jeweils 60 Abgeordnete der Nationalversammlung (10,4 Prozent der Abgeordneten) oder des Senats (18,1 Prozent der Senatoren) nötig.
Die Todesstrafe wurde in Frankreich 1981 abgeschafft.
Politische Indizes
Staatshaushalt
1974 hatte der Staatshaushalt zum letzten Mal keine Neuverschuldung; er war ausgeglichen. 2016 umfasste er Ausgaben von 1369 Milliarden US-Dollar, dem standen Einnahmen von 1288 Milliarden US-Dollar gegenüber. Das Haushaltsdefizit betrug also 81 Milliarden US-Dollar beziehungsweise 3,3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP).
Die Staatsverschuldung betrug 2010 1591 Milliarden Euro oder 82,3 Prozent des BIP. Damit lagen Neuverschuldung und die Staatsschuldenquote in Frankreich weit über der in den EU-Konvergenzkriterien („Maastricht-Kriterien“) genannten Obergrenzen von 3 Prozent pro Jahr bzw. 60 Prozent ( AEU-Vertrag). Im Jahr 2021 betrug die Neuverschuldung 5,2 Prozent des BIP. Die Staatsverschuldung betrug in diesem Jahr 1.717,3 Milliarden Euro.
Ende 2012 stieg der Schuldenstand auf rund 89 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Der größte Posten im Budget 2012 waren die Zinszahlungen: insgesamt rund 48,8 Milliarden Euro. Das Schatzamt (siehe auch Agence France Trésor) hat die Ermächtigung, Staatsanleihen im Wert von 179 Milliarden Euro auszugeben, um die Schuldenlast zu finanzieren. Im Rahmen der Eurokrise wurde Frankreich ab 2012 von den Kreditbewertungsagenturen Standard & Poor’s, Moody’s und Fitch Ratings teils mehrfach herabgestuft; Präsident Sarkozy hatte angekündigt, in den kommenden fünf Jahren rund 65 Milliarden Euro im Haushalt einzusparen, falls er bei den Französischen Präsidentschaftswahl 2012 wiedergewählt worden wäre. Unter Präsident François Hollande stiegen die Staatsschulden weiter an. Anfang 2015 gab die Europäische Kommission bekannt, dass sie auch 2015 und 2016 Haushaltsdefizite oberhalb der im Vertrag von Maastricht vorgesehenen Obergrenze von 3 % dulden würde.
2015 hatte Frankreich ein Defizit von 3,5 Prozent des BIP; nur vier der 28 EU-Länder hatten höhere Quoten. Frankreich wird auch 2016 und 2017 die Defizitobergrenze nicht erfüllen. Im Rahmen der COVID-19-Pandemie stieg die Staatsverschuldung 2020 auf über 100 Prozent des BIP.
Anteil der Staatsausgaben (in Prozent des Bruttoinlandsprodukt):
für das Gesundheitssystem: 12,2 Prozent (2020)
für das Bildungssystem: 5,5 Prozent (2020)
für Militär: 2,0 Prozent (2020)
Politische Parteien
Die französische Parteienlandschaft zeichnet sich durch einen hohen Grad der Zersplitterung und hohe Dynamik aus. Neue Parteien entstehen und existierende Parteien ändern häufig ihre Namen. Die Namen der Parteien geben nur sehr bedingt über ihre ideologische Ausrichtung Aufschluss, denn es ist zu einer gewissen Begriffsentfremdung gekommen. Französische Parteien haben in der Regel relativ wenige Mitglieder und eine schwache Organisationsstruktur, die sich häufig auf Paris als den Ort, wo die meisten Entscheidungen getroffen werden, konzentriert.
Die politische Linke in Frankreich wurde seit der Nachkriegszeit vom Dualismus zwischen gemäßigten und radikalen Kräften geprägt. Bis weit in die 70er Jahre hinein war die Französische Kommunistische Partei die bestimmende Kraft im linken Lager, auch auf kommunaler und intellektueller Ebene. Durch die Geheimrede Chruschtschows und die Enthüllungen Solschenizyns über den Gulag verlor ihre enge Anbindung an die UdSSR an Legitimation, was zum Aufstieg der 1969 gegründeten Parti Socialiste (PS) führte. Diese stellte mit François Mitterrand von 1981 bis 1995 und François Hollande von 2012 bis 2017 zwei Mal den Staatspräsidenten und mehrere Premierminister. Seit der Präsidentschaftswahl 2017 hat sich das Gewicht erneut verschoben und die linkspopulistische Partei La France insoumise dominiert inzwischen das – insgesamt geschrumpfte – linke Lager. Die grüne Partei in Frankreich heißt Europe Écologie-Les Verts, wobei grüne Politik in Frankreich tendenziell weniger Zulauf genießt als in den deutschsprachigen Staaten.
Das konservative Lager wird dominiert von der gaullistischen Partei, die seit dem Beginn der Fünften Republik mehrmals ihren Namen geändert hat und seit 2015 Les Républicains heißt. Neben Charles de Gaulle stellte sie in der Fünften Republik die Staatspräsidenten Georges Pompidou, Jacques Chirac und Nicolas Sarkozy. Sie teilt sich die Besetzung des bürgerlichen Lagers mit verschiedenen zentristisch ausgerichteten Parteien, darunter dem Parteienbündnis Union des démocrates et indépendants (UDI) und der Partei Mouvement démocrate (MoDem).
Deutlich weiter rechts von der politischen Mitte angesiedelt ist der Front National. Seit er 2011 von Marine Le Pen graduell neu ausgerichtet wurde, hat er sich zu einem starken dritten Lager entwickelt, was in der Teilnahme Le Pens an der Stichwahl zum Amt des Präsidenten 2017 gipfelte. Bei den Parlamentswahlen 2022 konnte die inzwischen in Rassemblement national umbenannte Partei zum ersten Mal (mit Ausnahme der Wahl nach Verhältniswahlrecht von 1986) signifikant Abgeordnete in die Nationalversammlung entsenden und dort eine Fraktion bilden.
2016 gründete Emmanuel Macron für seine Präsidentschaftskampagne die politische Bewegung En Marche! und betonte, die Teilnahme sei mit der Mitgliedschaft in anderen Parteien vereinbar. Der Charakter einer offenen Bewegung ging jedoch bald verloren, inzwischen ist sie eine Partei wie andere. Im Jahr 2022 erfolgte die Umbenennung in Renaissance. Die Partei positioniert sich zentristisch.
Innenpolitik
Außen- und Sicherheitspolitik
Frankreich ist eine Atommacht sowie Vetomacht im UN-Sicherheitsrat und betreibt eine aktive Außenpolitik. Mit Botschaften in 160 Ländern hatte Frankreich 2017 die dritthöchste Anzahl an ausländischen Botschaften hinter den Vereinigten Staaten und der Volksrepublik China.
Nach dem Zweiten Weltkrieg gaben Deutschland und Frankreich die seit 1870/71 währende Erbfeindschaft auf; unter anderem vor dem Hintergrund des Kalten Krieges. Zwischen den beiden Ländern entstanden enge Beziehungen.
Beide Länder waren Gründungsmitglieder der Europäischen Union. Zeitweise wurde ein „Europa der zwei Geschwindigkeiten“ diskutiert mit Deutschland, Frankreich und einigen weiteren Staaten in einem Kerneuropa.
Generell folgen Frankreichs Grundinteressen in der Europäischen Union jedoch dem intergouvernementalen Ansatz, welcher zunächst keine Übertragung weiterer Kompetenzen auf die EU-Ebene vorsieht. Zentrales Ziel der französischen Europapolitik ist, die Führungsrolle Frankreichs in Europa zu festigen. Aufgeweicht wird diese Position jedoch teilweise durch neue pragmatische Ansätze. Besonders in der Klima- und Energie-, der Wirtschafts- und Finanz- sowie der Sicherheits- und Verteidigungspolitik ist Frankreich vermehrt Vorreiter europäischer Positionen. Der grundsätzliche Fokus auf nationalen Interessen bleibt allerdings erhalten.
In der Eurokrise setzten sich Frankreich und Deutschland weitgehend für gemeinsame Positionen ein. Dies spiegelt sich in häufigen bilateralen Gesprächen zwischen Bundeskanzlerin Angela Merkel und François Hollande, auch im Vorfeld offizieller Gipfeltreffen, wider. Ein wichtiges Anliegen Frankreichs auf EU-Ebene ist (Stand 2008) der Aufbau einer europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik.
Frankreich ist zudem ständiges Mitglied im UNO-Sicherheitsrat mit Vetorecht. Über die Vereinten Nationen koordiniert es seine internationale Entwicklungszusammenarbeit und sein humanitäres Engagement.
Frankreich war 1949 Gründungsmitglied des Nordatlantikvertrages (NATO) und erhielt militärischen Schutz durch die Vereinigten Staaten. Mit der Machtübernahme von de Gaulle 1958 änderten sich die Beziehungen zu den Vereinigten Staaten und zu der von den USA dominierten NATO dahingehend, dass Frankreich 1966 seine militärische Integration in die Strukturen der NATO aufgab und ausschließlich politisch integriert blieb. Im März 2009 kündigte Präsident Sarkozy die vollständige Rückkehr Frankreichs in die Kommandostruktur der NATO an. Das französische Parlament bestätigte am 17. März 2009 diesen Schritt, indem es Sarkozy das Vertrauen aussprach.
Unter de Gaulles Führung entwickelte sich Frankreich 1960 zu einer Atommacht und verfügte ab 1965 mit der Force de dissuasion nucléaire française über Atomstreitkräfte, die zunächst 50 mit Kernwaffen (Atombomben) ausgestattete Flugzeuge in Dienst stellte. 1968 hatte Frankreich bereits 18 Abschussrampen für Mittelstreckenraketen aufgestellt, die 1970 und 1971 mit Atomsprengköpfen ausgestattet wurden. In den 1970er-Jahren erweiterte Frankreich seine Atommacht auch auf See. Vier Atom-U-Boote tragen je 16 atomar bestückte Mittelstreckenraketen.
Eine weitere Säule der französischen Außenpolitik ist die internationale Kooperation auf dem Gebiet der Sicherheitspolitik und der Entwicklungszusammenarbeit bei ständiger Wahrung der französischen Souveränität. Dazu ist Frankreich Mitglied in zahlreichen sicherheitspolitischen Organisationen wie der OSZE und nimmt am Eurokorps teil. Frankreich hat bisher (Stand 2020) nicht verlautbaren lassen, auf das Potenzial seiner Atomwaffen verzichten zu wollen.
Ebenfalls von großer Bedeutung für die französischen Außenbeziehungen ist die französische Kulturpolitik und die Förderung der Frankophonie. International hat die französische Sprache mit ungefähr 140 Millionen Sprechern einen hohen Stellenwert. Dies unterstützt das französische Außenministerium mit einer Unterabteilung namens AEFE, deren etwa 280 Schulen in ungefähr 130 Ländern von rund 16.000 Jugendlichen besucht werden. Die Leistungen der knapp 1000 Lokalitäten der Agence française nehmen ungefähr 200.000 Studenten in aller Welt in Anspruch.
Hinzu kommt ein Engagement auch nach Ende der Kolonialherrschaft in Afrika, wo Frankreich bis heute in einigen Ländern die bestimmende Ordnungsmacht geblieben ist. In den Jahren 2020 und 2021 waren je rund 17.500 bis 18.500 Soldaten im Ausland und in Übersee-Departements stationiert.
Militär
Frankreich hat einen der höchsten Rüstungsetats der Welt und gehört zu den führenden Militärmächten sowie zum Kreis der offiziellen Atomwaffenstaaten. Die französischen Streitkräfte sind seit Ende der 1990er-Jahre eine Berufsarmee und umfassen 350.000 Männer und Frauen. Frankreich gab 2017 knapp 2,3 Prozent seiner Wirtschaftsleistung oder 57,8 Milliarden US-Dollar für seine Streitkräfte aus und lag damit weltweit auf dem sechsten Platz. International liegen die französischen Streitkräfte auf dem siebten Platz der schlagkräftigsten Streitkräfte, in der NATO sind sie das zweitstärkste Militär. 20.000 Soldaten sind in den Übersee-Départements und -territorien stationiert, weitere 8.000 in afrikanischen Staaten, mit denen Verteidigungsabkommen vereinbart wurden. Die Streitkräfte teilen sich dabei in die drei klassischen Sektoren Heer (Armée de terre), Luftwaffe (Armée de l’air) und Marine (Marine nationale). Frankreichs Nuklearstreitkräfte (Force de dissuasion nucléaire) mit ca. 350 Sprengköpfen stellen die Marine und zum kleineren Teil die Luftwaffe. Weiterhin ist die Polizeitruppe Gendarmerie nationale dem Verteidigungsministerium unterstellt. Militärisches und populärkulturelles Aushängeschild des französischen Militärs ist die Fremdenlegion (Légion étrangère).
Administrative Gliederung
Frankreich gilt spätestens seit Ludwig XIII. und Kardinal Richelieu als Inbegriff des zentralisierten Staates. Zwar wurden später Maßnahmen zur Dezentralisierung ergriffen, diese hatten jedoch eher den Zweck, die Zentralgewalt näher zum Bürger zu bringen. Erst seit der Verwaltungsreform der Jahre 1982 und 1983 wurden Kompetenzen von der Zentralregierung auf die Gebietskörperschaften verlagert.
Auf oberster Ebene ist Frankreich seit dem 1. Januar 2016 in 18 Regionen (régions) gegliedert, zuvor waren es 27. Regionen gibt es erst seit 1964, seit 1982/83 haben sie den Status einer Collectivité territoriale (Gebietskörperschaft). Jede Region verfügt über einen vom Volk gewählten Regionalrat (Conseil régional), der wiederum einen Präsidenten wählt. Weiterhin ist der vom französischen Staatspräsidenten ernannte Präfekt des Hauptortes auch Präfekt der gesamten Region, womit er über den anderen Präfekten der Départements steht. Regionen sind zuständig für die Wirtschaft, die Infrastruktur der Berufs- und Gymnasialausbildung und finanzieren sich über Steuern, die sie erheben dürfen, und über Transferzahlungen der Zentralregierung. Korsika hat unter den Regionen einen Sonderstatus und wird als Collectivité territoriale bezeichnet. Fünf Regionen (Französisch-Guayana, Guadeloupe, Martinique, Mayotte und Réunion) befinden sich in Übersee und hatten bis zur Verfassungsänderung 2003 den Status eines Übersee-Départements. Die Regionen bilden die europäische Statistikebene NUTS-2 (auf der übergeordneten Ebene NUTS-1 bestehen 8+1 Zones d’études et d’aménagement du territoire (ZEAT, Raumplanungs- und -ordnungszonen)).
Eine Region ist ihrerseits in Départements unterteilt. Départements ersetzten 1790 die traditionellen Provinzen, um den Einfluss der lokalen Machthaber zu brechen. Von den heute 103 Départements liegen 95 in Europa. Die hohe Zahl dieser relativ kleinen Verwaltungseinheiten ist immer wieder Gegenstand von Diskussionen. Départements wählen einen Départementrat (Conseil départemental), der einen Präsidenten als Exekutivorgan wählt. Erster Mann im Département ist jedoch der vom französischen Staatspräsidenten ernannte Präfekt. Départements haben die Aufgabe, sich um das Sozial- und Gesundheitswesen, die Collèges, Kultur- und Sporteinrichtungen, Departementsstraßen und den Sozialbau zu kümmern. Sie dürfen Steuern erheben und erhalten Transferzahlungen der Zentralregierung. Die Départements bilden die europäische Statistikebene NUTS-3.
Die 335 Arrondissements, davon 13 in Übersee, stellen keine eigene Rechtspersönlichkeit dar. Sie dienen vorrangig der Entlastung der Départementsverwaltung, in jedem Arrondissement liegt eine Sous-Préfecture.
Ebenso dienen die 2054 Kantone (Cantons), 72 in Übersee, (Zahlen ab 2014) nur noch als Wahlbezirk für die Wahl der Départementräte. Die Arrondissements der Städte Paris, Lyon und Marseille haben den Status von Kantonen.
Die kleinste und gleichzeitig älteste organisatorische Einheit des französischen Staates sind die Gemeinden (communes). Sie folgten 1789 den Pfarreien und Städten nach. In den letzten Jahren hat die enorm hohe Zahl der Kommunen leicht abgenommen. Waren es 2012 noch 36.700 Gemeinden, so ist die Zahl zu Beginn des Jahres 2017 auf 35.498 und zum 1. Januar 2022 auf 34.955 zurückgegangen, davon 129 in Übersee. Trotz der hohen Zahl der Gemeinden, die größtenteils nur sehr wenige Einwohner haben, kommen Bemühungen um eine Gemeindereform nur sehr schleppend voran. Jede Gemeinde wählt einen Gemeinderat (Conseil municipal), der dann aus seiner Mitte einen Bürgermeister wählt. Seit 1982 haben die Gemeinden deutlich mehr Rechte und werden vom Staat weniger bevormundet. Auf Gemeindeebene werden Grundschulbildung, Stadtplanung, Abfallbeseitigung, Abwasserreinigung und Kulturaktivitäten organisiert; auch sie finanzieren sich über eigene Steuern und Transferzahlungen.
Die hohe Anzahl von z. T. sehr kleinen Gemeinde erschwerte die Verwaltung, daher hat man sich bemüht, die Anzahl durch Zusammenlegung zu reduzieren. Ein erster Versuch war 1971 die Commune Associée (Assoziierte Gemeinde), die beiden Gemeinden behielten ihre Identität, die Gemeinderäte tagten zusammen, der Bürgermeister des kleineren wurde stellvertretender Bürgermeister. Dies fand nur wenig Anklang. 1999 hat man mit der communauté de communes (Verbandsgemeinde) eine neue Ebene zwischen dem Departement und der Gemeinde geschaffen. In der Communauté de Communes sind die umliegenden Gemeinden vertreten und verwalten gemeinsam die Angelegenheiten, die sie zusammen betreffen, hauptsächlich Straßen, Wasser Ver- und Entsorgung u. ä. Außerdem kann die Communauté de Communes ihre Anliegen besser beim Staat vertreten. Diese Konstruktion ist ein Erfolg, 2022 gab es 1254 Communautée de Communes, in denen die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung leben.
Verwaltungsrechtliche Sonderstatus gelten für die Überseegebiete (Collectivités d’outre-mer, COM) Französisch-Polynesien, Saint-Barthélemy, Saint-Martin, Saint-Pierre und Miquelon, Wallis und Futuna, die Gebietskörperschaft mit Sonderstatus (Collectivité sui generis) Neukaledonien und die Französischen Süd- und Antarktisgebiete (Terres australes et antarctiques françaises, TAAF) sowie die Clipperton-Insel.
Frankreich sowie seine Überseeregionen und -départements und Saint-Martin sind Teil der Europäischen Union. Die restlichen Überseegebiete sind keine Mitglieder der Europäischen Union. In Frankreich erlassene Gesetze gelten in den COM (Collectivités d’outre-mer) nur, wenn dies ausdrücklich erwähnt ist.
Wirtschaft
Traditionell betreiben staatliche Akteure in Frankreich eine intensive Wirtschaftspolitik und Industriepolitik; es gibt vergleichsweise starke staatliche Eingriffe. Die Ideen des Merkantilismus – speziell des Colbertismus – wirken in Frankreich bis heute nach.
Nach dem Ersten Weltkrieg wurde der Typus des „gemischten Unternehmens“ geschaffen. Mit dieser Partnerschaft von privatem und öffentlichen Kapital sollte der nationalen Industrie das Vordringen in Bereiche ermöglicht werden, in die sich privates Kapital allein nicht heranwagte (Ölindustrie: Compagnie Française des Pétroles (CFP). Chemie). Zuvor war es in Frankreich in ähnlichen Fällen üblich gewesen, dass der Staat einer einzelnen Firma eine exklusive Konzession erteilte.
1946 begann die damalige Regierung Frankreichs ein System der Planification. Der Finanzsektor wurde weitgehend verstaatlicht, der Staat kontrolierte fast 60 % aller Banken und über die Hälfte der Investitionsfinazierung. 1981 kam mit François Mitterrand der erste sozialistische Staatspräsident an die Regierung; er regierte bis Mai 1995 und betrieb zahlreiche Verstaatlichungen.
Frankreich ist eine gelenkte Volkswirtschaft. Ein staatlich festgelegter Mindestlohn, der SMIC, sichert den Angestellten einen Brutto-Stundenlohn von 9,67 Euro (Stand 2016).
Die französischen Exporte entstammen größtenteils dem Maschinenbau, der Automobilindustrie, der Luft- und Raumfahrttechnik, der Pharmaindustrie, der Elektronik, dem Weinbau und der Lebensmittelbranche. Auch der Tourismus und die Luxusgüterindustrie spielen eine große Rolle.
Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) stieg in den Jahren 1995 bis 2005 um durchschnittlich 2,1 Prozent jährlich und erreichte 2005 den Wert von 1689,4 Milliarden Euro. Im Vergleich mit dem BIP der Europäischen Union, ausgedrückt in Kaufkraftstandards, erreichte Frankreich im Jahr 2014 einen Index von 107 (EU-28: 100).
Frankreich war, laut einer Studie der Bank Credit Suisse aus dem Jahre 2017, das Land mit dem sechst-größten nationalen Gesamtvermögen weltweit. Der Gesamtbesitz der Franzosen an Immobilien, Aktien und Bargeld belief sich auf insgesamt 12.969 Milliarden US-Dollar. Das Vermögen pro erwachsene Person beträgt 263.399 Dollar im Durchschnitt und 119.720 Dollar im Median (Deutschland: 203.946 bzw. 47.091 Dollar). Der Gini-Koeffizient bei der Vermögensverteilung lag 2016 bei 72,0 was auf eine mittlere Vermögensungleichheit hindeutet.
Die Erwerbstätigenstruktur hat sich gegenüber früher grundlegend gewandelt. So arbeiteten 2003 nur noch vier Prozent der Erwerbstätigen in der Land- und Forstwirtschaft und Fischerei, in der Industrie waren es 24 Prozent, im Dienstleistungsbereich 72 Prozent.
Frankreich exportierte 2016 16,1 Prozent seines Exportvolumens nach Deutschland, das seinerseits am Import mit 19,6 Prozent beteiligt war. Deutschland ist seit vielen Jahren der wichtigste Handelspartner Frankreichs. Frankreich importierte 2016 Waren im Wert von etwa 517,2 Milliarden Euro und exportierte Waren im Wert von ca. 452,8 Milliarden Euro und hat damit ein Handelsbilanzdefizit.
2001 hatte das Defizit erst 5,8 Mrd. Euro betragen; 2016 betrug es 64,7 Mrd. Euro. Die EU-Kommission veröffentlichte im Februar 2016 einen Bericht, laut dem Frankreich seit der Jahrtausendwende ein Viertel seines Exportmarktanteils verloren hat; seine Wettbewerbsfähigkeit hat nachgelassen.
Wirtschaftspolitisch bedeutend ist Frankreichs Teilnehmerschaft an der Europäischen Union. Das Land ist Gründungsmitglied aller EU-Vorgängerinstitutionen seit den 1950er-Jahren. Mit zusammen rund 500 Millionen Einwohnern erwirtschaftete die Europäische Union 2011 ein nominales Bruttoinlandsprodukt von 17,6 Billionen US-Dollar und bildet somit den größten Binnenmarkt der Welt. Frankreich ist auch Teil der Eurozone, einer Währungsunion von insgesamt 20 EU-Staaten, die 2023 etwa 340 Millionen Einwohner umfasst. Offizielles Zahlungsmittel in der Eurozone ist der Euro; seine Währungspolitik wird von der Europäischen Zentralbank gesteuert. Die vorherige Währung war bis 2002 der Französische Franc.
Im Global Competitiveness Index, der die Wettbewerbsfähigkeit eines Landes misst, belegt Frankreich Platz 22 von 137 Ländern (Stand 2017). Im Index für wirtschaftliche Freiheit belegt das Land im Jahr 2022 Platz 52 von 177 Ländern.
Wirtschaftssituation
In Frankreich wuchs das reale Bruttoinlandsprodukt (BIP) in den Jahren 1999 bis 2008 in Frankreich durchschnittlich um 2 Prozent (zum Vergleich: Italien plus 1,2 Prozent, Deutschland plus 1,5 Prozent). Im Krisenjahr 2009 ging es um 2,9 Prozent zurück; 2007 und 2008 war es um jeweils um 2,4 Prozent gewachsen. 2018 wuchs das BIP um 1,9 Prozent und 2019 um 1,8 Prozent (siehe Wirtschaft Frankreichs#Aktuelle wirtschaftliche Lage). Das durchschnittliche Wachstum im Zeitraum 2005 bis 2010 betrug 0,6 Prozent. Die Arbeitslosigkeit betrug im Juli 2014 mit 3,3 Millionen Menschen 10,2 Prozent, ein Allzeithoch seit Aufzeichnungsbeginn 1955. 2014 waren gut 500.000 Menschen mehr arbeitslos als 2004. Im Juni 2018 lag die Arbeitslosigkeit immer noch bei 9,2 Prozent. Im Jahr 2017 betrug die Jugendarbeitslosigkeit 23,6 Prozent. 2016 arbeiteten 2,8 Prozent aller Arbeitskräfte in der Landwirtschaft, 20 Prozent in der Industrie und 77,2 Prozent im Dienstleistungssektor. Die Gesamtzahl der Beschäftigten wird für 2017 auf 30,68 Millionen geschätzt; davon sind 47 Prozent Frauen. Die Staatsverschuldung betrug 2021 2,8 Billionen Euro (siehe Wirtschaft Frankreichs#Aktuelle wirtschaftliche Lage). Die Staatsverschuldung stieg von 2008 bis 2014 64 Prozent auf 94 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Seit der Einführung des Euro hat Frankreichs Export ein Drittel seiner Weltmarktanteile verloren. Der Industrieanteil am französischen Bruttoinlandsprodukt ging von 18 Prozent auf 12,6 Prozent zurück. Frankreichs Anteil an den weltweiten Exporten ist von mehr als 6 Prozent im Jahr 2000 auf 4 Prozent 2012 gesunken. In Frankreich ist die Deindustrialisierung weit fortgeschritten: der Anteil der Industrie am Bruttoinlandsprodukt sank von 24 Prozent im Jahr 1980 auf 10 Prozent im Jahr 2021. Der Anteil der Staatsausgaben in Prozent des Bruttoinlandsproduktes betrug 2012 in Frankreich 57 Prozent. Sie gehören damit zu den höchsten in den Industrieländern. 23 Prozent aller Beschäftigten arbeiten in Frankreich für den öffentlichen Dienst. Die französische Automobilindustrie befindet sich (Stand 2013) in einer schwierigen Lage. 2013 wurden mit knapp 1,8 Millionen Fahrzeugen so viele Einheiten verkauft wie 1997. Die Europäische Union unterstützt diesen Wirtschaftszweig massiv. Die Kreditbewertungsagentur Standard & Poor’s stufte Frankreichs Bonität 2012 von AAA auf AA+ zurück und im November 2013 von AA+ auf AA. Der 2017 ins Amt gewählte neue Präsident Emmanuel Macron versprach strukturelle Reformen um die Wettbewerbsfähigkeit des Landes wieder zu erhöhen.
Kennzahlen
Unternehmen
Liste der 15 größten französischen Unternehmen nach Umsatz (alle Daten beziehen sich auf das Geschäftsjahr 2016).
Kreativ- und Kulturwirtschaft
In Frankreich hat die Kulturwirtschaft einen erheblich größeren Anteil als in anderen Staaten. Das Gesamtvolumen beträgt 74 Milliarden Euro (Stand 2012), davon werden 61,4 Milliarden direkt erwirtschaftet. Die französische Kulturindustrie ist mit den direkten Erlösen größer als der Automobilwirtschaftszweig oder die Produzenten von Luxusgütern und liegt nur knapp hinter der Telekommunikation.
In zentralen Bereichen der Kultur haben große Unternehmen ihren Sitz in Frankreich, so ist die Universal Music Group der größte Musikverlag der Welt, Groupe Lagardère (früher Hachette) stehen an Nummer zwei der Buchverlage und Ubisoft ist der drittgrößte Anbieter von Computerspielen. Frankreich steht auf Platz zwei der Filmproduktionsländer und ist der viertgrößte Kunstmarkt der Erde.
Tourismus
Der Tourismus spielt in Frankreich eine wichtige wirtschaftliche Rolle. Rund eine Million Menschen arbeiten im Tourismussektor; dort werden rund zehn Prozent des Bruttosozialproduktes erwirtschaftet. Das Land galt 2019 mit 90 Millionen ausländischen Besuchern als das bedeutendste Touristenziel der Welt. Paris und sein Umland, die Île-de-France, die Mittelmeerküste (z. B. Côte d’Azur) und die französischen Alpen sind wichtige Urlaubsregionen. Im Jahr 2019 hatte das Land 45 UNESCO-Welterbestätten.
Im Travel and Tourism Competitiveness Report 2019 des World Economic Forum, das die Leistungsstärke eines Landes in Bezug auf den Tourismus misst, belegt Frankreich Platz 2 von 140 Ländern.
Energie
Die Energiewirtschaft Frankreichs beschäftigte 2008 194.000 Personen (0,8 Prozent der Erwerbsbevölkerung) und trug 2,1 Prozent zum BIP bei. Frankreich hatte früher reiche Kohlevorkommen. Die Kohleförderung erreichte 1958 mit der Förderung von 60 Millionen Tonnen ihren Höhepunkt; dann begannen eine Phase günstigen Öls und eine Kohlekrise. 1973 förderte man noch 29,1 Millionen Tonnen, 2004 schloss mit La Houve in Lothringen die letzte Kohlegrube Frankreichs. Kohle wird heute (2008) vor allem aus Australien, den USA und Südafrika importiert und in der Stahlindustrie und Wärmekraftwerken (6,9 GW installierte Leistung) verwendet.
Frankreich hat sehr geringe Vorkommen an Erdöl und Erdgas; sie könnten rechnerisch den Gesamtverbrauch des Landes zwei Monate lang decken. Neben den knapp einer Million Tonnen Öl, die 2008 in Frankreich selbst gefördert wurden, wurde Erdöl aus dem Nahen Osten (22 Prozent), den Nordsee-Anrainerstaaten (20 %), Afrika (16 Prozent) und der früheren Sowjetunion (29 Prozent) importiert. Insgesamt verbrauchte Frankreich 2008 82 Millionen Öleinheiten an Erdölprodukten, davon knapp die Hälfte für den Verkehr. Die 13 Raffinerien des Landes können 98 Millionen Tonnen Öl jährlich verarbeiten. 22 Prozent des Energieverbrauches wird von Erdgas abgedeckt, vor allem im Wohnbereich und in der Industrie. Frankreich importierte 2008 Erdgas vor allem aus Norwegen, Russland, Algerien und den Niederlanden; Frankreich zahlte dafür 26 Milliarden Euro.
Kernenergie
Die Ölpreiskrise der 1970er-Jahre veranlassten die Regierung, ein Nuklearprogramm zu initiieren, nach Pierre Messmer auch bekannt als Messmer-Plan. Die Arbeit an den ersten drei Kernkraftwerken Tricastin, Gravelines und Dampierre begann 1974. Die Wiederaufarbeitungsanlage La Hague wurde 1976 der Staatsfirma Cogema übergeben, um abgebrannte Brennelemente nach dem PUREX-Prozess zu recyceln. Mit dem Bau der Gasdiffusionsanlage Georges Besse I wurde 1975 begonnen, der Betrieb wurde 1979 aufgenommen. Bereits 15 Jahre später waren 56 Reaktoren in Betrieb. Von den 44 Millionen Öleinheiten an Energie, die Frankreich 1973 produzierte, stammten noch neun Prozent aus Atomkraftwerken. 2008 wurden 137 Millionen Öleinheiten produziert, davon waren 84 Prozent aus Atomkraftwerken. Zu Beginn des Jahres 2009 waren in Frankreich 21 Kernkraftwerke mit 59 Reaktoren und einer Gesamtleistung von 63,3 Gigawatt am Netz.
Die Kernkraftwerke Frankreichs basieren auf vier unterschiedlichen Entwürfen. Die ersten sind Kraftwerke vom Typ CP0, CP1 und CP2, welche etwa 900 Megawatt elektrischer Leistung haben und hauptsächlich zwischen 1970 und 1980 errichtet wurden. Gegenüber der CP0- und CP1-Serie wurde bei der CP2-Serie die Redundanz erhöht, ab CP1 kann in Notfällen auch Wasser ins Containment gesprüht werden. Dieser Reaktortyp wurden mehrfach exportiert, zum Beispiel für das Kernkraftwerk Koeberg und Hanul (bis 2013 Uljin) oder die chinesische CPR-1000-Reaktorbaureihe. Die nachfolgende Baureihe P4 und P’4 liefert etwa 1300 Megawatt elektrischer Leistung, das Kernkraftwerk Cattenom gehört zu dieser Bauart. Davon abgewandelt wurde das N4-Design in Civaux und Chooz mit 1450 Megawatt. Die neuste Baureihe ist der EPR, welcher sich mit Kernfänger, Doppelcontainment und gesteigertem Abbrand von den P4- und N4-Kraftwerken unterscheidet. Wegen des hohen Atomstromanteils von etwa 80 Prozent müssen die Kernkraftwerke auch im Mittellastbetrieb betrieben werden. Frankreich besitzt deshalb eines der größten Leitungsnetze in Europa; mehrere Kraftwerke können so gemeinsam Bedarfsschwankungen ausgleichen.
Für die Entsorgung radioaktiver Abfälle ist die Agence Nationale pour la Gestion des Déchets Radioactifs verantwortlich. Électricité de France berechnet dafür 0,14 Cent pro Kilowattstunde auf den Atomstrompreis, was mit anderen europäischen Ländern vergleichbar ist. Die Entsorgung von schwach- und mittelradioaktiven Abfällen findet in Soulaines und dem Endlager Morvillier im Département Aube statt, welches etwa 650.000 Kubikmeter aufnehmen kann. Für die Entsorgung des hochradioaktiven Abfalls (hauptsächlich Glaskokillen aus der Wiederaufarbeitung) wird das Tongestein nahe dem Ort Bure im gleichnamigen Felslabor untersucht.
Frankreich nimmt auch in der Nuklearforschung eine führende Rolle ein: So beteiligt es sich am Generation IV International Forum und arbeitet auch an der kommerziellen Nutzung der schnellen Spaltung und Kernfusion. Die Aktivitäten sind hauptsächlich in Cadarache gebündelt. An einer Weiterentwicklung der Wiederaufarbeitungstechnik wird ebenfalls gearbeitet, um in Zukunft auch andere Actinoide abtrennen zu können.
Laut einem Bericht des Rechnungshofes vom Januar 2012 kosteten die Erforschung, Entwicklung sowie der Bau der französischen Kernkraftwerke insgesamt 188 Milliarden Euro. Diese Kosten konnten bisher durch den Verkauf der Elektrizität zu etwa 75 Prozent amortisiert werden. Da die Kraftwerke größtenteils noch in Betrieb sind, werden diese Kosten aber vermutlich gedeckt werden können, jedoch gebe es kaum Rückstellungen für Folgekosten sowie die nur schwer zu schätzenden Folgen der Endlagerung des Atommülls. Durch den hohen Atomstromanteil profitiert Frankreich erheblich vom EU-Emissionshandel. Von den 442 Terawattstunden elektrischer Energie, die 2008 in Frankreich erzeugt wurden, wurden 65 Prozent in den Privathaushalten und im Dienstleistungssektor verbraucht, weitere 27 Prozent in der Industrie (ohne Stahlindustrie).
Ende November 2011 machte das Französische Institut für nukleare Sicherheit auf die Notwendigkeit der Sanierung aller in Frankreich stationierten Atomkraftwerke aufmerksam. Nur so könnten mögliche Naturkatastrophen ohne größeres Unheil überstanden werden. Daraufhin wurden von grüner und sozialistischer Seite her Forderungen nach einem vollständigen Atomausstieg laut. Laut Einigung sollen bis 2025 nun 24 der 58 Atommeiler vom Netz gehen. Der 2012 neu gewählte Präsident François Hollande beabsichtigte den Anteil von Atomkraft von heute etwa 75 Prozent auf 50 Prozent reduzieren. In Umfragen sprach sich eine große Mehrheit der Franzosen für den Ausbau der erneuerbaren Energien aus. In einer jährlichen repräsentativen Umfrage der französischen Umwelt- und Energiebehörde ADEME lag die Zustimmung zum Ausbau erneuerbarer Energien in Frankreich bei 96 Prozent (2011).
Stromhandelsbilanz
Marktführer bei der Erzeugung elektrischer Energie ist der staatlich dominierte Konzern Électricité de France. Frankreich ist im Jahresmittel Nettostromexporteur, 2008 wurden 50 Terawattstunden an die Nachbarländer verkauft, größte Abnehmer sind Italien und Großbritannien. Da in Frankreich sehr viele Elektroheizungen installiert sind, steigt der Strombedarf während der kalten Jahreszeit stark an; während der Kältewelle 2012 erreichte die Stromnachfrage einen Höchststand von 102,1 Gigawatt, wovon knapp die Hälfte des Bedarfs auf Elektroheizungen entfiel. Auch während der Kältewelle in Europa im Januar 2017 importierte das Land große Mengen Strom aus Deutschland und weiteren Nachbarstaaten, zumal damals mehrere französische Kernkraftwerke aufgrund technischer Probleme stillstanden. Unter anderem wurden in Deutschland Kraftwerke aus der Kaltreserve hochgefahren und Redispatch-Maßnahmen durchgeführt, um die Versorgungssicherheit in Frankreich gewährleisten zu können.
Im Winter importiert das Land deshalb insbesondere während der Jahreshöchstlast netto mehr Strom aus anderen Staaten wie Deutschland, als es dorthin exportiert. Frankreich importierte 2012 per Saldo 8,7 Terawattstunden aus Deutschland. Zu Spitzenlastzeiten ist der Strom aus deutschen Photovoltaikanlagen für Frankreich günstiger als aus seinen eigenen, oft überlasteten Atomreaktoren. Das der französischen Regierung unterstellte „Zentrum für strategische Analysen“ (, CAS) kam 2012 zu dem Schluss, der Ausbau der erneuerbaren Energien in Deutschland sichere neben dem Klimaschutz die energetische Unabhängigkeit Deutschlands.
Energiewende
Erneuerbare Energieträger spielen in Frankreich bisher nur im Bereich der Wasserkraft eine Rolle, die Nutzung der Windenergie und Photovoltaik wurden erst in den letzten Jahren politisch gefördert. 2009 wurden 5,5 Prozent der Primärenergie aus Wasserkraftwerken, 8,7 Prozent aus Holz, 2,1 Prozent aus sonstiger Biomasse, 1,2 Prozent aus Abfall und 0,49 Prozent aus Windenergie gewonnen. 2012 betrug der Anteil der Windenergie 2,7 Prozent. 2017 waren Windkraftanlagen mit einer Nennleistung von etwa 13,8 Gigawatt installiert. Im Jahre 2011 lieferte Frankreich unter den Mitgliedstaaten der Europäischen Union 15 Prozent (44,8 Terawattstunden) der insgesamt in den EU-Ländern erzeugten Energie aus Wasserkraft. Rund 13 Prozent der elektrischen Energie stammten aus erneuerbaren Energiequellen. Das Wasserkraftwerk der Roselend-Talsperre produziert jährlich 1070 Gigawattstunden. Das Pumpspeicherkraftwerk an der Talsperre Grand-Maison ist mit einer Pumpleistung von 1200 Megawatt eines der größten weltweit.
Im Oktober 2014 wurde in der französischen Nationalversammlung mit 314 zu 219 Stimmen ein Energiewende-Gesetz beschlossen. Es sieht vor, den Anteil der Kernenergie am Strommix von 75 Prozent bis 2025 auf 50 Prozent zu reduzieren. Die Gesamtleistung der Kernkraftwerke wurde auf maximal 63,2 Gigawatt gedeckelt. Zudem soll die Gebäudeisolation stark verbessert werden, eine Million Ladestationen für Elektroautos geschaffen werden und die erneuerbaren Energien stark ausgebaut werden. Dadurch soll die CO2-Emission bis 2030 um 40 Prozent sinken. Der Gesamtenergieverbrauch soll bis 2050 halbiert werden.
Verkehr
Straßenverkehr
Ein dichtes Autobahnnetz verbindet in erster Linie den Großraum Paris mit den Regionen. Zu seiner Erschaffung seit den 1960er-Jahren wurde zunächst in erster Linie das auf Paris zulaufende Netz der Nationalstraßen ausgebaut. Nach und nach werden in jüngerer Zeit auch Querverbindungen zwischen den einzelnen Großräumen geschaffen. Die Verkehrswege Frankreichs gehören dem Staat, die meisten Autobahnstrecken werden seit 2006 aber privat betrieben, an Mautstellen müssen alle Benutzer Maut zahlen. Nur wenige Abschnitte sind mautfrei, zum Beispiel die neue A 75 oder die elsässische A 35. Ebenso verfügt die Bretagne über ein Netz mautfreier autobahnähnlicher Schnellstraßen. Zudem sind die Autobahnen im Bereich großer Ballungszentren normalerweise nicht mautpflichtig; dabei gilt aber wiederum die Ausnahme, dass bestimmte, besonders aufwendige Abschnitte auch innerhalb des Großstadtbereichs Maut kosten (z. B. Nordumgehung von Lyon oder im Raum Paris die A 14 und der Doppelstocktunnel im westlichen Teil der A 86).
Der Straßenverkehr des Landes gilt als weitestgehend sicher. 2013 kamen in Frankreich insgesamt 5,1 Verkehrstote auf 100.000 Einwohner. Zum Vergleich: In Deutschland waren es im selben Jahr 4,3 Tote. Das Land hat eine im weltweiten Vergleich hohe Motorisierungsrate. 2014 kamen im Land 578 Kraftfahrzeuge auf 1000 Einwohner.
Schienenverkehr
Der öffentliche Nahverkehr ist in großen Zentren hervorragend ausgebaut. In Paris ist kein Ort weiter als 500 Meter von einer Station der Métro entfernt. Auch in anderen Städten werden die U-Bahnen mit großem Aufwand ausgebaut, zum Beispiel in Lyon, Lille, Marseille oder Toulouse. Außerhalb der großen Zentren wird der Nahverkehr hingegen nur spärlich betrieben. Frankreich war auch ab den 1980er- und 1990er-Jahren ein Zentrum der Renaissance der Straßenbahn – binnen weniger Jahre wuchsen die drei Netze, die die Stilllegungswellen früherer Jahrzehnte überlebt hatten, auf mehrere Dutzend an – ein Trend, der bis heute anhält und auch auf andere Länder Europas sowie nach Nordamerika und Nordafrika ausstrahlt.
Landesweit wurde seit Anfang der 1980er-Jahre das Netz des Hochgeschwindigkeitszugs Train à grande vitesse (TGV) konsequent ausgebaut. Das Netz wird weiter ausgebaut und erreicht dabei auch zunehmend die Nachbarländer. Für Deutschland ist vor allem der Neubau der Ligne à grande vitesse (LGV, deutsch Hochgeschwindigkeitsstrecke) Est européenne Richtung Straßburg und Süddeutschland beziehungsweise Richtung Saarbrücken und Mannheim relevant. Der Thalys verbindet Paris mit Brüssel, Aachen und Köln, teilweise weiter über Düsseldorf, Duisburg und Essen bis Dortmund.
Seit 2003 muss sich die Staatsbahn Société nationale des chemins de fer français (SNCF) privater Konkurrenz stellen. De facto hat sie landesweit noch ein Fast-Monopol.
Luftverkehr
Der Luftverkehr ist in Frankreich stark zentralisiert: Die beiden Flughäfen der Hauptstadt Paris (Charles de Gaulle und Orly) fertigten 2008 gemeinsam 87,1 Millionen Fluggäste ab. Charles de Gaulle ist dabei der zweitgrößte Flughafen Europas und zentrales Drehkreuz der Air France. Er wickelt praktisch den gesamten Langstreckenverkehr ab. Die größten Flughäfen außerhalb von Paris sind jene von Nizza mit zehn Millionen Passagieren, danach folgen Lyon und Marseille. Air France, die führendes Mitglied der Allianz SkyTeam ist, fusionierte 2004 mit KLM zu Air France-KLM und ist seitdem eine der größten Fluggesellschaften der Welt. Der innerfranzösische Verkehr wird seit Einführung des TGV nach und nach durch den Hochgeschwindigkeitsverkehr der Eisenbahn ersetzt, die Eröffnung einer neuen LGV führt oft binnen weniger Monate oder Jahre zu einer Streichung von Flügen durch zurückgehende Passagierzahlen.
Schiffsverkehr
Frankreich hat die natürlichen und künstlichen Binnenwasserstraßen (Flüsse und Kanäle) aus wirtschaftlichen und militärischen Beweggründen in seiner Geschichte stark entwickelt und ausgebaut. Seine Hochblüte erlebte das Wasserwegenetz im 19. Jahrhundert mit einer Länge von 11.000 Kilometern. Durch Konkurrenz von Schiene und Straße ist es bis heute auf rund 8500 Kilometer zurückgegangen. Es wird zum Großteil von der staatlichen Wasserstraßenverwaltung Voies navigables de France (VNF) verwaltet und betrieben.
2007 wurden von der Frachtschifffahrt auf Frankreichs Wasserstraßen Güter mit einem Gesamtgewicht von 61,7 Millionen Tonnen befördert. Bezieht man die Distanz in die Statistik ein, ergibt sich ein Wert von 7,54 Milliarden Tonnen-Kilometer. Über die letzten zehn Jahre bedeutet dies eine Steigerung um 33 Prozent. Die Personenschifffahrt hat heute nur noch touristische Bedeutung, ist aber ein aufstrebender Wirtschaftsfaktor.
Der Canal Seine-Nord Europe (CSNE) war das Projekt eines 106 Kilometer langen Kanals in Süd-Nord-Richtung durch Nordfrankreich zwischen den Einzugsgebieten der Flüsse Seine und Schelde. Das Projekt war in den Verkehrswegeplan der Europäischen Union aufgenommen, wurde jedoch 2013 eingestellt.
Kultur
Frankreich leitet seinen Rang in Europa und der Welt auch aus den Eigenheiten seiner Kultur ab, die sich auch über die Sprache definiert (Sprachschutz- und -pflegegesetzgebung). Frankreich sieht sich selbst nicht als Grande Nation. In der Medienpolitik wird die eigene Kultur und Sprache durch Quoten für Filme und Musik gefördert. Frankreich verfolgt in der Europäischen Union, der UNESCO und der Welthandelsorganisation (WTO) mit Nachdruck seine Konzeption der Verteidigung der kulturellen Vielfalt („diversité culturelle“): Kultur sei keine Ware, die schrankenlos frei gehandelt werden kann. Der Kultursektor bildet daher eine Ausnahme vom restlichen Wirtschaftsgeschehen („exception culturelle“).
Landesweite Pflege und Erhalt des reichen materiellen kulturellen Erbes wird als Aufgabe von nationalem Rang angesehen. Dieses Verständnis wird durch staatlich organisierte oder geförderte Maßnahmen, die zur Bildung eines nationalen kulturellen Bewusstseins beitragen, wirksam in die Öffentlichkeit transportiert. Im jährlichen Kulturkalender fest verankerte Tage des nationalen Erbes, der Musik oder des Kinos beispielsweise finden lebhaften Zuspruch in der Bevölkerung. Großzügig zugeschnittene kulturelle Veranstaltungen entsprechen dem Selbstverständnis Frankreichs als Kulturnation und von Paris als Kulturmetropole. Die Förderung eines kulturellen Profils der regionalen Zentren in der Provinz wird verstetigt.
Küche
Die französische Küche (Cuisine française) gilt seit der frühen Neuzeit als einflussreichste Landesküche Europas. Sie ist sowohl für ihre Qualität als auch ihre Vielseitigkeit weltberühmt und blickt auf eine lange Tradition zurück. Das Essen ist in Frankreich ein wichtiger Bereich des täglichen Lebens und die Pflege der Küche ein unverzichtbarer Bestandteil der nationalen Kultur. Das gastronomische Mahl der Franzosen wurde 2010 als immaterielles Weltkulturerbe von der UNESCO anerkannt.
Architektur
Die ältesten architektonischen Spuren in Frankreich hinterließen die Römer vor allem in Südostfrankreich, wie beispielsweise das Amphitheater von Nîmes oder die Pont du Gard. Nach dem Zerfall der römischen Herrschaft wurden zunächst keine Bauwerke errichtet, die bis heute erhalten geblieben sind. Aus dem Mittelalter sind vor allem Sakralbauten erhalten geblieben, wie das Baptisterium Saint-Jean aus der Zeit der Karolinger, Kirchen in romanischem Stil wie St-Sernin de Toulouse, Ste-Foy de Conques oder Ste-Marie-Madeleine de Vézelay sowie Kirchen in gotischem Stil wie die Kathedrale von Amiens oder die Kathedrale von Beauvais. Daneben wurden Festungsstädte wie Carcassonne oder Aigues-Mortes errichtet.
Als die Renaissance auch in Frankreich aufkam, interpretierten die französischen Architekten diese Kunstform auf ihre Weise und errichteten zahlreiche Schlösser im ganzen Land. Das Schloss Ancy-le-Franc blieb das einzige vollständig von Italienern durchgeführte Bauwerk. Der Absolutismus führte dazu, dass der klassizistische Barock in ganz Frankreich bestimmend wurde, um die Macht des Königs zu symbolisieren. Zu den bedeutendsten Bauwerken dieser Zeit zählen der Louvre und Schloss Versailles, diese wurden auch zu Vorbildern für Bauwerke im Ausland, etwa Schloss Sanssouci. Der technische Fortschritt ermöglichte es, Gebäude wie das Panthéon zu errichten, das für damalige Verhältnisse sehr wenig Baumaterial im Verhältnis zum umfassten Raum benötigte.
In der Zeit nach der Französischen Revolution herrschte der Klassizismus mit kühler, disziplinierter und eleganter Architektur; Beispiele hierfür sind der Arc de Triomphe oder die Kirche La Madeleine in Paris. 1803 wurde die Académie des Beaux-Arts gegründet, französische Architektur wurde erneut in zahlreichen Ländern imitiert, besonders in den USA, gleichzeitig wurden in Frankreich neue Baumaterialien eingeführt; es entstanden Monumente wie der Eiffelturm oder die Pariser Markthallen und man begann mit der Restaurierung von Baudenkmälern.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts kam zunächst der Jugendstil auf, aus dem sich in Frankreich rasch das Art déco entwickelte. In diesen Stilrichtungen sind zahlreiche Eingänge von Métrostationen in Paris sowie das Théâtre des Champs-Élysées erhalten. Der Internationale Stil, der maßgebend von Le Corbusier mitgetragen wurde, zeichnete sich durch unverzierte geometrische Formen aus, Beispiel ist die Villa Savoye. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden einige prestigeträchtige Bauten in Frankreich erstmals durch Ausländer verwirklicht, wie das Centre Pompidou oder die Pyramide im Louvre. Zu den neueren architektonischen Errungenschaften Frankreichs gehören schließlich das Institut du monde arabe (1987) und die Bibliothèque Nationale François Mitterrand (1996).
Film
Frankreich gilt als der Geburtsort des Filmes. Im Jahre 1895 veranstalteten die Brüder Lumière in Paris die erste kommerzielle Filmvorführung. Industrielle wie Charles Pathé und Léon Gaumont investierten große Summen in die Technik und Herstellung, sodass französische Unternehmen den Weltmarkt für Filme dominierten; in Paris gab es 1907 bereits mehr als 100 Vorführungshallen, 1920 waren es in Frankreich schon mehr als 4500. Auf Pathé geht auch die bis heute übliche Praxis des Filmverleihs zurück, seit er 1907 entschied, Filme nicht mehr als Meterware zu verkaufen. Der Ausbruch des Ersten Weltkrieges und der damit verbundenen Flucht zahlreicher Filmschaffender in die USA sowie die Einführung der Tonfilm-Technik, die in Frankreich zunächst nicht eingeführt wurde, führten dazu, dass sich der Schwerpunkt der Filmproduktion in die Vereinigten Staaten verlagerte.
Die 1930er-Jahre gelten als Goldenes Zeitalter des französischen Films. Die Weltwirtschaftskrise bedingten niedrige Budgets, junge Regisseure wie Jean Renoir, René Clair und Marcel Carné und Stars wie Jean Gabin, Pierre Brasseur und Arletty brachten sehr kreative und teils auch sehr politische Werke hervor (Poetischer Realismus). Auch nach Ausbruch des Zweiten Weltkrieges florierte der Film; die Vichy-Regierung gründete mit der Comité d’organisation de l’industrie cinématographique die Vorläuferorganisation des heutigen CNC. Trotz Mangelwirtschaft, Zensur und Emigration entstanden etwa 220 Filme, die sich vor allem auf die Ästhetik des gezeigten konzentrierten.
Nach 1945 setzt sich die französische Regierung das Ziel, die Filmindustrie wieder aufzubauen. Um die Dominanz des amerikanischen Films zu brechen, werden im Blum-Byrnes-Abkommen Einfuhrquoten festgelegt. Die Internationalen Filmfestspiele von Cannes werden gegründet, eine Zusammenarbeit mit Italien vereinbart und gesetzliche und finanzielle Unterstützungen beschlossen. In den 1950er-Jahren wurden vor allem Literaturverfilmungen mit großem Augenmerk auf die Qualität (cinéma de papa) produziert, bis 1956 die weibliche Sexualität mit dem Auftauchen eines neuen Stars, Brigitte Bardot, filmfähig gemacht wurde.
Die Nouvelle Vague, die ab dem Ende der 1950er-Jahre von einer Generation junger Regisseure wie Jean-Luc Godard, François Truffaut, Jacques Rivette, Claude Chabrol und Louis Malle getragen wurde, brachte Anti-Helden auf die Leinwand, thematisierte deren intime Gedanken, machte Filme mit hohem Tempo und offenen Enden. Neue Technik ermöglichte eine neue Ästhetik und erlaubte es Halb-Profis, mit niedrigem Budget Filme zu verwirklichen. Die Kreativität der Nouvelle Vague war international äußerst einflussreich und wurde durch die Einrichtung der Cinémas d’art et d’essai noch gefördert. Popularität erlangten auch die Protagonisten zahlreicher Filme der Nouvelle Vague, vor allem Jean-Pierre Léaud und Jean-Paul Belmondo. Das Jahr 1968 brachte auch im französischen Film eine Zäsur, die zu stark politischen Filmen und zu einer stärkeren Präsenz von Frauen im Metier führte. Gleichzeitig setzte sich das Fernsehen durch; dies brachte neue Strukturen bei der Finanzierung und Distribution von Filmen mit sich.
In den 1980er-Jahren investierte die neue sozialistische Regierung stark in die Kultur; Budgets für Filmproduktionen stiegen, während gleichzeitig die amerikanische Vorherrschaft bekämpft wurde. Es kam zu aufwendigen Verfilmungen von Literaturklassikern. Parallel kam die Strömung des unpolitischen cinéma du look auf, in dem Farben, Formen und Stil die Handlung überdeckten.
Sport
Mit der Einrichtung eines Ministeriums für Jugend und Sport (1958) zu Zeiten der Präsidentschaft von Charles de Gaulle unter dem Minister Maurice Herzog nahm der Breiten- und der Spitzensport in Frankreich einen erheblichen, vom Staat gestützten Aufschwung. Anders als in vielen anderen Ländern Europas ist der Fußball in Frankreich bis heute nicht die unangefochtene Nummer eins unter den Sportarten. Besonders Rugby ist im Südwesten des Landes populärer. Das Interesse am Fußball hängt sehr stark mit der Leistung französischer Mannschaften auf internationaler Ebene zusammen. Als identitätsstiftendes Band gerade zwischen den verschiedenen sozialen und ethnischen Gruppen Frankreichs gilt die französische Fußballnationalmannschaft. Die Équipe Tricolore (in Frankreich meist les Tricolores genannt) trägt ihre Heimspiele meist im Stade de France in Saint Denis bei Paris aus. 1998 wurde in Frankreich die Fußball-Weltmeisterschaft ausgetragen. Im Endspiel gegen Brasilien gewann der Gastgeber das Turnier. 2016 war Frankreich nach 1960 und 1984 zum dritten Mal Gastgeber der Fußball-Europameisterschaft. 2018 gewann Frankreich ein zweites Mal die Fußball-Weltmeisterschaft.
Ähnlich populär dem Fußball ist Rugby Union. Gerade in den südlichen und südwestlichen Regionen ist Rugby tatsächlich der weitaus beliebteste Sport. Die höchste Liga ist die Top 14. Das Meisterschaftsendspiel findet jährlich im Stade de France statt. Die Nationalmannschaft, von den Fans Les Bleus genannt, was später auch auf die Fußballequipe übertragen wurde, gilt seit Jahrzehnten kontinuierlich als eines der besten Teams der Welt und ist bislang bei jeder Weltmeisterschaft mindestens ins Viertelfinale vorgedrungen. Insgesamt wurde sie dreimal Vizeweltmeister und errang einmal den dritten Platz. Wie im Fußball gilt das Stade de France in St. Denis nahe Paris als Nationalstadion. 2007 fand erstmals die Rugbyweltmeisterschaft in Frankreich statt. Dabei zählte man Les Bleus zu den Hauptfavoriten auf den Titel. Allerdings kamen sie nicht über den vierten Platz hinaus. Weltmeister wurde Südafrika. Bei der 2023 ebenfalls in Frankreich ausgetragenen Rugbyweltmeisterschaft war der Gastgeber einer der Titelfavoriten, schied jedoch im Viertelfinale gegen den Titelverteidiger und späteren Weltmeister Südafrika aus.
Weitere populäre Sportarten sind der Radsport (insbesondere im Juli, während der dreiwöchigen Tour de France), Leichtathletik, Formel 1 (Großer Preis von Frankreich in Magny-Cours), Pétanque (Mondial la Marseille à Pétanque), Judo, Handball, Basketball und alpiner Skisport.
Großer Beliebtheit erfreut sich auch der Tennissport. Den Davis Cup gewann Frankreich von 1927 bis 1932 jedes Jahr, außerdem in jüngerer Zeit 1991, 1996, 2001 und 2017. 1997 und 2003 konnten die Französischen Tennisdamen den Fed Cup gewinnen. Die seit 1891 in Paris stattfindenden French Open zählen als eines der vier Grand-Slam-Turniere zu den Höhepunkten der internationalen Tennissaison.
In Frankreich fanden bereits mehrmals Olympische Spiele statt: Sommerspiele 1900 und 1924 in Paris, Winterspiele in Chamonix 1924, Grenoble 1968 und Albertville 1992. Auch die Olympischen Sommerspiele 2024 werden wie 100 Jahre zuvor in Paris stattfinden.
Im Motorsport ebenfalls erwähnenswert sind das legendäre 24-Stunden-Rennen von Le Mans, der MotoGP-Grand Prix von Le Mans, die ehemalige Formel-1-Rennstrecke Circuit Paul Ricard von Le Castellet nahe Avignon sowie die Grasbahn von Marmande und die Sandbahn von Morizes, wo im Rahmen der Langbahn-Weltmeisterschaft der Grand Prix von Frankreich ausgefahren wird.
Special Olympics Frankreich wurde 1991 gegründet und nahm mehrmals an Special Olympics Weltspielen teil. Der Verband hat seine Teilnahme an den Special Olympics World Summer Games 2023 in Berlin angekündigt. Die Delegation wird vor den Spielen im Rahmen des Host Town Programs von Ebersberg betreut.
Musik
Die französische Musik erreichte im Barock eine erste Blüte und brachte bedeutende Komponisten wie Jean-Baptiste Lully, Marc-Antoine Charpentier (17. Jahrhundert), François Couperin, Jean-Philippe Rameau (18. Jahrhundert), Hector Berlioz, Charles Gounod und Georges Bizet hervor. Die französische klassische Musik galt jedoch als technik- und formenlastig. Den Übergang zur Moderne in gesellschaftspolitischer wie musikalischer Sicht verkörpert Debussy am besten; weiterhin sind Maurice Ravel und der ebenfalls sehr experimentell arbeitende Erik Satie in dieser Epoche bedeutend. Der Beginn der Avantgarde in der Musik wird besonders durch die Groupe des Six eingeleitet. Hauptfigur der zeitgenössischen Musik ist Pierre Boulez.
Seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts befindet sich die populäre Musik im Aufwind. Das bekannteste einheimische Genre ist das Chanson, eine Liedgattung mit starker Konzentration auf den Text. Zu den wichtigsten Künstlern des Chanson zählen Charles Trenet, Édith Piaf, Gilbert Bécaud, Boris Vian, Georges Brassens, Charles Aznavour oder Yves Montand. Ausländische Musikstile finden ihren Widerhall in Frankreich: Nach dem Ende des Ersten Weltkrieges begann der Jazz die französische Musik zu beeinflussen, mit Django Reinhardt oder Stéphane Grappelli stellte Frankreich auch bedeutende Künstler des Jazz.
In der Rock- und Popmusik prägten etwa Daft Punk und Étienne de Crécy den French House, Gotan Project ist Vorreiter des sogenannten Electrotango und St Germain steht für eine Kombination von Jazz und House. Ein bekannter Vertreter von Ambient-Musik ist Air. Der Rap wurde in Frankreich adaptiert, erfolgreichster Vertreter des Französischen Hip-Hop ist MC Solaar.
Lokal verbreitete Musikstile sind die bretonische Musik, deren bedeutendster Künstler Alan Stivell ist, oder die korsische Musik mit Bands wie I Muvrini. Zahlreiche afrikanische und maghrebinische Künstler leben und arbeiten in Frankreich, so gibt es eine lebendige Raï-Szene und zahlreiche Veranstaltungen mit afrikanischer Musik.
Die fünf Musiker, die zwischen 1955 und 2009 die meisten Platten in Frankreich verkauften, sind Claude François, Johnny Hallyday, Sheila, Michel Sardou und Jean-Jacques Goldman. Samedi soir sur la Terre von Francis Cabrel ist mit mehr als vier Millionen verkauften Exemplaren das erfolgreichste Album eines französischen Musikers in seinem Heimatland.
Medien
Bei der Rangliste der Pressefreiheit 2017, die von Reporter ohne Grenzen herausgegeben wird, belegte
Frankreich Platz 39 von 180 Ländern.
Die wichtigsten französischen Druckmedien sind die nationalen Tageszeitungen Le Figaro (konservativ, Auflage: 315.400 Exemplare), Le Monde (linksliberal, Druckauflage 2009 bis 2010: 285.500 Exemplare), Libération (linksorientiert, 111.700 Exemplare), La Croix (katholisch, 95.100 Exemplare), L’Humanité (kommunistisch, 50.000 Exemplare), Les Échos und La Tribune (Wirtschaft, 120.400 bzw. 68.100 Exemplare) und L’Équipe (Sport, 310.000 Exemplare). Die wichtigsten Nachrichtenmagazine in Frankreich sind L’Obs (400.000 Exemplare), L’Express (438.700 Exemplare), Le Point (407.700 Exemplare) und Marianne. Die größte Regionalzeitung ist die Ouest-France mit einer Druckauflage von 758.500 Exemplaren. Bedeutend ist auch das jeweils mittwochs erscheinende Investigations- und Satireblatt Le Canard enchaîné mit einer Auflage von 550.000 Exemplaren.
Wie in vielen anderen europäischen Ländern besteht auch in Frankreich eine Co-Existenz von öffentlich-rechtlichen und privaten Fernsehsendern. Zur 1992 gegründeten öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalt France Télévisions gehören die Sender France 2, France 3, France 4, France 5 und France Ô. Der größte Fernsehsender Frankreichs ist jedoch der Privatsender TF1, der bis 1987 noch öffentlich-rechtlich war. TF1 ist außerdem alleiniger Gesellschafter des Sportsenders Eurosport. Seit Dezember 2006 betreiben TF1 und France Télévisions den mehrsprachigen Auslandssender France 24. Weiterhin gibt es mit TV5 Monde und ARTE zwei weitere Sender, an denen France Télévisions beteiligt ist. TV5 Monde ist ein französischsprachiges Gemeinschaftsprogramm der Staaten Frankreich, Belgien, dem französischsprachigen Teil Kanadas und der Schweiz. ARTE ist ein deutsch-französischer Sender, der von ARTE France zusammen mit den deutschen Rundfunkanstalten ARD und ZDF betrieben wird. France Télévisions ist darüber hinaus an dem Nachrichtensender Euronews beteiligt.
Dem öffentlich-rechtlichen Radio France steht eine Vielzahl kommerzieller Anbieter gegenüber. Sowohl Radio France als auch die Kommerziellen bieten überregionale und regionale bzw. lokale Dienste an.
Im Jahr 2021 nutzten 86,1 Prozent der Einwohner Frankreichs das Internet.
Der Nutzung von sozialen Medien kommt eine immer bedeutendere Rolle zu. Die Bruttoreichweite sozialer Netzwerke betrug per Januar 2011 24,8 Millionen Personen.
Feiertage
Liste der landesweit einheitlichen Feiertage. Details und regional zusätzliche Feiertage siehe Hauptartikel.
Siehe auch
Literatur
Frankreich (= Informationen zur politischen Bildung. Heft 285). Mit Karten, Bonn 2004 (mit Literatur, Internet-Hinweisen).
Corine Defrance, Ulrich Pfeil (Hrsg.): Länderbericht Frankreich. Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 2021, ISBN 978-3-7425-0661-0.
Ernst Hinrichs, Heinz-Gerhard Haupt, Stefan Martens, Heribert Müller, Bernd Schneidmüller, Charlotte Tacke: Kleine Geschichte Frankreichs. BpB, Bonn 2010, ISBN 978-3-89331-663-2. (Inhalt bis 2005. Erstmals 1994, dann fortlaufend aktualisiert als RUB im Jahr 2000 Nr. 9333, 2006 Nr. 10596 und 2008 Nr. 17057.)
Adolf Kimmel, Henrik Uterwedde (Hrsg.): Länderbericht Frankreich. Geschichte, Politik, Wirtschaft, Gesellschaft. Lehrbuch. 2., aktualisierte und neu bearbeitete Auflage. Springer VS, Wiesbaden 2005, ISBN 3-531-14631-9.
Andrea Kother: Alltag in Frankreich. Auswandern, leben und arbeiten Conbook Verlag, Meerbusch 2011, ISBN 978-3-934918-79-5.
Günter Liehr: Frankreich – ein Länderporträt. 2., aktualisierte Auflage. Ch. Links Verlag, Berlin 2013, ISBN 978-3-86153-728-1.
Wilfried Loth: Geschichte Frankreichs im 20. Jahrhundert. Fischer, Frankfurt 1995, ISBN 3-596-10860-8.
Wilfried Loth: Von der 4. zur 5. Republik. In: Adolf Kimmel, Henrik Uterwedde (Hrsg.): Länderbericht Frankreich. BpB, Bonn 2005, ISBN 3-89331-574-8, S. 63–85.
Robert Picht u. a. (Hrsg.): Fremde Freunde. Deutsche und Franzosen vor dem 21. Jahrhundert. Piper, München 2002, ISBN 3-492-03956-1. (57 Essays von 52 Autoren zu Begriffen der deutsch-französischen Geschichte, Politik, Kultur und Wirtschaft, u. a. Hans Manfred Bock, Freimut Duve, Étienne François.)
Alfred Pletsch, Hansjörg Dongus, Henrik Uterwedde: Frankreich. Geographie, Geschichte, Wirtschaft, Politik. 2. Auflage. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2003, ISBN 3-534-11691-7.
Alfred Pletsch: Wirtschaftsräumliche Strukturen in Frankreich. In: Adolf Kimmel, Henrik Uterwedde (Hrsg.): Länderbericht Frankreich. BpB, Bonn 2012, ISBN 978-3-8389-0264-7, S. 16–32.
Bernhard Schmidt, Jürgen Doll, Walther Fekl, Siegfried Loewe, Fritz Taubert: Frankreich-Lexikon. Schlüsselbegriffe zu Wirtschaft, Gesellschaft, Politik, Geschichte, Kultur, Presse- und Bildungswesen. 2., überarbeitete und erweiterte Auflage. Schmidt, Berlin 2006, ISBN 3-503-07991-2.
Karl Stoppel (Hrsg.): La France. Regards sur un pays voisin. Eine Textsammlung zur Frankreichkunde. Quellen und Originaltexte, in frz. Sprache, Vokabular. Reclam, Ditzingen 2000. (2., durchgesehene Auflage, Stuttgart 2008. Reclams Universalbibliothek, RUB Nr. 8906, Reihe Fremdsprachentexte.)
Ludwig Watzal (Verantw.): Frankreich. Themenheft von Aus Politik und Zeitgeschichte, Beilage zu „Das Parlament“, 38, Bonn, 17. September 2007 .
Weblinks
Offizielle Website der französischen Verwaltung (französisch)
Website des französischen Außenministeriums (mehrsprachig)
Website der Französischen Zentrale für Tourismus (mehrsprachig)
Länderinformationen des deutschen Auswärtigen Amtes zu Frankreich
Länderprofil des deutschen Statistischen Bundesamtes
Statistiken zur nachhaltigen Entwicklung des französischen Ministeriums für Ökologie, nachhaltige Entwicklung und Energie
Frankreichs Empire schlägt zurück. (PDF; 3,4 MB) Sammelband: Gesellschaftswandel, Kolonialdebatten und Migrationskulturen im frühen 21. Jahrhundert. Hrsg. Dietmar Hüser in Zusammenarbeit mit Christine Göttlicher. Kassel University Press 2010; auch als Print: ISBN 978-3-89958-902-3.
Anmerkungen
Einzelnachweise
Mitgliedstaat der Europäischen Union
Staat in Europa
Staat in Afrika
Staat in Südamerika
Staat in Mittelamerika
Gruppe der Acht
Mitglied des Europarats
Republik (Staat)
Mitgliedstaat der Vereinten Nationen
Mitgliedstaat der OECD
Namensgeber für ein chemisches Element
Mitgliedstaat der NATO
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Q142
| 21,816.97564 |
41375
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https://de.wikipedia.org/wiki/Rum
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Rum
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Rum (wahrscheinlich abgeleitet vom englischen Dialektwort oder , ‚Tumult‘) ist ein alkoholisches Getränk. Er wird aus Melasse des Zuckerrohrs gewonnen, seltener aus frischem Zuckerrohrsaft. Abgewandelte Produkte sind Rum-Verschnitt und Inländer-Rum. Der Mindestalkoholgehalt beträgt 37,5 Volumenprozent.
Rum wird in der Karibik, in Mittelamerika, Südamerika sowie den Philippinen, Australien, Madagaskar, Mauritius, Indien, Réunion, den Kanaren, Kap Verde und in einigen anderen Ländern produziert.
In Norddeutschland und Skandinavien beruht die frühe Popularität von Rum auf den intensiven Handelsaktivitäten der sogenannten dänischen Westindienflotte, die ihren Haupthafen im 18. Jahrhundert in der damals dänischen Rumhandelsstadt Flensburg hatte und durch Handelsschiffe Rum aus der Karibik und insbesondere von den Jungferninseln (Dänisch-Westindien) nach Europa importierte.
Herstellung
Als Ausgangsprodukt für Rum wird in den meisten Fällen Melasse verwendet. Im Gegensatz dazu wird bei der Herstellung von Rhum Agricole oder Cachaça allein frisch gepresster Zuckerrohrsaft als Grundstoff eingesetzt.
Ein Gemisch von Melasse (bei industriellem Rum) oder gehäckseltem Zuckerrohr, Zuckerrohrsaft und Wasser ergibt die Maische. Für eine anschließende Gärung wird die Maische fermentiert und bekommt danach einen Alkoholgehalt von etwa 4 % bis 5 %. Dieser Zuckerwein wird destilliert. Das Destillat hat dann einen Alkoholgehalt von 65 % bis 75 %. Mit destilliertem Wasser verdünnt, erhält man weißen Rum. Die eigentliche Herstellung von Rum ist damit abgeschlossen. Darüber hinaus finden häufig Lagerungen in gebrauchten Holzfässern (wie beispielsweise aus der Whisky-Herstellung) statt, um dem Rum eine eigene Geschmacksnote zu verleihen. Neben dem verwendeten Fass-Typ beeinflusst auch der Ort, an dem der Rum gelagert wird, die Aromatik des Rums. Je höher die Umgebungstemperatur, umso schneller die Reifung, da durch die Hitze die Aromen des Fasses rascher auf das Destillat übergehen. Um weißen Rum besserer Qualität zu erhalten, wird dieser mehrere Monate in Edelstahlfässern gelagert. Erfolgt die Lagerung in Eichenfässern, verliert der weiße Rum Alkohol, nimmt Geschmacksstoffe der Fässer auf und entwickelt dabei eine leicht bräunliche Färbung.
Brauner Rum ist aromatischer als weißer und weist eine eher süßliche Note auf. Ein charakteristischer Aromastoff im Rum ist das Ethylformiat (Ameisensäureethylester), das auch im Arrakaroma vorkommt. Für braunen Rum ohne längere Lagerung wird diesem auch Zuckercouleur oder Karamellsirup zugefügt, um ihm hinsichtlich Geschmack und Färbung den Anschein einer längeren Reifung in Holzfässern zu geben.
Verbrauchsfertig werden die verschiedenen Rumsorten mit destilliertem Wasser auf meistens 40 %, 50 % oder 55 % Alkoholgehalt verdünnt. Vor der Abfüllung in Flaschen wird der Rum teilweise mit Zucker versetzt, um eine stärkere Süße zu erreichen.
Bezeichnungen
Original Rum – importierter originaler Rum, unverändert verkauft (bis zu 74 %).
Echter Rum – wie Original Rum, hier jedoch mit Wasser auf Trinkstärke (min. 37,5 %) herabgesetzt.
Overproof Rum – Rum mit einem Alkoholgehalt über 57,15 %, wird hauptsächlich zum Mixen von Cocktails verwendet.
Blended Rum – Mischung verschiedener Original-Rums.
Rhum Agricole – Rum sogenannter ‚landwirtschaftlicher Herstellung‘, der auf den französischen Antillen (Martinique, Guadeloupe) und auch auf Haiti, in Französisch-Guayana und im Indischen Ozean auf Réunion und Mauritius produziert wird. Er unterscheidet sich von normalem Rum vorrangig durch seine Herstellung aus frischem Zuckerrohrsaft und hat nur einen Anteil von etwa 3 % an der gesamten Rumproduktion.
Rum-Verschnitt – Mischung aus Rum und neutralem Industriealkohol aus anderen Rohstoffen. In Deutschland müssen mindestens 5 % des Alkohols im Fertigerzeugnis aus Rum stammen.
Kunst-Rum, in Österreich: Inländer-Rum – wird seit 1. Januar 1999 nur noch aus Zuckerrohr gewonnenem Rumalkohol und Aroma hergestellt mit üblicherweise 38 % eines der zahlreichen Fabrikate. In Deutschland synonym für den Inländer-Rum ist der Stroh Rum mit auch 60 % und 80 %.
Flavoured Rum – in entsprechendem Extraktionsverfahren aromatisierter Rum, mindestens 37,5 % – bei geringerem Alkoholanteil als „Spirituose“ beziehungsweise „Likör auf Rumbasis“ bezeichnet (Beispiele: Captain Morgan Spiced Gold oder Bacardi Oak Heart; Beispiel für echten Flavoured Rum: Clement Orange).
Rum-Aroma – enthält keinen Alkohol, erinnert in Geruch und Geschmack an braunen Rum. Es besteht aus Carbonsäureestern und weiteren Aromen.
Qualität
Guter Rum zeichnet sich im Gegensatz zu den meisten anderen Zuckerrohrbränden durch eine lange Reifung in Holzfässern aus, ähnlich Whisky oder Cognac. Je länger das Destillat im Holzfass reift, desto abgerundeter erscheint sein aromatisches Geschmacksbild. Ein Nebeneffekt ist die erst gelbliche, dann braune Färbung, die das zunächst farblose Destillat dabei annimmt. Allerdings sollte man sich von der Farbe nicht täuschen lassen. Viele Hersteller färben ihren Rum nachträglich mehr oder weniger stark mit Zuckercouleur (beispielsweise Bacardi Black), angeblich um eine gleichbleibende Färbung zu garantieren. Beabsichtigt ist wohl eher, dem mit diesem Zusatz nachträglich durchgehend dunkler gefärbten Produkt den Anschein einer längeren Reifung in Holzfässern zu geben. Andererseits kann auch farbloser „weißer“ Rum eine Zeit lang in Edelstahlfässern gereift sein (typisch: 6–30 Monate). Falls in Eichenfässern gereift, entziehen ihm einige Hersteller durch Filtrierung die Farbe.
Besonderheiten
Martinique-Rum: ein ‚Rhum Agricole‘ von der Insel Martinique. Für dieses französische Übersee-Département gibt es das Dekret vom 5. November 1996, nach dem ein „Rhum Vieux Agricole“ mit Appellation d’Origine Contrôlée (AOC) hergestellt werden kann. Folgende Qualitätsstufen sind festgelegt:
Weißer Rum (Rhum Agricole AOC blanc) muss mindestens 3 Monate in Edelstahlfässern gelagert werden, um Sauerstoff aufzunehmen und um sich zu homogenisieren.
AOC (rhum paille oder rhum ambré) muss mindestens 1 Jahr in Eichenfässern lagern.
Mindestens drei Jahre gelagerter Rum wird „alter Rum“ (rhum vieux agricole) genannt. Es gibt folgende drei Qualitätsstufen:
VO mindestens 3 Jahre in Eichenfässern gelagert
VSOP mindestens 4 Jahre in Eichenfässern gelagert
XO mindestens 6 Jahre in Eichenfässern gelagert.
Darüber hinaus gibt es Rum „hors d'age“, der meistens 10 Jahre und länger gelagert ist. Eine Flasche Rum dieser Jahrgangssorten kann leicht mehrere 100 € kosten.
Jamaika-Rum zeichnet sich durch einen sehr kräftigen, würzigen Geschmack aus, der manchmal als scharf empfunden wird. Minderwertige Qualitäten sind wegen dieser Geschmacksintensität pur fast nicht trinkbar und werden in der Regel mit Wasser (Grog) oder anderem Alkohol gemischt (verschnitten). Höherwertige Brände werden in Cocktails oder auch pur genossen.
Flensburger Rum-Verschnitt – braune Mischung aus Rum, Wasser und Neutralalkohol, die mindestens 5 % des enthaltenen Alkohols aus Original-Rum enthält. Der Alkoholgehalt muss mindestens 37,5 % betragen (meist 40–42 %). Er beruht auf der Tradition alter Flensburger Rumhandelshäuser (Flensburg gehörte lange Zeit zum Einflussgebiet Dänemarks. Der Einfluss Dänemarks rührt daher, dass der dänische König Christian I. 1460 zum Herzog von Schleswig und Grafen von Holstein gewählt wurde.), den aus Dänisch-Westindien importierten Jamaika-Rum mit Monopolalkohol und Wasser auf Trinkstärke zu verschneiden, da im 18. Jahrhundert ein hoher Einfuhrzoll auf importierte Spirituosen erhoben wurde. Der Jamaika-Rum war dazu besonders wegen seines intensiven Geschmacks geeignet. Dieser zuerst von Flensburger Rumhäusern wie beispielsweise Pott, Balle, Hansen, Asmussen und Johannsen angewendete Rum-Verschnitt ist bis heute als Jamaika-Rum-Verschnitt auch bei anderen deutschen Rumhäusern gang und gäbe.
Als „Tschechischer Rum“ wurde früher ein aus Zuckerrüben gewonnener Brand bezeichnet. Nach dem EU-Beitritt Tschechiens heißt dieses Getränk nunmehr Tuzemak anstatt Rum.
Geschichte
Entwicklung der Spirituose
Rum entstand im 17. Jahrhundert als Abfallprodukt des Zuckerrohranbaus, der Entstehungsort ist nicht ganz sicher. Die britische Kolonie Barbados wird am häufigsten als Entstehungsort genannt. Mögliche Ursprungsorte der Rumherstellung sind jedoch auch die spanischen Kolonien Hispaniola oder Kuba, eine der französischen Kolonien in der Karibik oder die portugiesische Kolonie an der Ostküste Brasiliens. In der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts war Rum in all diesen Kolonien anzutreffen. Sehr früh wurde Rum auch in kleinen Mengen exportiert. Zu den ersten Berichten von Rum gehört eine Erwähnung durch den britischen Seekapitän John Josselyn, der im September 1639 von einem Dinner auf einem Schiff vor der Küste des heutigen Maine berichtete, bei dem ihm ein anderer Kapitän mit Rum zuprostete.
Die erste urkundliche Erwähnung fand das Getränk um 1650 als (engl. etwa: ‚großer Tumult‘) sowie am 8. Juli 1661 durch den Gouverneur von Jamaika. Gesetze, die den Verkauf von lokal hergestellten Spirituosen regelten, gibt es auf Bermuda seit 1653, in Connecticut seit 1654 und Massachusetts seit 1657. Zumindest bei den auf Bermuda hergestellten Spirituosen handelte es sich dabei mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit um einen Alkohol, der aus Zuckerrohr hergestellt war. Bereits 1667 wurde dieses Getränk (kastilisch) bzw. (französisch) genannt.
Die Entwicklung des Rums ist eng verbunden mit dem Zuckerrohranbau. Zucker stellte im 17. Jahrhundert ein so wertvolles landwirtschaftliches Produkt dar, dass das Vermögen der zuckeranbauenden Plantagenbesitzer auf der kleinen Insel Barbados das der übrigen Kolonialisten in Nordamerika um ein Mehrfaches übertraf. Bridgetown, die Hauptstadt von Barbados, war größer und wohlhabender als Manhattan. Bei der Herstellung des Zuckers fiel Melasse als Nebenprodukt an. Das Verhältnis von Melasse zu Zucker variierte mit dem Herstellungsprozess, gewöhnlich entfiel auf zwei Kilogramm verkaufsfähigem Zucker etwa ein Kilogramm Melasse. Für dieses Nebenprodukt gab es zum Beginn des Zuckeranbaus kaum eine Verwendung. Anfangs wurde der größte Teil der Melasse vernichtet. Die Herstellung von Alkohol aus diesem Abfallprodukt war eine der Möglichkeiten, dieses Nebenprodukt der Zuckerherstellung zu verwerten. Bereits 1652 sprach ein Besucher davon, dass auf ganz Barbados Rum hergestellt wurde. Dokumente für den Verkauf einer Plantage erwähnen beispielsweise 1658 vier große Zisternen für die Aufbewahrung von Rum. Auf Barbados befindet sich auch die älteste noch betriebene Rumbrennerei. Unterlagen legen nahe, dass an der Stelle der heutigen Brennerei Mount Gay bereits seit 1663 Rum hergestellt wird. Urkundlich gesichert ist die Existenz dieser Brennerei seit dem 20. Februar 1703. Im Vergleich dazu datiert die älteste kontinuierlich operierende schottische Brennerei aus den 1780er Jahren und die älteste registrierte US-amerikanische Whiskey-Brennerei aus den 1860er Jahren. Der Bau von Brennereien war teuer, die hohen Profite aus dem Zuckeranbau erlaubte den Plantagenbesitzern jedoch in die neueste Technologie zur Alkoholherstellung zu investieren und auf diese Weise auch Melasse in ein gewinnträchtiges Produkt zu verwandeln. Noch im Jahre 1776 schrieb der Nationalökonom Adam Smith in seinem Werk The Wealth of Nations, dass ein Zuckeranbauer erwarten könne, mit dem Verkauf von Rum und Melasse seine Produktionskosten zu decken. Der beträchtliche Erlös aus dem Zuckerverkauf stellte fast vollständig seinen Reingewinn dar.
Rum wird zum Exportgut
Erste Exporte von Rum gab es bereits 1638. Die geschätzten 4 Millionen Liter Rum, die um 1655 auf Barbados produziert wurden, wurden jedoch fast ausschließlich auf der Insel und angrenzenden Kolonien europäischer Siedler konsumiert. Selbst 1698 betrug der Export nach England noch nicht einmal 1000 Liter. Die geringe Exportmenge nach Europa hängt möglicherweise mit der geringen Qualität des Produktes zusammen. Besucher der Karibik beschrieben den Geschmack in den ersten Jahrzehnten dort produzierten Rums durchgängig als unangenehm. Allmählich entwickelte sich jedoch eine Nachfrage unter den Kolonialisten auf dem nordamerikanischen Festland. Um 1730 exportierte Barbados bereits mehr als 3 Millionen Liter dorthin. Zweitwichtigster Exporteur war Antigua mit knapp 1,1 Millionen Liter.
Rum auf dem nordamerikanischen Kontinent
Um 1750 hielt der schwedische Naturforscher Peter Kam fest, dass nordamerikanische Kolonialisten Rum als gesünder betrachteten als Spirituosen, die aus Getreide oder Trauben gebrannt wurden. Besonders geschätzt wurde Rum aus Barbados, Antigua, Montserrat und Grenada. Rum spielte im 18. Jahrhundert auch beim Handel mit den indigenen Völkern Nordamerikas eine große Rolle. Ein für die Choctaws zuständiger Indianeragent schätzte, dass beim Handel mit diesem im Gebiet der heutigen US-Bundesstaaten Mississippi, Alabama sowie Louisiana lebenden Volk in vier von fünf Fällen Rum eingetauscht wurde. Ein leitender Indianeragent, der für die Beziehungen mit den Indianervölkern im Südosten zuständig war, schätzte, dass jeden Monat rund 45 000 Liter Rum zu den Indianern dieser Region gelangten. Die zunehmende Alkoholabhängigkeit hatte verheerende Folgen für die Überlebensfähigkeit dieser Völker. Little Turtle, einer der bedeutendsten Indianerhäuptlinge seiner Zeit, schätzte zu Beginn des 19. Jahrhunderts, dass 3000 Menschen seines Volkes an den Folgen von Alkohol starben und bat den US-amerikanischen Präsidenten John Adams, den Verkauf von Rum an sein Volk zu untersagen. Bereits 1630 gab es in Massachusetts entsprechende Gesetze und bis zum Beginn des 18. Jahrhunderts folgten fast alle Bundesstaaten dieser Gesetzgebung. Dies geschah selten aus Sorge um das Wohlergehen der Indianischen Völker: Man hielt es für wahrscheinlicher, dass unter Alkoholeinfluss stehende Indianer Siedler angriffen.
Bei den aus Europa stammenden nordamerikanischen Siedlern spielte Rum ebenfalls eine große Rolle. Bier und Wein wurden im 18. Jahrhundert weit weniger verkauft als Rum. Wesentlicher Vertriebskanal waren die überall entstehenden Gasthäuser. Rum wurde dort häufig rein getrunken, häufig aber auch mit Wasser verlängert. „Mimbo“, ein besonders in Pennsylvania populäres Getränk, bestand aus Zucker, Wasser und Rum. Wurde statt Zucker Melasse zum Süßen verwendet, wurde das Getränk „Bimbo“ genannt. Andere Rezepte sahen die Verwendung von Zimt, Nelken und Minze vor oder mischten Rum mit Bier. Zitronen- und Limonensaft wurden ebenfalls häufig verwendet.
Zunehmend wurde Rum direkt auf dem nordamerikanischen Kontinent gebrannt. Berichte über eine Rumdestillerie in Providence, Rhode Island gibt es bereits aus dem Jahre 1684. Es wird geschätzt, dass zum Zeitpunkt des Amerikanischen Unabhängigkeitskrieges rund 50 Prozent dieser Spirituose nicht mehr importiert wurde. Stattdessen wurde allerdings ein großer Teil der benötigten Melasse vor allem aus Jamaika nach Nordamerika transportiert. Anders als auf Barbados hatte sich dort keine Rumindustrie etabliert. Die dortigen Plantagenbesitzer, die fast auf der gesamten Fläche der Insel Zuckerrohr angebaut hatten, mussten die notwendigen Lebensmittel importieren. Ein Handel begann, bei dem Holz, Vieh, Trockenfisch und frische Lebensmittel nach Süden transportiert wurden und die zurückkehrenden Schiffe Melasse geladen hatten. Destillerien entstanden überall dort, wo Melasse entladen und gelagert werden durfte. Boston wurde auf Grund der großen Handelsflotte, die dort ihren Heimathafen hatte, zu einem der bekanntesten Standorte für Rum.
Rum und Piraterie
Aus dem frühen 18. Jahrhundert stammt auch die Assoziation von Rum mit Piraterie: Zu der Beute der zwischen der amerikanischen Ostküste und den Bahamas kreuzenden Piraten gehörten oft Rumfässer, die von der Karibik nach Nordamerika transportiert werden sollten. Blackbeard, einer der bekanntesten Piraten jener Zeit, war auch für seinen ungewöhnlich hohen Rumverbrauch bekannt. Auch heute werben noch einige Rummarken, wie beispielsweise Captain Morgan, mit einer Piratenfigur. Literarische Verewigung fand die Verbindung von Freibeutertum und Rum in Robert Louis Stevensons Roman Die Schatzinsel, der 1881 erstmals gedruckt wurde. Billy Bones, einer der Protagonisten des Romans, verrät den dubiosen Ursprung seines Wohlstands unter anderem durch seinen hohen Rumkonsum.
Noch eindringlicher wird die Verbindung von Rum und Freibeutertum in einem Lied festgehalten, das Billy Bones und später die anderen Piraten immer wieder singen:
Rum und die britische Marine
Im Jahre 1655 wurde erstmals Rum an britische Marine-Angehörige als offizieller Teil der Ration ausgegeben. Trinkwasser und Bier verdarben unter den klimatischen Bedingungen der Karibik schnell, spanische Weine und französischer Brandy waren gewöhnlich Teil der Bordverpflegung. Diese beiden Alkoholika waren jedoch in der Karibik schwer zu beschaffen. Rum war nicht nur verfügbar, sondern gewann auch noch durch die Lagerung in den Holzfässern. Darüber hinaus setzten sich die Plantagenbesitzer der britischen Karibik-Kolonien in Großbritannien für die Verwendung von Rum anstelle von anderen, meist importierten Spirituosen ein. 1779 wurde das Versorgungsamt der britischen Royal Navy offiziell damit beauftragt, den (überwiegend aus Frankreich stammenden) Brandy an Bord britischer Schiffe durch karibischen Rum zu ersetzen. Zu diesem Zeitpunkt war die Verteilung von Rum bereits seit langem üblich. 1740 erteilte der im Bereich der Westindischen Inseln stationierte englische Vize-Admiral Edward Vernon (1684–1757) erstmals den Befehl, den Rum nur noch mit Wasser vermischt auszuteilen. Das Verhältnis, das er festlegte, war dabei ein Teil Rum auf vier Teile Wasser und die Ration wurde auf zwei Austeilungen pro Tag festgelegt. Vernon wollte damit sicherstellen, dass die Matrosen ihre Ration nicht auf einmal tranken und ihren Dienst alkoholisiert verrichteten. Auf Vernons Anweisung geht der Grog zurück, weltweit eines der typischen Seefahrergetränke. Der Name dieses Getränks soll auf Vernons Spitzname „Old Grog“ zurückgehen, da er meist einen warmen Umhang aus Grogram trug, einem groben Stoff aus Seide und Wolle. Bereits im Jahre 1756 war die tägliche Verteilung von mit Wasser gestrecktem Rum im britischen „Naval Code“ festgelegt.
Die zunehmende Bedeutung der Abstinenzbewegung sorgte dafür, dass die Rumrationen über die kommenden Jahrzehnte zunehmend reduziert wurden. Die Seeleute erhielten stattdessen als Ausgleich größere Rationen an Tee, Kakao und Fleisch. Parallel zur Mengenreduktion wurde die Qualität des britischen Marine-Rums zunehmend besser und war eine Mischung aus Rums verschiedener britischer Kolonien.
Die Praxis, an Angehörige der Royal Navy Rumrationen auszuteilen, bestand bis 1970. Zunehmend schien diese Praxis aus der Zeit gefallen: Britische Zeitungen wiesen darauf hin, dass Seeleuten eine Ration ausgeteilt würde, die sie nicht zur Führung eines Fahrzeugs berechtigen würde. Am 31. Juli 1970, dem Black Tot Day, wurde letztmals Rum als offizieller Teil der Verpflegung an die Angehörigen der Royal Navy ausgeteilt.
Marken
Anguilla
Pyrat
Antigua und Barbuda
Cavalier
English Harbour
Australien
Bundaberg
Barbados
Cockspur
Doorly's
Mount Gay
Old Pascas (hochprozentige Abfüllung auch aus Jamaika)
Bermudas
Bacardi
Gosling's
Britische Jungferninseln
Callwood Rum (aus gepresstem Zuckerrohrsaft/ Callwood Rum Distillery auf Tortola)
Brasilien
Ron Montilla
Salinas
Costa Rica
Ron Centenario
Deutschland
Bergwelt Rum (Rum in Bio-Qualität mit Zuckerrohr-Melasse aus der Karibik)
Calico's Crew (Rum aus Panama)
Revolte Rum (aus Melasse von Papua-Neuguinea, in Deutschland mit eigens entwickeltem Hefestamm einem Gärprozess unterzogen und anschließend destilliert)
Oldman Spirits (u. a. auch Blends handverlesener, karibischer Rumsorten aus Schleswig-Holstein)
Dominikanische Republik
Barceló
Bermúdez – (Die älteste Destillerie der Dominikanischen Republik)
Brugal – (nach der Fusion mit der schottischen Edrington Group im Jahr 2008 einer der größten Rumhersteller der Welt)
Macorix
Siboney – (aus dem Hause Barceló)
DonRhon
Punta Cana Club
Cubaney
Quorhum
Columbus – (aus dem Hause Barceló)
Atlantico
Caribe Azul
Matusalem
Conde de Cuba
Ron Hispanola
Viscaya
unhiq XO
Cubanacán – (wird ausschließlich in Frankreich vertrieben)
Ecuador
Tropico
England
Berry Bros.
Lemon Hart (Rum aus Jamaika und Guyana)
Smith & Cross (Pot-Still-Rum aus Jamaika)
Pusser's (Englische Marke, auf verschiedenen Inseln hergestellt – bis 1970 als tägliche Ration an die Seeleute der Royal Navy ausgegeben)
Fidschi
Bounty
Frankreich
Plantation (Rum aus Barbados, Fiji, Grenada, Guadeloupe, Guyana, Jamaika, Kuba, Nicaragua, Panama und Trinidad, abgefüllt von Cognac Ferrand)
Gran Canaria
Arehucas + Artemi – (Hoflieferant des spanischen Königshauses)
Guadeloupe
Domaine de Severin – (auf Basse-Terre)
Longueteau (Rum) (Domaine du Marquisat de Sainte-Marie – auf Basse-Terre)
Karukera (Rum) (Domaine du Marquisat de Sainte-Marie – auf Basse-Terre)
Montebello (Rum) – (auf Basse-Terre)
Bologne (Rum) – (auf Basse-Terre)
Reimonenq (Rum) – (auf Basse-Terre)
Damoiseau (Rum) – (auf Grande-Terre)
Bellevue (Rum) – (auf Marie-Galante)
Bielle (Rum) – (auf Marie-Galante)
Père Labat (Rum) – (auf Marie-Galante)
Grenada
Clarke’s Court
Jack Iron (Carriacou)
Rivers Rum
Westerhall
Guatemala
Botran
Malteco
Ron Zacapa
Guyana
El Dorado
Rhum Saint-Maurice
Haiti
Rhum Barbancourt
Indien
Old Monk
Jamaika
Appleton
Captain Morgan – (weltweit zweitgrößter Hersteller)
Coruba
Hampden
Myers's
Old Pascas
Robinson
Sea Wynde – (Blend aus Potstill-Rums aus Jamaika und Guyana)
Wray & Nephew
Kap Verde
Grogue – (weißer Rum, häufig ungereift, Grogue Velho – brauner Rum)
Kolumbien
Ron Marques Del Valle
Dictador
Ron Viejo De Caldas
Ron de Medellin
Coloma
Kuba
Arecha
Ron Caney
Cubay
Guayabita del Pinar
Havana Club
Legendario
Liberación
Ron Edmundo Dantés
Ron Mulata
Ron Santiago de Cuba
Ron Varadero
Santero
Madagaskar
Dzama
Negrita
Old Nick
Saint Claude
Martinique, von der ursprünglich großen Zahl an Destillerien sind Ende 2006 nur noch sieben verblieben. In allen wird nach den Qualitätsregeln AOC Rhum Agricole Martinique sowohl weißer als auch in Eichenfässern gereifter „alter“ (brauner) Rum in verschiedenen Qualitäten hergestellt. Die sieben verbliebenen Destillerien sind:
Depaz (in Saint-Pierre)
JM (Jean Marie Martin) in Macouba
La Favorite (in Fort-de-France)
La Mauny (in Rivière-Pilote)
Neisson (in Le Carbet)
Simon (in Le François)
Saint James (in Sainte-Marie)
Darüber hinaus gibt es noch viele Rum-Marken, die auf den alten „Habitations“ (Gütern) hergestellt werden. Hierzu wird der destillierte Rum von einer der sieben Destillerien gekauft und in der Habitation in Eichenfässern gereift (weißer Rum in Edelstahlfässern gelagert) und später dort abgefüllt. Bekannte Marken sind:
J. Bally
Clément
Duquesne
Dillon
Le Galion (siehe auch: Habitation Le Galion)
Saint Etienne, auch bekannt unter HSE für Habitation Saint Etienne
Trois Rivieres (Rum)
Mauritius
Chamarel
Creole
Flamboyant
Green Island
Rhum Saint-Aubin
Mexiko
Porfidio
Nicaragua
Flor de Caña
Zapatera
Panama
Abuelo
Calico's Crew
Malecon
Paraguay
Fortín
Peru
Cartavio
Ron Pomalca
Ron Millonario
Philippinen
Don Papa
Tanduay
Puerto Rico
Bacardi – (weltweit größter Produzent, Produktion international)
Ron del Barrilito
Réunion
Charrette
Isautier
Rivière du Mât
Schottland
Cadenhead's (Rum aus Guyana, Jamaika, Kuba, Panama und Trinidad)
Murray McDavid (Rum aus Jamaika, Guyana und Trinidad)
Renegade (Rum aus Barbados, Brasilien, Grenada, Guadeloupe, Guyana, Jamaika, Kuba, Panama, St. Lucia und Trinidad)
Seychellen
Takamaka Rum (von der Insel Mahé)
Singapur
Banks (Blend aus Rums aus Barbados, Guyana, Jamaika und Trinidad und Arrak aus Java)
Spanien
Pujol (Katalonien)
Aldea (La Palma)
Arehucas (Gran Canaria)
Montero (Granada) – eher bekannt als „Palido“
St. Lucia
Bounty
Thailand
Hong Tong
Sang Som
Sang Thip
Mathuros
Mekong
Tonga
South Seas Rum
Marlin Black Label
Port of Refuge Navy Rum
Koza Jamaica Rum
Trinidad und Tobago
Old Oak
Vat 19
Happy Rum
Zaya
Angostura 1919
USA
Cruzan – (U.S. Virgin Islands, vor allem aromatisierte Rums)
Matusalem (Florida, ursprünglich aus Kuba stammend, heute in der Dominikanischen Republik produziert)
Montego Bay
Venezuela
Cacique
Pampero
Santa Teresa
Diplomático (u. a. in Deutschland unter dem Namen Botucal)
La Florida
Veroes
Carupano
Muco
Ocumare
Cañaveral
Vietnam
Sampan („Rhum“ aus Hội An nach der Agricole-Methode aus vietnamesischem Zuckerrohrsaft)
Museum
Deutschland
Flensburg, als einzige historische deutsche Rum-Metropole mit ehemals über 300 Brennereien, verfügt über ein Rum-Museum, das die Herstellung, die Geschichte des Rums und des Deutsch-Dänisch-Westindischen Rum-Handels beschreibt. Ebenfalls interessant sind die Informationen zu Flensburg als ehemals größtem europäischen Rumherstellungs- und Handelsstandort. Das Museum befindet sich im Schifffahrtsmuseum Flensburg, direkt an der Flensburger Schiffbrücke.
Kuba
In der Altstadt der kubanischen Hauptstadt Havanna, der sogenannten La Habana Vieja, gibt es das von der kubanischen Firma Havana Club betriebene Havana Club Rummuseum, das die Geschichte des Rums vermitteln soll. Geführt von Museums-Führern erfährt man alles über die Herstellung von Rum – von der Ernte des Zuckerrohrs, der Destillation, über den Bau der benötigten Eichenfässer bis hin zur richtigen Lagerung. Anschließend können verschiedene Rums verköstigt und in der Havana Club Boutique auch gekauft werden. Nebenan befindet sich die Havana Club Bar, in der man bei traditioneller kubanischer Live-Musik Cocktails und die kreolische Küche genießen kann.
Guadeloupe
Auf dem Karibikarchipel und zugleich französischen Übersee-Département Guadeloupe gibt es zahlreiche Museen, jeweils bei den einzelnen Rumdestellerien (frz. Rhum). So beispielsweise bei der Reimonenq Distillery auf Basse-Terre, der größeren der beiden Hauptinseln.
Siehe auch
Cocktail
Grog
Pharisäer
Literatur
Wayne Curtis: And a Bottle of Rum: A History of the New World in Ten Cocktails. gedruckt: Broadway Books, New York 2006, ISBN 0-307-51285-1 / E-Book: 1st edition, Crown Publishers, New York 2006, ISBN 1-4000-5167-3.
Weblinks
Einzelnachweise
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Q83376
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https://de.wikipedia.org/wiki/Monat
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Monat
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Ein Monat (maskulin, etymologisch verwandt mit Mond) ist eine Zeiteinheit und ein Teil eines Jahres.
Allgemein
Je nach Definition ist ein Monat von unterschiedlicher Dauer:
Die Zeitspanne von 28, 29, 30 oder 31 aufeinanderfolgenden Tagen. Kalender verwenden Monate zur Zeiteinteilung. Dazu ordnen sie einer Zeitspanne von einem Kalendermonat einen Monatsnamen zu; 12 Monate bilden ein Jahr.
Ein Monat ist im astronomischen Sinne als die Zeitspanne eines vollständigen Umlaufs eines natürlichen Satelliten (Trabant) definiert. Im engeren Sinne bezieht sich „Monat“ nur auf den Erdmond: Der Mondmonat dauert je nach Definition zwischen knapp 27⅓ und gut 29½ Tagen.
Eine Übersicht über viele Verwendungen gibt die :Kategorie:Monat
Im Privatrecht gilt in Deutschland ein Monat als Zeitraum von Tag x bis Tag x des Folgemonats. Wenn dieser keinen Tag x hat, endet der Zeitraum mit dem letzten Tag dieses Monats ( Abs. 2 und 3 BGB).
Ein Schwangerschaftsmonat bezeichnet analog zur weiblichen Periode die Spanne von 4 Wochen. In einigen alternativen Kalendersystemen ergeben 13 solcher Wochenmonate ein Jahr.
Im Bankwesen dauert ein Buchungsmonat oder (Ab-)Rechnungsmonat stets 30 Tage, ein Bankjahr dauert demzufolge lediglich 360 Tage.
Mobilfunkanbieter verrechnen die „Monats“grundgebühr entweder
je Kalendermonat oder jeweils am zahlenmäßig gleichen Tag jedes Kalendermonats und damit für unregelmäßig lange Zeitabschnitte von 28, 29, 30 oder 31 Tagen,
oder aber wie beispielsweise HoT (in Österreich) seit einigen Jahren „für 30 Tage“. Das ist gleichmäßig, doch im Jahresmittel um den Faktor 360/365 bzw. 360/366 etwas kürzer.
Das Einheitenzeichen lautet M oder mon.
Der Begriff „Monat“ wird zur Bezeichnung von Zeitspannen im Kalendersystem verwendet:
Sie war im sechsten Monat schwanger (Zeitspanne).
Grundlagen der Kalenderrechnung
Lunationen – bzw. deren Mittelwert, der Synodische Monat – auf der Grundlage gleicher Erdmondphasen bildeten die Grundbausteine der ersten Kalender, welche Lunar- oder Mondkalender waren, und später teilweise zu Lunisolarkalendern weiterentwickelt wurden. Solche Kalender sind auch heute noch in weiten Teilen der Welt gebräuchlich, und beispielsweise der jüdische Kalender, der islamische Kalender und der traditionelle chinesische Kalender bezeichnen weiterhin einen Phasendurchlauf des Mondes als Monat.
Indes liegt in der Zeit eines Sonnenjahres eine unganzzahlige Menge von Mondmonaten, so dass man bei Einführung eines Solar- oder Sonnenkalenders die Länge der Monate entsprechend anpassen musste. Eine solche Bindung der Jahrlänge an die Dauer eines Erdumlaufs um die Sonne und die damit verbundene Trennung der Monate vom Mondlauf erfolgten zuerst im alten Ägypten im Jahre 238 v. Chr. und wurde von Julius Caesar im Jahre 46 v. Chr. auch für die römische Republik übernommen (womit diese Jahre eigentlich sinnvolle Epochen für die Zeitrechnung des juliano-gregorianischen Kalenders wären).
Neben diesem julianischen Kalender und dem ihn ablösenden und heute für die meisten Menschen alltäglichen gregorianischen Kalender sind auch noch einige andere Sonnenkalender in Gebrauch, bei denen ein (Kalender-)Monat als ein bestimmter Teil des Sonnenjahres mit einer festgelegten Anzahl von Tagen definiert wird, beispielsweise der griechisch-orthodoxe Kalender, der koptische Kalender, der zoroastrische Kalender, der iranische Kalender, der Malayalam-Kalender sowie verschiedene südasiatische Kalender.
Da zwölf Mondphasen etwa 354 Tage dauern und damit dieses Mondjahr der Erde kürzer ist als ein Sonnenjahr, fügen viele Lunarkalender in regelmäßigen Abständen einen zusätzlichen Monat ein. Die Details variieren zwischen den Kalendern, bspw. werden nach dem Meton-Zyklus 7 solcher Schaltmonate auf einen Zeitraum von 19 Jahren verteilt. Sie treten in jedem Fall häufiger auf als Schalttage in Solarkalendern.
Im Julianischen und Gregorianischen Kalender wird auch der Februar in Schaltjahren gelegentlich als „Schaltmonat“ bezeichnet.
Heute bezeichnet der Begriff Monat im gregorianischen Kalender nur noch festgelegte Jahresabschnitte, deren Länge von der eines Mondzyklus mehr oder weniger stark abweicht.
Monatsnamen
Da im deutschsprachigen Raum der aus dem Römischen Reich stammende Julianisch-Gregorianische Kalender übernommen wurde, sind auch die heute gebräuchlichen Monatsnamen lateinischen Ursprungs, und die meisten davon lassen sich auf den altrömischen Kalender zurückführen.
Verschiedentlich gab es Versuche, eigene Monatsbezeichnungen einzuführen, im deutschen Sprachraum beispielsweise durch Karl den Großen im 8. Jahrhundert und noch einmal durch den Deutschen Sprachverein in den 1920er Jahren. Diese Bezeichnungen konnten sich aber nicht halten, unter anderem weil das Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda am 23. Oktober 1935 die Presse anwies, sie nicht zu verwenden. Heute spiegeln sie sich nur noch in der Poesie wider (Wonnemonat Mai, der Lenz ist da usw.). Auch die Monatsnamen des französischen Revolutionskalenders, die wie die deutschen Monatsnamen auf Naturphänomenen und Jahreszeiten basierten, konnten sich nicht durchsetzen.
Januar: (Hartung, Eismond, österreichisch wird dieser Monat ausschließlich Jänner genannt, im süddeutschen Sprachraum seltener)Benannt nach Janus, dem Beschützer der Stadttore, Gott des Aus- und Einganges, im übertragenen Sinne des Anfangs und des Endes, dargestellt mit zwei Gesichtern, blickt nach zwei Seiten, nämlich vorwärts und rückwärts. lateinisch ianua „Schwelle“ (zum neuen Jahr).
Februar: (Hornung, Schmelzmond, Taumond, Narrenmond, Rebmond, Hintester, österreichisch auch Feber, schweizerisch auch Horner)Der Reinigungs- bzw. Sühnemonat, weil am Jahresende das Fest Februa zur Reinigung der Lebenden und die Sühnung der Verstorbenen vorgenommen wurde (lat. februare „reinigen“).
März: (Lenzing, Lenzmond)Benannt nach Mars, dem Gott des Krieges und der Vegetation. Im altrömischen Kalender begann das Jahr mit dem März, daraus ergibt sich die Verschiebung der numerischen Monate September bis Dezember und dem Februar als Jahresende. Seit 153 v. Chr. traten in Rom die für ein Jahr gewählten Konsuln ihr Amt jeweils am 1. Januar an, der sich bald als Jahresbeginn einbürgerte.
April: (Launing, Ostermond)Wird abgeleitet von lat. aperire „öffnen“, der Monat der Öffnung bzw. des Aufblühens.
Mai: (Winnemond (Weidemonat: heute zu Wonnemonat umgedeutet, auch Wonnemond), Blumenmond)Nach der römischen Göttin Maia benannt.
Juni: (Brachet, Brachmond)Benannt nach Juno, einer römischen Gottheit, der die meisten Eigenschaften der griechischen Götterkönigin Hera übertragen wurden.
Juli: (Heuet, Heuert, Heumond)Ursprünglich Quintilis, der „fünfte Monat“. Geburtsmonat Caesars (Gaius Julius Caesar). Nach ihm wurde dieser Monat seit 44 v. Chr. Julius genannt.
August: (Ernting, Erntemond, Bisemond)Dies war ursprünglich der sechste Monat, dementsprechend Sextilis genannt, des alten römischen Kalenders. Er wurde zu Ehren des ersten römischen Kaisers Augustus im Jahre 8 v. Chr. in Augustus umbenannt. 21 Jahre später, 14 n. Chr., wurde der August der Sterbemonat seines Namenspatrons. (Die Reihenfolge der Ereignisse scheint sonderbar, aber zumindest die letzte Jahreszahl darf als sicher gelten.)
September: (Scheiding, Herbstmond)Der siebente Monat (lateinisch septem = „sieben“) im römischen Kalender. An diesem und den folgenden Monatsnamen kann man erkennen, dass man mit der Zählung ursprünglich im Monat März begann. Er sollte nach dem Kaiser Tiberius benannt werden.
Oktober: (Gilbhart, Gilbhard, Weinmond)Der achte Monat (lat. octo = „acht“) nach dem römischen Kalender. Auch hier konnte sich die Bezeichnung Domitianus nicht durchsetzen.
November: (Nebelung, Nebelmond, Windmond, Wintermond)Der neunte Monat (lat. novem = „neun“) nach dem römischen Kalender.
Dezember: (Julmond, Heilmond, Christmond, Dustermond)Der zehnte Monat (lat. decem = „zehn“) nach dem römischen Kalender.
Astronomische Definitionen
Der Monat als Periode des Erdmondes auf seinem Umlauf um die Erde.
Lunation Die Zeitspanne von einem Neumond zum nächsten Neumond. Die Lunation ist der eigentliche Anlass für den Monatsbegriff.Sie schwankt durch die komplizierte Mondbewegung zwischen 29 Tagen 6,5 Stunden und 29 Tagen 20 Stunden.
Die folgenden astronomischen Monate beschreiben Mittlere Werte, die daher auf eine Standardepoche (derzeit üblicherweise J2000.0) bezogen sind:
Synodischer Monat Die Zeit zum Wiedererreichen gleicher Elongation des Mondes zur Sonne, der Mittelwert der Lunationen.Dauer 2000.0: 29,53 Tage = 29d 12h 44min 3s
Siderischer Monat Die Zeit für einen Umlauf des Mondes um die Erde in Bezug auf eine feste Richtung im Raum, das ist also eine vollständige Umkreisung relativ zu einem Fixstern.Dauer 2000.0: 27,322 Tage = 27d 7h 43min 12s
Tropischer Monat Die Zeit für einen Umlauf bezogen auf den Frühlingspunkt. Damit bezieht er sich auch auf den Äquator und ist der Zyklus der Deklination des Mondes.Dauer: Durch die Präzessionsdrift des Frühlingspunktes ist er etwa 7 s kürzer als der Siderische Monat.
Drakonitischer Monat Die Periode von zwei Durchgängen durch denselben Mondknoten. Er steht im Zusammenhang mit dem Zyklus der Sonnen- und Mondfinsternisse (Sarosperiode).Dauer 2000.0: 27,21222 Tage = 27d 5h 5min 36s
Anomalistischer Monat Die Zeit zwischen zwei aufeinander folgenden Perigäumsdurchgängen des Mondes, also von einem erdnächsten Punkt zum nächsten. Der Anomalistische Monat beschreibt die eigentliche Bahnperiode des Mondes.Dauer 2000.0: 27,55455 Tage = 27d 13h 18min 33s
In der Astronomie wird allgemein die Zeitspanne zwischen zwei Wiederholungen eines Ereignisses, das mit der Umlaufbahn eines beliebigen Mondes um seinen Planeten zusammenhängt, also jeder vollständige Umlauf, als Monat bezeichnet. Insofern ist der Ausdruck „Monat“ also der Bahnperiode synonym.
Im Sonnensystem dauern diese Zeitspannen je nach Mond von nur wenigen Stunden bis mehrere Erdenjahre.
Kurzformen
Bei häufiger Verwendung oder bei beschränktem Platz werden die Monatsnamen entweder auf drei bis vier Buchstaben gekürzt oder wie Tag und Jahr als Ziffern geschrieben, früher zur Unterscheidung oft auch in großen oder kleinen römischen Ziffern. Bei Varianten mit einheitlich drei Anfangsbuchstaben für die Abkürzungen entfällt der eigentlich obligatorische Abkürzungspunkt häufig, zumal er für den Mai ohnehin nicht nötig ist.
Der nationale Anhang zu DIN ISO 8601 bestimmt Mrz statt Mär als Abkürzung für den März, um Kodierungsprobleme mit dem Umlaut zu vermeiden. Das Deutsche Universalwörterbuch des Duden-Verlags gibt Abkürzungen variabler Länge an. In Österreich wird der erste Monat auch Jän abgekürzt.
Literatur
Johannes Irmscher, Renate Johne (Hrsg.): Lexikon der Antike. VEB Verlag Enzyklopädie, Leipzig 1977.
Karl Weinhold: Die deutschen Monatnamen. Verlag der Buchhandlung des Waisenhauses, Halle 1869 (Volltext).
Jaguar, Zebra, Nerz, Mandrill ..., Geschichten und Bilder für jeden Monat des Jahres, mit Texten von Italo Calvino, Janina David, Günter Bruno Fuchs, Ludwig Harig, Hanna Johansen, Christoph Meckel, Christian Morgenstern, Oskar Pastior, Jack Prelutsky, Eugen Roth, Charles Simic und Isaac Bashevis Singer; mit Zeichnungen von Rotraut Susanne Berner, Quint Buchholz, Wolf Erlbruch, Peter Hassiepen, Tatjana Hauptmann, Susanne Janssen, Julian Jusim, Luis Murschetz, Axel Scheffler, Peter Sis, Anna-Clara Tidholm und Hans Traxler, Carl Hanser Verlag, München/Wien 1994, ISBN 3-446-17738-8.
Siehe auch
Kalenderdatum
Berichtsmonat, in der Statistik
Datumsformat – die Form, in der ein Kalenderdatum schriftlich fixiert wird
Zeitrechnung (Chronologie) – die zyklische sowie die lineare Strukturierung der Zeit
Monatsläufer
Einzelnachweise
Zeiteinheit
Astronomische Größe der Zeit
Zeitraum
|
Q5151
| 1,534.311876 |
127372
|
https://de.wikipedia.org/wiki/Alveolar
|
Alveolar
|
In der Phonetik beschreibt alveolar einen Artikulationsort eines Lautes. Ein Alveolar wird mit der Zunge am oberen Zahndamm (dem Wulst hinter den oberen Schneidezähnen), dem Alveolarfortsatz, gebildet.
Deutsche Alveolare (Zahndammlaute) können wie folgt näher beschrieben werden:
koronal-dental-alveolar (Zungenblatt gegen Zähne und Zahndamm):
Verschlusslaute
wie in Tag
wie in Dach
wie in Name
Frikative
wie in groß
wie in Sahne
Affrikaten
wie in Katze
koronal-alveolar (Zungenblatt gegen Zahndamm):
Frikative
wie in Schule
wie in Journal
apikoalveolar (Zungenspitze gegen Zahndamm):
Vibrant
wie in span. raro ‚selten‘, hierro ‚Eisen‘, cantar ‚singen‘
Affrikaten
wie in Kutsche
wie in Dschungel
Literatur
John Clark, Collin Yallop, Janet Fletcher: An Introduction to Phonetics and Phonology. 3. Auflage. Blackwell Textbooks in Linguistics, Wiley-Blackwell, 2006.
T. Alan Hall: Phonologie: Eine Einführung. De Gruyter Studienbuch, de Gruyter, Berlin / New York 2000, ISBN 3-11-015641-5.
Peter Ladefoged, Ian Maddieson: The Sounds of the World’s Languages. Blackwell, Oxford 1996, ISBN 0-631-19814-8.
Weblinks
Phonetik und Phonologie. Kapitel 1–9. Universität Bremen
International Phonetic Association
Einzelnachweise
Artikulationsort
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Q49749
| 504.284214 |
17704
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https://de.wikipedia.org/wiki/Elektromagnet
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Elektromagnet
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Ein Elektromagnet besteht aus einer Spule, in der sich infolge eines elektrischen Stromes ein magnetisches Feld bildet.
In der Spule befindet sich meist ein offener Eisenkern, der das Magnetfeld führt und verstärkt. Die Erfindung des Elektromagneten gelang dem Engländer William Sturgeon im Jahre 1826. Erstmals nachgewiesen wurde die elektromagnetische Wirkung 1820 von dem dänischen Physiker Hans Christian Ørsted.
Wirkprinzip
Ein stromdurchflossener Leiter verursacht ein Magnetfeld in seiner Umgebung (Entdeckung durch Hans Christian Ørsted 1820).
Die Richtung der magnetischen Feldlinien einer einzelnen Windung der Spule lässt sich mit der Korkenzieherregel, auch Rechte-Hand-Regel, bestimmen: Wird der Leiter so von der Hand umfasst gedacht, dass der abgespreizte Daumen in die Richtung vom Plus- zum Minuspol (technische Stromrichtung) zeigt, dann zeigen die Finger die Richtung der Feldlinien des Magnetfeldes an. Die Felder der einzelnen Windungen summieren sich zu einem den Wicklungsquerschnitt umlaufenden Gesamtfeld. Die Feldlinien verlaufen ebenso wie bei einer einzelnen Windung (alle Stromrichtungen der Windungen sind gleichsinnig!) und verlassen den Eisenkern – dort bildet sich der magnetische Nordpol. Alle Feldlinien treten am magnetischen Südpol wieder in den Eisenkern ein.
Die Magnetfeldlinien konzentrieren sich im Inneren der Spule. Die magnetische Flussdichte ist im Zentrum der Spule am höchsten. Außerhalb der Spule ist die magnetische Flussdichte geringer, sie nimmt mit der Entfernung schnell ab, so dass Elektromagnete nur in geringen Entfernungen eine große Wirkung haben.
Soll Arbeit verrichtet werden, muss der Magnetfeldkreis ferromagnetisch und inhomogen sein, das heißt, eine Unterbrechung im Eisenkern enthalten, welche durch die Arbeit verkleinert werden soll.
Die Lenzsche Regel besagt sinngemäß, dass eine Kraft oder Bewegung so gerichtet ist, dass sie ihrer Ursache – in diesem Fall dem Stromfluss – entgegenwirkt. Folglich ist ein Magnetkreis um eine stromdurchflossene Spule bestrebt, seinen magnetischen Widerstand zu verringern und auch Luftspalte zu schließen: Dadurch erhöht sich die Induktivität, und in der Spule wird eine Spannung induziert, die die gleiche Polarität wie die Speisespannung hat – der Strom verringert sich während des Zueinander-Bewegens der Eisenteile des Magnetkreises.
Eisenteile des Magnetkreises bestehen aus einem Joch (feststehender Teil) und beweglichen Teilen wie Zuganker, Klappanker oder zu transportierenden Eisenteilen (Magnetkran).
Theorie
Das Magnetfeld eines jeden stromdurchflossenen Leiters ist durch das Biot-Savart-Gesetz gegeben. Für eine lange elektromagnetische Spule der Länge l {Maßeinheit: m (Meter)} und der Windungszahl n {ohne Maßeinheit}, durch die ein Strom I {Maßeinheit: A (Ampère)} fließt, berechnet sich die magnetische Feldstärke H {Einheit: A/m} im Inneren zu
bzw. die magnetische Flussdichte B {Maßeinheit: T (Tesla)} zu
.
Dabei ist μ0 die magnetische Feldkonstante und μr die relative Permeabilität des von der Spule umschlossenen Raumes. Im Vakuum ist definitionsgemäß μr=1, und auch in Luft ist der Wert von μr sehr nahe bei Eins; in ferromagnetischen Materialien hingegen kann μr Werte zwischen 4 und 15.000 bis zum Erreichen der materialabhängigen magnetischen Sättigung annehmen.
Bauformen und Besonderheiten
Zug-, Klappanker- und Haltemagnete
Sie dienen der Betätigung (Zug-, Druck- und Klappankermagnete), als Kupplung oder zum Transport. Sie unterscheiden sich durch die Ankerform:
Zug- und Druckmagnete besitzen stabförmige Anker
Schütz-Betätigungsspulen besitzen I- oder T-förmige Anker und entsprechend ein E-förmiges Joch
beim Klappanker (siehe auch Klappanker-Relais) schwenkt ein abgewinkeltes Ankerblech um eine der Kanten des Jochs
bei Kupplungsmagneten (Magnetkupplung) ist der Anker eine Scheibe
Halte- und Transportmagnete verwenden das Transportgut als „Anker“. Beispiele sind auch Magnetscheider und Magnetkran.
Mit Gleichspannung betriebene Magnete besitzen eine stark nichtlineare Kraft-Weg-Kennlinie bei Annäherung des Ankers an das Joch. Berühren sich beide, ist die Kraft am größten. Mit der Entfernung sinkt sie nahezu hyperbolisch ab. Ursache ist die mit der Verringerung des Luftspaltes ansteigende magnetische Flussdichte. Die zu Beginn des Anziehens geringe Kraft macht sie ungeeignet für Einsatzfälle, die sofort eine große Kraft benötigen. Auswege sind:
überhöhte Spannung als Anzughilfe
konstruktive Gestaltung der Magnetpole (Anker und Joch):
Andrehungen vergrößern die Kraft auch bei großen Hüben
Proportionalmagnete (zum Beispiel für Proportionalventile) besitzen einen bei kleiner werdendem Abstand wirksam werdenden magnetischen Nebenschluss
Anders ist das bei Wechselspannung: Hier bewirkt die bei großem Luftspalt verringerte Induktivität einen erhöhten Stromfluss beim Anziehen. Wechselstrom-Zugmagnete (oder auch Relais- und Schützspulen) haben daher bereits zu Beginn des Anziehens eine große Kraft.
Um die Kraft bei Wechselstrom-Zugmagneten während der Strom-Nulldurchgänge aufrechtzuerhalten, setzt man Kurzschlusswindungen wie bei einem Spaltpolmotor ein – diese erzeugen in einem Teil des Magnetkreises ein phasenverschobenes Magnetfeld. Eine weitere Möglichkeit sind Drehstrom-Zugmagnete, diese erfordern jedoch drei separate Schenkel von Joch und Anker.
Beim Abschalten des Stroms können durch Selbstinduktion Überspannungen entstehen, die wiederum Funken oder Lichtbögen hervorrufen. Diese können zur Zerstörung des Schalters führen. Als Abhilfe werden bei Gleichstrom Schutzdioden, bei Wechselstrom Varistoren sowie diskret antiseriell geschaltete Z-Dioden (bzw. integrierte Leistungs-Suppressordioden) und – oder in Kombination mit – Boucherotgliedern eingesetzt.
Relais, Schaltschütz
Elektromechanische Relais sind meistens mit einem Klappankermechanismus aufgebaut, der über einen Hebel den oder die Kontakte betätigt. Relais werden mit Gleich- oder Wechselstromspulen gebaut.
Ein Schaltschütz benutzt zumeist Tauchanker-Elektromagnete für Gleich- oder Wechselstrom. Die Anzugskräfte zum Kontaktschluss sind wesentlich größer als bei Relais, weshalb die Elektromagnete dafür größer sind als bei Relais.
Tauchspulmagnete
Tauchspulen können auch in Zug- und Druckmagneten verbaut sein. Ein üblicher englischer Begriff ist auch voice coil, weil Mikrofone oder Lautsprecher damit gebaut werden. Entweder ist auch eine Parallelführung vorhanden oder der Anwender muss durch die Konstruktion selbst eine Führung der Spule im Dauermagnet gewährleisten. Bei Tauchspulmagneten bewegt sich wie beim elektrodynamischen Lautsprecher eine Spule (Zylinderspule) im Luftspalt eines Dauermagneten durch die Lorentzkraft. Sie weisen gegenüber den oben beschriebenen Bauformen eine nahezu lineare Kraft/Weg-Kennlinie auf (je nach den nichtlinearen Randbedingungen der technischen Umsetzung). Die bewegte Masse ist gering, daher ist die Dynamik hoch. Die erreichbare Kraft pro Masse ist jedoch geringer.
Tauchankermagnete
In Schaltschützen werden zum Schließen der Kontakte größere Kräfte als bei Relais benötigt, weshalb man dafür Elektromagnete benutzt, die einen Eisenkern in die feststehende Spule hineinziehen. Diese werden sowohl für Gleich- als auch für Wechselstrombetrieb gebaut.
Magnetspulen
Elektromagnete mit und ohne Joch, jedoch ohne bewegte Anker oder ähnliches werden meist nicht als Elektromagnet bezeichnet. Relevante Begriffe sind Solenoid (Zylinderspule), Helmholtz-Spule, Ablenkmagnet, Dipolmagnet.
Scheibenwindungen
Hohe Flussdichten auch ohne Supraleitung lassen sich durch Magnete erreichen, bei denen jede Spulenwindung aus einer geschlitzten Scheibe aus Kupfer besteht. Eisenkerne können nicht verwendet werden, weil sie schon bei 2 Tesla in Sättigung gingen. Die mittige Lochung dient zur Aufnahme der Probe.
Die nächste Platte wird durch eine Isolationszwischenschicht elektrisch getrennt und bildet so die nächste Windung.
Die außen radial eingebrachten Bohrungen (Bild rechts) dienen zur Aufnahme von Montagebolzen, darüber hinaus sind über die Fläche verteilt viele kleine Bohrungen eingebracht, durch welche Kühlflüssigkeit strömt. Wegen des kürzeren Stromweges auf dem kleineren Kreisumfang im Inneren treten dort höhere elektrische Stromdichten auf, daher sind dort mehr Bohrungen pro Fläche vorhanden als außen.
Die Platten werden zu einem Plattenstapel zusammengesetzt, der etwa gleich hoch wie breit ist. Solche Magnete heißen auch Bittermagnet, die Scheiben Bitter disk. Sie wurden 1933 vom amerikanischen Physiker Francis Bitter erfunden.
Bei Scheibendurchmessern von ca. 40 cm, Bohrungsdurchmessern von ca. 5 cm, Scheibendicken von ca. 2 mm, Stromstärken bis 20 kA, Scheibenzahlen von 250 und großem Aufwand an Wasserkühlung lassen sich z. B. Flussdichten bis 16 Tesla erreichen; bei einem Bohrungsdurchmesser von 3 cm bis zu 19 Tesla. Der elektrische Leistungsbedarf erreicht hierbei 5 MW (ca. 1 V je Windung).
Mit solchen Magneten werden die Flussdichte-Rekorde bei künstlichen kontinuierlichen Magnetfeldern gehalten. Es sind dies 37,5 T im High Field Magnet Laboratory (HFML) in Nijmegen (32 mm Bohrung). Mit supraleitenden Magneten lassen sich solche Flussdichten nicht erreichen – die Sprungtemperatur sinkt mit dem Feld ab und bei der kritischen Feldstärke bricht die Supraleitung zusammen. Jedoch sind kombinierte Anlagen in Betrieb (Hybridmagnete), bei denen im Inneren eines supraleitenden Magneten ein Bittermagnet platziert ist. So wird im National High Magnetic Field Laboratory in Florida/USA mit derzeit 45 T das stärkste künstliche kontinuierliche Feld der Welt erreicht. Dazu befindet sich eine 33,5 Tesla starke Scheibenmagnetspule (Bohrung 32 mm) in einem 11,5 Tesla liefernden supraleitenden Magnet. Der Leistungsbedarf beträgt 30 MW.
Pulsbetrieb
Im Impulsbetrieb können dank der Wärmekapazität des Spulenwerkstoffes kurzzeitig hohe Flussdichten erreicht werden, ohne dass die Wärmeleistung sofort weggekühlt werden muss (Integral der Stromwärme über die Zeit). Zur mechanischen Stabilität müssen solche Spulen mechanisch stabilisiert werden. Dazu dienen u. a. Faserverbundwerkstoffe, Spulendrähte aus hochfesten Werkstoffen wie kupferplattiertem Stahl oder Berylliumbronze sowie äußere Bandagen aus Stahlband. Die Strompulse werden durch Kondensatoren bereitgestellt. Die Pulsdauern ergeben sich aus der Wärmekapazität und der Festigkeit und betragen einige Millisekunden. Siehe auch Gaußgewehr.
Solche, mit flüssigen Stickstoff heruntergekühlte, wiederverwendbare Pulsmagnetspulen sind für Hochfelduntersuchungen bis etwa 100 Tesla realisierbar und werden unter anderem am Institut Hochfeld-Magnetlabor Dresden entwickelt und erprobt.
Pulsmagnetspulen werden unter anderem auch zur Magnetumformung genutzt. Hier sind die Felder jedoch gedämpfte Schwingungen mit Frequenzen im zweistelligen kHz-Bereich, die Pulsdauern betragen weniger als 100 µs.
Bei Experimenten mit magnetischen Flussdichten von einigen tausend Tesla zu wissenschaftlichen Zwecken wird oft hingenommen, dass die Spulen bei jedem Versuch mechanisch oder thermisch zerstört werden. Eine zusätzliche Steigerung der Flussdichte kann bei gleichzeitiger Komprimierung der Spule bzw. des Feldes mittels Sprengladungen erreicht werden; siehe auch Flusskompressionsgenerator oder im Kapitel Impulstechnik bei Sacharow, dem Erfinder des Flusskompressionsgenerators.
Eigenschaften von Betätigungsmagneten
Anwendungen
1. Spule mit ferromagnetischem Kern (meist aus Eisen)
Betätigungsmagnete von Relais und Schützen
Türöffner-Magnet, Magnete in Summern und Tür-Gongs
seit 1885, eingeführt von Julius Hirschberg, in der Augenheilkunde
Magnetkupplungen (in Vakuumpumpen oder Klimakompressoren im Kfz) und Bremsen (mit Rückstellfeder in Rasenmähern und an Kranen)
Zugmagnete, Schubmagnete
Hubmagnete (Magnetkran in Stahlwerken)
Magnetschienenbremse bei Schienenfahrzeugen
Magnete, um Weichen von Schienenfahrzeugen zu stellen
Wechselstrom-Magnete in Membranpumpen oder Dosierpumpen (Luftpumpe für Aquarien, Additive oder Kraftstoffe) und Schwingförderern
Erregerfeld-Erzeugung in Elektromotoren (wie im Staubsauger) und Generatoren (Kfz-Lichtmaschine, Kraftwerk)
Separatoren zur Stofftrennung „ferromagnetisch“ / „nicht ferromagnetisch“ (Magnetscheider, zur Müllsortierung)
Ablenkmagnete in Teilchenbeschleunigern für geladene Teilchenstrahlen
Ablenkspulen- und Fokussiermagnete (Elektronenmikroskop, Elektronenstrahlschweißen, Bildröhren)
Elektromagnetisch betätigte Einspritzinjektoren bei Dieselmotoren mit dem Einspritzverfahren Common-Rail
Mit Magnetfiltern (überwiegend Elektro-Magnetfilter) werden ferromagnetische Feststoffe (feinverteilte Eisenoxide) aus den Umlaufkondensaten von Kraftwerken und den Umlaufwässern von Fernheiznetzen abfiltriert.
2. Spule ohne ferromagnetisches Kernmaterial
Felderzeugung für Wanderfeldröhren
Induktor für Induktionsöfen und induktive Erwärmung
Betätigungsspule für Reedkontakte
supraleitende Magnete in Kernspinresonanz-Tomografen und zur Forschung, so in Kernfusionsreaktoren auf Basis der Fusion mittels magnetischen Einschlusses
ungekühlte Magnetspulen für Hochfeld-Untersuchungen (nur Impulsbetrieb – oft muss die Spule nach jedem Experiment erneuert werden)
hochfeste Spulen zur Magnetumformung sowie zum Schweißen, Fügen und Schneiden von Metallen mit starken, gepulsten Wechselfeldern
Bittermagnet (nach Francis Bitter)
Helmholtz-Spulen, daraus entwickelte Fanselau-Spulen und weiter verbesserte Braunbek-Spulen und -systeme zur Erzeugung von homogenen magnetischen Gleichfeldern und niederfrequenten Wechselfeldern
Siehe auch
Liste elektronischer Bauteile
Electro-magnetische-Polka
Literatur
Klaus D. Linsmeier, Achim Greis: Elektromagnetische Aktoren. Physikalische Grundlagen, Bauarten, Anwendungen. In: Die Bibliothek der Technik, Band 197. Verlag Moderne Industrie, ISBN 3-478-93224-6.
Günter Springer: Fachkunde Elektrotechnik. 18. Auflage, Verlag – Europa – Lehrmittel, Wuppertal 1989, ISBN 3-8085-3018-9.
Horst Stöcker: Taschenbuch der Physik. 4. Auflage, Verlag Harry Deutsch, Frankfurt am Main 2000, ISBN 3-8171-1628-4.
Das große Buch der Technik. Verlag für Wissen und Bildung, Verlagsgruppe Bertelsmann GmbH, Gütersloh 1972.
Kallenbach, et al. (2008): Elektromagnete. 3. Auflage, Vieweg + Teubner Verlag, Wiesbaden, ISBN 978-3-8351-0138-8.
Greg Boebinger, Al Passner, Joze Bevk: Elektromagnete höchster Leistung. Spektrum der Wissenschaften, März 1996, S. 58–63.
Weblinks
Präsentation der TU Dresden (PDF-Datei, 8,2 MB, abgerufen am 30. Juni 2011)
Einzelnachweise
Elektrogerät
Magnetismus
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Q178032
| 84.750311 |
13230
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https://de.wikipedia.org/wiki/Arbeitnehmer
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Arbeitnehmer
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Arbeitnehmer, in Österreich auch unselbständig Beschäftigte oder Dienstnehmer, in der Schweiz Mitarbeitende, sind natürliche Personen, die im Rahmen eines Arbeitsverhältnisses aufgrund eines Arbeitsvertrags verpflichtet sind, ihre Arbeitskraft weisungsgebunden gegen Arbeitsentgelt ihrem Arbeitgeber zur Verfügung zu stellen.
Allgemeines
Arbeitnehmer ist, wer im Wesentlichen persönlich abhängig arbeitet und hinsichtlich Arbeitszeit, Arbeitsort oder Arbeitsinhalt Weisungen unterworfen ist. Arbeitnehmer gibt es dort, wo Arbeitgeber vorhanden sind. Arbeitnehmer und Arbeitgeber sind deshalb Komplementärbegriffe, mit denen das Arbeitsverhältnis und der Arbeitsvertrag erst funktioniert. Arbeitnehmer sind Personen, die eine Arbeitstätigkeit wahrnehmen und dabei von den Anordnungen eines Arbeitgebers abhängig sind. Arbeitnehmer stellen ihre Arbeitskraft zwecks Erbringung einer Arbeitsleistung zur Verfügung und erhalten vom Arbeitgeber hierfür als Gegenleistung das Arbeitsentgelt.
Die Arbeitnehmer ergänzen sich mit den Selbständigen und den mithelfenden Familienangehörigen zur volkswirtschaftlichen Kennzahl der Erwerbstätigen.
Wortherkunft
Bis in die zweite Hälfte des 18. Jh. wurden im deutschen Sprachraum die abhängig Beschäftigten als Gesinde, Dienstbothen, Dienstgesind etc. bezeichnet. Ihre Auftraggeber und Herren waren die Herrschaft, Hausvater, Dienstherr, Diensthälter oder Gesindhälter. Es gab eine Vielzahl unterschiedlicher Rechtsverhältnisse. Die Neugestaltung und Vereinheitlichung des Dienstrechts erforderte neue, umfassende Begriffe. Im Zusammenhang mit Dienstverhältnissen wurde nun der Begriff „Dienstvertrag“ eingeführt. Im deutschsprachigen Teil der K.u.K. Monarchie Österreich-Ungarn wurden um 1800 die Vertragsparteien erstmals als „Dienstgeber“ und „Dienstnehmer“ bezeichnet. Dem Herren zu dienen war eine Gnade, die dem Untergebenen gewährt wurde – der Herr gab den Dienst, der Untergebene nahm das Dienstverhältnis an. Mit der Entstehung einer kapitalistischen Industriegesellschaft wandelten sich die Begriffe und wurden auch zur Kennzeichnung des Lohnarbeitsverhältnisses benutzt. Sie hielten dort Mitte des 19. Jahrhunderts im deutschsprachigen Raum in Form des korrespondierenden Wortpaars Arbeitgeber und Arbeitnehmer Einzug in Rechtsquellen und Verordnungen. Arbeitnehmer ist dem Deutschen Wörterbuch der Brüder Grimm von 1854 zufolge, wer gegenüber dem Arbeitgeber die ihm aufgetragene Arbeit annimmt.
Wirtschaftliche Aspekte
Hauptvertragspflicht des Arbeitnehmers ist es, Arbeitszeit und Arbeitskraft dem Arbeitgeber zur Verfügung zu stellen. Er schuldet dem Arbeitgeber allerdings keinen Erfolg, sondern das bloße Tätigwerden, denn der Arbeitsvertrag ist ein Dienstvertrag und kein Werkvertrag. Der Arbeitgeber schuldet dem Arbeitnehmer hierfür das Arbeitsentgelt, auch wenn die erwartete Arbeitsqualität oder das erwartete Arbeitsvolumen nicht eintritt oder wenn der Arbeitgeber keine ausreichende Beschäftigung (Unterbeschäftigung) für den Arbeitnehmer hat. Anders als der Unternehmerlohn wird das Arbeitsentgelt unabhängig vom Erfolg des Unternehmers gezahlt. Macht der Arbeitgeber Verluste, ist das Arbeitsentgelt dessen ungeachtet zu entrichten. Dafür trägt der Arbeitnehmer – außer bei Unkündbarkeit – das Arbeitsplatzrisiko mit der Gefahr, dass er seine Arbeit durch Kündigung oder Insolvenz des Arbeitgebers verliert. Je höher das Arbeitsplatzrisiko, umso höher ist im Regelfall das Arbeitsentgelt und umgekehrt. Der Arbeitnehmer trägt zudem das Arbeitsleid.
Rechtsfragen
Das Wort Arbeitnehmer ist ein Rechtsbegriff, der in vielen Rechtsgebieten vorkommt.
Arbeitsverhältnis
Durch den Arbeitsvertrag wird der Arbeitnehmer im Dienste eines anderen zur Leistung weisungsgebundener, fremdbestimmter Arbeit in persönlicher Abhängigkeit verpflichtet. Weisungsgebunden ist, wer nicht im Wesentlichen frei seine Tätigkeit gestalten und seine Arbeitszeit bestimmen kann. Der Grad der persönlichen Abhängigkeit hängt dabei auch von der Eigenart der jeweiligen Tätigkeit ab. Für die Feststellung, ob ein Arbeitsvertrag vorliegt, ist eine Gesamtbetrachtung aller Umstände vorzunehmen. Zeigt die tatsächliche Durchführung des Vertragsverhältnisses, dass es sich um ein Arbeitsverhältnis handelt, kommt es auf die Bezeichnung im Vertrag nicht an.
Ein Arbeitsvertragsverhältnis ist durch das persönliche Abhängigkeitsverhältnis des Arbeitnehmers vom Arbeitgeber sowie die Weisungsgebundenheit gekennzeichnet. Er muss sich an vorgegebene Arbeitszeiten halten, er bringt die Arbeitsleistung an einem bestimmten Arbeitsort und ist in Arbeitsorganisation eingebunden. Der Vertragsschluss für den Dienstvertrag ist grundsätzlich formlos möglich, wogegen der Arbeitsvertrag spätestens einen Monat nach vereinbartem Vertragsbeginn dem Arbeitnehmer schriftlich auszuhändigen ist.
EU-Recht
Maßgeblich ist der Begriff des Arbeitnehmers in Abs. 1 EGV. Arbeitnehmer im Sinne der Rechtsprechung des EuGH ist jeder abhängig Beschäftigte, der eine weisungsgebundene Tätigkeit ausübt und für diese ein Entgelt bezieht, das nicht als völlig unwesentlich bezeichnet werden kann. Es ist nicht notwendig, dass der Arbeitnehmer damit seine Existenz bestreiten kann. Es reicht unter Umständen bereits, wenn z. B. einem Praktikanten Unterkunft und Verpflegung gewährt werden.
Deutschland
Seit April 2017 definiert Abs. 1 BGB, dass der Arbeitnehmer durch den Arbeitsvertrag im Dienste eines anderen zur Leistung weisungsgebundener, fremdbestimmter Arbeit in persönlicher Abhängigkeit verpflichtet wird. Indiz hierfür ist, dass jemand nicht im Wesentlichen frei seine Tätigkeit gestalten und seine Arbeitszeit bestimmen kann.
Keine Arbeitnehmer sind:
Strafgefangene, auch nicht bei Gefangenenarbeit gemäß Abs. 1 StVollzG;
Kinder und Jugendliche, die noch in die Schule gehen, auch nicht bei Kinderarbeit;
Studenten – sie können jedoch als Arbeitnehmer zählen, wenn sie einer geringfügigen Beschäftigung nachgehen;
Arbeitslose und Rentner;
Ehrenamtler und Vereinsmitglieder (werden im Interesse der Förderung des Vereinszwecks tätig);
aus überwiegend karitativen oder religiösen Zwecken Beschäftigte (z. B. Mönche, Rotkreuzschwestern);
geistliche Amtsträger und Kirchenbeamte (kein Privatrecht, sondern Arbeitsrecht der Kirchen);
Beamte, Richter, Soldaten (öffentlich-rechtliches Dienstverhältnis);
Selbständige (Gewerbetreibende und Freiberufler);
Gesellschafter und Geschäftsführer von Unternehmen (unter Juristen umstritten, siehe auch Abschnitt Leitende Angestellte).
Obwohl sie keine Arbeitnehmer sind, werden arbeitnehmerähnliche Personen in manchen Fragen den Arbeitnehmern gleichgestellt. Als arbeitnehmerähnliche Personen gelten selbständig Tätige, die (in der Regel von einem Auftraggeber) wirtschaftlich abhängig und einem Arbeitnehmer vergleichbar schutzbedürftig sind ( TVG). Für sie gelten die Regelungen des TVG und für Streitigkeiten zwischen ihnen und ihren Arbeitgebern sind die Arbeitsgerichte ausschließlich zuständig ( ArbGG). Sie unterliegen in der Regel der Rentenversicherungspflicht.
Arbeitsrecht
Arbeitnehmer im Sinne des Betriebsverfassungsgesetzes (BetrVG) sind Arbeiter und Angestellte, Beamte, Soldaten sowie Beschäftigte des öffentlichen Dienstes einschließlich der zu ihrer Berufsausbildung Beschäftigten, unabhängig davon, ob sie im Betrieb, im Außendienst oder mit Telearbeit/Heimarbeit beschäftigt werden ( BetrVG). Arbeitnehmer im Sinne des Abs. 1 ArbGG sind Arbeiter und Angestellte sowie die zu ihrer Berufsausbildung Beschäftigten. Als Arbeitnehmer gelten auch die in Heimarbeit Beschäftigten und die ihnen Gleichgestellten sowie sonstige Personen, die wegen ihrer wirtschaftlichen Unselbständigkeit als arbeitnehmerähnliche Personen anzusehen sind. Persönliche Abhängigkeit erfordert die Unterordnung unter das Weisungsrecht des Arbeitgebers in Bezug auf Zeit, Dauer, Ort und Art der Arbeitsausführung. Das Weisungsrecht kann allerdings erheblich eingeschränkt sein. Bei Diensten höherer Art, beispielsweise bei einem im Krankenhaus beschäftigten Chefarzt, genügt die Eingliederung der Dienstleistung in eine von anderer Seite vorgegebene Ordnung des Betriebes. Eine ähnliche Legaldefinition enthält im Steuerrecht (Deutschland) Lohnsteuer-Durchführungsverordnung (LStDV).
Die Tätigkeit des Vorstands oder Geschäftsführers fällt nicht unter die allgemeine Definition des Arbeitsvertrages eines Arbeitnehmers, sondern ist als Dienstvertrag im Sinne des BGB anzusehen. Der Status des Vorstands/Geschäftsführers bestimmt sich nach den beiden Funktionen, die er wahrnimmt. Einerseits ist er als Organ der Gesellschaft Arbeitnehmer, andererseits nimmt er im Innenverhältnis die ranghöchste Stellung aller Beschäftigten ein und übt als Arbeitgeber das Direktionsrecht aus.
Vorstandsmitglieder einer Aktiengesellschaft sind in der Regel keine Beschäftigten im Sinne des Abs. 1 SGB IV. Der Vorstand ist dabei das zur Geschäftsführung befugte und verpflichtete Organ und nimmt die unternehmerische Leitung kraft eigener Verantwortung wahr. Bei Entscheidungen über Ziele und Richtlinien der Gesellschaft und bezüglich Fragen der Geschäftspolitik agiert er selbständig und insbesondere weisungsunabhängig. Der Aufsichtsrat überwacht und kontrolliert gemäß AktG die Geschäftsführung, ohne selbst zur Geschäftsführung befugt zu sein (§ 111 Abs. 4 Satz 1 AktG). Die Aktionäre entscheiden in der Hauptversammlung über Maßnahmen der Geschäftsführung nur, wenn der Vorstand es verlangt ( Abs. 2 AktG). Die Geschäftsführung ist Sache des Vorstands, die Überwachung der Geschäftsführung Sache des Aufsichtsrats, Grundlagenentscheidungen sind Sache der Hauptversammlung.
Pflichten des Arbeitnehmers
Hauptleistungspflicht des Arbeitnehmers ist es, die vereinbarte Arbeit zu leisten (Arbeitspflicht). Der Arbeitnehmer ist dabei gemäß BGB zur Vorleistung verpflichtet; es gilt der Grundsatz „erst die Arbeit, dann der Lohn“. Nebenpflichten des Arbeitnehmers sind unter anderem Treuepflicht, Verschwiegenheitspflicht, pfleglicher Umgang mit Materialien und Werkzeugen, Wettbewerbsverbot, Abwerbungsverbot, wechselseitige Rücksichtnahmepflicht und Schutzpflichten.
Rechte des Arbeitnehmers
Hauptrecht des Arbeitnehmers ist, die vereinbarte Entlohnung zu erhalten. Wenn der Arbeitgeber die Arbeitszeit des Arbeitnehmers in Anspruch nimmt, ist er auch mitverantwortlich, wie effektiv sie vom Arbeitnehmer genutzt wird. Weitere Rechte des Arbeitnehmers: Treuepflicht und Verschwiegenheitspflicht des Arbeitgebers, Materialien und Werkzeuge die den geltenden Bestimmungen in Bezug auf Sicherheit für Leib und Leben entsprechen (Fürsorgepflicht des Arbeitgebers). Zudem hat er das Recht auf ein Arbeitszeugnis nach Ausscheiden aus dem Betrieb. Ferner hat der Arbeitnehmer noch Rechte, die sich nicht aus dem Arbeitsvertrag ergeben: Koalitionsfreiheit (das Recht, einer Gewerkschaft beizutreten und sich im Betrieb gewerkschaftlich zu betätigen und zu streiken, Rechte aus dem Betriebsverfassungs- und Mitbestimmungsrecht (z. B. aktives und passives Wahlrecht bei der Wahl eines Betriebsrats)). Recht auf Erholungsurlaub nach dem Bundesurlaubsgesetz, Anspruch auf Arbeitspausen nach dem Arbeitszeitgesetz, Anspruch auf Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall nach dem Entgeltfortzahlungsgesetz.
In Deutschland und allen demokratischen Staaten haben Arbeitnehmer das eingeschränkte Recht, Beruf und Arbeitsplatz frei zu wählen (Berufsfreiheit gemäß GG), Koalitionsfreiheit und eingeschränktes Streikrecht ( Abs. 3 GG) und können sich zu Gewerkschaften zusammenschließen. Eingeschränkt werden diese Rechte beispielsweise durch die Wehrpflicht (eingeschränkte Berufsfreiheit) und das Verbot von Generalstreiks.
Leitende Angestellte
Eine Sondergruppe, deren Zuordnung viele Diskussionen ausgelöst hat, sind die leitenden Angestellten, die im Betrieb unterhalb der Ebene des Unternehmers Führungsfunktionen wahrnehmen. Für sie gelten besondere Regeln im Kündigungsschutz, und sie unterfallen nicht dem Betriebsverfassungsgesetz, wobei die Definition des Begriffes des „leitenden Angestellten“ in diesen beiden Rechtsgebieten unterschiedlich ist ( KSchG einerseits und BetrVG andererseits). Die Interessenvertretung der leitenden Angestellten ist der Sprecherausschuss. Dessen Beteiligungsrechte sind im Sprecherausschussgesetz geregelt.
Aushilfen und geringfügig Beschäftigte
Sog. Aushilfen, geringfügig Beschäftigte und Werkstudenten (siehe auch: Studentenjob, Minijob) sind ebenso reguläre Arbeitnehmer mit denselben Rechten und Pflichten. Die Differenzierung ist nur nötig wegen besonderer Regelungen hinsichtlich zu entrichtender Steuern und Sozialversicherungsabgaben. Arbeitnehmerrechtlich gibt es keine Unterschiede zu anderen Arbeitnehmern. So stehen sowohl der Kündigungsschutz als auch etwa Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall, bei Mutterschaft oder beim gesetzlicher Urlaub auch diesen Arbeitnehmern uneingeschränkt zu. Früher übliche Differenzierungen sind als Verstoß gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz längst beseitigt.
Ältere Arbeitnehmer
Die Arbeitsmarktpolitik des Staates und Personalfachleute thematisieren oft „ältere Arbeitnehmer“. Der Begriff ist weder juristisch noch wissenschaftlich definiert, meist werden mit ihm Arbeitnehmer über dem 44., gelegentlich bereits ab dem 40. Lebensjahr bezeichnet. Die Einstellungspraxis der Branchen schwankt je nach Anforderungsprofil und Personalangebot. In einigen Feldern kann es bereits wesentlich früher, oder besonders häufig ab dem 35. Lebensjahr, schwer sein, eine passende Tätigkeit zu finden.
Beamte
Keine Arbeitnehmer sind Beamte. Ihre Arbeitsbedingungen sind im Beamtenrecht festgelegt, das – historisch bedingt – kein Teil des Arbeitsrechtes, sondern des Verwaltungsrechtes ist. Zu beachten ist aber, dass Beamte im unionsrechtlichen Sinn Arbeitnehmer sein können.
Zivilrecht
Die Arbeitnehmer sind zivilrechtlich gemäß BGB Erfüllungsgehilfen des Arbeitgebers. Damit arbeiten sie mit Wissen und Wollen ihres Arbeitgebers, der sämtliche Handlungen und Unterlassungen seiner Arbeitnehmer gegen sich gelten lassen muss. Verletzt der Arbeitnehmer gegenüber Dritten (wie Kunden oder Lieferanten) seine Pflichten und trifft ihn dabei ein Verschulden, muss sich der Arbeitgeber diese Pflichtverletzung zurechnen lassen. Das gilt auch gemäß HGB für die in einem Laden oder in einem offenen Warenlager Angestellten, die zu Verkäufen und Empfangnahmen ermächtigt sind. Arbeitnehmer sind keine Erfüllungsgehilfen bei Arbeitnehmerüberlassung, Leiharbeit oder Zeitarbeit.
Österreich
Auch in Österreich hat der Arbeitnehmer („Dienstnehmer“) die Dienste in eigener Person zu leisten, der Anspruch auf die Dienste ist nicht übertragbar ( ABGB). Die Entgeltfortzahlung für sechs Wochen bei Krankheit oder Arbeitsunfall ist in ABGB geregelt. Die Fürsorgepflicht des Arbeitgebers („Dienstgeber“) für Leben und Gesundheit des Dienstnehmers ergibt sich aus ABGB, der Anspruch des Dienstnehmers auf ein Arbeitszeugnis aus ABGB.
Schweiz
Im Schweizer Arbeitsrecht regelt Abs. 1 OR, dass sich der Arbeitnehmer durch den Einzelarbeitsvertrag auf bestimmte oder unbestimmte Zeit zur Leistung von Arbeit im Dienst des Arbeitgebers verpflichtet und dieser zur Entrichtung eines Lohnes, der nach Zeitabschnitten (Zeitlohn) oder nach der geleisteten Arbeit (Akkordlohn) bemessen wird. Der Arbeitnehmer hat die vertraglich übernommene Arbeit in eigener Person zu leisten ( OR), die ihm übertragene Arbeit sorgfältig auszuführen und die berechtigten Interessen des Arbeitgebers in guten Treuen zu wahren ( OR). Er hat Maschinen, Arbeitsgeräte, technische Einrichtungen und Anlagen sowie Fahrzeuge des Arbeitgebers fachgerecht zu bedienen und diese sowie Material, die ihm zur Ausführung der Arbeit zur Verfügung gestellt werden, sorgfältig zu behandeln.
Vereinigte Staaten
Die Rechte der Arbeitnehmer in den USA () sind im Arbeitsschutz gegenüber europäischen Standards stark eingeschränkt. Das gilt vor allem im Kündigungsschutz, der gesetzlich nicht geregelt ist. Aufgrund des Arbeitsvertrages () kann der Arbeitgeber () das Recht haben, Arbeitnehmer jederzeit zu entlassen (), diese grundlose Kündigung () ermöglicht bei einem unbefristeten Arbeitsverhältnis die jederzeitige Kündigung ohne Angabe von Kündigungsgründen. Üblich sind Kündigungsfristen von zwei Wochen. Das Prinzip von „hire and fire“ ist nur bei Firmen mit Gewerkschaftszugehörigkeit, leitenden Angestellten und Facharbeitern aufgrund ihrer Qualifikation begrenzt. Tarifverträge lassen nur eine Kündigung aus besonderem Grund () zu. Einschränkungen gibt es auch bei Massenentlassungen aufgrund des Worker Adjustment and Retraining Notification Act (1989), wonach bei Betrieben mit mehr als 100 Vollzeitbeschäftigten im Falle von Betriebsschließungen oder Massenentlassungen eine Kündigungsfrist von 2 Monaten einzuhalten ist. Auf der Grundlage des Common Law erkennen Gerichte zunehmend an, dass das Arbeitsverhältnis als Dauerschuldverhältnis nicht ohne Grund beendet werden sollte.
Demographische Entwicklung in Westeuropa
Die seit Jahren gestiegenen Frauenerwerbsquoten und die demographische Entwicklung werden in den kommenden Jahren die Beschäftigungsquote Älterer erhöhen, wenn der Arbeitsbedarf in dem jeweiligen Land insgesamt nicht wesentlich geringer wird. Derzeit hat Deutschland eine „inverse“ Altersstruktur im Arbeitsmarkt: Die Bevölkerungsgruppe der 60- bis 65-Jährigen ist größer als die Gruppe der 50- bis 59-Jährigen. Da die Erwerbsbeteiligung der 60- bis 64-Jährigen sonst generell niedriger ist als die der 50- bis 59-Jährigen, wirkt sich dies in Deutschland negativ auf die Erwerbsbeteiligung der Älteren aus. 51-Jährige und Ältere, die arbeitslos werden, haben geringere Chancen auf Wiederbeschäftigung, wenn eine Personalabteilung auf einen ausgewogenen „Altersmix“ der Belegschaft achtet. Diese demographische Besonderheit in der Bundesrepublik Deutschland wird in den nächsten Jahren ihre Bedeutung für die Beschäftigungssituation Älterer verlieren – die geburtenstarken Jahrgänge bis 1943 sind dann Rentner.
Die Bevölkerungsstatistik prognostiziert bereits heute, wie viele Jugendliche und Ältere in 10–15 Jahren dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen könnten. Allerdings sind Prognosen aufgrund anderer Faktoren schwierig. Dies ist aber zunächst unerheblich, da es auf der individuellen Ebene keine Konsequenz nach sich ziehen könnte – außer dem Altbewährten: Ausbildung und Fortbildung.
Kritik am Begriff
In der modernen Makroökonomie bieten die Arbeitnehmer den Faktor „Arbeit“ an, den die Unternehmen nachfragen.
Eine frühe Polemik gegen den Begriff des „Arbeitnehmers“ stammt von Friedrich Engels, dem zufolge das Ausbeutungsverhältnis zwischen Lohnarbeit und Kapital im gängigen Sprachgebrauch geradezu auf den Kopf gestellt werde:
In diesem Sinne erscheint der Begriff „Arbeitnehmer“ missverständlich, da doch diejenige Arbeitsperson, die als Arbeitnehmer bezeichnet wird, eben nicht Arbeit, sondern Lohnzahlungen dafür in Empfang nimmt, dass sie ihre Arbeitskraft dem Vertragspartner zur Verfügung stellt. Insofern wäre die Bezeichnung „Arbeitgeber“ für einen abhängig Beschäftigten angemessener.
Der Begriff „Arbeitnehmer“ verdunkelt, dass es sich um Menschen handelt, die ihre Arbeitskraft zur Sicherung ihrer Existenz verkaufen (müssen), denn sie verfügen selbst über keine Produktionsmittel. Der Begriff verdunkelt darüber hinaus, dass dies eine gesellschaftliche bedingte Abhängigkeit ist, die sich historisch durch den fortschreitenden Prozess der Arbeitsteilung ergeben hat und dass die Arbeiter eben diese Gesellschaft erst ermöglichen.
Weiterhin suggeriert das sprachliche Verhältnis Arbeitgeber – Arbeitnehmer, dass der Arbeitgeber etwas gibt, der Arbeitnehmer etwas nimmt. Der Begriff Arbeitgeber hat insofern einen gönnerhaften, der Begriff Arbeitnehmer eine ausnutzerische Konnotation. Jedoch spiegelt dieses sprachliche Verhältnis den Zustand wider, den der Arbeitsmarkt manchmal hat, nämlich dass ein großes Angebot von Arbeitskräften auf eine erheblich kleinere Nachfrage trifft. Vor diesem Hintergrund wird es zuweilen auch als vorteilhaft empfunden, Nachfrage nach der eigenen Arbeit zu haben, also Arbeitnehmer sein zu dürfen.
In der VGR wurden die Arbeitnehmer bis zur Einführung des Europäischen Systems Volkswirtschaftlicher Gesamtrechnungen 1995 (ESVG) im Jahre 1999 als „abhängig Beschäftigte“ bezeichnet. In der Volkswirtschaftslehre sind die „Arbeitnehmer“ Anbieter des Produktionsfaktors Arbeit, die „Arbeitgeber“ sind die Nachfrager nach dem Produktionsfaktor Arbeit.
Siehe auch
Arbeiterklasse
Arbeitnehmerdatenschutz
Arbeitnehmerentsendegesetz
Arbeitnehmererfindung
Arbeitnehmersparzulage
Arbeitnehmerüberlassung
Beschäftigungsverhältnis
Hartz-Konzept
Hauspersonal
Literatur
Roland Karassek: „Arbeitnehmer“ und „Arbeitgeber“ – eine begriffsgeschichtliche Spurensuche. In: Arbeit – Bewegung – Geschichte. Heft II, 2017, S. 106–127.
Weblinks
Demografischer Wandel – (k)ein Problem! Werkzeuge für betriebliche Personalarbeit. (PDF; 1,36 MB) Bundesministerium für Bildung und Forschung
Einzelnachweise
Personalwesen
Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung
Personenbezeichnung (Wirtschaft)
Arbeitsrecht (Deutschland)
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Q703534
| 135.459074 |
3996784
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https://de.wikipedia.org/wiki/Abstract
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Abstract
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Unter dem englischen Begriff Abstract versteht man eine prägnante Zusammenfassung bzw. Inhaltsangabe, einen Abriss ohne Interpretation und Wertung einer wissenschaftlichen Arbeit, der die zentralen Inhalte der eigentlichen Veröffentlichung hinsichtlich Thematik, Methodik und Ergebnissen skizziert. Die DIN 1426 führt in deutscher Sprache den Begriff Kurzreferat an; ebenfalls üblich ist der Terminus Kurzfassung. Im Englischen wird teils auch der Begriff Summary synonym verwendet.
Man unterscheidet das ersetzende, das informative und das indikative Abstract, sowie Autoren- und Fremdreferate.
Allgemeine Merkmale
Objektivität: Es soll sich jeder persönlichen Wertung enthalten.
Kürze: Es soll so kurz wie möglich sein.
Verständlichkeit: Es weist eine klare, nachvollziehbare Sprache und Struktur auf.
Vollständigkeit: Alle wesentlichen Sachverhalte sollen enthalten sein.
Genauigkeit: Es soll genau die Inhalte und die Meinung der Originalarbeit wiedergeben.
Redundanzfreiheit: Wiederholungen sind zu vermeiden.
Fehlerfreiheit: Formfehler und inhaltliche Fehler sind zu vermeiden.
Definition
Die Definition des American National Standards Institute (ANSI) lautet:
Verwendung
Abstracts können in vieler Hinsicht verwendet werden – zum Beispiel zur Feststellung von Relevanz: Es soll schnell und exakt zu erkennen sein, ob das Dokument für die Fragestellung relevant ist und der Leser das Originaldokument noch lesen muss. Weiterhin dient es zur Informationsgewinnung: Das Abstract soll die wesentlichen Informationen liefern, auch ohne dass das Originaldokument gelesen werden muss. Auch für Forschungsberichte und Ähnliches sind Abstracts nützlich: Sie können teilweise der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden, falls dies beim Originaldokument nicht möglich ist.
Soweit Abstracts im Volltext suchbar sind, erfüllen sie auch eine Zugangsfunktion. Abstracts enthalten meist wichtige Suchbegriffe und Schlüsselwörter, die dazu beitragen, dass das Dokument bei der Suche mit diesen Begriffen gefunden wird.
Üblicherweise müssen wissenschaftliche Artikel ein Abstract enthalten, typischerweise von 100 bis 150 Wörtern, ohne Bilder und Literaturzitate und in einem Absatz. Bei Konferenzen wird in der Regel verlangt, ein Abstract einzureichen, damit das wissenschaftliche Organisationsteam entscheiden kann, welche der gewünschten Vorträge zugelassen werden. Diese Abstracts sind in der Regel etwas länger und können häufig Bilder, Literaturzitate auf bis zu zwei DIN-A4-Seiten enthalten.
Inhaltsbearbeitung
Die Ausgangslage, Intentionen, Ziele, thematische Abgrenzung, (Hypo-)Thesen des Dokuments sind kurz zu benennen.
Gleiches gilt für die Ergebnisse und Schlussfolgerungen, wobei Vermutungen und Fakten klar getrennt sein müssen.
Der Bezug zu anderen Arbeiten sollte bibliografisch zitiert werden, wenn sie wichtiger Bestandteil sind (gilt nicht für Abstracts von wissenschaftlichen Artikeln).
Die Untersuchungsmethoden und -techniken sowie Betrachtungsweisen sind zu benennen, jedoch nur so, wie es für das Verständnis notwendig ist.
Darstellung
Das Abstract sollte immer am Anfang des Originaldokuments stehen. Die bibliografischen Angaben zum Dokument sollten unmittelbar nach dem Abstract folgen. Die Länge sollte vom Inhalt und nicht von der Dokumentenlänge abhängen.
Grenzformen des Abstracts
Das „ersetzende“ Referat soll das Lesen des Originaldokumentes ersparen und stellt eine Komprimierung des Originaldokumentes dar.
Das „kritische“ Referat ist eine explizite Stellungnahme und kann beispielsweise bei Informationsdiensten oder Nachrichtendiensten eingesetzt werden, die sich an bestimmte Personenkreise wenden.
Siehe auch
Abstract-Management
Wissenschaftliche Publikation zur Gliederung von Sachtexten
Inhaltsmitteilung zur urheberrechtlichen Zulässigkeit von Abstracts
Exzerpt
Précis, Kurzfassung
Rubrum
Synopse
Quellenangabe
DIN, Deutsches Institut für Normung: Präsentationstechnik für Dissertationen und wissenschaftliche Arbeit, DIN-Norm. 2. Auflage. Beuth, Berlin/ Wien/ Zürich 2000, ISBN 3-410-14816-7.
Wolfgang G. Stock, Mechtild Stock: Wissensrepräsentation. Informationen auswerten und bereitstellen. Oldenbourg, München 2008, ISBN 978-3-486-58439-4.
Birgit Huemer, Markus Rheindorf, Helmut Gruber: Abstract, Exposé und Förderantrag: Eine Schreibanleitung für Studierende und junge Forschende. (= Uni-Taschenbücher. UTB Band 3762). Böhlau/ UTB, Wien/ Köln/ Weimar/ Stuttgart 2012, ISBN 978-3-8252-3762-2.
John M. Swales, Christine B. Feak: Abstracts and the Writing of Abstracts. (= Michigan Series in English for Academic & Professional Purposes). University of Michigan Press, 2009, ISBN 978-0-472-03335-5.
Ana D. Cleveland, Donald B. Cleveland: Introduction to Indexing and Abstracting. 4. Auflage. Libraries Unlimited, 2013, ISBN 978-1-59884-976-9.
Weblinks
Abstracts. Writing Center UNC-CH
Structured Abstracts, MEDLINE/PubMed Resources
Beispiele für Abstracts aus dem Bereich der Wirtschaftswissenschaften.
Einzelnachweise
Publikation
Dokumentation
Wissenschaftliche Arbeit
Englische Phrase
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Q333291
| 131.604354 |
180595
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https://de.wikipedia.org/wiki/Nokia
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Nokia
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Nokia Oyj [] bzw. Nokia Corporation ist ein Telekommunikationskonzern mit Hauptsitz im finnischen Espoo, der weltweit Mobile-, Festnetz- und Cloud-Netzwerklösungen anbietet.
Nokia – ursprünglich ein finnischer Holzstoffhersteller, der sich zu einem Mischkonzern und ab den 1970er-Jahren zu einem Telekommunikationsunternehmen wandelte – galt ab Anfang der 1990er- bis Mitte der 2010er-Jahre als weltweit bedeutender Mobiltelefonhersteller und war von 1998 bis 2011 Marktführer in dieser Branche. Anfang 2011 ging Nokia mit Microsoft eine Partnerschaft über Windows-basierte Mobiltelefone ein und verkaufte die gesamte Mobiltelefonsparte am 25. April 2014 für insgesamt über fünf Milliarden Euro an Microsoft, welche den Markennamen Nokia ab Ende 2014 auf einfache Mobiltelefone beschränkte. 2016 schloss der finnische Elektronikhersteller HMD Global einen Lizenzvertrag mit Nokia, kaufte Microsoft Mobile die verbliebenen Nokia-Namensrechte ab und bietet seit 2017 weltweit exklusiv Nokia-Mobiltelefone an, die unter anderem auf Android basieren und von Foxconn produziert werden.
Nokia selbst konzentriert sich seit 2013 auf die Telekommunikationsnetz- und Softwaresparte sowie mit Nokia Technologies, die unter anderem 2015 ein Tablet und eine VR-Kamera auf den Markt brachten, auf den Technologie-Sektor. Seit der Übernahme von Alcatel-Lucent, wodurch Nokia zum größten Netzwerkausrüster vor Ericsson, Huawei und ZTE aufstieg, treten beide Unternehmen seit dem 14. Januar 2016 unter dem Namen Nokia auf.
Die Aktien von Nokia sind an den Börsen Paris, Stockholm, Helsinki und New York notiert sowie in den Leitindizes EURO STOXX 50 und OMX Helsinki 25 enthalten.
Geschäftsfelder
Nach dem Verkauf der Mobilfunksparte an Microsoft und der Übernahme von Alcatel-Lucent ist Nokia seit Beginn der 2020er-Jahre in vier Geschäftsfeldern tätig, die von den Nokia Bell Labs bei Forschung und Entwicklung unterstützt werden:
Mobile Networks
Mobile Networks entwickelt Technologien, die es Dienstanbietern, der Industrie und dem öffentlichen Sektor ermöglichen, kritische Mobilfunk-Netzwerke zu schaffen. Das Portfolio von Mobile Networks umfasst RAN- und MWR-Produkte, zugehörige Netzmanagementlösungen sowie Netzplanung und -optimierung, Netzeinführung und technische Supportleistungen. So demonstrierte Nokia Mobile Networks schon im Januar 2018 mit dem Schweizer Telekommunikationsanbieter Salt Mobile die Leistungsfähigkeit des 5G-Netzes und liefert 2019 u. a. die 5G-Netzinfrastruktur für Salt Mobile; seit Juli 2020 ist Nokia jedoch nicht mehr alleiniger Lieferant für Salt Mobile. Mobile Networks wir von Tommi Uitto geleitet.
Network Infrastructure
Network Infrastructure arbeitet zusammen mit Unternehmen und Behörden an Technologien für kritische Netze. Diese Netze unterstützen Verbraucher, Unternehmen und Webscaler. So werden zum Beispiel Dienste für etablierte Telekommunikationsbetreiber angeboten, um eine neue Welle der industriellen Digitalisierung zu ermöglichen. Seit 2018 ist Federico Guillén Präsident von Network Infrastructure.
Cloud and Network Services
CNS entwickelt Lösungen zur Umstellung von Kommunikationsdienstleistern (CSPs) und Unternehmen auf Cloud-native Software und As-a-Service-Geschäfte sowie Core-Netzwerke. 2020 wurde Raghav Sahgal Präsident von Cloud and Network Services.
Nokia Technologies
Nokia Technologies erfindet und vermarktet Technologien, die intelligente Geräte verbessern und neue Benutzererfahrungen bieten. Dabei wird mit Geräteherstellern in Lizenzverfahren zusammengearbeitet, um ihnen zu ermöglichen, von Nokia entwickelte Technologien in ihre Produkte zu integrieren. Nokia Technologies wird von Jenni Lukander geleitet.
Unternehmensgeschichte
1865 bis 1966: Gründerjahre und Diversifizierung
Das Unternehmen wurde 1865 von dem Ingenieur Fredrik Idestam (1838–1916) in Tampere im Südwesten Finnlands gegründet und stellte anfangs Papiererzeugnisse her, die nach Russland und Großbritannien exportiert wurden. 1868 eröffnete Idestam ein Zweitwerk in der unweit westlich gelegenen Stadt Nokia. Die Nokia Aktiebolag wurde 1871 zusammen mit Idestams Studienfreund Leo Mechelin (1839–1914) gegründet. Die folgenden Jahre der Firmengeschichte waren geprägt von Unternehmenszukäufen, wodurch sich Nokia zu einem Mischkonzern wandelte. Mechelin war von 1898 bis 1914 Geschäftsführer und leitete die Diversifikation des Unternehmens in Richtung Stromerzeugung ein. Seit Beginn des 20. Jahrhunderts produzierte das Unternehmen vor allem Gebrauchsgegenstände wie Gummistiefel und Radmäntel für Rollstühle. Noch heute prangt der Name Nokia auf vielen Fahrradreifen, sie werden allerdings nicht mehr vom Unternehmen produziert, sondern von Nokian Tyres, einem – ebenfalls am Ort ansässigen – einstigen Tochterunternehmen von Nokia.
1967 bis 2010: Expansion und internationaler Aufstieg
Die Nokia Corporation (Nokia Oyj) entstand 1967 durch den Zusammenschluss der Nokia Aktiebolag – der ursprünglichen Papierfabrik – mit den Suomen Gummitehdas (Finnische Gummi-Werke) und den Suomen Kaapelitehdas (Finnische Kabelwerke). Die drei finnischen Firmen waren bereits seit den 1910er-Jahren durch gegenseitige Aufkäufe miteinander verbunden und seit 1922 in einer Hand, nachdem die Suomen Gummitehdas bereits 1918 Nokia Ab und 1922 die Suomen Kaapelitehdas aufgekauft hatte. Trotzdem blieben die Firmen aufgrund der damaligen Gesetzeslage separat bestehen. Mit der Fusion 1967 wurde der Grundstein für das künftige Technologieunternehmen gelegt, wenngleich die vier Geschäftsbereiche des Konzerns zunächst noch aus Papier, Elektronik, Gummi und Kabel bestanden. Aus den ehemaligen Gummi-Werken entwickelte sich unter anderem der Reifenhersteller Nokian Tyres, den Nokia 1988 zunächst abspaltete, 1995 in Helsinki an die Börse brachte und 2003 an Bridgestone verkaufte.
1975 ging Nokia mit dem finnischen Elektronikhersteller Salora ein Joint Venture über Radiogeräte ein. Daraus wurde 1979 die Mobira Oy. Nokia erwarb 1982 den Salora-Anteil und nannte die Geschäftseinheit Nokia-Mobira Oy, bis sie 1989 in Nokia Mobile Phones umbenannt wurde. Auch der ehemalige Partner Salora wurde sukzessive bis 1989 von Nokia übernommen. Bereits 1984 hatte Nokia den schwedischen TV-Hersteller Luxor'und 1987 den französischen TV-Gerätebauer Oceanic gekauft. 1988 folgte die Übernahme des Bereichs Audio-Video-Elektronik der ehemaligen ITT-Tochter Standard Elektrik Lorenz (SEL) mit ca. 8.000 Beschäftigten und etwa 1,5 Milliarden DM Umsatz unter den Markennamen ITT Schaub-Lorenz und Graetz. Mit Hauptstandort in Pforzheim firmierte der Bereich ab 2. Februar 1988 als Nokia-Graetz GmbH und vertrieb noch einige Jahre vor allem Farbfernsehgeräte, Videorecorder und Verstärker unter der Marke ITT Nokia, bis der finnische Mutterkonzern das Geschäft mit Unterhaltungselektronik aufgab, um sich ganz auf Mobiltelefone zu konzentrieren.
1981 erhielt Skandinavien sein erstes Mobilfunknetz NMT. Nokia stellte ab 1982 mit dem Mobira Senator, das fast 10 Kilogramm wog, die ersten tragbaren Autotelefone für dieses Netz her. Die Nokia-Geschäftsführung hatte die Mobiltelefonsparte anfangs noch als Spielerei angesehen. 1987 folgte aus dem Hause Nokia das erste wirklich tragbare Mobilfunktelefon, das Mobira Cityman 900. Mitte der 1980er-Jahre beschäftigte Nokia in hundert Tochtergesellschaften rund 30.000 Mitarbeiter und generierte einen Umsatz von fünf Milliarden D-Mark. Nachdem 1987 der GSM-Standard eingeführt worden war, präsentierte Nokia 1992 das Nokia 1011, ein fast 500 Gramm schweres Mobiltelefon.
Zwischen 1981 und 1987 brachte Nokia unter dem Namen MikroMikko eine Reihe von Mikrocomputern und Laptops auf den Markt. 1988 kaufte Nokia das PC-Geschäft von Ericsson Information Systems hinzu und nannte diese Geschäftseinheit fortan Nokia Data mit Sitz in Stockholm. 1991 verkaufte Nokia die PC-Sparte an die britische International Computers Limited (ICL). ICL war 1990 wiederum von Fujitsu aufgekauft worden, woraus 1999 zusammen mit Siemens Fujitsu Siemens Computers entstand.
Spätestens ab Ende der 1990er-Jahre genoss Nokia, das bereits 1991 Technophone aufgekauft hatte, weltweit ein Renommée als Hersteller von hochwertigen Mobiltelefonen. Die sechs Geschäftsbereiche Ende der 1980er-Jahre waren Telekommunikation, Unterhaltungselektronik, Kabel und Maschinen, Datenverarbeitung, Mobiltelefone und Industrie. Von den Sparten Papier, Gummi, Bodenbeläge und Ventilationssysteme hatte man sich bereits getrennt.
1998 war Nokia Mitbegründer von Symbian Ltd. unter der Leitung von Psion, um als Nachfolger von EPOC32 ein neues Betriebssystem für PDAs und Smartphones zu entwickeln. Sie veröffentlichten 2001 den Nokia 9210 Communicator mit Symbian OS und schufen im selben Jahr die Symbian Series 60-Plattform, die sie später mit ihrem ersten Kamerahandy, dem Nokia 7650, einführten. Sowohl Nokia als auch Symbian wurden schließlich zum größten Hersteller von Smartphone-Hardware und -Software. und im Februar 2004 wurde Nokia der größte Aktionär von Symbian Ltd. Nokia erwarb das gesamte Unternehmen im Juni 2008 und gründete die Symbian Foundation als Nachfolger.
1998 wurden 41 Millionen Nokia-Mobiltelefone weltweit verkauft und damit der Konkurrent Motorola überholt. Der Nokia-Umsatz steigerte sich um 50 %, der Gewinn schoss um 75 % in die Höhe und der Aktienpreis kletterte um 220 %, wodurch sich die Marktkapitalisierung von Nokia auf um die 70 Milliarden US-Dollar belief.
2005 entwickelte Nokia ein Linux-basiertes Betriebssystem Maemo, das zuerst im gleichen Jahr mit dem Nokia 770 Internet Tablet vertrieben wurde.
Bis Mitte der 2000er-Jahre stieß das Unternehmen nahezu alle anderen Geschäftsbereiche ab und konzentrierte sich auf das Handy-Geschäft.
Am 31. August 2006 wurde die Übernahme des Berliner Start-up-Unternehmens gate5 AG bekanntgegeben. Die Übernahme markiert eine deutliche Korrektur in der Unternehmensstrategie, da sich der Konzern nun auch als Softwareproduzent im Bereich von Navigationslösungen und anderen Geodiensten positionierte. Die neue Ausrichtung wurde 2007 mit dem Kauf der Firma Navteq untermauert.
Zum 1. April 2007 wurden die Netzwerksparten von Nokia und Siemens zum Joint-Venture Nokia Siemens Networks fusioniert. Damit entstand der drittgrößte Telekommunikationsausrüster der Welt hinter Alcatel-Lucent und Ericsson-Marconi. 2007 erreichte Nokia einen Gewinn von 7,2 Milliarden Euro.
Im Dezember 2008 verkaufte Nokia den Bereich Sicherheitstechnik an Check Point für eine nicht genannte Summe. Der Bereich bot eine Reihe von Firewall- und VPN-Produkten mit eigenem Betriebssystem IPSO an.
2008 kam es zur umstrittenen Schließung des Standorts Bochum in Deutschland. 2300 Arbeitsplätze fielen dadurch weg. Im selben Jahr brachen die Umsätze in Deutschland ein.
2011 bis 2013: Abstieg und Verkauf der Handy-Sparte
Nachdem Nokia durchgehend von 1998 bis 2011 weltgrößter Mobiltelefonhersteller gewesen war, wurde die Firma im ersten Quartal 2012 von Samsung mit einem geschätzten Marktanteil von 25,4 % abgelöst; Nokia hatte noch 22,5 % und Apple 9,5 % Marktanteil. Der Marktanteil sank damit seit 2008 um mehr als ein Drittel. Hintergrund war, dass Nokia auf die Umwälzung des Mobilfunkmarktes, die 2007 mit der Einführung des iPhone einsetzte, zu spät reagierte und dem anschließenden Aufstieg des Smartphones vom Nischen- zum Massenprodukt nicht folgen konnte.
Der Gewinn von Nokia betrug 1,85 Mrd. Euro im Geschäftsjahr 2010 nach 891 Mio. Euro im Vorjahr. Das Jahr 2011 wurde mit einem Verlust nach Steuern von 1,073 Mrd. Euro abgeschlossen.
Der Kanadier und ehemalige Microsoft-Topmanager Stephen Elop löste am 21. September 2010 den Finnen Olli-Pekka Kallasvuo an der Konzernspitze ab, der diese Position seit dem 1. Oktober 2005 eingenommen hatte. Dessen Vorgänger im Amt war von 1992 bis 2006 Jorma Ollila.
Um sich auf dem Smartphone-Markt doch noch durchsetzen zu können, entschied sich Nokia zu einer strategischen Allianz: Im Februar 2011 gab die neue Konzernleitung bekannt, dass Nokia seine Smartphones künftig mit dem Microsoft-Betriebssystem Windows Phone ausrüsten werde. Bis dahin hatte Nokia erfolglos auf seine Eigenentwicklung Symbian gesetzt. Am 26. Oktober 2011 stellte Nokia auf der Hausmesse Nokia World in London mit dem Lumia 800 das erste Smartphone mit Windows Phone 7.5 vor. Der Konzern hatte im Bereich der Smartphones infolge verhaltener Innovationsgeschwindigkeit aber inzwischen weiter an Boden verloren: Hielt er 2009 noch einen Marktanteil von 36,4 %, stammten nach Angaben des IT-Marktforschungsunternehmens Gartner 2010 nur noch 28,4 % aller weltweit verkauften Mobiltelefone von Nokia.
Trotz fallender Marktanteile insbesondere bei Smartphones konnte Nokia bis Ende 2010 die Verkaufszahlen kontinuierlich steigern und war in diesem Geschäftsbereich profitabel. Doch seit dem ersten Quartal 2011 begannen die Verkäufe von Nokia-Telefonen mit Symbian insbesondere bei Smartphones einzubrechen.
Im ersten Quartal 2012 musste der Konzern einen Verlust von 929 Mio. Euro bekanntgeben. In Konsequenz kündigte Nokia an, bis 2013 bis zu 10.000 Stellen zu streichen, so etwa im kanadischen Burnaby, im finnischen Salo sowie am deutschen Forschungsstandort Ulm. Nokia plante, einen Großteil seiner Smartphone-Fertigung von den vorhandenen Produktionsstätten in Europa und Mexiko nach Asien zu verlegen.
Das Geschäftsjahr 2012 wurde mit einem Verlust von 2,303 Mrd. Euro abgeschlossen, wobei im vierten Quartal 2012 bei 8,04 Milliarden Euro Umsatz ein Gewinn von 202 Mio. Euro vermeldet werden konnte.
Nokias Konzernchef Stephen Elop verfolgte ab Oktober 2012 offiziell das Ziel, Nokia mit dem Kartendienst Here zum führenden Anbieter von Geodiensten zu machen. So stellte Nokia in Partnerschaft mit Microsoft seine Kartendienste auf Geräten mit dem Betriebssystem Windows Phone zur Verfügung. Zudem wurden entsprechende Nutzungsvereinbarungen mit dem Onlinehändler Amazon.com und dem Rabattcouponanbieter Groupon geschlossen. Zuletzt konnte Nokia den Unternehmenssoftwarekonzern Oracle für seine Kartendienste gewinnen.
Basierend auf den Informationen mit dem Stand vom 19. Februar 2013 existierte folgende Anteilsverteilung:
2013 hatte Nokia weltweit feste Produktionsstätten für Netzwerk- und Unterhaltungstechnik in Brasilien (Manaus), China (Dongguan und Peking), Ungarn (Komárom), Indien (Chennai), Mexiko (Reynosa), Südkorea (Masan) und Vietnam (Hanoi) und Deutschland für die Entwicklung von Mobiltelefonen und Zubehör sowie Service in Brasilien, China, Finnland, Deutschland, Großbritannien, Ungarn, Polen, Mexiko, Italien, Südkorea und den USA. Nach eigenen Angaben beschäftigte Nokia im ersten Quartal 2013 weltweit durchschnittlich über 95.800 Mitarbeiter.
Am 1. Juli 2013 gab Nokia bekannt, Nokia Siemens Networks für 1,7 Milliarden Euro vollständig zu übernehmen. Nach der Übernahme wurde aus Nokia Siemens Networks (NSN) zunächst Nokia Solutions and Networks (NSN) und schließlich ab 29. April 2014 Nokia Networks. Zu Nokia Networks gehören unter anderem die Sparten Ultra Broadband Networks (Mobile & Festnetz) sowie IP Networks & Nokia Software.
Am 3. September 2013 gab Nokia seinen Plan bekannt, die gesamte Mobiltelefonsparte für umgerechnet 5,4 Mrd. Euro (3,79 Milliarden Euro zuzüglich 1,65 Mrd. Euro für Patentlizenzen) an Microsoft zu verkaufen und sich in Zukunft hauptsächlich auf das Netzwerkgeschäft und seine Kartendienste zu konzentrieren. Der Firmenchef Stephen Elop trat zurück und wurde wenig später Chef der Handysparte bei Microsoft. Die Aktionäre stimmten der Übernahme im November 2013 zu.
2014 bis 2016: Netzwerke und Technologie
Am 25. April 2014 übernahm Microsoft Nokias Handysparte. Im Zuge des Verkaufs verlegte Nokia seinen Hauptsitz in die ebenfalls in Espoo befindliche Zentrale der Tochtergesellschaft Nokia Networks, während die bisherige Zentrale an Microsoft Mobile überging.
Am 29. April 2014 wurde Rajeev Suri, bisher Chef der Tochtergesellschaft Nokia Solutions and Networks, zum Vorstandsvorsitzenden des Restkonzerns berufen. Er trat diesen Posten am 1. Mai 2014 offiziell an.
Am 17. Juli 2014 informierte Microsoft die Öffentlichkeit darüber, dass etwa 12.500 der 25.000 übernommenen Nokia-Angestellten entlassen würden. Der finnische Finanzminister Antti Rinne erklärte daraufhin gegenüber der Zeitung Kauppalehti, Finnland sei bewusst getäuscht worden.
Bereits 2013 hatten Gespräche zwischen Nokia und der französischen Alcatel-Lucent bezüglich einer Fusion der beiden Technologie-Konzerne im Rahmen von Nokias künftiger Konzentration auf die Netzwerksparte stattgefunden. Im Herbst 2014 wurden diese Gespräche wieder aufgenommen.
Am 24. Oktober 2014 wurde offiziell bestätigt, dass Microsoft aufgrund der befristeten Nutzungslizenz des Namens Nokia damit beginnt, den Markenwechsel durchzuführen, damit die Marke Windows Phone aufgibt und den Namen Nokia durch Microsoft ersetzt.
Im November 2014 kündigte Nokia Technologies das über einen Lizenzvertrag von Foxconn hergestellte Nokia N1 Android-Tablet an, das ab Januar 2015 zunächst in China und ab Mitte 2015 auch in Taiwan verkauft wurde. Gemäß Vertrag mit Microsoft durfte Nokia selbst bis Ende 2015 keine Smartphones und bis 2024 keine Einfach-Handys auf den Markt bringen; für Tablets galt diese Vereinbarung nicht.
2015:
Microsoft gab zu Beginn des Jahres 2015 zunächst die sofortige Schließung der bisherigen Nokia-Fabriken in Peking und Dongguan und die Verlagerung eines Teils der Anlagen nach Vietnam bekannt, betroffen waren davon 9.000 Mitarbeiter. Später kündigte Microsoft die vollständige Auflösung der früheren Nokia-Handysparte und die Entlassung der verbliebenen 7.800 Mitarbeiter an. Mobiltelefone sollten zukünftig von anderen Herstellern gefertigt werden. Für den Konzern bedeutete dies eine Abschreibung in Milliardenhöhe.
Nokia gab am 15. April 2015 bekannt, den Netzwerkausrüster Alcatel-Lucent für rund 15,6 Mrd. Euro in Aktien übernehmen zu wollen.
Am 30. April 2015 wurde bekannt, dass der Umsatz Nokias im ersten Quartal 2015 im Jahresvergleich – auch dank günstigerer Wechselkurse – um 20 Prozent auf 3,2 Mrd. Euro gestiegen war. Der Gewinn betrug 177 Mio. Euro; vor einem Jahr waren noch 239 Mio. Euro Verlust angefallen.
Im August 2015 wurde der Kartendienst Here an die deutschen Autokonzerne Daimler, Audi und BMW verkauft. Dieser Geschäftsbereich war aus dem 2007 übernommenen US-Geodaten-Anbieter Navteq und dem zuvor von diesem übernommenen Online-Routenplaner Map24 entstanden. Nokia-Mobiltelefone mit eingebautem GPS-Empfänger boten über die Nokia-Maps-Software eine kostenlose Offline-Navigation an. Im August 2013 umfasste der Kartendienst 196 Länder. Nach eigenen Aussagen nutzten 1 Milliarde mobiler Geräte – wie Smartphones oder Tablet-PCs – sowie Navigationssysteme Kartendaten von Here bzw. Navteq.
Im Mai 2015 gab Nokia Technologies den Einstieg in das Virtual Reality Segment bekannt. Unter dem Namen Nokia Ozo wurde im November 2015 eine 360°-Kamera für professionelle Filmemacher präsentiert, deren Listenpreis von zunächst 60.000 US-Dollar im August 2016 auf 45.000 Dollar reduziert wurde.
2016 bis 2022: Übernahme von Alcatel-Lucent und indirekter Wiedereinstieg in den Handy-Markt
Am 4. Januar 2016 wurde bekannt, dass Nokia etwa 80 Prozent der Alcatel-Lucent-Aktien angeboten wurden. Die entsprechenden Aktien wurden am 6. Januar 2016 durch neue Nokia-Aktien getauscht; gleichzeitig wurde Nokia in den CAC 40 aufgenommen, wo es Alcatel-Lucent ersetzte. Seit dem 14. Januar 2016 treten die beiden Konzerne unter dem Namen Nokia gemeinsam auf, und der Name Alcatel-Lucent verschwand. Teil dieser Übernahme sind die Bell Laboratories mit Sitz in Murray Hill (New Jersey). Diese gehen auf Alexander Graham Bell zurück und sind das weltweit größte private Forschungsinstitut für Kommunikationstechnik. Lucent war 1996 durch die Abspaltung der Bell Labs von AT&T gegründet worden. Alcatel wiederum fusionierte 2006 mit Lucent.
Nach dem Verkauf der Mobiltelefon-Sparte an Microsoft ergänzte Nokia das Produktangebot digitale Gesundheitsprodukte für das Endkundengeschäft unter dem Namen Nokia Health. Um den neuen Geschäftsbereich nicht von Grund auf neu aufbauen zu müssen, übernahm die Firma 2016 für 170 Millionen Euro den 2008 gegründeten französischen Hersteller Withings. Der finnische Konzern wollte das Withings-Angebot weiter ausbauen, stellte allerdings das bestehende Schlafsystem Aura direkt nach der Übernahme ein. Neben Activity Trackern und Fitness-Uhren gehören unter anderem auch Körperfettwaagen, Thermometer und Blutdruckmessgeräte sowie eine digitale Gesundheitsplattform zum Produktsortiment von Withings. Eine Veränderung der Withings-App durch Nokia sorgte für viel Ärger bei Kunden und teilweise eine Funktionslosigkeit der Withings-Geräte. Anfang 2018 entfernte Nokia die Pulswellenmessung von seinen Waagen. Die Leitung des neuen Geschäftsbereiches übernahm Cédric Hutchings, der bisherige CEO von Withings. Im Frühjahr 2018 verkaufte Nokia die verlustreiche Digital Health-Sparte, auf deren Firmenwert Nokia 2017 ca. 141 Millionen Euro abgeschrieben hatte, für geschätzte 30 Millionen Euro an den Withings-Mitgründer Eric Carreel, der das Unternehmen unter seinem ursprünglichen Firmennamen fortführen wird.Zumindest als Lizenzmarke kehrte Nokia ab 2016 ins Mobiltelefon-Geschäft zurück. Bereits seit 2015 hatte es bei Nokia Pläne gegeben, mit Partnern ins Handy-Geschäft zurückzukehren. Im Mai 2016 übertrug Nokia vorsorglich die exklusiven Rechte am Namen Nokia für Smartphones, Handys und Tablets an die neu gegründete HMD Global, ebenfalls im finnischen Espoo beheimatet. Kurz darauf gab Microsoft bekannt, sich aus dem Handygeschäft ganz zurückzuziehen. Die Nokia-Markenrechte gingen schließlich Ende 2016 von Microsoft an Nokia zurück. HMD Global wurde von ehemaligen Nokia-Managern gegründet und bezahlt für die Nutzung des Markennamens an Nokia Technologies Lizenzgebühren. Nokia selbst ist am Unternehmen HMD Global finanziell nicht beteiligt, erhielt allerdings einen Sitz in deren Aufsichtsrat. HMD Global wählte als Auftragsfertiger für die Produktion, den Verkauf und den Vertrieb der neuen Nokia-Geräte Foxconn, welche Microsoft 2016 das sogenannte feature phone Geschäft mit Einfach-Handys samt Fertigungsstätte in Hanoi und weitere Namensrechte für insgesamt 350 Millionen Dollar abkauften. Neue Nokia-Handys von HMD Global – neben Smartphones auch Retro-Versionen populärer Nokia-Modelle aus früheren Jahren – sind seit Anfang 2017 verfügbar.
Anfang Februar 2017 ließ Nokia verlautbaren, den 1986 gegründeten finnischen OSS-Spezialisten Comptel für 347 Millionen Euro kaufen zu wollen. Die Übernahme folgte am 29. Juni 2017.
Im September 2018 wurde bekannt, dass Nokia den Verkauf seines Geschäfts mit IP-Video-Streaming an das kanadische Softwareunternehmen Volaris Group plante. Der Vertrag wurde am 2. Januar 2019 abgeschlossen. Im Gegenzug erhielt Nokia eine Minderheitsbeteiligung an der Volaris Group.
Ab 2023: Rebranding und erneute Stellenstreichungen
Am 26. Februar 2023 erfolgte im Rahmen einer Keynote auf dem Mobile World Congress 2023 in Barcelona das Rebranding von Nokia. Ziel des Rebranding sei es sich klarer vom Endanwender-Geschäft abzugrenzen und Nokia als einen "B2B-Technologie-Innovationsführer, der die digitale Transformation vorantreibt" zu etablieren. Nokia möchte im Rahmen des Rebranding die Entwicklung neuer Netzwerke für Unternehmen und die Industrie, sowie die Forschung am nächsten Funkstandard 6G vorantreiben und die Ära des Metaverse bis spätestens 2030 einleiten. Das neue Logo, das den bisherigen Schriftzug durch optische Reduktion vereinfacht, soll zur Abgrenzung von der Consumer-Marke Nokia dienen. Durch das Rebranding soll die Entwicklung zum reinen B2B-Geschäft abgerundet werden.
Im Oktober 2023 wurde bekannt, dass Nokia wegen schwacher Umsätze bis 2026 zwischen 800 Millionen und 1,2 Milliarden Euro einsparen will, um das Langfristziel einer operativen Marge von 14 Prozent zu erreichen. Dafür will das Unternehmen bis zu 14.000 Arbeitsplätze weltweit streichen.
Nokia nach Regionen
Nokia in Deutschland
In Deutschland übernahm Nokia als Nokia-Graetz GmbH im März 1988 mit dem Audio-Video-Bereich der Standard Elektrik Lorenz AG (SEL) und deren 8.000 Mitarbeitern auch die Marke Schaub Lorenz, die 1955 von den SEL-Vorgängern C. Lorenz AG aus Berlin und der von ihr 1940 übernommenen G. Schaub Apparatebau aus Pforzheim eingeführt worden war. Zu der Übernahme gehörten auch die Werke des Unternehmens Graetz in Bochum (TV-Produktion), ein Holzwerk in Geroldsgrün sowie das Bildröhrenwerk in Esslingen am Neckar. Aus der Fabrikationsstätte in Bochum wurde das Nokia-Werk Bochum, wo die Nokia Unterhaltungselektronik (Deutschland) GmbH zunächst Fernsehgeräte und SAT-Empfänger weiterbaute und ab 1989 Mobiltelefone produzierte. Am 1. April 1988 wurde die Nokia Data Deutschland GmbH gegründet. Zu Beginn der 1990er-Jahre erwarb Nokia Teile der damaligen Philips Kommunikations Industrie GmbH in Deutschland, bei der u. a. Glasfaserkabel hergestellt wurden.
Seit 1999 firmieren alle Geschäftsbereiche unter Nokia GmbH. In Deutschland wurden 2007 insgesamt 33 Mio. Mobiltelefone verkauft, entsprechend einem Anteil am Weltmarkt (1,13 Milliarden Stück) von drei Prozent. Etwa 40 Prozent dieser Geräte waren von Nokia hergestellt worden.
Von den rund 4.500 Arbeitsplätzen in Deutschland, darunter 3000 am Standort Bochum, sollte 2001 jeder zehnte Arbeitsplatz abgebaut werden. Zugleich wurden Leiharbeiter eingestellt.
Am 15. Januar 2008 kündigte Nokia die Schließung des Nokia-Werks Bochum an, um die Produktion ins Ausland, hauptsächlich ins Nokia-Werk Cluj in Rumänien, aber auch nach Ungarn und Finnland, zu verlegen. Der Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, Jürgen Rüttgers, verwendete in einem Kommentar die Bezeichnung „Subventions-Heuschrecke“ als Kritik. Das Nokia-Werk Bochum wurde nach zähen Verhandlungen und großem Medieninteresse zum 30. Juni 2008 geschlossen.
In den ersten sieben Monaten des Jahres 2008 brach der Umsatz in Deutschland um über 18 Prozent ein, und der Marktanteil sank von 44 Prozent im Vorjahr auf nur noch 36 Prozent. Im selben Zeitraum sank der Marktanteil in Westeuropa um lediglich zwei Prozent, weltweit stieg dieser auf 40 Prozent. Diese Zahlen werden in verschiedenen Wirtschaftsmedien als Folge des Imageschadens, der aus der Werksschließung in Bochum resultiere, gewertet.
Am 14. Juni 2012 kündigte Nokia die Schließung des Forschungs- und Entwicklungsstandorts in Ulm mit über 700 Beschäftigten bis Ende 2012 an.
Am 19. November 2013 beschloss die Gesellschafterversammlung die Sitzverlegung von Bochum nach Ratingen. Mit der Übernahme der Handysparte wurde auch die Nokia GmbH eine Tochtergesellschaft von Microsoft.
Der Hauptsitz von Nokia Solutions and Networks in Deutschland befindet sich in München. Von den ca. 4800 Arbeitsplätzen in Deutschland (Stand: 2016) wurden bis 2018 ca. 1400 abgebaut.
Nokia in Frankreich
Am 22. Juni 2020 kündigte Nokia die Streichung von 1.233 Stellen an. Betroffen sind Betrieb im Großraum Paris und der Bretagne vor allem der Bereiche R&D und Zentrale Verwaltung. Als Grund wird ein bereits 2018 begonnenes Kostensenkungsprogramm genannt.
Nokia in Rumänien
Von 2008 bis 2012 produzierte Nokia im Nokia-Werk Cluj.
Im November 2011 beschlagnahmte der rumänische Staat das Nokia-Werk Cluj als Sicherheit für Steuerschulden in Höhe von 10 Millionen US-Dollar. Durch die Beschlagnahmung sollte ein Verkauf des Geländes durch Nokia vor Begleichung der Schulden verhindert werden. Im Dezember 2011 beglich Nokia die Steuerschulden.
Nokia-Mobiltelefone
Mobiltelefone
Nokia-Mobiltelefone wurden im Laufe der Zeit bislang von drei Herstellern bzw. in deren Auftrag gebaut:
von Nokia selbst (1987/1992 bis 2014)
von Microsoft (2014 bis 2016)
von HMD Global bzw. Foxconn (seit 2017)
Nokia
Nokia präsentierte 1987 unter dem Namen Mobira Cityman 900 erstmals ein Mobiltelefon. Das erste GSM-Mobiltelefon von Nokia kam 1992 als Nokia 1011 (benannt nach dem Erscheinungsdatum am 10. November) auf den Markt.
Als Modellbezeichnung für die folgenden Mobiltelefone verwendete Nokia bis Ende 2011 ein Nummerierungsschema, das zwar nicht konsequent verfolgt wurde, aber zur Orientierung und zum Vergleich diente. Die Nummer war meist vierstellig aufgebaut:
Die erste Stelle kategorisierte das Telefon, die folgenden Stellen konnten in vielen Fällen als Indikator für bestimmte Funktionen oder Produktvariationen herangezogen werden.
Die zweite Stelle unterschied oft die Bauform des Modells, aber auch die Funktionalität. Früher wurde durch die zweite Stelle grundsätzlich die Generation unterschieden, z. B. 6110 – 6210 – 6310, 3110 – 3210 – 3310 – 3410.
Die dritte Stelle unterschied früher das mögliche Netz: 6110 D-Netz (900 MHz), 6130 E-Netz (1800 MHz), 6150 Dualband. Diese Unterscheidung gab es später nicht mehr, da alle Handys mindestens dualbandfähig wurden. Später zeigte die dritte Stelle bei einigen Geräten die Generation, so war bspw. das 6210 kein reines D-Netz-Modell mehr. Dem 6220 folgte das weiterentwickelte 6230 und das 6230i. Das 6220 war jedoch keine Weiterentwicklung des 6210.
Die vierte Stelle – zumeist „0“ – bezeichnete meist die Ausstattung des Modells. So fehlt beim 6681 gegenüber dem 6680 UMTS und Zweitkamera, das 6021 hat im Gegensatz zum 6020 keine Kamera, verfügt jedoch über Bluetooth.
Einigen Modellen war als fünfte Stelle ein i hinzugefügt. Dies wies auf eine Verbesserung des Vorgängermodells hin, z. B. 6310 – 6310i, 6610 – 6610i, 6230 – 6230i sowie als neuesten Vertreter das N93i. Diese Maßnahme hatte zum Ziel, ein besonders erfolgreiches Modell dem Stand der Technik anzupassen und weiter im Programm führen zu können.
Ausgesprochen wird die Modellnummer üblicherweise in zwei Teilen, z. B. 6210 als „Zweiundsechzig-Zehn“ oder 9300 als „Dreiundneunzig-Null-Null“, wobei Geräteziffern die mit „00“ enden (z. B. das 9300) häufig auch „Dreiundneunzig-Hundert“ ausgesprochen werden. Modelle mit einer „0“ an dritter Stelle werden wie im Beispiel des 6201 „Zweiundsechzig-Eins“ oder „Zweiundsechzig-Null-Eins“ ausgesprochen.
9xxx (Communicator Series): Communicator-Serie. Große, aufklappbare Smartphones mit Volltastatur
8xxx (Premium/Design Series): Exklusives und edles Design, oberstes Preissegment
7xxx (Fashion/Experimental Series): Sogenannte „Fashion Phones“. Ungewöhnliche Formen und Designs. Neue Funktionen werden normalerweise zuerst in dieser Serie implementiert, beispielsweise beim Nokia 7110 (erstes WAP-fähiges Mobiltelefon).
6xxx (Classic Business Series): Modellserie für hauptsächlich geschäftlichen Einsatz. Schlichtes, funktionales Design und gedeckte Farben. (Nokia 6150, Nokia 6210, Nokia 6230/Nokia 6230i, Nokia 6310, Nokia 6610, Nokia 6680, …)
5xxx (Active Series): Früher Einsteigergeräte, dann Outdoor-Modelle (Nokia 5110/Nokia 5140), inzwischen Telefone mit Ausrichtung auf ein Spezialgebiet (z. B. Nokia 5500 Sport oder Nokia 5800 XpressMusic)
3xxx (Youth Expression Series): Früher Prepaid-Geräte, gegenwärtig Modelle der mittleren Preisklasse (Nokia 3210, Nokia 3310/Nokia 3330, Nokia 3410, Nokia 3510)
2xxx (Basic Expression Series): Einfache Modelle, teils mit Kamera
1xxx (Ultrabasic Series): Einfache Modelle ohne großen Funktionsumfang und mit langer Akkulaufzeit
N-Gage: Umfasst die Modelle der mobilen Spielkonsole N-Gage
Seit 2010 galt die vierstellige Namenskonvention als obsolet. Stattdessen setzte Nokia auf eine neue Strategie aus den vier Kernkategorien Eseries, Nseries, Cseries und Xseries mit einer aufsteigenden Zahlenfolge und einem zusätzlichen Suffix. Die funktionale Einstufung im Portfolio erfolgte über den Stellenwert der Zahl.
Von 2006 bis 2011:
Nseries (Explore): Baureihe für Multimedia- und High-End-Smartphones
Eseries (Achieve): Baureihe für Business-Smartphones
Xseries (Live): Baureihe für Telefone mit besonderen Musikeigenschaften
Cseries: Baureihe für Telefone mit Hauptaugenmerk auf Connectivity
Nokia / Microsoft
Mit dem Nokia 500 Smartphone, das im August 2011 vorgestellt wurde, begann eine dreistellige Modellnummerierung. Im Herbst 2011 präsentierte Nokia die Nokia Lumia-Reihe mit dreistelligen Modellnummern (bzw. vierstelligen bei Phablet-Modellen), die 2014 von Microsoft übernommen, noch im selben Jahr als Microsoft Lumia (ohne den Markennamen Nokia) fortgeführt und schließlich Anfang 2016 eingestellt wurde. Microsoft brachte zwischen Ende 2014 und Ende 2016 lediglich einfach gehaltene, sogenannte feature phones mit dreistelliger Modellnummerierung unter dem Markennamen Nokia (Nokia 1xx, 2xx) auf den Markt.
HMD Global brachte ab 2017 Smartphones mit einstelligen Nummern und Einfach-Handys mit drei- oder vierstelligen Bezeichnungen auf den Markt.
Von 2011 bis 2014
Nokia 500, Nokia 700 (als Nachfolger der Cseries und Vorgänger von Lumia)
Nokia 808 PureView: Symbian-Smartphone mit 41-Megapixel-Kamera und Carl-Zeiss-Objektiv.
Lumia: Baureihe für Smartphones mit Windows Phone
Asha: Baureihe für günstige Telefone mit Nokia Series 40
2014:
Nokia X: Baureihe für Smartphones mit Android
Seit 2013:
Nokia Series 30+ Modelle (Nokia: 108, 220, 225; Microsoft: 130, 215, 105, 222, 230, 216)
HMD Global
Seit 2017:
Einfach-Handys (Series 30+): Nokia 150 (Dez 2016), Nokia 130 (2017), Nokia 105 (2017)
Retro-Klassiker: Nokia 3310 (2G, 3G, 2017; 4G, 2018), Nokia 8110 4G (KaiOS, 2018), Nokia 2720 Flip
Einsteigermodelle: Nokia 1 (2018), Nokia 2 (2017), Nokia 2.1 (2018), Nokia 3 (2017), Nokia 3.1 (2018), Nokia 3.1 Plus (2018), Nokia 3.2 (2019), Nokia 4.2 (2019)
Mittelklassemodelle: Nokia 5 (2017), Nokia 5.1 (2018), Nokia 5.1 Plus (2018), Nokia 6 (2017), Nokia 6.1 (2018), Nokia 6.1 Plus (2018; auch als Nokia X6), Nokia 7 (2017), Nokia 7.1 (2018), Nokia 7 plus (2018), Nokia 7.1 Plus (2018)
Oberklassemodelle: Nokia 8 (2017), Nokia 8 Sirocco (2018), Nokia 8.1 (2018; entspricht Nokia 7.1 Plus), Nokia 8.1 Plus (2019; auch Nokia X71), Nokia 9 PureView (2019)
Hard- und Software
Die ursprünglichen Nokia-Mobiltelefone wurden durch ein proprietäres Ladegerät geladen, welches zwei Arten von Anschlüssen verwendete (3,5 mm und 2 mm). In der Regel konnte jedes Nokia-Telefon mit nahezu jedem Nokialadegerät, das den gleichen Anschluss verwendete, aufgeladen werden. Spätere Modelle nutzen den Micro-USB-Anschluss oder einen USB-Typ-C-Anschluss als Ladebuchse.
Im Gegensatz zu anderen Herstellern war es bei Nokia meist möglich, nicht nur den Akku, sondern auch das Display, Gehäuseteile und die Tastatur auszutauschen.
Ehemalige Betriebssysteme
Series 20: proprietäres Nokia OS
Series 30: proprietäres Nokia OS
Series 40: proprietäres Nokia OS
Communicator 9000-9110i: Geos 3.0
S60 (vormals Series 60): Symbian OS
Series 80: Symbian OS
Series 90: Symbian OS
Symbian^3 (Weiterentwicklung des Symbian OS mit überarbeiteter S60-Benutzeroberfläche)
Maemo: Internet Tablet OS (basierend auf Linux) (eingesetzt in den Nokia Internet Tablets und auf dem Telefon N900)
MeeGo: Fusion aus Maemo und Moblin (basierend auf Linux)
Windows Phone 7: primäres Betriebssystem für Smartphones von November 2011 bis 2016
Windows Phone 8: Bis 2016
Aktuelle Betriebssysteme
Series 30+: proprietäres Nokia OS
Android: Seit Februar 2014
Feature OS: Betriebssystem für Einfach-Handys (eingesetzt beim Nokia 3310 3G)
Smart Feature OS powered by KaiOS: Betriebssystem für Einfach-Handys (eingesetzt beim Nokia 8110 4G)
In bestimmten Mobiltelefonen für das CDMA-Netz wurde das von Qualcomm entwickelte REX (Real-Time Executive) als Betriebssystem eingesetzt. Die von Nokia exklusiv für den Netzbetreiber Verizon Wireless hergestellten Telefone wurden mit dem Verizon Wireless UI als Benutzeroberfläche ausgestattet.
Im Februar 2011 gab Nokia bekannt, zukünftige Smartphones mit dem Betriebssystem Windows Phone von Microsoft auszurüsten. Nokia erhält dafür im Gegenzug rd. eine Mrd. US-Dollar für Entwicklung und Werbung von Microsoft. Die Vorstellung der ersten Nokia-Modelle mit Windows Phone 7.5 im Rahmen der Nokia World 2011 am 26. Oktober 2011 wurde überwiegend positiv aufgenommen.
Ende Februar 2012 stellte Nokia beim Mobile World Congress in Barcelona mit dem Modell Nokia 808 PureView ein Smartphone mit einer 41-Megapixel-Kamera und Carl-Zeiss-Objektiv vor, dem das Betriebssystem Symbian Belle mit Feature Pack 1 zugrunde lag. Im Oktober 2012 wurde dazu von Nokia für das Betriebssystem Symbian Belle das Feature Pack 2 veröffentlicht. Das Nokia 808 PureView war das letzte Smartphone von Nokia mit dem Betriebssystem Symbian.
Neben Mobiltelefonen bot Nokia zeitweise auch andere Produkte an, wie z. B. ab Ende 2009 das zwei Jahre zuvor angekündigte Nokia Booklet 3G, ein Netbook mit Windows 7 als Betriebssystem.
Logos
Kritik
2009 übte Nokia Druck auf die finnische Regierung aus, um ein Gesetz beschließen zu lassen, das Unternehmen die Überwachung der elektronischen Kommunikation von Mitarbeitern ermöglicht. Diese Form der Mitarbeiterüberwachung wurde unter anderem von der finnischen Polizei kritisiert, die diese Maßnahme als Form der Übertragung „behördlicher Befugnisse“ ansah. Nokia drohte, dass es im Fall der Ablehnung des Gesetzes Finnland verlassen werde. Das Gesetz, von den Medien „Lex Nokia“ genannt, wurde am 4. März 2009 beschlossen.
Auch das Joint-Venture Nokia Siemens Networks stand wegen der Lieferung von Überwachungsanlagen an den Iran in der Kritik, da diese zur Beschneidung der Meinungsfreiheit, der Unterdrückung der Proteste nach den iranischen Präsidentschaftswahlen 2009 und zur Verfolgung von politischen oppositionellen Gruppierungen eingesetzt wurden. Auch viele andere Staaten, die keine Demokratien sind, sind Kunden dieses Konzerns.
Der Autor Frank Piasecki Poulsen hatte sich auf die Suche nach Coltan-Minen im Kongo begeben und recherchiert, wie dort die wichtigen Mineralien für die Handyproduktion unter inhumanen Bedingungen abgebaut werden. In seinem Dokumentarfilm „Blutige Handys“ konfrontiert er Nokia mit dem Vorwurf, die eigene Profitabilität vor die soziale Verantwortung zur Veröffentlichung der Lieferkette, wie von Menschenrechtsorganisationen empfohlen, zu stellen. Die Kritik des Films bezieht sich dabei auf die gesamte Branche, in dem der Autor Nokia „eher [als] Vorreiter“ in Sachen Nachhaltigkeit bezeichnet. Ein Elektronik-Hersteller-Ranking von Greenpeace, in dem Nokia den dritten Platz belegte, unterstützte diese Aussage.
Nachdem es 2008 in Deutschland bei der Schließung des Werks in Bochum und der Verlagerung der Produktion nach Rumänien viel Kritik gegeben hatte, beschloss Nokia bereits drei Jahre nach Fertigstellung, das Werk in Rumänien ebenfalls zu schließen, um die Produktion zwecks weiterer Kosteneinsparungen nach Asien zu verlagern. Dieses führte zu heftiger Kritik seitens der rumänischen Regionalverwaltung, da der Bau auf einer abgelegenen Ackerfläche erst durch millionenschwere Subventionen des rumänischen Staates unterstützt worden war (bspw. der Anschluss an das Strom-, Wasser- und Straßennetz). Der rumänische Staat verkündete daraufhin, dass er prüfen werde, ob die Millionenzahlungen zurückgefordert werden können.
Trivia
Der Signalton für Kurzmitteilungen Spezial ist der Morsecode für SMS. Ähnlich ist der Ansteigend-Signalton der Morse-Code für Connecting People, Nokias Slogan.
Der Klingelton Nokia Tune basiert auf einem Gitarrenstück namens Gran Vals des spanischen Musikers Francisco Tárrega aus dem 19. Jahrhundert. Deswegen wurde dieser Klingelton auf Nokia-Handys ursprünglich Gran Vals genannt, erst 1998 wurde er zu Nokia Tune umbenannt. Nokia behauptet dennoch, es sei eine Hörmarke. Nokia benutzte diesen Klingelton in all seinen Handys und in den meisten Werbespots als Audiologo.
Für Werbespots zu NSeries-Geräten wurde der Song In My Heart aus Mobys Album 18 verwendet. Die ersten Takte hatten sich anschließend zu einer eigenständigen Kennung für die NSeries entwickelt. Für Werbespots der Lumia-Serie wurde der Song Garden von Totally Enormous Extinct Dinosaurs verwendet.
Das Nokia 3310 erlangte aufgrund seiner angeblichen Unzerstörbarkeit eine große Verbreitung als Internet-Meme.
Weblinks
Offizielle Website von Nokia (englisch)
Offizielle Website des Nokia-Museums (englisch)
Karte mit der Lage der Konzernzentrale (englisch, finnisch und schwedisch) (benötigt JavaScript)
Nokias weltweiter Handyabsatz rutscht ab – Manager Magazin Online, Mai 2011
Einzelnachweise
Unternehmen (Espoo)
Hardwarehersteller
Telekommunikationsgeräte-Hersteller
Elektronikhersteller
Softwarehersteller (Finnland)
Ehemaliges Unternehmen (Ulm)
Unternehmen im EURO STOXX 50
Unternehmen im OMX Helsinki 25
Nokia (Stadt)
Gegründet 1865
|
Q1418
| 193.278075 |
6575
|
https://de.wikipedia.org/wiki/1553
|
1553
|
Ereignisse
Politik und Weltgeschehen
England und Irland
6. Juli: Eduard VI., König von England und Irland aus dem Haus Tudor, stirbt nach rund sechsjähriger Herrschaft im Alter von 15 Jahren in Greenwich wahrscheinlich an Tuberkulose. Nach Beginn seiner Krankheit im Februar haben er und der Regentschaftsrat versucht, die Rückkehr Englands zum Katholizismus zu verhindern. Seine Halbschwestern Maria und Elisabeth wurden aus der Thronfolge ausgeschlossen und stattdessen seine Cousine Jane Grey als Erbin benannt. Der Tod des Königs wird für einige Tage geheim gehalten, damit für die Vorbereitungen der Thronfolge Lady Janes genügend Zeit verbleibt. Hohe Beamte der Regierung und der Behörden schwören der neuen Königin privat ihre Ergebenheit und Treue.
10. Juli: Lady Jane Grey wird zur Königin von England und Irland proklamiert. Am 19. Juli wird sie jedoch von Getreuen der katholischen Königin Maria I. gestürzt und verhaftet. Die Thronfolge Lady Janes wird als eine unter Zwang herbeigeführte Tat widerrufen und ihre Erbfolge für ungesetzlich erklärt. Auch ihr Vater Henry Grey, 1. Duke of Suffolk, ihr Ehemann Guildford Dudley und ihr Schwiegervater John Dudley, 1. Duke of Northumberland, werden verhaftet. Letzterer wird noch im gleichen Jahr, am 22. August, hingerichtet.
Am 3. August zieht Maria zusammen mit ihrer Schwester Elisabeth, die ihren Thronanspruch unterstützt hat, triumphierend in London ein und nimmt zeremoniell den Tower in Besitz. Wie es zum Amtsantritt eines neuen Monarchen üblich ist, begnadigte sie zahlreiche im Tower inhaftierte Gefangene, unter anderem die hochrangigen Katholiken Thomas Howard, 3. Duke of Norfolk, Edward Courtenay, 1. Earl of Devon und Stephan Gardiner. Letzteren ernennt sie zu ihrem Lordkanzler.
1. Oktober: Maria wird in der Westminster Abbey zur Königin von England und Irland gekrönt.
Zweiter Markgrafenkrieg
9. Juli: In der Schlacht bei Sievershausen im Zweiten Markgrafenkrieg besiegt Kurfürst Moritz von Sachsen seinen ehemaligen Verbündeten Markgraf Albrecht Alcibiades von Brandenburg-Kulmbach und trägt damit wesentlich zum Zustandekommen des Augsburger Religionsfriedens zwei Jahre später bei. Durch einen Schuss in den Unterleib wird er in der Schlacht allerdings so schwer verletzt, dass er seinen Verletzungen zwei Tage später erliegt. Da er ohne männlichen Nachkommen stirbt, wird sein jüngerer Bruder August neuer Kurfürst von Sachsen.
7. August: Die Belagerung von Hof endet mit der Einnahme der Stadt durch Heinrich IV. von Plauen am 28. September.
11. Oktober: Albrecht Alcibiades erobert Hof zurück.
26. November: Plünderung und Zerstörung der Stadt Kulmbach im Rahmen des Zweiten Markgrafenkrieges.
27. November: Hof wird von den Gegnern des Markgrafen neuerlich erobert. Georg Wolf von Kotzau wird als Statthalter eingesetzt.
Weitere Ereignisse in Europa
24. August: Richard Chancellor, der im Auftrag einer Londoner Handelskompanie einen nördlichen Seeweg nach China erkunden sollte, verschlägt es mit der Bonaventure an die Mündung der Nördlichen Düna; zwei Begleitschiffe waren gesunken. Im Dezember treffen die Engländer in Moskau ein. Die Engländer entdecken über das Weiße Meer den nördlichen Zugang zum Moskauer Reich und stellen eine wichtige Handelsverbindung mit Westeuropa her. (vgl. Muscovy Company)
Amerika
25. Dezember: In der Schlacht von Tucapel im Arauco-Krieg in Araukanien besiegen Mapuche unter ihrem Kriegshäuptling Lautaro eine Konquistadorentruppe unter Pedro de Valdivia, dem spanischen Generalkapitän und Gouverneur von Chile. Der gefangene Gouverneur wird anschließend hingerichtet, der exakte Tag ist wegen widersprüchlicher Quellen ungewiss.
Asien
In Japan wird die Schlacht von Fuse geschlagen, die erste von fünf Schlachten von Kawanakajima zwischen Takeda Shingen aus der Provinz Kai und Uesugi Kenshin aus der Provinz Echigo. Aufgrund ungünstiger Bedingungen brechen beide Seiten den Kampf ab und treffen kurze Zeit später erneut aufeinander. Jedoch kann auch hier keine der beiden Armeen den Sieg für sich erringen.
Portugiesen errichten mit chinesischer Erlaubnis ein Handels- und Missionarszentrum in Macau. Die Souveränität über den Handelsposten bleibt jedoch beim Kaiserreich China.
Sultan Süleyman I. beginnt seine dritte und letzte Kampagne gegen Tahmasp I. im Osmanisch-Safawidischen Krieg. Während eines Halts der Armee bei Ereğli bei Konya lockt der Großwesir Rüstem Pascha den ältesten Sohn Süleymans Şehzade Mustafa in eine Falle: Er bietet ihm an, sich der Armee seines Vaters anzuschließen, überzeugt aber gleichzeitig den Sultan von dessen vermeintlichen Umsturzabsichten. Süleyman betrachtet die um Mustafa versammelten Truppen als Bedrohung und befiehlt daraufhin die Hinrichtung des Prinzen. Şehzade Mustafa galt bis zu seinem Lebensende als Anwärter auf den osmanischen Thron.
Wirtschaft
Taler Johann Friedrichs des Großmütigen nach seiner Gefangenschaft
Wissenschaft und Technik
Suche nach der Nordostpassage
Der englische Offizier Hugh Willoughby macht sich mit einer aus drei Schiffen bestehenden Expedition als erster Westeuropäer auf die Suche nach einer Nordostpassage nach China. Im August werden die Schiffe durch einen Sturm getrennt. Die Edward Bonaventure unter dem Kommando von Richard Chancellor setzt daraufhin ihren Weg alleine in Richtung Russland fort.
Geschichte
Pedro de Cieza de León gibt den ersten Band seiner Cronica del Perú heraus.
Medizin und Naturwissenschaften
Januar: Die religiöse Schrift Christianismi Restitutio des Michael Servetus enthält erstmals kurzgefasste schriftliche Erläuterungen zum Lungenkreislauf, die auf den Entdeckungen des mittelalterlichen arabischen Arztes Ibn an-Nafīs beruhen und im Widerspruch zu den traditionellen Lehren Galens stehen.
Lehre und Forschung
4. März: Offizieller Gründungstag des Akademischen Gymnasiums, des ältesten Gymnasiums in Wien, durch die Anerkennung seitens der Universität Wien. Die Schule wird bis 1773 von den Jesuiten (danach lange Zeit von den Piaristen) geführt.
Technische Errungenschaften
Die Siebenbrunner Hofwasserleitung, die älteste Wasserleitung nach Wien, wird fertiggestellt.
Der Bau des Aquädukts des Padre Tembleque in Mexiko beginnt.
Kultur
15. November: Beim Bau von Festungen nahe dem italienischen Arezzo wird die Chimäre von Arezzo, ein Beispiel etruskischer Kunst, gefunden.
18. Dezember: Der Elefant Soliman stirbt vermutlich auf Grund nicht artgemäßer Haltung in Wien.
Religion
Die Hinrichtung des Michael Servetus in Genf
Michael Servetus lässt im Januar in Vienne heimlich seine Schrift Christianismi Restitutio drucken. Darin wendet er sich gegen das Dogma der Dreifaltigkeit und gegen die Prädestinationslehre, die Johannes Calvin in seinem Hauptwerk Institutio Christianae Religionis als wesentliche Grundsätze des Christentums festgelegt hat. Servet ist der Ansicht, dass Gott niemanden verurteilt oder verdammt, der sich nicht durch eigene Gedanken, Worte oder Taten selbst verurteilt. Er wird am 4. April wegen Ketzerei verhaftet und flieht am 7. April aus dem Gefängnis der Bischofsresidenz. Er wird verurteilt, in Vienne mit seinen Büchern in effigie verbrannt und flieht nach Genf, wo er am 12. August erneut verhaftet wird. In dem folgenden Verfahren, das durch heftige theologische Auseinandersetzungen zwischen Servetus und Calvin gekennzeichnet ist, erkennt auf Calvins Beharren hin die Mehrheit der Richter nach einem Gesetz, das in ihrem Land nicht wirksam ist, für eine Tat, die nicht in ihrem Land begangen worden ist, und für eine Person, die nicht ihrer Gewalt untersteht, auf die Todesstrafe. Auf Drängen von Guillaume Farel, einem anderen in Genf wirkenden Reformator, veranlasst Calvin am 27. Oktober die Vollstreckung des Todesurteils mittels des Scheiterhaufens. Der Augenzeuge Pieter Overd’hage holt angeblich das mit zu verbrennende Exemplar der Restitutio aus den Flammen.
Weitere religiöse Ereignisse
20. April: Das Erzbistum Bagdad der Chaldäer wird gegründet.
9. September: Papst Julius III. lässt in Rom die in den Tagen zuvor bei Juden konfiszierten Talmudexemplare öffentlich verbrennen. Die Inquisition rät in der Folge auch anderen christlichen Herrschern zu diesem Vorgehen gegenüber dem jüdischen Schriftwerk.
Etwa 200 Mitglieder der Londoner Fremdlingsgemeinde des Reformators Johannes a Lasco, die zunächst unter in König Eduard VI. von England dort aufgenommen worden sind, müssen vor der katholischen Königin Maria I. fliehen und erreichen nach Abweisung in Kopenhagen im Herbst Travemünde. Das gilt als der Beginn der Reformierten Kirche in Lübeck.
Geboren
Geburtsdatum gesichert
12. Januar: Johannes Wanckel, deutscher Geschichtswissenschaftler († 1616)
8. Februar: Marija Fjodorowna Nagaja, Zarin von Russland († 1612)
29. April: Albrecht Friedrich, regierender Fürst des Herzogtums Preußen († 1618)
30. April: Louise de Lorraine-Vaudémont, Königin von Frankreich († 1601)
14. Mai: Margarete von Valois, Königin von Frankreich und Navarra († 1615)
28. Mai: Eberhard von Weyhe, Hofbeamter, Jurist und Schriftsteller († 1633)
24. Juni: Philipp Wilhelm von Cornberg, deutscher Adliger († 1616)
27. Juni: Franz III., Graf von Waldeck zu Landau († 1597)
8. Juli: Philipp Jakob Schröter, deutscher Mediziner († 1617)
15. Juli: Johann Schweikhard von Cronberg, Erzbischof und Kurfürst von Mainz († 1626)
26. September: Nicolò Contarini, 97. Doge von Venedig († 1631)
20. Oktober: Zacharias Brendel der Ältere, deutscher Philosoph, Physiker, Mediziner und Botaniker († 1626)
21. November: Philipp Ludwig I., Graf von Hanau-Münzenberg († 1580)
23. November: Prospero Alpini, italienischer Arzt und Botaniker († 1617)
13. Dezember: Heinrich IV., König von Frankreich († 1610)
Genaues Geburtsdatum unbekannt
John Florio, englischer Übersetzer und Gelehrter († 1625)
John Lyly, englischer Schriftsteller († 1606)
Thomas Muffet, englischer Arzt und Naturforscher († 1604)
Joachim Reutlinger, Schweizer Bürgermeister († 1620)
Geboren um 1553
Leonhard Lechner, Kirchenmusiker in Württemberg († 1606)
Gestorben
Erstes Halbjahr
1. Januar: Johannes Rivius, deutscher Pädagoge und Theologe (* 1500)
13. Januar: Georg II., Herzog von Münsterberg und Oels, Graf von Glatz (* 1512)
4. Februar: Caspar Othmayr, deutscher Priester, Theologe und Komponist (* 1515)
6. Februar: Ernst I. von Baden-Durlach, Markgraf von Baden-Pforzheim (* 1482)
19. Februar: Erasmus Reinhold, deutscher Astronom und Mathematiker (* 1511)
5. März: Augustin Hirschvogel, deutscher Geodät und Kartograf (* 1503)
7. März: Wolfgang Dachstein, Organist und Textdichter (* 1487)
18. März: Václav Hájek z Libočan, böhmischer Chronist
5. April: Anton Corvinus, deutscher lutherischer Theologe und Reformator (* 1501)
9. April: François Rabelais, französischer Schriftsteller (* 1494)
5. Mai: Erasmus Alber, deutscher Theologe, Reformator und Dichter (* 1498)
13. Mai: Johannes Aepinus, deutscher Theologe und kirchenpolitischer Reformator (* 1499)
16. Mai: Fünf Märtyrer von Lyon, französische Theologiestudenten und evangelische Märtyrer
23. Mai: Francesco Donà, 79. Doge von Venedig (* um 1468)
22. Juni: Girolamo Marini, italienischer Architekt und Militäringenieur (* um 1500)
Zweites Halbjahr
6. Juli: Eduard VI., König von England (* 1537)
11. Juli: Moritz, Herzog und Kurfürst von Sachsen (* 1521)
15. Juli: Franz von Waldeck, Bischof von Minden, Osnabrück und Münster (* wahrscheinlich 1491)
18. Juli: Orazio Farnese, Herzog von Castro (* 1531)
31. Juli: Wilhelm von Schachten, landgräflich-hessischer Marschall (* um 1500)
3. August: Thomas Atzersen, deutscher Pfarrer
8. August: Girolamo Fracastoro, italienischer Arzt, Dichter und Philosoph (* um 1476/78)
17. August: Karl III., Herzog von Savoyen (* 1486)
22. August: John Dudley, 1. Duke of Northumberland, englischer Adeliger (* 1504)
5. September: Giovanni Mollio, italienischer Reformator und evangelischer Märtyrer (* um 1500)
6. September: Juan de Homedes, 47. Großmeister des Malteserordens (* 1477)
8. September: Francisco de Montejo, spanischer Konquistador (* um 1479)
9. September: Justinian von Holzhausen, Frankfurter Patrizier und Bürgermeister (* 1502)
zwischen 4. September und 7. Oktober: Cristóbal de Morales, spanischer Komponist (* um 1500)
6. Oktober: Caspar Huberinus, deutscher lutherischer Theologe und Reformator (* 1500)
6. Oktober: Şehzade Mustafa, osmanischer Prinz (* 1515)
16. Oktober: Lucas Cranach der Ältere, deutscher Maler, Grafiker und Buchdrucker (* 1472)
17. Oktober: Georg III., Fürst von Anhalt-Plötzkau sowie Priester und treibende Kraft der Reformation (* 1507)
19. Oktober: Bonifazio Veronese, italienischer Maler (* um 1487)
27. Oktober: Michael Servetus, spanischer Arzt, Gelehrter, Humanist, Theologe und Antitrinitarier (* 1511)
28. Oktober: Giovanni Salviati, Kardinal der Römischen Kirche (* 1490)
30. Oktober: Jakob Sturm von Sturmeck, reformierter Bürgermeister von Straßburg (* 1489)
15. November: Lucrezia di Lorenzo de’ Medici, Angehörige des Patriziats von Florenz (* 1470)
21. Dezember: Sinan Pascha, Großadmiral der osmanischen Marine
25. Dezember: Pedro de Valdivia, span. Konquisitator (* 1497)
Genaues Todesdatum unbekannt
Giorgio di Pietro Andreoli, italienischer Bildhauer, Töpfer und Majolikamaler (* zwischen 1465 und 1470)
Cornelis Anthonisz, niederländischer Maler und Kartograph (* um 1523)
James Wedderburn, schottischer Dichter (* um 1495)
Weblinks
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https://de.wikipedia.org/wiki/Pflug
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Pflug
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Ein Pflug ist ein landwirtschaftliches Gerät zur Lockerung und zum Wenden (Pflügen) des Ackerbodens im Bereich des Bearbeitungshorizontes. Mit dem Begriff Pflug wird eine Maschine beschrieben, die zwei Kraftquellen nutzt. Die eine Kraft wirkt über den Pflugbaum (Grindel) als eine parallel zum Boden gerichtete Zugkraft, die andere über den Führungsgriff (Sterz) als eine senkrecht zum Boden hin wirkende Druckkraft.
Pflügen
Pflügen ist das Lockern und Wenden der Ackerkrume mit Hilfe eines Pflugs (Bodenbearbeitung). Durch Pflügen wird das Bodengefüge aufgelockert, indem der Boden in der jeweiligen Bearbeitungtiefe gewendet wird. Je nach Art und Einstellung des Pfluges, Bodengegebenheiten und Nutzung von zusätzlichen Geräten (v. a. Packer) kann der Ackerboden mehr oder weniger uneben zurückgelassen werden. Durch die erhöhte Sauerstoffzufuhr und Witterungseinwirkungen wird die Zersetzung organischer Stoffe bewirkt. Im Sinne der (ggf. erstmaligen) Vorbereitung eines Bodens als Ackerland durch das Pflügen spricht man auch von Umbruch.
Das Pflügen dient folgenden Zwecken:
Durchlüftung und v. a. im Frühjahr Erwärmung des Bodens mit dadurch geförderter biochemischer Zersetzung älteren pflanzlichen Materials. Allerdings führt das nach herrschender Meinung auch zu Humusverlust und Freisetzung klimawirksamer Gase (Bodenatmung). Langfristig kann es zum Beispiel zum Rückgang mikrobieller Aktivität oder der Wasserspeicherfähigkeit kommen
gleichmäßige und bedeckende Einarbeitung von Ernterückständen oder auf den Acker aufgebrachten organischen Materials (z. B. Mist, Gülle, Häckselstroh)
mechanische Begleitvegetations-Bekämpfung
Bekämpfung von tierischen Schädlingen, insbesondere Feldmäusen, durch Zerstörung der unter der Bodenoberfläche gelegenen Gänge und Nistkammern
mechanische Lockerung des Bodens, insbesondere von verdichteten Stellen
Vorbereitung des Ackers als Saatbett
Im Regelfall wird viereckig mit dem Kehrpflug oder Beetpflug gepflügt, bei einem genügend breiten Rain (Feldrand) auch streifenförmig. Beim Konturpflügen (amerik. contour plowing) werden die Furchen parallel zum Hang gelegt, um die Erosion (Hangabspülung) zu vermindern. Dies wurde vor allem in den amerikanischen Great Plains gepflegt.
Der Erfolg des Pflügens ist vom richtigen Zeitpunkt, von der dem Boden angepassten Arbeitstiefe und von der Witterung abhängig. Wird dies nicht beachtet, kann der Pflug der Bodenstruktur erhebliche Schäden zufügen. Normalerweise wird im Herbst gepflügt. Große Erdschollen können danach über den Winter durch Frostsprengung zerfallen. Wegen der Bodenorganismen und der Humusschicht soll nicht zu tief gepflügt werden. Zur Saatbettbereitung werden Felder danach mit der Egge geglättet („geeggt“).
Kritik am Pflügen
Aufgrund der Schäden, die Pflügen dem Boden zufügt, wird bei der konservierenden Bodenbearbeitung auf das Pflügen verzichtet. Die Bodenerosion wird vermindert, da fließendes Wasser am Hang oder Wind den stark aufgelockerten Boden leicht erodieren kann. Die Wasserverluste durch Verdunstung werden verringert, wenn die Pflanzenrückstände nicht eingepflügt werden, sondern auf der Oberfläche belassen werden. Wenn der Boden gepflügt wird, nimmt unterhalb der Pflugsohle die Dichte des Bodens schlagartig zu. An dieser Grenzschicht staut sich bei Starkregenereignissen das Wasser, sodass leichter Staunässe auftreten kann. Auch der Boden als Ökosystem profitiert von einer pfluglosen Bearbeitung.
Geschichte des Pfluges
Der gelehrte Kaiser Shin-nong soll einer Legende zufolge um 3700 v. Chr. in China den Pflug erfunden haben. Die früheste Methode, den Boden aufzulockern, war der noch heute in vielen Teilen der Welt verwendete Grabstock oder Furchenstock, der eine gewisse Hebelwirkung bot und zum Ziehen von flachen Saatrillen benutzt werden konnte. Das Erdreich wurde kleinflächig mit Hacken aufgelockert. Es folgten pflugähnliche, durch Menschen gezogene Geräte (Ziehstock, Ziehspaten). Bereits in prähistorischer Zeit löste der Pflug an vielen Orten Hacken oder Spaten sowie Grab-, Furchen- und Pflanzstöcke für die Feldarbeit ab.
Ritzpfluggerät
Neolithische Kulturen
Frühformen des Pfluges wurden anscheinend parallel in verschiedenen Kulturen der Jungsteinzeit erfunden (Harappa, Starčevo-Kultur). Diese ersten Formen waren Ritzpflüge, die fachsprachlich als Ard oder Arl bezeichnet werden. Sie besaßen eine symmetrische Holzspitze, die später durch Eisenplatten verstärkt wurde. Da er bei einem einmaligen Arbeitsvorgang die oberste Bodenschicht nur leicht aufritzte, ging man dazu über, den Acker in zwei Richtungen zu pflügen. Diese Art des Kreuzpflügens wurde seit der Jungsteinzeit ausgeführt und hat sich stellenweise, vor allem im Mittelmeerraum, bis in die Neuzeit gehalten.
Der früheste Fund eines Grabstock- oder Hakenpfluges in Europa stammt aus „Egolzwil 3“ Kanton Luzern und datiert in die Mitte des 5. Jahrtausends v. Chr. Furchenspuren wurden auf dem Gräberfeld von Flintbek, Kreis Rendsburg-Eckernförde, Norddeutschland sowie unter Megalithanlagen und in Siedlungen in den Niederlanden und Dänemark gefunden. Diese Region wurde um 4300 v. Chr. von der Trichterbecherkultur (TBK) besiedelt. Diese Hakenpflüge, die aus einem Grabstock bestanden, haben einen Pflughaupt, nach oben gebogenen und Einstellung in die Sterze, sind von der Baum durchbohrt und wurden von Ochsen gezogen.
Der älteste in Deutschland gefundene hölzerne Pflug ist der Krümelpflug von Walle in Ostfriesland. Zunächst in das 4. Jahrtausend v. Chr., später (in den fünfziger Jahren) in die ausgehende Jungsteinzeit (etwa 2000 v. Chr.) eingeordnet, datieren neuere Messungen den Pflug inzwischen in die frühe Bronzezeit (1940 bis 1510 v. Chr.). Kennzeichnend für den Krümel- oder Bogenpflug ist, dass Krummbaum (auch Krümel), Sohle und Schar aus einem Stück Holz gearbeitet sind; hinzu kommt nur noch die Sterze, die in das rückwärts überstehende Sohlenende hinter dem Krummbaum gesteckt und mit Holzkeilen verfestigt ist. Solche Hakenpflüge hielten sich in Mitteleuropa bis ins späte Mittelalter; die süddeutschen Namen Arl oder Erling ‚Ritz-, Krümelpflug‘ wurden aus dem Slawischen entlehnt.
Jens Lüning nimmt an, dass bereits die Linearbandkeramiker den Pflug nutzten. Dafür gibt es indirekte Belege wie die Verochsung von Stieren. Die meisten Autoren gehen jedoch davon aus, dass der Pflug zusammen mit Wagen erst in der Trichterbecherkultur bzw. der Badener Kultur in Mittel- und Nordeuropa gebräuchlich wurde. Aus der Zeit der Schnurkeramik liegen Pflugspuren vor.
Bronze- und eisenzeitliche Pflüge
Zunächst zogen Ochsen, später auch Kühe den Pflug. Sehr viel später kamen Esel, Kamele oder Maultiere hinzu, in Mitteleuropa in größeren Betrieben die leistungsfähigeren Pferde.
Mesopotamien und Ägypten (später auch Indien) sind vermutliche eigenständige Mutterlandschaften des Pfluges. Der Übergang vom Hack- zum Pflugbau in Ägypten mag dort schon während der Naqada-II-Periode (3700/3600–3200 v. Chr.) stattgefunden haben. Zwei Arten sind zu unterscheiden: der tierbespannte Umbruchpflug (sumerisch apin, akkadisch ḫarbu, ägyptisch hb.w), um die Ackererde zu lockern, und der altmesopotamische Saatpflug (sumerisch numun-gar, akkadisch epinnu) mit Saattrichter, mit dem eine gleichmäßige Aussaat erreicht wurde. Nach 3000 v. Chr. wurden altsumerische Pflüge typischerweise mit Bronzescharen beschlagen; mit Eisenscharen nach 1200 v. Chr. in Assyrien und Ägypten. Noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts erfolgte der Pflugbau in Kleineurasien weitgehend auf diese einfache Weise.
Bodenwendendes Pfluggerät
In den 70er Jahren des 1. Jahrhunderts n. Chr. beschreibt Plinius der Ältere in seiner Naturgeschichte den Räderpflug mit breiter Schar zum Wenden der Scholle als neue Erfindung der rätischen Gallier: „Vor nicht langer Zeit hat man im rätischen Gallien die Erfindung gemacht, an einer solchen Pflugschar zwei kleine Räder anzubringen; man nennt diese Art plaumoratum. Die Spitze hat die Form eines Spatens. … Die Breite der Pflugschar wendet den Rasen um“ (Übersetzung Roderich König).
Im 4. Jahrhundert n. Chr. kam der Räderpflug auf; dieser konzentriert die Zugleistung des Tieres mehr auf das Aufbrechen des Bodens statt auf das Ziehen des recht schweren Gerätes. Die Verwendung von Pferden zum Pflügen wurde mit der Erfindung des Kummets besonders effektiv, denn der noch bis zum 8. Jahrhundert verwendete Hals- und Leibgurt beeinträchtigte die Atmung des Zugtieres, und das danach gebräuchliche Stranggeschirr war nicht viel effektiver.
Eine wesentliche Verbesserung war die Eisenschar. Die Wirkungsweise des Pfluges verbesserte sich durch die Anbringung eines Streichbrettes (seit Pflüge aus Stahl gefertigt werden, Streichblech genannt), und des Messerseches enorm: Durch die Schneidwerkzeuge Schar und Sech wird der Erdstreifen herausgeschnitten und vom Streichblech gewendet. Der Bewuchs, auch ungewolltes Beikraut (sog. Unkraut), wird dadurch vergraben und es findet sich nur saubere Erde auf der Oberfläche. Bei manchen Konstruktionen findet man sogenannte Vorschneider oder Kolter.
Eisenschare (chin. guan) mit scharfer Spitze, anschließendem Mittelsteg und zwecks Reibungsverminderung leicht aufwärts geneigten Seitenflügeln zum Abstreichen der Erde gab es in China bereits seit dem 3. Jahrhundert v. Chr. Schon zu dieser Zeit – vor der Zeitenwende – existierten in China vier Arten von Streichbrettern, die passgenau (d. h. ohne Reibung) in die Pflugschar übergingen und den Boden unterschiedlich wendeten und aufwarfen. Weiterhin konnte man an der Konstruktion die Tiefe einstellen, in der man die Erde pflügen wollte. Das Wissen um die Bauweise wurde im alten China von offizieller Seite verbreitet.
Der im 15. Jahrhundert entwickelte Kehrpflug besaß ein umsetzbares Streichbrett und eine symmetrische Schar. Dadurch war es möglich, nach rechts und nach links zu pflügen. So konnte der Pflug am Ende der Furche gewendet und in die entgegengesetzte Richtung gepflügt werden.
In Europa wurden Streichbretter erst im späten Mittelalter (zunächst aus Holz) eingeführt und danach bis ins 18. Jahrhundert noch sehr primitiv gebaut, so dass man große Reibungsverluste hatte und mehr Zugtiere für die gleiche Arbeitsleistung benötigte. Erst im 18. Jahrhundert begann mit dem Rotherham Plough ein ernsthaftes Umdenken. Ein Pionier auf dem Gebiet war James Small (um 1730–1793), dessen Pflüge sich in England und Schottland (aber noch nicht in Deutschland) 150 Jahre lang durchsetzten. Der Schotte John Bailey baute gegen Ende des 18. Jahrhunderts den ersten Pflug nach mathematischen Grundsätzen, der durch Albrecht Daniel Thaer auch in Deutschland eingeführt wurde.
Im Jahr 1809 wurde in der Steiermark vom Dorfschmied Pangraz Fuchs in Wagersbach der Fernitzer Pflug hergestellt. Das speziell angebaute Sech war eine Innovation zu den damals regional üblichen Pflügen. Neu war die Art der Befestigung am Grindel. Den Namen Fernitzer Pflug bekam er, weil Wagersbach damals zur Pfarre Fernitz gehörte. Auf Betreiben des Erzherzogs Johann von Österreich verbreitete sich dieser Pflug bald in der gesamten Habsburgermonarchie.
Zwischen 1824 und 1827 konstruierten die Cousins František (1796–1849) und Václav Veverka (1799–1849) aus Rybitví die ersten steilwendenden Sturzpflüge (Ruchadlo), deren Streichblech über eine zylindrische, schräggestellten Form verfügt, welche den gepflügten Erdstreifen um seine Querachse biegt und so bricht und krümelt.
Der amerikanische Schmied John Deere erfand 1837 den ersten selbstreinigenden Stahlpflug und legte damit das Fundament für sein Unternehmen Deere & Company, das heute der größte Landmaschinenhersteller der Welt ist.
Als um 1900 die Vorläufer von Traktoren auf die Äcker kamen, hießen sie „Kraftpflüge“.
Aufbau des Pfluges
Der Pflugkörper in seiner Gesamtheit besteht aus:
Schar
Das den Boden horizontal schneidende Messer, manchmal noch unterteilt in vorschneidenden Meißel (Vorschar) und die nachschneidende eigentliche Hauptschar, ist am Streichblech befestigt. Zwillingsschare (Doppelschar) an Kehrpflügen waren bei der früheren Zugtieranspannung sehr verbreitet.
Streichblech
auch Riester, Rüster, Furchenwender, Rüsterbrett und Streichbrett genannt, war anfangs aus Holz und ebenförmig. Das neuzeitliche Streichblech hat eine schraubenförmige oder zylindrische Form und wendet den von der Schar geschnittenen Boden zur Seite. Oftmals ergänzt durch eine Streichschiene zur sicheren Wendung des Bodens.
Sohle
landwirtschaftlich auch Anlage oder Haupt genannt, ist ein Flachstahlstreifen, welcher den vom Streichblech und Schar erzeugten Seitendruck zum ungepflügten Land hin abstützt, die wichtige Voraussetzung für die Pflugsteuerung.
Griessäule
auch Bruststück oder Grieser; an der Griessäule ist oben der Grindel, vorne das Streichblech und die Schar und seitlich die Sohle befestigt. Die Griessäule hält den Pflugkörper zusammen.
Grindel
auch Gründel, Grendel, Pflugbalken, (Pflug-)Baum oder Rahmen genannt, ist die Verbindung des Pflugkörpers zum Zugpunkt.
Sterzen
nennt man die Steuergriffe bei Zugtierpflügen; an älteren Schwingpflügen sind auch einarmige Sterze zu finden.
Hat der Pflug ein schraubenförmiges Streichblech, spricht man von Schraubenkörpern, andernfalls von zylindrigen Körpern. Der schraubenförmige Körper wendet etwa 110 bis 115 Grad, der Zylinderkörper bis über 135 Grad. Die Übergänge sind heute fließend. Je zylindrischer der Körper ist, desto besser wendet und krümelt der Pflug, Schraubenkörper können hingegen schneller gefahren werden und sind leichtzügiger. Grünland wird von Schraubenkörpern sehr sauber gewendet.
Eine Sonderform ist der Streifenkörper. Hier besteht das Streichblech nicht aus nur einem, sondern aus mehreren Streifen. Streifenkörper werden auf besonders schweren, klebenden Böden sowie auf Moorböden eingesetzt. Im Vergleich zu ungeteilten Streichblechen sind dort Zugkraftersparnisse möglich. Durch verschiedene Anstellwinkel in Längsrichtung der Streifen kann ein besseres Krümelergebnis erzielt werden.
Dem Hauptkörper werden vielfach nach Bedarf ein Vorarbeitswerkzeug oder eine Kombination derselben vorangestellt. Die Vorarbeitswerkzeuge unterstützen und verbessern die Arbeit des Pflugkörpers:
Sech
Das Messersech, regional auch Kolter oder Vorschneider genannt, schneidet den zu wendenden Erdbalken vertikal vom ungepflügten Land. Die Verwendung des Seches bewirkt eine saubere Furchenwand (z. B. bei Grünlandumbruch) und schont und schützt die vordere Streichblechkante des Pflugkörpers. Neben dem am Rahmen befestigten Messersech gibt es auch das an der Sohle (Anlage) befestigte sogenannten Anlagesech.
Scheibensech
Dieses auch Rundsech genannte Vorarbeitswerkzeug hat die gleiche Aufgabe wie das messerförmige Sech, ist aber leichtzügiger. Eine runde, sich im Boden abwälzende, Blechscheibe schneidet den zu pflügenden Erdbalken vom ungepflügten Land ab.
Vorschäler
Beim Vorschäler (auch Vorschneider) handelt es sich um einen kleinen Pflugkörper, der in halber Arbeitsbreite des Hauptkörpers die oberste Erdschicht abnimmt und seitlich an den zuvor gewendeten Erdbalken ablegt. Bei Verwendung von Vorschälern kann bei geringerer Arbeitsbreite sehr tief gepflügt werden, auch wird die Unterbringung von Beikräutern verbessert.
Düngereinleger
Dieser ähnelt dem Vorschäler, besitzt aber eine gerundete Streichblechvorderkante und eine größere Differenz der Arbeitstiefe zwischen Scharspitze und Scharhinterkante. Der Düngereinleger wendet die oberste Erdschicht mit vor dem Pflügen verteilten Stallmist und legt diese so am zuvor gewendeten Erdbalken ab, dass sie zur Vermeidung einer Verkohlung des ausgebrachten Mistes nicht zu tief untergearbeitet wird.
Pflügen mit Zugtieren
Die von Zugtieren (Ochse, Kuh, Esel, Maultier und Pferd) gezogenen Pflüge werden unterschieden in:
Schwingpflug
kein Rad zur Führung; der Pflug wird durch die Art der Anhängung und vom Gespannführer über die Sterzen hinsichtlich Arbeitstiefe und -breite gesteuert.
Stelzpflug
ein Rad oder eine Gleitkufe befindet sich vor dem Schar, die Aufspannung erfolgt direkt am Pflugbalken.
Karrenpflug
der Pflugbalken liegt auf einem zweirädrigen Karren auf, welcher die Aufspannung des Pfluges trägt.
Rahmenpflug
bei dem die Pflugkörper nicht an einem Grindel, sondern an einem von zwei bis vier Rädern getragenen Rahmen befestigt sind.
Die Pflüge hatten ab dem Mittelalter am hinteren Ende zwei Griffe (Sterzen) um den Pflug führen und begrenzt lenken zu können. Die wesentliche Neuerung war der an dem hölzernen Gestell (Grindel) befestigte eiserne Pflugkörper mit Schar und Streichblech. Im allgemeinen Sprachgebrauch wird der Pflugkörper noch heute als Schar bezeichnet; korrekt bezeichnet ist dies nur der bodentrennende Teil des Pflugkörpers.
Für das Hin- und Zurückpflügen in eine Richtung wurden Kehrpflüge entwickelt. Beispiele hierfür sind:
der Doppelschar-Kehrpflug, auch Unterdrehpflug genannt; die am gleichen Streichblech gegenüber montierten Schare (Zwillingsschare) können durch Drehen des Pflugkörpers um eine waagerechte Achse in Arbeitsstellung gebracht und so die Wenderichtung geändert werden (war aufgrund der preiswerten Konstruktionsart einst eine verbreitete Zugtier-Kehrpflugart).
der Drehpflug, bei dem die um 180 Grad versetzten spiegelbildlich ausgeführten Pflugkörper an einem drehbaren Grindel befestigt sind.
der Kipppflug, die gegenüberliegenden Pflugteile werden bei der Rückfahrt in der gleichen Furche eingesetzt (teurere Konstruktion, aber geringerer Kraftaufwand für Wechsel der Arbeitsrichtung bei größeren Arbeitstiefen).
In landwirtschaftlichen Großbetrieben mit Pferdeanspannung wurden mehrscharige Beet- oder Kehrpflüge mit Selbststeuerung, also ohne Sterzen, und Rigolpflüge für Tiefenlockerung eingesetzt. Der Wanzleber Pflug ermöglichte das für erfolgreichen Zuckerrübenanbau notwendige Tiefpflügen.
Pflüge für Tierzug werden bis heute noch in großer Stückzahl z. B. in Indien gefertigt.
Pflügen ohne Zugtiere: Vollmechanisierung des Pflügens
Das Zeitalter des vollmechanisierten Pflügens begann in Europa ab etwa 1850 mit dem Dampfpflug. 1858 verlieh die britische Royal Agricultural Society (Königliche Landwirtschaftliche Gesellschaft) dem englischen Ingenieur John Fowler ein Preisgeld von 500 Pfund für die Entwicklung des Dampfpflugs, das sie für einen wirtschaftlichen Ersatz von Pflug oder Spaten ausgelobt hatte. Dies waren Lokomobile, die am Ende des Feldes aufgestellt wurden, um an Seilwinden den Pflug auf dem Feld hin- und herzuziehen. Die schweren Lokomobile waren nur in landwirtschaftlichen Großbetrieben wirtschaftlich einsetzbar und zum direkten Ziehen des Pfluges ungeeignet. Im zweiten und dritten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts wurden leichtere Traktoren mit Verbrennungsmotor entwickelt (z. B. Fordson, Bulldog oder Hanomag WD), die es ermöglichten, einen angehängten Pflug unmittelbar über den Acker zu ziehen. Anfang des 20. Jahrhunderts wurde die Firma Kemna Bau das „führende Dampfpflug-Unternehmen auf dem europäischen Kontinent und drang auf dem Weltmarkt in die Monopolstellung englischer Firmen ein“.
Eine Vielzahl verschiedener Pflugformen entstand, die von Traktoren unterschiedlicher Leistungsklassen gezogen werden. Die Pflüge der frühen Traktoren hatten vielfach nur einen Pflugkörper, waren also „einscharig“. Allerdings gab es mehrscharige Pflüge, also solche mit mehreren Körpern hintereinander, bereits für Traktormodelle der Frühzeit.
Drei- und mehrscharige Pflüge sind oftmals mit einer variablen Schnittbreitenverstellung ausgerüstet (Variopflug).
Heutige Ausführungen von Pflügen
Aufbau
An einem Stahlrahmen (Pflugrahmen oder Grindel), befinden sich einerseits Verbindungsmöglichkeiten mit einer Zugmaschine, andererseits sind Pflugschare und Seche angeschraubt. Es sind sowohl ein- jedoch mehrheitlich mehrscharige Pflüge im Einsatz. Die Schare sind in Reihe, entsprechend der jeweiligen Schnittbreite, schräg hintereinander angeordnet. Die verschiedenen Bauformen sind nachfolgend beschrieben.
Anhängungsarten
Anhängepflug
Pflug, der an eine Zugmaschine gekoppelt ist, aber manuell ausgehoben wird. Diese Pflugart war bis zum Aufkommen von Ackerschleppern mit Hydrauliksystemen verbreitet. Eine Sonderform war der Dampfpflug, der von einem oder zwei stationären dampfbetriebenen Lokomobilen mit Seilwinde über den Acker gezogen wurde.
Anbaupflug
Pflug, der fest am Schlepper angebaut wird und von diesem mittels Dreipunkthydraulik in Transport- bzw. Arbeitsstellung gebracht wird. Heute meistens 2-scharig bis 8-scharig.
Aufsattelpflug
Pflug mit eigenem Fahrwerk (1 oder 2 Räder), das ein Teil des Pfluggewichtes trägt. Heute meist ab 6 Scharen und in der Regel in Europa bis max. 20 Scharen realisierbar.
Pflugbauart
Beetpflug
Pflug mit einer Reihe Scharen, der den Boden nur in eine Richtung, meist nach rechts, wendet. Größere Felder müssen deshalb in kleinere „Beete“ eingeteilt werden, daher der Name Beetpflug.
Kehrpflug
Pflüge verschiedener Bauart mit rechts- und linkswendenden Scharen, die am Ende des Feldes die Kehrtwende und Rückfahrt in der zuletzt gezogenen Furche ermöglichen. Unterschieden werden:
Volldrehpflug;
Pflug mit rechts- und linksdrehenden Scharen, die sich senkrecht gegenüberstehen und durch eine Volldrehung von 180 Grad in Arbeitsstellung gebracht werden (Verbreitete Kehrpflugart).
Winkeldrehpflug
Pflug mit rechts- und linksdrehenden Scharen, die in einem 90-Grad-Winkel zueinander befestigt sind. Diese Form war vor allem in landwirtschaftlichen Kleinbetrieben verbreitet (Nur noch in Gärtnereien und kleinen Hobbylandwirtschaften vorzufinden).
Kipppflug;
Pflug mit rechts- und linksdrehenden Scharen, die sich in Zugrichtung gegenüberstehen und durch einen Kippvorgang in Arbeitsstellung gebracht werden (Nur noch Einzelstücke zu finden).
Pflug-Sonderformen
Frontpflug
Ein Pflug, der im Fronthubwerk des Traktors angebaut und somit geschoben wird. Diese Form ist in Frankreich häufiger zu finden. Meist handelt es sich dabei um 3–4 Schar Volldrehpflüge, die in Kombination mit einem im Heck des Traktors angebauten Pflug betrieben werden. Durch den ergänzenden Anbau eines Frontpfluges werden die Schlepperachsen gleichmäßiger belastet, es verschlechtert sich aber die Lenkbarkeit des Traktors während der Pflugarbeit.
Hackpflug
Der Hackpflug verfügt in der Regel über eine zentrale Gänsefußschar sowie 2 oder 4 weitere Schare die auch Winkelschare sein können. Mit diesem Gerät wird zwischen Pflanzenreihen der Boden gelockert und mechanische Unkrautbekämpfung durchgeführt.
Häufelpflug (Häufler)
Beim Häufelpflug befindet sich am Pflugkörper ein symmetrisches, mit seiner Spitze in die Erde eindringendes Schar sowie je ein links und rechts wendendes Streichblech. Hiermit erzeugt man Furchen, zwischen denen die aufgeworfene Erde Dämme bildet, wie sie zum Beispiel im Kartoffel- und Spargelanbau benötigt werden. Die Streichbleche der Häufelpflüge sind teilweise zur Änderung der Dammgröße verstellbar ausgeführt.
Grabenpflug
Ähnlich dem Häufelpflug verfügt auch der Grabenpflug, mit dem sich etwa 50 cm breite Gräben beispielsweise als Pflanzgraben für Spargel ziehen lassen, über ein keilförmiges Schar und zwei nebeneinander angeordnete Streichbleche.
Kartoffelrodepflug
Der Kartoffelrodepflug wird zum Roden von Kartoffeln verwendet. Ähnlich dem Häufelpflug verfügt auch der Rodepflug über ein symmetrisches Schar. Das Schar unterfährt den zu rodenden Kartoffeldamm und lockert ihn auf. Anstelle von Streichblechen folgt auf das Schar ein schräg ansteigender Rost aus runden Stahlstäben, der die gelockerte Erde so absieben soll, dass die Kartoffeln zum einfacheren Aufsammeln von Hand möglichst nahe an der Oberfläche zu liegen kommen. Die technische Weiterentwicklung mit Rodeschar und Schleuderrad ist der Kartoffelroder.
Kreiselpflug
Pflug, bei welchem das Streichblech als senkrecht kreisender Zylinder ausgebildet ist, welcher über einen Riemenantrieb von der Zapfwelle des Schleppers angetrieben wird. Ziel dieser Konstruktion der Landmaschinenfabrik Hermann Raussendorf war die höhere Flächenleistung durch Verminderung des Schlupfs an den Schlepperrädern. (Pflugform-Beispiele finden sich nur noch vereinzelt).
Schälpflug
leichter Pflug mit kleinen Scharen und einer Arbeitstiefe von 5 bis 10 cm. Das Ziel: Pflanzenreste nach der Ernte durch geringe Bodenbedeckung einer schnellen Rotte zuzuführen und gleichzeitig ein einfaches Saatbett für Zwischenfrüchte herzustellen. (Heute weitgehend durch rotierende Ackergeräte ersetzt).
Scheibenpflug
Pflug aus schräg hintereinander angebrachten tellerförmigen Stahlscheiben. Der schwierige Zugkraftverlauf dieses Pfluges (schräg zur Fahrtrichtung) lässt nur flache Furchen bzw. den Einsatz zur Stoppelbearbeitung zu. Die Zugkraftproblematik wurde durch gegenläufige Teller bei der Scheibenegge gelöst. Höhere Flächenleistung und bessere Bodendurchmischung als Schälpflug bedeuten aber ungünstigeres Saatbett für die Stoppelsaat. Scheibenpflüge haben nur noch historische Bedeutung; die Scheibenegge zur Stoppelbearbeitung wurde weitgehend durch rotierende Maschinen bzw. Werkzeuge an Sämaschinen (Drillsaat, Direktsaat) verdrängt.
Schichtenpflug
Pflug mit übereinander angebrachten Scharen, wobei das obere Schar den Boden flach wendet (bis ca. 15 cm) und das untere „Lockerungsschar“ den Boden auflockert, aber nicht wendet (ab 15 bis 30 cm Tiefe). Dieser Pflug zur Untergrundlockerung kann sowohl nach Fahrspurschäden als auch bei Pflugsohlenverdichtungen eingesetzt werden.
Schwenkpflug
Pflug mit symmetrischen Pflugkörpern, bei dem der Wechsel der Wenderichtung nach rechts bzw. links durch Schwenken des Rahmens um eine vertikale Achse erfolgt. Der Schwenkpflug ist aufgrund der einfachen Bauart kostengünstiger herzustellen als ein Drehpflug; die Qualität der Pflugarbeit ist allerdings abhängig vom Bodenzustand, überhaupt lassen sich tonige, feuchte Böden mit dem Schwenkpflug nicht bearbeiten.
Tiefpflug
Pflug mit Schar und übergroßen Streichblechen zur Moorkultivierung, auch Rigolpflug, Rajolpflug oder Tiefgangpflug genannt, siehe Tiefpflügen.
Hersteller
Hersteller pferdegezogener Pflüge:
Helwig, Eberhardt, Landsberg, Rud. Sack, Ventzki, Printz, Hildebrand
Ehemalige Hersteller:
Eberhardt, Eicher, Fortschritt, J. Kemna-Breslau, Krone, Landsberg, Frost, Vogel & Noot
Aktuelle Hersteller:
Amazone, Gassner, Grégoire-Besson, Kongskilde, Kuhn, Kverneland, Lemken, Pöttinger, Rabe, Regent, Niemeyer Agrartechnik
Pflugwettbewerbe
Während regionales Wettpflügen mit Zugtieren bereits seit 1855 dokumentiert ist, werden erst seit Mitte des 20. Jahrhunderts regelmäßig Landes-, Bundes-, Europa- und Weltmeisterschaften im Pflügen mit Traktoren durchgeführt. Im Jahre 1952 wurde die World Ploughing Organization (WPO) gegründet. Die WPO veranstaltet die jährlichen Weltmeisterschaften im Pflügen. 1953 wurde die erste Weltmeisterschaft in Kanada durchgeführt. In Deutschland fanden Weltmeisterschaften 1958, 1978, 1998 und 2018 statt. Österreich war 1964, 1987 und 2008 Austragungsort der Weltmeisterschaft. Die 61. Weltmeisterschaft fand 2014 in Frankreich statt.
Junge Landwirte treten in verschiedenen Altersklassen und Pflugkategorien zum Leistungspflügen gegeneinander an. Die Regeln sind international festgelegt und werden von allen teilnehmenden Länder-Organisationen anerkannt; die Pflüger sind auf sich alleine gestellt, Hilfe und Ratschläge durch andere Personen sind nicht zulässig. Vom Schiedsgericht werden vor allem die Geradlinigkeit der Furchen, deren konstante Tiefe, das gleichmäßige Erscheinungsbild des gepflügten Feldes und die zügige Arbeit beurteilt. An die Weltmeisterschaft in Österreich (1964) erinnert ein Denkmal in Haringsee. Pflugwettbewerbe haben dort eine langjährige Tradition und Österreich gilt mit 15 Weltmeistertiteln und 7 Vize-Weltmeistern vor Nordirland als erfolgreichste Nation in der Geschichte der Pflug-Weltmeisterschaft.
Amtierende Weltmeister (2019) sind Andrew B. Mitchell Sr. aus Schottland und Marco Angst aus der Schweiz.
Heraldik
Auch in der Heraldik hat der Pflug Einzug gehalten. Stark stilisiert ist er als Zeichen einer bedeutenden Landwirtschaft eine gemeine Figur im Wappen. Auch nur eine Pflugschar wird gern genommen.
Symbolik
In einigen Kulturen zählt der Pflug als Symbol für Fruchtbarkeit, da beim Pflügen die Felder für die Aussaat vorbereitet werden. Das Pflügen wird dabei der Befruchtung gleichgesetzt.
Siehe auch
Zoche (Pflug)
Wölbacker
Schwerter zu Pflugscharen
Verlegepflug
Literatur
Paul Leser: Entstehung und Verbreitung des Pfluges. (= Anthropos. Ethnologische Bibliothek. Band 3, Nr. 3). Aschendorffsche Verlagsbuchhandlung, Münster i. W. 1931. (Reprint: The International Secretariat for Research on the History of Agricultural Implements, National Museum, Brede, Lyngby (Dänemark) 1971)
Ulrich Bentzien: Haken und Pflug. Berlin 1969.
Max Eyth: Hinter Pflug und Schraubstock. DVA, München 1987, ISBN 3-421-06303-6.
Gustav Fischer: Landmaschinenkunde. Verlag Eugen Ulmer, Stuttgart 1928.
Eduard Hahn: Die Entstehung der Pflugkultur (unsres Ackerbaus). Verlag Carl Winter Heidelberg 1911. – Zugl. Habil.-Schr. Univ. Berlin 1910.
Eduard Hahn: Von der Hacke zum Pflug. Verlag Quelle & Meyer Leipzig 1914; 2. Aufl. ebd. 1919 = Wissenschaft und Bildung Bd. 127.
Tim Kerig: ‘Als Adam grub…‘. Vergleichende Anmerkungen zu landwirtschaftlichen Betriebsgrößen in prähistorischer Zeit. In: Ethnograph-Archäolog. Zeitschr. Band 48, 2007, S. 375–420.
Michael Koch: Traditionelles Arbeiten mit Pferden in Feld und Wald. 1. Auflage. Verlag Eugen Ulmer, Stuttgart 1998, ISBN 3-8001-7383-2.
Klaus Krombholz, Hasso Bertram, Hermann Wandel: 100 Jahre Landtechnik – von Handarbeit zu High-Tech in Deutschland. DLG-Verlag, 2009, ISBN 978-3-7690-0737-4.
Horst W. Löbert: Aus der Geschichte des Pfluges. (= Landwirtschaftsmuseum Lüneburger Heide. Nr. 5). Uelzen 1993.
Jens Lüning: Steinzeitliche Bauern in Deutschland. Die Landwirtschaft im Neolithikum. Bonn 2000.
Karsten Möller u. a.: Bodenbearbeitung. (= Top Agrar. Sonderheft 2014). Landwirtschaftsverlag, Münster.
Manfred G. Raupp: Was der Großvater schon wusste. Staffort/ Lörrach 2005, .
Paul Schweigmann: Die Landmaschinen und ihre Instandhaltung. Gießen 1955.
Ursula Tegtmeier: Neolithische und bronzezeitliche Pflugspuren in Norddeutschland und den Niederlanden (= Archäologische Informationen. Band 3). Bonn 1993, ISBN 3-86097-136-0 (Digitalisat).
Weblinks
Pflugmuseum Guntmadingen
Deutscher Pflügerrat
Einzelnachweise
Landmaschine
Technik im Gartenbau
Wikipedia:Artikel mit Video
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https://de.wikipedia.org/wiki/Runen
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Runen
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Als Runen bezeichnet man die alten Schriftzeichen der Germanen. Der Sammelbegriff umfasst Zeichen unterschiedlicher Alphabete in zeitlich und regional abweichender Verwendung.
Runen können einerseits als Zeichen für jeweils einen Laut geschrieben werden (Alphabetschrift), andererseits stehen sie als Zeichen für die jeweiligen Begriffe, deren Namen sie tragen. Daneben können sie Zahlen darstellen oder als magisches Zeichen verwendet werden. Die Entwicklung der Zeichenformen zielte nicht auf eine flüssige Gebrauchsschrift ab. Abgesehen von einer kurzen Phase im hochmittelalterlichen Skandinavien wurde die Runenschrift nicht zur Alltagskommunikation verwendet.
Verbreitung
Runen waren vom 2. bis zum 14. Jahrhundert n. Chr. überwiegend für geritzte und gravierte Inschriften auf Gegenständen und auf Steindenkmalen in Gebrauch.
Ihre Verbreitung zeigt einen deutlichen Fundschwerpunkt in Dänemark und Südskandinavien. Dies ist zum Teil durch die lokalen Traditionen von Runensteinen begründet. Runen waren durchaus auch entlang des Rheins, bei den Alemannen, in Bayern, Brandenburg, Thüringen sowie in Pommern, Schlesien und Böhmen begrenzt in Gebrauch, wobei sich die Funde im Norden und Osten grob vor der Völkerwanderung (200–500 n. Chr.), die im Süden und Westen zum Ende der Völkerwanderung (500–700 n. Chr.) einordnen lassen.
Dabei dominiert das ältere Futhark auf dem Kontinent, während Wikinger ab dem 4. Jahrhundert jüngere Versionen des Futhark hinterließen. In den anderen zeitweiligen Siedlungsräumen, zum Beispiel in den Niederlanden, Ungarn, Rumänien (zum Beispiel Lecani, Pietroassa und Szabadbattyán) sowie in der Schweiz, Belgien, Norditalien und Frankreich ist nur eine dünne Streuüberlieferung aus der Zeit der Völkerwanderung zu finden. Lediglich in Regionen, die von Wikingern und Nordmännern erobert worden waren, nutzte man noch einige Zeit länger Runen, die jedoch ebenfalls mit der Christianisierung der Nordmänner verschwanden. So waren Runen im 7. Jahrhundert noch an der niederländischen Küste, in Russland bis ins 9. Jahrhundert und auf den britischen Inseln sogar bis ins 10. Jahrhundert in Gebrauch, wobei es sich um jüngere Variationen handelt.
Die Christianisierung der Germanen, Nordmänner und Waräger führte letztendlich die lateinischen Buchstaben und in Russland die kyrillischen Buchstaben ein. Nur in den nordischen Ländern hielt sich der Gebrauch der Runenschrift bis ins 15. Jahrhundert. Die Runeninschriften in der Landschaft Dalarna in Mittelschweden, die bis in das 19. Jahrhundert reichen, entstammen einer gelehrten Tradition und zeugen nicht von einer lebendigen Verwendung als Schriftsystem.
Der weitaus größte Teil der gut 6500 bisher bekannten Runeninschriften stammt aus dem Skandinavien der Wikingerzeit. Die ältesten Inschriften datieren aus dem 2. Jahrhundert und stammen aus Moorfunden in Schleswig-Holstein, in Jütland und Fünen in Dänemark und Südschweden, sowie aus Ostdeutschland, zum Beispiel Brandenburg (Dahmsdorf) und Polen (Kowel, Rozwadów). In Deutschland und Polen wurden mit dem Aufschwung des Königreichs Preußen im 18. Jahrhundert vieles zugunsten der Landwirtschaft trockengelegt und abgetragen, sodass Runenfunde eher selten sind und sich vorwiegend auf wenige mobile Gegenstände beschränken.
Als älteste Runeninschrift gilt derzeit der Name harja auf dem Kamm von Vimose, der in die Zeit 150–200 n. Chr. datiert wird. Die Fibel von Meldorf ist eine in Schleswig-Holstein gefundene bronzene Rollenkappenfibel (Gewandspange), die in das 1. Jahrhundert n. Chr. datiert wird. Sie ist damit zwar älter als der Kamm von Vimose, doch besteht die vierbuchstabige Inschrift nicht sicher aus Runen; ihre Lesung ist deshalb umstritten, es könnte aber eine Vorstufe der Runen sein. Etwas jünger ist die auf einer eisernen Speerspitze eingeritzte Bezeichnung raunijaR (der Stamm raun- = „versuchen“, „erproben“). Die Spitze wurde in einem Grab aus der Zeit um 200 n. Chr. in Øvre Stabu (Oppland) Norwegen gefunden.
Die Verwendung von Schrift war vor Christi Geburt in den germanischen Kulturen nicht verwurzelt. Bereits früh gab es jedoch regelmäßige Handelskontakte zu den schriftkundigen Griechen. Möglicherweise gab es Vorstellungen, die gegen eine Übernahme dieser Innovation sprachen. Eine Schriftkultur hatte sich daher sehr spät und nur im Ansatz entwickelt. Sie ging kaum über eine kleine Elite von Schreibern hinaus und wurde mit magischer Bedeutung belegt. Die Runenschrift entwickelte sich daher nie zu einer vollwertigen Buch- und Urkundenschrift und erfasste nie Bereiche der Alltagskommunikation und des kollektiven Gedächtnisses, wie es bei Schriftsystemen der Römer, Griechen oder Perser der Fall war. Literatur, Liturgie, Geschichte und Recht wurden zunächst mündlich, später lateinschriftlich überliefert. Runen wurden vor allem für Inschriften zum Gedenken an Verstorbene oder an besondere Ereignisse, zur Weihe oder zum Verschenken von Gegenständen, als Besitzerangaben und als Münzinschriften verwendet. Erst im hochmittelalterlichen Skandinavien bildete sich, in Konkurrenz zur lateinischen Schrift, eine Art Gebrauchsschriftlichkeit in Runen aus.
Bezeichnungsherkunft
Im 17. Jahrhundert wurde das neuhochdeutsche Wort Rune aus der dänischen philologischen Literatur entlehnt, zunächst als gelehrte Bezeichnung für den germanischen Sänger (Runen und Skalder, Schottel), dann für das germanische Schriftzeichen (18. Jahrhundert), neben Runbuchstabe. Zuvor war das dänische Wort rune aus dem Altdänischen wiederbelebt worden.
Die Bedeutung des Wortes im Sinne von „Schriftzeichen“ greift zurück auf altnordisch rún, Plur. rúnir, rúnar „Zauber-, Schriftzeichen“. Das altnordische Wort entspricht altenglisch rūn „Geheimnis, geheime Beratung, Runenzeichen“, gotisch rūna „Geheimnis, Ratschluss“ und althochdeutsch rūna „geheime Beratung, Geheimnis, Geflüster“. Die althochdeutsche Bedeutung ist im Verb raunen erhalten geblieben. Bis ins 19. Jahrhundert war zudem das schweizerische Substantiv Raun für eine „geheime Abstimmung, Stimmabgabe ins Ohr einer beeidigten Magistratsperson“ gebräuchlich. Alle genannten Wortformen beruhen auf urgermanisch *rūnō mit Grundbedeutung „Geheimnis“.
Die Bezeichnung der germanischen Schriftzeichen mit dem urgermanischen Wort *rūnō- findet sich schon in der Runeninschrift auf dem Stein von Einang (ca. 350–400) als Akk. sg. runo. Außerhalb der Runeninschriften findet sich das Wort in einem Gedicht (um 565) von Venantius Fortunatus (Carmina VII, 18), der im fränkischen Merowingerreich mit Runen in Berührung gekommen sein könnte: Barbara fraxineis pingatur rhuna tabellis/quodque papyrus agit virgula plana valet („Die Rune der Barbaren mag man auf eschene Tafeln zeichnen; was der Papyrus vermag, tut der geglättete Zweig“). Nach einer Theorie leitet sich das Wort Buchstabe von den Buchenstäben ab, auf die die Runen geritzt wurden. Nach einer weiteren Theorie geht die Bezeichnung auf den kräftigen senkrechten Strich, den sogenannten Stab, zurück, der vielen Runen gemein ist. Für eine genauere Beschreibung der vermuteten Etymologie vgl. den zugehörigen Eintrag im Artikel Buchstabe.
Rune ist in der Finnougristik und in manchen Übersetzungen auch die Bezeichnung für die einzelnen Gesänge der Kalevala und andere Werke der karelischen und finnischen Volksdichtung.
Ursprung
Die Runen sind vermutlich weder unabhängig entstanden, noch sind sie von den Germanen als fertiges Schriftsystem übernommen worden, sondern wurden weitgehend eigenständig nach Vorbildern mediterraner Schriften entwickelt. Sie treten allerdings schon sehr früh als komplettes Alphabet mit 24 Buchstaben auf. Vor allem die lateinische Schrift, aber auch die zahlreichen vom Lateinischen verdrängten und untergegangenen Schriften des keltisch-alpin-italischen Raums kommen als Vorbilder in Betracht. Runen gehören damit – sowohl in ihrem Prinzip einer Alphabetschrift als auch in der Form vieler Lautzeichen – zu der großen phönizisch-aramäischen Familie von Alphabeten, zu denen auch alle heutigen europäischen Schriften gezählt werden.
Der Ursprung der Runenschrift ist zeitlich und räumlich kaum zu erhellen, weil die ältesten Belege bereits einen etablierten Satz von Zeichen präsentieren. Die bisher ältesten gesicherten Funde von Runen liegen auf der Halbinsel Jütland. Aber auch in Schleswig-Holstein tauchen etwa gleich alte Funde auf, ebenso in Schweden. Sie sind alle zeitlich in die zweite Hälfte des 2. Jahrhunderts einzuordnen. Es handelt sich um Gegenstände aus Mooropferplätzen in Jütland wie Vimose, Illerup Ådal, Nydam und Thorsberg. Vorstufen dieser Schrift, an denen ihre Entstehung nachzuvollziehen wäre, konnten nicht zweifelsfrei identifiziert werden. Das im älteren Futhark äußerliche Charakteristikum der Runen ist die Vermeidung waagrechter und gebogener Linien, was früher immer wieder die Vermutung aufkommen ließ, dass es sich um eine Buchstabenumformung handelt, die dazu geeignet sein sollte, vor allem in hölzernes Material geritzt zu werden. Man nahm folglich an, dass Vorstufen der Runen nur deshalb nicht bewahrt sind, weil ihr mutmaßlicher Träger Holz sich schlechter als Metall erhalten hat. Trotzdem sollte auch davon ausgegangen werden, dass im Zuge der Christianisierung diese Zeugnisse zerstört wurden. Neuere Funde (zum Beispiel Moorfunde von Illerup Ådal, Dänemark) zeigen jedoch auch gerundete Formen (zum Beispiel bei der Odal-Rune) auf metallenen Waffenteilen.
Es werden vier Hypothesen zur Entstehung der Runenschrift vertreten:
Italisch-etruskische Hypothese
Das Vorbild der Runen soll gemäß verbreiteter Ansicht ein nordetruskisches Alphabet bzw. aus dem Kreis der zahlreichen verschiedenen Alphabete Norditaliens und des Alpenraums (4. bis 1. Jahrhundert v. Chr.) genommen sein. Alle diese Alphabete sind, wie auch die lateinische Schrift, ihrerseits Abkömmlinge des westgriechischen Alphabets (griechischer Kultureinfluss durch Händler und Kolonien in Italien ab dem 7. Jahrhundert v. Chr.).
Besonders der Negauer Helm wurde früh zur Unterstützung dieser These herangezogen. Der Helm mit einer möglicherweise frühgermanischen Namensinschrift (harigasti…) in einem norditalischen Alphabet soll demnach den Ursprung einiger Runenzeichen aus den norditalischen Varianten der griechischen Schrift belegen. Die Germanizität und die Datierung der Inschrift bleiben jedoch umstritten, zumal der Helm aus dem 5. Jahrhundert v. Chr. stammt und die Inschrift selbst erst später (vermutlich im 3./2. Jahrhundert v. Chr.) angebracht wurde. Nach Ansicht mancher Forscher hat die Inschrift nichts mit Runen zu tun.
Das stärkste Argument für die italisch-etruskische These sind die Buchstabenformen, der Schreibduktus und das Verfahren der Worttrennung durch Punkte. In keiner anderen antiken Schrift finden sich so viele Übereinstimmungen mit einzelnen Runenzeichen. Von kulturgeschichtlicher Seite ist diese These jedoch schwer zu untermauern, denn sie impliziert, dass die Runenschrift sich im norditalienischen, westalpinen oder norischen Raum im 1. Jahrhundert v. Chr. oder im 1. Jahrhundert n. Chr. herausgebildet haben müsste und dann bis gegen 200 n. Chr. bis in den Norden Germaniens verbreitet worden wäre, wo sie erst deutlich ins Licht der Geschichte tritt. Der Altertumswissenschaftler Jürgen Zeidler hat versucht, im Bereich der keltischen La-Tène-Kultur eben jenes fehlende Zwischenglied (zwischen 100 v. und 100 n. Chr.) nachzuweisen. Für diese Hypothese spricht, dass in den Runen, wie auch im Etruskischen und den Alpenschriften, homorgane Nasallaute vor Verschlusslauten oft nicht geschrieben werden. Außerdem lässt sich das rätselhafte Formelwort alu mit etruskisch alu identifizieren, dem Verbalsubstantiv Präsens Aktiv oder Passiv zu al(i)- „geben“, „weihen“; alu lässt sich also als „wer gibt/weiht“, „Geber/Weihender“ bzw. „gegeben/geweiht werdend“, „(Weihe-)gabe“ übersetzen, was passend erscheint.
Lateinische Hypothese
Die lateinische Schrift ist eine Schwesterschrift der italischen Alphabete und weist daher einige übereinstimmende Buchstabenformen auf. Im Gegensatz zu den Regionalschriften setzte sie sich mit der Expansion der Großmacht Rom überregional durch und wurde als Verwaltungsschrift in alle Winkel des römischen Imperiums verbreitet. Somit hätten germanische Stämme selbst im abgelegenen südskandinavischen Raum, der selbst nie zum römischen Reich gehörte, durch Kontakte mit der römischen Kultur (über Händler, Geiseln, Söldner, Besucher etc.) die lateinische Capitalis monumentalis der Kaiserzeit kennenlernen und davon angeregt eine eigene Schrift entwickeln können.
Für diese These sprechen einzelne Übereinstimmungen von Zeichenformen, die jedoch auch auf den gemeinsamen phönizischen Ursprung der Schriftsysteme zurückgeführt werden können.
Viele Runologen gehen heute von der Lateinthese aus. Den genannten Ähnlichkeiten stehen jedoch nach Ansicht anderer Forscher bedeutende Unterschiede entgegen, die eher auf ein griechisches oder zumindest älteres italisches Alphabet als Ursprung schließen lassen.
Griechische Hypothese
Nur mehr wissenschaftsgeschichtlich relevant sind mehrere Versuche, die Entstehung der Runen den Goten im Schwarzmeergebiet (heutige Ukraine) zuzuschreiben. Vorbild sollte hier entweder im 2./3. Jahrhundert n. Chr. eine ostgriechische Minuskelschrift oder ein archaisches griechisches Alphabet des 6. Jahrhunderts v. Chr. gewesen sein. Diese Thesen sind heute weitestgehend aufgegeben worden, denn die ältesten skandinavischen Runendenkmäler sind nach archäologischer Datierung bereits entstanden, bevor die Goten in Kontakt mit dem römischen Weltreich kamen. Auch aus sprachhistorischen (linguistischen) Gründen scheidet diese Auffassung aus: die älteste Runenreihe reflektiert eindeutig nordgermanische bzw. noch gemeingermanische und keine bereits ausdifferenzierten ostgermanischen Lautverhältnisse.
Einen Kontakt der Germanen mit den griechischen Alphabeten (beispielsweise durch Handel) kann diese Argumentation jedoch nicht ausschließen.
Punische Hypothese
Den drei genannten Hypothesen fällt es schwer, das Akrophonie-Prinzip der Runen zu erklären, also die Methode, die Buchstaben einer Schrift nach einem Wort zu benennen, das mit dem betreffenden Buchstaben beginnt. Die Akrophonie war bereits bei der Ableitung der griechischen aus der phönizischen Schrift aufgegeben worden. Hier waren lediglich die Buchstabennamen (Alpha, Beta, Gamma … von Aleph, Beth, Gimel …) übernommen worden, die dann bei der Weitergabe ans Lateinische und Etruskische ebenfalls verschwanden. Auffällig ist, dass der erste Buchstabe des phönizischen Alphabets „aleph“ Rind und bei den Runen der erste Buchstabe „fehu“ ist, was u. a. Vieh, Viehstück bedeutet. Weitere Parallelen sind die Nicht-Schreibung der Vokal-Quantität (kurze versus lange Vokale), die Nicht-Schreibung von Konsonanten-Geminaten und die Auslassung von Nasalen (m und n) vor homorganen Konsonanten (Kamba = Kaba auf dem Kamm von Frienstedt), alles Merkmale sowohl der Runen wie der punischen Schrift, aber nicht der griechischen oder lateinischen.
Bei der Übernahme und Anpassung der phönizischen Schrift durch die Griechen wurde die graphemische Konsonanten-Gemination (zum Beispiel ἔννεπε, πολλὰ) neu entwickelt. Dieses Konzept wurde später von den Römern in die lateinische Schrift übernommen. Das Urgermanische besaß ebenfalls eine bedeutungsrelevante Konsonantenlänge (Opposition Simplex – Geminate). Folgt man der lateinischen oder griechischen Hypothese, so bleibt unerklärt, weshalb dieses bewährte Verfahren bei der gemutmaßten Weitergabe an die Runen wieder entfernt wurde.
Theo Vennemann schlägt deshalb in Germanische Runen und phönizisches Alphabet vor, die Runen als unmittelbar aus dem phönizischen Alphabet in seiner westlichsten Ausprägung – dem punischen Alphabet – abgeleitet zu betrachten. Den Vermittlungsrahmen hätten Handels- und Kolonisierungsunternehmungen der Karthager an der Nordwestküste Europas geboten, manifestiert vor allem durch die Reise des Himilkon, der um 520 v. Chr. die Westküste Europas erkundete mit dem Ziel, neue Kolonien zu gründen.
Runenreihen
Die Bezeichnung „Runenreihe“ steht für die mehrfach überlieferte, geordnete Folge der Runenzeichen. Sie weicht deutlich von der Reihenfolge der uns vertrauten Alphabete ab. Im Lauf der Zeit haben sich aufgrund des Sprachwandels unterschiedliche Laute für die Runenzeichen herausgebildet. Auch die Anzahl und Reihenfolgen der Runen ändern sich mit der Zeit.
Das ältere Futhark: Die älteste Runenreihe
Die älteste überlieferte Runenreihe (nach den ersten sechs Buchstaben fuþark genannt) bestand aus 24 Zeichen, die in drei Abschnitte (später im Altnordischen als ættir bezeichnet) eingeteilt waren. Sie war anfangs nur bei nordgermanischen Stämmen, in der Völkerwanderungszeit vereinzelt auch bei Ostgermanen (vor allem Goten, ab 3. Jahrhundert?) und Westgermanen (ab 5. Jh.) in Benutzung. Gut 350 Inschriften in dieser ältesten Runenreihe wurden bislang entdeckt. Alle jüngeren Runenreihen ab etwa 700 leiten sich vom älteren Futhark ab.
Jedes Graphem (Buchstabe) entspricht einem Phonem (Laut). Für das ältere Futhark besteht von ca. 550 bis 650 eine bemerkenswert gute Übereinstimmung zwischen dem Zeicheninventar und dem Phoneminventar der damit geschriebenen gemeingermanischen bzw. runennordischen Sprache(n). Nur die Verdoppelung der i-Rune ( Eis und Eibe) muss ein Relikt einer früheren Sprachstufe sein und ist wohl ein Beweis dafür, dass das 24-buchstabige Futhark bereits einige Zeit vor den ersten überlieferten Inschriften entstand. (* Sonderzeichen unlesbar?)
Hinweis zur Tabelle: Namen sind in gemeingermanischem, so nirgends belegtem Lautstand rekonstruiert. Vokale mit Balken bezeichnen lange Vokale, alle anderen Vokale sind kurz.
Ein Charakteristikum der germanischen Runenschrift ist, dass jede Rune einen Namen trägt, gewöhnlich ein bedeutungsvolles Wort, das mit dem jeweiligen Laut beginnt; so hieß die f-Rune fehu, das heißt „Vieh; Viehstück, Fahrnis; Reichtum“. Für das älteste Futhark sind diese Runennamen nicht überliefert. Sie können erschlossen werden, weil die Namen sich weitgehend übereinstimmend bei allen jüngeren Runenreihen der germanischen Stämme finden; Wulfila, der Schöpfer der gotischen Schriftsprache im 4. Jahrhundert, übertrug sie möglicherweise sogar auf die gotische Schrift, die keine Runenschrift war. Im 9. und 10. Jahrhundert, als Runen außerhalb Skandinaviens überhaupt nicht mehr im Gebrauch waren, zeichneten klösterliche Gelehrte sowohl in England wie auf dem Kontinent mehrfach die verschiedenen Runenreihen mit Namen oder in Form von Runenmerkversen auf. Aus diesen Quellen werden die Runennamen des ältesten Futhark rekonstruiert; nicht alle Formen sind jedoch unumstritten.
Bis zum 7. Jahrhundert hatten sich die Lautsysteme in den germanischen Einzelsprachen deutlich verändert. Zuvor unterschiedene Laute fielen zusammen, neue Vokale bildeten sich. Dies führte zwangsläufig dazu, dass die Laut-Buchstaben-Zuordnung des älteren Futhark nicht mehr stimmig war. So entwickelten die einzelnen Sprachen und Dialekte jeweils eigene Runenreihen, das sogenannte jüngere Futhark.
Das Futhark: Die angelsächsische Runenreihe
Die Angelsachsen erweiterten das Futhark aufgrund der reichen Entwicklung des Vokalismus im Altenglischen schrittweise auf 33 Zeichen (davon sind nebenstehend nur die wirklich verwendeten abgebildet). Das 33-buchstabige Futhark war in dieser Form im 9. Jahrhundert ausgebildet. Es wurde außer in handschriftlichen Aufzeichnungen auch in northumbrischen Inschriften verwendet.
Das längere Nebeneinander von Runen und Lateinschrift im 7. bis 10. Jahrhundert führte in England dazu, dass für Laute des Altenglischen, die im lateinischen Alphabet keine Entsprechung hatten, die entsprechenden Runen quasi weiterverwendet wurden. Auf diese Weise gelangten die thorn-Rune (Þ þ) als Schreibung für /th/ und die wen- oder wynn-Rune (Ƿ ƿ) für das bilabiale /w/ in die lateinische Schrift.
Das jüngere Futhark: Die altnordische Runenreihe
Auch in Skandinavien war das Futhark Veränderungen unterzogen: Es wurde im 7. bis 8. Jahrhundert auf 16 Runen (f u th o r k: h n i a s: t b l m R) reduziert. Dabei mussten dann einzelne Runen zahlreiche verschiedene Lautwerte bezeichnen: die u-Rune etwa u, y, o, ö und w. Diesen Verlust an Zeichen glich man am Ende des 10. Jahrhunderts mit der Einführung von Punktierungen aus; später gab es auch noch andere Systeme, die sogar für Laute wie Q eine Rune einführten. Im hohen Mittelalter entsteht so, von Norwegen ausgehend, eine punktierte Runenreihe in alphabetischer Reihenfolge, bei der jeder lateinische Buchstabe eine Entsprechung hat. Das erste datierte Zeugnis für die Verwendung des vollständig punktierten Runenalphabets findet sich auf der kleineren Kirchenglocke von Saleby (Västergötland), deren Inschrift das Jahr 1228 angibt.
Vielleicht aufgrund der größeren Wertschätzung für die alte vorchristliche Mythologie und Überlieferung (vgl. die Edda) blieben die Runen in Skandinavien neben der lateinischen Schrift in Gebrauch. Erst im 19. Jahrhundert wurden sie endgültig verdrängt, während dieser Prozess in den anderen germanischen Gebieten teils schon im 7., teils im 11. Jahrhundert abgeschlossen war.
Schreibrichtung und Besonderheiten: Wende-, Sturz-, Binde- und stablose Runen
Runen wurden seit der Wikingerzeit meist rechtsläufig (von links nach rechts) geschrieben. In der frühesten Zeit war die Schreibrichtung jedoch noch nicht festgelegt. Einzeilige Inschriften können sowohl von links nach rechts (rechtsläufig) oder von rechts nach links (linksläufig) geschrieben sein. In mehrzeiligen Inschriften können entweder alle Zeilen rechtsläufig bzw. linksläufig sein, oder es kommt eine von Zeile zu Zeile abwechselnde Schreibrichtung vor, die unter anderem auch aus altgriechischen Inschriften bekannt ist und als bustrophedon bezeichnet wird („wie der Ochse beim Pflügen wendet“); daneben kommt auch so genanntes „falsches“ Boustrophedon vor. Die Schreibrichtung kann in der Regel sicher bestimmt werden durch die in eine Richtung weisenden Runen (f, u, þ, a, r, k, w, s und b). Wenn einzelne Runen gegen die Schreibrichtung der Zeile gewendet sind, nennt man sie Wenderunen, wenn sie gelegentlich auf dem Kopf stehen, heißen sie Sturzrunen.
Stablose Runen waren der Höhepunkt des Vereinfachungsprozesses in der Entwicklung. Sie begann, als das ältere vom jüngeren Futhark abgelöst wurde. Um stablose Runen zu erstellen, wurden vertikale Markierungen (oder Dauben) aus einzelnen Runen entfernt. Der Name „Stablose“ ist nicht ganz richtig, da die i-Rune aus einem ganzen und die Runen f, þ, k und s aus verkürzten Hauptstäben bestehen. Seit ihrer Entdeckung auf Runensteinen im Hälsingland im 17. Jahrhundert sind stablose Runen auch als Hälsinge-Runen bekannt. Sie kommen aber auch in Medelpad, Södermanland und der norwegischen Stadt Bergen vor. Die Runensteine von Aspa Sö 137, Skarpåker Sö 154, Österberga (Sö 159) und Spånga Sö 164 haben, teilweise vermischt mit anderen, auch stablose Runen.
Das Bandartige von Runenzeilen wird oft betont, indem die Zeichen zwischen zwei ununterbrochene parallele „Führungslinien“ geritzt werden (vgl. den Stein von Rök, Abb. oben). Solche Randlinien begegnen uns schon bei den ältesten Ritzungen. In vielen Inschriften sind die einzelnen Wörter durch Worttrenner, die aus ein bis fünf übereinanderstehenden Punkten oder kleinen Strichen bestehen, voneinander abgesetzt. Der älteste Beleg findet sich auf der Fibel von Skovgårde (Udby), die ca. 200 zu datieren ist: lamo : talgida „Lamo schnitzte“. Bei Einzelwörtern finden sich auch Schlussmarken gleicher Form. Später unter christlichem Einfluss finden sich auch kleine Kreuze.
Wie die lateinische Schrift kennt auch die Runenschrift Ligaturen, also Verschmelzungen zweier Buchstaben zu einem Zeichen. Diese Binderunen werden in der wissenschaftlichen Umschrift mit einem Bogen über der Zeile gekennzeichnet.
„Antiquarische“ Runenalphabete des frühen Mittelalters
Schon sehr früh, nachdem sie außer Gebrauch gekommen waren, wurden Runenreihen von lateinkundigen Kirchenmännern als enzyklopädische Kuriositäten und vermeintliche Geheimschriften gesammelt – man stellte die Runen dem griechischen, hebräischen und „chaldäischen“ Alphabet an die Seite, den Tironischen Noten und dem Phantasiealphabet des Aethicus. Besonders das Kloster Fulda mit seiner starken insularen Tradition pflegte im 9. Jahrhundert, wie es scheint, einen Forschungs- und Sammelschwerpunkt „Runica“.
In einigen Handschriften des 8./9. Jahrhunderts aus oberdeutschen Klöstern ist in einer Abhandlung „Über die Erfindung der Buchstaben“ (De inventione litterarum) ein merkwürdiges Runenalphabet in der Reihenfolge der lateinischen Buchstaben überliefert. Es besteht aus den Zeichen des älteren Futhark mit Verschreibungen oder auch angelsächsischen Einflüssen durch Zufügung von Runen aus dem Futhorc und soll auf Hrabanus Maurus, den Abt von Fulda und Alkuin-Schüler, zurückgehen („Hrabanische Runen“). Da diese Reihe (die früher irreführend als „Markomannische Runen“ bezeichnet wurde) nur in einigen Handschriften, aber nirgends inschriftlich vorkommt, dürfte sie wohl nur ein Versuch der Mönche gewesen sein, allen Buchstaben der lateinischen Schrift Runenzeichen zuzuordnen.
Beginn des Abecedarium Nordmannicum
feu forman
ur after
thuris thritten stabu
os is th(em)o oboro …
Vieh zuerst,
Ur danach,
Thurse als dritten Stab,
Ans ist rechts davon …
In derselben Alkuin-Handschrift, in der sich ein gotisches Alphabet und gotische Textbeispiele aufgezeichnet finden, der sogenannten Salzburg-Wiener Handschrift (Wien, Ms. 795, spätes 8. Jahrhundert?), ist auch ein 28-buchstabiges angelsächsisches Futhark mit Runennamen überliefert.
Daneben existiert eine Reihe von Runengedichten, in denen die Reihenfolge, die Namen und die Bedeutung der Runen in eine memorierbare Form gebracht waren: Das so genannte Abecedarium Nordmannicum und älteste überlieferte Beispiel (9. Jahrhundert, Handschrift Walahfrid Strabos) in einem Gemisch von Altsächsisch, Althochdeutsch, Angelsächsisch und Nordisch, das angelsächsische Runengedicht in 94 Stabreimversen (11. Jahrhundert) und hochmittelalterlich überlieferte Exemplare aus Norwegen und Island (13. und 15. Jahrhundert).
Aus der Lieder-Edda sind die Rúnatal („Runenrede“) in der Sigrdrífomál und der Rúnatals þáttr Óðins in den Hávamál, ebenfalls hochmittelalterlich, poetisch-literarisch überliefert. In diesen Versen sind die namentlichen oder sinnverbundenen Bedeutungen der einzelnen Runen in einen mythischen Kontext gestellt, insbesondere zur Figur Odins als Schöpfer der Runen. Hierbei finden sich Abweichungen zu den Bedeutungen der einzelnen Runenbezeichnungen aus den Runengedichten.
Runen als Begriffszeichen
Neben dem normalen Lautschreibungsprinzip (Rune steht für einen Laut) konnte das einzelne Runenzeichen im Sinne seines „Namens“ auch wie eine Art ideographisches Symbol verwendet werden. Das Einzelzeichen o konnte also für „Erbbesitz“ stehen. Man spricht in diesem Fall von Begriffsrunen. Ein Beispiel für den Gebrauch von Begriffsrunen ist die Zeile „Hathuwolf gab j“ auf dem sog. Stentoften-Stein (Südschweden, 7. Jahrhundert). Die j-Rune ist hier mit ihrem Begriffswert „ein (gutes) Jahr“ zu lesen.
Diese Technik findet sich unsystematisch fortgesetzt in der Praxis mittelalterlicher Schreiber, besonders in altenglischen und altisländischen Handschriften. Dort können bestimmte Einzelrunen inmitten des lateinschriftlichen Texts wie Logogramme gebraucht werden: die M-Rune kann für altengl. man, mon („Mensch“, „Mann“) oder für altisl. maðr („Mensch“, „Mann“) stehen.
Runen als magische Zeichen
Schriftgebrauch wurde in allen archaischen Kulturen (auch) als Medium magischer Macht und Aura angesehen. Viele der alten Kulturen hielten ihre Schrift für die Erfindung oder das Geschenk eines Gottes. Zweifellos waren auch die Runen, zumal in ältester Zeit, mit sakralen und religiösen Zwecken verbunden (Grabinschriften, Opfer an Götter, Amulette etc.). Unter den ältesten Funden sind mehrere Ritzungen auf Lanzen- und Speerspitzen, die die Funktion dieser Waffen mit poetisch-magischen Namen beschwören. Bedeutung der Inschrift auf der linken Lanzenspitze: raunijaR. „Herausforderer“, „Erprober“ (Lanzenspitze von Øvre Stabu), tilarids – „Ziel-Verfolger“ (Kowel) Bedeutung auf der rechten Lanzenspitze: wagnijo – „Angreifer“, „Renner“ (Illerup Ådal). Eine magische Funktion der Runen wird schon nahegelegt durch die zahlreichen Inschriften, die die Runenreihe (f u th a r k …, oft ergänzt durch die Runenmeister-Signatur) enthalten. Überliefert sind in Schweden die Namen der Runenmeister Hjälle, Hjälm, Huarpr, Osbjörn und Tryggve. Einen Mitteilungswert besitzt diese Zeichenfolge nicht – sie muss als Schriftmagie und/oder als Ausdruck eines Bewusstseins, dass Schrift an sich einen Eigenwert habe, gelten. Auch der Name der Runen, der „Geheimnis“ bedeutet, bezeugt diese Aura.
Die Entstehung der Runen wird oft im Zusammenhang mit Orakelbräuchen vermutet; ein solcher Zusammenhang ist jedoch nicht gesichert. Ein frühes Zeugnis für das germanische Losorakel im 1. Jahrhundert n. Chr. ist im 10. Kapitel der Germania des Tacitus erhalten. Man streute mit „gewissen Zeichen“ (notis quibusdam) bezeichnete hölzerne Stäbchen auf ein weißes Tuch. Darauf wurden auf gut Glück drei dieser Stäbchen aufgehoben und gedeutet. Dies wurde nacheinander dreimal durchgeführt. Ob es sich bei diesen Zeichen aber schon um Vorläufer der Runenschrift oder sogar schon um eigentliche Runen handelte, ist kaum bestimmbar. Archäologische Funde haben nirgends solche Orakelstäbe zu Tage gefördert.
Die Verwendung der Runen zu magischen Zwecken ist besonders im Norden bezeugt. Als Begriffsrunen bedeuteten zum Beispiel Vieh, (gutes) Jahr, Gabe, Ritt einen entsprechenden Segenswunsch, umgekehrt sollten Not, Geschwür eine Befürchtung bannen oder einen Fluch aussprechen. Viele frühe Inschriften bestehen aus einem einzigen Wort wie alu, laukaz, laþu, was man meist als magische Formeln („Heil“, „Gedeihen“) versteht. Auch hier folgt die nordische Welt antiken Vorbildern, Fluchtäfelchen waren in der gesamten klassischen Antike weit verbreitet und beliebt. In den jüngeren skandinavischen Denkmälern werden Zauberrunen für bestimmte Zwecke erwähnt, so Siegrunen, Bierrunen, Bergerunen (zur Geburtshilfe), Seerunen (zum Schutz der Schiffe), Rederunen (um klug zu sprechen), Löserunen (bei Gefangenschaft), Runen zum Besprechen (Stumpfmachen) der Schwerter und dergleichen.
Der Gott des Runenwissens und der Runenmagie ist Odin. Ein Götterlied der Lieder-Edda (Hávamál) erzählt, wie Odin sich selbst opferte und neun Tage kopfüber in der Weltesche Yggdrasil hing, bevor er Kenntnis von der Macht der Runen gewann und sich befreien konnte. Im weiteren Verlauf des Liedes werden magische Kräfte der Runen beschrieben und schließlich 18 Zaubersprüche genannt. Ein anderes Lied der Edda, Skirnirs Fahrt, illustriert einen profaneren Einsatz von Zauberrunen: den Widerstand einer sich verweigernden Frau zu brechen. Als Brautwerber für den Gott Freyr droht Skírnir der Riesentochter Gerd mit immerwährender Verfluchung, falls sie sich mit dem Gott nicht einlassen wolle. Dazu ritzt er am Ende seiner eindrucksvollen Drohrede einen Thursen (d. h. die schadenbringende th-Rune) und der Runen drei: Argheit und Unrast und Irresein, und daraufhin willigt Gerd in ein Stelldichein mit Freyr ein.
In der Egils saga wird die Wirkung der Runen im Zusammenhang mit einer Krankheit beschrieben:
Vorkommen
Zu zusammenhängender Schrift sind die Runen von den Germanen des Kontinents nur in geringem Umfang gebraucht worden. Runensteine gibt es in Mitteleuropa nicht. Die einzigen dort erhaltenen Runenritzungen finden sich auf Schmuck, Waffen und (seltener) auf Gebrauchsgegenständen. Auch in England war die Verwendung von Runen zu diesem Zweck nicht häufig: Das umfangreichste Denkmal, die Inschrift auf dem Kreuz von Ruthwell, stammt bereits aus christlicher Zeit. Die Runenschnitzerei auf dem Walbeinkästchen von Auzon (auch: Franks Casket) gibt altenglische Stabreimverse wieder, die frühesten überhaupt überlieferten. Dieses in Nordengland um 650 entstandene Stück gehört zu den eindrucksvollsten kunsthandwerklichen Schöpfungen der germanischen Zeit.
Ein profaner Gebrauch war aber gerade in der Frühzeit gleichsam als Markenzeichen auf Gegenständen üblich. Formeln wie „(Name) machte …“ sind nicht selten. Damit kann ebenso der (Kunst)handwerker wie der Runenritzer seine Leistung bezeichnen. Ein besonderes Fundstück dieser Art ist eine Holzplatte aus dem Bootsgrab der Wurt Fallward (Cuxhaven). Dendrochronologisch ließ sich das Holz, das vermutlich als Oberteil eines Schemels diente, auf das Jahr 431 datieren. Der Besitzer, der möglicherweise in römischen Diensten stand, ließ auf der Kante die Inschrift ksamella lguskathi anbringen (scamella, lat. für Schemel). Kämme wurden gern als Kämme und Hobel als Hobel gekennzeichnet, was vielleicht einen spielerischen Umgang mit Schriftkultur bezeugt.
Die Runen in Mitteleuropa
In Mitteleuropa tauchen die ersten Runen ab dem 3. Jahrhundert auf (Lanzenspitze von Dahmsdorf östlich von Berlin, Kamm von Erfurt-Frienstedt). Ab der Mitte des 6. Jahrhunderts finden sie sich regional und zeitlich stark gehäuft, mit der Christianisierung im 7. Jahrhundert verschwinden sie wieder. Vor allem bei den Alamannen und am Mittelrhein (heutiges Südwestdeutschland) und Südbayern finden sich relativ viele Runenritzungen. Charakteristisch ist, dass Runen nur dort vorkommen, wo germanisch sprechende Menschen lebten (im Westen bis Charnay, Burgund, siehe Burgunden). Auch sind die mitteleuropäischen Inschriften, soweit sie deut- und lesbar sind, immer in germanischer Sprache gehalten, genauer in Westgermanisch oder einer seiner Varianten, wie beispielsweise einer Frühform des Friesischen.
Bisher kennt man ca. 80 Inschriften, die fast ausschließlich von Gegenständen aus Gräbern stammen. Zumeist handelt es sich dabei um Schmuck der Frauen (Fibeln) oder, weit seltener, Gürtel- und Waffenteile bei den Männern. Daneben gibt es auch sehr selten organische Gegenstände aus Holz und Bein. Da fast sämtliche Runenfunde aus Gräbern stammen und sich dort Metallgegenstände weit besser erhalten als zum Beispiel Holz, darf man daraus nicht schließen, dass Runen bevorzugt in Metallgegenstände geritzt wurden. Die deutliche Überzahl von Frauengräbern mit Runengegenständen dürfte darauf zurückzuführen sein, dass sich Ritzungen besonders gut bei Edel- und Buntmetallschmuckstücken erhalten haben als dies bei den viel stärker korrodierten eisernen Waffen- und Gürtelteilen der Männer der Fall ist.
Der Gebrauch der Runen war in Mitteleuropa aber nur von kurzer Dauer, denn spätestens nach der Mitte des 7. Jahrhunderts finden sich keine Runen mehr. Besonders zahlreich treten Runenritzungen zwischen 550 und 600 n. Chr. auf.
Inhalte
Die Inschriften sind kurz, häufig nur ein Wort, manchmal nur eine einzelne Rune. Die längsten Inschriften (Neudingen, Runenschnalle von Pforzen) sind gerade einmal ein bis zwei Sätze lang. Häufig sind die Inschriften nicht deutlich erkennbar oder lesbar. Neben den Einzelrunen gibt es „falsch“ geschriebene Runen und Pseudorunen.
Selbst wenn die Inschrift gut zu erkennen und länger ist, gibt es wissenschaftlich oft kaum eine einhellige Meinung zu einer Übersetzung des Inhaltes. Deutlicher ist zum Beispiel der Holzstab (Teil eines Webstuhls) aus Neudingen (Baden-Württemberg): „lbi (ergänzt zu leub/liubi): imuba: hamale: blithguth uraitruna“ (Liebes der Imuba: (von) Hamale: Blithgund ritzte/schrieb die Runen) oder die Fibel von Bad Krozingen (Baden-Württemberg) „Boba leub Agirike“ („Boba ist lieb dem Agerich“ oder „Boba wünscht Liebes dem Agerich“).
Runen als Geheimschrift in mittelalterlichen Glossen des 7. bis 11. Jahrhunderts
Aus dem Mittelalter sind zahlreiche Beispiele geheimschriftlich annotierter Klostermanuskripte bekannt. Diese enthalten Anmerkungen, die als Griffelglossen ausgeführt sind. Diese Runen-Geheimschriften verwenden meist ein an Angelsächsisch angelehntes Futhark. Beispiele dafür befinden sich zum Beispiel in der Stiftsbibliothek St. Gallen, zum Beispiel Cod. 11, S. 144 (Geheimglosse in Runenschrift). Hierzu die Quellensammlung von Andreas Nievergelt (2009): Althochdeutsch in Runenschrift. Geheimschriftliche volkssprachige Griffelglossen. In: Beiheft ZfdA 11. Stuttgart: Hirzel.
Magische Runen in Mitteleuropa
Anders als bei den skandinavischen Funden lassen sich im mitteleuropäischen Raum weniger Inschriften als eindeutig magisch oder als Zauberformeln deuten. Es handelt sich meist um eher profane private Vermerke, Liebesbezeugungen oder Schenkungswidmungen. Nicht wenige der Ritzungen tragen die Signatur einer Frau.
Auf den Brakteaten von Hüfingen (Baden-Württemberg) finden sich die Formelwörter „alu“ (Ale/Bier = Gesundheit/Schutz?) und „ota“ (Schrecken/Abwehr?), die auch aus dem Norden bekannt sind. Möglicherweise handelt es sich hierbei um magische Formelwörter, die Unheil abwehren und Gedeihen herbeiwünschen sollen.
Auf der Fibel von Beuchte (Niedersachsen, 6. Jahrhundert) finden sich zwei Inschriften (1. Buirso, wohl der Name des Runenmeisters, 2. die Futhark-Reihe von f bis r, erweitert um z und j), wobei die eine im Gegensatz zur Fibel keine Abnutzungsspuren aufweist und womöglich erst nach dem Tode der Trägerin eingeritzt worden war (die Futhark-Reihe, also die ersten acht Zeichen, als „Alphabet“-Zauber, die quasi als magische „Formel“ gilt?). Dies könnte darauf hindeuten, dass die Inschrift zur Abwehr eines „Wiedergängers“ gedacht war.
Auf dem silbernen Scheidenmundblech aus dem Männergrab 186 von Eichstetten am Kaiserstuhl (Baden-Württemberg) wurde die Inschrift (erster Teil nicht sinnvoll lesbar) „muniwiwoll“ eingeritzt. Dies wird als „mun(t) wi woll“ gelesen und mit „Schutz wie Wohl“ (Munt/Mund bedeutet Schutz und steckt heute noch im Wort „Mündel“ (Schützling)) oder einfach „Guter Schutz/Schutz wie vortrefflich“ übersetzt. Anscheinend erhoffte sich der Besitzer durch die Runen Schutz im Kampf.
Der zahlreich auftauchenden „Futhark“ Einritzungen auf Schmuck und Waffen werden meist als Glücksfetisch gedeutet.
Religion
Auf der Fibel von Nordendorf (bei Augsburg, Ende 6. Jahrhundert) wird vielleicht eine Göttertrias genannt: „logaþore wodan wigiþonar“. Leicht zu erkennen sind die aus späteren Quellen bekannten südgermanischen Götter Wodan und Donar, der hier mit der Vorsilbe wigi- als besonders verehrenswert benannt wird (ahd. wîh, noch im 19. Jhd. mundartlich weich „heilig“ < germ. *wīgian 'weihen'; vielleicht aber auch zu germ. *wīgan 'kämpfen' zu stellen). Logathore könnte ein dritter, lokaler Gott gewesen sein, der wohl nicht an die nordgermanischen Loki oder Loðurr anzuschließen ist.
Klaus Düwel liest logaþore hingegen als „Ränkeschmiede/Zauberer“ und deutet die Inschrift als „Ränkeschmiede/Zauberer (sind) Wodan und Weihe-Donar“. Dies entspräche dann einer Verdammung der alten Götter und einem Bekenntnis der Trägerin zum neuen christlichen Glauben. Demgegenüber liest U. Schwab „Zauberhaft/Zauberer (im positiven Sinne) (sind) Weihe-Donar und Wodan“, womit die Trägerin dem alten Glauben angehangen haben würde. Doch könnte logaþore auch als Kenning für eine weitere Gottheit (vielleicht Tyr) stehen, die die Trias wiederum vollständig machte.
In einigen Fällen sind Formeln bezeugt, die nicht anders denn als Abwendung von den heidnischen Gottheiten gelesen werden können. Auf der Scheibenfibel von Osthofen ist mit der Inschrift „Gott mit dir, Theophilus (= Gott-Freund)“ die Wendung zum Christentum deutlich vollzogen. In einem Kirchengrab in Arlon (Belgien) fand sich eine, durch eine Kreuzdarstellung als christlich ausgewiesene, Amulettkapsel mit Runen, die recht eindeutig die dort bestattete Tote als Christin ausweist. In einem reich ausgestatteten Frauengrab bei Kirchheim unter Teck (Baden-Württemberg) vom Ende 6. Jhd. wurde neben einer großen Runenfibel ein Goldblattkreuz gefunden, das eine Annäherung an christliches Gedankengut zumindest denkbar erscheinen lässt.
Beginn und Ende der Runenritzungen
Die Germanen Mitteleuropas übernahmen die Runen erst fast 400 Jahre nach der ersten Verwendung dieses Schriftsystems in Skandinavien. Es stellt sich die Frage, warum sie sich nicht gleich (oder früher) der lateinischen Schrift der benachbarten römischen Gebiete bedienten. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang der Umstand, dass die Runen hier erstmals auftauchen, als die Gebiete in das Frankenreich eingegliedert wurden (Alamannen 496/506/535, Thüringer 529/532) und Bajuwaren (Mitte 6. Jh.). Eine These lautet, dass nach dem Fall des Thüringerreichs 531 die „romanisch“ geprägten Franken und Alemannen zu direkten Nachbarn der Sachsen wurden und sich der Austausch zwischen Nord und Süd intensivierte.
Zeitlich gilt dasselbe für die so genannte „nordische“ Modewelle, mit der viele Elemente und Formen (Fibelformen, Brakteaten, Verzierungen im Tierstil I und II) verstärkt ab ca. 530 n. Chr. von Skandinavien nach Mitteleuropa gelangten bzw. dort kopiert wurden und zu eigenen Formen anregten (kontinentaler Tierstil II). Dass auch die Runen im Zuge dieser Modewelle nach Süden gelangten, ist durchaus möglich; man bedenke auch die Formelwörter alu und ota, auf den Brakteaten von Hüfingen, die häufig in Skandinavien vorkommen. Wie diese „nördlichen“ Elemente sich verbreiteten und weshalb sie in Mitteleuropa so bereitwillig rezipiert wurden, ist noch nicht hinreichend erklärt. Es könnte sich um intensivierte Handelsbeziehungen handeln oder um engere soziale Kontakte (Heiratsbeziehungen, Einwanderung, Wanderhandwerker oder Krieger, die sich neuen Gefolgschaftsherren auf dem Festland anschlossen). Eine weitere These lautet, dass diese „nordischen“ Elemente gezielt von einigen germanischen Gruppen übernommen wurden, um sich eine eigene Identität zu geben und diese nach außen (eventuell gegen die eher romanisierten Gebiete/Gruppen und die Einflüsse aus dem Mittelmeerraum) zu demonstrieren und sich dadurch abzugrenzen. Alles weist jedoch darauf hin, dass der Gebrauch von Runen auf dem Boden des fränkischen Reichs ein kurzlebiges und sekundäres Phänomen war.
Warum der Brauch, Runen zu ritzen, in Mitteleuropa im 7. Jahrhundert ausstarb, ist nicht geklärt. Dass die römische Kirche aktiv gegen den Runengebrauch vorging, ist wenig wahrscheinlich. Weder ist ein solches Verbot überliefert, noch scheinen christlicher Glaube und Runen unverträglich gewesen zu sein. Einige mit Runengegenständen Bestattete waren anscheinend schon Christen (Arlon, Kirchheim). Zudem arrangierte sich die Kirche in England und Skandinavien recht zwanglos mit Runen als Schrift. Dennoch dürfte die vom Frankenreich ausgehende Christianisierung mit einem Wandel vieler Bräuche und einer latenten Romanisierung (abzulesen zum Beispiel am Lehnwortschatz) einhergegangen und somit indirekt auch für das Erlöschen der Runenkultur verantwortlich gewesen sein.
Da die Runen nur für einen recht kurzen Zeitraum in Gebrauch waren (ca. 100 bis 150 Jahre) und die Inschriften oftmals eine unsichere Hand verraten, war die Kenntnis vermutlich nie sehr verbreitet oder fest verwurzelt. Viele Inschriften machen einen ausgesprochen „privaten“ Eindruck. Etwas, das der skandinavischen Runenmeisterkultur mit ihrer Traditionsbildung entsprach, existierte in Mitteleuropa offenbar nicht. Stattdessen wechselte man, wohl unter dem mittelbaren Einfluss der Kirchen und Klöster, auf die gebräuchlichere, „internationalere“ und prestigereichere lateinische Schrift über.
Die Runen in Skandinavien
Im skandinavischen Norden, wohin die lateinische Schrift erst im Mittelalter im Zuge der Christianisierung gelangte, nahm die Verwendung der Runen dagegen bis zum hohen Mittelalter weiter zu, beispielsweise sind Runeninschriften in Kirchen in Norwegen besonders häufig, aber auch bei Grabinschriften oder zum Andenken an Familienangehörige auf Runensteinen. Aus der Zeit des älteren Futharks hat die Inschrift auf dem kleineren der Goldhörner von Gallehus große Berühmtheit erlangt.
Die Inschriften im kürzeren Futhark beginnen etwa um 800; Beispiele dafür sind die Steine von Helnæs und Flemløse auf Fünen. Ganz sicher datierbar sind jedoch erst die zweifellos jüngeren Jellingsteine aus dem 10. Jahrhundert. Diese Runen sind in Schweden besonders zahlreich und reichen bis in spätere Zeit hinauf, auf Gotland bis ins 16. Jahrhundert; einige (beispielsweise der Runenstein von Karlevi auf Öland und der Runenstein von Rök in Östergötland) enthalten stabreimende Verse. Diese jüngeren Inschriften aus der Wikingerzeit machen mit über 5000 den Hauptanteil aller erhaltenen Runendenkmäler aus. Allein im schwedischen Uppland finden sich 1200 Runensteine (in ganz Schweden ca. 2500). Die meisten Steine tragen Inschriften der Art „(Name) errichtete für (Name)“, danach wird der Verwandtschaftsgrad genannt. Manche Inschriften sind verschlüsselt. Der Gebrauch der Runen zu literarischen Zwecken, also in Handschriften, ist dagegen selten und wohl nur als eine gelehrte Spielerei zu betrachten. Das umfangreichste Denkmal war der so genannte Codex runicus mit dem schonischen Recht aus dem 14. Jahrhundert. Besonders lange wurden Runen auf Kalenderstäben gebraucht.
Da Mythen, Sagen und epische Lieder mündlich überliefert wurden und die isländischen Prosa-Sagas von Anfang an eine (latein)schriftliche Textgattung waren, spielten Runen als Medium literarischer Überlieferung kaum eine Rolle. Aber nicht nur die große Verbreitung von Inschriften macht es wahrscheinlich, dass seit der Wikingerzeit zumindest in der wohlhabenden Oberschicht Skandinaviens ein recht großer Teil der Menschen Runen lesen und schreiben konnte. Die große Mehrheit der einfachen Landbewohner allerdings wird gewusst haben, was auf den markanten Steinen stand und für wen sie errichtet waren, auch ohne selbst lesen und schreiben zu können. Runen dienten oft auch profanen Zwecken. Dazu zählen Besitzmarken, mit denen Handelswaren und anderes Eigentum gekennzeichnet wurden, geschäftliche Mitteilungen, aber auch Gelegenheitsinschriften in Form von kurzen privaten Botschaften, wie zum Beispiel die Aufforderung „kysmik“ (küss mich), die im Oslo des 11. Jahrhunderts auf einen Knochen geritzt wurde. Überliefert sind viele Runenhölzer und Bleistreifen mit solchen Liebesbezeugungen, Gedichten oder Handelsnotizen. Auch Verwünschungen blieben in Mode.
Erst im 16. Jahrhundert ging die Zeit der Runen in Skandinavien zu Ende. Lediglich in der schwedischen Provinz Dalarna hielt sich der Gebrauch von Runen noch bis ins frühe 20. Jahrhundert.
Als Erbe des langen Nebeneinanders von lateinischer und runischer Schrift enthält das isländische Alphabet bis heute ein Zeichen, das ursprünglich eine Rune war: Þ (thorn) steht für den stimmlosen th-Laut (wie beispielsweise im englischen Wort „thing“).
Runen außerhalb Skandinaviens und Mitteleuropas
In Byzanz hinterließen mehrere nordische Reisende, möglicherweise Krieger der kaiserlichen Warägergarde, Runengraffiti auf Galerien der Hagia Sophia. Unter den Runeninschriften der Britischen Inseln gibt es neben den altenglischen auch etwa 220 Inschriften in altnordischer Sprache aus der Wikingerzeit. Runen wurden auch auf den Färöern, auf Island, in Russland (Staraja Ladoga) und auf Grönland gefunden.
Runen in der Neuzeit
Beginn der wissenschaftlichen Erforschung
Die Runen gerieten nie in völlige Vergessenheit. Die wissenschaftliche Befassung mit Runendenkmälern und der Runenschrift hielt sich das ganze Mittelalter hindurch, bis zum Humanismus auf denselben Gleisen wie die enzyklopädische und geschichtswissenschaftliche Beschäftigung mit anderen Altertümern. Humanisten wie der Schweizer Melchior Goldast fahnden in mittelalterlichen Manuskripten nach der Geschichtsüberlieferung des eigenen „Stammes“, wenn sie althochdeutsche Texte ebenso abdrucken wie die klösterlichen Runentraktate des 9. Jahrhunderts (s. Abb.). Im Norden konnte sich die Aufmerksamkeit auf die inschriftlichen Denkmäler selbst richten. Seit dem 16. Jahrhundert wurden gelehrte Sammlungen und Studien veröffentlicht, allerdings erscheinen die Herleitungen der Schrift zum Beispiel aus der Zeit der Sintflut (Johan Magnus, 1554) oder von der hebräischen Schrift (Olaus Wormius, 1639) doch eher kurios. Johan Göranssons Baustil von 1750 ist mit seinen Abbildungen von 1200 schwedischen Runensteinen noch immer von wissenschaftlicher Bedeutung, auch wenn er die These vertrat, die Runen seien um 2000 v. Chr. von einem Bruder Magogs in den Norden gebracht worden. Das verlorengegangene Goldhorn von Gallehus ist nur noch durch Stiche des 18. Jahrhunderts fassbar.
Heute ist die Runenkunde (Runologie) kein eigenständiges akademisches Fach, aber ein etabliertes Forschungsgebiet im Berührungsfeld von vergleichender Sprachwissenschaft, Nordistik, Geschichtswissenschaft und Archäologie.
Runenesoterik
Gegen Ende des 19. Jahrhunderts keimte in einigen esoterischen Kreisen Interesse für die Runen auf. Es waren vor allem völkisch-mystisch gesinnte Menschen, die die Runen in ihrem Sinne umdeuteten, ihnen magische Kraft zuschrieben und sich neue Runenalphabete ausdachten. Die völkische Bewegung verwendete nie die historischen Runen, sondern frei erfundene runenähnliche Zeichen. Der bedeutendste Impulsgeber war Guido von List (1848–1919), ein österreichischer Romantiker und Mitgründer der rechtsesoterischen Ariosophie. Er empfing den Großteil seines okkulten „Runenwissens“ nach eigenem Bekunden in Form von Visionen und galt seinen Anhängern als eine Art Prophet. Er postulierte eine pseudohistorische Priesterschaft sogenannter Armanen, die in diese Geheimnisse eingeweiht gewesen seien, und sein frei erfundenes Futhark, das sich nur lose auf das jüngere Futhark stützt, wurde daher auch Armanen-Futhark genannt. List postulierte des Weiteren ein Urvolk mit eigener Ursprache namens „Ariogermanen“. Er behauptete, dass dieses Volk, diese reinblütige „Rasse“ von blonden, blauäugigen Menschen, schon seit Urzeiten ein 18 Runen umfassendes Schriftsystem benutzt habe.
Bis in die 1970er Jahre arbeitete die Runenesoterik fast ausschließlich mit diesem Armanen-Futhark. Spätere Autoren stützten sich auf dieses Futhark, so etwa Karl Maria Wiligut, der „Rasputin Himmlers“, und Friedrich Bernhard Marby, der Erfinder der Runengymnastik (auch als Runenyoga bekannt), bei dem die auszuführenden Figuren jeweils Runen symbolisieren und mit dem der „rassenbewusste nordische Mensch“ seinen Geist und Körper veredeln sollte.
Neuere Runenesoterik
Die neuere Runenesoterik bezieht sich häufig auf die Arbeiten des amerikanischen Runenmagiers Edred Thorsson (d. i. Stephen Flowers), Vorsitzender der Rune-Gild (Lit.: Edred Thorsson, 1987). Der in Nordistik/Altgermanistik promovierte Flowers verwendete als Grundlage auch wieder das ältere, 24 Runen umfassende Futhark anstelle des Armanen-Futhark.
Generell zeichnen sich die Lehren der Runenesoterik durch einen starken Eklektizismus aus. Esoterisch arbeitende Runenmagier benutzen bei ihrer Beschäftigung mit Runenmagie und Runenorakel zum einen vorgeblich „eigene“ Gedanken und Überlegungen, greifen aber oft auch auf die wenigen schriftlichen Quellen des Hoch- und vor allem Spätmittelalters zurück, bei denen etwas über die magische Verwendung von Runen berichtet wird. Dazu gehören beispielsweise Phrasen, beziehungsweise Paraphrasen aus den eddischen Schriften und aus der übrigen weiteren altnordischen Literatur wie beispielsweise aus den Sagas und die Runengedichte. Dabei wird gerne übersehen, dass diese späten schriftlichen Überlieferungen aus einem bereits vollständig christianisierten Umfeld stammen und entsprechend kaum reine „germanisch-heidnische“ Vorstellungen wiedergeben. Allerdings legt die Runenmagie keinen Wert auf historische Richtigkeit (sie ist schließlich keine Wissenschaft), sondern auf den praktisch-subjektiven Zugang, der jede (objektive) Fehlinterpretation verzeihlich macht. Meist wird in Publikationen zum esoterischen und magischen Gebrauch der Runen betont, dass der jeweilige Autor nur eine Hilfestellung und Ideen liefern möchte, dass jedoch bei der Arbeit mit Runen jeder neue Adept aus sich selbst heraus individuell die Runen und ihre Kraft „verstehen“ und den Umgang mit ihnen lernen müsse – etwa durch Meditation, Trance u. ä.
Völkische Ideologie und Rechtsextremismus
Als autochthone, rein germanische Leistung waren die Runen anfällig dafür, für ideologische und politische Zwecke zur Zeit des Nationalismus instrumentalisiert zu werden. Schon im 17. Jahrhundert entwickelten Dänemark und Schweden einen ahistorischen Stolz auf „ihre“ Runen. Einer kulturkritischen Strömung am Ende des 19. und Beginn des 20. Jahrhunderts, die sich in neuheidnischen und antisemitischen Tendenzen äußerte, kamen vorchristliche, „nordische“ Traditionen nur gelegen. Die Vereinnahmung der völkischen „Sig-Rune“ (wie auch Teile der nordischen Mythologie) durch die Hitlerjugend und die SS in der Zeit des Nationalsozialismus und der Odalrune durch Neonazis (siehe Rechtsextreme Symbole und Zeichen) ist dabei nur die bekannteste Form dieser ideologischen Indienstnahme. Einzelne Runen, insbesondere solche aus Lists Armanen-Futhark, und runenähnliche Zeichen wie die Schwarze Sonne werden in rechtsextremen und neonazistischen Kreisen als Erkennungszeichen verwendet. Auch die Erforschung der historischen Runendokumente wurde insbesondere in der Zeit des Dritten Reiches durch politische und ideologische Vorgaben und Erwartungen geprägt.
Weitere heutige Verwendung
Runen finden sich auch in Wappen, auf CDs (vor allem in der Metal-Szene) und Büchern, auf Kleidungsstücken (vor allem T-Shirts), Fingerringen und Anhängern von Halsketten, Tischdecken, Essgeschirr, Tragetaschen und auf vielen anderen Alltagsgegenständen.
Im Ásatrú werden die Runen als Schrift, für runenmagische Zwecke und gelegentlich als Losorakel verwendet.
Unicode
Der Unicodeblock Runen (16A0–16FF) enthält die germanischen Runen, wobei sich die Reihenfolge nach dem traditionellen Runen-Alphabet Futhark richtet und alle jüngeren Varianten und Abwandlungen nach der jeweiligen Grundrune einsortiert sind.
Siehe auch
Runen in heutiger Zeit
Runendichtung
Samnordisk runtextdatabas (Gesamtnordische Runentext-Datenbank)
Runenstein von Kensington (Stein mit gefälschter Runen-Inschrift)
Ogham (irische Alphabetschrift, 4. bis 10. Jh.)
Formal ähnliche, nicht verwandte Schriften:
Orchon-Runen (Turk-Runen)
Ungarische Runen
Literatur
Helmut Arntz: Handbuch der Runenkunde. Zweite Auflage. Niemeyer, Halle/Saale 1944. (Reprint: Ed. Lempertz, Leipzig, 2007).
René Derolez: Runica Manuscripta. The English Tradition. De Tempel, Brugge 1954 (Standardwerk über die „Buchrunen“).
Klaus Düwel: Zur Auswertung der Brakteatinschriften. Runenkenntnis und Runeninschriften als Oberschichten-Merkmale. In: Karl Hauck (Hrsg.): Der historische Horizont der Götterbilsamulette aus der Übergangsepoche von der Spätantike zum Frühmittelalter. Göttingen 1992.
Klaus Düwel (Hrsg.): Runeninschriften als Quellen interdisziplinärer Forschung. Abhandlungen des Vierten Internationalen Symposiums über Runen und Runeninschriften in Göttingen vom 4. bis 9. August 1995. Walter de Gruyter, Berlin 1998, ISBN 3-11-015455-2
Klaus Düwel: Runenkunde. 4. Auflage Metzler, Stuttgart 2008, ISBN 978-3-476-14072-2.
Klaus Düwel, Robert Nedoma, Sigmund Oehrl: Die südgermanischen Runeninschriften. 2 Bände (= Reallexikon der Germanischen Altertumskunde. Ergänzungsband 119). Walter de Gruyter, Berlin/Boston 2020, ISBN 978-3-11-053099-5.
Lars Magnar Enoksen: Runor: historia, tydning, tolkning. Historiska Media, Falun 1998. ISBN 91-88930-32-7
Heinz Klingenberg: Runenschrift – Schriftdenken – Runeninschriften. Carl Winter, Heidelberg 1973. ISBN 3-533-02181-5
John McKinnell, Rudolf Simek, Klaus Düwel: Runes, magic and religion. A source-book. (= Studia Medievalia Septentrionalia ; 10), Fassbaender, Wien 2004, ISBN 978-3-900538-81-1.
Wolfgang Krause, Herbert Jankuhn: Die Runeninschriften im älteren Futhark. (= Akademie der Wissenschaften zu Göttingen; Philosophisch-Historische Klasse Folge 3, Nr. 65,1 (Text), Nr. 65,2 (Tafeln)), Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1966.
D. Gary Miller: Ancient scripts and phonological knowledge. (= Amsterdam studies in the theory and history of linguistic science. Series IV, Current issues in linguistic theory, 116). John Benjamins Publishing, Amsterdam/Philadelphia 1994, ISBN 90-272-3619-4, .
Stephan Opitz: Südgermanische Runeninschriften im älteren Futhark aus der Merowingerzeit Freiburg 1977
Robert Nedoma: Personennamen in südgermanischen Runeninschriften. Carl Winter, Heidelberg 2004. ISBN 3-8253-1646-7
Rochus von Liliencron, Karl Müllenhoff: Zur Runenlehre. Zwei Abhandlungen. Schwetschke, Halle 1852 (Digitalisat).
Runen, Runendichtung, Runenfälschungen, Runengedichte, Runeninschriften, Runenmeister, Runenmünzen, Runennamen, Runenreihen, Runenschrift, Runensteine. In: Reallexikon der Germanischen Altertumskunde. Band 25. Walter de Gruyter, Berlin/New York 2003, ISBN 3-11-017733-1, S. 499–596.
Wilhelm Carl Grimm: Über deutsche Runen. Dieterich, Göttingen 1821 (books.google.com).
Weblinks
Die freie Unicode-Schriftart Sun-ExtA zum Download (ZIP-Datei; 9,6 MB)
Die freie Unicode-Schriftart Junicode zum Download
Linkliste, zusammengestellt von R. Nedoma (aktuell)
Umfangreiche Runendatei mit weiterführender Literatur zu den einzelnen Inschriften (2002) (Runenprojekt Uni Kiel)
(Die führende Fachzeitschrift, Univ. Oslo)
Beispiele von Inschriften mit Runenreihen Weitere Inschriften (Titus, Uni Frankfurt)
Jantina Helena Looijenga: Runes around the North Sea and on the Continent AD 150–700., texts & contexts. Diss. Groningen 1997.
Wolfgang Krischke: Ursprung des Deutschen: Runen aus Karthago
Einzelnachweise
Alphabet
Schrift
Schrift (Germanen)
Sprache (Germanen)
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Q82996
| 241.321364 |
5180
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https://de.wikipedia.org/wiki/Technologie
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Technologie
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Technologie im heutigen Sinne ist die Wissenschaft und Lehre von der Technik zur Planung und Herstellung von Industrieprodukten. Sie erforscht und vermittelt im Wesentlichen technisches Know-how zur Gestaltung verfahrens- und anwendungstechnischer Prozesse in Industriebetrieben einschließlich der Planung und Bereitstellung der erforderlichen Betriebsmittel und technischen Dokumentationen.
Etymologie
Das Wort Technologie leitet sich ab von „kunstgemäße Abhandlung über eine Kunst oder Wissenschaft“, das seinerseits auf „Kunst, Handwerk“ sowie (hier wie in der Bedeutung „Wissenschaften“, vergleiche -logie) zurückgeht. Im hellenistischen Griechisch (Koine, ab ca. 300 v. Chr.) wurde damit gelegentlich die „systematische Behandlung der Grammatik und Rhetorik“ bezeichnet.
Allgemeines
Der Begriffsinhalt hat sich im Laufe der Zeit verschoben. Das Wort besaß früher die Bedeutung einer Kunstlehre zur Gewerbekunde. In neuerer Zeit überwiegen Bedeutungen wie „Lehre vom Handwerk“, „Wissenschaft von der Technik“ oder „technisches Know-how“, doch unterscheiden sich die verschiedenen Begriffsauffassungen teilweise beträchtlich. Technologie ist insgesamt betrachtet naturwissenschaftlich-technisches Wissen, welches die Grundlage für Produkte und Produktionsverfahren darstellt.
Technischer Fortschritt bringt Produkt- oder Finanzinnovationen hervor; wer einen Vorsprung in der Anwendung neuer Technologien gegenüber der Konkurrenz aufweist, heißt Technologieführer.
Verschiedene Bedeutungen in der Neuzeit
18. Jahrhundert
Bis ins 18. Jahrhundert verstand man, vermutlich unter dem Einfluss des hellenistischen Wortgebrauchs, unter Technologie die . Diese Bedeutung ist bloß von sprachgeschichtlichem Interesse und spielt längst keine Rolle mehr.
Der Aufklärungsphilosoph Christian Wolff schrieb 1740 von einer . Mit Handwerken und Handwerkserzeugnissen ist aus damaliger Sicht offenkundig die gesamte „Technik“ gemeint (ein Wort, das es im heute geläufigen Sinn seinerzeit nicht gegeben hat). Ausdrücklich nennt Wolff auch die Architektur als einen Teil der Technologie. Interessant ist der Umstand, dass Wolff die Technologie als einen möglichen Zweig der Philosophie betrachtet. Das lässt sich damit erklären, dass die Ablösung der Einzelwissenschaften von der Philosophie großenteils noch nicht erfolgt war, aber man kann darin auch einen Vorgriff auf die Philosophie der Arbeit oder die Technikphilosophie sehen.
Als Begründer des deutschsprachigen Konzepts der Technologie gilt der Staatswissenschaftler Johann Beckmann. Nach kurzen Erwähnungen des Wortes in den Jahren 1769 und 1772 hat Beckmann 1777 das Buch Anleitung zur Technologie, oder zur Kenntniß der Handwerke, Fabriken und Manufacturen vorgelegt. Darin sagt Beckmann: (ebd., S. 17). An dieser Stelle nennt er nur die Handwerke und nicht auch, wie Wolff, deren Erzeugnisse; allerdings geht er an zahlreichen Stellen des Buches auch darauf ein und ergänzt seine Anleitung später durch eine eigene Warenkunde. Gleichwohl ist Beckmanns Programm vielfach so aufgenommen worden, als handele es allein von der Theorie der Produktionsprozesse und nicht auch der technischen Produkte.
19. Jahrhundert
Diese Auffassung steht bei Karl Marx im Vordergrund, dem es vor allem um das Verhältnis von Industriearbeit und Kapital geht. . Andererseits entwickelt er aber auch eine sehr viel weitergehende, sozusagen gesellschaftstheoretische Vorstellung: .
Seit dem späten 19. Jahrhundert wird Technologie zum Sondergebiet der Technikwissenschaften, das sich mit den Ver- und Bearbeitungsverfahren befasst. Man spricht von mechanischer, chemischer, Lebensmitteltechnologie usw., schränkt den Begriff also ausdrücklich auf die Lehre von den Produktionsverfahren ein.
20. Jahrhundert
In der Deutschen Demokratischen Republik führte die Fachtradition im Zusammenhang mit einem diesbezüglichen Marx-Verständnis dazu, Technologie allein im Sinne von „Produktionslehre“ aufzufassen und sogar mittlere Fachkräfte in der Industrie (Fertigungsplaner, Arbeitsvorbereiter usw.) als Technologen zu bezeichnen. In einer Definition, die von der Fakultät für Technologie der Technischen Universität Dresden im Dezember 1960 ausgearbeitet wurde, lautet es: In einem repräsentativen Fachlexikon heißt es: Abteilungen zur Fertigungsplanung und Arbeitsvorbereitung in Volkseigenen Betrieben wurden meist ebenfalls unter der Bezeichnung Technologie geführt.
In Westdeutschland verbreitete sich unter dem Einfluss der ungenauen Übersetzung und Adaption des Wortes „technology“ aus dem Englischen seit den 1960er Jahren in Politik, Wirtschaft und Medien eine weitgehend unspezifische Wortverwendung, die mehr oder weniger dasselbe bedeutet wie Technik. So wird z. B. in der Produktwerbung oft schönfärberisch von Technologie statt von Technik gesprochen, um ein technisches Produkt wertvoller erscheinen zu lassen. Spricht jemand zum Beispiel im Zusammenhang mit Fahrzeugen von „neuester Technologie“, ist eigentlich die Fahrzeugtechnik gemeint.
Im Englischen, besonders amerikanischer Prägung, ist das tatsächlich existierende Wort technics als Pendant zum deutschen Technik völlig ungebräuchlich. Alles, was im Deutschen korrekt Technik heißt, wird im Englischen meist genannt. Daher wird im Deutschen die Bezeichnung Technologie oft fälschlich für Technik verwendet. Das Bedeutungsspektrum des englischen ist jedoch viel breiter als das von Technologie: Es reicht von Technik über Gerät, Werkzeug, Methode, Computerprogramm bis hin zu technischen Systemen und Verfahren. Entsprechend ist bei der Übersetzung aus dem Englischen ins Deutsche Vorsicht geboten.
Aktuelle Tendenzen
Inzwischen findet die Auffassung eine gewisse Resonanz, die Wortbedeutung aus dem 18. Jahrhundert wieder aufzunehmen und Technologie zu definieren als „die Wissenschaft von der Technik“.
Nach einem Vorschlag von Johann Beckmann umfasst der Begriff die Allgemeine Technologie (transdisziplinäre Technikforschung und Techniklehre) und die speziellen Technologien (die einzelnen technikwissenschaftlichen Disziplinen).
Arten
Im Hinblick auf den Produktlebenszyklus und das Marktpotenzial lassen sich drei Technologietypen unterscheiden, und zwar Basistechnologien, Schlüsseltechnologien und Schrittmachertechnologien. Basistechnologien befinden sich in der Reifephase ihres Lebenszyklus, Schlüsseltechnologien unterliegen einer Phase des Marktwachstums, Schrittmachertechnologien sind Problemlösungen und befinden sich noch im frühen Stadium der Produktentwicklung. „Killer-Technologien“ sind Technologien, die im Zeitpunkt der Marktreife die vorhandenen Technologien und Schlüsseltechnologien als Substitutionsgut ersetzen.
Technologien können sich wechselseitig ergänzen (komplementäre Technologien) wie etwa die Computertechnik und das Internet, ein Konkurrenzverhältnis untereinander aufweisen (konkurrierende Technologien, Substitutionstechnologien) wie die Analogtechnik und Digitaltechnik oder in einer neutralen Beziehung zueinander stehen (hierzu gehören die so genannten Nachbartechnologien). Zudem lässt sich zwischen spezifischen Technologien unterscheiden, die lediglich in einem eng umgrenzten Arbeitsgebiet einer Branche anwendbar sind und Querschnittstechnologien mit branchenübergreifenden Auswirkungen.
Anwendungsgebiete
Heutige Anwendungsgebiete der Technologie sind Verpackungstechnologie, Biotechnologie, Bionik, Elektromobilität, Energietechnik, Gentechnologie, Getränketechnologie, Informations- und Kommunikationstechnologie, Softwaretechnik, künstliche Intelligenz, Lebensmitteltechnologie, Mikroelektronik, Nanotechnologie, Robotertechnik, Wasser- und Abwassertechnik.
Siehe auch
Allgemeine Technologie
Literatur
Jean Baudrillard, Hannes Böhringer, Vilém Flusser: Philosophien der neuen Technologie. Merve, Berlin 1989, ISBN 3-88396-066-7.
Peter Brödner: Der überlistete Odysseus. Edition Sigma, Berlin 1997, ISBN 3-89404-611-2.
Susanne Fohler: Techniktheorien. Der Platz der Dinge in der Welt des Menschen. Fink, München 2003, ISBN 3-7705-3759-9.
Georg H. Knutzen: Technologie in den hippokratischen Schriften (= Abhandlungen der geistes- und sozialwissenschaftlichen Klasse der Akademie der Wissenschaften und der Literatur in Mainz. Jahrgang 1963, Nr. 14).
Günter Ropohl: Allgemeine Technologie. Eine Systemtheorie der Technik. 3. Auflage. Universitätsverlag Karlsruhe, Karlsruhe 2009, ISBN 978-3-86644-374-7.
Helmut Seiffert, Gerard Radnitzky (Hrsg.): Handlexikon zur Wissenschaftstheorie. 2. Auflage. dtv, München 1992, ISBN 3-423-04586-8, S. 362–365 (Stichwort Technologie und deren Abgrenzung zu anderen Wissenschaften).
Hans-Jörg Bullinger (Hrsg.): Technologieführer Grundlagen-Anwendungen-Trends. Springer-Verlag, Berlin/Heidelberg 2007, ISBN 978-3-540-33788-1.
Technologiekritik:
Kathrin Passig: Standardsituationen der Technologiekritik. (= Edition Unseld). Suhrkamp, Berlin 2013, ISBN 978-3-518-26048-7 (Sammlung von Essays zu gängigen Irrtümern von Technologiegegnern).
Weblinks
Einzelnachweise
Technikfolgenabschätzung
Technologie
Industrielle Revolution
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Q11016
| 1,516.384368 |
14263
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https://de.wikipedia.org/wiki/Sonnenfinsternis
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Sonnenfinsternis
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Eine irdische Sonnenfinsternis (althochdeutsch tagefinstri, mittelhochdeutsch sunnenfinster) oder Eklipse ( ‚Verdeckung‘, ‚Auslöschung‘) ist ein astronomisches Ereignis, bei dem die Sonne von bestimmten Gebieten auf der Erde aus gesehen durch den Mond teilweise oder ganz verdeckt wird. Der Schatten des Mondes streicht dabei über die Erde, was nur bei Neumond möglich ist.
Sonne und Mond erscheinen einem Beobachter auf der Erde mit annähernd dem gleichen scheinbaren Durchmesser (durchschnittlich 0,52°), weshalb der Mond die Sonnenscheibe manchmal vollständig und sogar präzise bedecken kann, wenn man sich nahe der direkten Verbindungslinie der Mittelpunkte von Sonne und Mond aufhält. Dies wird durch den außergewöhnlichen Zufall verursacht, dass der Mond derzeit sowohl ungefähr 375-mal kleiner als auch 375-mal näher als die Sonne ist.
Die bei solch einer totalen Sonnenfinsternis auf die Erde fallende Spur des Kernschattens des Mondes ist allerdings höchstens einige hundert Kilometer breit. Hingegen misst der Halbschatten des Mondes – wegen der flächigen Lichtquelle Sonne ein Übergangsschatten mit fließendem Helligkeitsübergang – mehrere tausend Kilometer, so dass dann von mehr als einem Viertel der Erdoberfläche aus eine partielle Verfinsterung der Sonne zu beobachten ist.
Die letzte partielle Finsternis für Mitteleuropa fand am 25. Oktober 2022 statt, siehe „Aktuelle Sonnenfinsternisse“.
Geschichte
Aus Keilschriften geht hervor, dass den Babyloniern ab etwa 800 v. Chr. schon Finsterniszyklen mit der Sarosperiode (rund 18 Jahre) bekannt waren. Motiviert waren diese erstaunlichen Forschungen unter anderem dadurch, dass Sonnenfinsternisse in der Antike und bis in die frühe Neuzeit als Unheil bringende Zeichen göttlicher Mächte galten.
Bei vielen Altorientalisten gilt ein Omen, das zumeist als Sonnenfinsternis interpretiert wird, und vom hethitischen Großkönig Muršili II. in seinem zehnten Regierungsjahr wahrgenommen wurde und u. a. in seinen Annalen beschrieben wird, als wichtiger Fixpunkt für die Chronologie des hethitischen Großreichs. Die derzeit vorherrschende Meinung identifiziert die Sonnenfinsternis des Muršilis mit einer totalen Sonnenfinsternis am 24. Juni 1312 v. Chr., die über dem nördlichen Anatolien gut zu beobachten war.
Bekannt ist etwa die von Herodot überlieferte Anekdote, wonach Thales von Milet für die Zeit eines Krieges zwischen den Medern und den Lydern eine Sonnenfinsternis vorausgesagt habe. Als diese tatsächlich eintrat, hätten die Gegner den Kampf erschreckt beendet und Frieden geschlossen. Dabei könnte es sich um die Sonnenfinsternis vom 28. Mai 585 v. Chr. handeln, einige Argumente sprechen jedoch auch für die Sonnenfinsternis vom 16. März 581 v. Chr. Weitere Berichte über Sonnenfinsternisse der Antike liegen insbesondere vor für eine Sonnenfinsternis im August 310 v. Chr., die von der Flotte des Agathokles auf ihrem Feldzug gegen Karthago beobachtet wurde, sowie für eine Finsternis im April 136 v. Chr., die in Mesopotamien beobachtet wurde. Auch aus China sind entsprechende Finsternisbeobachtungen überliefert. Inwieweit antike Astronomen Sonnenfinsternisse tatsächlich vorhersagen konnten, ist in der Forschung umstritten. Der antike Mechanismus von Antikythera, ein Gebilde von Zahnrädern wahrscheinlich aus dem 2. oder 1. Jhd. v. Chr., kann als Kalendarium angesehen werden, das analogrechnend unter anderem auch die Vorhersage von Sonnen- und Mondfinsternissen erlaubte.
Die rund dreistündige Finsternis bei der Kreuzigung Jesu Christi, von der in der Bibel im Neuen Testament berichtet wird, kann keine Sonnenfinsternis im hier behandelten Sinne gewesen sein. Denn alle vier Evangelien stimmen darin überein, dass Jesus am 14. oder 15. des jüdischen Monats Nisan gekreuzigt wurde; zu diesem Termin aber ist eine Sonnenfinsternis unmöglich, da im jüdischen Kalender um die Monatsmitte Vollmond war, nicht der für eine Sonnenfinsternis erforderliche Neumond. Dagegen beschreibt das Alte Testament beim Auszug der Juden aus Ägypten, dass eine Sonnenfinsternis eine wichtige Rolle gespielt haben muss.
Manche Kulturen schrieben Sonnenfinsternissen eine religiöse Bedeutung zu, etwa im alten China oder in der Chimú-Kultur (Peru, 1250–1475). Für die Chimús war die wichtigste Gottheit der Mond, weil er die Sonne verdecken konnte, was stets Anlass für große Feste war.
Die in der Antike begonnene wissenschaftliche Behandlung von Sonnenfinsternissen rückte erst mit der Etablierung des heliozentrischen Weltbildes durch Kopernikus und Kepler wieder in das Blickfeld der Forscher. Erhard Weigel legte 1654 eine detaillierte Vorausberechnung der Sonnenfinsternis am vor. Edmond Halley sagte die totale Sonnenfinsternis vom 3. Mai 1715 vorher und gab auch den Verlauf der Totalitätszone in Großbritannien an. Er versuchte mit seinen Kenntnissen der Bahnbewegung von Sonne und Mond auch, Finsternisse in der Vergangenheit zu erforschen. Dabei stieß er auf unerwartete Widersprüche – totale Sonnenfinsternisse, die tatsächlich im östlichen Mittelmeer beobachtet worden waren, hätten Halleys Berechnungen zufolge in Spanien stattfinden müssen. Dieser Widerspruch ließ sich schließlich durch eine zunehmende Verlangsamung der Erdumdrehungen erklären: Die Tageslänge nimmt pro Jahr durchschnittlich um rund 17 Mikrosekunden zu. Über die Jahrhunderte summiert sich dieser Effekt, sodass er für die Berechnung historischer Finsternisse berücksichtigt werden muss.
Seit Mitte des 19. Jahrhunderts begannen die astronomischen Gesellschaften einiger industrialisierter Nationen, Expeditionen in entferntere Erdteile zur Beobachtung von Sonnenfinsternissen zu organisieren. Dabei stand vor allem die Beobachtung der Korona im Zentrum des Interesses. Die totale Sonnenfinsternis vom 29. Mai 1919, wie sie auf der afrikanischen Insel Príncipe von einer Expedition unter Leitung von Arthur Stanley Eddington beobachtet werden konnte, gewann besondere Aufmerksamkeit im Zusammenhang mit der wenige Jahre zuvor von Albert Einstein entwickelten Relativitätstheorie, die unter anderem die Ablenkung des Lichts ferner Sterne durch das Gravitationsfeld der Sonne vorhersagte, – was durch die Beobachtungen bestätigt wurde.
Die Erwähnung einer Sonnenfinsternis in antiken Texten kann wichtige chronologische Fixpunkte liefern. So ist die Sonnenfinsternis vom 15. Juni 763 v. Chr. in der assyrischen Eponymenliste des Bur-Saggile (Statthalter von Guzana) verzeichnet, was ermöglicht, diese Liste in unserem Kalender zu verankern.
Grundlagen einer Sonnenfinsternis
Damit es zu einer Sonnenfinsternis kommt, müssen Sonne, Mond und Erde auf einer Linie stehen. Da die Mondbahn gegen die Ekliptikebene geneigt ist (um etwa 5°), tritt dies nicht jedes Mal zu Neumond ein, sondern nur, wenn der Mond sich dann auch nahe einem der zwei Schnittpunkte von Mondbahn und Ekliptikebene befindet. Bis wieder einer dieser beiden Mondknoten die Sonne passiert, braucht es ein halbes Finsternisjahr (173,31 Tage).
Der scheinbare Durchmesser des Mondes kann bei vielen zentralen Finsternissen – wenn also die Mitte der Mondscheibe über den Sonnenmittelpunkt zieht – hinreichen, die Sonne vollständig zu bedecken, sodass eine totale Sonnenfinsternis zu beobachten ist. Da die Umlaufbahn der Erde um die Sonne, wie auch die des Mondes um die Erde, leicht elliptisch ist, sind die Entfernungen von Sonne und Mond zu Erde veränderlich. Es kommt so auch vor, dass die Mondscheibe relativ zur Sonnenscheibe zu klein ist, um sie ganz zu bedecken. Dann kann ein dünner Ring der Sonnenscheibe um den Mond herum sichtbar bleiben, bei einer ringförmigen Sonnenfinsternis.
Geht über einen Beobachter beziehungsweise einen Ort auf der Erde nicht der Kernschatten des Mondes hinweg, aber sein Halbschatten, so wird von einer partiellen Sonnenfinsternis gesprochen. Diese ist regional bezogen häufiger zu beobachten als eine totale Sonnenfinsternis, weil die Spur des Kernschattens auf der Erdoberfläche nicht breit ist, äquatornah maximal weniger als 300 km.
Da Sonne, Mond und Erde keine punktförmigen Gebilde sind, können Sonnenfinsternisse auch noch in einem gewissen Abstand zum Mondknoten stattfinden, dem sogenannten Finsternis-Limit; beidseits knapp 17° gemessen als ekliptikaler Winkel beträgt dieser Bereich für Finsternisse, die durch den auf die Erde – bezogen als ganze – geworfenen Halbschatten des Mondes entstehen können. So kann gelegentlich – im Wechsel einer Reihe des Semesterzyklus von 8 bis 10 halben Jahren zur folgenden – nach einer partiellen Sonnenfinsternis schon etwa einen Monat später die nächste Sonnenfinsternis eintreten. Der Finsternisbereich für totale Sonnenfinsternisse jedoch hat nur eine Knotendistanz von rund ± 10,6° beziehungsweise beträgt etwa 22 Tage; so kann denn einer totalen nicht schon eine Lunation (durchschnittlich 29,53 Tage) später wieder eine Finsternis der Sonne folgen, wohl aber nach etwa einer halben Lunation eine Mondfinsternis.
In jedem Kalenderjahr gibt es mindestens 2, maximal aber 5 Sonnenfinsternisse.
Arten von Sonnenfinsternissen
Bezogen auf die Erde als ganze und ihre Stellung im Raum werden Sonnenfinsternisse unterschieden nach Lage der Achse des Mondschattens in zentrale, bei denen diese durch die Erde geht, und in partielle, bei denen die Schattenachse an der Erde vorbeistreicht.
Eine Finsternis, bei der die Erde ausschließlich vom Halbschatten des Mondes erreicht wird, heißt in diesem Sinn eine partielle Sonnenfinsternis. Solche Finsternisse treten in Gebieten in Nähe der beiden Erdpole auf.
Finsternisse, bei denen die Achse des Mondschattens die Erde kreuzt, bezeichnet man als zentrale Finsternisse. Bei diesen werden totale, ringförmige und hybride als drei Formen unterschieden danach, ob und wie der kegelförmige Kernschatten die Erdoberfläche erreicht.
Als Sonderfall können nichtzentrale totale oder ringförmige Finsternisse auftreten, bei denen die Achse des Mondschattens die Erde sehr knapp verfehlt, aber Teile der Erdoberfläche Totalität oder exzentrische Ringförmigkeit erleben können.
Totale Sonnenfinsternis
Bei einer totalen Sonnenfinsternis ist der scheinbare Durchmesser des Mondes größer als derjenige der Sonne, so dass der Mond die Sonne vollständig verdeckt. Die Beobachtung einer solchen Finsternis ist deshalb von besonderem Interesse, weil nur bei diesem Typ auch die Sonnenkorona visuell sichtbar wird, die sonst vom hellen Licht der Sonne überstrahlt wird.
Da der scheinbare Durchmesser des Mondes selbst bei günstigster Konstellation den der Sonne nur unwesentlich übertrifft, ist die Totalitätszone mit max. 273 km relativ schmal. Die Dauer der Totalität an einem Ort wird außer von den Größenverhältnissen zwischen Sonne und Mond auch von der Bahngeschwindigkeit des Mondes und von der Geschwindigkeit der Erdrotation bestimmt. Dabei dauert die Totalität tendenziell im Bereich des Äquators am längsten, da dort die Erdoberfläche am schnellsten dem forteilenden Mondschatten nachläuft und auch eine geringere Entfernung zum Mond hat, womit der Kernschatten tendenziell größer ist. Die längste totale Sonnenfinsternis zwischen 1.999 v. Chr. und 3.000 n. Chr. findet mit 7:29 Minuten am 16. Juli 2186 statt.
Ringförmige Sonnenfinsternis
Wenn aufgrund der elliptischen Umlaufbahnen der Erde um die Sonne und des Mondes um die Erde der scheinbare Durchmesser der Sonne den des Mondes übertrifft, bleibt der äußere Rand der Sonne bei einer Finsternis sichtbar. Sie wird deshalb auch ringförmige, annulare oder Feuerkranz-Sonnenfinsternis genannt. Der Kernschatten des Mondes erreicht dabei nicht die Erdoberfläche. Eine Sonnenkorona ist dann nicht erkennbar, weil sie vom sichtbar bleibenden Teil der Sonne überstrahlt wird.
Eine ringförmige Phase kann länger dauern als eine totale Phase. Das liegt daran, dass die bei einer ringförmigen Finsternis kleinere Mondscheibe einen längeren Weg zurückzulegen hat, bis sie an der Sonnenscheibe vorbei ist. Zudem ist die Bahngeschwindigkeit des Mondes wegen seines größeren Abstandes von der Erde kleiner (2. Keplersches Gesetz). Theoretisch kann die ringförmige Phase gegenwärtig etwa 12,5 Minuten erreichen.
Hybride Sonnenfinsternis
Bei einer hybriden Sonnenfinsternis – auch ringförmig-totale Finsternis genannt – ist der Mond so weit von der Erde entfernt, dass sein Kernschatten nur ein begrenztes Gebiet der Erdoberfläche erreicht, das ihm aufgrund der Kugelgestalt der Erde am nächsten ist. Dort ist kurzzeitig eine totale Sonnenfinsternis zu beobachten. Zeitlich davor und danach endet der Kernschatten schon vor dem Erreichen der Erdoberfläche; in den an die Totalitätszone angrenzenden Gebieten ist daher nur eine partielle Finsternis zu beobachten. Eine hybride Sonnenfinsternis beginnt und endet bei ihrem Weg über die Erde somit (meistens) als ringförmige Finsternis und ist dazwischen nur auf einem begrenzten Stück total. Am Ort des Übergangs sind beide Phasen je für einen winzigen Augenblick beobachtbar.
Diese Form der Sonnenfinsternis ist selten und macht in den langjährigen Aufstellungen nur ca. 1 % aller Fälle aus. Ein Beispiel ist die Finsternis vom 8. April 2005. Im Maximum war die Totalitätszone im östlichen Pazifik vor Costa Rica und Panama nur 27 Kilometer breit, die Totalitätsdauer betrug nur 42 Sekunden. Die letzte derartige Finsternis fand am 20. April 2023 nördlich von Australien statt; zur nächsten wird es am 14. November 2031 über dem amerikanischen Kontinent kommen.
Partielle Sonnenfinsternis
Die meisten Beobachter einer zentralen Finsternis befinden sich seitlich außerhalb des zentralen Streifens. Die wesentlich breiteren Seitenstreifen liegen nur im Halbschatten des Mondes und Beobachter sehen dort nur eine partiell verfinsterte Sonne. Auch die Beobachter einer totalen Sonnenfinsternis im zentralen Streifen erleben vor und nach der Totalität während längerer Zeit nur den Halbschatten.
Begrifflich muss also die auf die Erde bezogene partielle Finsternis abgesetzt werden von einer nach Ort und Zeit auf bestimmte Regionen bezogenen Beobachtung einer partiell verfinsterten Sonne.
Der durch eine partielle Verfinsterung der Sonne verursachte Helligkeitsabfall ist nur bei sehr großem Bedeckungsgrad deutlich wahrnehmbar.
In einem astronomischen Kanon der Sonnenfinsternisse werden nur partielle Sonnenfinsternisse, die in den polaren Gebieten der Erde auftreten, als solche bezeichnet.
Nichtzentrale totale oder ringförmige Sonnenfinsternis
Verfehlt die Achse des Mondschattens die Erde sehr knapp, so dass bei einer totalen Finsternis Teile des Mondschattens die Erdoberfläche erreichen, bzw. bei einer ringförmigen Finsternis der gesamte Mond innerhalb der Sonnenscheibe, aber nirgends zentriert, zu sehen ist, spricht man von einer nichtzentralen totalen oder ringförmigen Sonnenfinsternis. Finsternisse dieser Art sind selten – sie machen nur 1,3 % aller Finsternisse aus. Wie partielle Finsternisse treten sie nur in der Nähe der Erdpole auf. Die einzige nichtzentrale totale Finsternis im 21. Jahrhundert ist die Sonnenfinsternis vom 9. April 2043.
Kennwerte einer Sonnenfinsternis
Die quantitative Kennzeichnung ist vor allem bei zentralen Finsternissen sehr ausgeprägt. Man verwendet zu diesem Zweck mehrere verschiedene Kenngrößen.
Kontakte
Neben dem Moment des Maximums hat jede Sonnenfinsternis an jedem Beobachtungsort vier weitere charakteristische Momente, die vier Kontakte.
Kontakt: Der Neumond berührt erstmals die Sonnenscheibe. Es beginnt die partielle Phase.
Kontakt: Der Neumond bedeckt vollständig die Sonnenscheibe (totale Finsternis) oder befindet sich vollständig vor der Sonnenscheibe (ringförmige Finsternis). Es beginnt die totale bzw. ringförmige Phase.
Kontakt: Der Neumond gibt wieder Teile der Sonnenscheibe frei (totale Finsternis) oder befindet sich nicht mehr vollständig vor der Sonnenscheibe (ringförmige Finsternis). Es wird wieder zur partiellen Phase gewechselt.
Kontakt: Der Neumond berührt letztmals die Sonnenscheibe, danach ist die Finsternis beendet.
In einschlägigen Tabellenwerken wird die Zeit jedes Kontaktes angegeben. Oft ist die Richtung der relativen Bewegung zwischen Mond und Sonne, zum Beispiel bezüglich des Horizontes, vermerkt. Für den Moment des Maximums wird noch der Höhenwinkel der Sonne angegeben.
Bedeckungsgrad und Größe
Sowohl für die partiellen als auch für die verschiedenen totalen Phasen lässt sich das Ausmaß der Verfinsterung durch den Bedeckungsgrad oder durch die Größe beschreiben. Das gilt auch bei „rein“ partiellen Finsternissen.
Der Bedeckungsgrad ist das Verhältnis zwischen der vom Mond bedeckten und der gesamten Fläche der Sonnenscheibe, die Angabe erfolgt in Prozent. Bei einer totalen Finsternis erreicht der Bedeckungsgrad überall innerhalb der Totalitätszone das Maximum von 100 %, bei einer ringförmigen bleibt der Wert kleiner als 100 %.
Die Größe (auch Magnitude) ist nach der üblichen Definition bei einer partiellen Finsternis der Anteil des vom Mond bedeckten Sonnendurchmessers (Wert kleiner als 1). Bei einer totalen oder einer ringförmigen Finsternis ist die Größe das Verhältnis zwischen Mond- und Sonnendurchmesser. Der Wert ist etwas größer als 1 (total) beziehungsweise knapp kleiner als 1 (ringförmig). Eine alternative, im Hauptartikel Größe einer Sonnenfinsternis genannte Definition ist einheitlich, das heißt bei allen Arten von Finsternissen anwendbar.
Während des Verlaufs einer Finsternis nehmen Bedeckungsgrad und Größe langsam zu, erreichen Maximalwerte und nehmen wieder ab. In einschlägigen Tabellenwerken werden außer den generellen Maximalwerten auch die an einem Beobachtungsort maximal erreichbaren Werte angegeben.
Gamma-Wert
Der Gamma-Wert (Formelzeichen: γ) stellt bei einer Sonnenfinsternis den geringsten Abstand der Schattenachse des Mondes vom Erdmittelpunkt in Einheiten des Äquatorradius dar. Damit wird annähernd angegeben, in welchen Breiten der Erde die Zentrallinie verläuft.
Der Wert ist negativ, wenn die Schattenachse den Erdmittelpunkt südlich passiert. Für |γ| < 0,9972 gibt es auf der Erdoberfläche eine Zentrallinie, wo die Finsternis zentral ist (total oder ringförmig). Partielle Sonnenfinsternisse treten bis zu |γ| = 1,55 auf.
Ort und Art einer Finsternis
Die folgende Tabelle zeigt beispielhaft alle Sonnenfinsternisse zwischen April 2311 und März 2315. Neun (−4 bis +4) in einem Zeitraum von etwa vier Jahren stattfindende Finsternisse bilden den natürlichen Semester-Zyklus. Sie folgen sich in etwa 177 Tagen (sechs Lunationen). Für die mittlere dieser neun Finsternisse ist neben der Tabelle eine Grafik (rechts) angeordnet.
Die Himmels-Bilder einer solchen Finsternis-Reihe sind relativ zueinander und relativ zu den beiden übereinander gezeichneten Mondknoten in unten stehender Grafik enthalten. Die mittlere Finsternis findet (theoretisch) genau im (absteigenden) Knoten statt: Gamma = 0. Wenn zudem noch Tag-Nacht-Gleiche ist, liegt ihr Maximum auf dem Äquator. Die nachfolgenden (+) beziehungsweise vorangehenden (−) Finsternisse finden im Wechsel nach; beziehungsweise vor; der Knotenpassage statt. Je größer die Knotendistanz ist, umso größer ist ihr Abstand vom Äquator. Zunächst erscheinen sie noch als zentrale Finsternisse (1 und 2). Wird die Mond-Parallaxe beziehungsweise das Finsternislimit für zentrale Finsternisse überschritten, handelt es sich nur noch um partielle Finsternisse (3 und 4), die von den Polkappen aus beobachtbar sind. Anschließend wird auch das Finsternislimit für partielle Finsternisse überschritten, der Semester-Zyklus endet. Vor seinem Ende hat aber bereits der nächste Zyklus auf der anderen Seite des Knotens begonnen (na), und erst nach seinem Anfang hatte der vorangehende Zyklus geendet (ve).
Abweichungen zwischen Tabelle und Grafik sind „natürlich“, denn eine solch allgemein gültige Grafik lässt sich nur mit Mittelwerten der zu Grunde liegenden streuenden astronomischen Größen erstellen.
Örtlicher Verlauf einer Finsternis
Bei der Berechnung einer Finsternis geht es im Wesentlichen um die Ermittlung der globalen Sichtbarkeitsbereiche und Größen der Finsternis sowie der lokalen Kontaktzeiten unter Berücksichtigung der scheinbaren Sonnen- und Mondgrößen. Primär ist die Schnittkurve des Mondschattenkegels mit der Erdoberfläche zu bestimmen. Diese anspruchsvolle Aufgabe wird mit Hilfe der von Friedrich Wilhelm Bessel entwickelten Methode gelöst.
Für seltene Fälle lassen sich aber auf einfache Weise Richtung und Geschwindigkeit der Schattenbahn für den Moment des Maximums angeben (genaugenommen handelt es sich dabei nicht um eine echte physikalische Geschwindigkeit, sondern um einen Projektionseffekt). In den beiden Abbildungen sind Finsternisse mit Gamma ungefähr Null ausgewählt. Das Verhältnis zwischen der Geschwindigkeit des Mondschattens und der Rotationsgeschwindigkeit der Erde am Äquator ist näherungsweise mit 2:1 angenommen (schwarze Pfeile). Die vektorielle Addition ergibt die Richtung und die Geschwindigkeit der Schattenbahn des Mondes am Ort der maximalen Finsternis relativ zur Erdoberfläche (rote Pfeile). Die Ergebnisse bestätigen die von der NASA vorgegebenen Richtungen (blaue Linien) an diesen Orten. Der Ort der maximalen Finsternis befindet sich im zweiten Beispiel auf dem südlichen Wendekreis. Dort ist die Umfangsgeschwindigkeit an der Erdoberfläche kleiner als am Äquator (Faktor = cos 23,44° ≈ 0,92).
Die Berechnung des Verlaufs einer in der Zukunft liegenden Sonnenfinsternis auf der Erdoberfläche beinhaltet mit zunehmender zeitlicher Distanz eine immer größere Unsicherheit. Das liegt daran, dass die Erdrotation nicht konstant ist. Durch Gezeitenreibung wird die Rotationsgeschwindigkeit der Erde permanent verringert, so dass die Tage im Mittel um 17 µs pro Jahr länger werden. Diese kleinsten Zeitintervalle addieren sich auf und werden in unregelmäßigen Abständen in Form von Schaltsekunden korrigiert. Die Anzahl der Schaltsekunden geht als Delta T in die Berechnung der Finsternisse ein, kann aber für die Zukunft nur durch Rechenmodelle abgeschätzt werden. Für Finsternisse, die mehr als einige Jahrzehnte in der Zukunft liegen, kann das Delta T je nach Modell bis zu mehreren Minuten differieren. Da sich die Erdoberfläche am Äquator in einer Minute um 27,8 km fortbewegt, verschiebt sich die Position des Erdschattens, bezogen auf einen bezeichneten Ort auf der Erdoberfläche, entsprechend. Das gilt natürlich auch für Finsternisse in der Vergangenheit, hier wird allerdings die Differenz zwischen berechnetem und berichtetem Ort der Finsternis zur Rekonstruktion des Delta T in der Vergangenheit verwendet.
Zugehörigkeit zu einem Finsternis-Zyklus
In einem Kanon der Finsternisse werden alle Finsternisse nacheinander aufgelistet. Im Mittel folgen neun Finsternisse aufeinander im Abstand von sechs Lunationen und bilden so den Semester-Zyklus. Der vorherige und der nachfolgende Semester-Zyklus haben entweder einen Abstand von fünf Lunationen oder sie überschneiden Anfang bzw. Ende des betrachteten. Selten sind dabei Semester-Zyklen über zwei Finsternisse verschachtelt. Durch besondere Auswahl von Ereignissen lassen sich Finsterniszyklen mit noch höherer Zahl an Finsternissen bei größerem zeitlichem Abstand angeben, wobei sich die jeweiligen Finsternisereignisse in solchen Zyklen umso mehr ähneln, je länger deren Periode wird. Ein besonderer Zyklus ist der Saroszyklus; die Finsternisse eines solchen Zyklus sind sich überaus ähnlich, da Erde und Mond sich jeweils auf nahezu der gleichen Stelle ihrer Umlaufbahn befinden.
Phänomene während einer totalen Sonnenfinsternis
Eine totale Sonnenfinsternis zählt zu den eindrucksvollsten Naturerscheinungen. Beobachten lassen sich mehrere faszinierende Phänomene.
Helligkeitsänderung
Die Beleuchtungsstärke nimmt auf etwa 1/10.000 bis 1/100.000 der normalen Sonnenscheinhelligkeit ab. Das ist etwa die 50- bis 5-fache Helligkeit einer Vollmondnacht. Der Tag wird damit fast zur Nacht.
Die schnellste relative Helligkeitsänderung findet dabei kurz (in der letzten Sekunde) vor und nach der Totalitätsphase statt und entspricht auch der empfundenen Helligkeitsänderung.
Lichtveränderung
Schon während der partiellen Phase nimmt das Licht eine bleifarbene Tönung an. Schatten werden konturreicher, und im Schatten von Bäumen und Sträuchern bilden sich durch den sogenannten „Lochblenden-Effekt“ (Camera obscura) hundertfach Sonnensichelchen und Lichtkringel auf dem Boden. Bei erreichter Totalität ist der Horizont orangegelb bis rötlich gefärbt, während der Kernschatten den Himmel in Zenitnähe tief dunkelblau erscheinen lässt.
Fliegende Schatten
Bei schmaler Sonnensichel – etwa je eine Minute vor dem 2. Kontakt und nach dem 3. Kontakt – können fliegende Schatten auftreten. Es handelt sich dabei um ein Szintillations-Phänomen. Die Erde wird aufgrund von Brechungs-Unterschieden in der Luft nicht gleichmäßig beleuchtet, so dass sich bei einer sehr schmalen Sonnensichel auf dem Boden erkennbare Streifenmuster bilden, die sich analog zur Bewegung in der Luft bewegen. Bei einer breiten Sonnensichel oder außerhalb einer Finsternis sinkt der Kontrast durch Überlagerung unterschiedlicher Phasen unter die Wahrnehmungs- und Nachweisgrenze. Der Begriff fliegende Schatten ist also sachlich nicht ganz richtig, auch nicht der englische Begriff shadow bands.
Diamantring- oder Perlschnur-Effekt
In den Momenten des 2. und 3. Kontaktes scheinen die letzten beziehungsweise die ersten Sonnenstrahlen durch die Täler der gebirgigen Mond-Silhouette und verursachen den Eindruck eines Diamantrings oder einer Perlschnur. Im Englischen heißt dieser Effekt Baily’s beads nach dem britischen Astronomen Francis Baily.
Sonnenkorona und Protuberanzen
Zwischen 2. und 3. Kontakt leuchtet die Sonnenkorona um die dunkle Mondscheibe. Je nach Sonnenaktivität erscheint die Form der Korona eher gleichmäßig (Maximum) oder länglich (Minimum). Über dem Mondrand können während der totalen Phase auch rötliche Protuberanzen gesehen werden.
Bei der Beobachtung einer ringförmigen Sonnenfinsternis bleibt die Sichtbarkeit der Sonnenkorona aus. Das Perlschnurphänomen kann aber beim 2. und 3. Kontakt gesehen werden.
Die wissenschaftliche Beobachtung der Sonne erstreckt sich von der Photosphäre (kurz vor dem 2. Kontakt und kurz und nach dem 3. Kontakt), über die schmale Chromosphäre (in den Momenten des 2. und 3. Kontaktes) bis zur ausgedehnten Korona und den Protuberanzen (zwischen 2. und 3. Kontakt).
Sichtbarkeit von Planeten und Sternen
Um die verfinsterte Sonne herum können die hellsten Planeten und Fixsterne gesehen werden.
Temperaturabfall
Oft fällt die Temperatur während einer totalen Sonnenfinsternis um mehrere Grad. Auch Tiere und Pflanzen reagieren auf die Dunkelheit und den Temperaturabfall. Vögel verstummen und nahezu alle tagaktiven Tiere suchen ihre Verstecke auf, während Fledermäuse und andere nachtaktive Tiere ihre Verstecke verlassen. Blumen schließen ihre Blüten.
Betrachtung einer Sonnenfinsternis
Bei der Beobachtung einer Sonnenfinsternis ist, wie generell bei der Sonnenbeobachtung, große Vorsicht geboten, da gravierende Augenschäden bis hin zur Erblindung die Folge sein können, wenn man direkt in die Sonne schaut. Für die direkte Beobachtung sind Sonnenfinsternisbrillen erforderlich, beim Blick durch ein Fernglas oder Teleskop sind stärkere Filter nötig. Nur während der kurzen Zeitspanne einer Totalitätsphase können die Sonnenschutzbrillen abgenommen und die Sonnenfilter von optischen Geräten entfernt werden. Eine ringförmige oder partielle Finsternis aber muss durchgehend mit Lichtfilterung beobachtet werden.
Dagegen ist die indirekte Beobachtung des projizierten Abbildes der Sonnenscheibe auch mit ungeschütztem Auge möglich. Im einfachsten Fall reicht ein stopfnadelgroßes Loch in einer Postkarte, durch das die Lichtfigur schattenumrissen auf einen Hintergrund geworfen wird, ähnlich einer Camera obscura.
Emotionales Erlebnis
Eine totale Sonnenfinsternis bleibt für viele, die sie erleben, ein lange im Gedächtnis haftendes Ereignis. Es sind viele sonst völlig ungewohnte Phänomene, welche dazu beitragen: vor allem die besonderen Lichtverhältnisse und ihr plötzliches Eintreten, die still werdende Natur, der aufkommende Wind und (falls sichtbar) der fliegende Schatten oder die Sichtbarkeit heller Sterne. Weil totale Finsternisse selten und nur auf der schmalen Zentralzone zu beobachten sind, bleiben meist auch die Anreise zu diesem Ereignis und allfällige Vorbereitungen in der Erinnerung.
Das emotionale Erleben beschrieb der österreichische Dichter Adalbert Stifter anlässlich der Sonnenfinsternis, die er am Morgen des 8. Juli 1842 in Wien beobachtet hatte. Aus seiner sechsseitigen Schilderung werden hier Auszüge präsentiert:
Häufigkeit von Sonnenfinsternissen
Jedes Jahr finden mindestens zwei und maximal fünf Sonnenfinsternisse statt. Der langjährige Durchschnitt liegt bei 2,38. Zwischen 2000 und 2100 finden 224 Sonnenfinsternisse statt, zu etwa je einem Drittel total, ringförmig und partiell. Siehe die Liste der Sonnenfinsternisse des 21. Jahrhunderts.
An einem bestimmten Ort
Im Schnitt kann nur etwa alle 375 Jahre über einem bestimmten Ort mit einer totalen Sonnenfinsternis gerechnet werden. Zählt man die ringförmigen hinzu, sind es 140 Jahre. Grund dafür ist, dass der Streifen, in dem eine zentrale Sonnenfinsternis (total und ringförmig) stattfindet, sehr schmal ist. In der Schweiz fand die letzte totale Sonnenfinsternis am 22. Mai 1724 statt. In Österreich gab es zwischen dem 8. Juli 1842 und in Deutschland zwischen dem 19. August 1887 und dem 11. August 1999 keine totale Finsternis. Deutschland, die Schweiz und Österreich werden erst wieder am 3. September 2081 von einer totalen Finsternis getroffen.
Abweichend von der oben erwähnten durchschnittlichen Häufigkeit von totalen und ringförmigen Sonnenfinsternissen ist es durchaus möglich, dass Orte wesentlich kürzer auf eine zentrale Sonnenfinsternis warten müssen. So waren zum Beispiel in einem Gebiet östlich von Ankara (Türkei) die totale Finsternis vom 11. August 1999 und die vom 29. März 2006 innerhalb von nur sieben Jahren zu sehen. Noch kürzer, nämlich nur 18 Monate, mussten die Bewohner eines kleinen Gebietes von Angola südlich der Hafenstadt Sumbe warten: totale Finsternisse am 21. Juni 2001 und am 4. Dezember 2002. Auch der Schweiz, Teilen Süddeutschlands und Teilen Österreichs steht ein so kurzes Intervall bevor: totale Finsternis am 3. September 2081, ringförmige Finsternis am 27. Februar 2082 gegen Abend.
Andererseits gibt es Orte, in denen über einen Zeitraum von mehr als vier Jahrtausenden keine totale Sonnenfinsternis eintritt.
Sonnenfinsternisse und Raumfahrt
Vor der Raumfahrt waren die Sonnenphysiker auf die raren Sonnenfinsternisse zur Untersuchung der meisten Eigenschaften der Sonne angewiesen. Im Weltraum ist es relativ einfach, jederzeit eine „Sonnenfinsternis“ zu simulieren. Die Sonnenscheibe wird durch eine passend große Blende in entsprechendem Abstand abgedeckt, um beispielsweise die Korona zu fotografieren und zu untersuchen. Das ist auf der Erde wegen des Streulichts der Erdatmosphäre nicht möglich. Allerdings kann mit Blende im Weltraum die innere Korona wegen zu großer Helligkeit nicht untersucht werden, was bei einer Sonnenfinsternis auf der Erde möglich ist. Solche Simulationen werden beispielsweise mit dem Beobachtungsinstrument LASCO an Bord der Raumsonde SOHO vorgenommen.
Die Raumfahrt spielt aber auch eine Rolle bei der Verfolgung einer Sonnenfinsternis auf der Erde. Die erste dokumentierte Beobachtung einer irdischen Sonnenfinsternis aus dem All stammt von Gemini 12: totale Sonnenfinsternis am 12. November 1966. Aufnahmen des sich über die Erde bewegenden Schattens wurden auch von der Mir gemacht, die Bilder vom 11. August 1999 gehören zu den letzten Aufnahmen vor der Ausmusterung der Station. Während der totalen Sonnenfinsternis vom 29. März 2006 kam die Internationale Raumstation (ISS) dem Kernschatten des Mondes nahe, wobei einige Aufnahmen entstanden. Umgekehrt sah man von einigen Erd-Orten aus die ISS vor der teilweise verfinsterten Sonne vorbeiziehen.
Aktuelle Sonnenfinsternisse
Die letzten beiden totalen Sonnenfinsternisse fanden am 2. Juli 2019 und am 14. Dezember 2020 statt, sie waren in und um Südamerika zu sehen.
Die letzte in Mitteleuropa sichtbare Sonnenfinsternis fand am 25. Oktober 2022 mittags statt, allerdings nur mit zirka 20 bis 35 Prozent Bedeckung der Sonne, im Nordosten am größten (Bern 17 %, Hamburg 30 %, Frankfurt 23 %, Wien 30 %, Berlin 32 %, Polen über 35 %). Die Finsternis begann je nach Ort um etwa 11:10 MESZ, das Maximum trat gegen 12:10 MESZ ein.
Führungen zu Sonnenfinsternissen gibt es bei vielen Astrovereinen und Volkssternwarten. Im Gegensatz zu Mondfinsternissen kommen verschiedenste Methoden in Betracht: freiäugig mit Finsternisbrille (Sonnenbrille genügt nicht!), mit Lochkamera oder mit einem kleinen Konkavspiegel. Genauer mit Selbstbau-Projektor (z. B. Kartonbausatz von Astromedia) oder durch Okular-Projektion mit Feldstecher bzw. mit Fernrohr. Besonders interessant ist es, wenn der Mondrand nahe an einem Sonnenfleck vorbeizieht.
Daten aller Sonnenfinsternisse des 20. und 21. Jahrhunderts sind in den Listen von Sonnenfinsternissen angegeben.
Historisch bedeutsame Sonnenfinsternisse
Die folgenden Sonnenfinsternisse haben besondere wissenschaftliche oder sonstige historische Bedeutung erlangt.
Sonnenfinsternis vom 28. Mai 585 v. Chr.: Diese Finsternis könnte von Thales von Milet vorhergesagt worden sein; somit wäre sie die erste gewesen, für die Ort und Zeitpunkt vorhergesagt wurde. Außerdem ist für diese Finsternis überliefert, sie sei der Anlass für das Ende des Krieges zwischen den Lydern und den Medern gewesen.
3. Mai 1715: Die Schattenbahn dieser Sonnenfinsternis über Südengland wurde von Edmond Halley vorhergesagt und die Finsternis war damit vermutlich die erste, für die eine solche Berechnung versucht wurde.
8. Juli 1842: Diese totale Finsternis ist vor allem wegen der umfassenden und sehr emotionalen Schilderung von Adalbert Stifter bekannt. Zur Beschreibung des bewegenden Ereignisses hat auch der Astronom Karl Ludwig von Littrow beigetragen.
29. Mai 1919: Während dieser Finsternis wurde die von der Allgemeinen Relativitätstheorie vorausgesagte gravitative Ablenkung des Lichts überprüft und bestätigt.
11. August 1999: Die letzte totale Sonnenfinsternis des zweiten Jahrtausends war zugleich die Sonnenfinsternis, die von mehr Menschen beobachtet wurde als jede andere Sonnenfinsternis der Weltgeschichte.
Sonnenfinsternisse bei anderen Planeten
Finsternisse sind kein alleiniges Merkmal des Erde-Mond-Systems, sondern treten bei allen Planeten mit Monden auf, sowohl als Sonnenfinsternisse wie auch als Mondfinsternisse. Auf keinem anderen Planeten unseres Sonnensystems aber ist die Konstellation so gegeben wie auf der Erde, wo die scheinbaren Durchmesser von Sonne und Mond fast gleich groß sind.
Auf dem Jupiter werden die Sonnenfinsternisse von dessen vier großen Monden hervorgerufen. Da sich diese nahezu in der Bahnebene des Jupiters um die Sonne befinden, sind Sonnenfinsternisse auf Jupiters Wolkenschichten fast alltäglich. Der Schatten, den diese Monde auf ihren Planeten werfen, kann bereits mit kleineren Teleskopen beobachtet werden.
Bei den weiteren äußeren Planeten sind Sonnenfinsternisse schwer zu beobachten und auch sehr selten, da deren Äquatorebene, in der die Monde umlaufen, zur Bahnebene des Planeten stark geneigt ist und die Umlaufzeiten um die Sonne sehr lang sind. Die Finsternisse, die die beiden kleinen Monde des Mars verursachen, kann man eher als Transit bezeichnen, sie verursachen auf dem Mars keinen messbaren Helligkeitsabfall.
Sonnenfinsternis im Film
Eine totale Sonnenfinsternis spielt in dem Sozialdrama Dolores mit Schauspielerin Kathy Bates von Regisseur Taylor Hackford von 1995 eine zentrale Rolle.
Siehe auch
Sonnenfinsternis (Altes Ägypten)
Literatur
Rudolf Kippenhahn, Wolfram Knapp: Schwarze Sonne, roter Mond. Die Jahrhundertfinsternis. DVA, Stuttgart 1999, ISBN 3-421-02775-7 (mit CD-ROM: Die Sonne – der Stern von dem wir leben).
Andreas Walker: Sonnenfinsternisse und andere faszinierende Erscheinungen am Himmel. Birkhäuser, Basel 1999, ISBN 3-7643-6024-0.
J. P. McEvoy: Sonnenfinsternis. Die Geschichte eines Aufsehen erregenden Phänomens. Berlin-Verlag, Berlin 2001, ISBN 3-8270-0372-5.
Hermann Mucke, Jean Meeus: Canon der Sonnenfinsternisse −2003 bis +2526. 2. Auflage. Astronomisches Büro, Wien 1999.
Fred Espenak: Thousand Year Canon of Solar Eclipses 1501 to 2500. Astropixels Publishing, Portal 2015, ISBN 978-1-941983-02-7 (online)
Fred Espenak: 21st Century Canon of Solar Eclipses. Astropixels Publishing, Portal 2016, ISBN 978-1-941983-12-6 (online)
Richard F. Stephenson: Historical eclipses and earth’s rotation. Cambridge Univ. Press, Cambridge 1997, ISBN 0-521-46194-4.
John M. Steele: Observations and predictions of eclipse times by early astronomers. Kluwer Acad. Publ., Dordrecht 2000, ISBN 0-7923-6298-5.
Weblinks
Allgemein
Wolfgang Strickling: Sonnenfinsternis
John Walker: Zum Einfluss der relativen Größe des Mondes auf die Art der Sonnenfinsternis (englisch, mit Animationen)
Spektrum.de: Sammlung von Amateuraufnahmen
Zusammenstellungen und Berechnung
NASA/Goddard SFC: Solar Eclipses: 2004–2010 (englisch)
NASA/Goddard SFC: Weltkarte aller totalen Sonnenfinsternisse von 2001–2025
NASA/Goddard SFC: Abweichungen TDT bis 501 v. Chr.
NASA/Goddard SFC: Sonnenfinsternisse 600–501 v. Chr.
www.solar-eclipse.de: Liste aller Sonnenfinsternisse in Deutschland (von −2000–3000)
Anmerkungen
Einzelnachweise
Himmelsbeobachtung
Atmosphärische Optik
Wikipedia:Artikel mit Video
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Q3887
| 257.295824 |
145920
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https://de.wikipedia.org/wiki/Protest
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Protest
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Der Protest (lat. protestor, -ari ‚öffentlich bezeugen‘) ist ein verbaler oder nonverbaler Ausdruck der Zurückweisung oder des Widerspruchs gegenüber bestimmten Geschehnissen, Situationen oder gegenüber einer bestimmten Art der Politik. Proteste können sehr verschiedene Formen annehmen, von individuellen Meinungsäußerungen bis zu Massendemonstrationen. Protestierende können einen Protest organisieren, indem sie ihre Meinung publik machen, um Einfluss auf die öffentliche Meinung oder die Politik zu gewinnen, oder indem sie mittels einer direkten Aktion versuchen, die erwünschten Veränderungen herbeizuführen.
Der Protest einer systematischen und friedlichen, gewaltfreien Bewegung, die ein bestimmtes Ziel mit politischem Druck und Überredungskunst verfolgt, ist mehr, als der Begriff Protest im engeren Sinn beinhaltet. Diese Form des Protests wird besser als gewaltfreier Widerstand oder gewaltfreie Aktion beschrieben.
Verschiedene Formen des Protests sind teilweise per Gesetz (z. B. erforderliche Genehmigungen für Demonstrationen), durch ökonomische Umstände, religiöse Glaubensvorschriften, soziale Strukturen oder monopolisierte Massenmedien eingeschränkt. Liegen solche Einschränkungen vor, kann der Protest die Form offenen zivilen Ungehorsams, subtilere Widerstandsformen gegen diese Einschränkungen annehmen oder sich auf andere Bereiche ausweiten, wie z. B. Kultur und Emigration. Protest kann sich über Meinungsverschiedenheiten, Sitzblockaden, Unruhen, Aufstände, Revolten bis hin zu politischen bzw. sozialen Revolutionen steigern.
Schließlich kann der Protest zuweilen selbst Gegenstand eines Gegenprotestes sein, in welchem Fall die Unterstützer des letzteren die Positionen, gegen welche sich der ursprüngliche Protest richtet, befürworten.
Ursachen von Protesten
Die Ursachen von Protesten sind vielfältig: In vielen Fällen gehen die Proteste auf den Ausschluss marginalisierter Gruppen von gesellschaftlicher Teilhabe zurück, wie etwa im Kontext der Arbeiterbewegung, der Frauenbewegung oder antirassistischer Proteste. Die Marginalisierung kann dabei verschiedene Formen und Schweregrade annehmen, von informeller Benachteiligung über formelle Ausschlüsse wie fehlendes Wahlrecht bis hin zu purem Hunger – Ursache für zahlreiche spontane Unruhen und Proteste während des Ersten Weltkrieges. Im allgemeinen Sinn des Wortes kann „Protest“ jedoch auch eine Verteidigung von Privilegien mittlerer oder oberer Gesellschaftsschichten umfassen. Dies ist oft eine Reaktion auf soziale Veränderung und Umverteilung.
In seinem 2020 erschienenen Buch Das große Nein. Eigendynamik und Tragik des gesellschaftlichen Protests untersucht Armin Nassehi die Funktion und die Form von Protest. Protest ist nach Armin Nassehi eine besondere Sozialform in einer funktional differenzierten Gesellschaft. Er macht Konflikte sichtbar, die in den institutionalisierten Bearbeitungsroutinen nicht klein gearbeitet werden können. In der Buchdruckgesellschaft konnten „Nein-Stellungnahmen“ einigermaßen bearbeitet werden. Im Internetzeitalter gibt es durch die vielen Sprecher fast eine symmetrische Kommunikation, was diese aber unübersichtlich macht. Da in einem Protest auch eine Steigerungslogik inhärent ist, führt dies heute zur Überforderung der Gesellschaft. Es fehlt eine „Stoppregel für Nein-Stellungnahmen“. Das Tragische am Protest ist, dass die Forderungen nie ganz umgesetzt werden können. Protest kann ein „Demokratiegenerator“ sein, wenn er zum Beispiel rationale Entscheidungen in der Politik (Klimakatastrophe) fördert. Im Protest wird der Machtkreislauf sichtbar und Protest will und kann den Machtkreislauf unterbrechen, und er zwingt den Machthaber dazu, sich zu der Thematik des Protests zu äußern. Protest kann aber auch ein „Demokratiegefährder“ sein, wenn er Gruppen ohne demokratisch erworbenes Mandat ermächtigt.
Moderne Form des Protestes
Eine moderne Form des Protestes ist die zeitweise Abschaltung von Servern und daraus resultierende Nichterreichbarkeit von Webseiten. Wikipedia nutzte dieses Mittel in Deutschland zum ersten Mal, um gegen eine anstehende Urheberrechtsreform der Europäischen Union zu protestieren.
Auswahl bekannter Proteste
Europa im 16. Jahrhundert: Liste von Bauernaufständen, Protestantismus
Nordamerika in den 1770er Jahren: Amerikanische Revolution
Julirevolution von 1830
Pariser Kommune
Weltweite Studentenrevolutionen 1964–1968: siehe z. B. Außerparlamentarische Opposition
Mai 1968
Montagsdemonstrationen 1989/1990 in der DDR
Lebensmittelunruhen
Pazifismus, Ostermärsche, Anti-Atomkraft-Bewegung
Bürgerrechtsbewegung, Stonewall-Unruhen
Freitagsdemonstrationen Fridays for Future
Siehe auch
Kundgebung
Krawall
Critical Mass
Demonstration
Die-in
Berufung (Recht)
Bürgerprotest
Boykott
Satyagraha
Hausbesetzung
Kommunikationsguerilla
Online-Demonstration
Samisdat
Streik
Sabotage
Veto
Widerstand (Politik)
Ziviler Ungehorsam
Trotz
Reaktanz (Psychologie)
Literatur
Immanuel Ness (Hrsg.), The International Encyclopedia of Revolution and Protest: 1500 to the Present, Malden, MA [etc.]: Wiley & Sons, 2009, ISBN 1-4051-8464-7.
Veronika Helfert: Gewalt und Geschlecht in unorganisierten Protestformen in Wien während des ersten Weltkrieges. In: Jahrbuch für Forschungen zur Geschichte der Arbeiterbewegung. Heft II/2014.
Irena Selisnik, Ana Cergol Paradiz, Ziga Koncilija: Frauenproteste in den slowenischsprachigen Regionen Österreich-Ungarns vor dem und im Ersten Weltkrieg, in: Arbeit – Bewegung – Geschichte, Heft II/2016.
Das große Nein. Eigendynamik und Tragik des gesellschaftlichen Protests. kursbuch.edition, Hamburg 2020, ISBN 978-3-96196-128-3.
Sabine Mecking (Hrsg.): „Polizei und Protest in der Bundesrepublik Deutschland.“ Springer: Wiesbaden 2020, ISBN 978-3-658-29477-9.
Detlef Pollack: Das unzufriedene Volk. Protest und Ressentiment in Ostdeutschland von der friedlichen Revolution bis heute. transcript, Bielefeld 2020, ISBN 978-3-8376-5238-3.
Weblinks
Bericht über ein Urteil des OLG Frankfurt am Main betreffend Online-Protest
Einzelnachweise
Protest
Soziale Bewegung
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Q273120
| 111.856458 |
22609
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https://de.wikipedia.org/wiki/Marseillaise
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Marseillaise
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Die Marseillaise ist die Nationalhymne der Französischen Republik.
Geschichte
Ursprung der Marseillaise
Die Marseillaise wurde von Claude Joseph Rouget de Lisle in der Nacht auf den 26. April 1792 während der französischen Kriegserklärung des Ersten Koalitionskrieges im elsässischen Straßburg verfasst. Sie hatte zunächst den Titel Chant de guerre pour l’armée du Rhin, d. h. „Kriegslied für die Rheinarmee“, und war dem Oberbefehlshaber und Gouverneur von Straßburg, dem im Jahr zuvor zum Marschall von Frankreich ernannten Grafen Luckner, gewidmet. Daher ertönt die Marseillaise noch heute täglich um 12:05 Uhr vom Glockenspiel auf dem Marktplatz in Cham in der Oberpfalz, dem Geburtsort des Grafen. Das ganze Lied dient der Mobilisierung des Volkes.
Bereits gegen Ende des 18. Jahrhunderts wurde bestritten, dass de Lisle Urheber der Marseillaise sei; Mitte des 19. Jahrhunderts und erneut 1915, anlässlich der Überführung von de Lisles Gebeinen in den Invalidendom in Paris, erschienen Zeitungs- und Zeitschriftenartikel, denen zufolge die Melodie ausgerechnet von einem deutschen Komponisten (einem gewissen Organisten Holtzmann in Meersburg) stamme oder jedenfalls auf eine alte deutsche Melodie zurückgehe. Diese Behauptung taucht immer wieder auf (zumeist anekdotisch oder im Zusammenhang mit einer Polemik gegen französische Staatssymbole), obwohl sie spätestens seit 1922 als überzeugend widerlegt gelten kann.
2013 präsentierte der italienische Geiger Guido Rimonda im Rahmen einer Gesamteinspielung der Violinkonzerte des zwischen 1782 und 1792 in Paris wirkenden berühmten Giovanni Battista Viotti ein bis dahin nicht bekanntes Tema con Variazioni in C-Dur für Violine und Orchester, dessen Thema (in seiner Gesamtheit) eindeutig die Melodie der Marseillaise ist; wenn die Datierung des im Besitz von Rimonda befindlichen Manuskriptes mit 1781 echt ist, wäre Viotti der eigentliche Komponist der Melodie.
Als Komponist der Marseillaise wird auch zuweilen Jean-Baptiste Lucien Grisons (1746–1815) angesehen, ein ansonsten fast unbekannter Kapellmeister und Organist in Saint-Omer. In seinem Oratorium Esther, das 1787 entstanden sein soll, gibt es eine Arie „Stances sur la Calomnie“, deren Einleitung eine starke Ähnlichkeit mit der späteren Nationalhymne aufweist. Es wurde außerdem vermutet, dass die Melodie der Marseillaise von dem lange Zeit in Paris wirkenden Cembalisten und Komponisten Jean-Frédéric Edelmann (1749–1794) stammen könnte, zumal sich dieser ab 1789 und zur Zeit der Entstehung des Liedes in Strassburg aufhielt.
In diesem Zusammenhang ist auch die Ähnlichkeit des Anfangs der Melodie mit dem ersten Satz des Flötenquintetts in C-Dur G. 420 von Luigi Boccherini aus dem Jahre 1773 zu erwähnen. Als weiterer möglicher Vorgänger des Motivs wird manchmal das 2. Thema des 1. Satzes in Mozarts Klavierkonzert KV 503 von 1786 genannt, das jedoch nur eine sehr entfernte Verwandtschaft mit dem Kopfmotiv der Marseillaise hat und das Rouget de Lisle gar nicht gekannt haben kann, da es bis zum Zeitpunkt der Entstehung der Marseillaise nur von Mozart selber in Wien aufgeführt und erst später veröffentlicht wurde.
Nationalhymne in Frankreich
Das Lied erhielt den Namen Marseillaise, weil es von Soldaten aus Marseille am 30. Juli 1792 beim Einzug in Paris, kurz vor dem Tuileriensturm, gesungen wurde. Die Hymne erfreute sich bald großer Bekanntheit und Beliebtheit und wurde auf allen größeren Bürgerfesten der jungen Republik gesungen. 1793 verfügte der Nationalkonvent, dass die Marseillaise auf allen öffentlichen Veranstaltungen gesungen werden solle und auf Antrag des Abgeordneten Jean de Bry erklärte der Nationalkonvent am 14. Juli 1795 (26. messidor III) die Marseillaise per Dekret zum „französischen Nationalgesang“ (chant national). Die Marseillaise setzte sich dabei vor allem gegen Le Chant du Départ, ein anderes bekanntes Revolutionslied durch.
Nach dem Staatsstreich des 18. Brumaire VIII geriet die Marseillaise ins Hintertreffen, weil sie als zu jakobinisch galt und wurde am 14. Juli 1800 zum letzten Mal bei einem offiziellen Anlass gesungen. Zur Zeit des napoleonischen Kaiserreichs (1804 bis 1814) war das Lied verboten und die inoffizielle Hymne des Kaiserreichs war Veillons au salut de l’Empire. Das Verbot galt weiter während der bourbonischen Restauration (1815 bis 1830). Zur Zeit der Julimonarchie und des Zweiten Kaiserreichs Napoleons III. war die Marseillaise zwar nicht verboten, wurde aber nicht bei offiziellen Anlässen gesungen und galt als aufrührerisches Lied der Opposition. Die Hymne der Julimonarchie war La Parisienne und während des Zweiten Kaiserreichs erfüllte Partant pour la Syrie die Funktion einer Nationalhymne. Le Chant des Girondins war von 1848 bis 1851 die Nationalhymne der kurzlebigen Zweiten Französischen Republik.
In der Dritten Französischen Republik avancierte die Marseillaise per Beschluss der Abgeordnetenkammer vom 14. Februar 1879 wieder zur offiziellen Nationalhymne (hymne national) Frankreichs und blieb dies auch in der Vierten und Fünften Französischen Republik. Zur Zeit des Vichy-Regimes (1940–1945) hatte das Lied Maréchal, nous voilà einen ähnlichen Rang wie die Marseillaise inne, auf welche es zu folgen oder die es sogar zu ersetzen pflegte.
Andere Fassungen der Marseillaise
Es gibt diverse andere Fassungen der Marseillaise: 1792 eine vom deutschen Jakobiner Friedrich Lehne (1771–1836) gedichtete Fassung aus der Mainzer Republik: Lied der freyen Wöllsteiner. 1871 verfasste Jules Faure die „Marseillaise der Kommune“, welche von der Pariser Kommune als Hymne genutzt wurde (Text siehe unten). 1892, nach dem Deutsch-Französischen Krieg, wurde von Schülern einer französischen Primarschule eine „Friedens-Marseillaise“ verfasst (Text siehe unten).
Im 19. Jahrhundert war die Marseillaise die Hymne vieler Freiheitsbewegungen und auch der Arbeiterbewegung, beispielsweise als Deutsche Arbeiter-Marseillaise für den Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein (ADAV). Erst als die Marseillaise zur Nationalhymne wurde, wurde sie als Lied der internationalen Arbeiterbewegung von der Internationalen abgelöst.
Florence MacAuley schrieb 1909 den Text The Women’s Marseillaise, der in Verbindung mit der Melodie der Marseillaise die offizielle Hymne der Women’s Social and Political Union war.
1914 entstand eine anlässlich des Ausbruchs des Ersten Weltkriegs explizit gegen Deutschland gerichtete Fassung.
Mit einem russischen Text „Otretschomsja ot starowo mira“ () war die Marseillaise als Марсельеза (Marseljesa) während der Zeit der Provisorischen Regierung der Februarrevolution 1917 vom Februar bis zum November jenes Jahres auch russische Nationalhymne.
Weitere Fassungen sind beispielsweise eine pazifistische Fassung, (); ein Text für die Bewohner der ehemaligen Kolonien, (); eine Marseillaise „für alle, die das Leben lieben“ (La Marseillaise Bacchique); eine Version von 1973 von Serge Gainsbourg, Aux armes et caetera, die für die Konservativen und Rechtsextremen Frankreichs zum Skandal geriet oder die des in Frankreich sehr bekannten und populären Sängers, Komponisten und Übersetzers Graeme Allwright (Text siehe unten), die er 2005 mit Sylvie Dien verfasste als Antwort auf die Forderung des damaligen französischen Bildungsministers François Fillon, dass jedes Kind in Frankreich die Nationalhymne auswendig lernen solle.
Musikalische Zitate
Zahlreiche Werke zitieren die Marseillaise, zumeist um einen Bezug zu Frankreich oder zu französischen Streitkräften herzustellen.
Antonio Salieri zitiert in der programmatischen Ouvertüre zu seiner Kantate „Der Tyroler Landsturm“ (1799) die Marseillaise, um den Kampf der französischen Truppen gegen die Tiroler Bevölkerung darzustellen.
Der Paris-Walzer op. 101 (1838) von Johann Strauß Vater bringt kurz vor Schluss eine Dreivierteltaktversion der Marseillaise.
Ebenfalls im Dreivierteltakt erscheint der Anfang der Marseillaise im Kopfsatz von Robert Schumanns Faschingsschwank aus Wien op. 26 (1839).
Das Lied Die beiden Grenadiere op. 49 Nr. 1 von Robert Schumann verwendet im Schlussteil die Marseillaise.
In die Ouvertüre zu „Hermann und Dorothea“ h-Moll op. 136 (1851) von Robert Schumann sind die Anfangsmotive der Marseillaise eingeflochten; sie sollen den Abzug französischer Soldaten darstellen.
Die Ouvertüre 1812 von Pjotr Iljitsch Tschaikowski zitiert die Marseillaise als Sinnbild für die französischen Truppen Napoleons.
Die Ouvertüre Tirol 1809 von Sepp Tanzer zitiert die Marseillaise in ähnlicher Weise.
Gottfried Huppertz’ Filmmusik zu Metropolis (1927) sowie Max Steiners Musik für Casablanca (1942) verwenden ebenfalls diese Melodie.
Von Ottmar Gerster wird die Marseillaise in der Festouvertüre 1948 verwendet, als Symbol des Niedergangs der feudalen Gesellschaft.
Claude Debussy zitiert zwei kurze Fragmente aus dem charakteristischen Vorspiel der Marseillaise in der Coda seines auf den französischen Nationalfeiertag anspielenden Prélude Feux d’artifice (Préludes II Nr. 12, T. 91–96).
Die Vertonung des Gedichtes Der reichste Fürst weist Gemeinsamkeiten zur Marseillaise auf.
Die Beatles zitieren die ersten vier Takte der Marseillaise in der Einleitung zu ihrem Song All You Need Is Love (1967).
Das Glockenspiel am Stammhaus des Kölnisch-Wasser-Unternehmens 4711 in der Kölner Glockengasse spielt mehrmals täglich die Marseillaise, da die Bezeichnung des Unternehmens auf die Hausnummerierung während der Zugehörigkeit Kölns zu Frankreich (1794–1814) zurückgeführt wird.
Texte
Nationalhymne
Die Marseillaise der Kommune
1871 verfasste Jules Faure die „Marseillaise der Kommune“ (la Marseillaise de la Commune), welche von der Pariser Kommune als Hymne genutzt wurde.
Français, ne soyons plus esclaves!,
Sous le drapeau, rallions-nous.
Sous nos pas, brisons les entraves,
Quatre-vingt-neuf, réveillez-vous. (bis)
Frappons du dernier anathème
Ceux qui, par un stupide orgueil,
Ont ouvert le sombre cercueil
De nos frères morts sans emblème.
Refrain:
Chantons la liberté,
Défendons la cité,
Marchons, marchons, sans souverain,
Le peuple aura du pain.
Depuis vingt ans que tu sommeilles,
Peuple français, réveille-toi,
L’heure qui sonne à tes oreilles,
C’est l’heure du salut pour toi.(bis)
Peuple, debout! que la victoire
Guide au combat tes fiers guerriers,
Rends à la France ses lauriers,
Son rang et son antique gloire.
Refrain
Les voyez-vous ces mille braves
Marcher à l’immortalité,
Le maître a vendu ses esclaves,
Et nous chantons la liberté. (bis)
Non, plus de rois, plus de couronnes,
Assez de sang, assez de deuil,
Que l’oubli dans son froid linceul
Enveloppe sceptres et trônes.
Refrain
Plus de sanglots dans les chaumières
Quand le conscrit part du foyer;
Laissez, laissez, les pauvres mères
Près de leurs fils s’agenouiller. (bis)
Progrès! que ta vive lumière
Descende sur tous nos enfants,
Que l’homme soit libre en ses champs,
Que l’impôt ne soit plus barrière.
Refrain
N’exaltez plus vos lois nouvelles,
Le peuple est sourd à vos accents,
Assez de phrases solennelles,
Assez de mots vides de sens. (bis)
Français, la plus belle victoire,
C’est la conquête de tes droits,
Ce sont là tes plus beaux exploits
Que puisse enregistrer l’histoire.
Refrain
Peuple, que l’honneur soit ton guide,
Que la justice soit tes lois,
Que l’ouvrier ne soit plus avide
Du manteau qui couvrait nos rois. (bis)
Que du sien de la nuit profonde
Où l’enchaînait la royauté,
Le flambeau de la Liberté
S’élève et brille sur le monde!
Refrain
„Friedens-Marseillaise“
Lehrerverbände brachten den Text der 1892 nach dem Deutsch-Französischen Krieg von Schülern der Primarschule von Cempuis (Oise) verfassten Friedens-Marseillaise in Umlauf.
Graeme Allwright, Sylvie Dien
Pour tous les enfants de la terre
Chantons amour et liberté.
Contre toutes les haines et les guerres
L’étendard d’espoir est levé
L’étendard de justice et de paix.
Rassemblons nos forces, notre courage
Pour vaincre la misère et la peur
Que règnent au fond de nos cœurs
L’amitié la joie et le partage.
La flamme qui nous éclaire,
Traverse les frontières
Partons, partons, amis, solidaires
Marchons vers la lumière.
Graeme Allwright, Sylvie Dien
Deutsche Übersetzung
Lasst uns Liebe und Freiheit singen,
Für alle Kinder unserer Erde.
Gegen allen Hass und alle Kriege
Ist die Fahne der Freiheit erhoben,
die Fahne der Gerechtigkeit und des Friedens.
Versammeln wir unsere Kräfte, unseren Mut,
um Verzweiflung und Angst zu besiegen,
auf dass im Grunde unserer Herzen
Freundschaft, Freude und Gerechtigkeit herrschen.
Die Flamme, die uns leuchtet,
überwindet die Grenzen,
Lasst uns aufbrechen, Freunde, Getreue,
Lasst uns zum Licht marschieren.
Trivia
Im Film Casablanca ordnet Victor László in Ricks Bar an, die Marseillaise zu spielen, um deutsche Soldaten zu übertönen, die Die Wacht am Rhein singen.
In dem einzigen erhaltenen Tondokument des Reichskanzlers Otto von Bismarck deklamiert der 74-Jährige 1889 auch aus der Marseillaise.
Vom Rathausturm von Cham (Oberpfalz) erklingt jeden Mittag die Marseillaise.
Siehe auch
Liste der Nationalhymnen
Literatur
Frédéric Robert: La Marseillaise. Nouvelles Éditions du Pavillon, Paris 1989, ISBN 2-11-081031-9.
Michel Vovelle: Die Marseillaise. Krieg oder Frieden. In: Pierre Nora (Hrsg.): Erinnerungsorte Frankreichs. C. H. Beck, München 2005, ISBN 3-406-52207-6.
Weblinks
Les symboles de la République française – elysee.fr
La Marseillaise – Liedblatt der Klingenden Brücke (Noten 1- und 3-stimmig, Text, Übersetzung)
Deutsche Nachdichtungen und Marseillaise im Volkslied
Die Marseillaise: Vom Straßburger Kriegslied zur Nationalhymne
Audio
La Marseillaise, gesungen von Mireille Mathieu (MP3; 5,2 MB)
Zahlreiche Audio-Versionen marseillaise.org
Audio-Stream der Nationalhymne Frankreichs (Real Player)
Einzelnachweise
Nationalhymne
Nationales Symbol (Frankreich)
Revolutionslied
Kultur (Französische Revolution)
Marsch
Wikipedia:Artikel mit Video
Musikalisches Werk (18. Jahrhundert)
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Q41180
| 141.590035 |
6859522
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https://de.wikipedia.org/wiki/Neu-Taipeh
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Neu-Taipeh
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Neu-Taipeh oder Neu-Taipei (, offizieller Name auf Englisch New Taipei City) ist mit etwas mehr als vier Millionen Einwohnern die größte Stadt der Republik China auf Taiwan.
Neu-Taipeh entstand am 25. Dezember 2010 durch die Fusion aller 29 Städte und Gemeinden des ehemaligen Landkreises Taipeh im Norden Taiwans und hat seitdem den Status einer regierungsunmittelbaren Stadt.
Namensgebung
Ursprünglich war die Transliteration Xinbei City von 新北市 („neue nördliche Stadt“) als offizielle englische Übersetzung des Stadtnamens vorgesehen. Dagegen gab es jedoch Widerstand, unter anderem deswegen, weil Xinbei City die Hanyu-Pinyin-Transliteration darstellt, die auch in der Volksrepublik China gebräuchlich ist. Gegner dieses Namens sprachen sich entweder für Sinbei City als Name (die in Taiwan gebräuchliche Tongyong-Pinyin-Transliteration), oder für New Taipei City als englischen Namen aus. Nachdem sich die beiden Bewerber für das Amt des Bürgermeisters vor der Wahl am 27. November 2010, Eric Chu (KMT) und Tsai Ing-wen (DPP), beide für den letzteren Namen starkgemacht hatten, wurde im weitgehenden Konsens entschieden, dass die offizielle englische Bezeichnung künftig New Taipei City lauten sollte.
Geographie
Neu-Taipeh umschließt die Stadt Taipeh, grenzt im Südwesten an die regierungsunmittelbare Stadt Taoyuan, im Südosten an den Landkreis Yilan, im Norden an die kreisfreie Stadt Keelung und an das Ostchinesische Meer sowie an die Formosastraße im Nordwesten.
Im zentralen und westlichen Teil verschmilzt die Millionenstadt mit dem Taipeh-Becken. Der Yangmingshan-Nationalpark durchzieht den Norden der Stadt. Entlang der südöstlichen Stadtgrenze verläuft der Xueshan-Gebirgszug, der nördlichste Ausläufer der zentralen Hochgebirge der Insel, der bis zum Kap Sandiau, dem östlichsten Punkt Taiwans, reicht. Im Süden des Stadtgebiets erreichen die Berge Höhen von über 2000 m. Die wichtigsten Flüsse in Neu-Taipeh sind der Tamsui und seine Nebenflüsse Keelung und Xindian.
Da sich die Stadt aus dem ehemaligen Landkreis Taipeh entwickelt hat, gibt es kein eigentliches Stadtzentrum. Die Bezirke nahe der Grenze zu Taipeh sind größtenteils dicht besiedelt, während andere Stadtteile eine eher ländliche Struktur haben.
Klima
Das Klima in Neu-Taipeh ist subtropisch und vom Monsun geprägt. Der Januar ist mit einer Durchschnittstemperatur von 12,4 °C typischerweise der kälteste Monat im Jahr, während der Juli mit durchschnittlich 28,8 °C der heißeste ist. Im Stadtbezirk Tamsui gibt es eine Wettermessstation des Taiwanischen Wetterdienstes (Details siehe dort).
Verwaltung, Verkehr, Demographie
Die bisherigen Städte und Gemeinden des Landkreises Taipeh haben seit der Gründung von Neu-Taipeh den Status von Bezirken ().
Dabei leben über 80 % der Einwohner in zehn ehemals selbstständigen Großstädten (), die insgesamt ein Sechstel der Gesamtfläche einnehmen. Knapp 30 % der Einwohner von Neu-Taipeh stammen ursprünglich aus Taipeh. Vier Bezirke werden als ehemalige Stadtgemeinden bezeichnet (), die übrigen 15 hatten den Status von Landgemeinden ().
Die Stadtverwaltung befindet sich im Bezirk der ehemaligen Kreisverwaltung des Landkreises Taipeh in Banqiao.
Siehe auch: Administrative Gliederung der Republik China
Bezirke von Neu-Taipeh
Neu-Taipeh verfügt über eine sehr gute Verkehrsinfrastruktur.
Die Stadt ist an folgende Linien der Metro Taipeh angeschlossen:
Rote Linie 2 (in Tamsui)
Blaue Linie 5 (in Banqiao und Tucheng)
Orange Linie 4 (in Yonghe, Zhonghe, Sanchong, Xinzhuang und Luzhou)
Grüne Linie 3 (in Xindian)
Gelbe Linie (in Xindian, Yonghe, Zhonghe, Banqiao und Xinzhuang, verläuft ausschließlich in Neu-Taipeh)
Der Hochgeschwindigkeitszug nach Kaohsiung hält in Banqiao.
Die nächsten Flughäfen befinden sich in der benachbarten Stadt Taoyuan (Flughafen Taiwan Taoyuan) sowie in Taipeh (Flughafen Taipeh-Songshan).
Wissenswertes / Sehenswertes
Neu-Taipeh verfügt über eine Vielzahl von Sehenswürdigkeiten.
Banqiao: Residenz und Garten der Familie Lin aus der Zeit der späten Qing-Dynastie
Tamsui: Fischerkai und Uferpromenade, spanisches Fort
Jiufen / Jinguashi: Altstadt bzw. Gold Ecological Park mit Goldbergbau-Museum
Pinglin: Pouchong-Teeanbaugebiet (Oolong-Tee) und Teemuseum
Pingxi: Kohlebergbau-Museum und Laternen-Festival
Sanxia: Holzschnitzereien, Zushi-Tempel
Wulai: Wasserfall, heiße Quellen
Yingge: Porzellanherstellung, Keramikmuseum (chinesisch, englisch)
Fulong-Strand: Beliebter Sandstrand, an dem jedes Jahr Mitte Juli ein Rockfestival stattfindet
Partnerschaften
Cincinnati, Ohio, USA
Miami-Dade County, Florida, USA
Landkreis Starnberg, Deutschland (seit 1982)
Persönlichkeiten
Hsieh Hsi-en (* 1994), Leichtathletin
Weblinks
Offizielle Website von Neu-Taipeh (chinesisch)
Offizielle Website von Neu-Taipeh (englisch)
New Taipei City Travel (englisch)
Einzelnachweise
Ort auf Taiwan
Regierungsunmittelbare Stadt in der Republik China
Millionenstadt
Hochschul- oder Universitätsstadt
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Q244898
| 126.201429 |
3854
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https://de.wikipedia.org/wiki/Praseodym
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Praseodym
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Praseodym ist ein chemisches Element mit dem Elementsymbol Pr und der Ordnungszahl 59. Im Periodensystem steht es in der Gruppe der Lanthanoide und zählt damit auch zu den Metallen der Seltenen Erden. Von der Grünfärbung seiner Verbindungen kommt auch der Name: das griechische Wort πράσινος prásinos bedeutet „grün“, δίδυμος didymos „doppelt“ oder „Zwilling“.
Geschichte
1841 extrahierte Carl Gustav Mosander die Seltene Erde Didym aus Lanthanoxid. 1874 bemerkte Per Teodor Cleve, dass es sich bei Didym eigentlich um zwei Elemente handelte. Im Jahr 1879 isolierte Lecoq de Boisbaudran Samarium aus Didym, das er aus dem Mineral Samarskit gewann. 1885 gelang es Carl Auer von Welsbach, Didym in Praseodym und Neodym zu trennen, die beide Salze mit verschiedenen Farben bilden.
Vorkommen
Praseodym kommt in natürlicher Form nur in chemischen Verbindungen vergesellschaftet mit anderen Lanthanoiden, hauptsächlich in folgenden Mineralien vor:
Die weltweiten Reserven werden auf 4 Millionen Tonnen geschätzt.
Gewinnung und Herstellung
Wie bei allen Lanthanoiden werden zuerst die Erze durch Flotation angereichert, danach die Metalle in entsprechende Halogenide umgewandelt und durch fraktionierte Kristallisation, Ionenaustausch oder Extraktion getrennt.
Das Metall wird durch Schmelzflusselektrolyse oder Reduktion mit Calcium gewonnen.
Eigenschaften
Physikalische Eigenschaften
Praseodym ist ein weiches, silberweißes paramagnetisches Metall, welches zu den Lanthanoiden und Metallen der Seltenen Erden gehört. Bei 798 °C wandelt sich das hexagonale α-Pr in das kubisch-raumzentrierte β-Pr um.
Chemische Eigenschaften
Bei hohen Temperaturen verbrennt Praseodym zum Sesquioxid Pr2O3. Es ist in Luft etwas korrosionsbeständiger als Europium, Lanthan oder Cer, bildet aber leicht eine grüne Oxidschicht aus, die an der Luft abblättert. Mit Wasser reagiert es unter Bildung von Wasserstoff zum Praseodymhydroxid (Pr(OH)3). Praseodym tritt in seinen Verbindungen drei- und vierwertig auf, wobei die dreiwertige Oxidationszahl die häufigere ist. Pr(III)-Ionen sind gelbgrün, Pr(IV)-Ionen gelb. Unter besonderen reduktiven Bedingungen kann auch zweiwertiges Praseodym erzeugt werden, z. B. im Praseodym(II,III)-iodid (Pr2I5).
Isotope
Natürliches Praseodym besteht nur aus dem stabilen Isotop 141Pr. 38 weitere radioaktive Isotope sind bekannt, wobei 143Pr und 142Pr mit einer Halbwertszeit von 13,57 Tagen beziehungsweise 19,12 Stunden die langlebigsten sind. Alle anderen Isotope haben Halbwertszeiten von weniger als 6 Stunden, die meisten sogar weniger als 33 Sekunden. Es gibt auch 6 metastabile Zustände, wobei 138mPr (t½ 2,12 Stunden), 142mPr (t½ 14,6 Minuten) und 134mPr (t½ 11 Minuten) die stabilsten sind.
Die Isotope bewegen sich in einem Atommassenbereich von 120,955 (121Pr) bis 158,955 (159Pr).
Verwendung
Praseodym wird in Legierungen mit Magnesium zur Herstellung von hochfestem Metall für Flugzeugmotoren verwendet.
Legierungen mit Cobalt und Eisen sind starke Dauermagnete.
Praseodymverbindungen werden zum Färben von Glas und Emaille verwendet (zum Beispiel in grün gefärbten Scheinwerfergläsern in der Beleuchtungstechnik).
Die Verbindungen verbessern auch die UV-Absorption und werden für Augenschutzgläser beim Schweißen benutzt.
Das Praseodym-Ion Pr3+ wird als Dotant für Lasermedien in Feststofflasern verwendet. So kommt es beispielsweise in Pr3+:LiYF4-Lasern vor.
Verbindungen
Oxide
grünes Praseodym(III)-oxid (Pr2O3)
braun-schwarzes Praseodym(III,IV)-oxid (Pr6O11)
fast schwarzes Praseodym(IV)-oxid (PrO2)
Halogenide
Bekannt sind von allen Oxidationsstufen mehrere Halogenide beispielsweise Praseodym(III)-fluorid (PrF3), Praseodym(IV)-fluorid (PrF4), Praseodym(III)-chlorid (PrCl3), Praseodym(III)-bromid (PrBr3), Praseodym(III)-iodid (PrI3), Praseodym(II,III)-iodid (Pr2I5).
Die dreiwertigen Halogenide bilden verschiedene Hydrate.
Außerdem bildet es mehrere Fluoridokomplexe wie z. B. das K2[PrF6] mit vierwertigem Pr.
Andere Verbindungen
Binäre Verbindungen sind z. B. Praseodym(III)-sulfid (Pr2S3), Praseodymnitrid (PrN), Praseodymphosphid (PrP).
Daneben ist Praseodym in diversen Salzen, wie dem hygroskopischen Praseodym(III)-nitrat (Pr(NO3)3 · x H2O), dem schön kristallisierenden Praseodym(III)-sulfat (Pr2(SO4)3 · 8 H2O) und anderen vertreten.
Eine Übersicht über Praseodymverbindungen bietet die :Kategorie:Praseodymverbindung.
Weblinks
Metallisch blankes Praseodym
Einzelnachweise
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Q1386
| 277.390979 |
120840
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https://de.wikipedia.org/wiki/Zwergf%C3%BC%C3%9Fer
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Zwergfüßer
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Die Zwergfüßer (Symphyla) sind eine Klasse der Gliederfüßer (Arthropoda) und werden bei den Tausendfüßern (Myriapoda) eingeordnet. Weltweit sind etwa 150 Arten dieser sehr kleinen, pigment- und augenlosen Tiere bekannt. In Deutschland leben davon 19. Sie werden maximal 9 mm lang.
Lebensweise der Zwergfüßer
Die Zwergfüßer leben hauptsächlich in der obersten Bodenschicht (Mulm), unter Dunghaufen sowie unter Steinen. Dabei ernähren sie sich von verrottenden und auch von lebenden Pflanzenteilen. Bei Massenauftreten können sie vor allem in Gärtnereien (auch in Gewächshäusern) als Schädlinge wirken.
Bau der Zwergfüßer
Wie alle Angehörigen der Myriapoden zeichnen sich die Zwergfüßer vor allem durch eine einheitliche Gliederung der Körpersegmente aus. Die Zwergfüßer besitzen immer 12 Segmente, die jeweils ein Laufbeinpaar tragen. Betrachtet man sie von oben, kann man allerdings häufig mehr als 12 Rückenplatten erkennen (bei Scutigerella 15, ansonsten bis 25), da einige Segmente zwei dieser als Tergite benannten Strukturen ausbilden. Die Beine sind gleichförmig gebaut, lediglich das erste Beinpaar kann weniger Glieder besitzen oder vollständig fehlen. An den Beinen 2 – 12 besitzen die Tiere ausstülpbare Säckchen (Coxalorgane), an den Beinen 3 – 12 zusätzlich griffelartige Strukturen (Styli).
Der Kopf der Tiere ist flach und besitzt an der Unterseite mehrere flach anliegende Mundwerkzeuge (Mandibeln und zwei Paar Maxillen). Das zweite Maxillenpaar bildet eine Unterlippe. Die Antennen setzen sich aus einer Kette gleichartiger Antennenglieder zusammen und bilden eine so genannte Gliederantenne. Anders als alle anderen Tracheentiere besitzen die Zwergfüßer nur ein einziges Paar Tracheenöffnungen (Stigmen) nahe der Mandibelbasis, von wo aus verzweigte Tracheen bis in das 4. Rumpfsegment ziehen.
Das Hinterende trägt ein Paar Spinngriffel, die mit Spinndrüsen im Körper verbunden sind, sowie ein Paar Mechanorezeptoren (Trichobothrien).
Fortpflanzung und Entwicklung
Zur Begattung bildet das Männchen der Zwergfüßer (beobachtet bei Scutigerella) einen langen Sekretstiel, auf dem es einen Spermatropfen absetzt. Dieser Tropfen wird von den Weibchen aufgenommen und im Mundvorraum gelagert. Danach setzt es einzeln an Blättern von Moosen die Eier ab und befruchtet sie dort mit Hilfe des Spermavorrats.
Die Jungtiere der Zwergfüßer schlüpfen mit einer deutlich verminderten Beinzahl (Scutigerella mit sieben Beinpaaren) und bekommen mit jeder Häutung ein neues Beinpaar hinzu, bis alle Segmente vorhanden sind. Auch dann häuten sich die Tiere weiter.
Systematik der Zwergfüßer
Die Zwergfüßer bilden aufgrund der Darm- und Fettkörperbildung innerhalb des Dotters sowie des Aufbaus der Mechanorezeptoren (Trichobothrien) gemeinsam mit den Dignatha (Doppelfüßer und Wenigfüßer) das Taxon Progoneata. Dieser Gruppe werden gemeinhin die Hundertfüßer als Schwestergruppe gegenübergestellt.
Die europäischen Arten der Zwergfüßer werden in zwei Familien aufgeteilt, die Scolopendrellidae (beispielsweise mit Symphylella vulgaris) und die Scutigerellidae (beispielsweise mit Scutigerella immaculata, S. tusca, S. pagesi, S. remyi und S. silvatica). Aus beiden Familien sind inzwischen Fossilien bekannt. Ein Vertreter der Gattung Scolopendrella aus dem Baltischen Bernstein stellt den einzigen fossilen Scolopendrelliden dar. Innerhalb der Scutigerelliden sind zwei Arten aus dem Baltischem Bernstein und eine aus dem Dominikanischen Bernstein bekannt.
Scolopendrellidae , 1845
Geophilella (in Deutschland nur Geophilella pyrenaica)
Pseudoscutigerella
Scolopendrella (in D nur Scolopendrella notacantha)
Scolopendrellina
Scolopendrellopsis (in D: S. arvernorum und S. subnuda)
Symphylella (in D: S. elongata, S. isabellae, S. major, S. vulgaris)
Symphylellopsis
Scutigerellidae , 1913
Hanseniella (in D: H. agilis, H. caldaria, H. nivea, H. oligomacrochaeta, H. orientalis)
Scolopendrelloides
Scutigerella (in D: S. causeyae, S. immaculata, S. nodicercus, S. palmonii, S. remyi, S. verhoeffi)
Literatur
Wolfgang Dohle: Progoneata, in: W. Westheide, R. Rieger (Hrsg.): „Spezielle Zoologie Teil 1: Einzeller und Wirbellose Tiere“; Gustav Fischer Verlag, Stuttgart, Jena 1996; Seiten 592–600
Karin Voigtländer, Peter Decker, Ulrich Burkhardt & Jörg Spelda: An annotated checklist of Symphyla and Pauropoda (Myriapoda) of Germany. doi:10.13140/2.1.2513.6640.
Weblinks
Einzelnachweise
Tausendfüßer
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Q244147
| 137.51887 |
54303
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https://de.wikipedia.org/wiki/Linux-Distribution
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Linux-Distribution
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Eine Linux-Distribution ist eine Auswahl aufeinander abgestimmter Software um den Linux-Kernel, bei dem es sich dabei in einigen Fällen auch um einen mehr oder minder angepassten und meist in enger Abstimmung mit Upstream selbst gepflegten Distributionskernel handelt. Üblicherweise wird der Begriff auf Zusammenstellungen begrenzt, die weitgehend linuxtypisch aufgebaut sind, was beispielsweise auf Android nicht zutrifft.
Distributionen, in denen GNU-Programme eine essenzielle Rolle spielen, werden auch als „GNU/Linux-Distributionen“ bezeichnet. Die Namensgebung mit oder ohne GNU-Namenszusatz wird von den Distributoren je nach ihrer Position im GNU/Linux-Namensstreit unterschiedlich gehandhabt.
Fast jede Distribution ist um eine Paketverwaltung herum zusammengestellt, d. h., dass sämtliche Bestandteile der Installation als Pakete vorliegen und sich über den Paketmanager installieren, deinstallieren und updaten lassen. Die Pakete werden dazu online in sogenannten Repositories vorgehalten.
Zusammengestellt wird eine Linux-Distribution von ihrem Distributor. Für gewöhnlich wählt dieser Programme aus, bei denen er die nötigen Rechte hat, passt sie mehr oder weniger an, paketiert sie in seiner Paketverwaltung und bietet das Ergebnis als Distribution an. Normalerweise werden nur wenige Programme vom Distributor selbst geschrieben, häufig z. B. der Distributions-Installer. Der Distributor kann ein Unternehmen oder eine Gruppe von weltweit verteilten Freiwilligen sein. Er kann auch kommerziellen Support anbieten.
Konzept
Die Idee hinter Distributionen ist ein Paket aufeinander abgestimmter Software zu bilden. Den zentralen Teil bilden dabei der Linux-Kernel selbst sowie Systemprogramme und Bibliotheken. Je nach Anwendungszweck der Distribution werden verschiedene Anwendungsprogramme (z. B. Webbrowser, Office-Anwendungen, Zeichenprogramme, Mediaplayer etc.) hinzugefügt.
Linux-Distributionen halten in der Regel eine große Anzahl an Programmen in den Repositories zur Installation bereit. Dies steht im konzeptuellen Gegensatz zu anderen Betriebssystemen wie Windows und macOS, die neben dem Betriebssystem selbst nur wenige Anwendungen enthalten, dafür auf die Integration von Programmen von externen Anbietern, sogenannten ISVs, setzen.
Weitere Aufgaben von Distributoren sind die Anpassung der Programme (durch Patches), Hinzufügen eigener Programmentwicklungen (vor allem zur Installation und Konfiguration des Systems wie zum Beispiel apt, Synaptic, YaST) sowie (bis auf wenige Ausnahmen, z. B. Gentoo) Kompilierung und Paketierung (.deb, .rpm) der Programme. Die Bereitstellung zusätzlicher Programme und Updates erfolgt typischerweise zentral über ein Repository, welches über ein Paketverwaltungs-System mit dem Betriebssystem synchronisiert wird.
Auch wenn bei Linux-Betriebssystemen Distributionen die bei weitem üblichste Variante sind, ist ein Betrieb von Linux auch ohne eine vorgefertigte Distribution möglich, zum Beispiel mithilfe von Linux From Scratch. In dem für Linux wichtigen Markt der eingebetteten Systeme sind Distributionen wenig verbreitet.
Zusammensetzung
Neben dem Linux-Kernel besteht eine Distribution meist aus der GNU-Software-Umgebung. Diese stellt große Teile des grundlegenden Basissystems mit den zahlreichen Systemdiensten (sogenannten Daemons) sowie diverse Anwendungen bereit, die bei einem unixoiden System erwartet werden. Distributionen, welche auch oder nur für Desktop-Systeme gedacht sind, verfügen normalerweise über ein Fenstersystem, derzeit meistens das X Window System. Ein solches ist für das Ausführen einer grafischen Benutzeroberfläche erforderlich. Darauf aufbauend steht meist eine Desktop-Umgebung, wie bspw. Gnome oder die KDE Software Compilation, zur Verfügung, welche neben der reinen Benutzeroberfläche noch eine Auswahl an Anwendungsprogrammen mitbringt.
Ergänzend fügt ein Distributor normalerweise zahlreiche weitere Anwendungen bei. Dies sind beispielsweise Office-Pakete, Multimediasoftware, Editoren, E-Mail-Programme, Browser, aber auch Server-Dienste. Daneben finden sich meist Softwareentwicklungs-Werkzeuge wie Compiler bzw. Interpreter sowie Editoren.
Viele Softwarebestandteile von Linux-Distributionen, z. B. der Compiler GCC, stammen aus dem älteren GNU-Projekt. Dieses hatte sich schon vor der Entwicklung von Linux die Aufgabe gestellt, eine Alternative zu den kommerziellen Unix-Betriebssystemen zu entwickeln. Da der eigene Kernel des GNU-Projekts, GNU Hurd, noch in der Entwicklung ist, wird häufig als Ersatz der Linux-Kernel benutzt. Daher ist auch der Doppelname GNU/Linux für eine Distribution geläufig (z. B. bei Debian).
Es gibt auch Linux-Distributionen, die auf die GNU-Softwareanteile oder ein X-Window-System komplett verzichten und stattdessen alternative Software nutzen. Diese Distributionen verhalten sich, wie beispielsweise FreeVMS oder Cosmoe, teilweise auch nicht annähernd wie ein Unix-System.
Vertrieb
Während proprietäre Betriebssysteme häufig über den Einzelhandel vertrieben werden, ist dies bei Linux-Distributionen eher die Ausnahme. Die meisten Distributionen können heute kostenlos von der Website der Anbieter heruntergeladen werden. Diese finanzieren sich über Spenden, über kostenpflichtigen Support oder auch einfach nur über die Beteiligung von Freiwilligen. Nur vergleichsweise wenige Distributionen werden von gewinnorientierten Firmen entwickelt und sind teilweise über den Einzelhandel verfügbar. Zahlreiche Linux-Distributionen werden auch, von den Kunden unbemerkt, als Firmware auf einem Gerät oder sogar in größeren Maschinen oder Anlagen erworben. Dabei kann es sich z. B. um Werkzeugmaschinen, Fahrzeuge, Haushaltsgeräte, SPS, Messgeräte, Mobiltelefone, Modems, Digitalkameras, NAS oder Fernseher handeln.
Geschichte
Da Linux nur ein Betriebssystem-Kernel ist, wird weitere Software benötigt, um ein benutzbares Betriebssystem zu erhalten. Aus diesem Grund kamen die ersten Linux-Distributionen schon kurz nach der GPL-Lizenzierung von Linux auf, als Anwender, die nicht zum direkten Entwicklerkreis gehörten, Linux zu nutzen begannen. Die ersten Distributionen hatten dabei das Ziel, das System beispielsweise mit der Software des GNU-Projekts zu einem arbeitsfähigen Betriebssystem zu bündeln. Zu ihnen gehörten MCC Interim Linux, das auf den FTP-Servern der University of Manchester im Februar 1992 veröffentlicht wurde sowie TAMU und Softlanding Linux System (SLS), die etwas später herauskamen. Die erste kommerziell auf CD erhältliche Distribution war 1992 das von Adam J. Richters entwickelte Yggdrasil Linux. 1993 veröffentlichte Patrick Volkerding die Distribution Slackware, die auf SLS basiert. Sie ist die älteste heute noch aktive Linux-Distribution. Ebenfalls 1993, ungefähr einen Monat nach der Veröffentlichung von Slackware, wurde das Debian-Projekt ins Leben gerufen, das im Gegensatz zu Slackware gemeinschaftlich entwickelt wird. Die erste stabile Version kam 1996 heraus. 2004 wurde von Canonical das auf Debian basierende, später sehr populäre Ubuntu herausgebracht.
Die ersten Nutzer kannten noch freie Software aus der Zeit vor den 1980er-Jahren und schätzten Linux, weil sie wieder die Verwertungsrechte an der von ihnen verwendeten Software besaßen. Spätere Nutzer waren Unix-Anwender, die Linux zunächst vor allem privat einsetzten und sich vor allem über den geringen Preis freuten. Waren die ersten Distributionen nur der Bequemlichkeit halber geschaffen worden, sind sie doch heute die übliche Art für Nutzer wie auch Entwickler, ein Linux-System zu installieren. Dabei werden die Linux-Distributionen heutzutage sowohl von Entwicklergruppen als auch von Firmen oder gemeinnützigen Projekten entwickelt und betrieben.
Die Frage, welche Distributionen besonders beliebt sind, lässt sich nur schwer beantworten. Im deutschsprachigen Raum werden vor allem Ubuntu, Debian, openSUSE und Knoppix häufiger auch außerhalb der IT-Presse erwähnt. Darüber hinaus wäre Fedora zu nennen, das von dem börsennotierten US-Unternehmen Red Hat entwickelt wird.
Arten von Distributionen
Da Distributionen praktisch eigene Produkte sind, konkurrieren diese am Markt miteinander und versuchen, sich einerseits voneinander abzugrenzen, andererseits aber auch anderen Distributionen keinen zu großen Vorteil zu überlassen. Daher unterscheiden sich zwar sämtliche Distributionen; es gibt aber kaum etwas, wofür sich nicht jede Distribution anpassen ließe. Hiervon ausgenommen sind nur Spezial-Systeme, etwa als Software im Embedded-Bereich.
Einige Distributionen sind speziell auf einen Anwendungsfall optimiert. So gibt es etwa Systeme speziell für den Einsatz in Bildungseinrichtungen mit hierfür spezialisierter Software und zumeist einem Terminalserver-System, wodurch nur ein leistungsstarker Rechner benötigt wird und ansonsten auch ältere Hardware ausreicht. Beispiele sind hier Edubuntu oder DebianEdu. Ebenso gibt es Systeme speziell für veraltete Rechner, die einen geringeren Funktionsumfang haben und geringe Systemanforderungen stellen. Beispiele sind etwa Damn Small Linux oder Puppy Linux, die einen Umfang von nur 50 beziehungsweise 100 MB haben.
Smartphone-Distributionen
Für Smartphones und Tablets gibt es speziell optimierte Linux-Distributionen. Sie bieten neben den Telefonie- und SMS-Funktionen diverse PIM-, Navigations- und Multimedia-Funktionen. Die Bedienung erfolgt typischerweise über Multi-Touch oder mit einem Stift. Linux-basierte Smartphone-Betriebssysteme werden meist von einem Unternehmenskonsortium oder einem einzelnen Unternehmen entwickelt und unterscheiden sich teilweise sehr stark von den sonst klassischen Desktop-, Embedded- und Server-Distributionen. Anders als im Embedded-Bereich sind Linux-basierte Smartphonesysteme aber nicht auf ein bestimmtes Gerät beschränkt. Vielmehr dienen sie als Betriebssystem für Geräte ganz unterschiedlicher Modellreihen und werden oft herstellerübergreifend eingesetzt.
Die Architektur vieler Linux-basierter Smartphone- und Tablet-Betriebssysteme wie z. B. Android hat neben dem Linux-Kernel nur wenig Gemeinsamkeiten mit klassischen Linux-Distributionskonzepten. Ob Android als wichtigstes Linux-Kernel basierendes Smartphone-Betriebssystem auch als Linux-Distribution einzuordnen ist, wird kontrovers diskutiert. U.a. wird typischerweise auch nur ein kleiner Teil der sonst üblichen GNU-Software-Umgebung und -Tools genutzt. Obwohl Android selbst quelloffen ist, wird es meist mit den proprietären Google-Play-Diensten ausgeliefert, da Android selber den oft gewünschten Google Play Store nicht enthält. Da dadurch unkontrollierte proprietäre Binär-Software verwendet wird, stehen Richard Stallman und die FSF Android sehr kritisch gegenüber und empfehlen die Verwendung von Alternativen. Die meist auf Linux genutzten UNIX-artigen Dienste und Tools werden teilweise durch eine Java-Laufzeitumgebung ersetzt. Dadurch entstehen neue Programmierschnittstellen, die sich auf beliebigen anderen Plattformen emulieren bzw. umsetzen lassen. Trotz großer Diskrepanzen wird Android jedoch von manchen über gemeinsame Eigenschaften mit Embedded-Linux-Distributionen bei den Linux-Distributionen eingeordnet. Andere Linux-basierende Smartphone-Betriebssysteme wie etwa Firefox OS, Ubuntu for phones, Maemo, Tizen, Mer, Sailfish OS und MeeGo nutzen größere Teile der klassischen GNU-Software-Umgebung, so dass diese teilweise einfacher mit klassischen Linux-Anwendungen ergänzt werden können und somit eher Linux-Distributionen im klassischen Sinne entsprechen.
Während die Marktanteile von bisher verbreiteten Mobil-Plattformen wie Apples iOS, Microsofts Windows Mobile und Nokias Symbian OS sanken, konnte Android Marktanteile hinzugewinnen. Seit Ende 2010 haben Linux-Systeme die Marktführerschaft auf dem schnell wachsenden Smartphone-Markt übernommen. Sie wiesen zusammen im Juli 2011 einen Marktanteil von mindestens 45 % auf. Aktuell ist Android die mit großem Abstand verbreitetste Linuxdistribution für Smartphones. Der Marktanteil lag im Mai 2016 bei 78 %.
Embedded-Distributionen
Linux ist ein beliebtes Betriebssystem in eingebetteten Systemen. Entsprechende Distributionen sind für gewöhnlich hoch spezialisiert, da sie auf wenige, bestimmte Aufgaben ausgelegt sind. So ist meistens auch keine oder nur eine sehr einfache grafische Oberfläche zu finden. Häufig handelt es sich um Echtzeitsysteme. Sie haben in der Regel wenig Ähnlichkeit mit PC-Distributionen.
Live-Distributionen
Eine Besonderheit bilden Live-Systeme, die von CD, DVD, USB und anderen Medien gebootet werden. Handelte es sich hierbei zunächst nur um spezialisierte Distributionen, die den Funktionsumfang von Linux demonstrieren sollten, gehört es inzwischen zum guten Ton unter Linux-Distributionen, den Standard-Umfang in Form einer Live-CD oder -DVD bzw. einem Live-USB-Speicherstick anzubieten. Einige dieser Systeme lassen sich auch direkt von dem Medium aus installieren.
Live-Systeme können als vollständiges Linux gestartet werden, ohne auf die Festplatte zu schreiben und ohne die bestehende Konfiguration eines Rechners zu verändern. So kann die entsprechende Linux-Distribution gefahrlos auf einem Computer getestet werden. Live-Systeme eignen sich auch hervorragend zur Datenrettung und Systemanalyse, da sie von der Konfiguration des bereits bestehenden Systems unabhängig sind und so auch von möglichen Infektionen durch Würmer und Viren nicht betroffen werden können.
Linux-Distributionen neben anderen Betriebssystemen
Die meisten Linux-Distributionen können auf derselben Hardware parallel zu anderen Betriebssystemen installiert werden. Als solche kommen bspw. eine weitere Linux-Distribution, ein anderes unixoides Betriebssystem wie macOS oder Solaris, oder aber auch ein Windows in Betracht. Prinzipiell sind zwei Vorgehensweisen zu unterscheiden:
Multi-Boot
In einer Multi-Boot-Konfiguration werden zwei oder mehr Betriebssysteme parallel auf verschiedene Festplatten-Partitionen installiert. Installationsprogramme moderner Linux-Distributionen können meist bereits installierte Betriebssysteme erkennen und eigenständig eine Multi-Boot-Konfiguration einrichten. Nach der Installation kann beim Bootvorgang über einen Bootloader oder Bootmanager gewählt werden, welches Betriebssystem starten soll.
Virtualisierung
Werden die Betriebssysteme häufig gleichzeitig genutzt, bietet sich u. U. eher eine Virtualisierungs-Lösung an. Zu unterscheiden sind hierbei das Host- und Gast-System. Ersteres ist tatsächlich physisch auf der Hardware installiert. Innerhalb dessen kommt eine Virtualisierungssoftware wie bspw. VirtualBox oder KVM zum Einsatz. Diese emuliert für das Gast-System die gesamte erforderliche Hardware oder bietet durch ein Sicherheitssystem direkten Zugriff auf die tatsächlich vorhandene Hardware des Computers. Da diese in einer solchen Konfiguration für den gleichzeitigen Betrieb beider Systeme erforderlich ist, kann es zu Geschwindigkeitseinbußen kommen.
Unterschiede zwischen einzelnen Distributionen
Auch wenn man Spezial-Distributionen außer Acht lässt, unterscheiden sich auch gängige Linux-Distributionen in einigen Punkten.
Einige Distributionen für Fortgeschrittene haben zum Beispiel keinen Installer, sondern nur eine Live-CD, die die nötigen Werkzeuge zur manuellen Installation bereitstellt (bspw. Arch und Gentoo). Die meisten bieten allerdings einen Installer in Form eines Assistenten an. Einige bieten zwar einen Assistenten an, erfordern aber Vorarbeiten, etwa das Partitionieren (bspw. Slackware). Die sonstige Art der Konfiguration entspricht normalerweise der Installationsmethode. Bei manchen Systemen muss man also die Konfigurationsdateien i. d. R. direkt bearbeiten, während andere für die wichtigsten Optionen Tools bereitstellen.
Ein wichtiger Punkt ist auch die kostenlose Verfügbarkeit. Einige wenige Distributionen kosten Geld (bspw. RHEL), während die meisten kostenlos sind.
Weiter unterscheiden sich Distributionen in der Anzahl der unterstützten Architekturen (besonders vielfältig sind Gentoo und Debian). Auch spielen Art und Umfang der Dokumentation eine Rolle. So liegen einigen Produkten Handbücher bei (bspw. RHEL), während für die meisten nur Dokumentation auf Webseiten zur Verfügung steht. Manche Distributionen verzichten ganz auf eine offizielle Dokumentation und lassen diese lieber – bspw. als Wiki – von der Nutzerschaft pflegen. Kommerzielle Distributoren bieten darüber hinaus meist offiziellen Support an, welcher als Dienstleistung allerdings vergütet werden muss. Auch in der Lizenzpolitik gibt es Unterschiede. Einige Systeme haben ausschließlich freie Software in ihren Repositories (besonders konsequent bspw. Parabola), während andere auch unfreie aufnehmen. Als ein Kompromiss werden häufig Repositories mit proprietärer Software angeboten, die aber manuell zum Paketmanager hinzugefügt werden müssen (das machen bspw. Debian und Ubuntu) oder es wird eine Ausnahme für besonders wichtige Programme gemacht (bspw. auch Ubuntu). Kostenpflichtige Software wird fast nie aufgenommen. Zu unterscheiden sind weiter Community-Distributionen (bspw. Debian) von solchen, hinter denen Unternehmen stehen (bspw. Ubuntu). Auch die Updatezyklen spielen eine Rolle. Sie gehen von Rolling Releases (bspw. Arch, Gentoo und Debian Unstable) bis hin zu vierjährigen Updatezyklen mit garantierter zehnjähriger Unterstützung einer Version (RHEL). Wichtig ist auch die Anzahl der Software in den Repositories. Entsprechend der Zielgruppe einer Distribution sind auch Größe und Fachkenntnis der Nutzerschaft verschieden.
Kompatibilität zwischen den Distributionen
Die Unterschiede zwischen den Distributionen wirken sich oftmals auf deren Kompatibilität aus.
Schon früh in der Geschichte der Distributionen entstanden Konzepte, die Installation weiterer Software zu vereinfachen. Meist sollte Software in Form kompilierter Pakete bereitgestellt und ein Mechanismus mitgeliefert werden, der funktionelle Abhängigkeiten zwischen installierten und nachgeladenen Paketen auflösen kann. Die entstandenen Paketmanagement-Systeme arbeiten mit je eigenen Paketformaten, zum Beispiel RPM oder dpkg. Viele Linux-Distributionen haben eine eigene Softwareverwaltung mit eigenen Binärpaketen, die zu anderen Distributionen teilweise inkompatibel sind.
Die Kritik am Prinzip der Linux-Distributionen setzt unter anderem an diesem Punkt an. Da nicht jedes Software-Projekt und nicht jeder Software-Entwickler die Kenntnisse und Ressourcen hat, Software für jede einzelne Linux-Distribution bereitzustellen, wird oft nur der Quelltext veröffentlicht. Aus dem veröffentlichten Quelltext lauffähige Anwendungen zu erzeugen, ist jedoch potentiell ein komplizierter und fehlerträchtiger Prozess, der vielen Anwendern zu kompliziert sein kann. Diese bleiben dann oft auf die von der Distribution mitgelieferte Software angewiesen bzw. limitiert. Die Bereitstellung des Quellcodes als Softwareauslieferungsmethode ist jedoch für Anbieter kommerzieller Software, die Software binär ausliefern wollen, keine Option, weswegen diese die Menge von Distributionen und deren Paketformaten mit spezifischen Paketen bedienen müssen, was einen großen Mehraufwand bedeutet. Im Umfeld von Unternehmen hat deshalb nur eine begrenzte Auswahl an Distributionen eine Chance als allgemeine Arbeitsplattform.
Eine weitere wichtige Norm ist POSIX. Sie geht im Gegensatz zur LSB über Linux hinaus und soll einen Standard für alle unixoiden Betriebssysteme bilden. POSIX ist nicht kompatibel mit der LSB. Linux-Distributionen halten sich für gewöhnlich an einen Großteil der Norm. Allerdings gibt es derzeit keine Distribution, die offiziell als POSIX-konform zertifiziert ist.
Standardisierungsansätze
Damit sich die Distributionen nicht weiter auseinanderentwickeln, wurde die Free Standards Group (heute Linux Foundation) mit dem Ziel gegründet, entsprechende Standards zwischen Distributionen zu fördern. Der Bekannteste ist die Linux Standard Base zur Förderung der binären Kompatibilität der Distributionen. Die LSB wird dabei von den verschiedenen Distributionen unterschiedlich strikt umgesetzt. Sie definiert übereinstimmende Binärschnittstellen („ABI“ genannt, für Application Binary Interface), einige Details zum inneren Aufbau und ein Paketsystem (hier RPM), das für die Installation von Software anderer Anbieter unterstützt werden muss.
Die praktische Bedeutung dieser Regeln ist allerdings nur begrenzt. Die einseitige Festlegung auf das RPM-Paketformat wird teilweise angezweifelt, nachdem in den letzten Jahren durch Ubuntu oder Linux Mint das dpkg-Format eine große Verbreitung erlangt hat. Weil die meisten Distributionen, die dpkg nutzen, direkt auf Debian basieren, sind deren Pakete oft in anderen Distributionen, die ebenfalls auf Debian basieren, installierbar. Auf der anderen Seite setzen alle von Fedora (respektive Red Hat Linux), OpenSUSE und Mandriva abstammenden Distributionen auf RPM. Es ist mit einigen Einschränkungen durchaus möglich – z. B. mit Hilfe des OpenSuse Build Service – RPM-Pakete zu erstellen, die auf allen diesen Distributionen nutzbar sind.
Eine weitere Standardisierung stellt der Filesystem Hierarchy Standard dar, der eine gemeinsame Benennung einiger Datei- und Verzeichnisnamen und eine übereinstimmende Struktur der Basisverzeichnisse ermöglichen soll. Allerdings sind auch hier Details nicht geregelt, die bisher Inkompatibilitäten erzeugten. Andere Probleme ergeben sich erst durch die feste Integration von Anwendungen in den Systemverzeichnisbaum. Er wird von der Linux Standard Base vorausgesetzt.
Alternativansätze für die Programmverbreitung
Es gibt einige Alternativansätze zu dem Modell der zentralen Softwareverbreitung über die Distributionen und deren Repositories. Projekte wie Autopackage, Zero Install oder der Klik-Nachfolger PortableLinuxApps versuchen eine einheitliche, aber dezentrale, distributionsunabhängige, binäre Softwareverbreitungsmöglichkeit zu schaffen, konnten aber bis jetzt faktisch keine relevante Verbreitung oder Unterstützung der Linux-Community erreichen.
Ein Schritt in diese Richtung war 2011 die Einführung eines Software Center in Ubuntu, um die Anzahl der Applikationen signifikant erhöhen zu können, da das Distributionsmodell nur begrenzt skaliert.
2012 betonte auch der Kernelentwickler Ingo Molnár die Notwendigkeit der Bereitstellung einer solchen dezentralen, skalierbaren und distributionsunabhängigen Softwareverbreitungsmethode; das Fehlen eines solchen Mechanismus sei eines der Kernprobleme des Linux-Desktops.
Siehe auch
Liste von Linux-Distributionen
Literatur
Johannes Plötner, Steffen Wendzel: Linux. Das umfassende Handbuch. 4. Auflage. Galileo Press, Bonn 2010, ISBN 978-3-8362-1704-0.
Michael Kofler: Linux 2010: Debian, Fedora, openSUSE, Ubuntu. 9. Auflage. Addison-Wesley, München 2009, ISBN 978-3-8273-2158-9. (bis zur 8. Auflage unter dem Titel: Linux. Installation, Konfiguration, Anwendung.)
Weblinks
Distributionsübersicht mit Ranglisten auf DistroWatch.com
Auflistung von Live-CD-Distributionen
Linux-Distribution Chooser – ein Hilfswerkzeug für die Wahl zwischen verschiedenen verbreiteten Linux-Distributionen
Repology.org – Suchmaschine für Softwarepakete und ihre jeweiligen Versionen in verschiedenen Repositories
Einzelnachweise
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https://de.wikipedia.org/wiki/Erdnuss
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Erdnuss
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Die Erdnuss (Arachis hypogaea), schweizerisch Spanische Nüssli, südtirolerisch Spanischa Nisslan, auch Aschantinuss oder Aschanti, ist eine Pflanzenart in der Unterfamilie der Schmetterlingsblütler (Faboideae) innerhalb der Familie der Hülsenfrüchtler (Fabaceae oder Leguminosae). Die Frucht der Erdnuss ist botanisch gesehen eine Hülsenfrucht, die sich entwicklungsgeschichtlich zur Nuss gewandelt hat. Die Erdnuss gehört zur selben Unterfamilie wie beispielsweise die Erbse und die Bohnen-Arten. Der englische Trivialname der Erdnuss, peanut (zu deutsch „Erbsennuss“), weist auf die botanische Zugehörigkeit zur Familie der Hülsenfrüchtler hin.
Die Ähnlichkeit zu botanischen Nüssen ergibt sich durch die Beschaffenheit der Samen: die Konsistenz, den hohen Fettgehalt und den vergleichsweise niedrigen Anteil an Stärke. Im Vergleich zu echten Nüssen ist der Anteil an Omega-3-Fettsäuren gering. Im Gegensatz zu den meisten anderen Hülsenfrüchten sind Erdnüsse allerdings roh genießbar. Das allergene Potential ist im Vergleich zu anderen Lebensmitteln relativ hoch.
Beschreibung
Erscheinungsbild und Blatt
Die Erdnuss ist eine einjährige krautige Pflanze. Der gelblich behaarte bis kahle Stängel ist selbständig aufrecht bis kriechend und zwischen 6 und 80 Zentimeter, meist jedoch etwa 30 Zentimeter lang.
Die wechselständig angeordneten Laubblätter sind in Blattstiel und Blattspreite gegliedert. Der 3,7 bis 10 Zentimeter lange Blattstiel ist mit lang gewundenen Trichomen bedeckt. Die paarig gefiederte Blattspreite besitzt meist zwei Paare sich an der Rhachis gegenüberstehende mit 1 bis 10 mm nur kurz gestielte Fiederblättchen. Die mit einer Länge von 1,1 bis 5,9 Zentimetern und einer Breite von 0,5 bis 3,4 Zentimeter eiförmig-länglichen bis verkehrt-eiförmigen Fiederblättchen sind papierartig mit weitgehend gerundeter Basis und das Ende ist stumpf oder ausgerandet mit Stachelspitze. Die mit langen Haaren besetzten Blattflächen besitzen etwa zehn Seitennerven auf jeder Seite des Mittelnerves. Der Rand der Fiederblättchen ist bewimpert. Die 2 bis 4 Zentimeter großen, häutigen, behaarten Nebenblätter sind teilweise mit dem Blattstiel verwachsen.
Blütenstand und Blüte
Die Blütezeit reicht von Mai bis August. Die seitenständigen Blütenstände sind bis auf eine Blüte reduziert. Von den häutigen Tragblättern ist das unterste mit einer Länge von 1 bis 1,4 Zentimetern und einer Breite von 4 bis 5 Millimetern eiförmig-lanzettlich mit zwei Spitzen; die anderen sind ähnlich groß, aber zweispaltig.
Die ungestielten, zwittrigen Blüten sind zygomorph und fünfzählig mit doppelter Blütenhülle. Von den fünf häutigen, schmalen Kelchblättern sind vier zu einer 4 bis 6 mm dünnen Röhre verwachsen, das fünfte ist frei; sie vergrößern sich bis zur Fruchtbildung. Die 0,7 bis 1,3 Zentimeter lange Krone besitzt den typischen Aufbau der Schmetterlingsblütler. Die fünf Kronblätter sind gelb bis goldgelb, meist mit roten Nerven. Die ausgebreitete Fahne ist fast kreisförmig und an der Basis nur kurz genagelt mit ausgerandeter Spitze. Die zwei freien, schlanken Flügel sind länglich bis schräg eiförmig und geöhrt. Das geschnäbelte, lang eiförmige und nach innen eingebogene Schiffchen ist kürzer als die Flügel. Von den ursprünglich zehn Staubblättern fehlen ein oder zwei. Alle Staubfäden sind untereinander verwachsen. Es gibt zwei Formen bei den Staubbeuteln: lange und kurze wechseln sich ab. Das einzelne, anfangs fast sitzende, längliche Fruchtblatt besitzt meist zwei bis vier, selten bis zu sechs Samenanlagen. Die häufig Gynophor (ist falsch, denn dieses stammt von der Blütenachse ab) oder Karpophor (englisch Peg = Pflock, spanisch clavo = Nagel) genannte Basis des Fruchtblattes streckt sich auf eine Länge von 1 bis 20 Zentimetern und krümmt sich nach der Befruchtung abwärts in den lockeren Boden. So gelangt die Frucht unter die Erde, ähnlich wie bei der Erdbohne oder der Bambara-Erdnuss (Erderbse). Der schnell vergängliche, dünne Griffel ist relativ lang, aber kürzer als der Blütenkelch. Die kleine Narbe ist spärlich behaart.
Frucht und Samen
Die Hülsenfrüchte sind geokarp, befinden sich also im Erdreich, deshalb der Name „Erdnuss“. Obwohl die Erdnuss zu den Leguminosen zählt, verhält sich ihre Frucht anders als die sich öffnenden Hülsenfrüchte; sie bleibt geschlossen und gehört demnach morphologisch zu den Nüssen. Die Frucht besteht aus einem holzigen, netzrunzeligen, gelben Perikarp, das genauer als Mesokarp zu bezeichnen ist. Während der Fruchtentwicklung im Boden stirbt zuerst das Exokarp, später das Endokarp ab, das zeitweilig zu einem Speichergewebe anschwillt, dann aber zu einer weißen, watteartigen Schicht komprimiert wird (die weiße Auskleidung der Erdnussschale), so dass als Hülle nur das Mesokarp übrig bleibt. Daraus resultiert auch die Bezeichnung Mesokarpnuss. Die mit einer Länge von 2 bis 6 Zentimeter und einem Durchmesser von 1 bis 1,5 Zentimetern länglichen, eingebogenen Früchte enthalten einen bis vier, selten bis zu sechs Samen und sind zwischen ihnen etwas eingeschnürt. Diese unterirdischen Früchte öffnen sich nicht selbstständig. Die dicken Fruchtwände besitzen eine netzartige Oberfläche. Der mit einer Länge von 1 bis 2 Zentimetern und einem Durchmesser von 0,5 bis 1 Zentimeter fast eiförmige, hellbraune Samen besitzt zwei reichlich ölhaltige Keimblätter (Kotyledonen). Die Früchte reifen zwischen Juli und September.
Die Samenschale der erntereifen Kerne ist braun, papierartig und schmeckt bitter, daher wird sie vor der Weiterverarbeitung oder dem Verzehr der Kerne meist entfernt.
Genetik und Chromosomensatz
Die Chromosomenzahl dieser tetraploiden Art beträgt 2n = 40. Die Größe des Genoms wird auf ca. 2,8 Milliarden Basenpaare abgeschätzt, sie liegt damit in derselben Größenordnung wie das menschliche Genom. Die Art ist allotetraploid, also aus der Hybridisierung zweier nahe verwandter, aber verschiedener diploider Arten hervorgegangen. Aufgrund der geringen genetischen Variation nimmt man ein relativ geringes Alter der Art an. Nach Vergleich sind die wahrscheinlichen Elternarten Arachis duranensis und Arachis ipaensis; diese wachsen in den Cerrados genannten savannenartigen Landschaften der Anden mit ausgeprägter Trockenzeit. Nach den Methoden der molekularen Uhr wird ihre Divergenzzeit auf etwa 3,5 Millionen Jahre abgeschätzt. Es gibt eine wild vorkommende tetraploide Sippe, Arachis monticola genannt, die wahrscheinlich konspezifisch zur kultivierten Erdnuss ist, also derselben biologischen Art angehört. Wilde Arachis hypogaea im engeren Sinne sind hingegen nie gefunden worden. Die genetische Struktur der Art macht es wahrscheinlich, dass sie auf sehr wenige oder eventuell sogar nur auf ein einziges Kreuzungsereignis mit anschließender Genomverdoppelung zurückgeht. Ob dies in wilden Populationen oder bereits in Kultur erfolgte, ist nicht bekannt. Die ältesten in archäologischen Ausgrabungen gefundenen Erdnüsse der Art Arachis hypogaea stammen aus dem Huarmey-Tal in Peru und sind etwa 5000 Jahre alt. Andere Erdnussarten wurden aber bereits lange Zeit vorher gesammelt und auch kultiviert.
Herkunft und Anbau
Ursprünglich in den Anden Südamerikas beheimatet, hat sich der Anbau der Erdnuss seit ihrer wachsenden Bedeutung als Ölfrucht über die ganzen Tropen und Subtropen ausgebreitet.
Archäologen datierten die ältesten bekannten Funde von Erdnüssen, im Zusammenhang mit menschlichen Ansiedlungen aus Peru im Jahr 2007 auf ein Alter von 7840 Jahren; die dort im Fußboden eines Hauses gefundenen Nüsse entsprechen morphologisch Wildarten, stammen aber aus einer Region, in der keine Wildart autochthon vorkommt. Von dort verbreitete sich der Erdnussanbau auf weitere Teile Süd- und Mesoamerikas, wo spanische Konquistadoren an den Märkten von Tenochtitlán auf die tlalcacáhuatl (Nahuatl für „Erdnuss“, wörtlich „Kakaobohne der Erde“; von diesem Wort stammen auch die spanischen und französischen Bezeichnungen für die Erdnuss, cacahuete bzw. cacahuète) aufmerksam wurden.
Auch in Brasilien war die Erdnuss schon vor 2000 Jahren im Anbau und wurde von dort im Zuge des Sklavenhandels nach Afrika gebracht. Heute wird die Erdnuss weltweit in warmen Gebieten angebaut. Hauptanbaugebiete sind Westafrika, China, Indien, Nord- und Südamerika.
Die geernteten Feldfrüchte werden zunächst im Wassergehalt von 40 auf 5 bis 10 % heruntergetrocknet. In warmen Ländern geschieht dies im Freien, in gemäßigten Klimazonen mit künstlicher Wärmezufuhr. Nach der Trocknung werden die Nüsse gedroschen oder gebrochen und gegebenenfalls noch entschalt.
Wirtschaftliche Bedeutung
Die größten Erdnussproduzenten
Im Jahr 2021 wurden laut Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation (FAO) der Vereinten Nationen weltweit 53.926.894 Tonnen Erdnüsse (mit Schale) geerntet. Die zehn größten Produzenten ernteten zusammen 82,8 % der Welternte. China als größter Produzent kam allein auf etwa 33,9 %.
Handel
Im Jahr 2021 betrug das gesamte Exportvolumen von Erdnüssen (mit Schale) 351.000 Tonnen. Die Hauptexporteure von Erdnüssen waren 2021 die USA, Myanmar, Benin, Malawi und China. Die Exporte dieser fünf Länder zusammen machten 78,1 % des gesamten weltweiten Exports an Erdnüssen aus.
Der Import in die EU wird vor allem für Nahrungsmittel wie geröstete Erdnüsse oder als Bestandteil von Süßigkeiten verwendet.
Erdnussprodukte
Erdnüsse kommen oft geröstet und gesalzen in den Handel, auch als Zutaten in Süßigkeiten.
Die mit Schale gehandelten Erdnüsse sind in der Regel ebenfalls geröstet; ungeröstete Erdnüsse schmecken nach Bohnen, verursachen Blähungen und halten sich nicht so gut (giftiger Schimmel). In den Erzeugerländern werden sie hingegen auch gekocht gegessen.
Die Verarbeitungsprodukte der Erdnuss werden in der Lebensmittelindustrie vielseitig eingesetzt und dienen auch als nachwachsender Rohstoff in der chemischen Industrie, der Kosmetik sowie in bedeutenden Mengen als ölhaltiger Futterzusatzstoff in der landwirtschaftlichen Tiermästerei.
Ein bedeutendes Erdnussprodukt ist das vor allem in Indien und China als Speiseöl beliebte Erdnussöl. Es wird auch als pflanzliches Heilmittel verwendet. In den Küchen vieler Länder Südostasiens, Westafrikas und der Niederlande verbreitet sind Erdnusssaucen. Weitere Produkte sind Erdnussbutter und Erdnussflips.
Plumpy’nut ist eine energiereiche Paste aus Erdnussbutter, Milchpulver, Öl und Zucker zur Behandlung von moderater Unterernährung im Bereich der humanitären Hilfe.
Durchschnittliche Zusammensetzung
Die Zusammensetzung von Erdnüssen schwankt naturgemäß, sowohl in Abhängigkeit von der Sorte, den Umweltbedingungen wie Boden und Klima, als auch von der Anbautechnik je nach Düngung und Pflanzenschutz.
Angaben je 100 Gramm essbarem Anteil (Erdnuss ungesalzen, geröstet):
Der physiologische Brennwert beträgt 2423 kJ (585 kcal) je 100 Gramm essbarem Anteil.
Reife Erdnüsse können roh, geröstet oder gekocht verzehrt werden. Die Erdnuss hat mit über 25 % Eiweißgehalt einen hohen Nährwert. Mit 160 mg Magnesium gehört die Erdnuss, nach Cashewkernen, zu den magnesiumreichen pflanzlichen Nahrungsmitteln. Insbesondere bei vegetarischer Ernährung kann die Erdnuss einen wertvollen Beitrag leisten. Allerdings enthalten Erdnüsse auch relativ viel Phytat, das die Aufnahme der enthaltenen Mineralstoffe einschränkt. Erwähnenswert ist der bei Erdnussprodukten sehr hohe Gehalt an semi-essentiellem Arginin.
Gesundheitliche Gefahren
Eine repräsentative Untersuchung in den Vereinigten Staaten aus dem Jahr 2003 ergab, dass etwa 1,2 % der Bevölkerung gegen Teile der Erdnuss allergisch sind. Dieses Ergebnis deckt sich mit einer anderen Untersuchung aus dem Jahr 1997. Im Vergleich zu anderen Lebensmitteln ist das allergene Potential der Erdnuss vergleichsweise hoch. Dies liegt an der hohen Zahl der Erdnussallergene.
Die Symptome einer akuten Erdnussallergie sind sehr unterschiedlich, häufig sind jedoch Nesselsucht, tränende Augen oder Atembeschwerden. In seltenen Fällen können die Symptome aber auch sehr schwerwiegend sein oder sogar einen anaphylaktischen Schock auslösen.
Ein anderes Problem ist, dass Erdnüsse unter schlechten Lagerbedingungen von Aspergillus flavus, einem Schimmelpilz, befallen werden können, der giftige Aflatoxine in den Erdnüssen produziert. Aus diesem Grund werden sowohl in den USA als auch in der Europäischen Union strenge Einfuhrkontrollen durchgeführt.
Rohe Erdnüsse enthalten Lektine, denen nachgesagt wird, dass sie rote Blutkörperchen verklumpen und ab einer bestimmten Menge zu Beschwerden führen können. Da Erdnüsse in der Regel geröstet verzehrt werden, besteht die Gefahr nicht.
Krankheiten
Der Rostpilz Puccinia arachidis befällt die Erdnuss.
Synonyme
Bekannte Synonyme sind: Aschanti-, Arachis- oder Kamerunnuss. Es existierten auch die Bezeichnungen Erdeichel, Erdpistazie und Mundubibohne. Das Lebensmittel-Lexikon führt noch weitere Namen auf: Burennuss, Erdbohne, Javanuss, Kurunuss, Mandubinuss und Erdmandel.
Literatur
Ren Sa, Alfonso Delgado Salinas: Aeschynomeneae.: Arachis. S. 132 - textgleich online wie gedrucktes Werk, Wu Zheng-yi, Peter H. Raven, Deyuan Hong (Hrsg.): Flora of China. Volume 10: Fabaceae, Science Press und Missouri Botanical Garden Press, Beijing und St. Louis 2010, ISBN 978-1-930723-91-7. (Abschnitt Beschreibung).
S. I. Ali: Papilionaceae in der Flora of Pakistan: Arachis - online. (Abschnitt Beschreibung).
Walter H. Schuster, Joachim Alkämper, Richard Marquard & Adolf Stählin: Leguminosen zur Kornnutzung: Kornleguminosen der Welt, Justus-Liebig-Universität Gießen, 1998.: Joachim Alkämper: Die Erdnuss (Arachis hypogaea).
Ingrid und Peter Schönfelder: Das neue Buch der Heilpflanzen. Franckh-Kosmos, Stuttgart 2011, ISBN 978-3-440-12932-6.
Weblinks
Sabine Schmidt: allum.de – Allergie Umwelt Gesundheit: Erdnuss.
Einzelnachweise
Dalbergieae (Tribus)
Ölsamen
Schalenobst
Hülsenfrüchte als Thema
Ölpflanze
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Q37383
| 184.299421 |
261715
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https://de.wikipedia.org/wiki/Newtonmeter
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Newtonmeter
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Der oder das Newtonmeter ist die SI-Einheit für die vektorielle Größe Drehmoment sowie für die skalaren Größen Energie und Arbeit (insbesondere mechanische Energie und Arbeit). Für Energie und Arbeit, nicht aber für Drehmoment, kann äquivalent der Name „Joule“ verwendet werden.
Das Einheitenzeichen für das Newtonmeter ist N m oder N·m. Nach den Formatierungsregeln des Internationalen Einheitensystems müssen die beiden Einheitenzeichen N und m stets durch einen Zwischenraum oder einen Multiplikationspunkt getrennt werden, in der Praxis wird dieses Leerzeichen jedoch meist nicht verwendet. Die Reihenfolge der Faktoren soll nicht vertauscht werden, um eine Verwechslung mit mN = Millinewton auszuschließen.
Drehmomenteinheit
Ein Newtonmeter ist der Betrag des Drehmoments , das eine Kraft von einem Newton bei einem Hebelarm von einem Meter erzeugt, wenn der
Hebelarm senkrecht zur Kraft steht.
Energieeinheit
Ein Newtonmeter ist die mechanische Arbeit , die verrichtet wird, wenn der Angriffspunkt einer Kraft von einem Newton entlang ihrer Wirkungslinie um einen Meter verschoben wird. Die Wegstrecke liegt hier, im Gegensatz zum Fall des Drehmoments, in der gleichen Richtung wie die Kraft:
Als Energieeinheit trägt der Newtonmeter den speziellen Namen Joule (J): . Der Name „Joule“ wird für Größenangaben von Arbeit und Energie weit häufiger verwendet als „Newtonmeter“; für Drehmomente darf er nicht verwendet werden.
Umrechnungsfaktoren
Die Einheiten sind mit verschiedenen Vorsätzen für Maßeinheiten (SI-Präfixen) in Verwendung. Neben der SI-Einheit N m sind noch gebräuchlich (aber nicht bzw. nicht mehr gesetzliche Einheiten im deutschen Sprachraum):
(Foot · Pound) – angloamerikanisches Maßsystem
(Kilopond · Meter) – technisches Maßsystem
Einzelnachweise
Energieeinheit
Isaac Newton als Namensgeber
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Q215571
| 89.376361 |
6670570
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https://de.wikipedia.org/wiki/.id
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.id
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.id ist die länderspezifische Top-Level-Domain (ccTLD) Indonesiens. Sie wurde am 27. Februar 1993 eingeführt und wird von der Vergabestelle PANDI verwaltet.
Eigenschaften
Domains wurden ursprünglich ausschließlich auf dritter Ebene ausgegeben. Seit dem 17. August 2014 sind auch Registrierungen auf der zweiten Ebene (Second-Level-Domain) allgemein möglich.
Insgesamt gibt es 12 verschiedene Domain-Endungen:
.id Allgemein
ac.id akademische Institutionen
biz.id kleine und mittlere Unternehmen (business)
co.id große kommerzielle Unternehmen (company)
desa.id Indonesiens 72,944 Dörfer mit örtlicher Autonomie
go.id Regierung des Landes (government)
mil.id Streitkräfte (military)
my.id Einzelpersonen, Blogger
net.id Internet Service Provider
or.id für gemeinnützige Organisationen
web.id Einzelpersonen und informelle Institutionen
sch.id Schulen
Weblink
Offizielle Website der Vergabestelle
Einzelnachweise
Medien (Indonesien)
Länderspezifische Top-Level-Domain
Technik (Indonesien)
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Q41102
| 87.18886 |
5541079
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https://de.wikipedia.org/wiki/Scalidophora
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Scalidophora
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Die Scalidophora (Gr.: Skaliden Tragende) sind ein rangloses Taxon, in dem drei Stämme wirbelloser Tiere vereint werden, die Priapswürmer (Priapulida), die Korsetttierchen (Loricifera) und die Hakenrüssler (Kinorhyncha). Alle Arten der Gruppe sind bodenbewohnende Meerestiere.
Merkmale
Die Scalidophora haben als gemeinsames Merkmal einen Körper, der sich in drei Abschnitte gliedern lässt, der Vorderkörper, Introvert genannt, der „Hals“ und der Rumpf oder Hinterkörper.
Das Introvert wird von einem ausstülpbaren Rüssel gebildet, mit dessen Hilfe die Scalidophora sich fortbewegen können und der auch die Sinnesorgane trägt. Er ist von speziellen Schuppen, den Skaliden bedeckt. Jede Skalide enthält Sinneszellen, ist innen hohl und endet in einer terminalen Pore. Die Beweglichkeit des Introvert wird durch Rückziehmuskeln gewährleistet, die in zwei Ringen angeordnet und an langen Ektodermzellen ansetzen. An der Spitze des Introverts liegt der Mund, der von Sinneszellen umgeben ist, direkt dahinter befindet sich das Gehirn. Das Introvert ist radiär symmetrisch. Die außen liegende Körperdecke (Endokutikula) enthält Chitin.
Legende für das Bild:
Körperabschnitte (rechts):
mc = Mundkegel
in = Introvert
nk = Nacken
tk = Rumpf
Organe (links):
os = Mundstilette
rb = ringförmiges Ganglion
sc = Skalide
ng = Ganglion
ir = Introvertretraktoren
vn = ventraler Nervenstrang
gn = Gonade
gt = Darm
pn = Protonephridien
cg = Caudalganglion
ca = Borsten
Die meisten Arten der Scalidophora sind sehr klein, Korsetttierchen erreichen Längen von nur 100 bis knapp 500 Mikrometern, Hakenrüssler werden zwischen 200 Mikrometern und einem Millimeter und Priapswürmer zwischen 0,05 Zentimetern und 39 Zentimetern lang.
Die Scalidophora lassen sich seit dem Kambrium fossil nachweisen (z. B. Markuelia) und stellen nur noch den Rest einer einst sehr viel artenreicheren Gruppe dar.
Literatur
Hynek Burda, Gero Hilken, Jan Zrzavý: Systematische Zoologie. UTB, Stuttgart; : 1. Aufl. 2008, Seite 143–142, ISBN 3825231194
Weblinks
Vielzellige Tiere
Metazoa
sk:Chobotnohlavce
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Q1085980
| 106.832239 |
84900
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https://de.wikipedia.org/wiki/Pal%C3%A4obotanik
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Paläobotanik
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Die Paläobotanik ist die Wissenschaft von den fossilen Pflanzen. Sie ist ein interdisziplinäres Forschungsgebiet aus Paläontologie und Chorologie.
Die ersten Pflanzen besiedelten das Land bereits im Ordovizium. Funde von gut erhaltenen Pflanzenresten gibt es aus dem späten Silur und vor allem aus dem Unterdevon. Eine der wichtigsten Fundstellen ist Rhynie in Schottland, wo auch die ersten Fossilien der 400 Millionen Jahre alten Landpflanze Rhynia gefunden wurden. Diese Pflanzen gehören wie die heutigen Farne zu den Sporenpflanzen.
Im Oberdevon kamen die ersten Samenpflanzen auf. Aus dem Karbon sind viele Funde der Pflanzen bekannt, die die sogenannten Steinkohlenwälder bildeten. Häufig kann man in Kohleflözen typische Formen wie Calamiten oder Lepidodendren finden. Die ersten Funde von Nadelbäumen stammen aus der Zeit des Westfaliums (Oberkarbon).
Die Grenzen der paläobotanischen Zeitabschnitte stimmen nicht immer mit denen der Paläozoologie überein, da die Entwicklung der Tierwelt stets von der Evolution der Pflanzen abhängig ist und daher erst in der Folge ihre größte Entfaltung erreicht. Der Geologe Kurd von Bülow schlug daher im Jahr 1941 eine Orientierung am Entwicklungsgang der Pflanzenwelt für die Grenzziehung der Erdzeitalter vor. Diese entspricht der noch heute gültigen und im deutschsprachigen Raum allgemein anerkannten Einteilung. Jedoch konnte sie sich in der englischsprachigen paläobotanischen Literatur nicht vollständig behaupten. Da häufig fossile Pflanzenteile als Zeitmarker fehlten, wurden überwiegend tierische Fossilien herangezogen, weshalb oftmals der zoologischen Einteilung der Vorzug gegeben wird.
Ferner beschäftigt sich die Paläobotanik oder auch Archäobotanik, als Nachbardisziplin der Archäologie, mit den Nutzpflanzen des Menschen.
Literatur
Michael J. Benton, David A. T. Harper: Introduction to Paleobiology and the Fossil Record. John Wiley & Sons, 2009, ISBN 1-4051-4157-3.
Karl Mägdefrau: Paläobiologie der Pflanzen. Fischer, Jena 1968.
Wilson N. Stewart, Gar W. Rothwell: Paleobotany and the Evolution of Plants. Cambridge University Press, 2010, ISBN 0-5211-2608-8.
Edith L. Taylor, Thomas N. Taylor, Michael Krings: Paleobotany: The Biology and Evolution of Fossil Plants. Academic Press, 2009, ISBN 0-1237-3972-1.
Weblinks
Links for Palaeobotanists – ein kommentiertes Link-Verzeichnis (englisch)
Paläobotanik im Mineralienatlas WiKi
Einzelnachweise
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Q192694
| 223.643091 |
3362978
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https://de.wikipedia.org/wiki/Recycling
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Recycling
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Beim Recycling (gelegentlich als RC abgekürzt) bzw. bei der Müllverwertung werden Abfallprodukte wiederverwertet bzw. deren Ausgangsmaterialien werden zu Sekundärrohstoffen. Die so produzierten Stoffe werden als Recyclat/Rezyklat oder Regenerat bezeichnet.
Gesetzlich wird erst von „Recycling“ gesprochen, wenn der Rohstoff zuvor als „Abfall“ einzustufen war; andernfalls handelt es sich um „Wiederverwendung“. Der umgangssprachliche Gebrauch des Begriffs Recycling umfasst oft beide Bedeutungen.
Der Begriff „Recycling“ ist ein Lehnwort aus dem Englischen (recycling – ausgesprochen [] – für „Wiederverwertung“ oder „Wiederaufbereitung“); etymologisch leitet es sich vom griechischen kýklos (Kreis) sowie dem lateinischen Präfix re- (zurück, wieder) ab.
Einordnung und Abfallhierarchie
Gemäß EU-Vorgaben besteht folgende Abfallhierarchie, die allen Rechtsvorschriften und politischen Maßnahmen im Bereich der Abfallvermeidung und -bewirtschaftung als Prioritätenfolge zugrunde liegt:
Abfallvermeidung: Hierzu gehört unter anderem auch das Verbot von umweltgefährdenden Stoffen wie PCB und FCKW.
Vorbereitung zur Wiederverwendung: Das heißt eine erneute Nutzung des Guts wie bei Mehrweg-Pfandflaschen oder Second-Hand-Nutzung.
Recycling durch stoffliche Verwertung: Definierte Abfallstoffströme oder Teile davon werden aufbereitet, um daraus wieder vermarktungsfähige Sekundärrohstoffe zu gewinnen.
sonstige Verwertung, z. B. durch energetische Verwertung: Die Stoffe werden verbrannt oder vergast, jedoch mit dem alleinigen Ziel der Energiegewinnung.
Beseitigung, z. B. durch Deponieren.
Entgegen dem häufig etwas unklaren allgemeinen Sprachgebrauch beinhaltet Recycling demnach nur den Punkt 3) dieser Liste. Recycling wird gemäß EU-Richtlinie definiert als jedes Verwertungsverfahren, durch das Abfallmaterialien zu Erzeugnissen, Materialien oder Stoffen entweder für den ursprünglichen Zweck oder für andere Zwecke aufbereitet werden. Es schließt die Aufbereitung organischer Materialien ein, aber nicht die energetische Verwertung und die Aufbereitung zu Materialien, die für die Verwendung als Brennstoff oder zur Verfüllung bestimmt sind.
Hat ein Abfallgegenstand das Ende der Abfallhierarchie erreicht und soll beseitigt werden, ist dies gemäß KrWG nur in den dafür zugelassenen Anlagen (z. B. Deponien) vorzunehmen. Die Nichteinhaltung kann mit einem Bußgeld nach Abs. 1 Nr. 2 KrWG, in schweren Fällen auch ein Strafverfahren aufgrund ff. Strafgesetzbuch nach sich ziehen.
Downcycling und Upcycling
Das Ausgangsprodukt entscheidet darüber welche Recyclingrouten möglich sind, und damit ob die Qualität das gewonnene Recyclates höher (Upcycling) oder niedriger (Downcycling) ausfällt. Viele vermischte oder verschmutzte Stoffe können nicht ökonomisch aufbereitet werden ohne die Stoffeigenschaften oder die Verarbeitbarkeit zu verschlechtern. Hier ist nur ein Downcycling in Produkte niedriger Qualität möglich. Andere Stoffe können mit wenig Aufwand sortenrein getrennt werden oder verbessern durch das Recycling bzw. Upcycling ihre Eigenschaften zu Produkten höherer Qualität.
Die Verwertung von Kunststoffabfällen ist in der Regel ein Downcycling, da Polymere bei der Wiederverarbeitung dazu neigen, zu degradieren. Der Grad der Degradation hängt vom gewählten Aufbereitungsverfahren, dem Grundpolymer sowie dem Gehalt an Additiven ab. Gerade die Additive oder Kontamination können den thermisch-oxidativen Abbau der Molekülketten bei der Verarbeitung stark herabsetzen. In einigen Fällen erreicht der verwertete Kunststoff durchaus das Eigenschaftsniveau der Originalware, insbesondere bei hoher Qualität und Sortenreinheit der Ausgangsstoffe. In der Textilindustrie lassen sich Naturfasern besser und häufiger recyceln als kürzere Synthetikfasern.
Reststoffe, die während des Recyclingvorganges bestimmter organischer Materialien anfallen, werden Spuckstoffe genannt.
Bei der Wiederaufarbeitung von Kernbrennstoffen ist kein vollständiges Recycling möglich. Nach der Abtrennung und Entsorgung der Spaltprodukte können die restlichen Bestandteile des Kernbrennstoffs jedoch wieder zur Produktion neuer Brennelemente genutzt werden.
Nach Sekundärrohstoff
Kunststoffe
Die Verwertung von Kunststoffabfällen beginnt in der Regel mit dem Schreddern und Zerkleinern. Die sortenreinen Teile können wieder für die Primärverarbeitung gemischt oder granuliert werden. Vermischte Rohstoffe können chemisch oder thermisch z. B. durch Hydrierung, Thermolyse, Pyrolyse verarbeitet werden. Letztlich werden stark verschmutzte Abfälle nur noch energetisch genutzt, indem sie verbrannt oder in der Zementherstellung beigemischt werden.
Der Gesamtenergieverbrauch bei der Wiederaufbereitung wird vielfach überschätzt. Mit nicht mehr als rund 10 bis 15 MJ/kg Polymer (Thermoplast) ist bei Teilen, die eine Einzelmasse von mehr als 100 g besitzen, die komplette Aufbereitung durchführbar.
Recycling lässt sich in unterschiedliche Arten unterteilen. Beim Kunststoffrecycling wird z. B. in werkstoffliches Recycling, bei welchem Altkunststoffe zu neuen Kunststoffprodukten verwertet werden, und in chemisches Recycling, bei welchem Kunststoffe in kleinteilige, wiederverwertbare Bausteine aufgespalten werden, unterschieden. Polystyrol wird beispielsweise zu 30 bis 50 % werkstofflich recycelt.
Metalle
Metalle werden üblicherweise in hohem Maße recycelt, da die Gewinnung aus Erz sehr aufwändig und kostenintensiv ist. Ein Umschmelzen bedarf nur eines Bruchteils der Energie und Rohstoffkosten. In einem Schmelzofen, häufig Hochofen oder Lichtbogenofen, werden Legierungen aufgetrennt und die Schmelze in eine neue Form gegossen und der Metallwirtschaft zugeführt. Bestimmte Legierungselemente, die sich aufgrund ihrer Stoffeigenschaften chemisch und physikalisch ähnlich verhalten, lassen sich hingegen nur bedingt oder mit großen Aufwand trennen.
In Elektroschrott sind häufig wertvolle Metalle und seltene Erden in kleinen Mengen enthalten, was das stoffliche Recycling lukrativ, aber auch aufwendig macht. Je nach Komplexität und Schadstoffgehalt muss das Gerät oder die Baugruppe manuell demontiert werden, bevor eine maschinelle Verarbeitung (z. B. Schredder) vorgenommen werden kann. In der Europäischen Union werden nur etwa die Hälfte des Elektronikschrotts dem Recycling zugeführt.
Stahl
In der Praxis wird Stahl zuerst aus Erz hergestellt (Primärerzeugung) und dann oft mehrfach recycelt (Sekundärproduktion). Stahl ist mit 500 Mio. t pro Jahr der weltweit meistrecycelte Industriewerkstoff. Die Recyclingquote von Stahl liegt bei 70 %, die von einzelnen Stahlanwendungen z. T. bei deutlich über 90 %.
Kupfer
Kupfer erreicht in Deutschland eine Recyclingrate von gut 50 % (Stand 2020), weltweit sind es etwa ein Drittel. Kupferprodukte sind in der Regel sehr langlebig und im Bedarf stetig steigend. Unter Annahme einer durchschnittlichen Lebensdauer von ca. 33 Jahren und unter Beachtung der Produktionskapazitäten ergibt sich ein Anteil von wiederverwertetem Kupfer in Höhe von ca. 80 Prozent.
Aluminium
Wenn Aluminiumlegierungen sortenrein gesammelt und recycelt werden, können die entsprechenden Legierungen aus dem resultierenden Umschmelzaluminium ohne Qualitätsverlust recycelt werden. Da verschiedene Legierungselemente (z. B. Magnesium) beim Umschmelzen nicht entfernt werden können, kommt es bei nicht sortenreiner Erfassung zum Downcycling. In Europa stammen ca. 52 % des produzierten Aluminiums aus der Recyclingroute, weltweit sind es ca. 30 %.
Glas
Altglas wird im Allgemeinen in öffentlichen Glascontainern gesammelt und nach Farben getrennt. Die Farbtrennung ist wichtig für den Recyclingprozess, denn eine grüne Sektflasche beispielsweise führt zu ungewollten Farbstichen im Schmelzprozess für farbloses Glas. In Deutschland werden jährlich rund 2 Mio. t Recyclingglas gesammelt. Die Recyclingquote beträgt 87 % und in der Schweiz 94 %. Die gesammelten Glasverpackungen sind Rohstoff für die Produktion neuer Glasverpackungen. Ihr Anteil kann 60–90 % am Rohstoffgemenge im Glaswerk sein (bei Grünglas etwa 90 %, bei Weißglas etwa 60 %).
Boden
Im Zuge von Erdbauarbeiten anfallende Böden, mineralische Baustoffe und Ersatzbaustoffe können im Rahmen von Tiefbauarbeiten ausgehoben, aufbereitet und zu einem späteren Zeitpunkt wieder in den Boden eingebaut werden.
Batterien und Akkumulatoren
Für gebrauchte Batterien besteht in Deutschland eine gesetzliche Rückgabepflicht für Verbraucher und eine Rücknahmepflicht für Handel, öffentlich-rechtliche Entsorgungsträger, Hersteller und Importeure. Die Zweitnutzung von Batterien kann kostengünstige ortsfeste Zwischenspeicherung für elektrische Energie zwischen dem öffentlichen Netz und privaten Verbrauchern/Erzeugern oder Haushalten ermöglichen.
Durch Kombination von Elektrolytrückgewinnung, mechanischen, hydrometallurgischen und pyrometallurgischen Verfahren können theoretisch bis zu 90 % der Materialien einer Batteriezelle stofflich recycelt werden. Besonders relevant sind dabei die Gewinnung von Blei, Kupfer, Aluminium, Graphit, Mangan, Kobalt, Nickel, Lithium und organische Karbonate des Elektrolyts. Recyclingverfahren für Lithium-Ionen-Akkumulatoren sind komplex, aber technisch machbar.
Ebenso wichtig ist es, durch getrenntes Sammeln von Altbatterien Müll von Giftstoffen, konkret Blei, Nickel, Cadmium, Quecksilber und der ätzenden Schwefelsäure zu entlasten.
Auch kleine Batterien werden oft händisch sortiert, eine klare Markierung des Materialtyps am Gehäuse fehlt bis heute (2022).
Geschichte
Vor der Industrialisierung bestand der Abfall hauptsächlich aus den Exkrementen von Menschen und Tieren, aus Lebensmittelabfällen, Ton- oder Glasscherben und wahrscheinlich auch Asche von den Feuerstellen. Die wohl älteste Form des Recyclings ist die traditionelle Düngemittelnutzung von pflanzlichen und tierischen Abfällen, insbesondere Ernteresten, Mist und Gülle, in der Landwirtschaft, die wohl so alt ist wie diese selbst. Diese vollständige Wiederverwertung ist Basis der Subsistenzwirtschaft. Im antiken Rom wurden die Exkremente eingesammelt und den Bauern im Umland verkauft. Im Mittelalter verfiel diese Organisation größtenteils – Exkremente und Abfälle wurden teilweise einfach nur auf die Straße gekippt und allenfalls von Haustieren „verwertet“. Später waren es Schrott- und Lumpensammler, die sich um das Einsammeln, Sortieren und Weiterleiten von wiederverwertbarem Material kümmerten. Die „Wegwerf-Mentalität“ der Industriezeit existierte aufgrund des Mangels an Gütern wie leeren Flaschen, gebrauchten Holz- oder Metallgegenständen und Ähnlichem nicht. Es war selbstverständlich, diese Gegenstände weiter zu verwerten. Aus Lebensmittelabfall wurde Haustierfutter, aus Knochen und Haaren wurden nützliche Dinge und aus Lumpen wurde Papier hergestellt. Holz- und Papierabfälle verheizte man und Metallteile wurden sowieso eingeschmolzen oder umgeschmiedet.
Mit der Industrialisierung veränderte sich auch Menge und Zusammenstellung des Mülls, so dass in London erste Kehrichtöfen entstanden, später auch die ersten Deponien. Im Ersten Weltkrieg wurde mit großem Propagandaerfolg für die Sammlung auch von wieder verwertbaren Abfällen geworben.
Auch im 2. Weltkrieg wurde Eisen und Buntmetall für Waffen und Munition so knapp, dass wiederum Haushalte zur Abgabe von Metallgegenständen aufgerufen wurden und ein hoher Anteil an Kirchenglocken aus Bronze eingeschmolzen wurde.
Als die Menschen nach den Weltkriegen zu immer mehr Wohlstand gelangten und sich auch Luxusgüter leisten konnten, zu denen auch eine aufwändigere Verpackung gehörte (Flaschen, Alufolie, Frischhaltebeutel, Blechdosen, Kunststoffflaschen), standen die Industrieländer vor einem akuten Müllnotstand. Ein normaler Haushalt, der vor 150 Jahren mit etwa 150 Dingen auskam, verwendete nun mehr als 20.000 Gegenstände, vom Zahnstocher bis zum Haarfestiger, vom Kleiderschrank bis zur Heftzwecke, und produzierte beispielsweise in der Bundesrepublik in den 1970er Jahren im Durchschnitt eine Hausmüllmenge von 4,7 kg pro Einwohner und Woche, das sind 244 kg pro Einwohner und Jahr. Dieser wurde großteils nicht mehr wiederverwendet, sondern weitgehend vollständig deponiert. Wiederverwendung war nur in Notzeiten, besonders während und nach Kriegen, ein Thema.
Der Club of Rome publizierte um 1970 Grenzen des Wachstums, eine Abschätzung.
Erst mit Aufkommen der grünen Bewegung in den 1970/80er-Jahren begann ein Umdenken und die Einsicht verbreitete sich, dass Müllentsorgung einen der Hauptfaktoren der Umweltverschmutzung darstellt. Gleichzeitig entstand einerseits ein Bewusstsein um die Begrenztheit natürlicher Ressourcen insgesamt (etwa nach dem Ölschock der frühen 80er-Jahre), andererseits wurde das Deponieren etwa in urbanen Ballungsräumen wie Megastädten zunehmend undurchführbar. Erste Anfänge zurück zu einer neuen Wiederverwertung war die anfangs freiwillige Mülltrennung, die zum Sinnbild einer ganzen Generation in der westlichen Welt wurde. Ausgehend von Altpapier-Wiederverwendung wurden zunehmend Technologien erarbeitet, die die Wiederaufbereitung aller Arten von Altstoffen wirtschaftlich machen, wodurch Abfall zu einem bedeutenden Wirtschaftsgut wurde: Geprägt wurde dafür der Ausdruck Sekundärrohstoff.
Zunehmende Bedeutung erlangt das Recycling auch bei Elementen, deren Vorkommen begrenzt sind oder deren Gewinnung aufwändig ist. Das trifft besonders auf die in der Elektro- und Elektronikindustrie häufig verwendeten Seltenen Erden zu, die früher mit den weggeworfenen Geräten auf dem Müll landeten.
Wirtschaftstheorie
Die neoklassische Wirtschaftstheorie bietet keinen theoretischen Rahmen für das Recycling, weil sie vom Individuum ausgeht, das seinen Nutzen maximieren will. Die Neoklassik modelliert den Wirtschaftsprozess mit einer Produktionsfunktion, wobei das Produkt wesentlich verschieden ist von den eingesetzten Produktionsfaktoren. Um Recycling zu modellieren, braucht es ein zyklisches Wirtschaftsmodell, wie es Piero Sraffa vorgeschlagen hat. In seiner Theorie der Kuppelproduktion können unerwünschte und schädliche Nebenprodukte und Abfälle der Produktion als Kuppelprodukte mit negativen Preisen aufgefasst werden. Erst wenn die Abfälle als Rohstoffe in den zyklischen Produktionsprozess zurückgeführt werden können, werden ihre Preise positiv.
Nationales
Deutschland
Schrott wird schon seit Urzeiten teils wiederverwertet, Eisenteile etwa durch Umschmieden. Besonders in Zeiten der Kriegswirtschaft wird auf Metallgegenstände des zivilen Gebrauches zurückgegriffen zwecks Sekundär-Rohstoffgewinnung zur Waffenproduktion, wie etwa 1940 unter dem Motto Metallspende des deutschen Volkes.
Die Verwertung von Fasern aus verwertbaren Altkleidern beherrschten bereits Papiermühlen der Renaissance. Altpapier-Wiederverwertungsverfahren gab es schon seit 1774, sodann beschrieben von Justus Claproth. Erst später kam es zur Anwendung in größerem Maßstab, verstärkt in Zeiten der Kriegswirtschaft. Mit zunehmendem Umwelt- und Kostenbewusstsein ab den 1980er Jahren wuchs die Nachfrage nach Recyclingpapier erheblich, so dass der Altpapiermarkt unter Recyclingunternehmen bereits umkämpft ist.
In den 1960er Jahren begann die DDR vermittels Altstoffsammlungsaktionen und dem SERO-System der VEB Kombinat Sekundär-Rohstofferfassung Rohstoffe, unter anderem zwecks Deviseneinsparung, systematisch mehrfach zu nutzen. Dabei gab es festgelegte Rücknahmepreise für verschiedene Altmaterialien.
In den 1970er Jahren wurden Umweltschutz und Abfallvermeidung zum offiziellen Aufgabengebiet der Bundesrepublik erklärt: 1972 wurde das erste Abfallbeseitigungsgesetz der BRD beschlossen, 1975 das Abfallwirtschaftsprogramm '75 der Bundesregierung und 1986 die TA Luft für die Vermeidung von Emissionen durch Abfälle und ihre Behandlung. Hinzu kamen später die Altölverordnung, die Verpackungsverordnung und 1996 das Kreislaufwirtschafts- und Abfallgesetz (KrW-/AbfG). Dieses Gesetz und die zugehörigen Verordnungen verzeichnen detaillierte Vorschriften zur Vermeidung, Verwertung und Ablagerung von Abfällen. Prinzipiell ging es nicht mehr vorrangig um Kapazitätsfragen von Deponien, sondern in erster Linie darum, Müll zu vermeiden, wenn nicht möglich, ihn zu verwerten, und erst wenn dies nicht möglich ist, ihn zu deponieren (vgl. § 4 Kreislaufwirtschafts- und Abfallgesetz). Es folgte der Europäische Abfallkatalog und das Duale System Deutschland (Grüner Punkt).
1994 wurde die Direktive des Umweltschutzes im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland aufgenommen, wo es in Artikel 20a heißt:
Seit 2005 gilt das Elektro- und Elektronikgerätegesetz (ElektroG). Diese Richtlinie nahm die EU-Mitgliedstaaten in die Pflicht, bis zum 13. August 2005 ein funktionierendes E-Schrott-Recycling-System in Betrieb einzurichten und ab Dezember 2006 mindestens vier Kilogramm pro Person und Jahr zu recyclen. Neben gängigem Elektronikschrott fallen auch LED- und Energiesparlampen (Kompaktleuchtstofflampen) unter diese Richtlinie, denn sie enthalten neben Quecksilber und weiteren problematischen Stoffen auch elektronische Bauteile. Die Sammlung wird in Deutschland von dem Retourlogistikunternehmen Lightcycle organisiert und erfolgt unter anderem in mehr als 2100 kommunalen Sammelstellen (Wertstoffhöfen, Schadstoffmobile usw.) und 4000 Sammelstellen im Handel und Handwerk (Drogeriemärkte, Baumärkte, Elektrohandwerker usw.). Für gewerbliche Mengen stehen mehr als 400 Großmengensammelstellen zur Verfügung. Mengen ab einer Tonne (etwa 5000 Altlampen) werden von dem Logistikunternehmen abgeholt.
Eine Systematik wurde durch den Recycling-Code eingeführt, den man im Wesentlichen auf Produkten aus Kunststoff, aber auch auf anderen Gegenständen finden kann.
Als Wiederverwertung sollte in erster Linie eine Wieder-/Weiterverwendung (Second Hand) verstanden werden, auch wenn sich dies in der einschlägigen Gesetzgebung nicht in dieser Form wiederfindet. Direkte Wiederverwendung von gebrauchten Gegenständen und Stoffen ist die am wenigsten energie- und damit am wenigsten CO2-aufwändige Weiternutzung von Ressourcen.
1991 wurde von der Bundesregierung die Verpackungsverordnung erlassen, der zufolge zwecks Müllvermeidung ab einem bestimmten Marktanteil von Einwegverpackungen für Getränke ein Einwegpfand erhoben werden sollte. Dieses Pfand wird seit 2003 auf die meisten Einweg-PET-Flaschen und Getränkedosen erhoben. Die halbautomatische Pfandflaschen-Rücknahme in Supermärkten wurde inzwischen vielerorts entsprechend angepasst durch Rücknahme-Automaten, die Dosen und PET-Einwegflaschen zusammenpressen und separieren von Pfandflaschen, oder ergänzt um entsprechende separate Einwegverpackungs-Rücknahmeautomaten. Für die Getränkedosen wurde dadurch eine Recyclingquote erreicht, die fast dem Ideal der Kreislaufwirtschaft entspricht, während PET-Flaschen teils auch verbrannt oder zu Polyesterfasern verarbeitet werden.
Wertstoffhöfe werden in der Regel in einer Gemeinde in Ergänzung zu den aufgestellten Mülltonnen und der Sperrmüll-Straßensammlung angeboten. Der Einzugsbereich je Einrichtung liegt in Deutschland in der Regel bei 50.000 Haushalten und einem Anlieferungsradius von 15 km. Diese Sammelstellen für die Entsorgung von Abfällen gibt es deutschlandweit. Allein in Berlin sind über 20 Wertstoffhöfe zu finden, wobei die Berliner Stadtreinigung (BSR) in Deutschland als größter kommunaler Entsorger gilt.
Trotz einer Kunststoffrecyclingquote von mehr als 50 Prozent im Jahr 2019 werden der Kosten wegen lediglich etwa sieben Prozent des Verpackungsmülls in Deutschland tatsächlich wiederverwendet, weil der Anschaffungspreis von Neuplastik günstiger ist als der von recyceltem Kunststoff. Zwar verpflichtet § 21 des Verpackungsgesetzes von 2017 die Systeme, Anreize zu schaffen, um die Verwendung von Recyclaten sowie von nachwachsenden Rohstoffen zu fördern. Eine Verwendung von recyceltem Kunststoff, die sich jedoch über die bestehende Freiwilligkeit hinaus verbindlich auf die Herstellung neuer Kunststoffprodukte erstrecken würde, ist hingegen vom Gesetzgeber nicht vorgeschrieben. Die für die Einhaltung des Verpackungsgesetzes zuständige Zentrale Stelle Verpackungsregister warnte im Jahr 2020 vor einer Ineffizienz des Gesetzes.
Seit 2017 gibt es in Deutschland mit der neuen Klärschlammverordnung für die meisten Kläranlagen eine Recyclingpflicht für Phosphor. Phosphor ist ein kritischer Rohstoff. Er wird vor allem als Düngemittel in der Landwirtschaft eingesetzt, aber auch als Futtermittel und in diversen industriellen Anwendungen. Die nutzbaren Reserven sind jedoch begrenzt. Deutschland und Europa sind nahezu vollständig von Importen abhängig. Durch das Phosphor-Recycling aus Klärschlamm könnten rein rechnerisch etwa 40 % des heute eingesetzten mineralischen Phosphordüngers in Deutschland ersetzt werden. Auch Mist und Gülle enthalten große Mengen an Phosphor, die noch nicht optimal genutzt werden.
Österreich
In Österreich ist Recycling heute als zentrale Zielsetzung im § 1 des Abfallwirtschaftsgesetzes (AWG 2002) verankert. Sammel- und Verwertungssysteme sind genehmigungspflichtig, haben die Maßgaben und Zielsetzungen der Umweltgesetze zu erfüllen und unterliegen der Aufsicht des Umweltministers. Sie müssen „für zumindest eine Sammel- und Behandlungskategorie errichtet und betrieben werden“, ob der Betreiber selbst recycelt oder einer Spezialfirma zuführt, bleibt der Geschäftsgebarung überlassen. In der Praxis beruht Recycling auf Organisationen wie der Altstoff Recycling Austria (ARA-System im Verpackungsrecycling) oder dem Baustoff-Recycling Verband (BRV), die eine Schnittstelle zwischen den Verursachern, den Abfallsammlern (Gemeinden, gewerbliche Sammler, Altstoffsammelzentrum) und den spezialisierten Recyclingunternehmen darstellt. Dieses System entwickelte sich auf freiwilligen Kooperationen ab den 1960ern.
Recycling ist in Österreich, das über wenig eigene Massenbodenschätze verfügt und sich schon lange auf Veredelung spezialisiert hat, eine gut entwickelte Branche. Dazu gehört beispielsweise die Spezialstahlindustrie, auch Buntmetall wird vollständig in heimischen Betrieben wiederverwertet, oder die Verarbeitung von Holzabfall zu Werkstoffen (Spanplatten) oder Brennstoffen (Pellets, Pressbriketts) und von Papier und Kartonagen, die zu 100 % recycelt werden, ist gut entwickelt. Insgesamt liegt Österreich beim werkstofflichen Recycling mit einer Quote von 30 % (2011) im guten europäischen Mittelfeld.
In der Gesamtrecyclingquote findet sich Österreich aber seit vielen Jahren an der Spitze aller europäischen Länder. Dies ist insbesondere dem organischen Recycling, also der Wiederaufbereitung biologisch abbaubarer Materialien, zu verdanken. Aus den etwa 4 Millionen Tonnen Bioabfällen (biogene Abfälle ohne Holz und Papier, etwa 8 % des Gesamtabfalls von 52 Millionen Tonnen), davon 700.000 Tonnen Pflanzen- und Speisereste aus Haushalten, etwa dieselbe Menge aus Kleingärten und in der Landwirtschaft und 750.000 Tonnen aus öffentlicher Grünflächenpflege, werden geschätzt 1,5 Millionen Tonnen privat zu Kompost verarbeitet und mindestens 1,3 Millionen Tonnen gewerblich (es gibt etwa 465 technische Kompostierungsanlagen in Österreich), weitere 300.000 Tonnen werden in Biogasanlagen verarbeitet (169 Anlagen, Kapazität bis 1 Million Tonnen). Zusammen mit der traditionellen Düngemittelnutzung in der Landwirtschaft (Mist, Gülle und Ernteabfälle) ist die Recyclingquote bei Bioabfällen sehr hoch, und erreicht mit 33 % im Bereich der Siedlungsabfälle einen europäischen Spitzenwert mit Ausnahmecharakter (Niederlande als Nummer 2: 24 %, EU-27-Durchschnitt 14 %).
Bei den getrennt erfassten Altstoffen aus Haushalten (und ähnlichen Einrichtungen, etwa 1,4 Millionen Tonnen) liegt die Recyclingquote mit 85 % weit über der Gesamtquote, während der gemischte Siedlungsabfall (etwa dieselbe Menge) nur zu 2,1 % stofflich und zu 19,6 % biotechnisch verwertet wird, der Rest wird der thermischen Verwertung zugeführt. Das zeigt, dass die Entwicklungsfelder zum einen eine noch bessere Mülltrennung im Haushalt sind und zum anderen hauptsächlich die Mülltrennung in Gewerbe und Industrie.
900.000 Tonnen Plastikmüll fallen jährlich in Österreich an. Rund 50.000 Tonnen davon entfallen auf Getränkeverpackungen. Das Abfallwirtschaftsgesetz sieht ab 2025 ein Pfandsystem für Flaschen und Dosen vor, mit dem die Recyclingquote verbessert werden soll. Die Sammelquoten von ca. 1,6 Milliarden Kunststoffverpackungen und 0,8 Milliarden Dosen sollen so von 70 % und 37 % im Jahr 2021 auf 90 % gesteigert werden.
Schweiz
Die Schweiz erreicht heute sowohl im Investitions- wie im Konsumgüterbereich beachtliche Recycling-Quoten. So gilt das Land beim Rücklauf von Alu-Dosen mit einer Quote deutlich über 90 % als „Weltmeister“, beim Papier blieb die Sammelmenge trotz rückläufigem Verbrauch von 2007 bis 2011 konstant hoch. Möglich macht dies eine optimierte logistische Organisation und die verursachergerechte Volumengebühr durch eine steuerliche Belastung der Abfallsäcke, die sogenannte Sackgebühr.
Auch in der Schweiz wurde die Verwertung der industriellen Abfallprodukte in der Verfassung verankert:
Der Verein PET-Recycling Schweiz ist für die flächendeckende getrennte Sammlung von PET-Einweggetränkeflaschen verantwortlich. Vetrorecycling ist der Geschäftsbereich der Vetropack, der das gesamte Glas-Recycling übernimmt. Für die Sammlung von Aluminium ist die Igora-Genossenschaft zuständig. Die Getränkekartonsammlung (Schweiz) ist nicht weit verbreitet und wird im Detailhandel erst von Aldi Suisse mit entsprechenden Sammelstellen unterstützt.
Recyclist EFZ ist ein schweizerischer Lehrberuf im Recyclingwesen. Recyclisten verarbeiten Altstoffe zu Wertstoffen und sortieren und lagern diese fachgerecht. Nach der Aufbereitung mit Maschinen und Werkzeugen verladen sie die Wertstoffe sicher und stellen sie für die Wiederverwertung bereit. Nebenprodukte entsorgen sie umweltgerecht. Damit leisten sie einen wichtigen Beitrag zur Schonung der natürlichen Ressourcen.
Italien
2000 wurden in Italien 14,2 % des städtischen Festmülls gesammelt, behandelt und wiederverwertet. 2012 wurden 34,9 % des Mülls wiederverwertet, 2014 45,2 %, 2016 52,5 % und 2017 55,5 %.
Siehe auch
Kreislaufwirtschaft
Sharing Economy
Baustoffrecycling
Konzepte Recyclingkreislauf, Recyclinggerechte Konstruktion, Grüne IT, Recycling-Code, Recycling-Designpreis
Rohstoffrückgewinnung
Altlampen-Recycling, Betonrecycling, Recycling von digitalen Datenträgern, Getränkekartonrecycling, Papierrecycling, Urban Mining, Wasseraufbereitung
Downcycling
Fahrzeugrecycling, Elektronikschrott (Elektro-/Elektronikrecycling), Kunststoffrecycling, Kernschrott
Abfallentsorgung
Bioabfall
Weiterverwendung von Gegenständen
Abfallbanken, Abfallbörsen, Flohmärkte, Secondhandladen, Brockenhaus, Bring- und Holtag, Refurbishing, Remarketing, Umsonstladen, Freecycle, Containern, Repair-Cafés, Sozialkaufhäuser
Literatur
Johannes Brandrup, Muna Bittner, Walter Michaeli, Georg Menges: Die Wiederverwertung von Kunststoffen. / Herausgegeben v. Johannes Brandrup. Hanser Verl., München 1995, ISBN 3-446-17412-5.
Klaus Grefermann, Karin Halk, Klaus-Dieter Knörndel: Die Recycling-Industrie in Deutschland. (Ifo-Studien zur Industriewirtschaft; 58) Ifo-Institut für Wirtschaftsforschung, München 1998, ISBN 3-88512-349-5.
Hans Martens, Daniel Goldmann: Recyclingtechnik: Fachbuch für Lehre und Praxis. 2. Aufl., Springer Vieweg, Berlin 2016, ISBN 978-3-658-02785-8.
Heike Weber: Müll und Recycling. Der Glaube an das technische Schließen von „Stoffkreisläufen“. In: WerkstattGeschichte 85 (2022), S. 13–34.
Weblinks
ask-eu.de –– „Wissensplattform ASK; ständig aktualisierte News und Fachbeiträge von Universitäten, Veranstalter, Verbänden und Fachverlagen“
Leschs Kosmos: Der Schatz in der Mülltonne – Das Recycling-Versprechen, ZDF-Mediathek, 6. September 2022
ZDFzoom, Film von Kersten Schüßler, 16. Oktober 2018.
Die Recyclingquote in Deutschland „ist ein einziger Beschiss“. DLF24, Wissen, 14. Oktober 2018.
„Die Welt ist unerträglich, wie sie ist“. Zeit Online, 16. Mai 2013; Interview mit dem Cradle-to-cradle-Miterfinder Michael Braungart.
Christiane Hirsch: Mach Neu aus Alt! deutschlandfunk.de, Lange Nacht 15. September 2012.
Der grosse Recycling-Report. NZZ Folio, Juli 2009.
Anmerkungen
Einzelnachweise
Wikipedia:Artikel mit Video
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Q132580
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499864
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https://de.wikipedia.org/wiki/Oberschenkelknochen
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Oberschenkelknochen
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Der Oberschenkelknochen, in der medizinischen Fachsprache Os femoris oder kurz das Femur, ist der kräftigste Röhrenknochen und bildet die knöcherne Grundlage des Oberschenkels. Er ist der längste Knochen des menschlichen Körpers.
Anatomie
Kopf
Am oberen Ende des Oberschenkelknochens befindet sich sein Kopf (Caput ossis femoris), der mit einer annähernd kugelförmigen Gelenkfläche eine Verbindung mit den Beckenknochen und somit das Hüftgelenk bildet. Der Kopf weist an seinem mittigen Umfang eine leichte Vertiefung auf, die so genannte Hüftkopfgrube (Fovea capitis femoris). Sie ist Durchtrittsstelle für ein Band (Ligamentum capitis ossis femoris), welches die Arterie umschließt, die den Hüftkopf versorgt.
Hals
An den Oberschenkelknochen weiter nach unten (distal), schließt sich an den Kopf der Hals (Collum ossis femoris) an. An ihm befinden sich zwei Vorsprünge:
seitlich der große Rollhügel (Trochanter major). Er dient als Ansatz der Gesäßmuskulatur (Musculus gluteus medius und Musculus gluteus minimus, Piriformis, Obturatores und Gemelli).
mittig der kleine Rollhügel (Trochanter minor). Er dient als Ansatz des Musculus iliacus und des Musculus psoas major.
Die beiden Rollhügel sind bauchwärts (ventral) durch eine flache, raue Linie (Linea intertrochanterica) und rückenwärts (dorsal) durch eine scharfe Leiste (Crista intertrochanterica) verbunden. Zwischen dem großen Rollhügel und dem Oberschenkelknochenhals befindet sich eine Vertiefung (Fossa trochanterica). Sie dient als Ansatz für mehrere Muskeln (Musculus obturator internus, Musculus gemellus superior, Musculus gemellus inferior und Musculus obturator externus).
Einige Säugetiere (z. B. Pferd und Kaninchen) besitzen noch einen dritten Rollhügel (Trochanter tertius).
Fehlstellungen des Schenkelhalses sind:
Coxa vara – verkleinerter CCD-Winkel
Coxa valga – vergrößerter CCD-Winkel
Coxa antetorta – größere Antetorsion als normal
coxa retrotorta – Antetorsion des Schenkelhalses geringer als 0°
Schaft
Unterhalb der Rollhügel beginnt der Oberschenkelknochenschaft (Corpus ossis femoris). Er ist nahezu zylindrisch, aber merklich nach vorne gebogen. Über die Hinterfläche zieht beim Menschen eine raue Längslinie (Linea aspera), welche aus zwei Leisten (Labium mediale und Labium laterale) besteht. - Bei Tieren werden diese „Lippen“ durch eine raue Fläche (Facies aspera) begrenzt. - In der Mitte des Oberschenkelknochenschaftes liegen die beiden Leisten dicht beieinander, an beiden Enden entfernen sie sich voneinander (divergieren). Die seitliche Leiste verbreitert sich nach oben hin (proximal) in eine längliche Rauigkeit (Tuberositas glutaea). Die mittige Leiste läuft flach in die Linie zwischen den Rollhügeln aus und endet direkt unter dem kleinen Rollhügel, der von einer zweiten, parallel verlaufenden Linie (Linea pectinea) direkt erreicht wird. Weiter unterhalb divergieren die beiden Leisten in zwei weitere Linien (Linea supracondylaris medialis und Linea supracondylaris lateralis), die ein nahezu planes, dreieckiges Knochenfeld begrenzen (Facies poplitea). Die Linien und Leisten dienen als Ansatzpunkte für die Heranführungsmuskulatur (Adduktoren).
Unteres Ende
Das verdickte untere Oberschenkelknochenende trägt zwei stark nach außen gekrümmte (konvexe) Gelenkknorren (Condylus medialis und Condylus lateralis). Sie bilden mit dem Schienbeinplateau das Kniegelenk. Die beiden Knorren sind durch eine Grube (Fossa intercondylaris) voneinander getrennt. Diese wird hinten durch eine flache Knochenlinie (Linea intercondylaris) begrenzt. Zwischen den beiden Knorren befindet sich die Kreuzbandhöhle (auch als interkondyläres Notch bezeichnet). Vorne vereinigen sich die Gelenkknorren zu einer gemeinsamen, transversal nach innen gekrümmten (konkaven), sagittal nach außen gekrümmten Gelenkfläche (Facies patellaris) zur Verbindung mit der Kniescheibe (Patella). Die Knorren besitzen jeweils einen Aufsatz, der nur wenig vorspringt (Epicondylus medialis und Epicondylus lateralis). Der seitliche Aufsatz besitzt an seiner Seite eine Furche (Sulcus popliteus).
Winkel
CCD-Winkel
Den Winkel zwischen Oberschenkelhals (Collum) und Knochenschaft nennt man Centrum-Collum-Diaphysen-Winkel (kurz CCD-Winkel).
Der CCD-Winkel verkleinert sich von 137° im 4. bis 5. Embryonalmonat bis auf 129° im 9. Schwangerschaftsmonat und erreicht um die Geburt wieder 137°. Der Winkel beträgt bei Säuglingen 145°, beim Kind etwa 140°, ab der Pubertät 130° beim Erwachsenen etwa 126° und beim alten Menschen etwa 120°.
Da das Hüftgelenk große Kräfte übertragen muss, ist in eine Beurteilung der Achsenverhältnisse zum Beispiel auch die Lage der Gelenkpfanne einzubeziehen. So haben Menschen mit steilen Gelenkpfannen physiologischerweise auch größere CCD-Winkel. Bei pathologisch großen Werten für den CCD-Winkel liegt das klinische Bild des X-Hüfte (Coxa valga) vor (zum Beispiel bei Immobilität nach Muskellähmung), da die Körperlast keinen mechanischen Druck auf den Schenkelhals ausübt. Bei einer proportional zu großen Belastung des Oberschenkelknochenhalses kommt es zu einem O-Hüfte (Coxa vara). Dies kann bei einer herabgesetzten Widerstandsfähigkeit und damit einer gesteigerten Nachgiebigkeit des Knochens (zum Beispiel bei Rachitis) der Fall sein.
Torsionswinkel
Unter dem Torsionswinkel (syn. Antetorsionswinkel oder Anteversionswinkel) versteht man die Verdrehung der Querachsen des distalen und proximalen Femurendes. Das distale Femurende ist dabei im Vergleich zum proximalen um etwa 12–20 Grad nach einwärts (in Richtung Medianebene) gedreht. Dieser Winkel ist beim kindlichen Knochen größer als beim erwachsenen (siehe: Najadensitz).
Erkrankungen
Brüche des Oberschenkelknochens sind relativ häufig, wobei insbesondere Oberschenkelknochenhals (Schenkelhalsfraktur) und -schaft (pertrochantäre Femurfraktur, subtrochantäre Femurfraktur) betroffen sind. Auch distale, also kniegelenksnahe, Brüche des Oberschenkelknochens kommen vor.
Die Gelenkfläche des Oberschenkelkopfes kann durch Verschleißerscheinungen wie Arthrose, mechanische Fehlbelastungen, Verletzungen oder Entzündungen beschädigt werden. Durch eine Operation kann er durch eine Metallprothese (ggf. zusammen mit dem Schenkelhals) ersetzt werden.
Auch die kniegelenksseitigen Gelenkflächen der beiden Knorren (Condylus lateralis und Condylus medialis) sind häufig beschädigt, sodass eine Behandlung (zum Beispiel auch ein operativer Ersatz) notwendig werden kann.
Einzelnachweise
Weblinks
Knochen der unteren Extremität
Knie
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Q176503
| 131.542738 |
114085
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https://de.wikipedia.org/wiki/Wirtschaftspolitik
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Wirtschaftspolitik
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Unter der Wirtschaftspolitik versteht man die Gesamtheit der Maßnahmen, mit denen der Staat regelnd und gestaltend, durch dazu legitimierte Instanzen, in die Wirtschaft eingreift. Wirtschaftspolitik unterliegt dem bestehenden Wirtschaftssystem und bestimmt die Regeln wie die Wirtschaftssubjekte zusammenwirken sollen. Wirtschaftspolitik ist so ein Teilgebiet der allgemeinen staatlichen Politik.
Theorie der Wirtschaftspolitik
Die Theorie der generellen Wirtschaftspolitik ist ein Teilgebiet der Volkswirtschaftslehre und beschäftigt sich mit den Organisationsprinzipien von Wirtschaftssystemen und den wirtschaftlichen Abläufen. Sie wird unterteilt in positive und normative Ökonomik. Die positive Ökonomik beschreibt und erklärt die wirtschaftliche Situation (Diagnose) und versucht, zukünftige Entwicklungen vorherzusagen (Prognose). Die normative Ökonomik beschäftigt sich mit Zielsystemen, Zielkonflikten und Ziel-Mittel-Beziehungen und leitet daraus Handlungsempfehlungen für die Politik ab.
Arten von Wirtschaftspolitik
Grundsätzlich wird Wirtschaftspolitik eingeteilt in Ordnungspolitik, Strukturpolitik und Prozesspolitik. Erstere zielt auf die Rahmenbedingungen ab, unter denen die Wirtschaftssubjekte ihre Entscheidungen fällen, Zweitere beinhaltet Eingriffe in die regionale und sektorale Branchenstruktur, Letztere ist dadurch gekennzeichnet, dass der Staat aktiv in die Marktprozesse eingreift.
Zur Ordnungspolitik zählt insbesondere die Wettbewerbspolitik.
Zur Strukturpolitik gehören Infrastrukturpolitik, regionale und sektorale Strukturpolitik.
Zur Prozesspolitik gehören Arbeitsmarktpolitik, Finanzpolitik, Fiskalpolitik, Geldpolitik, Handelspolitik, Konjunkturpolitik.
Zur Wirtschaftspolitik gehören ebenso die Gebiete der Sozialpolitik und der Währungspolitik.
Wirtschaftspolitische Richtungen
Die beiden Hauptrichtungen sind die
Angebotspolitik (angebotsorientierte Wirtschaftspolitik) stellt die Renditeerwartungen der Kapitalgeber in den Mittelpunkt der Überlegungen. Die Mittel beziehen sich daher überwiegend auf die wirtschaftspolitischen Rahmenbedingungen (Geldwertstabilität, Löhne, Arbeitszeitregelungen, Steuern etc.).
Nachfragepolitik (nachfrageorientierte Wirtschaftspolitik), beschäftigt sich mit der Stabilisierung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung. Die Mittel sind antizyklische Fiskalpolitik (z. B. Ausgabenerhöhung bei schwacher privatwirtschaftlicher Nachfrage bzw. Ausgabensenkung bei Übernachfrage) sowie expansive bzw. kontraktive Geldpolitik.
Zielsystem der Wirtschaftspolitik
Im Zielsystem der Wirtschaftspolitik bestehen viele unterschiedliche Ziele:
Das wirtschaftspolitische Endziel, z. B. das Gemeinwohl, die Maximierung der gesellschaftlichen Wohlfahrt
Die wirtschaftspolitischen Hauptziele
Maximierung der ökonomischen Wohlfahrt
Allokationsziel
Wettbewerbsschutz und Wettbewerbsförderung
staatliche Versorgung mit öffentlichen Gütern
Umweltschutz
Meritorisierung bei verzerrten Präferenzen
Stabilitätsziel
Hoher Beschäftigungsstand
Preisniveaustabilität
Wachstumsziel
Steigerung des realen Pro-Kopf-Einkommens ("quantitatives Wachstum")
Verbesserte Versorgung mit Kollektivgütern ("qualitatives Wachstum")
Außenwirtschaftliches Gleichgewicht
Strukturziel
Förderung der Anpassungsflexibilität des Angebots
Angleichung regionaler Lohn-, Wohn- und Freizeitwerte
Verteilungsziel/Distributionsziel
(Leistungs)Gerechte Einkommensverteilung und Vermögensverteilung
soziale Gerechtigkeit der Verteilung von Einkommen und Vermögen
Die wirtschaftspolitischen Detailziele
Die gesellschaftspolitischen Grundziele, z. B. die Freiheit, die Gerechtigkeit, die Sicherheit und der Fortschritt.
Wirtschaftspolitik und Zielbeziehungen
Im deutschen Stabilitätsgesetz wird das gleichzeitige Erreichen der vier wirtschaftspolitischen Ziele verlangt (siehe auch Magisches Viereck).
Da die genannten Ziele untereinander in Wechselbeziehungen stehen, kann ein bestimmter Eingriff auf irgendeine Weise alle Ziele berühren, was zu einem kaum überschaubaren Wirkungsgefüge führt. Zwischen den Zielen bestehen jedoch unterschiedliche Beziehungen:
Zielkonflikt (Trade-off) oder Zielkonkurrenz liegt vor, wenn eine Maßnahme einem wirtschaftspolitischen Ziel dient, jedoch ein anderes benachteiligt oder ihm abträglich ist. Eine Förderung des einen Ziels geht also auf Kosten eines anderen (siehe auch Phillips-Kurve).
Zielharmonie liegt vor, wenn eine bestimmte wirtschaftspolitische Maßnahme zwei oder mehreren Zielen gleichzeitig dient.
Ob ein Zielkonflikt oder eine Zielharmonie vorliegt, hängt unter anderem auch von der Zeitperspektive (kurz- vs. langfristig) ab.
So scheint das Nachhaltigkeitsziel kurzfristig einen Zielkonflikt mit den anderen Zielen zu haben, da Umweltschutzmaßnahmen Geld kosten. Langfristig ergeben sich jedoch Zielharmonien.
Die vier quantitativen Ziele der Wirtschaftspolitik sind (Magisches Viereck):
hoher Beschäftigungsstand
Preisniveaustabilität
Wirtschaftswachstum
außenwirtschaftliches Gleichgewicht
Qualitative Ziele der Wirtschaftspolitik sind (magisches Viereck zu magischem Sechseck):
Verteilungsgerechtigkeit ( SachvRatG)
Umweltschutz ( GG)
Literatur
Jörn Altmann: Wirtschaftspolitik. Lucius & Lucius, Stuttgart 2007, 382521317X.
Friedrich Breyer, Martin Kolmar: Grundlagen der Wirtschaftspolitik. Mohr Siebeck, Tübingen 2010, ISBN 978-3-16-150193-7.
Juergen B. Donges, Andreas Freytag: Allgemeine Wirtschaftspolitik. Lucius & Lucius, Stuttgart 2009 (Neuauflage), ISBN 3-8252-2191-1.
Hans Peter Grüner: Wirtschaftspolitik: Allokationstheoretische Grundlagen und politisch-ökonomische Analyse (Springer-Lehrbuch) 4. Auflage. 2012, ISBN 978-3-642-28373-4
Ullrich Heilemann, Heinz Gebhardt, Hans Dietrich von Loeffelholz: Wirtschaftspolitische Chronik der Bundesrepublik. Lucius & Lucius, Stuttgart 2003, ISBN 3-8282-0264-0.
Rainer Klump: Wirtschaftspolitik – Instrumente, Ziele und Institutionen. Pearson Studium, München 2006, ISBN 3-8273-7238-0.
Walter A.S. Koch, Christian Czogalla, Martin Ehret: Grundlagen der Wirtschaftspolitik. UTB Lucius & Lucius 2008, ISBN 3-8252-8265-1.
Ralf Kronberger, Reinhold Hofer: Österreichische Wirtschaftspolitik. Facultas, Wien 2012, ISBN 978-3-7089-0763-5.
Weblinks
Zeitschrift für Wirtschaftspolitik
Einzelnachweise
Politikfeld
Wirtschaftswissenschaft
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Q582577
| 152.853761 |
8894
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https://de.wikipedia.org/wiki/Luftfeuchtigkeit
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Luftfeuchtigkeit
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Die Luftfeuchtigkeit oder Luftfeuchte ist der Gewichtsanteil des gasförmigen Wasserdampfs in Luft. In der Luft schwebendes flüssiges Wasser (zum Beispiel Regentropfen, Nebeltröpfchen) oder Eis (zum Beispiel Schneekristalle) werden der Luftfeuchtigkeit folglich nicht zugerechnet. Die Luftfeuchtigkeit ist eine wichtige Kenngröße für zahlreiche technische und meteorologische Vorgänge, für viele Lebensvorgänge bei Lebewesen sowie für Gesundheit und Behaglichkeit der Menschen.
In Abhängigkeit von Temperatur und Druck kann ein gegebenes Luftvolumen nur eine gewisse Höchstmenge Wasserdampf enthalten. Die relative Luftfeuchtigkeit, die das geläufigste Maß für die Luftfeuchtigkeit ist, beträgt dann 100 %. Allgemein gibt die relative Luftfeuchtigkeit, ausgedrückt in Prozent (%), das Gewichtsverhältnis des momentanen Wasserdampfgehalts zu dem Wasserdampfgehalt an, der für die aktuelle Temperatur und den aktuellen Druck maximal möglich ist. Durch die Aufnahme von Wasserdampf wird die Luftdichte verringert, da bei gleich bleibendem Gesamtdruck eine hinzugefügte Anzahl von H2O-Molekülen dieselbe Anzahl von schwereren N2- und O2-Molekülen verdrängt.
Luftfeuchtigkeit
Absolute Luftfeuchtigkeit: Ist die in einem bestimmten Luftvolumen V enthaltene Wasserdampfmasse mW. Übliche Einheit: g/m3.
Maximale Luftfeuchtigkeit: Ist die bei einer bestimmten Temperatur maximal mögliche absolute Luftfeuchtigkeit (fmax). Sie wird erreicht, wenn der Wasserdampfpartialdruck in der Luft so groß wie der Sättigungsdampfdruck des Wassers bei der entsprechenden Temperatur ist. Bei diesem Zustand ist die relative Luftfeuchtigkeit 100 %. Übliche Einheit: g/m3.
Relative Luftfeuchtigkeit: Ist das Verhältnis der tatsächlich enthaltenen zur maximal möglichen Masse an Wasserdampf in der Luft; oder anders ausgedrückt das Verhältnis zwischen der absoluten Luftfeuchte und der maximalen Luftfeuchte. Als Quotient zweier Größen mit derselben Einheit ist dies eine Größe der Dimension Zahl; sie wird meistens in der Hilfsmaßeinheit Prozent angegeben:
Allgemeines
Ein wasserdampffreies Luftgemisch bezeichnet man als trockene Luft. Tabellen zur Zusammensetzung der Luft beziehen sich in der Regel auf trockene Luft, da der Wasserdampfanteil feuchter Luft mit 0 bis 4 Volumenprozent vergleichsweise sehr stark schwankt. Beeinflusst wird die Luftfeuchtigkeit vor allem durch die Verfügbarkeit von Wasser, die Temperatur und den Grad der Durchmischung der Atmosphäre. Höhere Lufttemperaturen ermöglichen eine höhere Wasserdampfkonzentration in der Luft. Bei sehr geringen Konzentrationen von Wasserdampf in der Luft bezeichnet man die Luftfeuchtigkeit auch als Spurenfeuchtigkeit bzw. Spurenfeuchte.
Physikalische Grundlagen
Verdunstung und Kondensation
An einer freien Wasseroberfläche, die flüssiges Wasser vom darüberliegenden Luftvolumen trennt, treten stets einzelne Wassermoleküle vom Wasservolumen in das Luftvolumen über. Im flüssigen Wasser sind die Wassermoleküle durch molekulare Kräfte, vor allem durch die Wasserstoffbrückenbindungen, vergleichsweise stark aneinander gebunden, wodurch sich der zusammenhängende Flüssigkeitsverbund erst ausbilden kann. Infolge ihrer thermischen Bewegung tragen die Wassermoleküle jedoch jeweils gewisse Beträge an kinetischer Energie, die um einen temperaturabhängigen Mittelwert herum streuen (Maxwell-Boltzmann-Verteilung). Ein kleiner Anteil von Wassermolekülen hat daher stets genügend thermische Energie, um die Bindungskräfte der umgebenden Moleküle zu überwinden, die Wasseroberfläche zu verlassen und in das Luftvolumen überzugehen, also zu verdunsten. Die Verdunstungsrate, das ist die Menge an verdunstendem Wasser je Zeitspanne, hängt vom Anteil derjenigen Moleküle ab, deren kinetische Energie die Bindungsenergie des Flüssigkeitsverbundes überschreitet, und wird unter anderem von der herrschenden Temperatur bestimmt.
Umgekehrt treffen verdunstete Wassermoleküle aus der Luft auch wieder auf die Wasseroberfläche und können dort je nach ihrer kinetischen Energie mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit vom Molekülverbund eingefangen werden, also kondensieren. Die Kondensationsrate ist nur vom Partialdruck des Wasserdampfes in der Luft abhängig, nicht aber von dem Anteil des Luftdrucks, den die anderen Bestandteile der Luft liefern.
Vier Größen beeinflussen die Menge dieses Stoffaustauschs:
die Größe der Oberfläche (Verwirbelungen erhöhen diesen Wert im Vergleich zum ruhenden Wasser),
die Temperatur des Wassers,
die Temperatur der Luft und
der Sättigungsgrad der Luft.
Sättigung
Betrachtet man einen Verdunstungsvorgang bei konstanter Temperatur und anfangs trockener Luft, so stellt sich die der Temperatur entsprechende Verdunstungsrate ein, während die Kondensationsrate mangels Wassermolekülen in der Luft zunächst gleich null ist. Die Verdunstungsrate ist also größer als die Kondensationsrate, und die Anzahl von Wassermolekülen in der Luft steigt daher an. Damit wächst auch die Kondensationsrate, und die Nettoverdunstung (Verdunstungsrate minus Kondensationsrate) beginnt zu sinken. Die Dichte der Wassermoleküle in der Luft und damit die Kondensationsrate steigen so lange an, bis Kondensationsrate und Verdunstungsrate gleich sind, pro Zeitspanne also ebenso viele Wassermoleküle vom Wasser in die Luft übertreten wie von der Luft ins Wasser. Dann ist der Gleichgewichtszustand erreicht, in dem die Nettoverdunstung null ist, obwohl ein ständiger Teilchenaustausch zwischen Luft und Wasser stattfindet.
Die im Gleichgewichtszustand vorliegende Konzentration von Wassermolekülen in der Luft ist die Sättigungskonzentration. Steigt die Temperatur, wird sich auch eine höhere Sättigungskonzentration einstellen, da die nun ebenfalls erhöhte Verdunstungsrate zur Erreichung eines neuen Gleichgewichts durch eine höhere Kondensationsrate wieder kompensiert werden muss, was eine höhere Teilchendichte in der Luft voraussetzt. Die Höhe der Sättigungskonzentration hängt also von der Temperatur ab.
Die Sättigungskonzentration wird fast allein durch die Eigenschaften der Wassermoleküle und ihre Wechselwirkung mit der Wasseroberfläche bestimmt, es besteht keine wesentliche Wechselwirkung mit den anderen Atmosphärengasen. Wären jene Gase nicht vorhanden, so würde sich über dem Wasser praktisch dieselbe Sättigungskonzentration einstellen. Die umgangssprachlich gebräuchliche und wegen der Einfachheit auch in Fachkreisen weit verbreitete Ausdrucksweise, die Luft könne bei gegebener Temperatur maximal eine bestimmte Menge an Wasserdampf aufnehmen, ist irreführend. Die Luft nimmt die Feuchtigkeit nicht analog zu einem Schwamm auf, und auch der Begriff der Sättigung darf hier nicht analog zur Sättigung einer Lösung verstanden werden. Die Luft besteht aus selbstständig agierenden Gasteilchen, die im Wesentlichen nur über Stöße wechselwirken. Weder ist also Sauerstoff im Stickstoff, noch Wasserdampf in den anderen Luftbestandteilen gelöst.
(Man stelle sich einen zur Hälfte mit Wasser gefüllten abgeschlossenen Behälter vor, in dem über der Wasseroberfläche ein Vakuum herrscht. Wird der Flüssigkeit kinetische Energie in Form von Wärme zugeführt, so können sich Teilchen mit genügend Energie von der Oberfläche lösen (verdunsten).)
Die Sättigungskonzentration ist somit von der kinetischen Energie der Wasserteilchen abhängig.
Aus demselben Grund wird die Sättigungskonzentration nicht von der Temperatur der Luft bestimmt, sondern von der Temperatur der verdunstenden Oberfläche. Der Bezug auf die Temperatur der Luft ist in der Alltagspraxis oft gerechtfertigt, da verdunstende Flächen geringer thermischer Trägheit meist näherungsweise Lufttemperatur annehmen (zum Beispiel an der Luft trocknende Wäsche). Ist jedoch die verdunstende Oberfläche deutlich wärmer als die Luft, so verdunsten die Wassermoleküle mit einer der Oberflächentemperatur entsprechenden Verdunstungsrate in die kühlere Luft hinein (heiße Herdplatte), auch wenn deren Sättigungskonzentration dabei überschritten wird. Ein Teil der Feuchtigkeit kondensiert dann in der Luft an den kühleren Aerosolen, welche Lufttemperatur angenommen haben, und wird als Dampf- oder Nebelschwaden sichtbar (zum Beispiel Dunstschwaden über einem herbstlichen See). Ist die Oberfläche wesentlich kühler als die Luft, so kann unter Umständen auch der Feuchtigkeitsgehalt teilgesättigter Luft dort zu Übersättigung und Kondensation an der Oberfläche führen (zum Beispiel beschlagene Fenster in Küche oder Bad oder die Wasserzunahme in einem Tauteich). Genauer gesagt kondensiert der Wasserdampf zu Wasser (zu Tau, wenn die Oberflächentemperatur unter dem Taupunkt, oder zu Reif, wenn sie unter dem Reifpunkt liegt, siehe dazu auch unten).
Übersättigung
Erhöht man durch eine Zufuhr von Wassermolekülen deren Konzentration über die Sättigungskonzentration (Übersättigung), so steigt wegen der größeren Dichte an Wassermolekülen in der Luft die Kondensationsrate vorübergehend über die Verdunstungsrate hinaus an und die Konzentration an Wassermolekülen sinkt daher wieder auf den Gleichgewichtswert.
Auch hier ist zu beachten, dass es sich nicht etwa um ein Unvermögen der Luft handelt, den überschüssigen Wasserdampf zu halten. Vielmehr nutzt der Wasserdampf unter diesen Bedingungen eine sich darbietende Kondensationsfläche, um seine Konzentration durch heterogene Kondensation auf die Sättigungskonzentration zu senken. Fehlen solche Kondensationsflächen oder Kondensationskerne, so kann die Luft dauerhaft erhebliche Mengen von Wasserdampf aufnehmen, bis es schließlich zu einer spontanen Entstehung von Wassertröpfchen (homogene Kondensation) kommt; siehe dazu auch den Abschnitt Oberflächenkrümmung des Wassers. Dies ist zum Beispiel in großen Volumina möglichst reiner Luft, also bei einer geringen Aerosolkonzentration, und bei großer Entfernung von etwaigen Umschließungsflächen der Fall (siehe Nebelkammer). Spontane Kondensation von Wasserdampf zu Wassertröpfchen findet ohne Kondensationskeime erst bei extremer Übersättigung von mehreren hundert Prozent relativer Feuchtigkeit statt. In der Praxis ist jedoch fast immer eine ausreichend große Menge von Aerosolen in der Luft vorhanden, sodass es in der Atmosphäre kaum zu Übersättigungen von mehreren Prozentpunkten kommt.
Teilsättigung
Die Verdunstungsrate des Wassers kann bestimmte Maximalwerte nicht überschreiten. Es dauert daher längere Zeit, bis sich das Gleichgewicht nach einer Störung wieder eingestellt hat. Wurde zum Beispiel durch nächtliche Abkühlung ein Teil des Feuchtigkeitsgehalts auskondensiert, so ist die Luft nach einer Erwärmung zunächst ungesättigt und kann den Sättigungszustand nur langsam wieder erreichen. Diese Teilsättigung ist für unsere Atmosphäre wegen der häufigen Temperaturschwankungen der Normalfall. Es ist für zahlreiche Vorgänge von großer Bedeutung, wie weit die Luft vom Sättigungszustand entfernt ist. Verschiedene Feuchtigkeitsmaße dienen dazu, diesen Zustand quantitativ zu beschreiben.
Abhängigkeit der Sättigungskonzentration von Umgebungseinflüssen
Temperatur
Bei Erhöhung der Temperatur nimmt der Anteil an Wassermolekülen zu, welche genügend kinetische Energie besitzen, um die Wasseroberfläche zu verlassen. Es stellt sich also eine höhere Verdunstungsrate ein, welche zur Wiederherstellung des Gleichgewichts durch eine höhere Kondensationsrate kompensiert werden muss, was aber eine höhere Konzentration von Wassermolekülen in der Luft voraussetzt.
Die Sättigungskonzentration des Wasserdampfs nimmt daher, wie in der Abbildung rechts dargestellt, mit steigender Temperatur exponentiell zu. Der Wasserdampf hat für jede Temperatur (und fast unabhängig vom Umgebungsdruck) eine eindeutig bestimmte Sättigungskonzentration. Bei atmosphärischem Normaldruck von 1013,25 hPa kann ein Kubikmeter Luft bei 10 °C maximal 9,41 g Wasser aufnehmen. Die gleiche Luftmenge nimmt bei 30 °C schon 30,38 g Wasser auf und bei 60 °C sind es schon über 100 g Wasser. Man bezeichnet diese Sättigungskonzentration als maximale Feuchtigkeit, die im Artikel Sättigung tabelliert ist. Hierbei sind auch Mollier-Diagramme nach Richard Mollier (1923) zur Darstellung der Luftfeuchtigkeit weit verbreitet.
Eine andere Möglichkeit zur Darstellung des Zusammenhangs von Luftfeuchtigkeit, Temperatur und Höhenlage ist das Emagramm (Energie-Masse-Diagramm).
Druck
Wie oben erwähnt, ist die Sättigungskonzentration des Wasserdampfs bei gegebener Temperatur praktisch unabhängig von der Anwesenheit der übrigen Atmosphärengase und damit auch fast unabhängig vom Umgebungsdruck. Eine geringfügige Abhängigkeit vom Umgebungsdruck ergibt sich jedoch aus drei Gründen:
Der Wasserdampf und die anderen Gase sind keine perfekt idealen Gase. Es gibt schwache Wechselwirkungen (Van-der-Waals-Kräfte) zwischen ihren Molekülen, welche mit steigendem Druck zunehmen.
Der gegenseitige Abstand der Moleküle im flüssigen Wasser und damit ihre Bindungskräfte werden geringfügig durch den auflastenden atmosphärischen Druck verändert („Poynting-Effekt“). Dies beeinflusst wiederum die Verdunstungsrate.
Auch im Wasser gelöste Atmosphärengase beeinflussen die Bindungskräfte und damit die Verdunstungsrate. Die Menge an gelösten Gasen ist abhängig von deren Partialdruck (Raoultsches Gesetz) und damit letztlich vom Gesamtdruck.
Diese schwache Druckabhängigkeit kann bei Bedarf durch einen Korrekturfaktor berücksichtigt werden. Er ist von Temperatur und Druck abhängig und bewegt sich bei atmosphärischen Bedingungen im Bereich von 0,5 % (Näheres im Artikel Sättigungsdampfdruck).
Aggregatzustände des Wassers
Betrachtet man statt einer flüssigen Wasseroberfläche eine Eisoberfläche, so gelten dieselben Überlegungen auch für Sublimation und Resublimation der Wassermoleküle. Das Eis kühlt die direkt darüber liegende Luftschicht stark ab, diese hat dadurch eine geringere Sättigungskonzentration für Wassermoleküle. Sublimierte Wasserteilchen und die Umgebungsluftfeuchte führen deshalb zur Kondens- bzw. Nebelbildung im Nahbereich von Eisoberflächen.
Im Eiskristallverband unterliegen die Wassermoleküle jedoch stärkeren Bindungskräften als in flüssigem Wasser, sodass die Sättigungskonzentration über einer Eisoberfläche geringer ist als über einer Oberfläche flüssigen (unterkühlten) Wassers derselben Temperatur. Dieser Umstand spielt eine wichtige Rolle bei der Bildung von Regentropfen in Wolken (Bergeron-Findeisen-Prozess).
Reinheit des Wassers
Sind im Wasser andere Stoffe gelöst, so erschweren sie den Wassermolekülen das Verlassen der Wasseroberfläche, wodurch die Verdunstungsrate sinkt und sich eine geringere Sättigungskonzentration einstellt (sog. Lösungseffekt).
In der Luft über gesättigten Salzlösungen stellen sich beispielsweise die in der Tabelle aufgeführten relativen Feuchtigkeiten ein.
Obwohl die Luft über den Lösungen mit Feuchtigkeit gesättigt ist, betragen die betreffenden relativen Feuchtigkeiten nicht 100 %, da die relative Feuchtigkeit stets auf die Sättigungskonzentration über einer ebenen und reinen Wasseroberfläche bezogen wird (siehe unten). Unterschreitet die Luft über der Salzlösung die betreffende Sättigungsfeuchtigkeit, so verdunstet Wasser aus der Lösung, um den Sättigungszustand wiederherzustellen. Überschreitet die Luft die Sättigungsfeuchtigkeit, so kondensiert ein Teil der Luftfeuchtigkeit an der Salzlösung. Diese wird dadurch verdünnt; soll sie zur Einhaltung definierter Verhältnisse salzgesättigt bleiben, so muss sie einen ausreichenden Bodensatz an ungelöstem Salz enthalten.
Der Lösungseffekt verdeutlicht nochmals, dass die Sättigungskonzentration in der Luft nicht von der Luft selbst, sondern von der verdunstenden Oberfläche bestimmt wird.
Oberflächenkrümmung des Wassers
Ist die Wasseroberfläche wie zum Beispiel bei einem Tropfen konvex (nach außen gekrümmt), so sind die Wassermoleküle an der Oberfläche weniger stark gebunden und können die Oberfläche leichter verlassen. Dieser Krümmungseffekt bedingt daher, dass die Verdunstungsrate steigt. Wenn gesättigte Luft mit kleinen Nebeltröpfchen im Gleichgewicht steht, beträgt ihre relative Feuchtigkeit daher etwas über 100 %. Der gleiche Effekt führt auch dazu, dass ohne Kondensationskeime eine starke Übersättigung möglich ist, ohne dass es zu homogener Kondensation kommt; je nach Stärke der Übersättigung gibt es einen gewissen Mindestradius der Tröpfchen, unterhalb dem sie nicht stabil sind, da mit geringerem Radius die Verdunstungsrate steigt, durch die Verdunstung aber der Radius abnimmt (siehe Abschnitt kritischer Radius unter Kelvingleichung).
Ist die Wasseroberfläche nach innen gekrümmt (wie zum Beispiel beim Meniskus in einer teilweise wassergefüllten Kapillare), so sind die Wassermoleküle an der Oberfläche stärker gebunden und können die Oberfläche weniger leicht verlassen – die Verdunstungsrate sinkt. Wenn gesättigte Luft in einem wasserhaltigen porösen Material mit den Menisken im Gleichgewicht steht, beträgt ihre relative Feuchtigkeit weniger als 100 %.
Feuchtigkeitsmaße
Der Wassergehalt der Luft kann durch verschiedene so genannte Feuchtigkeitsmaße angegeben werden. Synonym verwendbare Bezeichnungen werden durch einen Schrägstrich verdeutlicht, zusammengehörige Feuchtigkeitsmaße stehen in der gleichen Zeile.
Dampfdruck (siehe auch Sättigungsdampfdruck) und Sättigungsdefizit / Dampfhunger (Pa, hPa, kPa, bar)
absolute Luftfeuchtigkeit / Wasserdampfdichte (g / m³, kg/m³)
relative Luftfeuchtigkeit (%)
spezifische Luftfeuchtigkeit / Wasserdampfgehalt (g / kg, kg/kg)
Mischungsverhältnis / Feuchtigkeitsgrad (g/kg, kg/kg)
Taupunkt beziehungsweise Frostpunkt / Eispunkt / Reifpunkt und Taupunktdifferenz (°C, K)
Feuchttemperatur (°C)
Absolute Luftfeuchtigkeit
Die absolute Luftfeuchtigkeit, auch Wasserdampfdichte oder kurz Dampfdichte (Formelzeichen: ρw, ρd, d oder a; nicht verbindlich festgelegt), ist die Masse des Wasserdampfs in einem bestimmten Luftvolumen, also dessen Dichte bzw. Konzentration. Sie wird üblicherweise in g Wasser pro Kubikmeter Luft angegeben. Nach oben begrenzt wird sie durch die maximale Feuchtigkeit ρw, max, die während einer Sättigung herrscht (zugehörige Formeln und Werte siehe dort).
Die absolute Luftfeuchtigkeit ist ein direktes Maß für die in einem gegebenen Luftvolumen enthaltene Wasserdampfmenge. Sie lässt unmittelbar erkennen, wie viel Kondensat maximal ausfallen kann oder wie viel Wasser verdunstet werden muss, um eine gewünschte Luftfeuchtigkeit zu erhalten.
Die absolute Luftfeuchtigkeit ändert sich bei einer Volumenänderung des betrachteten Luftpakets, auch ohne dass der Luft Wasserdampf hinzugefügt oder entzogen wird. Bei einer Kompression des Luftpakets werden die darin enthaltenen Wassermoleküle auf einen geringeren Raum konzentriert, ihre Anzahl pro Kubikmeter nimmt zu, die absolute Feuchtigkeit steigt; das Umgekehrte gilt bei einer Expansion des Luftpakets. Die Volumenänderung des Luftpakets kann durch Änderung seiner Temperatur oder seines Druckes verursacht werden. Beim Vergleich der Feuchtigkeitsgehalte zweier Luftpakete sind daher gegebenenfalls ihre Temperatur- und Druckunterschiede zu berücksichtigen. Ein in der Atmosphäre aufgrund der Thermik aufsteigendes Luftpaket verringert beim Aufsteigen seine absolute Feuchtigkeit, auch wenn es dabei keinerlei Wasserdampf verliert, da es wegen der Abnahme des Luftdrucks mit der Höhe sein Volumen vergrößert. Die absolute Feuchtigkeit des Luftpakets ändert sich daher allein durch Auf- und Abwärtsbewegungen. Man bezeichnet dies auch als Verschiebungsvarianz oder Instationarität. Da die absolute Luftfeuchtigkeit zudem schwer zu messen ist, wird sie nur selten verwendet.
Die absolute Luftfeuchtigkeit ρw kann mittels folgender Formeln berechnet werden, wobei sich der erste Term durch die Umstellung der Zustandsgleichung idealer Gase ergibt:
Die einzelnen Formelzeichen stehen für folgende Größen:
e – Dampfdruck
Rw – individuelle Gaskonstante des Wassers = 461,52 J/(kg K)
T – absolute Temperatur
mWasserdampf – Masse des Wasserdampfs innerhalb des Luftpakets
Vgesamt – Gesamtvolumen der feuchten Luft
Tabellenwerte siehe unter Sättigung.
Relative Luftfeuchtigkeit
Die relative Luftfeuchtigkeit (Formelzeichen: φ, f, U, RH, H oder rF; nicht verbindlich festgelegt) ist das prozentuale Verhältnis zwischen dem momentanen Dampfdruck des Wassers und dem Sättigungsdampfdruck desselben (bei der Lufttemperatur) über einer reinen und ebenen Wasseroberfläche. Bei einer nichtprozentualen Angabe, also im Wertebereich 0 bis 1, spricht man auch vom Sättigungsverhältnis. Die relative Luftfeuchtigkeit entspricht fast genau dem Verhältnis der Masse des in der Luft befindlichen gasförmigen Wassers zu der bei derselben Temperatur maximal möglichen Masse.
Die relative Feuchtigkeit lässt unmittelbar erkennen, in welchem Grade die Luft mit Wasserdampf gesättigt ist:
Bei einer relativen Luftfeuchtigkeit von 50 % enthält die Luft nur die Hälfte der Wasserdampfmenge, die bei der entsprechenden Temperatur maximal enthalten sein könnte.
Bei 100 % relativer Luftfeuchtigkeit ist die Luft vollständig mit Wasserdampf gesättigt. Man spricht auch davon, die „Wasserdampfkapazität“ sei erreicht.
Wird die Sättigung von 100 % überschritten, so kann sich die überschüssige Feuchtigkeit als Kondenswasser bzw. Nebel niederschlagen.
Anhand der relativen Feuchtigkeit lässt sich daher leicht abschätzen, wie rasch Verdunstungsvorgänge ablaufen werden oder wie groß die Wahrscheinlichkeit von Tauwasserbildung ist. Da die Verdunstung von Feuchtigkeit durch die Haut stark von der relativen Feuchtigkeit der Umgebungsluft bestimmt wird, stellt die relative Feuchtigkeit eine wichtige Kenngröße für das Behaglichkeitsempfinden dar.
Ein zweiter Grund für die Bedeutung der relativen Feuchtigkeit liegt darin, dass sie den Ausgleichswassergehalt hygroskopischer Materialien bestimmt. Hygroskopische Materialien, insbesondere poröse wie Holz, Ziegel, Gipsputz, Textilien usw., nehmen beim Kontakt mit Luft Feuchtigkeit auf und binden die Wassermoleküle durch Adsorption an ihren Porenwänden. Die Menge der gebundenen Moleküle wird bestimmt durch die absolute Luftfeuchtigkeit einerseits (eine größere Wasserdampfkonzentration führt wegen der größeren Auftreffrate auf die Porenwandungen zu einer größeren Adsorptionsrate) und die Temperatur andererseits (eine höhere Temperatur führt zu einer größeren Desorptionsrate). Die Kombination dieser beiden einander entgegengerichteten Einflussgrößen führt dazu, dass der sich einstellende Ausgleichswassergehalt im Wesentlichen von der relativen Feuchtigkeit der Luft bestimmt wird. Die Feuchtigkeitsspeicherfunktion eines Materials gibt an, welchen Wassergehalt das Material bei einer gegebenen relativen Luftfeuchtigkeit annimmt; sie ist nur wenig von der Temperatur abhängig. Zur Messung des Feuchtigkeitsgehalts der Luft werden meist Materialien verwendet, deren zur Messung benutzte physikalische Eigenschaft von ihrem Wassergehalt abhängt (Längenänderung wegen Quellen und Schwinden, Kapazitätsänderung eines hygroskopischen Dielektrikums usw.). Da dieser Wassergehalt wiederum von der relativen Feuchtigkeit der Umgebungsluft bestimmt wird, messen solche Instrumente daher letztlich diese relative Feuchtigkeit, welche deshalb ein besonders leicht zu messendes und häufig benutztes Feuchtigkeitsmaß ist.
Mit steigender Temperatur nimmt die Wasserdampfmenge, die zur Sättigung benötigt würde, zu. Das hat zur Folge, dass die relative Luftfeuchtigkeit eines gegebenen Luftpakets bei Erwärmung abnimmt. Die Angabe der Temperatur ist für die Vergleichbarkeit der Werte daher zwingend notwendig. So sind beispielsweise in einer als trocken erscheinenden Wüste mit einer Lufttemperatur von 34,4 °C und einer relativen Luftfeuchtigkeit von 20 % insgesamt 7,6 g Wasserdampf in einem Kubikmeter Luft enthalten, was bei einer Lufttemperatur von 6,8 °C einer relativen Luftfeuchtigkeit von 100 % entspräche und somit zur Kondensation führen würde. Daher sind Phänomene wie Dunst oder Nebel ein Signal für eine hohe relative Luftfeuchtigkeit und gleichzeitig für tiefe Temperaturen. Zum Vergleich: Die für Wohn- und Büroräume empfohlene relative Luftfeuchtigkeit von 40–50 % entspricht bei 21–22 °C etwa 7,3–9,7 g Wasserdampf (in ca. 1200 g Luft). Die Wahrnehmung der Luft als trocken oder feucht liegt also eher an der Temperatur als an der tatsächlich in ihr enthaltenen Wassermenge.
Man kann die relative Luftfeuchtigkeit mit folgenden Formeln berechnen:
Die einzelnen Formelzeichen stehen für folgende Größen:
e – Dampfdruck (Achtung, nach Definition der Meteorologie: siehe Definition Dampfdruck)
E – Sättigungsdampfdruck
ρw – absolute Luftfeuchtigkeit
ρw,max – maximale absolute Luftfeuchtigkeit
s – spezifische Luftfeuchtigkeit
S – Sättigungsfeuchtigkeit
μ – Mischungsverhältnis
μs – Mischungsverhältnis bei Sättigung
Deliqueszenz bzw. Deliqueszenzfeuchte beschreibt das für einen Stoff (meist Salze) spezifische Vermögen, die relative Luftfeuchte der umgebenden Luft zu beeinflussen.
Spezifische Luftfeuchtigkeit
Die spezifische Luftfeuchtigkeit (Formelzeichen: s, q oder x) gibt die Masse des gasförmigen Wassers an, die sich in einer bestimmten Masse feuchter Luft befindet. Der Zahlenwertbereich geht von , wobei für trockene Luft ist und für luftfreien Dampf bzw. flüssiges Wasser ist.
Diese Größe bleibt im Unterschied zu den vorherigen Feuchtigkeitsmaßen bei Volumenänderungen des betrachteten Luftpakets unverändert, solange keine Feuchtigkeit zu- oder abgeführt wird. Nimmt z. B. das Volumen des Luftpakets zu, so verteilen sich sowohl die (unveränderte) Masse der feuchten Luft als auch die (unveränderte) Masse des Wasserdampfs auf ein größeres Volumen, das Verhältnis der beiden Massen im Luftpaket zueinander bleibt aber dasselbe. Die spezifische Luftfeuchtigkeit behält beispielsweise entlang eines kondensationsfreien Belüftungsrohres einen konstanten Wert, auch wenn die feuchte Luft dabei durch Rohrabschnitte unterschiedlicher Temperatur läuft oder auf ihrem Weg zum Beispiel wegen eines Drosselventils Druckänderungen erfährt. Auch ein in der Atmosphäre aufsteigendes Luftpaket behält den Zahlenwert seiner spezifischen Feuchtigkeit bei, solange keine Feuchtigkeit (etwa durch Verdunstung von Regentropfen) zugeführt oder (durch Kondensation des Wasserdampfes) abgeführt wird. Diesem Vorteil steht allerdings die schwierige Messung der spezifischen Luftfeuchtigkeit entgegen, die im Regelfall einem Labor vorbehalten bleibt.
Die maximale spezifische Luftfeuchtigkeit im Sättigungszustand, die sogenannte Sättigungsfeuchtigkeit, hat das Formelzeichen S (auch qs).
Die spezifische Luftfeuchtigkeit s kann mit folgenden Formeln berechnet werden, wobei die jeweilige Größe über den ersten Term definiert ist und alle nachfolgenden Terme Äquivalente oder Näherungen hierzu darstellen (fL – Feuchtigkeit Luft; tL – trockene Luft; W – Wasserdampf bzw. Wasser). Von praktischer Bedeutung sind nur die letztgenannten Terme, alle anderen dienen der Herleitung und Nachvollziehbarkeit.
damit:
wobei gilt:
Die Sättigungsfeuchtigkeit errechnet sich dementsprechend nach:
Die einzelnen Formelzeichen stehen für folgende Größen:
mx – Massen
ρx – Dichten
ρfL – Dichte der feuchten Luft
VG – Gesamtvolumen der feuchten Luft
RW – individuelle Gaskonstante des Wassers
RtL – individuelle Gaskonstante von trockener Luft
T – Temperatur
MW – molare Masse von reinem Wasser = 18,01528 g/mol
MtL – molare Masse von trockener Luft = 28,9644 g/mol (Wert der Standardatmosphäre)
e – Dampfdruck
p – Luftdruck
E – Sättigungsdampfdruck
Mischungsverhältnis
Das Mischungsverhältnis (Formelzeichen: μ, x, m), auch Feuchtigkeitsgrad oder Wasserdampfgehalt genannt, gibt die Masse des Wassers an, die sich in einer bestimmten Masse trockener Luft befindet. In ihren Eigenschaften sind Mischungsverhältnis und spezifische Luftfeuchtigkeit identisch. Im Regelfall unterscheidet sich auch der Zahlenwert nicht sehr stark, weshalb man beide Größen genähert gleichsetzen kann.
Das Mischungsverhältnis kann mit folgenden Formeln berechnet werden, wobei es über den ersten Term definiert ist und alle nachfolgenden Terme Äquivalente oder Näherungen hierzu darstellen (fL – feuchte Luft; tL – trockene Luft; W – Wasserdampf bzw. Wasser):
Die einzelnen Formelzeichen stehen für folgende Größen:
mx – Massen
ρx – Dichten
MW – molare Masse von reinem Wasser = 18,01528 g/mol
MtL – molare Masse von trockener Luft = 28,9644 g/mol (Wert der Standardatmosphäre)
e – Dampfdruck
p – Luftdruck
Taupunkt
Als Taupunkt oder Taupunkttemperatur bezeichnet man die Temperatur, bei der sich auf einem Gegenstand (bei vorhandener Feuchtigkeit) ein Gleichgewichtszustand von kondensierendem und verdunstendem Wasser einstellt, mit anderen Worten die Temperatur, bei deren Unterschreitung Kondensatbildung gerade einsetzt. Sie wird mit einem Taupunktspiegelhygrometer gemessen. Der Taupunkt einer Probe ist lediglich vom Druck abhängig, wohingegen die relative Feuchtigkeit eine von Druck und Temperatur abhängige Größe ist. Die Taupunktkurve gibt bei gegebenem atmosphärischen Druck für die jeweilige Temperatur den Maximalwert von Feuchtigkeit an, die Luft aufnehmen kann (= 100 % relative Feuchtigkeit). Abkühlung der Luft unter die Taupunkttemperatur führt zu Kondensation, Erwärmung zu neuer Wasserdampfaufnahmefähigkeit.
Feuchttemperatur
Die Feuchttemperatur ist jene Temperatur, die ein Luftpaket haben würde, wenn es adiabatisch bei konstantem Druck durch Verdunsten von Wasser in dem Paket bis zur Sättigung gekühlt und dabei die benötigte Verdampfungsenthalpie dem Paket entzogen werden würde. Gemessen wird sie mit Hilfe eines Psychrometers (zum Beispiel Aßmannsches Aspirationspsychrometer).
Bei Kenntnis von Temperatur und Luftfeuchtigkeit kann man die Feuchttemperatur aus einer sogenannten Psychrometertabelle ablesen.
Die Formel für die Feuchttemperatur lautet:
wobei:
Tf – Feuchttemperatur
L – Phasenumwandlungswärme bei Kondensation/Verdunstung (≈ 2450 kJ/kg)
m – Mischungsverhältnis
ms – Sättigungsmischungsverhältnis bei Feuchttemperatur(!)
T – abs. Temperatur
cp – spezifische Wärme von Luft = 1005 J/(kg·K)
In der praktischen Anwendung wurden zahlreiche empirische Formeln entwickelt, die aber meist nur in einem bestimmten Temperatur- und Druckbereich gut funktionieren.
In der angewandten Meteorologie wird sie oft zur Unterscheidung der Niederschlagsart (Schnee/Regen) an unbemannten Wetterstationen eingesetzt. Als Richtwert gilt, dass Niederschlag bei einer Feuchttemperatur größer oder gleich 1,2 °C als Regen, bei Tf kleiner oder gleich 1,2 °C als Schnee fällt. Allerdings lassen sich damit nur grobe Abschätzungen vornehmen.
Jüngste Untersuchungen für die Station Wien Hohe Warte (WMO: 11035) haben gezeigt, dass Niederschlag bei Tf unter 1,1 bzw. über 1,4 °C in 2/3 der Fälle in fester bzw. flüssiger Form auftritt. Im Wesentlichen konnte der Richtwert von 1,2 °C Feuchttemperatur also bestätigt werden.
Messung
Geräte zur Messung der Luftfeuchtigkeit werden als Hygrometer bezeichnet. Arten sind zum Beispiel Absorptionshygrometer (Haarhygrometer), Psychrometer und Taupunktspiegelhygrometer.
Feuchtigkeitsensoren liefern ein elektrisches Signal, Absorptionssensoren beruhen auf einer sich bei unterschiedlicher Wasseraufnahme ändernden elektrischen Eigenschaft bestimmter Materialien und Materialaufbauten. Beispiele für elektrische Sensoren sind unter anderem Impedanz-Sensoren, hier ist es die elektrische Leitfähigkeit, die sich ändert. Bei kapazitiven Sensoren wirkt die Feuchtigkeit auf das Dielektrikum und ändert so die Kapazität des Sensors, bei schwingquarzbasierten Feuchtigkeitsensoren verändert sich durch die Feuchtigkeit die Resonanzfrequenz des Quarzes.
In den weltweiten offiziellen Wetterstationen werden zur Messung der Luftfeuchtigkeit verschiedene Messgeräte benutzt. Eine Methode ist ein in der Klimahütte montiertes Aspirationspsychrometer, welches aus einem trockenen und einem feuchten Thermometer besteht.
Aus den Werten beider Thermometer kann man anhand einer Tabelle dann die aktuelle relative Luftfeuchtigkeit in Prozent und den Taupunkt ermitteln.
Weiterhin gibt es separate Messfühler für den Taupunkt, welche aus einem Sensor über einer Lithiumchloridlösung bestehen.
Feuchtigkeitsindikatoren bestehen zum Beispiel aus mit Kobaltchlorid versetztem Silicagel (Blaugel) und führen bei bestimmten Feuchtigkeitswerten einen Farbwechsel aus. Sie dienen dazu, feuchtigkeitsempfindlichen Gütern beigelegt zu werden, um insbesondere in tropischen Gegenden und bei starken Temperaturunterschieden deren Transportbedingungen hinsichtlich der relativen Luftfeuchtigkeit kontrollieren zu können. Blaugel (oder das kobaltfreie Orangegel) wird auch in hermetisch verschlossenen Baugruppen hinter Sichtfenstern untergebracht, um die Luftfeuchtigkeit im Inneren kontrollieren zu können.
Variabilität
Tagesgang
Die Luftfeuchtigkeit zeigt einen typischen Tagesgang, der zwar je nach Umgebungsbedingungen sehr unterschiedlich sein kann und auch nicht immer einem bestimmten Muster folgen muss, es aber im Regelfall tut. So zeigt sich für das sommerliche Berlin ungefähr der folgende Verlauf: um 7 Uhr Ortszeit liegt die absolute Luftfeuchtigkeit im Mittel bei etwa 10,6 g/m³, um 14 Uhr bei 10,0 g/m³ und schließlich um 21 Uhr wieder bei 10,6 g/m³. Im Winter belaufen sich die Werte auf morgens 4,5 g/m³, mittags 4,6 g/m³ und abends wiederum 4,5 g/m³. Die Luftfeuchtigkeit steigt also im Winter nach Sonnenaufgang und sinkt nach Sonnenuntergang mit dem Tagesgang der Lufttemperatur und so, wie man es aufgrund der erhöhten Verdunstung erwarten kann. Im Sommer kommt der Einfluss der Konvektion hinzu, da aufsteigende Luftpakete das Eindringen trockenerer Luftmassen aus der Höhe bedingen und daher zu einem mittäglichen bis nachmittäglichen Minimum führen. In den Abendstunden steigt die absolute Luftfeuchtigkeit mit nachlassender Konvektion wieder an. Im Sommer ergeben sich daher zwei Dampfdruckmaxima, eines um etwa 8 Uhr und eines um ungefähr 23 Uhr.
Der Verlauf der relativen Luftfeuchtigkeit erreicht nachts (insbesondere bei fehlender Bewölkung) in Bodennähe oft 100 %, da die Temperatur der bodennahen Luftschichten durch Kontakt mit dem sich durch Abstrahlung in den Weltraum abkühlenden Erdboden unter den Taupunkt fällt. An windstillen Tagen wird schon kurze Zeit (ab 20 min) nach Sonnenuntergang der Taupunkt an isolierten horizontalen Flächen (Autodach, Flachdach) unterschritten. Bei senkrechten Flächen (Autofenster, Verkehrsschilder) dauert es etwas länger. Die Folge sind Tau bzw. Reif.
Jahresgang
Im Jahresgang, basierend auf entweder Tages- oder Monatsmitteln als langjährigen Durchschnittswerten, zeigen sich Maxima der relativen Luftfeuchtigkeit im Spätherbst und Frühwinter, also im Zeitraum der größten Nebelbildung. Demgegenüber stehen Minimalwerte im Frühjahr und Frühsommer. Der Dampfdruck ist im Winter am geringsten und im Sommer am höchsten. Die bestimmenden Einflüsse sind dabei Verdunstung und Advektion von Wasserdampf, die einen sehr starken regionalen bzw. lokalen Bezug aufweisen.
Abhängigkeit von der Höhe
Der Wasserdampfdruck nimmt mit zunehmender Höhe und damit abnehmender Lufttemperatur zunächst sehr rasch und dann ab drei Kilometern nur noch langsam ab. In zehn Kilometern Höhe beträgt er dann nur noch etwa ein Prozent des Bodenwertes. Die relative Luftfeuchtigkeit zeigt keinen derart eindeutigen Trend, ist in der Tropopause, in Mitteleuropa etwa ab 11 Kilometern Höhe, jedoch meist sehr gering. Sie beträgt hier im Normalfall etwa 20 % und sinkt mit zunehmender Höhe weiter ab, was auch der Grund dafür ist, dass die Wolkenbildung fast ausschließlich auf die Troposphäre begrenzt ist.
Bedeutung und Anwendungsbereiche
Die Luftfeuchtigkeit ist in einer Vielzahl von Anwendungen von Bedeutung, wobei hier die Meteorologie und Klimatologie zwar deren theoretisches, nicht aber deren anwendungsorientiertes Zentrum bilden. Die Rolle des Wasserdampfes, dessen Eigenschaften und insbesondere seine technischen Anwendungen außerhalb der atmosphärischen Bedingungen werden dort erläutert. Die allgemeinen Eigenschaften des Wassers und dessen natürliche Verbreitung können gesondert nachgelesen werden.
Alltag
Im Alltag lassen sich zahlreiche Phänomene auf die Luftfeuchtigkeit zurückführen, von denen einige hier exemplarisch vorgestellt werden sollen.
Beobachtet man nasse Gegenstände oder offene Wasserflächen über einen längeren Zeitraum, ohne dass diesen von außen weiteres Wasser zugeführt wird, so nimmt deren Nässe ab bzw. die Wasserfläche trocknet aus. Wäsche wird mit der Zeit trocken, Pfützen verschwinden, Lebensmittel werden hart und ungenießbar. Es kommt zur Verdunstung. Diese ist jedoch nur möglich, so lange die Luft ungesättigt ist, also die relative Luftfeuchtigkeit unter 100 % liegt.
Betritt man aus der kühleren Umgebung kommend einen geheizten Raum, so stellt man oft fest, dass Brillengläser beschlagen. Gleiches gilt auch für Fensterscheiben. Sind die Scheiben kälter als der Innenraum, so beschlagen sie. Zum Beispiel auch bei Kraftfahrzeugen wird dadurch das Sichtfeld eingeschränkt. Der gleiche Effekt tritt in Bädern und Saunen auf, hier beschlagen oft auch Spiegel und andere kältere Gegenstände. Grund für all diese Effekte sind die kalten Oberflächen, die die Luft in ihrer unmittelbaren Umgebung abkühlen: je höher die relative Luftfeuchtigkeit der Luft ist, desto schneller erreicht sie beim Abkühlen den Taupunkt und Wasser kondensiert. Je höher der Temperaturunterschied zwischen den Oberflächen und der Umgebungsluft ist, desto stärker ist die Neigung zur Betauung bzw. zum Beschlagen. Aus diesem Grunde zeigen sich die beschriebenen Fälle vor allem im Winter, in feuchten Räumen, an Außenwänden und im Freien nachts bei unbedecktem Himmel (Abkühlung der Erdoberfläche durch Abstrahlung in den Weltraum). Sinken die Temperaturen der Oberflächen unter 0 °C, bilden sich Eisblumen oder Reif.
Gegenmaßnahmen gegen Betauung und Bereifung:
Beblasen der Scheiben mit warmer Luft
Heizkörper in Wohnräumen befinden sich an Außenwänden und unter Fenstern
Beheizen der Gegenstände (Heckscheibe von KFZ, Flugzeug-Komponenten)
Der Effekt führt auch zum Vereisen von Gefrierfächern bzw. des Verdampfers in Kühlschränken und Gefriertruhen bei gleichzeitiger Austrocknung unverpackter Kühlware. Deren Wasser verdunstet bzw. sublimiert zunächst, um dann an kalten Oberflächen zu kondensieren bzw. zu Eis zu resublimieren. Technische Verwendung findet dieser Effekt bei der Gefriertrocknung.
Die Vereisung von Vergasern von Ottomotoren (zum Beispiel in Kraftfahrzeugen oder kleinen Flugzeugen) führt zum Motorausfall. Sie beruht im Wesentlichen auf der Abkühlung der Luft aufgrund der Verdunstungskälte des Benzins, teilweise auch aufgrund des Unterdruckes, der die Luft zusätzlich abkühlt.
Die Unterschreitung des Taupunktes kann man auch bei Flugzeugen oder schnellen Rennautos beobachten. Die Randwirbel an den Enden der Tragflächen oder eines Spoilers führen zu einem lokalen Absinken des Luftdruckes und nach dem 2. Gesetz von Gay-Lussac zu lokaler Abkühlung der Luft. Der Taupunkt wird lokal unterschritten und dort entsteht Nebel. Ist die Luftfeuchtigkeit bei Temperaturen unter null besonders hoch, kommt es bei Flugzeugen zur gefürchteten Tragflächenvereisung – dann reicht bereits der Unterdruck oberhalb und hinter den Tragflächen und Leitwerken, um eine Bereifung auszulösen.
Die Ausatemluft ist beim Menschen und homoiothermen Tieren wesentlich feuchtigkeitsreicher und wärmer als die Einatemluft. Dies erkennt man am zu sichtbaren Nebelschwaden kondensierenden Wasserdampf der Ausatemluft im Winter bzw. bei niedrigen Temperaturen und hoher Luftfeuchtigkeit. Die warme und feuchtigkeitsreiche Ausatemluft kühlt sich unter den Taupunkt ab und es kommt zur Entstehung von Wassertröpfchen. Gleiches gilt auch für die Abgase von Fahrzeugen, Flugzeugen und Kraftwerken, deren Wolkenbildung bzw. Kondensstreifen oft mit deren Schadstoffemission verwechselt werden.
Meteorologie, Klimatologie und Hydrologie
Wird mit Wasserdampf gesättigte Luft unter den Taupunkt abgekühlt, so scheidet sich flüssiges Wasser durch Kondensation aus der Luft ab, falls die hierfür notwendigen Kondensationskerne (Aerosole) vorhanden sind. Diese liegen jedoch unter natürlichen Bedingungen fast immer in ausreichender Konzentration vor, sodass es nur in Ausnahmefällen zu markanten Übersättigungen von mehreren Prozentpunkten kommt. Die Kondensation und ab Temperaturen unter 0 °C auch Resublimation des Wasserdampfs führen unter anderem zur Wolken-, Hagel-, Schnee-, Nebel-, Tau- und Reifbildung. Wasserdampf ist daher kein permanentes Gas der Atmosphäre und weist mit einer statistischen Verweildauer von etwa zehn Tagen eine hohe Mobilität auf.
Obwohl der Wasserdampf nur mit relativ geringen Konzentrationen in der Atmosphäre vertreten ist, trägt er bedingt durch seine hohe Mobilität und den damit verbundenen Stoffumsatz einen großen Anteil am globalen Wasserkreislauf und spielt daher in der Wasserbilanz eine wichtige Rolle. Hierbei ist die Luftfeuchtigkeit auch eine wichtige Eingangsgröße zur Niederschlagsbildung bzw. deren Berechnung und auch zur Bestimmung der Verdunstung bzw. der Evaporation, Transpiration und Interzeptionsverdunstung. Dies spielt im Rahmen der klimatischen Wasserbilanz wiederum eine wesentliche Rolle für verschiedene Klimaklassifikationen.
Aus der Luftfeuchtigkeit lassen sich zudem wichtige meteorologische Größen ableiten, wie zum Beispiel das Kondensationsniveau und die virtuelle Temperatur. Auch ist die Luftfeuchtigkeit bzw. der Wasserdampf wesentlich am Strahlungshaushalt der Atmosphäre beteiligt – Wasserdampf ist das bedeutendste Treibhausgas. Wasserdampf, insbesondere jedoch Wolken verhindern stark die nächtliche Abkühlung der Erdoberfläche, da sie durch Absorption und Re-Emission einen Ausgleich der Strahlungsbilanz der Wärmeabstrahlung der Erdoberfläche herstellen.
Die im flüssigen Aggregatzustand des Wassers gespeicherte Kondensationsenthalpie bedingt den Unterschied zwischen feucht- und trockenadiabatischem Temperaturgradienten – eine der Voraussetzungen für die Entstehung von Föhn.
Trocknung
Luft von niedriger relativer Luftfeuchtigkeit ist ein häufig im Alltag angewandtes Trocknungsmittel, z. B. bei der Trocknung von Textilien auf der Wäscheleine. Bei der Trocknung von Materialien durch Verdunstung ist entscheidend, dass die Luftfeuchtigkeit hinreichend niedrig ist. Bei einer relativen Luftfeuchtigkeit von 100 % kann das Trockengut nicht weiter trocknen, es stellt sich ein Gleichgewicht ein. Bei Trocknungsverfahren, zum Beispiel in Trocknern, auch Wäschetrocknern, versucht man daher, die relative Feuchtigkeit der Umgebung zu senken. Das kann durch Temperaturerhöhung, Luftaustausch (Fön, Ablufttrockner), durch Adsorption des Wassers (Adsorptionstrockner) oder durch Auskondensation des Wassers (Kondenstrockner) erfolgen.
In anderen Fällen wird hingegen in der Regel auf die Wirkung des Windes vertraut, der ständig neue Luft von niedriger relativer Luftfeuchtigkeit heranweht und so beispielsweise Heu, frisch geschlagenem Holz, Mörtel, aufgehängter Wäsche, Tabakblättern, Kaffee- oder Kakaobohnen das Wasser entzieht.
Biologie
In der Biologie und hier besonders der Ökologie ist die Luftfeuchtigkeit von großer Bedeutung. Sie bedingt nicht nur das Auftreten von Klimazonen oder bestimmten Ökosystemen, sondern spielt auch bei der Transpiration über die Spaltöffnungen der Blätter und in deren Interzellularraum (Interzellulare) eine große Rolle (Wasserdampfpartialdruck). Die Luftfeuchtigkeit ist daher ein wichtiger Parameter für den Wasserhaushalt von Pflanzen, Tieren und Menschen (Schwitzen, Atmen, Pilzbefall). Eine besondere Rolle spielt die Luftfeuchtigkeit zudem für jene Tiere, die hauptsächlich über die Haut atmen. Hierzu zählen viele Schnecken und andere Weichtiere, die in der Folge auch eine geringe Toleranz gegen Austrocknung besitzen.
Gesundheit
Für Wohn- und Büroräume wird eine relative Luftfeuchtigkeit von 40 bis 50 % empfohlen, bei Raumtemperaturen zwischen 21 und 22 °C. In kühlen Bereichen ist eine höhere Luftfeuchtigkeit erträglicher als in besonders warmen Bereichen (unterhalb 20 °C können auch über 70 % noch als behaglich empfunden werden). Unbehaglich sind generell Luftfeuchtigkeiten über 95 % und unter 23 %. Bei üblichen Bedingungen kann in beheizten Räumen (im Winter, besonders bei tiefer Außentemperatur) die Luft ohne aktive Luftbefeuchtung zu trocken werden. Andererseits sollte die Luftfeuchtigkeit im Schlafzimmer bei geschlossenen Fenstern generell etwas niedriger sein, da durch die Ausatmung die Luftfeuchtigkeit weiter ansteigt und bei einer Ausgangs-Feuchtigkeit von 60 % die Schwelle zur Schimmelbildung überschritten werden kann. Es empfiehlt sich, in den Wohnräumen ein Hygrometer aufzustellen, um die aktuelle Luftfeuchtigkeit zu messen und gegebenenfalls mittels regelmäßigem Stoßlüften oder Luftentfeuchtern entgegenzuwirken.
Ursachen und gesundheitliche Risiken bei zu geringer Luftfeuchtigkeit
Vor allem in geschlossenen, stark belüfteten und gut beheizten Räumen werden die empfohlenen Werte oft unterschritten, was zu einer verminderten Atemleistung und einer Beeinträchtigung der Haut bzw. Schleimhaut führen kann. Dies ist besonders im Winter der Fall, da die kalte Außenluft dann nur eine geringe absolute Luftfeuchtigkeit besitzt und durch das Erwärmen auf Zimmertemperatur die relative Luftfeuchtigkeit sehr stark absinkt. Bei zu stark sinkender Luftfeuchtigkeit kann durch eine Reduzierung von Undichtigkeiten der ungewollte Luftaustausch verringert werden. Die Luftfeuchtigkeit sollte jedoch auch im Bereich der kältesten Stellen des Raumes (Außenwände hinter Möbeln) nicht über 80 % ansteigen, da bei höheren Werten Schimmelwachstum nicht auszuschließen ist. Je nach Nutzung und Wärmedämmung der Räume ergeben sich zur Vermeidung von Schimmelwachstum oft Werte der Luftfeuchtigkeit, die deutlich unter den medizinisch empfohlenen liegen.
In sehr kalten Gebieten oder auch kalten Jahreszeiten bzw. in der Nacht zeigt sich oft ein erhöhter Flüssigkeitsverbrauch des menschlichen Organismus, obwohl aufgrund des fehlenden Flüssigkeitsverlustes durch Schwitzen eher das Gegenteil angenommen werden müsste. Begründet liegt dies in der Befeuchtung der trockenen Einatemluft und dem damit verbundenen Wasserverlust. Wird die kalte Außenluft beim Einatmen erwärmt, so steigt deren Wasserdampfkapazität und senkt damit auch die relative Luftfeuchtigkeit. Im Gegensatz hierzu steigt das Sättigungsdefizit an und die Neigung des flüssigen Lungengewebswassers, in den gasförmigen Aggregatzustand überzugehen, nimmt zu. Im Sommer bzw. bei warmer Umgebungsluft wird die Einatemluft kaum noch zusätzlich erwärmt und behält daher ihre meist hohe relative Luftfeuchtigkeit. Sind die zusätzlichen Wasserverluste durch Schwitzen hier nicht allzu groß, ist der Wasserbedarf des Körpers daher bei kalten Umgebungsbedingungen höher.
Eine zu niedrige Luftfeuchtigkeit ist für die Atmung nicht förderlich, da der Sauerstoff über die Alveolen dann schlechter in die Blutbahn gelangt. Die Haut benötigt eine hohe Luftfeuchtigkeit, um nicht auszutrocknen, da diese eng mit der Hautfeuchtigkeit gekoppelt ist. Besonders Schleimhäute sind für Austrocknen anfällig, da sie nur über einen geringen Verdunstungsschutz verfügen und auf ihre hohe Feuchtigkeit zur Erhaltung ihrer Funktionen angewiesen sind. So kann eine geringe Feuchtigkeit der Nasenschleimhaut ein erhöhtes Auftreten von Nasenbluten zur Folge haben. Generell wird dabei auch die Immunabwehr der Haut geschwächt (erhöhtes Erkältungsrisiko) und deren Fähigkeit zum Stoffaustausch herabgesetzt, wovon besonders die Mundschleimhaut betroffen ist. Auch die Anfälligkeit für Hautreizungen bzw. -rötungen oder gar Hautentzündungen wird durch eine geringe Luftfeuchtigkeit erhöht. Wenn diese Entzündungen nur in bestimmten Räumen oder Gebäuden auftreten, ist dies in der Regel auf eine zusätzliche Belastung der Raumluft mit Schadstoffen (z. B. Feinstaub, Lösungsmittel, Formaldehyd usw.) zurückzuführen.
Bei der Durchführung von Inhalationsnarkosen ist die Anfeuchtung des inhalierten Gasgemisches sehr wichtig, da die zur Anwendung kommenden medizinischen Gase wasserfrei gelagert werden und andernfalls die auftretenden Verdunstungseffekte in der Lunge des Patienten Auskühlungserscheinungen (Verdunstungskälte) und eine gewisse Austrocknung bewirken würden.
Gesundheitliche Risiken bei zu hoher Luftfeuchtigkeit
Eine hohe relative Luftfeuchtigkeit behindert hingegen die Regulation der Körpertemperatur durch das Schwitzen und wird daher schnell als schwül empfunden. Trotz höherer Temperaturen können daher sehr heiße Wüsten oft wesentlich leichter durch den Organismus verkraftet werden (vorausgesetzt er leidet nicht unter Austrocknung) als Regenwälder mit einer hohen Luftfeuchtigkeit und vergleichsweise gemäßigten Temperaturen. Die Auswirkung der Luftfeuchtigkeit auf die gefühlte Temperatur wird durch den Humidex beschrieben, wobei der grundsätzliche Zusammenhang zwischen einer steigenden Luftfeuchtigkeit und einer steigenden gefühlten Temperatur auch für niedrige Werte der Luftfeuchtigkeit gilt und somit beispielsweise zur Reduzierung der Zimmertemperatur und damit des Heizaufwandes herangezogen werden kann.
Land- und Forstwirtschaft
In der Landwirtschaft besteht bei einer zu niedrigen Luftfeuchtigkeit die Gefahr einer Austrocknung der Felder und der angebauten Pflanzen und damit einer Missernte. Durch die Erhöhung des Dampfdruckgradienten zwischen Blattoberfläche und Atmosphäre wird den Pflanzen dabei Feuchtigkeit entzogen (siehe Abschnitt Biologie), insbesondere wenn ihre Spaltöffnungen am Tag geöffnet sind und sie nur über einen geringen Verdunstungsschutz verfügen, was bei vielen heimischen Pflanzen (C-3-Pflanzen) der Fall ist. Die Pflanzen erhöhen dadurch die Austrocknung des Bodens, andererseits schützen sie ihn vor direkter Sonneneinstrahlung und Erwärmung und fördern durch ihre Wurzeln Wasser aus tieferen Schichten an die Oberfläche. Viele Moor- und Sumpfpflanzen verfügen über einen Regelmechanismus, der die Verdunstungsrate bei beginnender Austrocknung senkt.
Die Wasserbilanz wird beim Freilandanbau wesentlich auch durch nächtlichen Tau verbessert – Pflanzen betauen eher als unbedeckter Erdboden, da sie sich nachts durch Wärmeabstrahlung schneller abkühlen als unbedeckter Boden mit seiner höheren Wärmekapazität.
Doch auch in der Forstwirtschaft und der holzverarbeitenden Industrie spielt die Luftfeuchtigkeit eine Rolle. Frisch geschlagenes Holz verfügt über eine hohe Eigenfeuchtigkeit, sie ist bei im Winter geschlagenem Holz geringer. Diese Holzfeuchtigkeit sinkt in der Zeit der Ablagerung ab und gleicht sich an die Luftfeuchtigkeit an. Wird zu frisches Holz verarbeitet, schwindet und verzieht es sich. Die Änderung der Holzfeuchtigkeit aufgrund wechselnder Luftfeuchtigkeit führt auch bei abgelagertem Holz zu sich ändernden Maßen des Holzes quer zur Faser und ist von großer Wichtigkeit für alle holzverarbeitenden Gewerbe und Industrien. Bei der Lagerung frischen Holzes in Sägewerken werden oft Sprinkleranlagen eingesetzt, um das Holz langsamer zu trocknen und so Schwindungsrisse zu vermeiden.
Auch abgelagertes Holz (Bretter, Kanthölzer und Balken) wird so gelagert, dass es von Luft umströmt wird und durch sein Eigengewicht parallel fixiert ist. Das soll garantieren, dass sich das Holz nicht verzieht oder gar fault.
Beim Verlegen von Dielen- und Parkettfußböden muss beachtet werden, dass sich das Holz aufgrund seiner Hygroskopizität der Umgebungsfeuchtigkeit anpasst. Unterhalb des Fasersättigungsbereiches führt dies zur Quellung oder Schwindung des Holzes. Aus diesem Grund werden auch Holzfässer bei Nichtbenutzung undicht.
Lagerhaltung und Produktion
In der Lagerhaltung von Lebensmitteln ist die Luftfeuchtigkeit sehr wichtig zur Steuerung der Genussreife, vor allem bei Lagerobst. Auch Korrosion kann durch eine hohe Luftfeuchtigkeit begünstigt werden, besonders über den indirekten Effekt der gesteigerten Taubildung, und muss daher bei Lagerung und Transport feuchtigkeitsempfindlicher Güter berücksichtigt werden. Beispiele, die bestimmte Luftfeuchtigkeit erfordern, sind Chemikalien, Zigarren (Humidor), Wein (Korken), Salami, Holz, Kunstwerke, Bücher und optische oder elektronische Baugruppen und Bauteile, zum Beispiel integrierte Schaltkreise. Die Luftfeuchtigkeit muss zur Einhaltung bestimmter Raumklimata in Lagerräumen, Museen, Archiven, Büchereien, Laboren, Rechenzentren und industriellen Produktionsanlagen (Mikroelektronik-Fertigung) überwacht oder gesteuert werden.
Beim Gütertransport in wetterisolierten Containern oder auch verschweißten Kunststoffbeuteln kann sich Kondenswasser und Betauung bilden, wenn die Luft im Inneren beim Sinken der Temperatur unter den Taupunkt gelangt, zum Beispiel beim Transport aus tropischen in kältere Gebiete. In Folienverpackungen feuchtigkeitsempfindlicher Güter werden daher Beutel mit Silicagel oder Zeolithe gegeben, die die Feuchtigkeit puffern. Feuchtigkeitsindikatoren dienen dazu, die Feuchtigkeitswerte in den Verpackungen während des Transports zu kontrollieren.
Feuchtigkeitsempfindliche Geräte wie z. B. in der Elektronik und Optik müssen nach Lagerung bei geringen Temperaturen zunächst temperieren, bevor deren Verpackung geöffnet wird. Ansonsten bildet sich an und in den Geräten Kondenswasser, was insbesondere beim sofortigen Betreiben der betauten Geräte zum Ausfall führen kann.
Außenwände von Gebäuden
In der Bauphysik spielt der Taupunkt in Form der Taupunktebene eine wichtige Rolle. Unter dieser versteht man diejenige Fläche innerhalb des Mauerwerks oder der Wärmedämmung an der Außenwand eines Gebäudes, ab welcher es zur Kondensation kommen kann. Hintergrund ist, dass warme Luft mehr Feuchtigkeit aufnehmen kann als kalte Luft. Bewegt sich warme und mit Feuchtigkeit angereicherte Luft durch Diffusion oder Konvektion innerhalb der Außenwand oder Dämmschicht vom wärmeren zum kälteren Ort (im Winter meist von innen nach außen), so kommt es zur Bildung flüssigen Wassers, sobald der Taupunkt unterschritten wird. Hieraus ergeben sich Gefahren gesundheitsgefährdender Schimmelbildung oder die Dämmschichten versagen aufgrund der Wasseraufnahme (bessere Wärmeleitung) oder durch Frostsprengung.
Gegenmaßnahmen bestehen folglich darin, eine Taupunktunterschreitung durch geeignete Baumaterialien oder andere Maßnahmen zu vermeiden. Die Wärmedämmung sollte daher möglichst an der Außenseite der Wand angebracht werden und ihrerseits nach außen diffusionsoffen sein, sodass sie Wasser an die trockene Außenluft abgeben kann. Ist dies nicht möglich (zum Beispiel bei Innendämmung), muss die Wärmedämmschicht nach innen mit einer Dampfsperre (geschlossene Folie, keine Wasserdiffusion möglich) oder Dampfbremse (Wasserdiffusion ist eingeschränkt möglich) versehen sein, um das Eindringen feuchter Raumluft in die Wärmedämmschicht zu verhindern. Das ist insbesondere dann wichtig, wenn das Mauerwerk, zum Beispiel durch einen Außenanstrich, ein geringes Diffusionsvermögen aufweist.
Daneben kann eine Dämmschicht auch von außen vernässt werden. Tau oder andere Niederschläge können (beispielsweise in den Fugen aufgeklebter Klinkerverblender) bei Spannungsrissen oder Schwindrissen kapillar eingesaugt werden. Ist die Grenzfläche der Wärmedämmung zur Außenluft dann flüssigkeits- oder dampfdicht und fehlt eine Hinterlüftung, kann eingedrungene Feuchte nicht mehr abtrocknen und der Dämmstoff vernässt flächig und irreversibel (siehe dazu auch Feuchtigkeit#Feuchte in Gebäudebauteilen).
Die Wirksamkeit der Hinterlüftung zur Austrocknung hängt vom Feuchtegehalt der einströmenden Zuluft ab. Hohe Luftfeuchtigkeit und niedrige Oberflächentemperaturen der Bauteile können Tauwasserbildung in der Hinterlüftungsebene bewirken und so eine weitere Durchfeuchtung auslösen.
In der Winterperiode – in diesem Zusammenhang oft als Tauperiode bezeichnet – sind die Temperatur und der Wasserdampfdruck im Inneren höher als außen. Die Außenwand weist daher für beide Werte ein Gefälle nach außen auf. Dieses ist jedoch selbst bei einer homogenen Außenwand nicht gleich, da deren zeitabhängige Speicherwirkung für Wärme und Wasserdampf unterschiedlich ist und sich auch die Temperaturen und Dampfdrücke im Zeitablauf unterschiedlich ändern. Bei inhomogenen Wänden kommt hinzu, dass das Gefälle in den einzelnen Materialien unterschiedlich ist. So hat eine Dampfsperrfolie zum Beispiel ein großes Dampfdruckgefälle, hingegen kaum ein Temperaturgefälle. Bei Dämmstoffen ist es oft umgekehrt, hier ist das Gefälle des Wasserdampfdrucks klein, aber das Temperaturgefälle hoch. Kondensation tritt immer dann ein, wenn die relative Luftfeuchtigkeit örtlich vorübergehend oder (zum Beispiel im Winter) dauernd 100 % überschreitet.
Die Kondenswasserbildung kann auch durch Baustoffe mit hoher Wasserdampfdurchlässigkeit und/oder einem hohen Wasseraufnahmevermögen (Pufferung) bei gleichzeitig geringer Wärmeleitfähigkeit verhindert werden. Beispiele sind Stroh/Lehm oder Holz. Hierbei kann oft auf Dampfsperren verzichtet werden.
Das sachgemäße Belüften von Wohnräumen (insbesondere bei Sanierungen mit Außenanstrich, unsachgemäß angebrachten Dampfsperren und abgedichteten Fenstern) hat einen großen Einfluss auf die Vermeidung von Schimmelbildung.
Siehe auch: Niedrigenergiehaus
Luft- und Raumfahrt
In der Luftfahrt besteht die Gefahr des Vereisens von Tragflächen und Leitwerk durch die Resublimation des in der Luft enthaltenen Wasserdampfes. Dieser Effekt kann die Flugfähigkeit binnen kürzester Zeit sehr stark einschränken und ist für zahlreiche Unfälle verantwortlich. Entgegengewirkt wird diesem Vorgang durch Enteisungsanlagen, welche die kritischen Bereiche (zum Beispiel Tragflächenvorderkante) beheizen, um Eisansatz zu verhindern.
Eine preisgünstigere Methode besteht darin, die Tragflächenvorderkante mit einer Haut aus Gummi zu überziehen und stoßweise Druckluft zwischen die Gummihaut und die Tragfläche zu pressen. Die Haut wölbt sich und durch die Verformung wird das starre Eis abgesprengt. Diese Methode birgt allerdings ein gewisses Risiko. Ist der entstandene Eispanzer zum Zeitpunkt der Auslösung der Druckluft-Enteisung noch dünn, wird er durch die Gummihaut lediglich gewölbt, aber nicht gesprengt. In der Folge lagert sich weiteres Eis an, die erneute Auslösung der Enteisung bleibt ergebnislos. Um diesem Risiko entgegenzuwirken, warten Piloten oft mit der Betätigung der Enteisung, bis sie der Ansicht sind, dass diese auch den tatsächlich gewünschten Effekt zu erzielen vermag.
In der Raumfahrt kommt es bei Raketenstarts zu ähnlichen durch niedrige Außentemperaturen bedingten Problemen. Startfenster werden daher auch nach meteorologischen Gesichtspunkten gewählt und Starts notfalls abgebrochen. Die Nichtbeachtung dieses Grundsatzes kann zum Absturz führen.
Atemschutz
Die Luftfeuchte ist eine wichtige Kenngröße beim Füllen von Druckluftflaschen von z. B. Pressluftatmern. Dafür wird die Luftfeuchtigkeit nach DIN EN 12021 „Druckluft für Atemschutzgeräte“ als maximaler Wassergehalt der in Druckluftflaschen gelagerten Luft und der am Ausgang des Kompressors gemessenen Luft, also die absolute Luftfeuchtigkeit a, d oder f, vorgegeben.
Nach DIN EN 12021 Druckluft für Atemschutzgeräte darf der Wassergehalt in Druckluftflaschen maximal betragen:
bei 200 bar Nenndruck: 50 mg/m3
bei 300 bar Nenndruck: 35 mg/m3
Die absolute Luftfeuchtigkeit der vom Kompressor gelieferten Luft zum Füllen von 200-bar- oder 300-bar-Druckluftflaschen sollte 25 mg/m3 nicht überschreiten.
Die Luftfeuchte wird im Atemschutz mit Prüfröhrchenmessgeräten gemessen. Die Maßeinheit bezieht sich jeweils auf auf Atmosphärendruck entspannte Luft.
Wärmeaustausch
An Wärmetauschern und kalten Rohrleitungen, die kälter als die Umgebungsluft sind, kann Kondensation von Luftfeuchtigkeit und bei Unterschreiten des Gefrierpunkts auch Vereisung auftreten.
Im Inneren eines Kühlschranks, der in der Regel knapp über dem Gefrierpunkt betrieben wird, tritt daher Kondenswasser auf. Ehemals (um 1960/1975) bildete die – einzige – Kühlfläche als horizontale Ebene aus eloxiertem Aluminium den Boden des Gefrierfachs und lag so etwas abgeschirmt über dem Kühlraum. Die Kühlfläche vereiste mit der aus der Raumluft und aus wasserhaltigen Nahrungsmitteln kommenden Luftfeuchtigkeit und musste daher etwa wöchentlich abgetaut werden. Das Eis schmolz dann und tropfte entweder in eine ständig im Kühlschrank eingeschobene Vorrichtung aus dach- und kanalförmigen Stegen in eine Auffangwanne, die händisch herauszuziehen und zu leeren war. Spätere, nicht mehr mit Glaswolle, sondern durch Ausschäumen besser isolierte Geräte hatten eine durchgehende Wanne aus Kunststoff mit einem im Kühlraum hintenliegenden Ablaufstutzen, dessen Stoppel zum Abtauen geöffnet wird, um das Tauwasser in ein daruntergestelles Gefäß abzulassen. Seit etwa 1980 bildet die nahtlos aus geblasenem Kunststoff gebildete Rückwand die Kühlfläche des Kühlraums. Hier kondensiertes Wasser – eventuell während einer Kühlphase vorübergehend gefroren – rinnt nach unten ab in eine eingeformte Rille und weiter durch einen stets offenen Auslass in eine Kunststofftasse außen am warmen Kühlaggregat, wo es verdunstet. Solche Kühlschränke sind selbstabtauend. Das über mit Magnetleisten gefüllte Kunststoffwulste weitgehend luftdicht und damit fast wasserdampfdicht geschlossene Gefrierfach wird nur selten geöffnet und baut deshalb nur wenig Eis auf einer eigenen Kühlfläche auf, das manuell abgetaut werden muss.
Wenn sommers der Taupunkt von Luft in Kellern von Häusern steigt, kondensiert Luftfeuchte auf dem Rohr einer durchflossenen Trinkwasserleitung.
Eine Reihe von Gasen (Propan, Butan, CO2, Lachgas) wird unter Druck verflüssigt in Druckflaschen, Kartuschen oder kleinen Patronen aus Metall vorrätig gehalten. Aus der Gasphase mit ausreichend großer Rate entnommene Mengen werden durch Verdunsten oder Sieden aus der Flüssigphase nachgeliefert, wodurch sich diese abkühlt, was an der Außenseite der aufrecht stehenden Flasche zu flüssiger Kondensation von Luftfeuchte und bei ausreichend niedriger Umgebungstemperatur zu Reifbildung führt, die sichtbar die Spiegelhöhe des Flüssigphase des Inhalts abzeichnet.
Wird nicht speziell entfeuchtete Druckluft aus einem Kessel rasch entlassen, kühlt sich die Luft im Strahl beim Entspannen so weit ab, dass mitgerissene Umgebungsluft unter ihren Taupunkt abgekühlt werden kann, sodass sich temporär und lokal ein wenig Nebel bildet. Ein ähnlicher Effekt tritt beim raschen Öffnen eines aufrechten Gefäßes eines Getränks auf, das unter einem gewissen Druck Kohlenstoffdioxid enthält. Wenn das Getränk nicht herausschäumt, ist kurz eine kleine Nebelschwade über der Öffnung der Flasche oder Dose sichtbar.
In Trinkgläser kalt eingeschenkte Getränke lassen außen Luftfeuchte kondensieren. Um Tische zu schonen, werden Bierdeckel untergelegt. Stielgläser behalten zumeist den Stiel trocken, solange sich der Belag aus feinen Tropfen nicht zu größeren zusammengeballt hat, die abrinnen. Über Stiele von Pilstulpen werden oft Pilsdeckchen gestülpt, die abrinnenden Schaum und Kondenswasser aufsaugen sollen.
An Außenwänden montierte Klimaanlagen lassen im gekühlten Luftstrom Wasser auskondensieren. Geringe Mengen flüssigen Wassers werden so mitunter über kleine Rohre auf den vor einem Geschäftslokal liegenden Gehsteig geleitet.
Entfeuchten und Trocknen von Luft und Stoffen
Entfeuchter bis hinunter zu reisetaschenkleinen Geräten funktionieren durch Abkühlen durchgeblasener Luft bis unter den Taupunkt, Abrinnen des auf den Kühlflächen kondensierten Wassers in ein Sammelgefäß und mehr als Wiedererwärmen der Luft. Typisch wird die Kompressorkältemaschine von einem Elektromotor angetrieben.
Der Einsatz hygroskopischer Stoffe (fest, selten flüssig) empfiehlt sich nur für kleine Luftvolumina. Elektronikgeräten aber auch schimmelanfälligen Lederwaren werden kleine Papiersäckchen von getrocknetem Silicagel beigepackt um Feuchte, die beim Seetransport in Containern durch Kartonverpackungen diffundiert und durch Abkühlen kondensieren kann, bis zu einer gewissen Menge zu binden. Zwischen wasserdampfdichte Lagen von Glas oder Kunststofffolie und ähnlichem wird häufig Seidenpapier oder ähnliches als Zwischenlage gepackt, um den Feuchtigkeitsaustausch zu fördern, um flüssiges Kondenswasser und damit einhergehende Transportvorgänge und Kapillareffekte zu vermeiden.
Im Chemielabor werden Stoffe oft wasserfrei benötigt, um sie ohne Wassergehalt zu verwiegen oder wasserfrei zu verarbeiten. Die Trocknung erfolgt grob an Luft, mehr oder weniger scharf durch Erwärmen eventuell bis zum Glühen. Luftfeuchte bewirkt beim Abkühlen das Wiederaufnehmen von Wasser. Deshalb werden Stoffe in Schalen im Exsikkator neben oder über Trocknungsmitteln gelagert. Der zu trocknende Stoff setzt – bei Raumtemperatur – Wasserdampf als Luftfeuchte frei und z. B. Silikagel, Calciumchlorid oder konzentrierte Schwefelsäure nimmt den Wasserdampf aufgrund höherer Hygroskopizität auf. Das Absaugen von Luft aus dem Exsikkator erfolgt zumeist mit der Wasserstrahlpumpe, dadurch wird das Austreten von Wasserdampf (und anderer Dämpfe) aus der Probe und das Diffundieren des Wasserdampfs zum Trocknungsmittel hin erleichtert. Durch das Erzeugen eines Vakuums von hinunter bis zu etwa 1/100 bar steigt die absolute Luftfeuchtigkeit auf bis zum Hundertfachen an. Wenn nun beispielsweise Wasser mit Umgebungstemperatur (z. B. 20 °C) im Exsikkator als Wasserdampfquelle vorliegt, verändert sich die relative Luftfeuchtigkeit nach Gleichgewichtseinstellung nicht. Denn der Wasserdampfdruck bei 20 °C bewirkt (ideal betrachtet) unabhängig von nebenbei im selben Volumen vorhandener Luftmoleküle stets eine Sättigung mit Wasserdampf, also 100 % relative Feuchte.
Eine Wasserstrahlpumpe wird zweckmäßig mit kaltem Wasser betrieben, da sie in Richtung Vakuum eine Wasserdampfquelle der Temperatur der Pumpe darstellt. Am Exsikkator wird sie zum Absaugen organischer Dämpfe (z. B. von Lösemitteln) eher nur intermittierend und nicht langdauernd eingesetzt.
Beim Gefriertrocknen wird Gefrorenes, oft Lebensmittel, schonend, weil ohne Erhitzung, im Vakuum getrocknet. Dabei wird verdunstender Wasserdampf im Vakuum angesaugt. Aromastoffe, die weniger flüchtig als Wasser sind oder stärker am Stoff anhaften, bleiben diesem erhalten.
Literatur
H. Häckel: Meteorologie. (= UTB. 1338). 4. Auflage. Ulmer Verlag, Stuttgart 1999, ISBN 3-8252-1338-2.
E. Zmarsly, W. Kuttler, H. Pethe: Meteorologisch-klimatologisches Grundwissen. Eine Einführung mit Übungen, Aufgaben und Lösungen. Ulmer Verlag, Stuttgart 2002, ISBN 3-8252-2281-0.
P. Hupfer, W. Kuttler: Witterung und Klima. Teubner, Stuttgart/ Leipzig 1998, ISBN 3-322-00255-1.
W. Weischet: Einführung in die Allgemeine Klimatologie. Borntraeger, Berlin 2002, ISBN 3-443-07123-6.
Weblinks
Informationen in Bezug auf die Rolle der Luftfeuchtigkeit für Holz und Wohnklima
Manfred Reiber: Die Bedeutung der Luftfeuchtigkeit für das Fliegen und Ballonfahren. Aufsatz mit einem umfangreichen allgemeinen Teil zur Luftfeuchtigkeit, (PDF-Datei; 769 kB), private Website
Einzelnachweise
Meteorologische Größe
Wasser (Hydrologie)
Flugmeteorologie
Klimatologie
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Q180600
| 662.390903 |
56812
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https://de.wikipedia.org/wiki/Volksmusik
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Volksmusik
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Volksmusik umfasst Volkslieder und Instrumentalmusikstile, die nach dem Wortsinn zum kulturellen Grundbestand eines Volkes gehören. Stilistisch und in ihrem Gebrauchswert wird damit Volksmusik von Kunstmusik, Kirchenmusik und Popularmusik unterschieden. Die instrumentale Volksmusik, die häufig Volkstänze begleitet, ist überwiegend vom Repertoire der Volkslieder, die an einen Gesangstext gebunden sind, abgeleitet.
Die Verwendung des Begriffes „Volks-Musik“ ist erstmals 1770 durch Jacob von Staehlin in seinen Nachrichten von der Musik in Russland belegt. Den Begriff „Volkslied“ führte Johann Gottfried Herder 1771 als Übertragung des englischen popular song ein. Im 19. Jahrhundert herrschte die Ansicht vor, Volksmusik sei von hohem Alter und ohne bekannten Verfasser aus der Mitte des Volkes heraus entstanden. John Meier fand Anfang des 20. Jahrhunderts, dass zahlreiche Volkslieder auf einen einzelnen Autor zurückführbar waren und folgerte daraus, die Volkslieder seien von der Musik der höheren Schichten übernommen und dem Stilempfinden des breiten Volkes angeglichen worden. Seitdem wurden eine Reihe von kontrovers diskutierten Qualifikationskriterien für die europäische Volksmusik aufgestellt.
Im allgemeinen Sprachgebrauch wird Volksmusik manchmal mit volkstümlicher Musik gleichgesetzt, einer kommerziellen Unterhaltungsmusik mit Elementen der traditionellen Volksmusik. Wo entsprechende, funktional unterscheidbare Musikgattungen vorkommen, kann auch außereuropäische Musik in Volksmusik und Kunstmusik eingeteilt werden.
Begriffsklärung
Das Volkslied in Deutschland verdankt seinen Namen Johann Gottfried Herder (1744–1803), der 1773 vor dem Hintergrund eines sich zu dieser Zeit bereits entwickelnden Nationalbewusstseins erst schottische, dann „deutsche Lieder“ als „Volkslieder“ bezeichnete. Der Begriff „Volkstanz“ stammt erst aus dem 20. Jahrhundert als Abgrenzung zum Gesellschaftstanz.
In der allgemeinen Öffentlichkeit gibt es dagegen Verschiebungen und Gegensätze bei den Begrifflichkeiten, vom popular song oder Popsong bis zum Schlager. Oftmals werden die Bedeutungen sprachlich durch die Bezeichnungen Volksmusik und volkstümliche Musik (auch volkstümlicher Schlager) unterschieden. Insbesondere Anhänger der Volksmusik grenzen sich dadurch von einer Musik ab, die sie als kommerzialisierte „Schunkelmusik“ ablehnen. Medien, Produzenten und Freunde der volkstümlichen Musik unterscheiden die Begrifflichkeiten seltener und bezeichnen auch diese Musik als Volksmusik.
Der Begriff Volksmusik kann für das 20. Jahrhundert nicht exakt festgelegt werden, möglich ist für den deutschsprachigen Raum die Unterteilung:
Die :Kategorie:Volksmusik und die :Kategorie:Volkstümliche Musik entsprechen den beiden Bedeutungen.
Neue Volksmusik (auch Volxmusik genannt) will Jazz, Rock und Folklore mit tradierter, meist alpenländischer Volksmusik verbinden.
Entwicklung
Volksmusik wird oft nicht mehr aktiv ausgeübt, sondern lediglich konsumiert. Die klingende Musik selbst ist fixiert auf Ton- und Bildträgern. Damit fehlt ihr eigentlicher Ort, die Bezogenheit auf bestimmte Ereignisse sowie auch die unmittelbare Kommunikationssituation zwischen Musiker und Hörer. Sie ist an jedem beliebigen Ort und zu jeder beliebigen Zeit verfügbar. Die über AV-Medien passiv rezipierte „Volksmusik“ ist also der kennzeichnenden soziologischen Verankerung von Volksmusik entzogen. Sie gleicht somit die für Volksmusik wesentlichen innerkulturellen Codes aus, wie verschiedene Stilistiken, verwendete Tonsysteme und kulturgebundene Texte.
Es gibt Rundfunk- und Fernsehsendungen, insbesondere im süddeutschen Raum, welche um eine Bewahrung traditioneller Volksmusik bemüht sind – etwa Mei liabste Weis.
Mit Volksmusik wird die traditionelle, häufig schriftlos überlieferte Musik bezeichnet, die für bestimmte Regionalkulturen charakteristisch ist. Bei der Betrachtung und Differenzierung von Musikkulturen müssen stets soziologische Gesichtspunkte herangezogen werden. Das gilt insbesondere für die Volksmusik. Werden die bestimmenden sozialen Verankerungen und damit verbunden die zeitlich bedingten Transformationen von Volksmusiken außer Acht gelassen, entstehen voreilige Schlüsse. Allein ein Höreindruck lässt keine verlässlichen Bestimmungen zu. Präzise musikalische Merkmale oder Gattungen von Volksmusik, die übergreifend gültig wären, lassen sich kaum festschreiben. Um dies zu tun, muss eine Beschränkung auf eine bestimmte Region sowie einen bestimmten Zeitraum vorliegen. Wie auch in der Kunstmusik sind Vokal- und Instrumentalmusik als auch instrumental begleitete Vokalmusik zu unterscheiden. Ebenso kann Volksmusik einstimmig und mehrstimmig, homophon und polyphon gestaltet sein. In den verschiedenen Regionen Georgiens findet sich homophone und polyphone Vokalmusik. Geographisch liegen diese gegensätzlichen Singweisen eng beieinander, denen eine soziale Konnotation innewohnt.
Eine Autonomisierung der Kunst findet beim Volkslied jedoch nicht statt. Dagegen spricht der ausschließlich der Musikschöpfung sich zuwendende und fundiert ausgebildete Künstler die gebildete, zumeist auch musikalisch gebildete, Bevölkerungsminorität des Adels, des Hofes und des Bürgertums an und ist im Wesentlichen auch erst ab der Frühen Neuzeit auszumachen. Gegenüber der Kunstmusik mit ihren professionellen Komponisten und ausgebildeten Ensembles ist die Volksmusik zuerst eine Angelegenheit von Laien. Ferner ist die Kunstmusik fast ausschließlich Aufführungssituationen verpflichtet – also einer strikten Trennung in Publikum und Ausführende. Die Volksmusik lebt dagegen wesentlich von gegenseitiger Interaktion.
Traditionelle Volksmusik
Volksmusik hat ihren Ursprung in der Musizierpraxis der bäuerlich-dörflichen oder kleinstädtischen Gemeinschaften und hat sich angesichts der sozialen Barrieren auch in relativer Selbständigkeit entwickelt. So blieb sie ein unmittelbarer Spiegel der Lebensweise, eingebunden in die alltäglichen Lebensprozesse oder in die (rituellen) Feste des Dorflebens oder der kleinstädtischen Gesellschaft. Volksmusik ist die wesentlichste Quelle populärer Musik, allerdings fehlt ihr der Vortrags- und Darbietungscharakter, sie dient der mündlichen Überlieferung von Traditionen, Geschichten und Sitten, wie es in Gesellschaften vor der Industrialisierung üblich war. Heutzutage ist Volksmusik gegenüber der populären Musik (Pop) etwas in den Hintergrund getreten. Johann Wolfgang von Goethe war zwar der Ansicht, dass Volksmusik nur diejenige sei, die anonym aus dem Volk entstanden sei, er trug aber selbst eigene Volkslieder bei, so wie auch viele andere Komponisten und Autoren von Liedern bekannt sind, die aufgrund ihrer Struktur als Volkslied bezeichnet werden. Volksmusikstücke und Volkslieder entstehen noch in ungebrochener Tradition.
Im bayerischen, österreichischen und schweizerischen Raum wird der ländlich-bodenständigen Volksmusik auch im Rundfunk viel Raum gegeben. Sie wird von der schlagerorientierten, volkstümlichen Unterhaltungsmusik oft streng geschieden. Deshalb bezieht sich der Begriff Volksmusik in diesen Gegenden meist nur auf handgemachte Folklore mit mundartlich vorgetragenen Liedern und tradierten Volksmusikstücken. Die verschiedenen Formen der traditionellen Volksmusik stammen überwiegend noch aus dem 19. und 20. Jahrhundert. Sie wurden von Volkskundlern schriftlich aufgezeichnet und werden von Musikgruppen häufig neu interpretiert bzw. im alten Stil neu geschaffen. Eine besondere Form der Volksmusik war auch das Volkssängertum. Dies war im deutschsprachigen Raum in Wien am stärksten ausgeprägt. Volkssänger trugen in Gasthäusern, Singspielhallen oder Unterhaltungsetablissements ihre Volkslieder vor, die in Wien dem Wienerlied sehr nahestanden bzw. auch dessen Wurzeln darstellen. Volkssänger waren jedoch keine reinen Sänger, sie waren auch Alleinunterhalter. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurden sie daher zunehmend von anderen Unterhaltungsformen wie dem Kabarett abgelöst. Berühmte Volkssänger waren Edmund Guschelbauer oder die „Fiakermilli“. In dieser Tradition steht auch Karl Schönfeldinger aus dem Burgenland, zum Repertoire zählt auch Joseph Haydn, der ja selbst viele Melodien aus der Volksmusik mit eigenem Tonsatz versehen hat.
Dazu gehören u. a. Walzer, Polka, Marsch, Ländler, Boarische, Mazurkas, Schottische, Zwiefache, aber auch Menuette, Tanzstücke, Balladen und die couplethaft vorgetragenen Gstanzln und Schnaderhüpfeln. Im bairisch-alemannischen Raum und in Österreich ist der Jodler verbreitet, Sonderformen sind der im Bayerischen Wald beheimatete Arienjodler oder der in alemannischen Alpengegenden (Schweiz, Allgäu) vorherrschende Naturjodler, der mit seinen eingängigen Harmonien auf Instrumentalbegleitung weitgehend verzichtet. Auch in allen anderen deutschsprachigen Gebieten und bei den traditionellen Minderheiten in Deutschland wird traditionelle Volksmusik gepflegt, vor allem an der Nordseeküste auf Plattdeutsch. Bei den Jugendlichen erfolgte in den letzten fünf Jahrzehnten eine starke Abkehr von traditionellen, mundartlichen Weisen aufgrund der Dominanz der (vor allem englischsprachigen) populären Musik (dazu zählen besonders Rock, Pop). Dieser Trend hat sich in der Schweiz gewendet. Seit 2010 hat eine regelrechte Volksmusikwelle auch urbane Jugendliche erfasst. Volksmusik vermischt sich mit Rap und Pop.
Die oft gehörte Annahme, Volksmusik sei die Musik einer Nation, eines Staatsvolkes, ist in dieser Ausschließlichkeit unhaltbar – sie ist erst durch die Vereinnahmung der Volksmusik durch nationalistische Bewegungen entstanden. Es gibt zahlreiche regionale Gemeinsamkeiten über Sprach- und Staatsgrenzen hinaus, wie unter vielen anderen das Beispiel Zwiefacher zeigt. Texte werden dabei übersetzt, Melodien weitergegeben.
Musik anderer Völker im deutschsprachigen Raum
Popularität in den deutschsprachigen Ländern erfuhren vor allem Volksmusik aus Irland, der Irish Folk, und populäre Musikstile aus den USA. Ferner seien hier noch der griechische Rembetiko und jiddische Klezmer-Musik genannt. Durch die Zuwanderung spanischer Arbeitskräfte, insbesondere aus Andalusien, fand seit den 1960er Jahren der Flamenco zahlreiche Anhänger.
Besondere Instrumente in der Volksmusik
Die in der Kunstmusik verwendeten Musikinstrumente werden bis auf geringe Ausnahmen in der Volksmusik verwendet, zusätzlich sind viele ältere, in der Kunstmusik nicht mehr verwendete Instrumente bislang noch als Volksmusikinstrumente im Gebrauch.
Volksmusik einzelner Regionen in Europa
Alpenländische Volksmusik (Österreich, Schweiz, Süddeutschland, Südtirol, Slowenien)
Bal Folk (Frankreich – und in Deutschland/Schweiz im Stil französischer Tanzfeste)
Bretonische Musik (Bretagne)
Erzgebirgische Volksmusik (Sachsen, Böhmen)
Cante Alentejano (Portugal)
Fado (Portugal)
Flamenco (Südspanien)
Folk (England, Schottland, Wales, Irland, Nordamerika, Skandinavien)
Fränkische Volksmusik (Franken)
Griechische Volksmusik
Irische Volksmusik
Volksmusik in den Karpaten (Polen, Rumänien, Serbien, Slowakei, Ukraine, Ungarn)
Klapa (Kroatien)
Rembetiko (Griechenland)
Shanty (England, Schottland, Wales)
Tarantella (Süditalien)
Landesweite Volksmusikverbände
Österreichisches Volksliedwerk
Verband Schweizer Volksmusik
Siehe auch
Liste von Volksmusikinstrumenten
Institut für Volksmusikforschung und Ethnomusikologie
Literatur
Marianne Bröcker: Volksmusik. In: MGG Online, November 2016 (Die Musik in Geschichte und Gegenwart, 1998)
Hermann Fritz: Untersuchungen über Volksmusik- und Volksliedbegriffe. In: Jahrbuch des Österreichischen Volksliedwerkes. Heft 42/43, Wien 1994, S. 92–144.
Marcello Sorce Keller: The Problem of Classification in Folksong Research. A Short History. In: Folklore, XCV(1984), no. 1, S. 100–104.
Ralf Gehler: Sackpfeifer, Bierfiedler, Stadtmusikanten. Volksmusik und Volksmusikanten im frühneuzeitlichen Mecklenburg. Thomas Helms Verlag, Schwerin 2012, ISBN 978-3-940207-71-5.
Lexikaeinträge
Carl Dahlhaus und Hans Heinrich Eggebrecht (Hrsg.): Brockhaus Riemann Musiklexikon. 2. Auflage. Schott, Mainz 1989, Band 4. S. 324 f.
Weblinks
Manfred Seifert: Volksmusikpflege. In: Historisches Lexikon Bayerns
Einzelnachweise
Genre der traditionellen Musik
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Q235858
| 242.375118 |
18439
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https://de.wikipedia.org/wiki/Epik
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Epik
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Epik ( „zum Epos gehörend[e Dichtung]“), auch erzählende Literatur genannt, ist neben Dramatik und Lyrik eine der drei großen Gattungen der Literatur und umfasst erzählende Literatur in Vers- oder Prosaform. Angewandt im heutigen Sprachgebrauch taucht Epik oftmals in Erweiterung mit anderen Kunstgattungen auf, so etwa im epischen Theater, Film, Musik, Roman, Bühnenwerk, Fernsehfilm und Computerspiel, worin die Handlung ein Thema der Größe, Würde und des Heroismus entfaltet, ähnlich wie im klassischen Epos.
Wortbedeutung
Der Begriff leitet sich vom antiken Epos ab, das in Versen verfasst war und von Helden und Göttern handelte. Beispiele hierfür sind Sophokles' König Ödipus, Homers Ilias oder auch Hesiods Theogonie. Die moderne Epik hingegen ist in Prosaform verfasst und enthält meist einen Erzähler, ist meist fiktional oder teil-fiktional und hat eine bestimmte Zeitstruktur.
Geschichte
Bis zur Poetik des 18./19. Jahrhunderts ist die Epik eine Bezeichnung für die Kunst des Epos. Mit der zunehmenden Differenzierung der epischen Dichtung im 18. Jahrhundert und der Entwicklung der Prosa werden unter dem Begriff Epik alle Genres der erzählenden Literatur erfasst. Die Epik unterscheidet sich von der Dramatik und Lyrik durch grundlegende Merkmale der Gestaltung, der Kommunikation und der Funktionsweise. Zu diesen Merkmalen gehören:
das Erzählen als charakteristische Form der Vermittlung zwischen Erzähler und Zuhörer oder Leser, wobei aus der Perspektive des Erzählers oder einer dritten Figur erzählt wird (Erzählperspektive),
die Vergegenwärtigung des Geschehens als Vergangenes oder ungebundener Umgang mit der Zeit (Erzählerzeit),
die Gestaltung gesellschaftlicher Zustände sowie
die Schilderung individueller Begebenheiten, Erlebnisse (auch als Bewusstseinsstrom bezeichnet).
Zu den ersten epischen Formen finden sich Aufschriften auf Gegenständen, die den Gegenstand erklären (Epigramm) sowie die höheren Formen (Gnome, Apophthegma, Elegie). In den Kosmogonien, Theogonien und mystischen Heilslehren erhält die Epik einen mehr poetischen Gehalt, indem das natürliche Geschehen in personifizierten Taten und Ereignissen dargestellt wird. Für die Formen Märchen, Sagen und Legenden gilt dies gleichermaßen. Bis zum Ende des 18. Jahrhunderts bestimmt das Epos die Merkmale dieser Formen.
In der Übergangsphase von der feudalen zur bürgerlichen Gesellschaft wandelte sich die Epik grundlegend und es erfolgt in Europa der Übergang von der Vers- zur Prosa-Epik, die anfangs nicht selten als Nacherzählung aus der Vers- in die Prosaform Eingang fand. Damit diese differenzierte Welt greifbar zu machen war, mussten sich neue Erzählformen herausbilden. Dazu gehört der Roman. Gleichzeitig entstanden, bedingt durch die industrielle Revolution, effektivere Mechanismen zur Verbreitung und Herstellung von Literatur. Dadurch beschleunigte sich die Entwicklung der literarischen Formen und es entwickelten sich Formen wie die Novelle, die Glosse und die Kurzgeschichte.
Formen der Epik
Großformen
Roman
Abenteuerroman
Entwicklungsroman
Kriminalroman
Bildungsroman
Schäferroman
Epos
Autobiographie
Saga
Kleinformen
Erzählung
Novelle
Anekdote
Kurzgeschichte
Romanze (Literatur)
Kalendergeschichte
Schwank
Verserzählung
Essay
Idylle
Kürzestformen
Sprichwort
Aphorismus
Volkstümliche Formen
Märchen
Sage
Volksballade
Didaktische Formen
Legende
Fabel
Parabel/Gleichnis
Umgangssprachliche Verwendung
Umgangssprachlich wird der Begriff episch häufig verwendet, um auf ein besonders großes Ausmaß (insbesondere Länge, Tiefgründigkeit) einer Aktion hinzuweisen. Beispiele dafür sind Aussagen der Form, dass ein Sachverhalt in epischer Breite, Tiefe oder Länge ausgeführt, beschrieben oder dargestellt wurde. Einerseits besitzt die Verwendung fallweise eine kritische oder negative Konnotation und derjenige, der den Begriff episch einsetzt, deutet damit an, dass die Aktion aus seiner Sicht länger gedauert habe, als er erwartet oder für notwendig erachtet hatte.
Andererseits wird „episch“ (abgeleitet von engl. epic) in der Netzkultur verwendet, um als Superlativ einen Sachverhalt besonders positiv zu bewerten.
Siehe auch
Epos
Prosa
Neuere Deutsche Literaturwissenschaft
Weiterführende Literatur
Volker Mertens, Ulrich Müller (Hrsg.): Epische Stoffe des Mittelalters. Kröner, Stuttgart 1984, ISBN 978-3520483010.
Fritz Peter Knapp: Historische Wahrheit und poetische Lüge. Die Gattungen weltlicher Epik und ihre theoretische Rechtfertigung im Hochmittelalter. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte. Band 54,1980, S. 581–635.
Weblinks
bei der Universität Duisburg-Essen
Einführung in die Literaturwissenschaften: Epik (PDF) an der Universität Kiel.
Einzelnachweise
Epik
Literarischer Begriff
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Q1097273
| 117.209685 |
824650
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https://de.wikipedia.org/wiki/Bogenschie%C3%9Fen
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Bogenschießen
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Das sportliche Bogenschießen ist ein Schießsport mit Pfeil und Bogen. Heute ist das Schießen auf standardisierte Zielscheiben mit Recurvebögen, an denen Zielvorrichtungen und Stabilisatoren angebaut sind, die am weitesten verbreitete Bogensportart. Der verwendete Bogen, der häufig als „olympischer Bogen“ bezeichnet wird, ist ein technologisch hoch entwickeltes Sportgerät, mit welchem genaue Treffer auf große Distanzen erzielt werden können. Das Bogenschießen zählt zu den Präzisionssportarten.
Bogenschießen gehört seit 1972 zu den olympischen Sportarten. Zuvor war es bereits in den Jahren 1900, 1904, 1908 und 1920 im Programm der Olympischen Spiele vertreten. 1904 war es die einzige Sportart bei diesen Spielen, bei der auch Frauen teilnahmeberechtigt waren.
Neben dem sportlichen Bogenschießen wird im meditativen und therapeutischen Bogenschießen der Bogen als Mittel zur Persönlichkeitsentwicklung genutzt.
Geschichte
Das Bogenschießen wurde ursprünglich als Jagdform entwickelt und spielte später lange Zeit als Fernwaffe in kriegerischen Auseinandersetzungen eine bedeutsame Rolle.
Pfeil und Bogen werden seit mindestens 14.000 Jahren (dem ausgehenden Jungpaläolithikum) benutzt, was vor allem durch entsprechende Pfeilspitzen aus Feuerstein belegt ist. Die älteste Bogendarstellung ist als Gravur auf einer Kalksteinplatte der Grotte des Fadets, Dept. Vienne, Frankreich aufgebracht. Sie datiert in das späte Magdalénien. Die ältesten gesicherten archäologischen Belege für den Bogengebrauch stellen vollständig erhaltene Pfeile aus dem Stellmoor bei Hamburg dar (etwa 10.000 v. Chr., Ahrensburger Kultur). Sie wurden aus Kiefernholz hergestellt und besitzen Stielspitzen aus Feuerstein. Die ältesten unzweifelhaften Bogenfunde sind zwei ca. 8000 Jahre alte Flachbogen aus Holmegård (Dänemark). Sie entstammen der Kongemose-Kultur des nordischen Mesolithikums.
Der Kurzbogen entwickelte sich wahrscheinlich mit und in den Steppenreiterkulturen und im Vorderen Orient. Die Hunnen, Awaren, Ungarn, Kumanen, Mongolen und Türken setzten erfolgreich ihre Kompositbögen als Hauptwaffe im Kampf ein.
Der klassische europäische Langbogen wurde in der frühen Neuzeit (ca. 1500 bis 1790) abgelöst. Im englischen Bürgerkrieg in der Mitte des 17. Jahrhunderts wurden noch Langbögen verwendet, kurze Zeit später wurde der Langbogen in England aber endgültig verdrängt. Musketen erlangten eine immer höhere Feuerkraft und Reichweite.
Der Bogen als Waffe spielte in der Neuzeit vorwiegend bei den indigenen Völkern Afrikas, Amerikas und Australiens eine Rolle.
Entwicklung des sportlichen Bogenschießens
Die älteste europäische Schule des Bogenschießens stammt aus dem Jahr 1545 vom englischen Autor Roger Ascham und trägt den Namen „Toxophilus“. Toxophilus, der Freund des Schießens, führt darin einen Dialog mit Philosophos, dem Freund der Weisheit.
Eine Anekdote zum exotischen Status des Bogenschießens im frühen 19. Jahrhundert ist von Johann Peter Eckermann in Gesprächen mit Goethe überliefert. Zur selben Zeit hatte das Bogenschießen in Brabant (Belgien) den Status eines beliebten Volkssports, wie Eckermann im Jahre 1814 beobachtete. Dort schossen junge Männer auf 60 bis 80 Schritt – mit offenbar beeindruckenden Ergebnissen – auf eine Papierscheibe, die an einer nassen Lehmwand befestigt war. Nach eigenen Worten bemühte sich Eckermann einige Jahre vergeblich um eine Popularisierung des Bogensports in Deutschland. Diese Bemerkung ist insofern interessant, als es zwar die Zeit der Einführung der „deutschen Turnbewegung“ durch Turnvater Jahn war, das Bogenschießen jedoch zu dieser Zeit keinen Status als Sport erlangen konnte.
In Großbritannien dagegen entwickelte sich Bogenschießen zum überaus populären Frauensport. Viktorianische Mediziner rieten dringend davon ab, dass Mädchen sich körperlich zu aktiv bewegten. Sie befürchteten, dass zu starke Bewegung den sich entwickelnden Körper von Mädchen und jungen Frauen so sehr schaden würde, dass sie keine Kinder mehr zu Welt bringen könnten. Selbst die täglichen gymnastischen Übungen, denen sich viktorianische Männer zunehmend widmeten, galten als für Frauen zu gefährlich. Als für den weiblichen Bevölkerungsteil akzeptabel galten Spaziergänge sowie Calisthenics, bei denen aber nur die Arme und der Schulterbereich bewegt wurde, Croquet und schließlich Bogenschießen. Bogenschießen ermöglichte eine Bekleidung, die in der zeitgenössischen Vorstellungen als für Frauen schicklich empfunden wurde. Es waren trotzdem überwiegend unverheiratete Frauen, die diese beiden Sportarten ausübten. Für die meisten verheirateten Frauen war es mit dem Bild von angemessenem Verhalten nicht vereinbar, sich sportlich zu betätigen. Trotzdem übten um die Mitte des 19. Jahrhunderts deutlich mehr Frauen als Männer diesen Sport aus. Die notwendige Ausrüstung, um diesem Sport nachzugehen, kostete zwischen 2 und 5 britischen Pfund, wesentlich mehr Geld als den meisten Frauen der Mittelschicht zu dieser Zeit Verfügung stand. Es waren daher fast ausschließlich Frauen der Oberschicht, die diesem Sport nachgingen. Zeitgenössische Berichte machen auch deutlich, dass von der Bogenschützin auch angemessene Kleidung erwartet wurde. Sie widmeten der Kleidung der Sportlerinnen gelegentlich mehr Zeilen als den eigentlichen Resultaten. Alice Legh war die britische Bogenschützin mit einer außergewöhnlichen Reihe von Erfolgen. Sie wird von sportgeschichtlichen Werken mitunter als die herausragendste britische Bogenschützin aller Zeiten oder ohne Einschränkung auf ein Geschlecht als die Person bezeichnet, die in Großbritannien diese Sportart wie keine andere dominierte. Legh lehnte es unter anderem ab, sich 1908 an den Olympischen Spielen zu beteiligen, weil sie sich auf die britische Meisterschaft vorbereiten wollte. Eine Woche nach Austragung der olympischen Kämpfe, die die Britin Queenie Newall für sich entschied, deklassierte Legh ihre Landsfrau.
Ein im Jahre 1920 erschienenes Heftchen mit dem Doppeltitel Bogenschießen / Werfen mit dem Bumerang war lange Zeit die maßgebliche Anleitung für das Bogenschießen in deutscher Sprache. Hohe Auflagen erzielte außerdem das 1948 erschienene Buch von Eugen Herrigel mit dem Titel Zen in der Kunst des Bogenschießens. Dieses Buch beeinflusste auch viele aktive Sportschützen in ihrer mentalen Einstellung zum Schießen, wie John Williams (Olympiasieger von 1972) über sich und Richard McKinney mitteilte.
Grundlagen
Das Bogenschießen beruht auf dem Prinzip eines elastischen Stabes (Bogen), der mit einer Bogensehne gespannt wird. Durch Anspannen der Sehne wirkt der Bogen wie eine Feder und es wird potentielle Energie aufgebaut, die sich beim Lösen der Sehne als kinetische Energie des Pfeils frei setzt. Je stärker die Spannkraft des Bogens und je länger der Auszug der Sehne ist, desto schneller, weiter, geradliniger und durchschlagskräftiger fliegt der Pfeil. Die Spannkraft des Bogens wird traditionell als Zuggewicht an der Sehne in englischen Pfund (1 englisches Pfund = 0,453 kg) bei einem Auszug von 28 Zoll (71,12 cm) gemessen. Das Zuggewicht von Bögen variiert zwischen wenigen Pfund bei Kinderbögen bis über 60 Pfund bei trainierten Schützen.
Bei Compoundbögen, die sich mit seiner speziellen Konstruktion das Hebelgesetz zu nutzen machen, hat der Bogen eine weitaus größere Spannenergie, weil die aufgewendete Zugkraft des Schützen bereits vom Beginn des Auszuges an bis kurz vor dem vollen Auszug annähernd gleichmäßig hoch ist und dadurch dem Pfeil ein wesentlich höherer Impuls gegeben wird. Die Länge des Auszugs hängt von der Armlänge des Schützen und der Art der Schießtechnik ab. Schießtechnik heißt hier vor allem die Wahl des Ankerpunktes, wo die Zughand den maximalen Auszug der Sehne erreicht. Je nach Bogenklasse und Verband, in dem der Bogenschütze sportliches Schießen betreibt, gibt es Beschränkungen in der Abschussgeschwindigkeit (Feld- und Wald: 300 fps (Fuß pro Sekunde)) oder Zuggewicht von 60 Pfund (World Archery, Target).
Organisationen im Bogensport
Der einzige vom Internationalen Olympischen Komitee derzeit anerkannte internationale Verband für den Bogensport ist die World Archery Federation (WA). Dabei handelt es sich um den bis 2010 als Fédération Internationale de Tir à l’Arc (FITA) bekannten Weltverband, dessen Name mit der Umbenennung anglisiert wurde. Deutschland wird in der World Archery Federation ausschließlich durch den Deutschen Schützenbund (DSB) vertreten. Nur über den DSB ist die Qualifikation zu Europameisterschaften, Weltmeisterschaften der WA sowie zu Olympischen Spielen möglich. 3D-Meisterschaften sind im DSB aufgrund der Ablehnung gegenüber dem 3D-Feldbogenschießen nicht vorgesehen, was dazu führt, dass die WA 3D-Weltmeisterschaft in den letzten Jahren ohne deutsche Beteiligung stattgefunden hat.
Innerhalb Deutschland ist der Bogensport in weiteren Verbänden organisiert. Die mitgliederstärksten sind der DSB und der Deutsche Bogensport-Verband (DBSV). Ein weiterer Bogensportverband in Deutschland ist der Deutsche Feldbogen Sportverband (DFBV). Dieser ist international an die International Field Archery Association (IFAA) angebunden, die jedes Jahr qualifikationsfreie Welt- und Europameisterschaften der inkorporierten nationalen Verbände ausrichtet. Wegen der Popularität des Feldbogenschießens als Breitensport gibt es in jüngerer Zeit Kooperationen zwischen dem DFBV und dem DSB. 2016 kam als vierter Verband der Traditionelle Bogensport Verband Deutschland (TBVD) hinzu. Der DBSV und der TBVD sind beide international dem Traditional Archers International (T.A.I.) angeschlossen.
Die Archery Association of Europe (AAE) wurde 1968 von Angehörigen der US-amerikanischen und kanadischen Streitkräfte zunächst als konkurrenzfreier Nischenverband in Deutschland gegründet und ist als übernationaler Verband ebenfalls Mitgliedsverband der IFAA und teilnahmeberechtigt an deren Welt- und Europameisterschaften. Mitglieder der AAE kommen aus zahlreichen Ländern Europas, davon sind die meisten Mitglieder allerdings Deutsche. Die Wettbewerbe und Meisterschaften der AAE werden immer in Deutschland ausgetragen.
Die Schweiz ist im Schweizer Bogenschützen-Verband (kurz: SBV; französisch und italienisch kurz: ASTA) und in der Field Archery Association Switzerland (FAAS) organisiert. In Österreich werden die Bogensportler vom Österreichischen Bogensportverband (ÖBSV) und den jeweiligen Landesverbänden vertreten.
Bogenschießen war von 1900 bis 1920 eine olympische Disziplin, nach einer Unterbrechung ist es das seit 1972 wieder bis in die Gegenwart. Als olympischer Bogen ist nur der Recurvebogen mit Visier zugelassen. Weltmeisterschaften im Bogenschießen werden seit 1931 ausgetragen.
Landesverbände in Österreich
(Quelle: )
Oberösterreichischer Bogensportverband (OÖBSV)
Kärntner Bogensportverband (KBSV)
Salzburger Bogensportverband (SBSV)
Wiener Bogensportverband (WBSV)
Burgenländischer Bogensportverband (BBSV)
Niederösterreichischer Bogensportverband (NÖBSV)
Steirischer Fachverband für Bogenschiessen (STFVB)
Tiroler Bogensport Fachverband (TBSV)
Vorarlberger Bogensportverband (VBSV)
Schießen auf Zielscheiben
Schussablauf
Besonderes Merkmal des Bogensportes ist es, durch Ruhe und Konzentration einen immer gleichbleibenden Schussablauf zu erlangen. Die Schützen schießen hier auf Zielauflagen mit Ringwertung. Im Wettkampfsport wird daher auch Neurofeedback eingesetzt, um bei Sportarten mit hohen Gleichgewichtskomponenten und ruhiger Hand (z. B. Schießen, Bogenschießen, Biathlon) sicher zu treffen.
Das Recurveschießen hat sich in den letzten Jahren zu einem immer populärer werdenden Sport entwickelt. Insbesondere Korea, China und viele andere fernöstliche Staaten verzeichnen Zuwächse. Anders als beim Blankbogen sind Stabilisatoren, Zielhilfen (Visiere) und Auszugsmarkierungen (Klicker) erlaubt.
Der Schießablauf wird dabei über eine Ampel (Ampelsteuerung) geregelt. Hierbei wird ein- und zweireihiges Schießen unterschieden.
Die Länge der Schießzeit ist dabei abhängig vom Wettbewerb und ist in den entsprechenden Regelwerken (zum Beispiel SpO) festgelegt.
Die Zielscheiben sind von innen nach außen in den Farben geteilt, wobei jede Farbe in 2 „Ringe“ geteilt ist. Gelb (nur Gold genannt) = 10 bzw. 9 „Punkte“ (Ringe); Rot = 8/7 Punkte; Blau = 6/5 Punkte; Schwarz = 4/3 Punkte und Weiß = 2/1 Punkt(e) (die Ringzahl reicht von 10 bis 1). Trifft man die Auflage nicht, so wird das als „M“ (Miss) gewertet.
Der Zehner-Bereich für Compound-Schützen ist in der Halle (18 m) kleiner als der für Recurve-Schützen und ist extra eingezeichnet. Diese Kennzeichnung (genannt X) ist auch im Freien vorhanden, wird dort allerdings als Innenzehner gewertet. Bei Ringgleichheit gewinnt der Schütze mit den meisten Innenzehnern. Die Ringe 1 und 2 entfallen völlig. Als Treffer zählt bereits, wenn der den Ring umgebende schwarze Streifen vom Pfeilschaft berührt wird.
Nach dem Schießen werden die Treffer von den Schützen einer Scheibe aufgenommen. Die Ergebnisse werden von zwei Personen getrennt auf sog. Schießzetteln festgehalten. Auf diesen wird der Wert jedes einzelnen Pfeiles sowie die Summe aller erreichten Ringe nach einer Passe aufgeschrieben.
Wettbewerbe im Bogensport
Die bekanntesten Wettbewerbe im Bogensport sind:
WA im Freien (ehemals FITA im Freien)
(Meisterschaften und Olympische Spiele): 2 mal 36 Pfeile auf 70 m Entfernung, danach weiter im K.-o.-Verfahren, 1. gegen 32., 2. gegen 31. usw. bis zum Finale. (→ vgl. Liste der Olympiasieger im Bogenschießen)
FITA-Runde oder Große FITA
Insgesamt werden 144 Pfeile auf verschiedene Entfernungen und Auflagengrößen (Zielscheiben) geschossen. Weiterhin werden in den verschiedenen Wettkampfklassen (unterschieden nach Alter/Geschlecht) unterschiedliche Entfernungen geschossen. Bei den Herren jeweils 36 Pfeile auf 90 m und 70 m (auf Auflagen mit 122 cm Durchmesser) sowie 50 m und 30 m (auf Auflagen mit 80 cm Durchmesser). Bei den Damen werden 70 m und 60 m (122 cm Ø) sowie 50 m und 30 m (80 cm Ø) geschossen. Auf der 30-m-Distanz kann die 80-cm-Ø-Auflage auch durch vier (für jeden Schützen der Scheibe einen) sogenannte Spots ersetzt werden. Dieser hat einen Durchmesser von 40 cm und besteht aus der Mitte der 80-cm-Auflage. Niedrigere Treffer werden dabei als Fehlschuss (M miss) gewertet. Vor einer Wertung (Pfeile holen und aufschreiben der Trefferzahlen scoren) werden bei den zwei weiten Entfernungen jeweils 6 Pfeile, bei den Kürzeren jeweils 3 Pfeile geschossen. Für Schüler- und Jugendklassen gelten teilweise abweichende Regelungen bezüglich Entfernungen und Auflagengrößen. Eine FITA-Runde wird in der Regel an einem Tag geschossen. Bei der sogenannten Doppel-FITA werden zwei FITA-Runden an zwei aufeinanderfolgenden Tagen geschossen.
kleine oder halbe FITA 50 m und 30 m, jeweils 36 Pfeile auf Auflagengröße 80 cm
900er Runde jeweils 30 Pfeile auf 60 m, 50 m und 40 m auf eine 122 cm große Auflage
FITA Halle 2 Durchgänge zu 30 Pfeilen auf 18 m Entfernung. Geschossen wird auf 60-cm-Auflagen (traditionelle Bögen und Schülerklasse A Recurve), 40-cm-Auflagen (Blankbogen und Jugendklasse Recurve) bzw. auf 3er-Spot-Auflagen (die fünf inneren Ringe der normalen 40-cm-Auflage, drei davon untereinander bilden praktisch eine „Ampel“)(Olympischer Recurve und Compoundbogen, wobei der 10er bei Recurve 4 cm und bei Compound 2 cm groß ist).
Bogenliga Halle Siehe auch: 1. Bundesliga Bogen (DSB): Im Ligabetrieb des Deutschen Schützenbundes schießen in einer Liga in der Regel acht Mannschaften gegeneinander. Jede Mannschaft schießt an einem Wettkampftag gegen die restlichen sieben Mannschaften je ein Match. Die Mannschaft besteht aus drei Schützen je Match. Ein Match besteht aus drei bis fünf Passen zu je sechs Pfeilen (jeweils zwei pro Wettkämpfer), seit dem Sportjahr 2015 wird im Satzsystem geschossen. Die Pfeile müssen in 2 Minuten auf zwei senkrecht angeordneten Dreifachauflagen auf 18 m geschossen werden. Die Zusammensetzung der Mannschaft kann nach jedem Match geändert werden.
Eine Ligasaison besteht aus 4 Wettkampftagen, die in der Regel im Zeitraum von November bis Februar stattfinden. Die vier besten Mannschaften aus der 1. Bundesliga Nord und die vier besten Mannschaften aus der 1. Bundesliga Süd schießen Ende Februar ein Finale, in dem der Deutsche Mannschaftsmeister Halle ermittelt wird. Die aktuelle Bundesligaordnung wird jedes Sportjahr durch den Gesamtvorstand des Deutschen Schützenbundes verabschiedet.
Bogenliga im Freien Auch hier schießen Mannschaften mit je drei Schützen gegeneinander. Jeder Schütze schießt 3 Pfeile auf 50 m auf 80-cm-Auflagen. Alle Schützen müssen ihre Pfeile innerhalb von 3 Minuten geschossen haben. Je Wettkampf werden 3 mal 3 Pfeile von jedem Schützen geschossen, also 27 Pfeile pro Mannschaft. Jede Mannschaft schießt gegen jede andere Mannschaft, dabei bekommt der Sieger jeweils 2 Punkte, bei Gleichstand jeder 1 Punkt. Es werden die Punkte zusammengezählt, bei Gleichstand zählen auch die Ringzahlen.
Der DBSV und seine Landesverbände führen einen Ligabetrieb im Freien durch, hier besteht eine Mannschaft aus vier Schützen und es wird auf 70 m geschossen.
Blinde und sehbehinderte Bogenschützen
Bogenschießen ist auch eine Sportart im Blinden- und Sehbehindertensport. Sie kämpft derzeit um Anerkennung als paralympische Sportart.
Weitere Disziplinen
Feldbogen
Unter dem Begriff Feldbogenschießen (kurz: Feldschießen) werden häufig unterschiedliche Disziplinen des Bogenschießens zusammengefasst. Das Feldbogenschießen basiert weitgehend auf dem traditionellen Bogenschießen, aber es wird auch mit Zielvorrichtungen oder anderen Zusatzausstattungen geschossen.
Beim Feldbogenschießen im engeren Sinn werden Zielscheiben im Gelände entlang eines Rundkurses aufgestellt. Die speziellen Zielscheiben sind im Unterschied zur FITA-Zielscheibe schwarz mit einem gelben inneren Kreis. Auf einem Feldparcours sind, ähnlich wie beim Golf Course und anders als beim Zielscheiben-Schießen nach den FITA-Regeln, die Entfernungen zumindest bei der Hälfte der Ziele nicht bekannt und es kann sowohl bergauf wie auch bergab bis zu einem Abschusswinkel von 45° geschossen werden.
3D-Bogenschießen
Das Schießen auf Tierfiguren aus Schaumstoff, meist auf einem Bogenparcours, wird 3D-Schießen genannt. „3D“ weil sowohl die Ziele dreidimensional sind, aber auch die Schüsse nicht nur in ebenem Feld erfolgen, sondern ebenso hinauf und hinunter. Das 3D-Schießen wird der Jagd nachempfunden, jedoch kommt kein Tier zu Schaden. Die Situation wird dabei möglichst eng an das jagdliche Vorbild angelehnt. Der Schütze muss durch Astgabeln hindurch, Hänge hinauf oder von Hochständen herab im Stehen, kniend oder sogar liegend versuchen, das Ziel zu treffen.
Ziel ist es, den Pfeil in das Kill des stilisierten Tiers zu platzieren, also den Bereich, wo Herz und Lunge lägen. Zu einem Parcours gehören typischerweise etwa 28 Ziele, auf die jeweils maximal 3 Pfeile geschossen werden dürfen. Bei einem Treffer werden die restlichen Pfeile nicht geschossen. Außerdem gibt es einzelne Ziele oder bei kleinen Parcours die Möglichkeit einer sogenannten „Hunter“ („Jäger“)-Wertung, bei der nur ein einziger Pfeil geschossen wird. Es wird von einem Pflock abgeschossen. Der Schütze muss sich beim Abschuss hinter diesem Pflock befinden und ihn berühren, um für alle Schützen gleiche Bedingungen zu schaffen. Oft gibt es Pflöcke in verschiedenen Entfernungen für Jugendliche, Schützen mit Bögen mit und ohne Visiereinrichtung.
Die Bewertung erfolgt zum Beispiel nach folgendem Schema (es existieren aber noch andere Wertungssysteme):
4D-Bogenschießen
Beim 4D-Bogenschießen werden große Leinwände genutzt, die mit einem Projektor beleuchtet werden. Dies ermöglicht ein Training mit bewegten Zielen. Hierbei kommt eine spezielle Sensorik zum Einsatz, die den Pfeilflug bzw. dessen Einschlag in der Leinwand registriert. Das Target ist so ausgeführt, dass der abgeschossene Pfeil in dieser langsam abgebremst und nicht beschädigt wird. Dafür kommen spezielle Polymerschäume zum Einsatz. Somit können die Pfeile beliebig wiederverwendet werden.
Hauptsächlich werden zwei Disziplinen unterschieden: Jagdliches-4D und 4D. Beim Jagdlichen-4D kommen Naturszenen oder animierte Inhalte zum Einsatz. Die Herausforderung besteht darin, genau zu erahnen, wo sich der sogenannte Kill befindet. Im Gegensatz zu dieser Disziplin wird beim 4D das eigentliche Ziel klar markiert.
Clout-Schießen, Roving und Flight Shooting
Beim Clout-Schießen ( ‚Lappen‘) wird auf eine im Boden angebrachte Flagge (den ‚Clout‘) gezielt. Die Schussdistanz variiert je nach Regelwerk sowie Geschlecht und Altersklasse der Schützen, beträgt aber meist mehr als 100 m, sodass ein relativ steiler Abschusswinkel nötig ist um das Ziel zu erreichen.
Beim Roving stehen die Zielflaggen im Unterschied zum Clout-Schießen in unterschiedlichen unbekannten Entfernungen.
Es werden alle Treffer in bestimmten Umkreisen mit verschiedenen Punkten gewertet. Nocke oder Spitze im Kreis wird gezählt.
Beim Flight Shooting oder Weitschießen ist das Ziel, möglichst weit zu schießen.
Traditionelles Bogenschießen
Seit einigen Jahren gewinnt das traditionelle Bogenschießen mit Bögen, an denen keinerlei technisches Zubehör angebracht ist, an Beliebtheit. Neben dem Recurvebogen in seiner Form als Blankbogen wird hier mit dem Langbogen, dem Reiterbogen und dem Primitivbogen geschossen. Es werden auch selbst gebaute Bögen verwendet. Bei dieser Sportart wird häufig auf Parcours im Wald eine Jagd simuliert und auf Tierattrappen geschossen.
Beim traditionellen Bogenschießen werden ausschließlich Blankbögen ohne technische Hilfsmittel wie Zielvorrichtungen oder Stabilisatoren benutzt. Diese Art des Schießens wurde im Kulturkreis der „westlichen Welt“ zu Beginn des 20. Jahrhunderts in den USA wiederentdeckt und erlangte durch Bogenlegenden wie Saxton Pope, Arthur Young und Howard Hill durch öffentliche Vorführungen und Filmaufnahmen große Beliebtheit.
Dieses traditionelle Bogenschießen, auch als instinktives oder intuitives Bogenschießen bezeichnet, gewinnt seit den 1980er Jahren auch im deutschsprachigen Raum an Beliebtheit. Auch Profis, die ihr Ziel mit nahezu 100%iger Sicherheit treffen und eine neue Herausforderung oder Abwechslung suchen, wechseln öfter zum intuitiven Bogenschießen. Die Treffgenauigkeit kann bei guter Übung praktisch gleich der eines Bogenschützen sein, der mit einem geschlossenen Auge und mit technischen Hilfsmitteln zielt. Ein mehrfacher Weltmeister im „technisierten Schießen“ auf der FITA-Runde, Darrell Pace, legte den Grundstein für seinen Erfolg mit dem Jagdschießen ohne Visier.
Berittenes Bogenschießen
Beim berittenen Bogenschießen wird mit kurzen Reiterbögen vom Pferderücken aus, meist im Galopp, geschossen. Die Schießtechnik ähnelt der des traditionellen instinktiven Bogenschießens. Genutzt wurde diese Form des Bogenschießens von den Soldaten des mongolischen Herrschers Temüdschin, bekannt als Dschingis Khan, welche ausgezeichnete Bogenschützen und Reiter waren und mit ihrer revolutionären Kriegsstrategie große Teile Eurasiens eroberten.
Kyūdō
Kyūdō heißt das traditionelle japanische Bogenschießen, welches auf der alten Kriegstechnik der Samurai gründet und sich unter dem Einfluss des Zen-Buddhismus zu einer Kunstform entwickelte. Sowohl die Bauart des Bogens, als auch die Technik des Schießens unterscheidet sich grundsätzlich von westlichen Formen des Bogenschießens.
Yabusame ist eine ältere traditionelle japanische Art des Bogenschießens, die vom Pferd aus ausgeübt wird.
Therapeutisches Bogenschießen
Seit Mitte der 1990er Jahre rückte das traditionelle Bogenschießen in das Interesse von Körpertherapeuten und Psychotherapeuten. In vielen psychosomatischen Kliniken, in der Therapie für Kinder und Jugendliche und in der Rehabilitation wird Bogenschießen als Bestandteil der Behandlung angeboten. Dabei werden die beim Bogenschießen inhärenten Gegensätze zwischen Anspannung und Entspannung, zwischen Konzentration und Loslassen und zwischen Disziplin und Spiel therapeutisch genutzt.
Ausrüstung für das Bogenschießen
Ausrüstung des Bogenschützen
Neben dem Bogen mit oder ohne Pfeilauflage und den Pfeilen gehört zur Ausrüstung des Bogenschützen ein Köcher, der auf dem Rücken oder an der Seite getragen wird oder am Bogen befestigt ist, ein Armschutz, ein Fingerschutz in Form eines Tabs, Schießhandschuhs oder Releases für die Hand, welche die Sehne zieht und gegebenenfalls ein Brustschutz und eng anliegende Kleidung, da die Sehne eng am Körper entlangschnellt. Häufig wird ein Bogenständer für die Ablage des Bogens benutzt.
Erweiterte Bogenausstattung
Je nach Schießart kann die Bogenausstattung durch unterschiedliche technische Zusätze am Bogen und an der Sehne erweitert werden. Es gibt verschiedene Ausführungen von Pfeilauflagen, Bogenvisiere, Klicker, Overdraws, Peepsights, Stabilisatoren für Wurfarme und Bogen und Zusätze für die Bogensehne, wie Geräuschdämpfer, Kisserbuttons und Nockpunkthilfen (aus Metall oder „D-Loops“).
Sicherheitsvorschriften
Bögen sind Sportgeräte, die nicht unter das Waffenrecht fallen. (Dies hängt u. a. damit zusammen, dass im Bogen keine Abschussenergie gespeichert werden kann.) Deshalb stellen Bogenplätze keine genehmigungspflichtigen Schießstätten dar und es ist zu deren Betreiben keine waffenrechtliche Erlaubnis zum Betreiben einer Schießstätte nach § 27 Abs. 1 WaffG erforderlich. Dennoch können von Bögen Gefahren ausgehen. Insbesondere bei Bogenplätzen im Freien besteht bei nicht ordnungsgemäßer Durchführung des Schießens die Möglichkeit, dass durch die abgeschossenen Pfeile Personen oder Sachen und somit die öffentliche Sicherheit gefährdet werden. Die Gewährleistung der öffentlichen Sicherheit ist je nach Landesrecht unterschiedlichen Behörden zugewiesen.
Der Deutsche Feldbogen Sportverband und der Deutsche Schützenbund haben zur Gewährleistung der öffentlichen Sicherheit und zur sicheren Durchführung des Bogenschießens die Sicherheitstechnischen und Baulichen Regeln für Bogenplätze veröffentlicht. Darin werden Ausführungen zur baulichen Gestaltung von Bogenschießbahnen und Feldparcours gemacht, Gefahren-, Sicherheits- und Unbedenklichkeitsbereiche festgelegt sowie Vorgaben zum Verhalten gemacht. Die Sicherheitstechnischen und Baulichen Regeln stellen Sicherheitsregeln nach Stand der Technik dar. Der Deutsche Bogensport-Verband wendet diese Regeln ebenfalls an. Die Bogensportverbände empfehlen bei der Einrichtung von Bogenplätzen in jedem Fall die Abstimmung mit den zuständigen Behörden.
Siehe auch
Liste der olympischen Wettkampfstätten im Bogenschießen
Literatur
Fred G. Asbell: Instinktives Schießen 1. Eine Anleitung zum besseren Bogenjagen. 6. Auflage. Verlag Angelika Hörnig, Ludwigshafen 2007. ISBN 978-3-9805877-2-3.
Fred G. Asbell: Instinktives Schießen 2. 3. Auflage. Verlag Angelika Hörnig, Ludwigshafen 2002. ISBN 978-3-9805877-9-2.
Hilary Greenland: Praktisches Handbuch für traditionelle Bogenschützen. 2. Auflage. Verlag Angelika Hörnig, Ludwigshafen 2007. ISBN 978-3-938921-06-7.
Oliver Haidn, Jürgen Weineck, Veronika Haidn-Tschalova: Bogenschießen – Trainings- und bewegungswissenschaftliche Grundlagen. Spitta Verlag, 2010, ISBN 978-3-938509-74-6.
Leo Duncan (Hrsg.): Mentale Fitness beim Bogenschießen – 40 Übungen, educatium.de .
Ekkehard Höhn, Karl-Heinz Hörnig: Traditionell Tunen – Feinabstimmung von Langbogen und Recurve. Verlag Angelika Hörnig, Ludwigshafen 2000. ISBN 978-3-9805877-1-6.
Ekkehard Höhn: Der befreite Schuss. Von der Scheibenpanik zum harmonischen Bogenschießen. Verlag Angelika Hörnig, Ludwigshafen 2008. ISBN 978-3-938921-09-8.
Volkmar Hübschmann (Hrsg.): Bogenschießen – Ausrüstung und Zubehör selbst gemacht. Angelika Hörnig, Ludwigshafen 2007, ISBN 978-3-938921-03-6.
Manfred Korfmann: Schleuder und Bogen in Südwestasien: von den frühesten Belegen bis zum Beginn der historischen Stadtstaaten. Antiquitas: Reihe 3, Abhandlungen z. Vor- u. Frühgeschichte, zur klass. u. provinzial-röm. Archäologie u. z. Geschichte d. Altertums, Bd. 13. Habelt, Frankfurt 1972, ISBN 3-7749-1227-0.
Kisik Lee, Tyler Benner: Total Archery – Der Bogenschütze von Innen. Astra, Chula Vista 2009, ISBN 978-0-9824265-1-7.
Clemens Richter: Bogenschiessen – Der abendländische Weg. Edition NATURE LIFE im DSV-Verlag, Hamburg 2000, ISBN 3-88412-346-7.
John C. Williams: Lehrbuch des Bogensports. Weinmann, 2010, ISBN 978-3-87892-050-2.
Weblinks
Einzelnachweise
Schießsportdisziplin
Olympische Sportart
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Q108429
| 234.070613 |
1007867
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https://de.wikipedia.org/wiki/Verhaltens%C3%B6konomik
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Verhaltensökonomik
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Die Verhaltensökonomik ( , auch Verhaltensorientierte Ökonomik) ist ein Teilgebiet der Wirtschaftswissenschaft. Sie beschäftigt sich mit menschlichem Verhalten in wirtschaftlichen Situationen. Dabei werden auch Konstellationen untersucht, in denen Menschen im Widerspruch zur Modell-Annahme des Homo oeconomicus, also des rationalen Nutzenmaximierers, agieren. Derartige Fragestellungen werden zudem mathematisch von der Spieltheorie untersucht. Da von Menschen in der Regel nur teilweise, jedoch nicht durchgehend von der rationalen Nutzenmaximierung bei ökonomisch relevanten Entscheidungen abgewichen wird, müsste, streng genommen, von einer „verhaltensorientierten Ökonomik“ gesprochen werden. Der Übergang der Verhaltensökonomik zur Ökonomischen Psychologie ist fließend.
Subdisziplinen der Verhaltensökonomik sind die verhaltensorientierte Finanzmarkttheorie (engl. ), welche sich mit dem vermeintlich irrationalen Verhalten auf Finanz- und Kapitalmärkten beschäftigt, und teilweise die verhaltensorientierte Politikgestaltung (engl. behavioral public policy), sofern angewandt auf ökonomische Kontexte.
Geschichte
Während der Ära der klassischen Nationalökonomie bestand eine enge Verbindung zwischen der Wirtschaftstheorie und der Psychologie. zum Beispiel schrieb einen wichtigen Text, in dem er psychologische Prinzipien des individuellen Verhaltens beschrieb, (Die Theorie moralischer Gefühle). schrieb ausführlich über die psychologischen Fundamente der Nützlichkeit. Wirtschaftler begannen erst, sich von der Psychologie zu entfernen, als sie während der Ära der Neoklassischen Theorie versuchten, ihre Disziplin als Naturwissenschaft zu etablieren. Nun wurde versucht, wirtschaftliches Verhalten von Annahmen aus der Natur der wirtschaftlich Handelnden abzuleiten. Es wurde das Konzept des Homo oeconomicus entwickelt, und die Psychologie dieses hypothetischen Wesens beruhte grundsätzlich auf der Vernunft. Trotz allem beeinflusste die Psychologie die Analysen vieler wichtiger Figuren bei der Entwicklung der neoklassischen Theorie, wie , und .
Gegen Mitte des 20. Jahrhunderts war die Psychologie weitgehend aus der ökonomischen Diskussion verschwunden. Eine Vielzahl von Faktoren trug dazu bei, dass ihr Einfluss auf wirtschaftliche Entscheidungen wieder aufgegriffen und die Theorie der entwickelt wurde. Modelle über erwartete Nützlichkeit und Nützlichkeit nach Kostenabzug () waren zuvor zu weitgehender Anerkennung gelangt, indem sie überprüfbare Hypothesen unter Berücksichtigung von Unsicherheit beziehungsweise zwischenzeitlichem Verbrauch () lieferten. Eine Reihe beobachteter und sich wiederholender Anomalien stellten diese Hypothesen infrage. Des Weiteren begann die kognitive Psychologie in den 1960er Jahren, das Gehirn im Gegensatz zu Modellen des als Informationsverarbeitungsmaschine anzusehen. In der Folge begannen Psychologen auf diesem Gebiet wie Ward Edwards, Amos Tversky und Daniel Kahneman, ihre kognitiven Modelle des Entscheidungsprozesses unter Risiko und Unsicherheit an wirtschaftlichen Modellen vernünftigen Verhaltens zu erproben.
Vielleicht der wichtigste Aufsatz bei der Entwicklung der Disziplin der und wurde von Kahneman und Tversky 1979 geschrieben. Dieser Aufsatz mit dem Namen verwendete kognitive psychologische Techniken, um eine Anzahl dokumentierter Anomalien beim Treffen vernünftiger wirtschaftlicher Entscheidungen zu erklären. Weitere bedeutende Schritte auf dem Weg zur Entwicklung der Disziplin waren eine gutbesuchte und vielseitige Konferenz an der Universität von und eine Sonderausgabe im Jahr 1997 des anerkannten zum Gedenken an Amos Tversky, die sich mit dem Thema der beschäftigte.
Der erste Nobelpreis für das Thema Verhaltensökonomik wurde 2002 zu gleichen Teilen an Daniel Kahneman und Vernon Smith verliehen. Zuvor hatte bereits 1994 der deutsche Verhaltensökonom und Begründer des Labors für experimentelle Wirtschaftsforschung an der Universität Bonn, Reinhard Selten, den Nobelpreis für seinen Beitrag zur Spieltheorie erhalten. Im Jahr 2017 wurde Richard Thaler mit dem Nobelpreis für seinen Beitrag zur Verhaltensökonomik ausgezeichnet.
Allgemeines
Die grundlegende Theorie der Haushaltstheorie in der Mikroökonomie untersucht wirtschaftlichen Entscheidungen von, meist privaten, Haushalten. Diese Theorie unterliegt starken Annahmen die nicht immer der Realität entsprechen. Diese wären unter anderem:
Verbraucher bevorzugen manche Güter klar gegenüber anderen Gütern.
Verbraucher unterliegen Budgetbeschränkungen.
Verbraucher wählen bei gegebenen Präferenzen, ihrem begrenzten Einkommen und gegebenen Preisen verschiedene Güterkombinationen, die ihre Zufriedenheit, daher ihren Nutzen, maximieren.
Präferenzen sind jedoch nicht immer eindeutig, sie können sich je nach Kontext der Entscheidungsfindung ändern, beispielsweise spielen ungerechte Preise eine Rolle. Zudem sind Verbraucherentscheidungen nicht immer nutzenmaximierend. Nutzenmaximierend wäre es kein Trinkgeld zu geben, dies geschieht jedoch alltäglich. Durch realistischere und detailliertere Annahmen zum menschlichen Verhalten kann man ein besseres Verständnis der Verbrauchernachfrage erlangen, dabei werden Erkenntnisse der Psychologie und Soziologie genutzt. Dies ist das Ziel der Verhaltensökonomik.
Entscheidende Beobachtungen
Es gibt drei hauptsächliche Themen in der Theorie der
Heuristik: Menschen treffen Entscheidungen häufig auf Grundlage einer einfachen, schnellen und stabilen Faustregel, nicht nur aufgrund einer Analyse aller Möglichkeiten oder einer genauen Berechnung verschiedener Wahrscheinlichkeiten. Eine Erklärung für dieses Verhalten wäre wenn Menschen aufgefordert werden Wahrscheinlichkeiten von einem Ausgang einzuschätzen, beurteilen sie tatsächlich etwas anderes, jedoch nicht die Wahrscheinlichkeit selbst. Sie glauben nur, dass sie die gefragte Wahrscheinlichkeit beurteilt hätten. Heuristiken sind damit ein einfaches Verfahren adäquate, wenn auch oftmals unvollkommene Antworten auf schwierige Fragen zu finden. Sie können zu Kognitive Verzerrungen in der Urteilskraft von Menschen führen. Viele dieser Verzerrungen wurden untersucht, siehe dazu Liste kognitiver Verzerrungen.
Framing-Effekt: Die Art und Weise, wie ein Problem oder eine Entscheidung vorgestellt wird, beeinflusst die Handlung des Entscheidenden.
Unvollkommene Märkte (): Versuche, beobachtete Markthandlungen zu erklären, die vernünftigen Erwartungen und der Markteffizienz zuwiderlaufen. Diese beinhalten fehlerhafte Bepreisung, unvernünftige Entscheidungen und Anomalien beim Gewinn. Besonders Richard Thaler hat in einer Vielzahl von Aufsätzen besondere Marktanomalien aus der Perspektive des Behaviorismus beschrieben.
Marktweite Anomalien können nicht generell mit Vorurteilen von Individuen erklärt werden. Individuelle Präferenzen allein können Marktpreise und Gewinne nicht signifikant verschieben. Zudem können sich individuelle Vorurteile wechselseitig neutralisieren. Kognitive Voreingenommenheiten haben wirklich ungewöhnliche Effekte nur dann, wenn es eine gesellschaftliche Kontamination mit einem sehr emotionalen Inhalt gibt, wie allgemeine Habgier oder allgemeine Panik. Diese führen dann zu weit verbreiteten Phänomenen wie Herdenverhalten und Gruppendenken. beruht genauso viel auf der Sozialpsychologie wie auf der individuellen Psychologie.
Es gibt zwei Ausnahmen zu dieser allgemeinen Aussage. Zunächst kann es sein, dass derart viele Individuen ein voreingenommenes Verhalten zur Schau stellen – das heißt ein Verhalten, das von vernünftigen Erwartungen abweicht –, dass dieses Verhalten die Norm darstellt und somit marktweite Auswirkungen hat. Weiterhin haben einige behavioristische Modelle ausdrücklich gezeigt, dass eine kleine aber bedeutende Gruppe marktweite Auswirkungen hervorrufen kann (siehe z. B. Fehr und Schmidt, 1999).
Auch George Akerlof und Robert Shiller versuchen in ihrem Buch Animal Spirits Erkenntnisse der Verhaltensökonomie für eine makroökonomische keynesianische Konjunkturtheorie fruchtbar zu machen.
Methoden
Zu Beginn wurden die Theorien von beinahe ausschließlich durch experimentelle Beobachtungen und Antworten auf Befragungen entwickelt. In jüngerer Zeit nahm auch die Bedeutung von Daten aus der wirklichen Welt zu. Auch die Funktionelle Magnetresonanztomografie (fMRT) wurde eingesetzt, um herauszufinden, welche Gehirngegenden bei den verschiedenen Schritten des wirtschaftlichen Entscheidens benutzt werden. Experimente, die Marktsituationen wie Börsenhandel und Auktionen simulieren, wurden als besonders nützlich angesehen, da sie ermöglichen, die Auswirkungen einer bestimmten Voreingenommenheit auf das Verhalten zu isolieren; das beobachtete Marktverhalten kann typischerweise auf verschiedene Weisen erklärt werden. Sorgsam entwickelte Experimente können dabei helfen, die Zahl nachvollziehbarer Erklärungen einzugrenzen. Die Experimente sind so gestaltet, dass sie vergleichbare Anreize schaffen, wobei verbindliche Transaktionen unter Verwendung echten Geldes die Norm sind.
Abgrenzung zur Ökonomischen Psychologie
Siehe die Abgrenzung in Ökonomische Psychologie.
Kritik an der Theorie an Verhaltensökonomik
Kritiker der betonen typischerweise die Vernunft der wirtschaftlich Handelnden (siehe Myagkov und Plott (1997), unter anderen). Sie behaupten, dass experimentell beobachtetes Verhalten sich nicht auf Marktsituationen übertragen lässt, weil Lerngelegenheiten und Wettbewerb sicherstellen werden, dass es wenigstens zu einer weiten Annäherung an vernünftiges Verhalten kommen wird. Andere merken an, dass kognitive Theorien wie die lediglich Modelle des Entscheidens sind, nicht verallgemeinerbares wirtschaftliches Verhalten, und sie deshalb nur anwendbar sind auf die einmaligen Entscheidungsprobleme, die den Teilnehmern von Experimenten oder Befragungen gestellt werden.
Traditionelle Wirtschaftler sind ebenfalls skeptisch bezüglich der bei Experimenten und Befragungen verwendeten Techniken, die in den eine große Rolle spielen. Wirtschaftler betonen die Bedeutung der tatsächlichen Präferenzen im Gegensatz zu den bei Befragungen „angegebenen Präferenzen“, um einen wirtschaftlichen Wert zu bestimmen. Experimente und Befragungen müssen sorgfältig vorbereitet werden, um systemimmanente Voreingenommenheiten, strategisches Verhalten und das Fehlen von Anreizvergleichbarkeit () zu vermeiden. Viele Wirtschaftler misstrauen wegen der Schwierigkeiten bei Ausschluss dieser Möglichkeiten den Ergebnissen, die auf diese Weise gewonnen werden. Rabin (1998) lehnt diese Kritiken ab, indem er argumentiert, dass die Ergebnisse in verschiedenen Situationen und Ländern nachgestellt werden können, und sie zu guten empirischen Bestätigungen der theoretischen Modelle führen.
Kritiker der , wie zum Beispiel Eugene Fama, unterstützen meist die Theorie des vollkommenen Marktes. Sie behaupten, dass eher eine Sammlung von Anomalien sei, als ein echter Zweig der Finanztheorie, und dass diese Anomalien irgendwann aus dem Markt gepreist werden oder unter Berufung auf Argumente der Mikrostrukturen des Marktes erklärt werden. Es sollte jedoch ein Unterschied gemacht werden zwischen individuellen Voreingenommenheiten und gesellschaftlichen Voreingenommenheiten; Erstere können durch den Markt ausgeglichen werden, während die anderen Rückkopplungen hervorrufen können, die den Markt weiter und weiter vom „fairen Preis“ entfernen. Wie weit sich die Theorien, die auf der Annahme „vollkommener Märkte“ aufbauen, von der Realität entfernt hatten, zeigte die Subprime-Krise im Jahre 2008, der eine Spekulationsblase auf dem US-Immobilienmarkt zugrunde lag. Generell sind Spekulationsblasen in den Rationalität annehmenden Modellen kaum zu erklären, traten jedoch in der Geschichte immer wieder auf.
Ein besonderes Beispiel dieser Kritik findet sich in einigen Erklärungsversuchen des Equity-premium-Rätsels. Es wird argumentiert, dass sich das Rätsel daraus ergibt, dass Markteintrittsbarrieren (sowohl praktischer als auch psychologischer Art) früher den Markteintritt von Individuen in den Wertpapierhandel verhindert haben. Demnach wird sich der Unterschied der erzielten Gewinne zwischen Wertpapieren und Anleihen mit der Zeit verringern, sobald elektronische Mittel den Wertpapierhandel einer größeren Zahl von Händlern zugänglich machen werden. Darauf erwidern andere, dass viele persönliche Investmentfonds durch Pensionskassen verwaltet werden, so dass der Effekt dieser vermeintlichen Schranken gering wäre. Außerdem scheinen professionelle Investoren und Fondsmanager mehr Anleihen zu halten, als man angesichts der langfristigen Gewinnunterschiede vermuten würde.
Siehe auch
Behavioral Strategy
Emotionen in der Ökonomik
Sentimentanalyse
Besitztumseffekt
Sozialökonomische Verhaltensforschung
Ultimatumspiel
Value Investing
Literatur
Primärliteratur
Deutschsprachige Bücher
Hanno Beck: Behavioral Economics. Eine Einführung. Springer Gabler, 2014, ISBN 978-3-658-03367-5.
Rolf J. Daxhammer, Máté Facsar: Behavioral Finance UVK Verlagsgesellschaft/ UTB, München 2012, ISBN 978-3-8252-8504-3.
Joachim Goldberg, Rüdiger von Nitzsch: Behavioral Finance. FinanzBuch-Verlag, 1999.
Bernhard Jünemann, Dirk Schellenberg (Hrsg.): Psychologie für Börsenprofis. Die Macht der Gefühle bei der Geldanlage. Schäffer Poeschel.
Arnold Kitzmann: Massenpsychologie der Börse. So bestimmen Erwartungen und Gefühle Kursverläufe. Gabler, 2009.
Nils Kottke: Entscheidungs- und Anlageverhalten von Privatinvestoren. Gabler, 2005.
Raimund Schriek: Besser mit Behavioral Finance: Finanzpsychologie in Theorie und Praxis. FinanzBuch-Verlag, 2009.
Englischsprachige Bücher
Michael Pompian: Behavioral Finance and Wealth Management. How to built optimal portfolios that account for investor biases. Wiley Finance, 2006.
Hersh Shefrin: Beyond Greed and Fear: Understanding behavioral finance and the psychology of investing. Oxford University Press, 2007.
Andrei Shleifer: Inefficient Markets: An Introduction to Behavioral Finance. Oxford University Press, 1999.
Richard Thaler: Misbehaving: The Making of Behavioral Economics. W. W. Norton, New York 2015, ISBN 978-0-393-08094-0.
Richard Thaler: The Winner’s Curse: Paradoxes and anomalies of economic life. Princeton University Press, 1994.
Richard Thaler (Hrsg.): Advances in Behavioral Finance. Band I, Russell Sage Foundation, 1993; Band II, Princeton University Press, 2005.
Wissenschaftliche Aufsätze (englisch)
Daniel Kahneman, J. L. Knetsch, Richard Thaler: Anomalies: The endowment effect, loss aversion, and status quo bias. In: The Journal of Economic Perspectives. Band 5, 1991, S. 193–206.
Daniel Kahneman, Amos Tversky: Prospect theory: An analysis of decision under risk. In: Econometrica. Band 47, 1979, S. 263–292.
Daniel Kahneman, Amos Tversky: Choices, Values and Frames. Cambridge University Press, 2000.
Matthew Rabin: Psychology and Economics. In: Journal of Economic Literature. Band 36, 1998, S. 11–46.
Amos Tversky, Daniel Kahneman: Judgment under uncertainty: Heuristics and biases. In: Science. Band 185, 1974, S. 1124–1131.
Amos Tversky, Daniel Kahneman: The framing of decisions and the psychology of choice. In: Science. Band 211, 1981, S. 453–458.
Sekundärliteratur
Floris Heukelom: Behavioral Economics. A History. Cambridge 2014.
Rüdiger Graf: »Heuristics and Biases« als Quelle und Vorstellung. Verhaltensökonomische Forschung in der Zeitgeschichte. In: Zeithistorische Forschungen. 12, 2015, S. 511–519.
Weblinks
behaviouralfinance.net, Internetseite mit Literatur und zahlreichen Verweisen und Zitaten (englisch).
Quellen
Mikroökonomie
Wirtschaftspsychologie
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Q647525
| 158.722682 |
67480
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https://de.wikipedia.org/wiki/Kambrium
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Kambrium
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Das Kambrium ist eine Zeitspanne der Erdgeschichte, die dem Zeitraum von vor bis vor Millionen Jahren entspricht. Diese Periode ist durch eine explosionsartige Zunahme der Lebensformen gekennzeichnet, die sogenannte „Kambrische Explosion“. Während dieser Zeit entstanden, vermutlich infolge veränderter Umweltbedingungen im Meer (u. a. die Überschreitung eines bis dahin nicht erreichten kritischen Schwellwertes des Sauerstoff-Anteils im Wasser der Schelfmeere), fast alle heutigen Tierstämme.
Systematik
Beim Kambrium handelt es sich um das unterste chronostratigraphische System und die älteste geochronologische Periode des Paläozoikums und damit des Phanerozoikums in der Erdgeschichte. Darunter bzw. zeitlich davor liegt die Ära des Neoproterozoikums (Äon Proterozoikum) mit dem Ediacarium als der erdgeschichtlich-jüngsten Epoche des Präkambrium. Darüber bzw. danach folgt die Periode des Ordoviziums.
Aus den Schichten, die älter sind als das Kambrium, sind nur sehr wenige Fossilien bekannt geworden. Der gesamte Zeitraum von der Entstehung der Erde vor etwa 4,56 Milliarden Jahren bis zur Entwicklung der Tierwelt im Kambrium wird in der älteren Literatur als Präkambrium zusammengefasst.
Geschichte und Namensgebung
Der Name „Cambrian“ wurde erstmals 1835 von Adam Sedgwick vorgeschlagen. Sedgwick nutzte ihn für überwiegend als Tonschiefer ausgebildete Schichtenfolgen, die im Norden von Wales (sowie in Nord-England) aufgeschlossen sind. Er hatte erkannt, dass diese Schichten ein höheres relatives Alter haben als die von seinem Kollegen Roderick Murchison unter dem Namen „Silurian“ aus der gleichen Gegend beschriebenen Schichten. Der Name „Cambrian“ leitet sich vom lateinischen Namen von Wales (Cambria) ab. Später wurde der Begriff auf Schichten gleichen relativen Alters außerhalb Großbritanniens ausgedehnt und im deutschen Sprachraum zu „Kambrium“ abgewandelt.
Der Beginn des Kambriums
Lange Zeit nahm man für den Beginn des Kambriums ein Alter von etwa 600 Millionen Jahren an, mit dem scheinbar ersten Auftreten von Fossilien. Erst in jüngster Zeit konnten auch in älteren Schichten Fossilien gefunden und untersucht werden. Noch in den 1990er Jahren wurde der Beginn des Kambriums auf eine Zeit vor 590 bis 570 Millionen Jahren festgesetzt, mit dem Auftreten der ersten Trilobiten und Archaeocyathiden (frühe schwammartige Organismen mit Kalkskelett). Infolge der Verbesserung radiometrischer Datierungsmethoden verschob sich dieser Zeitpunkt in den letzten Jahrzehnten immer weiter in Richtung Gegenwart. Auch wurden neue Merkmale für die Kennzeichnung der Untergrenze (Basis) des Kambriums vorgeschlagen und/oder festgelegt, unter anderem eine in entsprechend altem Sedimentgestein nachweisbare negative Anomalie im Gehalt des Kohlenstoff-Isotops C-13, die mit einem grundlegenden Wechsel in der fossilen Fauna einhergeht. Für Zirkone in einer dünnen Vulkanasche-Schicht, die im Bereich dieser C-13-Anomalie in einem Aufschluss im Oman auftritt, konnte radiometrisch ein Alter von 542±0,3 Millionen Jahren bestimmt werden.
Ende des Kambriums
In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden auch die Schichten, die direkt über den jüngsten Schichten des Kambriums liegen, noch als Silur bezeichnet. Nach Problemen bei der Grenzziehung wurde später für die basalen Schichten des Silurs in seinem ursprünglichen Umfang der Begriff Ordovizium geprägt, dieses wurde zwischen Kambrium und Silur eingeschoben. In der älteren Literatur kann deshalb das System des Ordoviziums fehlen bzw. können Schichten, die heute dem Ordovizium zugerechnet werden, als Untersilur bezeichnet sein.
Das Kambro-Ordovizische Massenaussterben (englisch Cambrian-Ordovician extinction event oder auch Top of Cambrian excursion, abgekürzt TOCE) vor circa 488 Millionen Jahren beendete das Kambrium.
Definition und GSSP
Der Beginn des Kambriums und damit des Phanerozoikums (und auch der Terreneuvium-Serie und der Fortunium-Stufe des Kambriums) wurde von der International Union of Geological Sciences (IUGS) mit dem Erstauftreten des Spurenfossils Trichophycus pedum definiert. Außerdem liegt die Grenze auch sehr nahe an einer negativen Kohlenstoff-Isotopen-Anomalie. Die Obergrenze (und damit auch der Beginn des Ordoviziums) ist das Erstauftreten der Conodonten-Art Iapetognathus fluctivagus, das wiederum knapp oberhalb der Basis der Cordylodus lindstromi-Conodonten-Zone liegt. Diese Grenze liegt nur wenig unter dem Erstauftreten von planktonischen Graptolithen. Zum globalen Referenzprofil (GSSP) für die Basis des Kambriums wurde 1992 eine 140 m starke Felsformation am Ende einer Landzunge bei Fortune Head auf der Burin-Halbinsel im Süden Neufundlands (Kanada) gewählt. Gleichzeitig wurde das etwa 2,2 km2 große Gebiet als Naturdenkmal mit dem Namen Fortune Head Ecological Reserve unter Naturschutz gestellt.
Untergliederung des Kambriums
Das Kambrium wird seit Mitte der 2000er Jahre in vier Serien mit insgesamt zehn Stufen unterteilt, von denen aber jeweils noch nicht alle formal benannt sind:
Paläogeographie
Zu Beginn des Kambriums existierte ein großer Südkontinent Gondwana, der mit seinen nördlichen Ausläufern über den Äquator bis in nördliche Breiten reichte. Zu diesem Kontinent gehörten nicht nur die klassischen Gondwana-Kontinente (Afrika, Südamerika, Indien, Madagaskar, Australien, Antarktika, Arabische Halbinsel u. a.), sondern auch einige kleinere Blöcke, die später mit den Nordkontinenten verschweißt wurden, wie der Kleinkontinent Avalonia (Teile von Mittel- und Westeuropa), die Armorica-Terrangruppe (Teile von West- und Südeuropa), der Tarim-Block, der Sino-Koreanische Kraton und der Jangtse-Kraton. Diesem Großkontinent im Süden standen drei kleinere Kontinente gegenüber. Laurentia (Teile Nordamerikas und Grönlands), Baltica (Nordosteuropa) und Sibiria (Sibirien) lagen alle etwas südlich des Äquators. Laurentia war von Baltica und Gondwana durch den Iapetus-Ozean getrennt. Zwischen Baltica und dem Gondwana vorgelagerten Avalonia lag der Tornquist-Ozean. Sibiria war durch den Aegir-Ozean von Baltica getrennt. Isoliert von diesen Kontinenten war auch ein kleiner Kontinent Kasachstania, der im Karbon an Sibiria angeschweißt wurde. Im Unterkambrium befand sich das heutige nördlichen Südamerika am Südpol. Bis zum Ende des Kambriums verlagerte sich Nordafrika dorthin bzw. Gondwana wanderte entsprechend über den Südpol hinweg. Der Nordpol lag zur Zeit des Kambriums im Meer.
Klima
Zu Beginn des Kambriums scheint eine globale Erwärmung eingetreten zu sein. Der Meeresspiegel stieg im Laufe des Unterkambriums beträchtlich an. Die Sauerstoffkonzentration in der Atmosphäre war zu Beginn des Kambriums niedriger als heute, hatte aber vom ausgehenden Präkambrium zum Kambrium etwas zugenommen und stieg während des Kambriums weiter leicht an. Die CO2-Konzentration stieg im Laufe des Kambriums stark an und erreichte an der Kambrium/Ordovizium-Grenze einen absoluten Höhepunkt, der während des gesamten Phanerozoikums nicht mehr erreicht wurde.
Entwicklung der Fauna
Der Beginn des Kambriums ist gekennzeichnet durch die sogenannte „kambrische Explosion“, bei der in einem erdgeschichtlich recht kurzen Zeitraum sehr viele mehrzellige Tiergruppen entstanden bzw. im Fossilbericht erscheinen, deren grundsätzliche Baupläne sich teilweise bis heute erhalten haben. Der Beginn des Kambriums markiert somit für die Entwicklung der Tierwelt einen sehr wesentlichen Einschnitt in der Erdgeschichte, mit dem auch das Äonothem des Phanerozoikums begann, jener große geologische Abschnitt, in dem sich die Lebewelt, so wie wir sie heute kennen, entwickelte.
Mit Ausnahme der Moostierchen (Bryozoa) waren im Kambrium bereits fast alle modernen Tierstämme vorhanden: Schwämme (Porifera), Nesseltiere (Cnidaria), Gliederfüßer (Arthropoda), Armfüßer (Brachiopoda), Weichtiere (Mollusca), Stachelhäuter (Echinodermata) und andere kleinere Stämme von Wirbellosen, wie auch die Vorläufergruppen der Wirbeltiere. Viele Arten entwickelten erstmals harte Skelette und Gehäuse. Das wird einerseits erklärt als Schutz vor den ersten großen Räubern, die auch zu dieser Zeit auftraten, andererseits durch das große Angebot von Kalziumkarbonat durch eine Veränderung in der chemischen Zusammensetzung des Meerwassers. Das Auftreten von Gehäusen und Skeletten aus Kalziumkarbonat, die natürlich ein wesentlich besseres Fossilisationspotenzial haben als lediglich Weichteile, macht erklärbar, warum im Kambrium plötzlich so viele Tierstämme auftreten, über deren Vorfahren nichts bekannt ist. Vermutlich muss die Aufspaltung (Radiation) der vielzelligen Tiere (Metazoen) weit ins Ediacarium zurück verlegt werden.
Als Leitfossilien zur biostratigraphischen Gliederung des Kambriums werden benutzt:
Trilobiten
Archaeocyathiden
Brachiopoden
Die wohl zu den Schwämmen zählenden Archaeocyathiden bauten die ersten größeren Riffe der Erdgeschichte. Sie starben zu Beginn des Oberkambriums wieder aus.
Entwicklung der Flora
Im Gegensatz zu früheren Annahmen wird inzwischen davon ausgegangen, dass die Besiedelung des Festlands durch moosartige Pflanzen (Bryophyten) und frühe Pilzformen wahrscheinlich bereits im Mittleren Kambrium begann.
Das Kambrium in Mitteleuropa
In Mitteleuropa gibt es nur sehr wenige Aufschlüsse bzw. Gebiete, in denen Gesteine des Kambriums an die Erdoberfläche treten. Es ist in den meisten Gebieten von dicken jüngeren Sedimentschichten bedeckt und/oder auch bei späteren Orogenesen metamorphosiert worden. Europa setzt sich aus verschiedenen geotektonischen Platten (Laurentia, Baltica, Avalonia und die Armorica-Terranes) zusammen, die zur Zeit des Kambriums z. T. sehr weit auseinander lagen. Sie wurden erst bei späteren Orogenesen in dieser Position zusammengefügt. Entsprechend vielgestaltig sind die Fazies und der Fauneninhalt der kambrischen Schichten in Mitteleuropa.
In Deutschland sind in folgenden Regionen Gesteine kambrischen Alters nachgewiesen worden: Schwarzwald, Spessart, Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen, Harz, Nordthüringen, Thüringisch-fränkisches Schiefergebirge, Fichtelgebirge, Bayrischer Wald, Oberpfälzer Wald, Erzgebirge, Vogtland, Lausitz, u. a. sowie auch in einigen Bohrungen Norddeutschlands, wobei besonders die Bohrung „Adlersgrund“ in der Ostsee von Bedeutung ist. Während die genannten anderen Aufschlussgebiete alle zu Avalonia und der Armorica-Terrangruppe gehören, also im Kambrium noch zu Gondwana gehörten, lag das Gebiet der Bohrung Adlersgrund im Kambrium auf Baltica.
Darüber hinaus sind kambrische Geschiebe in Norddeutschland weit verbreitet. Sie stammen aus den skandinavischen Vorkommen, beinhalten aber auch Fossilien, die im Ursprungsgebiet bisher nicht gefunden wurden, z. B. Xenusion.
Fossillagerstätten
Aus dem Burgess-Schiefer in den Rocky Mountains Kanadas sind viele gut erhaltene Fossilien aus dem Mittleren Kambrium bekannt, vor allem Arthropoden, Anneliden, Onychophoren, Priapuliden neben Trilobiten, Schwämmen und Organismen, die keinem der heute noch existierenden Stämme zugeordnet werden können. Noch etwas älter ist die berühmte Chengjiang-Faunengemeinschaft im Maotianshan-Schiefer in China (Yunnan). Auch diese Fossillagerstätte ist durch ihre hervorragende Erhaltung von Weichteilen bekannt.
Weitere bemerkenswerte kambrische Fossillagerstätten sind die Orsten. Orsten sind Kalkknollen, die in Alaunschiefer eingelagert sind. Im Zuge der Entstehung dieser Kalkknollen, in einer frühen Phase der Diagenese, wurden Chitin-Exoskelette abgestorbener Meerestiere phosphatisiert und blieben vollständig dreidimensional und extrem detailliert erhalten. Mit schwacher Säure können diese Skelette aus dem Gestein herausgelöst und untersucht werden. Es handelt sich dabei um die Überreste meist winziger Arthropoden und deren Larvenstadien sowie anderer Wirbelloser. „Orsten“ ist die landläufige Bezeichnung für eine Kalkknolle in Schweden. Dort wurde die erste derartige Fossillagerstätte vom Bonner Paläontologen Klaus J. Müller in den 1970er Jahren entdeckt und beschrieben. Mittlerweile sind Fossillagerstätten des Orsten-Typs auch aus dem Kambrium u. a. Australiens und Chinas bekannt.
Literatur
M. Brasier, J. Cowie, M. Taylor: Decision on the Precambrian-Cambrian boundary stratotype. In: Episodes. 17(1/2), S. 95–100, Beijing 1994
L. R. M. Cocks, T. H. Torsvik: European geography in a global context from the Vendian to the end of the Palaeozoic. In: D. G. Gee, R. A. Stephenson (Hrsg.): European Lithosphere Dynamics. In: Geological Society London Memoirs. 32, S. 83–95, London 2006.
R. A. Cooper, G. S. Nowlan, S. H. Williams: Global Stratotype Section and Point for base of the Ordovician System. In: Episodes. 24(1), S. 19–28, Beijing 2001
Olaf Elicki: Als das Leben „explodierte“ und eine völlig neue Welt entstand: Das Kambrium. In: Biologie in unserer Zeit. 33(6) 2003, S. 380–389,
Steven M. Stanley: Historische Geologie. Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg, Berlin 2001, ISBN 3-8274-0569-6.
Stratigraphische Kommission Deutschlands: Stratigraphie von Deutschland II Ordovizium, Kambrium, Vendium, Riphäikum. 3 Bände Courier Forschungsinstitut Senckenberg, 1997–2001, S. 200, 234, 235.
Roland Walter: Erdgeschichte Die Entstehung der Kontinente und Ozeane. 5. Auflage. De Gruyter, Berlin / New York 2003, ISBN 3-11-017697-1.
Weblinks
Allgemeine Informationen
International Chronostratigraphic Chart 2020/03 (PDF; 680 kB)
Stratigraphische Tabelle von Deutschland 2002 (PDF; 6,6 MB) Deutsche Stratigraphische Kommission (Hrsg.), Potsdam 2002, ISBN 3-00-010197-7.
Die Stratigraphische Tabelle von Österreich (sedimentäre Schichtfolgen) (PDF; 1,8 MB) Kommission für die paläontologische und stratigraphische Erforschung Österreichs der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (Hrsg.), Wien 2004
Cambrian: the beginning of the Paleozoic Era Paläogeographische Karten (englisch)
Spezielle Medien
Beispiele für Kambrium-Fossilien
Genesis 01 – Die Tierwelt des Kambrium SWR-Schulfernsehen
Einzelnachweise
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Q79064
| 1,103.973537 |
32653
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https://de.wikipedia.org/wiki/Alpha
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Alpha
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Alpha (, neugriechisch ; Majuskel Α, Minuskel α) ist der erste Buchstabe des griechischen Alphabets und hat als griechisches Zahlzeichen einen numerischen Wert von 1.
Herkunft
Das Zeichen geht auf den phönizischen Buchstaben alef zurück, der wiederum ursprünglich einen Stierkopf darstellte. Wenn man ein großes Alpha auf den Kopf stellt oder ein kleines um 90 Grad gegen den Uhrzeigersinn dreht, kann man noch sehr gut einen Stierkopf erkennen.
Aus demselben Zeichen entwickeln sich das hebräische Aleph und das arabische Alif, aus dem griechischen Buchstaben das lateinische A und auch das kyrillische А.
Verwendung im Griechischen
Beispiele
Altgriechisch:
(„Der beste Anfang des Lebens sind die Buchstaben.“)
(Alexander ΙΙΙ., der Makedonier)
Neugriechisch: (Athen)
Siehe weitere alt- und neugriechische Beispiele in Liste griechischer Phrasen/Alpha.
Bedeutung als Silbe
Das α- entspricht in seiner Funktion als Alpha privativum dem deutschen Präfix un-, mit dem es auch lautgeschichtlich identisch ist.
Es kann in vorklassischen Texten auch verstärkende Wirkung haben (Alpha intensivum).
Verwendung des Namens
Anfang, Eins
Das Alpha ist der erste Buchstabe des griechischen Alphabets, daher steht Alpha für „Anfang“, noch symbolischer für „Geist“ (umgangssprachlich auch das „Höchste“, „Größte“, „Beste“).
Beta ist der zweite Buchstabe, daher kommt das Wort Alphabet.
Omega ist der letzte Buchstabe: Die Redewendung „das A und O“ (eigentlich: „das Alpha und das Omega“) bedeutet „Anfang und Ende“, „Alles“, „Gott“.
Alpha ist auch die Zahl Eins des griechischen Ziffernsystems, daraus leiten sich viele Fachausdrücke ab.
Nutzung in Buchstabieralphabet
Im ICAO-Alphabet des Flugverkehrs steht alfa für A. Dieses Buchstabiersystem wird auch in der NATO genutzt. Davon leiten sich die Bezeichnungen Point Alpha und Checkpoint Alpha ab.
Verwendung als Formelzeichen und in Fachsprachen
In der Mathematik dient α allgemein als Winkelbezeichner. Insbesondere ist α nach Konvention im Polygon der zur Ecke A gehörende Winkel.
In der Physik
wird als Alphastrahlung eine Form der Radioaktivität bezeichnet, siehe auch Alphazerfall und Alphateilchen,
für die Mechanik ist α das Formelzeichen für die Winkelbeschleunigung,
in der Wärmelehre für den Ausdehnungskoeffizienten und den Wärmeübergangskoeffizienten,
und in der Quantenphysik steht α für die Feinstrukturkonstante.
In der Astronomie
bedeutet α (alternativ auch RA) die Rektaszension, eine der beiden Koordinaten im äquatorialen Koordinatensystem,
und steht außerdem (zumeist) für den hellsten Stern eines jeden Sternbildes – z. B. α Centauri (abgekürzt α Cen) oder α Cyg (α Cygni, Deneb) – siehe Bayer-Bezeichnung.
In der Chemie steht α für den Dissoziationsgrad einer Säure bzw. Base oder für einen Deskriptor in der chemischen Nomenklatur.
In der Medizin sind die Alphawellen die Hirnwellenart eines bestimmten Frequenzbereichs, siehe Elektroenzephalografie.
In der Molekularbiologie ist Alfa die Abkürzung von Anti- als Bezeichnung für ein Ziel-Epitop, siehe auch Antikörper.
In der Finanzmarkttheorie bezeichnet α als Alphafaktor (Jensen-Alpha) das Maß für eine Überrendite (Extra-Rendite; positives Alpha) oder eine Minderrendite (negatives Alpha), gemessen am Vergleichswert (der Benchmark). Der Prozess, das Alpha vom Betafaktor eines Portfolios zu verschieben, wird Portable Alpha genannt.
In der Computergrafik den α-Kanal für die Transparenz eines Objektes, die drei anderen Kanäle sind die Farbkanäle (RGB, CYM, YUV usw.)
In der Statistik beschreibt der α-Fehler die Wahrscheinlichkeit, eine eigentlich richtige Nullhypothese fälschlicherweise zugunsten der Alternativhypothese zu verwerfen, etwa auf Grund von Stichprobenergebnissen, die für die untersuchte Population nicht repräsentativ sind bzw. zufällig von den Populationswerten abweichen.
Cronbachs Alpha, Maßzahl aus der multivariaten Statistik.
In der Software-Entwicklung ist die Alpha-Version eine sehr frühe erste lauffähige Programmversion, die der Beta-Version, die dann im Einsatz getestet wird, vorangeht.
Alphatier, Begriff der Verhaltensforschung für ein Leittier.
Verwendung in Firmen- und Markennamen
Häufig, Beispiele:
Alfa Laval – u. a. Melkmaschinen
AlphaESS – Speicher-Lösungen Hersteller
Alpha Industries – US-amerikanischer Bekleidungshersteller
Alfa Romeo – italienischer Automobilhersteller
proALPHA – Softwareunternehmen, kommerzielles ERP-System
Alpha Music Empire – Musiklabel
Lateinisches Alpha
Das Lateinische Alpha (Ɑ/ɑ) ist ein im IPA und in afrikanischen Sprachen verwendeter, vom griechischen Alpha abgeleiteter Buchstabe des lateinischen Schriftsystems.
Weblinks
Griechischer Buchstabe
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Q9887
| 136.680216 |
2191908
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https://de.wikipedia.org/wiki/Philosoph
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Philosoph
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Ein Philosoph (wie lateinisch philosophus von griechisch φιλόσοφος philósophos „Freund der Weisheit; Gelehrter“) oder sinngemäß Denker ist ein Mensch, der danach strebt, Antworten auf grundlegende (Sinn-)Fragen über die Welt, über den Menschen und dessen Verhältnis zu seiner Umwelt zu finden. Ferner wird damit jemand mit praktischer Lebensklugheit bezeichnet, ebenso Vertreter der wissenschaftlichen (bzw. akademischen) Philosophie.
Wer oder was ein Philosoph ist
Die Frage, wer denn nun ein Philosoph sei, lässt sich unter verschiedenen Gesichtspunkten beantworten. Ob ein Philosophiewissenschaftler zugleich als ein Philosoph anzusehen ist, ist zumindest umstritten. Schon Arthur Schopenhauer kritisierte die Universitätsphilosophie mit den Worten: Wenige Philosophen sind Professoren der Philosophie gewesen, und noch weniger Professoren der Philosophie Philosophen … In der Tat steht dem Selbstdenker diese Bestellung zum Universitätsprofessor mehr im Wege als jede andere. Nach dieser Auffassung ist wie bei Politikern und Politologen auch zwischen Philosophen und Philosophiewissenschaftlern zu unterscheiden. Während die einen Politik oder Philosophie praktisch betreiben, untersuchen und systematisieren die anderen auf Grundlage eines entsprechenden Studiums die Arbeit der „Praktiker“. Für viele metaphysisch, bzw. idealistisch orientierte Philosophen gilt die Bezeichnung „Philosoph“ ausschließlich für Denker wie Platon, Aristoteles und Kant und diejenigen Philosophen, die ihnen auf ihrem Weg folgen. Wenn man Whitehead folgen möchte, handelt es sich hier um die Mehrheit der Philosophen.
Der Gegenstandsbereich der Philosophie ist enzyklopädisch nicht einheitlich bestimmt und war in der Geschichte der Philosophie Veränderungen unterworfen. Entsprechend wird der Terminus „Philosoph“ auf Denker variabel angewendet. Einen Vorschlag von Raoul Richter – bei dem die Philosophie da angefangen haben soll, wo der Respekt aufhörte – aus einem seiner Volkshochschulvorträge modulierend anwendend, kann gesagt werden, der Philosoph sei eine Unbekannte. Diese Unbekannte könne jedoch mit Hilfe der zwei Bekannten, nämlich alle Philosophen und dem Terminus Philosoph, herausgerechnet werden. Er empfahl diese Rechnung zu probieren, um zu sehen, was herauskomme.
Die altgriechische Geschichte des Terminus weist für die Bedeutung „Philosoph“ auch Bezeichnungen wie Sophos oder Sophist bzw. Skeptiker aus. Alle drei Bezeichnungen galten für Menschen, die seit Homer die Welt nicht mehr mit der Schicksalsergebenheit ihrer Vorfahren hinnahmen und mit Hilfe religiöser Kulte den Götterhimmel gnädig stimmen wollten.
Sie kümmerten sich stattdessen darum, sich Kenntnisse und Fähigkeiten anzueignen, die ihr Leben verbessern sollten. Sie galten als die Nachdenklichen, die sich allem interessiert zuwendeten und sich auf Fragen oft als Kundige in der Sache erwiesen. Sie entwickelten sich zu Meistern von Handwerk, Musik, Reden, Kunst und Sport und bildeten darin auch andere zu Meistern aus.
Außerdem dienten sie mit Ratschlägen zur Lebensgestaltung, die sie z. B. bei Homer gefunden, vom Orakel in Delphi gehört oder selber erprobt hatten: Die im Umlauf befindlichen Lebensweisheiten, die Sprüche der „sieben Weisen“, – wie z. B. Erkenne dich selbst – sind Beispiele dafür.
Da es in der Antike kein alles beherrschendes religiöses Dogma gab, durften Philosophen ihre Weisheiten und Lehren ungehindert äußern, solange sie den Göttern in Reden und kultischen Ritualen Ehre erwiesen. Unterschiedliche Philosophien standen im olympischen Wettstreit miteinander und niemand war gezwungen dem anderen zuzustimmen.
Dies änderte sich, als Platon seine Ideenlehre verbreitete, die er als Schlüssel für eine wahre Philosophie hielt und die seinem Wunsch gemäß der Pluralität der philosophischen Meinungen ein Ende setzen sollte, um der Unsicherheit Sicherheit entgegenzusetzen. Zu seiner Idee passten die sophistischen Ideen nicht. Er bezeichnete daher Sophisten als Wortverdreher, die Diskussionen nicht um der Sache willen führten, sondern nur um ihre rhetorischen und dialektischen Kenntnisse unter Beweis zu stellen.
In Platons Dialogen tauchten diejenigen, denen es um die Wahrheit ging, als Freunde der Weisheit auf. Sie wurden mit dem Titel „Philosoph“ geehrt, also denen zugeordnet, die gelehrt und weise werden wollten. So wurde mit dem Streben nach Wahrheit eine Tendenz zum elitären Streben und elitärer Bedeutung verbunden, der auch die Pythagoreer beherrschte. Auch Aristoteles, der Platon folgte, nannte die Sophisten, die dieses Streben verwarfen, Philosophen des Scheins, die nur berühmt und reich werden wollten, an der Wahrheit aber nicht interessiert seien.
In der Folge dieser von Platon und Aristoteles lancierten Behauptungen waren die Sophisten wegen ihres Denkens und ihres Handelns bis ins 20. Jahrhundert hinein wegen ihres Denkens und wegen ihrer Moral verpönt.
Es ist Philologen des 17./18. Jahrhunderts zu danken, dass diese Diffamierung aufgedeckt wurde, sodass George Henry Lewes, John Grote und Hegel den bekannten und unbekannten diskreditierten Sophisten, die Korrektur des Sachverhaltes zugestehen konnten.
„Vor Perikles“, so stellte Hegel fest, „war das Bedürfnis der Bildung durch Denken eingetreten; die Menschen sollten in ihren Vorstellungen gebildet sein, dahin zweckten die Sophisten. Sie hatten das Amt der Bildung.“
Theodor Gomperz versuchte die Ehrenrettung der Sophisten, indem er sie mit zwei Berufsständen des ausgehenden 19. Jahrhunderts verglich: „Als Gelehrte waren die meisten von ihnen Universalgelehrte, als Rednern und Schriftstellern eignete ihnen die Schlagfertigkeit und stete Kampfbereitschaft unserer Journalisten und Literaten. Halb Professor und halb Journalist – durch diese Formel lässt sich der Sophist des fünften Jahrhunderts unserem Verständnis vielleicht am nächsten bringen.“
Den Skeptikern ist vergleichbare Anerkennung und Wiedergutmachung nicht zuteilgeworden. Man ignoriert bis heute ihren urphilosophischen, sensualistischen Ansatz, der sie davon zurückhielt, sich auf anderes als sinnlich Wahrnehmbares zu beziehen. Aus diesem Ansatz schlossen sie, dass letzte Antworten nicht möglich sind. Dass Menschen kein Kriterium für die Wahrheit haben, stellten auch Arkesilaos und Karneades, die Nachfolger Platons in der Akademie, fest und gründeten eine Tradition platonischer Skepsis.
Den Skeptikern wurde im 17. Jahrhundert zusätzlich unterstellt, dass sie Zweifler und daher Zerstörer der Wahrheit seien. Von da an, war Skepsis im öffentlichen Diskurs fest mit Zweifel liiert und wurde mehrheitlich so übernommen und weitergegeben. Die Behauptung, Skepsis sei identisch mit Zweifel, wurde entgegen der philologischen Möglichkeiten niemals zurückgenommen, sondern mit dem Kunstwort Skeptizist – das gelegentlich auch zum Schimpfwort mutierte – sogar auf die Spitze getrieben.
Die Redewendung „Ich bin skeptisch, ob …“ wird jedoch heute noch im urskeptischen Sinne von „Zurückhaltung“ verwendet. Man hat gute Chancen Irrtümer zu vermeiden, wenn man sich entschließt, nur das hinzunehmen, was man sich klar vorstellen kann, schrieb Anfang des 20. Jahrhunderts Richard Wahle.
Antike Philosophen
Griechische Philosophen
Pythagoras (570–510 v. Chr.) soll der erste gewesen sein, der sich Philosoph nannte. Davor war es üblich gewesen, weise Männer als σοφοί, σοφισταί (Xenoph., Memor. I, 11. Plat., Gorg. 508 A) zu bezeichnen. Der Terminus σοφος (sophos) kann mit der Kundige, bzw. der Erfahrene wiedergegeben werden. Als kundig und erfahren galt derjenige, der sich in Fragen des Lebens und den Traditionen der religiösen Feste, der Dichtung (Homer und Mythen) auskannte und über vielseitige Fähigkeiten verfügte, die für die demokratische Leitung der Polis, des Staates nützlich waren. Hippias von Elis, im 5. Jh. v. Chr., war ein bekannter Vertreter. Er zeichnete sich auf dem Gebiet des Handwerks, der Mathematik, Literatur und Rhetorik oft als der Beste aus. Seine Heimatstadt Elis errichtete ihm zu Ehren schon zu Lebzeiten ein Denkmal. Sophisten, wie Protagoras und Gorgias waren Philosophen dieser Art. Sie wurden von den Bürgern der griechischen Städte wegen ihrer Kenntnisse und Fähigkeiten geschätzt. Sie hielten Menschen für autonom und eigenverantwortlich. Sie waren Spezialisten für Sprache und öffentliche Reden. Man nannte sie deshalb Rhetoriker.
Platon (428/7–348/7 v. Chr.) weist dem Philosophen einen darüber hinausgehenden Schwerpunkt zu. Er wollte Unveränderliches und ewig geltende Werte finden. In seinem Symposion nannte er daher den einen Philosophen, der die Wahrheit, das Schöne und das Gute liebt und begehrt. Für Xenophon (430/25–355 v. Chr.) waren Philosophen Männer, die sich durch Nachdenken über Erfahrenes auszeichneten. Isokrates (436–338) bezeichnete seine Rhetorik als Philosophieren.
Unter den folgenden Philosophengenerationen verbreitete sich überwiegend sensualistisches, bzw. skeptisches Philosophieren. Im Unterschied zu Platon entschied man sich, von der Veränderlichkeit auszugehen und über das Handeln zu philosophieren. Platons Vorstellungen ewiger Ideen ließen sich auch in der platonischen Akademie nicht verwirklichen. Man neigte mehr und mehr skeptischen Sichten zu.
Der Kyniker Antisthenes (ca. 440–ca. 370) war ein skeptischer Philosoph, der das Handeln dem Reden vorzog. Kyniker (oder Zyniker), wie Diogenes von Sinope († 323), gaben Beispiele für ein bedürfnisloses Leben und wendeten sich gegen die Übel der Kultur. Sie sahen darin ihre Philosophie. Aristippos von Kyrene (435–355) befasste sich auch mit der Kunst des Handelns (Lebenskunst). Er stellte fest, dass Handeln und Ethik von der Sinneserfahrung und dem Wohlbefinden der Menschen abhängt. Die positive Funktion von Lust für Handeln und Denken ist von der Selbstbeherrschung abhängig (Hedonismus). Die älteren Stoiker (4. – 2. Jh. v. Chr.) philosophierten ebenso im Interesse der Lebenstüchtigkeit. Sie stellten dazu Überlegungen mit Bezug zu dem an, was sinnlich wahrnehmbar ist. Die Überlegungen sollten mit angenehmen Empfindungen verbunden sein.
Epikur (342–270 v. Chr.) und seine Gemeinschaft philosophierten über umfangreiche Konzepte zu Themen wie Wahrnehmen, über ethische und naturwissenschaftliche Fragen. Sie gingen, wie schon die Stoiker, ausschließlich von sinnlich Wahrnehmbarem und dem Nutzen angenehmer Empfindungen aus, um ein lebenswertes Leben führen zu können. Menschen sind autonom, sterblich und in der Lage, ihr Leben nach eigenen Maßstäben zu gestalten. Dies können sie erreichen, indem sie sich nach ihrem eigenen Wohlbefinden richten und ihre Ängste überwinden. So können sie gelassen auf die Veränderungen und Wechselfälle des Lebens reagieren.
Auch für den Skeptiker Pyrrhon von Elis (gest. 275) stellte sich die Frage, wie Menschen Gelassenheit lernen können, um auf ihrem wechselhaften Lebensweg zuversichtlich und eigenverantwortlich ihr Leben zu gestalten. Er soll empfohlen haben, sich nicht auf Bestimmtes festzulegen. Fast zweihundert Jahre später wurden seine Ideen von dem platonischen Skeptiker Ainesidemos wieder aufgegriffen und wieder 200 Jahre später von Sextus Empiricus in dessen skeptischen Veröffentlichungen als Essenz seines eigenen Philosophierens dargestellt.
Römische Philosophen
Das antike griechische Philosophieren fand erst allmählich Anhänger unter den Römern. Zunächst und am meisten dasjenige, was dem herrschenden Staatssinn, sowie den römischen Tugendidealen entgegenkam und am besten zur römischen Volks- und Staatsreligion passte. Das war die Philosophie der sogenannten mittleren Stoa. Einer der ersten soll Panaitios von Rhodos (um 180–110) gewesen sein. Er gewann den jüngeren Scipio und Laelius für die Philosophie. Es folgten Poseidonios (gest. 51 v. Chr.) und Seneca (gest. 65 n. Chr.) Wie Panaitios fassten auch alle späteren Stoiker, die Philosophie rein praktisch auf, nämlich als gründlich bedachte Lebensgestaltung.
Sie philosophierten auf der Grundlage ihres sinnlichen Wahrnehmens. Verlässliche Vorstellungen für Handeln und Denken ergaben sich aus ihrer Sicht durch wiederholtes Wahrnehmen von Dingen und Sachverhalten im Abgleich mit eigenen und fremden Beobachtungen. Das Ergebnis wurde Evidenz genannt. Aus dieser Evidenz zogen die Stoiker z. B. den Schluss, dass jeder Mensch sich von Geburt an seiner Natur entsprechend verhalte. Das Denken, bzw. die Vernunft könne diesen natürlichen Antrieb unterstützen oder ihn stören. Der richtige Gebrauch der Vernunft entscheide daher darüber, ob der Mensch ein gutes, d. h. lebenswertes Leben führen könne.
Nachdem die christliche Religion zur Staatsreligion geworden war, verbreiteten sich in der römischen Welt auch christliche Philosophien. Für die Verteidiger des Christentums, die Apologeten, sind wahre Philosophen christlich. Sie philosophierten für den christlichen Glauben gegen gnostische Lehren, wie z. B. Irenäus von Lyon. Sie diskutierten wie Clemens von Alexandria über griechische Philosophie, um gebildete Hellenen zu bekehren. Sie ersetzten die griechische und neuplatonische Kosmologie durch eine umfassende christliche, wie Origenes mit seiner Idee des ewigen Logos, der sich in der sichtbaren Welt entfalte oder Augustinus mit seiner Theorie vom Gottesstaat.
Auch die platonische Philosophie lebte wieder auf. Sie wurde im 3. Jh. von Plotin erfolgreich vertreten. Plotin führte das von Platon entworfene Konzept der Ideen und der Wahrheit fort. Für ihn gab es das Eine, ein nicht-sinnliches Prinzip, das Ursache und Zentrum alles Vorhandenen sei. Der Mensch müsse sich durch seine Lebensführung mit diesem Einen verbinden, um vollendet menschlich handeln zu können. Bei den Neuplatonikern haben Philosophen den Charakter von Theosophen.
Mittelalterliche, neuzeitliche und moderne Philosophen
Zur wissenschaftlichen Philosophie mit metaphysischem Charakter gehören seit dem Mittelalter bis in die Gegenwart die Fragen nach dem Sein (Ontologie). Gefragt wird auf welche Weise der Mensch die Welt erkennt (Gnoseologie bzw. Erkenntnistheorie), oder danach, wie der Mensch moralisch gut handelt (Ethik und Pragmatik). Außerdem geht es um Methoden zu denken und wie man logisch korrekt argumentiert. Bis weit ins 20. Jahrhundert war man der Auffassung, dass Philosophen Grundlagen für alle anderen Wissenschaften legen sollten. Philosophen wollten das gesamte wissenschaftliche Wissen harmonisch zu einem Gesamtweltbilde zusammenzufassen. Hier ist in theoretischer und praktischer Hinsicht in Deutschland vor allem Kant zu erwähnen. Beispielhaft für die Jahrhundertwende vom 19. zum 20. Jahrhundert stehen dafür Max Scheler und andere Vertreter der Philosophischen Anthropologie. Das Projekt Philosophische Anthropologie gibt es heute nicht mehr. Es wurde im Verlauf des 20. Jahrhunderts durch Philosophien ersetzt, die sich mit der Sprache befassten.
Philosophieren im Mittelalter
Der Beginn des Mittelalters wird von Historikern mit dem Ende des weströmischen Kaiserreiches um 600 n. Chr. datiert und dauerte ca. 1000 Jahre. Philosophiehistoriker (z. B. Kurt Flasch und Frederick Copleston) treten dafür ein, die mittelalterliche Philosophie nicht einfach als Theologie zu ignorieren.
Kurt Flasch bemerkt dazu: Das Mittelalter war sicher keine Zeit „blühender Gedankenfreiheit“. Aber es wurde nicht monoton gedacht: „Ideenvielfalt und Theorienwechsel“ waren weder Philosophen noch kirchlichen Autoritäten fremd.
Philosophieren als Interpretieren von Texten
Philosophien entstanden, indem man ausgehend von Texten und Lebenslagen nach Antworten suchte. Philosophen – die in der Regel Theologen waren – lasen Texte von kirchlich anerkannten Autoritäten wie z. B. Boethius, Augustin, Isidor von Sevilla. Ihre Texte wurden interpretiert, diskutiert und dienten zur Klärung von Glaubens- und Lebensfragen. Im Rahmen christlicher Jenseitserwartungen und weit verbreiteten, neuplatonischen Ideen tendierten Kleriker und Laien zu Realitätsvorstellungen, die diese Erwartungen unterstützten.
Theorien über Denken, Geist, Natur, Welt … waren vorherrschende Themen der Philosophie. Diese wurden so bearbeitet, dass bekannte lateinische sprachliche Termini verwendet wurden. Darin wurden auch individuelle Auffassungen zum Ausdruck gebracht. Sofern es sich um Glaubensinhalte und theologische Aussagen handelte, waren diese nicht-sinnlich, also metaphysischer Art.
In den ersten Jahrhunderten bis in die Zeit der Scholastik waren die Texte des Augustinus und danach die des Thomas von Aquin Orientierung für Überlegungen, die im Rahmen der christlichen Lehre philosophisch erwünscht waren. Philosophen waren an die christliche Religion gebunden.
Mittelalterliche Philosophen interessierten sich wie die Philosophen der Antike für Lebensbedingungen und Fragen, die sich aus dem Alltag der Menschen ergaben. Man stellte Theorien über die Entstehung der Pest auf; überlegte, ob es vernünftig sei, wenn Christen Bilder verehren; fragte, ob es immer Sünde sei, wenn man Handel betreibe; ob der Mensch arbeiten müsse u. v. a. m. Diese Fragen entstanden an konkreten Situationen und hatten auch wieder Folgen im Alltag, wie beispielsweise in der Auseinandersetzung um die Interpretation von Widersprüchen in der Prädestinationslehre des Augustinus im 9. Jahrhundert, in die ein junger eigenwilliger Mönch namens Gottschalk von Orbais verwickelt war. In der Auseinandersetzung um seine Interpretation verlor er gegenüber der anderen Interpretation des Johannes Eriugena und der Entscheidung der kirchlichen Behörde, die ihre Interpretation zur geltenden machte. Gottschalk wurde lebenslang in ein Kloster verbannt.
Die originelle Gotteslehre des Johannes Eriugena
Innerhalb des Rahmens der autorisierten Texte waren auch Anknüpfungen an Realitätsvorstellungen vorchristlicher Philosophien möglich. Philosophen, die stets Theologen waren, entwickelten während der ersten mittelalterlichen Jahrhunderte Vorstellungen über die Welt und den Menschen, die oft weit über biblische hinausgingen. Zu diesen Philosophen wird Johannes Eriugena gerechnet, der zwischen Augustinus im 5. Jh. und Anselm von Canterbury im 12. Jh. als der bedeutendste gilt.
Er entwickelte ein christliches Konzept der Wirklichkeit, das zwischen sinnlich zugänglichen Kenntnissen und gläubigem Wissen unterschied. Zum gläubigen Wissen zählte für ihn neben den christlichen Inhalten auch das, was Menschen vermuten, wenn sie sich Ursachen bzw. Veränderungen erklären. Eine Auffassung wie sie 900 Jahre später wieder bei David Hume zu finden ist. Zutreffende Aussagen über Gott, also über Nicht-sinnliches, so Eriugena mit Bezug zu Platon, seien Menschen nicht möglich und sollten daher nur in „negativer“ Weise formuliert werden.
Eriugenas „negative Theologie“ wird – nachdem sie vom 11. Jh. an zu den verbotenen Texten zählte – aus kirchlicher Sicht heute gewürdigt:
Philosophische Interpretationen und christliche Dogmatik
Das griechisch-augustinisch geprägte Philosophieren nach Art des Eriugena wurde im Laufe der Zeit nach ihm durch ein anderes Philosophieren ersetzt. Stellvertretend sind hier Anselm von Canterbury und Peter Abaelard zu nennen. Sie reflektierten den Zusammenhang zwischen der Funktion des logischen Denkens und der Bedeutung von Wörtern.
Es wurde immer wichtiger, in bestimmter und bestimmbarer Weise über Glauben, Wahrheit, Mensch, Welt und Natur denken und reden. Die Praxis des Interpretierens von Texten brachte kontinuierlich philosophische Variationen hervor, die die Prüfung im Kontext herrschender Lehrmeinungen und Dogmen bestehen mussten. Es kam dabei immer wieder zu Häresievorwürfen und Häresieprozessen gegen Einzelne.
Scholastisches Philosophieren
Es entstand die scholastische Philosophie, die sich dem Erfinden eines systematisch-philosophischen Gebäudes der christlichen Theologie widmete. Der bekannteste Vertreter ist Thomas von Aquin. Scholastische Philosophen entwickelten dabei ein Philosophieren, das von Begriffen und ihren Definitionen ausging. Dieses Philosophieverständnis wirkte bis in den Rationalismus der Aufklärung und darüber hinaus. In den scholastischen Disputen wurde jede Theorie streitbar verteidigt. In Streitgesprächen vertrat man die jeweils besten Argumente – dazu sollen auch Handgreiflichkeiten gehört haben – für die eigene Theorie und tat alles, um den Gegner als Verlierer erscheinen zu lassen.
In einem Lexikon des 18./19. Jahrhunderts wird die seit dem letzten Drittel des Mittelalters (12./13. Jh.) üblich gewordene Praxis des argumentierenden Philosophierens so dargestellt:
Auch dieses verbreitete Urteil könnte es wert sein, im Hinblick auf die Konstellation von Situationen, in denen philosophiert wurde, genauer untersucht zu werden. Möglicherweise müssen hier Veränderungen vorgenommen werden. Inzwischen wird auch die Bedeutung von Laien in der mittelalterlichen Philosophie vermutet.
Philosophische Ausbildung
Neben den Klosterschulen, die ihren Nachwuchs im Lateinischen ausbildeten, entstanden im Anschluss an die Umwälzungen des 11. Jahrhunderts eine Reihe von Universitäten. Zunächst studierte man die sieben freien Künste – Arithmetik, Geometrie, Astronomie, Musiktheorie, Grammatik, Logik und Rhetorik – dann konnte man mit Jura, Medizin oder Theologie fortfahren. Die Universitäten blieben unter regionaler kirchlicher Leitung bis 1400 prägend für die Entwicklung der Wissenschaften und der scholastischen Philosophie. „Die mittelalterliche Universität mit den facultates artium et theologiae bildete eine institutionellen Rahmen und einen intellektuellen Raum, in dem eine Ausübung des freien Denkens möglich war, und zwar in einer außergewöhnlichen Intensitität.“
Die Theologie wurde an diesen Universitäten als die „Königin aller Wissenschaften“ aufgefasst. Diese hatten von den Wahrheiten der christlichen Religion auszugehen. Zur Theologie gehörte die philosophische Reflexion, die durch die Rezeption der Schriften des Aristoteles gefördert wurde. Gläubigen Studenten konnte man theologische Wahrheiten zum Glauben anbieten, nichtgläubige Studenten mussten durch rationale, nachvollziehbare Wahrheiten überzeugt werden. Es wurden dazu didaktische Überlegungen entwickelt, die den Lehrern empfahlen, ihren Stoff nach Vorbild des mathematischen Denkens, also durch Beweise anzubieten.
Diese auf Beweisen und Argumentieren beruhende Lehrmethode beschrieb Alanus von Lille (gest.1203) in seiner Schrift „Über die Kunst des katholischen Glaubens“: „Der Autor beginnt mit Definitionen der Termini, mit Axiomen, die als aus sich heraus verständliche wahre Voraussetzungen begriffen werden, und mit gewissen Postulaten; und dann versucht er, in einer logischen Ordnung die Wahrheiten abzuleiten, die sich auf Gott, die Schöpfung, die Erlösung, die Sakramente und die Auferstehung beziehen.“ Er räumte allerdings ein, dass seine Lehrmethode mangelhaft ist, weil sie nicht mit strengen Beweisen arbeiten kann. Trotzdem solle diese Methode so perfekt wie möglich verfolgt werden, damit der katholische Glauben als der Wahre erscheine. Hier wird christliche Apologetik zur Wissenschaftstheorie und Wissenschaftsdidaktik. Dies sei vergleichbar mit Hegels Versuch, „den philosophischen Gehalt der christlichen Lehre zu offenbaren“.
Historische Forschung und Philosophieren
In den Philosophiegeschichten, die erst mit Beginn des 17. Jahrhunderts und später verfasst wurden, wurden Quellen unabhängig vom historischen Kontext und Alltag interpretiert, in dem sie entstanden waren. So entwickelte sich bis in die Gegenwart ein Bild der mittelalterlichen Philosophie, das für das Mittelalter einige wenige großer Themen umfasste: u. a. „Nominalismus“ oder „Realismus“, „Augustinismus“ oder „Aristotelismus“.
Philosophiehistoriker, die neuzeitlich geprägten Kriterien folgen, nennen zwei Merkmale der mittelalterlichen Philosophie: Philosophie trage zur Einheit von Glauben und Wissen bei und agiere so als Wegbereiter (Magd) der Theologie. Außerdem ging man davon aus, dass sich – passend zu religiös motivierten Vorstellungen – die Überzeugung verbreitete, den Geist als hervorstechendes Merkmal des Menschen aufzufassen.
Neue Forschungen aus der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts ergaben, dass das philosophische Denken im Mittelalter weit mehr Aspekte bereit hielt. Anstatt weniger großer Themen, wurden viele entdeckt. Historiker schlugen vor, Texte zukünftig stets in ihrem historischen und sprachlichen Zusammenhang zu interpretieren, anstatt Sichten der Gegenwart der Vergangenheit überzustülpen. Es sei notwendig, „die Entstehungsbedingungen philosophischer Ideen und Argumente zu studieren“, bevor sie bewertet werden.
Philosophieren in der Renaissance
In der Renaissance verändert sich das scholastische Weltbild. Die Geographie zeigt dies beispielhaft: Alte biblische Weltkarten wurden durch solche ersetzt, die navigations- und glaubenstauglich waren. Es wurden tradierte Werte in Frage gestellt, neue Antworten für ökonomische (Fugger), soziale (Abbau des Feudalismus), naturwissenschaftliche (Kopernikus, Kepler, Galilei) Fragen gefunden.
Der Philosoph und Historiker Kurt Flasch stellt fest:
Das philosophische Denken der Renaissance – so Wolfgang Röd in seiner Philosophiegeschichte – stelle sich überwiegend als das Erproben von Denkmöglichkeiten dar. Auch „Die Orientierung an Autoritäten gilt … als anrüchig.“ Philosophen gründeten ihre Antworten verstärkt auf Erfahrung, einschließlich eigener Schlussfolgerungen, oder hauptsächlich auf den Intellekt (Geist) und dessen Fähigkeiten. Dabei scheinen die Denkmöglichkeiten davon geprägt, wie stark sich der einzelne Philosoph an scholastische Denktraditionen gebunden fühlt.
Philosophie des Intellektes
Stellvertretend für intellektuelles Denken – in Distanz zum Glauben – ist der im Dreißigjährigen Krieg erfahrene René Descartes (1596–1650) zu nennen, der mit seinem vom Zweifelhaften ausgehenden Anfang, dem sich wandelnden Zeitgeist entsprach und Generationen von Philosophen der Neuzeit zu eigenen im Intellekt verankerten Philosophien anregte. Das Philosophieren der Renaissance ist intellektuell so weit gespannt, dass einerseits der Leib-Seele-Dualismus – z. B. von Descartes – behauptet, andererseits verneint wurde – z. B. stellt Petrus Pomponatius (gest. 1525) fest, dass Seele und Körper zwei untrennbare Substanzen seien. Schon vor ihm hatte Biagio Pelacani da Parma (gest. 1416) in seinen „Fragen über die Seele“ (Quaestiones de anima) erläutert: „Man kann nicht evident beweisen, dass im Menschen eine Seele ist, die sich vom Stoff trennen lässt.“ Auch die von Descartes für seine Theorie in Anspruch genommene Gottesidee, war durch Biagos Feststellung, ‚das Dasein Gottes ist unbeweisbar‘- sie erinnert an Ockham und Autrecourt – bereits fragwürdig für den Wert in Descartes’ Theorie geworden. Die Cartesianischen Begriffe, Definitionen und das System haben vor diesem historischen Hintergrund ein eigenes Leben und erscheinen einseitig. Worin diese Einseitigkeit besteht, darüber sind sich die Zeitgenossen nicht einig. Jacobus Revius (1586–1658), reformierter Theologe der Universität Leiden kritisierte während einer Disputation bestimmte Elemente von Descartes’ Philosophie und sein Kollege, der Theologieprofessor Jacobus Trigland (1583–1654), bezichtigte ihn der Gotteslästerung. Die Leidener Fakultätsvertreter der Theologie und Philosophie forderten ihn daher auf, sich an die aristotelische Philosophie zu halten.
Philosophisches Denken in der Kunst
Leonardo da Vinci sei wichtig, um die Lage der Philosophie um 1500 zu charakterisieren, meint Kurt Flasch. Man habe ihn zwar aus den Reihen der Philosophen gedrängt, doch lasse sich aus seinen vielfältigen Tätigkeiten und Interessen auf sein unermüdliches Denken und Forschen schließen. Die Vielfalt des Denkens und Forschens sei bezeichnend für Philosophen der Renaissance. Leonardo möchte die Malerei mit ihren Techniken als neue Wissenschaft demonstrieren, nachdem die scholastische Philosophie samt ihren Begriffskonstruktionen untergegangen war. Für seine ästhetische Wissenschaft entwickelt er sensualistische Konzepte. Er legt Wert auf eigenständiges Denken und lehnt es ab Autoritäten zu folgen. Er möchte nur Schüler seiner eigenen Erfahrung sein; mit anderen Worten, er möchte seinen eigenen Wahrnehmungen trauen, um auf diese Weise der Wirklichkeit näher zu kommen, als die scholastischen Philosophen bisher. Gott wird zwar nicht abgelehnt, aber als Erklärung für Naturphänomene darf Gott nicht mehr verdrängen, was wahrgenommen werden kann.
Philosophieren und Kausalität
Philosophen beschäftigten sich auf neue Weise vor allem mit Erfahrungen von Naturphänomenen und kausalen Erklärungen, die den Rückgriff auf scholastisches Denken überflüssig machen sollten. Erfahrung ist in dieser Zeit ein weitreichender Terminus, der nicht nur Erfahrung durch die Sinne meint, sondern sich auf Erfahrungen unterschiedlichster Quellen wie Magie, Alchemie und Okkultem bezieht. Das Denken folgt hier gnostischen Wegen. Dies führte zu einer Fülle von Spekulationen, die teilweise geheimes Wissen behaupteten und mit philosophischen Mitteln verteidigt werden. Die „Liebe zu Mysterien und Weistümern, zu Alchemie, Magie, Kabbalistik, zur Theosophie und zum Okkultismus“ ist typisch für viele Renaissance-Philosophen. Neuplatonische Auffassungen vom unsichtbaren Wirken der Weltseele spielten dabei eine zentrale Rolle. D. h. die Bedeutung des Ganzen, des All-Einen für den Menschen und die Natur werden mit einbezogen.
Philosophieren ohne tradierte Lehrmeinung
Der Philosoph Agrippa von Nettesheim (1486–1535) ist ein Beispiel für die neuartigen Bemühungen um ein neues Weltbild. Er hatte mit seiner Schrift „Über die Fragwürdigkeit und Nichtigkeit der Wissenschaften“ zu intensiven Diskussionen über die Möglichkeiten einer Wissenschaft ohne tradierte Lehrmeinungen angeregt. Nettesheim entschied sich gegen die Tradition für die Magie. Diese Magie ist der Glaube, dass in dem Wirken der Natur Gott verborgen ist und der Glaube, dass sich dieser Glaube durch Naturerfahrung erforschen und so enträtseln lässt.
Als junger Philosoph fasste er unter dem Titel >Über die verborgene Philosophie< (>De occulta philosophia<) die in seiner Zeit bekannten naturphilosophischen Auffassungen in einem Kompendium zusammen, das in Handschriften kursierte. Er beschrieb darin das Wirken der Geister in der Materie und die natürlichen Kräfte. Ebenso die Wirkung von Giften, Steinen, Blicken, Gesten und die möglichen Vorhersagen aus verschiedenen Naturerscheinungen. Ferner die magischen Einflüsse von Sonne, Mond und Sternzeichen, sowie die den Himmel und die Erde verbindende Weltseele. Nettesheim bot für diese Phänomene aus seiner Sicht treffende intellektuelle Erklärungen an. Dabei ging er von der Annahme verborgener, kausal wirksamer Kräfte in den Dingen aus, die „durch Beobachtung und Vermutung zu erforschen“ sind. Dies entsprach seiner Vorstellung eines Philosophierens, das von Erfahrung ausgeht. Für seine magische Sichtweise und die magischen Praktiken betrachtete er die christliche Theologie als Grundlage. Dieses Werk wurde über drei Jahrhunderte intensiv rezipiert.
Mystische und magische Erklärungsmodelle
Andere Philosophen, wie Paracelsus (1493–1541), beziehen ihre Erklärungen für natürliche Phänomene fast ausschließlich auf mystische und magische Naturvorstellungen, die experimentell erforscht werden. Paracelsus entwickelte zu diesem Zweck zwei verschiedene Philosophien, nämlich eine „irdische und himmlische Philosophie“. Die irdische Philosophie erforsche die Geheimnisse der Natur, die himmlische Philosophie das Geheimnis des göttlichen Wirkens mit der Natur, die den Menschen lehrt, mit den Augen Gottes zu sehen, dass dieser in allen Dingen gegenwärtig und wirksam ist.
Die irdische Philosophie untersucht – genauer gesagt – die „Geister der Elemente“, die in der Natur und auch im Menschen agieren. Die Elemente (Erde, Wasser, Luft, Himmel) nennt Paracelsus auch „Matrix“, sie sind Macher, Anfang, Kraft und Geist. Dies alles lehrt nach Paracelsus die Erfahrung. Die Erforschung der Elemente führt zu Gott zurück, der das alles begründet und dem Menschen zugänglich macht. Die irdische und himmlische Philosophie ergänzen sich, indem sie das Zusammenwirken und Verbundensein von Makrokosmos und Mikrokosmos feststellen. Die „Große und die Kleine Welt, der Kosmos und der Mensch entsprechen sich gegenseitig, und eines versteht sich aus dem anderen.“
Mystisch, so Kuno Fischer, sei diese Art von magischer Naturerforschung deshalb zu nennen, weil die „Mystik die tiefere und dauernde Form“ dieser Magie ist: Sie sucht auf „sicherem Weg, der immer wieder zu neuen Entdeckungen führt“. Sowohl Magie als auch Mystik lehnen darum jedes Bücher- und Schulwissen ab, wie auch bei Nettesheim deutlich ist. Magische und mystische Wissenschaften sind laut ihrer Vertreter sichere Methoden, weil sie im Glauben verankert sind und so Erfahrung möglich machen. Dies findet sich auch in der Theosophie wieder. Sie haben eine lange Tradition und wurden von der Kirche neben der scholastischen Philosophie immer akzeptiert. Jakob Böhme (1575–1624) ist der bedeutendste dieser Mystiker.
Erneuerung der Wissenschaft
Francis Bacon (1561–1626) kritisiert die intellektuellen, magischen und religiösen Kausalitätstheorien seiner Zeitgenossen als Rückfall in scholastisches Denken. Die Behauptung von kausal wirkenden Kräfte in den Dingen sind für ihn genauso unbrauchbar, wie die scholastischen Erklärungen, von denen sie stammten, wie Bacon meinte. Scholastiker hatten jahrhundertelang ein „inneres Wesen der Dinge“ gelehrt, das von den Philosophen der Renaissance durch den Terminus ‚Kräfte’ ersetzt wurde.
Bacon verweist vor allem auf die „schmale empirische Basis“, aus der Philosophen „voreilige Schlüsse auf allgemeine Prinzipien in den Dingen“ ziehen, und macht dafür auch die universitäre Ausbildung verantwortlich: „Die Vorlesungen und Übungen sind so eingerichtet, daß es niemandem so leicht einfällt, etwas anderes als das Herkömmliche zu denken und zu betrachten.“
Humanistisches Philosophieren
Philosophen klammern jenseitsbezogene Fragen zunehmend aus. Gott wird zwar nicht geleugnet, aber anstelle neuer Theologien werden Wissenschaften vom Menschen erfunden, die z. B. den „selbstwirksamen Menschen“ zum Gestalter der Welt, der Wissenschaft und seines Lebens erklären. Humanistische Studien, wie sie z. B. schon Francesco Petrarca (1304–1374) angeregt hatte, forschen auf Gebieten verschiedener Gesellschaftswissenschaften und erklären den Menschen zum Mittelpunkt und Anlass allen Philosophierens. Dieses zentrale Philosophieren der Renaissance über die Rolle und Fähigkeiten des Menschen lässt sich auch bei Humanisten wie Erasmus von Rotterdam (ca. 1466–1536) nachlesen. Er bezeichnete in seinen Schlussfolgerungen über den Zustand der Kultur seiner Zeit die Gelehrten und Philosophen als ‚Narren’ und die Kritik Luthers (1483–1546) im Unterschied zur katholischen Mehrheit für zutreffend, ohne die Reformation gutzuheißen.
Skeptisches Philosophieren
Es machte sich außerdem eine Art von Menschenwissenschaft bemerkbar, die sich als essayistische Philosophie zeigte. Montaigne (1533–1592) ist einer ihrer bekanntesten Vertreter. Er entwickelt kein Lehrsystem, sondern philosophiert vom konkreten Fall ausgehend, anstatt von dogmatischen Überlegungen her, wie es jahrhundertelang üblich gewesen war.
Er hat die zu seiner Zeit nach Jahrhunderten erstmals wieder veröffentlichten skeptischen Schriften des Sextus Empiricus gelesen und die pyrrhonische Skepsis geteilt. Im Wesentlichen herrscht in der Forschung Einigkeit darüber, dass Montaigne der Skepsis des Sextus Empiricus, Pyrrhons und der platonischen Akademie folgte. Seine geistige Grundstimmung scheint durchgängig skeptisch gewesen zu sein. Seine kritischen Auffassungen und sein nicht-wissenschaftlicher Schreibstil werden in philosophiehistorischen Darstellungen als skeptische und weitergehend als unphilosophische abgelehnt.
Montaignes Denken kreist in den Essais um die Frage „Wie soll ich leben?“ Seine Antworten sind ausgehend von Lebenssituationen Beiträge zu einer Kunst des Lebens, die aus seiner Sicht auch Pyrrhon für das zentrale Thema der Philosophie hält.
Menschen, so Montaigne, fällen wissenschaftliche und alltägliche Urteile abhängig von ihrem ‚lebensweltlichen Bezugssystem’, d. h. sie orientieren sich an bereits vorhandenen Urteilen der Kultur. Dieses Übernehmen vorhandener Urteile – auch Vorurteile oder Wissen genannt – entsteht aus einem komplexen Erleben. Das Wissen erweist sich daher lediglich als „krankhafte“ Meinung oder wie Montaigne formuliert: „Wissen ist eine menschliche Pest.“ Montaigne versucht dennoch, das zu erfassen, was sich stets verändernd immer wieder entzieht. Es ist ein Erfassen in Resümees und Mustern, die nur vorläufig gültig sind. Philosophen können nur das von ihnen erfasste Vorläufige wiedergeben, zur Diskussion stellen und davon abweichende Konzepte akzeptieren. Dies führe zu einem Dialog unter Philosophen, der zur Lebensgestaltung Einzelner beitragen könne.
Kritische Stimmen
Diejenigen, die sich beruflich mit der akademischen Disziplin der Philosophie beschäftigen, werden heute im Allgemeinen als Philosophen bezeichnet. In einigen Fällen möchten sich diese aber selbst nicht als solche sehen. Prominente Beispiele hierfür sind Hannah Arendt und Michel Foucault, welche sich selbst lediglich als politische Theoretikerin respektive als Kritiker bezeichneten, oder Jürgen Habermas, der sein Hauptwerk eher soziologisch als philosophisch versteht. Der „Philosoph wider Willen“ Karl Popper distanzierte sich mehrmals von einer „Berufsphilosophie“, deren Vertreter er als „Fachphilosophen“ bezeichnete.
Es gab auch Beispiele für Philosophen, die nicht als solche in akademische Zusammenhänge eingebunden sind. Historisch bekannte Beispiele sind David Hume, Sören Kierkegaard, Arthur Schopenhauer, Friedrich Nietzsche, Gottlob Frege und Albert Camus.
Siehe auch
Zeittafel zur Philosophiegeschichte
22. Sinfonie (Haydn), eine Sinfonie mit dem Beinamen „Der Philosoph“
Philosophenturm, ein Bauwerk in Hamburg
Literatur
Lexika
Alexander Ulfig: Große Denker. Parkland, Köln 2006, ISBN 3-89340-078-8.
Bernd Lutz (Hrsg.): Metzler-Philosophen-Lexikon: Von den Vorsokratikern bis zu den neuen Philosophen. 3. Auflage. Metzler, Stuttgart u. a. 2003, ISBN 3-476-01953-5.
Ursula I. Meyer, Heidemarie Bennent-Vahle (Hrsg.): Philosophinnen-Lexikon. Erweiterte Taschenausgabe. Reclam, Leipzig 1997, ISBN 3-379-01584-9.
Erhard Lange, Dietrich Alexander (Hrsg.): Philosophenlexikon. Von einem Autorenkollektiv. Dietz Verlag, Berlin 1982; 4. Auflage ebenda 1987, ISBN 3-320-00529-4.
Barbara Brüning: Kleines Lexikon großer Philosophinnen und Philosophen: Von der Antike bis zur Gegenwart. Militzke, Leipzig 2004, ISBN 3-86189-613-3.
Thomas Bedorf, Kurt Röttgers (Hrsg.): Die französische Philosophie im 20. Jahrhundert: Ein Autorenhandbuch. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2009, ISBN 3-534-20551-0.
Stefan Jordan, Burkhard Mojsisch (Hrsg.): Philosophenlexikon. Reclam, Ditzingen 2009, ISBN 978-3-15-010691-4.
Werner Ziegenfuß, Gertrud Jung: Philosophen-Lexikon. Handwörterbuch der Philosophie nach Personen. 2 Bände. De Gruyter, Berlin 1949–1950, ISBN 978-3-11-002896-6.
Essays
Ekkehard Martens: Der Faden der Ariadne oder: Warum alle Philosophen spinnen. Metzler, Stuttgart 1991 (Neuausgabe Reclam, Leipzig 2000, ISBN 3-379-01704-3).
Peter Strasser: Wie es ist, ein Philosoph zu sein. Strebers Erzählungen. Fink, München 2012, ISBN 978-3-7705-5405-8.
Historisch orientierte Zusammenstellungen
Rudolf Eisler: Philosophen Lexikon. Leben, Werke und Lehren der Denker, Mittler, Berlin 1912; Digitale Ausgabe der Directmedia Publishing, Berlin 2007, ISBN 978-3-89853-330-0.
Joachim Ritter: Historisches Wörterbuch der Philosophie, unter Mitwirkung von mehr als 800 Fachgelehrten. 13 Bände, Darmstadt 1971–2007.
Anton Grabner-Haider u. a. (Hrsg.): Meisterdenker der Welt: Philosophen – Werke – Ideen. Böhlau, Wien (u. a.) 2004, ISBN 3-205-77209-1.
Edmund Jacoby: Philosophen: Denker von der Antike bis heute. 5. Auflage. Gerstenberg, Hildesheim 2005, ISBN 3-8067-2525-X. (auch als Hörbuch, ISBN 3-8067-9060-4)
Wilhelm Weischedel: Die philosophische Hintertreppe: 34 große Philosophen im Alltag und Denken. 26. Auflage. Nymphenburger, München 2004, ISBN 3-485-00863-X.
Ingeborg Gleichauf: Ich will verstehen. Geschichte der Philosophinnen. Dtv, München 2005, ISBN 3-423-62214-8.
Bernhard H. F. Taureck: Die Antworten der Philosophen. Ein Lexikon. Wilhelm Fink, München 2009, ISBN 3-7705-4780-2.
Weblinks
Wissenswertes über die Philosophie
Anmerkungen und Einzelnachweise
ja:思想家
lt:Filosofas
sl:Filozof
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Q4964182
| 790.275318 |
76201
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https://de.wikipedia.org/wiki/Yunnan
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Yunnan
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Yunnan, (), ist eine Provinz im Südwesten der Volksrepublik China. Mit 394.100 Quadratkilometern ist sie etwa so groß wie Deutschland und die Niederlande zusammen. Nach dem Bruttoinlandsprodukt pro Kopf war es 2015 die zweitärmste Provinz der Volksrepublik China.
Geographie
Yunnan ist diejenige Provinz, die die deutlichsten kulturellen und geographischen Unterschiede in China repräsentiert. Die Provinz zeichnet sich durch eine sehr große Biodiversität aus. In Yunnan leben die letzten 250 wilden Elefanten Chinas, die unter strengem Naturschutz stehen. Die Naturräume sind durch den Gegensatz von schneebedeckten Bergen mit Hochgebirgsvegetation bis hin zu Tälern mit subtropischer bis tropischer Vegetation geprägt.
Flüsse
Mehrere größere Flüsse fließen durch die Provinz:
Der Jangtsekiang (), Chinas größter Fluss, der bei Shanghai ins Ostchinesische Meer mündet,
Der Oberlauf des Mekong, welcher im chinesischen Gebiet Lancang Jiang () genannt wird, der durch Laos, Kambodscha und Vietnam fließt und in das südchinesische Meer mündet,
Der Rote Fluss ( oder ), der durch den Norden Vietnams (u. a. Hanoi) fließt und in das südchinesische Meer mündet,
Der Saluen (), der flussabwärts durch Myanmar (Birma) fließt und in die Andamanensee mündet.
Grenzen
An Yunnan grenzen die Autonomen Gebiete Tibet und Guangxi sowie die Provinzen Sichuan und Guizhou. Die angrenzenden Staaten sind Vietnam, Laos und Myanmar (Birma). Die Nähe zu Südostasien sorgt für vielfältige kulturelle Einwirkungen und Wechselbeziehungen.
Geschichte
Archäologische Ausgrabungen brachten in den 1950ern in Shizhaishan bedeutende Funde zu Tage, so dass heute insbesondere die Dian-Kultur an Gestalt gewinnt. Die Geschichte Dians beginnt chinesischen Quellen (Sima Qian) zufolge mit dem Chu-General Zhuang Qiao, der sich im östlichen Yunnan niederließ und dort das Königreich gründete (Ende des 4. Jahrhunderts v. Chr.). Um 109 v. Chr. wurde Dian in einem Feldzug an Han-China angeschlossen, und der besiegte König erhielt Titel, Siegel und militärische Hilfe gegen benachbarte Stämme. Analog dazu wurde die Yizhou-Kommandantur eingerichtet.
Nach dem Ende der Han-Dynastie wechselten sich chinesische Agenten und diverse einheimische Anführer in der Herrschaft ab. Literarisch sind dabei die Taten des chinesischen Volkshelden Zhuge Liang (181–234, vertrat Shu Han) und seines Gegenspielers Menghuo, aber im Allgemeinen blieb die chinesische Herrschaft in diesem Raum indirekt und schwach. Weiterhin gab es in dieser Periode verschiedene Migrationsbewegungen, die sich vorwiegend nach Süden richteten, da dort mehr und freieres Land zur Verfügung stand.
Mit der Einigung Chinas unter den Sui und Tang verstärkte sich auch der Druck auf das heutige Yunnan. Der Hof wollte unter anderem den Handel nach Indien kontrollieren, sandte Truppen gegen die Bevölkerungsgruppe der Cuan und nahm die Unterwerfung der lokalen Kleinfürsten entgegen. 621 errichtete man eine Präfektur in Yunnan, aber die Herrschaft Chinas hielt nur bis 750 vor. In den 30er Jahren des 8. Jahrhunderts beseitigte nämlich der Lokalfürst Pilugoe bei einem Bankett seine Rivalen und gründete das Reich Nanzhao, einen Vielvölkerstaat. Dieser behauptete sich (mit Rückendeckung durch Tibet) um 750 militärisch gegen Tang-China und umfasste dann im 9. Jahrhundert zeitweise Teile von Birma, Thailand, Vietnam und sogar Sichuan. Im 10. Jahrhundert wurde er nach wiederholten Dynastiewechseln von Duan Siping (einem Angehörigen der Bai) als Königreich Dali neugegründet.
Die Unabhängigkeit des Staates wurde 1253/4 durch die Mongolen unter dem Prinzen Kublai beendet, der die Hauptstadt Dali angeblich mit einem Minimum an Blutvergießen eroberte und den König als Vasallen wieder einsetzte. 1274 kam mit Sayyid Adschall Schams ad-Din Umar auch ein ziviler Gouverneur nach Yunnan, dessen Erscheinen nicht nur die endgültige Angliederung an China, sondern auch die Einführung des Islams markiert.
Beim Sturz der Mongolenherrschaft Mitte des 14. Jahrhunderts blieb die Provinz Yunnan zunächst relativ ruhig und unbeachtet: erst 1382 rückten die Ming an und der lokale Mongolenprinz Basalawarmi nahm sich das Leben. Im Zuge der Stabilisierung ihres Regimes verpflanzten die Ming dann bereits Ende des 14. Jahrhunderts Millionen unliebsamer Personen aus der Region um Nanjing nach Yunnan, speziell nach Kunming. Durch die Praxis der Errichtung von Militärkolonien (tuntian) wuchs der chinesische Bevölkerungsanteil schnell an, breitete sich bevorzugt über die Täler und Senken aus und verdrängte die einheimische Bevölkerung in die Berge. Trotzdem blieb der Süden der Provinz noch relativ autonom (vgl. Sipsongpanna).
Nach dem Sturz der Südlichen Ming durch die Mandschu verselbständigte sich der erfolgreiche General Wu Sangui in Kunming und erschuf sich dort eine Art Königreich, welches erst 1681 wieder angegliedert wurde.
Im 19. Jahrhundert wurde das Kaiserreich China durch zahlreiche innere Unruhen erschüttert, so auch in Yunnan, wo schon 1818 und 1834–40 erste muslimische Aufstände ausbrachen. Zeitgleich zum Taiping-Aufstand kam es dann 1853 zu einem großen Aufstand der Moslems, der sogenannten Panthay-Rebellion. Unter den Aufständischen setzte sich ein gewisser Du Wenxiu durch, der als Sultan in Dali regierte und auch eine Gesandtschaft nach Großbritannien schickte. Aber die Aufständischen konnten Kunming nicht halten, und 1872 wurde Yunnan schließlich von den Kaiserlichen zurückerobert. Eine Million Menschen kamen während dieses Aufstands ums Leben. In den folgenden Jahrzehnten kam die Provinz nie mehr ganz zur Ruhe.
Im Jahre 1894 reiste George Ernest Morisson, ein australischer Korrespondent der Times, von Peking in das unter britischer Herrschaft stehende Birma durch Yunnan. Sein Buch beschreibt detailreich seine gewonnenen Eindrücke.
Nach dem Sturz des Kaiserreichs und des damit beginnenden Zusammenbruchs der Zentralgewalt beherrschten in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts Warlords die Provinz. Um 1920 dominierte Tang Chiyao Yunnan, um 1926 kontrollierte er auch die Nachbarprovinz Guizhou. In Guizhou setzte sich nach 1935 zwar die Kuomintang-Nationalregierung durch, in Yunnan jedoch hielt sich trotz der für die Nationalisten strategisch bedeutenden Burmastraße bis 1945 der regionale General Lung Yun an der Macht.
Demographie
Yunnan ist die Provinz Chinas mit der höchsten ethnischen Diversität. Etwa 38 % der Bevölkerung dieses durch Gebirgskämme kleinräumig unterteilten Landes gehören ethnischen Minderheiten an. Dazu gehören folgende Völker und Volksgruppen: Yi (10,9 % der Gesamtbevölkerung), Bai (3,6 %), Hani (3,4 %), Dai (2,7 %), Zhuang (2,6 %), Miao (2,6 %), Hui (1,5 %), Lisu (1,5 %), Lahu (1,1 %), Va, Naxi, Mosuo, Yao, Tibeter, Jingpo, Blang, Primi, Nu, Achang, Jino, Mongolen, Derung, Mandschu, Sui und Bouyei.
Noch bis zum Ende des 19. Jahrhunderts hatten Hui (Panthay) und andere muslimische Völker Chinas über 31 % der damaligen Bevölkerung (3,75 Mio. von 12 Mio. Einwohnern) ausgemacht. Heute sind es nur noch 1,5 %.
Von den 55 in China offiziell anerkannten ethnischen Volksgruppen leben 36 in Yunnan.
2013 lag die durchschnittliche Lebenserwartung bei 69,5 Jahren und damit unter dem chinesischen Durchschnitt.
Administrative Gliederung
Yunnan setzt sich aus acht bezirksfreien Städten und acht autonomen Bezirken zusammen:
Die oben genannten 16 Verwaltungseinheiten waren mit Stand Dezember 2016 weiter unterteilt in 16 Stadtbezirke, 15 kreisfreie Städte, 69 Kreise und 29 autonome Kreise. Ende 2019 waren es 17 Stadtbezirke, 17 kreisfreie Städte, 66 Kreise und 29 autonome Kreise.
Die folgende Tabelle listet die Verwaltungseinheiten auf.
Größte Städte
Die Einwohnerzahlen sind auf dem Stand der Volkszählung 2010 und beziehen sich auf die eigentliche städtische Siedlung. 2014 lebten 41,7 % der Bevölkerung in Städten oder städtischen Räumen.
Wirtschaft
Im Jahr 2015 belegte die Wirtschaft Yunnans mit einem BIP in Höhe von 1,37 Billionen Yuan (220 Milliarden US-Dollar), Platz 23 unter den Provinzen Chinas. Das BIP pro Kopf betrug 31.265 Yuan (4.707 US-Dollar/ KKP: 9.002 US-Dollar) pro Jahr (Rang 30 unter den chinesischen Provinzen). Das Wohlstandsniveau in der Provinz lag damit ungefähr auf dem Niveau von Jamaika und betrug nur 58 % des chinesischen Durchschnitts.
Tee ist eines der bekanntesten produzierten Produkte. Der bekannte Pu-Erh-Tee erhielt seinen Namen nach der Stadt Pu’er. Schwarztees aus Yunnan gehen fast ausschließlich in den Export, erzielen aber auf den internationalen Märkten nicht so hohe Preise wie Tees aus der Nachbarprovinz Sichuan. Seit Ende des 19. Jahrhunderts wird auch Kaffee in Yunnan angebaut, die von Kaffee-Pflanzungen eingenommenen Anbauflächen erreichen fast 25.000 Hektar.
Yunnan plant bis 2016 die Errichtung eines 3 GW Solarparks. Der Auftrag wurde an Yingli Green Energy vergeben.
Tourismus
Touristische Zentren in Yunnan sind Dali, die Naxi-Stadt Lijiang, Shangri-La, Shilin und Jinghong in Xishuangbanna.
Die Altstadt von Lijiang (13. Jh.) ist ein UNESCO-Weltkulturerbe seit 1997.
Der Steinwald Shilin, 120 Kilometer südöstlich von Kunming, ist die größte Sehenswürdigkeit der Provinz. Die bizarre Karstlandschaft entstand durch tektonische Bewegungen und Erosion im Kalkgestein. Die Felsformationen, die bis zu 30 Meter hoch sind, ragen wie Türme in den Himmel.
Eponyme
Der am 29. Oktober 1978 entdeckte Asteroid (2230) Yunnan trägt seit 1981 den Namen der Provinz.
Fotos
Weblinks
Offizielle Website der lokalen Provinzregierung (chinesisch)
Einzelnachweise
Provinz (China)
Verwaltungseinheit als Namensgeber für einen Asteroiden
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Q43194
| 533.486643 |
2951
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https://de.wikipedia.org/wiki/Linux
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Linux
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Als Linux (deutsch [] ) oder GNU/Linux (siehe GNU/Linux-Namensstreit) bezeichnet man in der Regel freie, unixähnliche Mehrbenutzer-Betriebssysteme, die auf dem Linux-Kernel und wesentlich auf GNU-Software basieren. Die weite, auch kommerzielle Verbreitung wurde ab 1992 durch die Lizenzierung des Linux-Kernels unter der freien Lizenz GPL ermöglicht. Einer der Initiatoren von Linux war der finnische Programmierer Linus Torvalds. Er nimmt bis heute eine koordinierende Rolle bei der Weiterentwicklung des Linux-Kernels ein und wird auch als Benevolent Dictator for Life (deutsch „wohlwollender Diktator auf Lebenszeit“) bezeichnet.
Das modular aufgebaute Betriebssystem wird von Softwareentwicklern auf der ganzen Welt weiterentwickelt, die an den verschiedenen Projekten mitarbeiten. An der Entwicklung sind Unternehmen, Non-Profit-Organisationen und viele Freiwillige beteiligt. Beim Gebrauch auf Computern kommen meist sogenannte Linux-Distributionen zum Einsatz. Eine Distribution fasst den Linux-Kernel mit verschiedener Software zu einem Betriebssystem zusammen, das für die Endnutzung geeignet ist. Dabei passen viele Distributoren und versierte Benutzer den Kernel an ihre eigenen Zwecke an.
Linux wird vielfältig und umfassend eingesetzt, beispielsweise auf Arbeitsplatzrechnern, Servern, Mobiltelefonen, Routern, Notebooks, Embedded Systems, Multimedia-Endgeräten und Supercomputern. Dabei wird Linux unterschiedlich häufig genutzt: So ist Linux im Server-Markt wie auch im mobilen Bereich eine feste Größe, während es auf dem Desktop und Laptops eine noch geringe, aber wachsende Rolle spielt. Im Januar 2022 war es in Deutschland auf 4,19 % der Systeme installiert.
Linux wird von zahlreichen Nutzern verwendet, darunter private Nutzer, Regierungen, Organisationen und Unternehmen.
Geschichte
Entwicklungen im Vorfeld
1983 rief Richard Stallman das GNU-Projekt ins Leben. Ziel war es, ein frei verfügbares Unix-ähnliches, POSIX-kompatibles Betriebssystem zu schaffen. Zwar war Anfang der 90er Jahre bereits eine beachtliche Menge an Software geschrieben worden, doch der eigentliche Betriebssystemkern (GNU Hurd) steckte noch in den Kinderschuhen und entwickelte sich nur langsam. Die ebenfalls freie Berkeley Software Distribution, die sich in den 80er Jahren entwickelt hatte, war in einen Rechtsstreit mit ungewissem Ausgang verwickelt und stellte aus diesem Grund ebenfalls keine Alternative als freies Betriebssystem dar. Somit stand Anfang der 90er Jahre kein vollständiges freies System zur Verfügung, das für Entwickler interessant gewesen wäre.
Historische Entwicklung
1991 begann Linus Torvalds in Helsinki (Finnland) mit der Entwicklung einer Terminal-Emulation, um unter anderem seinen eigenen Computer besser zu verstehen. Mit der Zeit merkte er, dass sich das System immer mehr zu einem Betriebssystem entwickelte; daraufhin kündigte er es in der Usenet-Themengruppe für das Betriebssystem Minix, comp.os.minix, an. Im September desselben Jahres sollte das System dann auf einem Server den Interessierten zur Verfügung gestellt werden. Dem damaligen FTP-Server-Administrator Ari Lemmke gefiel keiner der von Torvalds vorgeschlagenen Namen Freax oder Buggix, deshalb veröffentlichte er es stattdessen in einem Verzeichnis mit dem Namen Linux. Torvalds war mit diesem Namen zunächst nicht einverstanden, gab seinen Widerstand aber schnell auf, weil er nach eigener Aussage eingestehen musste, dass Linux einfach ein besserer Name war.
Linux wurde zu dieser Zeit noch unter einer proprietären Lizenz von Torvalds veröffentlicht, welche die kommerzielle Nutzung verbot. Er merkte jedoch bald, dass das den Fortschritt der Entwicklung behinderte. Er wollte allen Entwicklern deutlich mehr Freiraum geben und stellte Linux deshalb im Januar 1992 unter die GNU GPL. Es war nun möglich, Linux in GNU zu integrieren und dies als das erste freie Betriebssystem zu vertreiben. Dieser Schritt machte das System für eine noch größere Zahl von Entwicklern interessanter, da er die Modifizierung und Verbreitung vereinfachte.
Die Bezeichnung GNU/Linux
Die Bezeichnung Linux wurde von Torvalds anfänglich nur für den von ihm geschriebenen Kernel genutzt. Dieser wurde anfänglich auf Minix verwendet. Torvalds und die anderen Linux-Autoren lizenzierten 1992 Linux unter der GNU GPL, so dass der Kernel in GNU integriert werden konnte. Diese GNU-Variante wurde schnell zur meist genutzten Variante, da es zu dieser Zeit keinen anderen funktionsfähigen freien Kernel gab. Als Torvalds und seine Anhänger später auch das gesamte Betriebssystem als Linux bezeichneten, versuchte der Gründer des GNU-Projekts, Richard Stallman, bald, den Namen GNU/Linux durchzusetzen, um der Rolle von GNU eine in seinen Augen angemessene Geltung zu verschaffen. Diese Forderung stieß auf unterschiedliche Reaktionen. Während das GNU-Projekt und das Debian-Projekt den Namen annahmen, lehnten die meisten Entwickler und anderen Linux-Distributoren dies ab oder widersetzten sich deutlich. Begründet wurde dies einerseits mit Bequemlichkeit, weil der Name Linux als einfacher angesehen wurde, und andererseits mit dem Hinweis, dass mittlerweile eine beachtliche Menge der mit Linux ausgelieferten Software nicht aus dem GNU-Projekt stamme.
Entwicklung
Die Entwicklung des Linux-Kernels wird nach wie vor von Torvalds organisiert. Er ist dafür bei der gemeinnützigen Linux Foundation angestellt. Andere wichtige Entwickler werden oft von verschiedenen Firmen bezahlt. So arbeitet z. B. Andrew Morton im Auftrag von Google am Linux-Kernel und ist im sogenannten Merge Window dafür zuständig, alle Änderungen zu sammeln und an Torvalds weiterzuleiten.
Neben der Kernel-Entwicklung haben sich auch andere Projekte um das Betriebssystem gesammelt, die es für eine größere Nutzerzahl interessant machten. So ermöglichen grafische Benutzeroberflächen wie KDE oder Gnome einen hohen Benutzerkomfort beim Einsatz als Desktop-System. Verschiedene auf den Desktop ausgelegte Linux-Distributionen vereinfachten die Installation und Konfiguration von Linux so weit, dass sie auch von Anfängern problemlos gemeistert werden können.
Eine weltweite Entwickler- und Anwendergemeinde erstellt eine Vielzahl weiterer Software und Dokumentation rund um Linux, wodurch sich die Einsatzmöglichkeiten enorm erweitert haben. Hinzu kommt, dass Hersteller proprietärer Software zunehmend einen Markt bei Linux-Anwendern erkennen und mit der Zeit immer mehr Programme für Linux anbieten. Die Entwicklung von Freier Software erfolgt dabei sowohl in selbstorganisierten Projekten, die aus ehrenamtlichen und bezahlten Entwicklern bestehen, als auch in Stiftungen, die teilweise von Unternehmen unterstützt werden. Allen Modellen ist gemeinsam, dass sie stark über das Internet vernetzt sind und dort ein Großteil der Organisation und Abstimmung stattfindet.
Streit um Linux
Schon früh kam es rund um Linux zum Streit. 1992 griff Andrew S. Tanenbaum Linux wegen eines aus seiner Sicht veralteten Designs und eines zu liberalen Entwicklungsmodells an. Später kam Tanenbaum erneut ins Spiel, als Ken Brown an seinem Buch Samizdat schrieb und nach Anhaltspunkten suchte, dass Linux nur eine Kopie von Tanenbaums Minix sei. Tanenbaum nahm Linux diesmal in Schutz. Linux habe ein zu schlechtes Design, als dass es abgeschrieben sein könne.
Anderen Streit gab es mit erklärten Konkurrenten. Schon früh wurden interne Microsoft-Dokumente (Halloween-Dokumente) bekannt, die aufzeigten, dass Microsoft annahm, Linux sei die größte Gefahr für Windows. Später begann Microsoft mit einer Kampagne, um Windows bei einer Gegenüberstellung mit Linux technisch wie wirtschaftlich gut aussehen zu lassen. Während die Community diese Kampagne recht gelassen sah, starteten vor allem Unternehmen im Linux-Umfeld Gegenkampagnen. Im Herbst 2006 aber kündigten Microsoft und Novell an, bei Interoperabilität und Patentschutz zusammenzuarbeiten, um so die Zusammenarbeit der einzelnen Produkte zu verbessern.
Ein anderer Konkurrent, der Unix-Hersteller SCO, erhob wiederum 2003 den Vorwurf, dass bei IBM angestellte Linux-Entwickler Quellcode von SCOs Unix in Linux kopiert hätten. Das Verfahren wurde im Sommer 2007 eingestellt, die SCO Group hat mittlerweile Insolvenz angemeldet und wurde vom Börsenhandel ausgeschlossen. 2013 wurde eine Wiederaufnahme des Verfahrens beantragt. Im Artikel SCO gegen Linux ist der Streit chronologisch dokumentiert.
Ebenfalls machte das Markenrecht Linux schon früh zu schaffen. So ließen einige Privatpersonen Mitte der 1990er Jahre den Namen Linux auf sich eintragen, was Torvalds nur mit viel Hilfe wieder rückgängig machen konnte. Er übertrug die Verwaltung der Markenrechte an das Linux Mark Institute, welches wiederum im Jahr 2005 auffiel, als es die Lizenzen für den Markenschutz auf bis zu 5.000 Dollar pro Jahr festlegte. Diese Summe brachte hauptsächlich viele an Community-Projekten beteiligte Gemüter in Wallung, woraufhin sich Torvalds genötigt fühlte, in einem offenen Brief Stellung zu nehmen und klarzustellen, dass das Geld schlichtweg benötigt werde, damit das gemeinnützig arbeitende Linux Mark Institute seine eigenen Kosten decken könne.
Der Kernel
Technik
Die Bezeichnung Linux wurde von Linus Torvalds anfänglich nur für den Kernel genutzt, dieser stellt der Software eine Schnittstelle zur Verfügung, mit der sie auf die Hardware zugreifen kann, ohne sie genauer zu kennen. Der Linux-Kernel ist ein in der Programmiersprache C geschriebener monolithischer Kernel, wobei einige GNU-C Erweiterungen benutzt werden. Wichtige Teilroutinen sowie zeitkritische Module sind jedoch in prozessorspezifischer Assemblersprache programmiert. Der Kernel ermöglicht es, nur die für die jeweilige Hardware nötigen Treiber zu laden. Weiterhin übernimmt der Kernel auch die Zuweisung von Prozessorzeit und Ressourcen zu den einzelnen Programmen, die auf ihm gestartet werden. Bei den einzelnen technischen Vorgängen orientiert sich das Design von Linux stark an seinem Vorbild Unix.
Der Linux-Kernel wurde zwischenzeitlich auf eine sehr große Anzahl von Hardware-Architekturen portiert. Das Repertoire reicht von eher exotischen Betriebsumgebungen wie dem iPAQ-Handheld-Computer, Navigationsgeräten von TomTom oder gar Digitalkameras bis hin zu Großrechnern wie IBMs System z und auch Mobiltelefonen wie dem Motorola A780 sowie Smartphones mit Betriebssystemen wie Android oder Sailfish OS auf dem Jolla. Trotz Modulkonzept blieb die monolithische Grundarchitektur erhalten. Die Orientierung der Urversion auf die verbreiteten x86-PCs führte früh dazu, verschiedenste Hardware effizient zu unterstützen und die Bereitstellung von Treibern auch unerfahrenen Programmierern zu ermöglichen. Die hervorgebrachten Grundstrukturen beflügelten die Verbreitung.
Kernel-Versionen
Alle Kernel-Versionen werden auf kernel.org archiviert. Die dort zu findende Version ist der jeweilige Referenzkernel. Auf diesem bauen die sogenannten Distributionskernel auf, die von den einzelnen Linux-Distributionen um weitere Funktionen ergänzt werden. Eine Besonderheit stellt das aus vier Zahlen bestehende und durch Punkte getrennte Versionsnummernschema dar, z. B. 2.6.14.1. Sie gibt Auskunft über die genaue Version und damit auch über die Fähigkeiten des jeweiligen Kernels. Von den vier Zahlen wird die letzte für Fehlerbehebungen und Aufräumarbeiten geändert, aber nicht für neue Funktionen oder tiefgreifende Änderungen. Aus diesem Grund wird sie z. B. beim Vergleich von Kernel-Versionen nur selten angegeben. Die vorletzte, dritte Ziffer wird geändert, wenn neue Fähigkeiten oder Funktionen hinzugefügt werden. Gleiches gilt für die ersten beiden Zahlen, wobei hier die Änderungen und neuen Funktionen drastischer ausfallen müssen. Ab Version 3.0 (August 2011) wird auf die zweite Zahl verzichtet.
Entwicklungsprozess
Die Entwicklung von Linux liegt durch die GPL und durch ein sehr offenes Entwicklungsmodell nicht in der Hand von Einzelpersonen, Konzernen oder Ländern, sondern in der Hand einer weltweiten Gemeinschaft vieler Programmierer, die sich in erster Linie über das Internet austauschen. In vielen E-Mail-Listen, aber auch in Foren und im Usenet besteht für jedermann die Möglichkeit, die Diskussionen über den Kernel zu verfolgen, sich daran zu beteiligen und auch aktiv Beiträge zur Entwicklung zu leisten. Durch diese unkomplizierte Vorgehensweise ist eine schnelle und stetige Entwicklung gewährleistet, die auch die Möglichkeit mit sich bringt, dass jeder dem Kernel Fähigkeiten zukommen lassen kann, die er benötigt. Eingegrenzt wird dies nur durch die Kontrolle von Linus Torvalds und einigen speziell ausgesuchten Programmierern, die das letzte Wort bei der Aufnahme von Verbesserungen und Patches haben. Auf diese Weise entstehen täglich grob 4.300 Zeilen neuer Code, wobei auch täglich ungefähr 1.800 Zeilen gelöscht und 1.500 geändert werden (Angaben nach Greg Kroah-Hartman als Durchschnitt für das Jahr 2007). An der Entwicklung sind derzeit ungefähr 100 Verantwortliche („maintainer“) für 300 Subsysteme beteiligt.
Beispiele für Details an Kerneländerungen
Neuerungen im Kernel 2.6
Der stabile Kernel 2.6 wurde ab Dezember 2001 auf Basis des damaligen 2.4er-Kernels entwickelt und weist eine Reihe von Neuerungen auf. Die auffälligste Auswirkung dieser Änderungen ist, dass graphische und interaktive Anwendungen deutlich schneller ausgeführt werden.
Eine der wichtigsten Änderungen war dabei die Verbesserung des sogenannten O(1)-Schedulers, den Ingo Molnár für den 2.6er-Kernel komplett neu konzipierte. Er hat die Fähigkeit, das Zuweisen von Prozessorzeit zu unterschiedlichen Prozessen unabhängig von der Anzahl der Prozesse in konstanter Zeit zu erledigen. Seit Kernel 2.6.23 kommt allerdings stattdessen der sogenannte Completely Fair Scheduler zum Einsatz.
Eine andere Neuerung stellt die Einführung von Access Control Lists dar, mit deren Hilfe ein sehr fein abgestimmtes Rechtemanagement möglich ist, was vor allen Dingen in Umgebungen mit vielen Benutzern sehr wichtig ist. Ebenso verfügt der neue Kernel über ein deutlich verbessertes System der Dateiüberwachung. In der neuen Version, Inotify genannt, gibt die Überwachung bei jeder Operation an einer Datei eine Nachricht ab, was z. B. für Desktop-Suchmaschinen wichtig ist, die daraufhin ihren Index in Bezug auf diese Datei aktualisieren können.
Distributionen
Da der Linux-Kernel allein nicht lauffähig oder benutzbar wäre, muss er zusammen mit Hilfssoftware, wie den GNU Core Utilities und vielen anderen Anwendungsprogrammen verteilt werden. Eine solche Zusammenstellung nennt man „Linux-Distribution“, sie ist eine Zusammenstellung verschiedener Software, die je nach Anforderung unterschiedlich sein kann. Die so entstandenen Distributionen unterscheiden sich zum Teil erheblich. Der Herausgeber einer Linux-Distribution ist der Distributor.
Geschichte der Linux-Distributionen
Die Notwendigkeit von Linux-Distributionen ergab sich durch das Entwicklungsmodell von Linux nahezu sofort. Die Werkzeuge des GNU-Projekts wurden zügig für Linux angepasst, um ein arbeitsfähiges System bereitstellen zu können. Die ersten Zusammenstellungen dieser Art waren 1992 MCC Interim Linux, Softlanding Linux System (SLS) und Yggdrasil Linux. Die älteste heute noch existierende Distribution, Slackware von Patrick Volkerding, folgte 1993 und stammt von Softlanding Linux System ab.
Mit der Ausbreitung der Linux-Distributionen bekamen mehr Menschen die Möglichkeit, das System zu testen, des Weiteren wurden die Distributionen immer umfangreicher, so dass ein immer größerer Einsatzbereich erschlossen werden konnte, was Linux zunehmend zu einer attraktiven Alternative zu Betriebssystemen etablierter Hersteller werden ließ. Im Laufe der Zeit änderte sich auch der Hintergrund der Distributionen: Wurden die ersten Distributionen noch der Bequemlichkeit halber und von Einzelpersonen oder kleinen Gruppen geschrieben, gibt es heutzutage teilweise sehr große Gemeinschaftsprojekte Freiwilliger, Unternehmens-Distributionen oder eine Kombination aus beidem.
Moderne Distributionen
Hinter den meisten, vorrangig kleinen Distributionen stehen über das Internet koordinierte Projekte Freiwilliger. Die großen Distributionen werden eher von Stiftungen und Unternehmen verwaltet. Auch die Einsatzmöglichkeiten der einzelnen Distributionen differenzierten sich mit der Zeit stark. Vom Desktop-PC über Server-Installationen und Live-CDs bis hin zu Distributionen zu technischen Forschungszwecken ist alles vertreten. Die Zusammensetzung einer üblichen Linux-Distribution für den Desktop-PC umfasst eine große Zahl von Softwarekomponenten, die das tägliche Arbeiten ermöglichen. Die meisten Distributionen werden in Form fertiger CD- oder DVD-Images im Internet bereitgestellt oder mit Support-Verträgen oder Handbüchern verkauft.
Für besondere Anwendungsgebiete existieren oft keine direkt installierbaren Distributionen. Hier werden Frameworks wie OpenEmbedded z. B. für Router oder Handys verwendet, um eine Distribution für den Einsatz auf dem Gerät vorzubereiten.
Vielfalt
Es wird eine große Anzahl an Distributionen angeboten, die dem Benutzer eine sehr feine Abstimmung der Auswahlkriterien auf die eigenen Bedürfnisse ermöglicht. Die Auswahl der geeignetsten Distribution ist für viele unerfahrene Benutzer daher nicht einfach. Die verwendete Software kann mehr Gewicht für Privatanwender haben als für Unternehmen, die wiederum mehr Wert auf die Verfügbarkeit eines offiziellen Kundendienstes („Support“) legen. Auch kann die Politik des Projekts oder die des Unternehmens hinter der Distribution, z. B. in Bezug auf proprietäre Software, ebenso eine Rolle spielen wie die Eigenschaften der Community in diesem Projekt.
Die Liste von Linux-Distributionen enthält eine Aufzählung der wichtigsten oder populärsten Distributionen.
Kompatibilität zwischen den Distributionen
Die Vielfalt der Distributionen, die teilweise verschiedene binäre Formate, eigene Verzeichnisstrukturen und ähnliche Unterschiede aufweisen, führt zu einem gewissen Grad an Inkompatibilität zwischen den Distributionen, der bisher auch durch Richtlinien wie den Filesystem Hierarchy Standard und der Linux Standard Base nicht behoben werden konnte. So kann Software, die für die Distribution A bereitgestellt wird, nicht notwendigerweise auch auf der Distribution B installiert werden. Verschiedene Sichtweisen und Lösungsansätze zu dieser Problematik werden im Hauptartikel Linux-Distribution näher beleuchtet.
Einsatzbereiche
Die Einsatzgebiete von Linux sind seit der ersten Version stetig erweitert worden und decken heutzutage einen weiten Bereich ab.
Desktop-Systeme
Linux, beziehungsweise eine Linux-Distribution, lässt sich als allein installiertes Betriebssystem betreiben, aber auch innerhalb eines Multi-Boot-Systems einsetzen oder als Live-System von USB-Stick oder optischen Medien betreiben. Parallel installieren kann man Linux beispielsweise neben Windows oder einem BSD wie FreeBSD oder macOS. Moderne Distributionen wie OpenSUSE, Debian, MX Linux oder Ubuntu führen den Nutzer mit Hilfe von grafischen Benutzeroberflächen durch die Installation auf dem PC und erkennen andere Betriebssysteme nahezu immer selbstständig. Aus weit über tausend kostenlosen Programmen kann eine individuelle Kombination ausgewählt werden. Textverarbeitung, Tabellenkalkulation, Multimedia-Anwendungen, Netzwerktools, Spiele oder wissenschaftliche Anwendungen decken die meisten Anwendungsbereiche ab, die im Büroalltag und im Privatbereich wichtig sind.
Trotz des Sicherheitsvorsprungs gegenüber dem am weitesten verbreiteten Betriebssystem Windows und der Möglichkeit der Parallelinstallation und umfangreichen, kostenlosen Softwareangebots wird Linux auf Desktoprechnern nur zögerlich eingesetzt. Auch wenn sich die verbreitetsten Linux-Desktop-Umgebungen ähnlich bedienen lassen wie Windows oder macOS, unterscheiden sie sich durch diverse Systemfunktionen von ihnen. Daher kann wie bei fast jedem Wechsel des Betriebssystems eine gewisse Einarbeitungszeit nötig sein.
Die Installation der meisten Distributionen ist einfach und gibt geläufige Einstellungen vor, auch die Installation der Anwendungen läuft meist vollautomatisch ab, da sie üblicherweise von einem Paketmanager übernommen wird. Da das genaue Vorgehen aber nicht bei allen Linux-Distributionen einheitlich geregelt ist, kann ein Wechsel der Linux-Distribution Einarbeitungszeit erfordern. Die Installation von Programmen, die nicht zum Umfang der Distribution gehören, kann unterschiedlich sein: Im Idealfall existiert eine Paketquelle der Programmentwickler, die im Paketmanager eingebunden werden und über diesen dann installiert werden kann. Daneben gibt es für eine Reihe von Programmen Pakete, die auf die Distribution abgestimmt zum Download verfügbar sind. Im ungünstigsten Fall muss die Software als Quellcode bezogen werden und für das jeweilige System kompiliert werden. Anwendungen, die vom Anbieter nur für macOS oder Windows auf den Markt gebracht wurden, kann man i. d. R. unter Linux mittels API-Implementierungen wie Wine, Cedega oder Darling bzw. GNUstep verwenden. In anderen Fällen muss man zu alternativen Anwendungen greifen, die für Linux verfügbar sind.
Die beiden weit verbreiteten Desktop-Umgebungen Gnome und KDE haben unterschiedliche Bedienungskonzepte, weshalb viele Distributoren Standards und Richtlinien veröffentlichen, um sowohl Entwicklern als auch Nutzern den Umgang mit verschiedenen Desktop-Umgebungen nahezubringen und ihn zu vereinheitlichen.
Bekannt geworden sind größere Migrationen von Unternehmen oder Institutionen, die mehrere hundert oder tausend Rechner auf Linux-Desktops umgestellt haben, wie die Stadt München im Rahmen des LiMux-Projekts oder die Umstellung von 20.000 Desktops bei Peugeot Citroën. Die Stadt Schwäbisch Hall hat ebenfalls die Verwaltung auf Linux umgestellt. Durch die Auslieferung vorinstallierter Systeme durch einige Fachhändler sowie die wachsende Beliebtheit einiger Distributionen wie Ubuntu wuchs die Linux-Verwendung auf Desktoprechnern von Anfang 2007 bis Mitte 2008 um fast 30 Prozent. Weltweit wurde im April 2009 im Market-Share-Report von Net Applications erstmals ein Marktanteil von einem Prozent ermittelt. Nachdem er 2010 gemäß NetMarketShare wieder auf 0,9 % gefallen war, stieg der Marktanteil bis Dezember 2011 auf 1,41 %. Ende 2016 lag der Marktanteil bei
2,2 %.
Im August 2023 informierte eine Quelle aus dem indischen Verteidigungsministerium darüber, dass die Regierung plant, vom proprietären Microsoft-Windows-Betriebssystem zu einer eigenen GNU/Linux-Distribution zu wechseln. Hierfür wurde eine „Maya“ getaufte Distribution entwickelt, die auf Ubuntu aufbaut. Noch im August 2023 soll mit dem Ausrollen begonnen werden.
Server
Aufgrund der Kompatibilität von Linux mit anderen unixoiden Systemen hat sich Linux auf dem Servermarkt besonders schnell etabliert. Da für Linux schon früh zahlreiche häufig verwendete und benötigte Serversoftware wie Webserver, Datenbankserver und Groupware kostenlos und weitgehend uneingeschränkt zur Verfügung stand, wuchs dort der Marktanteil stetig.
Da Linux als stabil und einfach zu warten gilt, erfüllt es auch die besonderen Bedingungen, die an ein Server-Betriebssystem gestellt werden. Der modulare Aufbau des Linux-Systems ermöglicht zusätzlich das Betreiben kompakter, dedizierter Server. Außerdem hat die Portierung von Linux auf verschiedenste Hardwarekomponenten dazu geführt, dass Linux alle bekannten Serverarchitekturen unterstützt.
Eingesetzt wird es dabei für praktisch alle Aufgaben. Eines der bekanntesten Beispiele ist die Linux-Server-Konfiguration LAMP, bei der Linux mit Apache, MySQL und PHP/Perl (manchmal auch Python) kombiniert wird. Auch proprietäre Geschäftssoftware wie SAP R/3 ist mittlerweile auf verschiedenen Distributionen verfügbar und hat eine Installationszahl von über 1.000 Systemen erreicht. Das Linux Terminal Server Project ermöglicht es, sämtliche Software außer dem BIOS der Clients zentral zu verwalten.
Da Linux auf einer Vielzahl von verschiedenen Hardwaretypen betrieben werden kann, ist auch die für Linux-Server genutzte Hardware ähnlich umfangreich. Auch moderne Hardware wie die von IBMs eServer p5 wird unterstützt und ermöglicht dort das parallele Ausführen von bis zu 254 Linux-Systemen (Modell p595). Auf IBM-Großrechnern der aktuellen System-z-Linie läuft Linux wahlweise nativ, mittels PR/SM in bis zu 30 LPARs oder in jeder davon unter z/VM in potenziell unbegrenzt vielen, real einigen zehntausend virtuellen Maschinen.
Im Januar 2017 wurden mindestens 34 % aller Websites über einen Linux-Server bereitgestellt. Da sich nicht alle Linux-Server als solche zu erkennen geben, könnte der tatsächliche Anteil um bis zu 31 Prozentpunkte höher liegen. Ein tatsächlicher Marktanteil von bis zu ca. 65 % ist daher nicht auszuschließen. Der Marktanteil der verkauften Linux-Server-Systeme lag im zweiten Quartal 2013 bei 23,2 %. Da es nicht unüblich ist, dass auf Servern vom Kunden selbst ein anderes Betriebssystem installiert wird, gibt diese Zahl nur bedingt Auskunft über die tatsächliche Nutzung von Linux auf Serversystemen.
Smartphone- und Tablet-Systeme
Für Smartphones und Tablets gibt es speziell optimierte Linux-Distributionen. Sie bieten neben den Telefonie- und SMS-Funktionen diverse PIM-, Navigations- und Multimedia-Funktionen. Die Bedienung erfolgt typischerweise über Multi-Touch oder mit einem Stift. Linux-basierte Smartphonesysteme werden meist von einem Firmenkonsortium oder einer einzelnen Firma entwickelt und unterscheiden sich teilweise sehr stark von den sonst klassischen Desktop-, Embedded- und Server-Distributionen. Anders als im Embedded-Bereich sind Linux-basierte Smartphonesysteme aber nicht auf ein bestimmtes Gerät beschränkt, vielmehr dienen sie als Betriebssystem für Geräte ganz unterschiedlicher Modellreihen und werden oft herstellerübergreifend eingesetzt.
Die Architektur dieser Smartphone- und Tablet-Distributionen hat neben dem Linux-Kernel teilweise wenig mit den klassischen Distributionen zu tun. So wird von Android nur ein Teil der sonst üblichen GNU-Software-Umgebung genutzt. Die meist auf Linux genutzten UNIX-artigen Dienste und Tools werden teilweise durch eine Java-Laufzeitumgebung ersetzt. Dadurch entstehen neue Programmierschnittstellen, die sich auf beliebigen anderen Plattformen emulieren bzw. umsetzen lassen. Trotzdem wird Android als Linux-Distribution angesehen, die viele Eigenschaften mitbringt, die es mit zahlreichen Embedded-Linux-Distributionen teilt. Andere Smartphone-Distributionen, wie etwa Firefox OS, Ubuntu for phones, Maemo, Tizen, Mer, Sailfish OS und MeeGo nutzen größere Teile der klassischen GNU-Software-Umgebung, so dass diese Distributionen teilweise einfacher mit klassischen Linux-Anwendungen ergänzt werden können und somit eher Linux-Distributionen im klassischen Sinne entsprechen.
Das von HP Palm entwickelte WebOS setzt ebenfalls auf dem Linux-Kernel auf, das Userland jedoch besteht aus einer proprietären Entwicklung unter anderer Lizenz. Auch das ehemals von Samsung entwickelte Bada war neben einem RTOS-Kernel auch auf einem Linux-Kernel nutzbar, was aber von Samsung nie in dieser Kombination verkauft wurde.
Linux-Systeme haben seit Ende 2010 die Marktführerschaft auf dem schnell wachsenden Smartphone-Markt übernommen. Sie weisen in Deutschland seit Februar 2013 durchgehend einen Marktanteil von über 70 % auf mit einem bisherigen Maximum von über 82 % im Juli 2014 (Anteile Linux-basierter Alternativen zu Android wurden in der Statistik nicht explizit angegeben). Vorwiegend Android-Geräte haben iOS, Windows Phone und Symbian erfolgreich zurückgedrängt.
Supercomputer
Da Linux beliebig angepasst und optimiert werden kann, hat es sich auch in Rechenzentren stark verbreitet, in denen speziell angepasste Versionen auf Großrechnern, Computerclustern (siehe Beowulf) oder Supercomputern laufen.
In der TOP500-Liste der schnellsten Supercomputer (Stand Juni 2018) werden alle gelisteten Systeme mit Linux betrieben. Der im Desktop-Bereich größte Konkurrent Windows spielt bei Höchstleistungsrechnern keine Rolle. Im Juni 2011 waren es noch 4 Systeme (darunter Platz 40), die mit dem Betriebssystem Windows liefen.
(Automobil-)Industrie
Linux setzt sich aus vielfältigen Gründen auch immer mehr in der Industrie, speziell in der Automobilindustrie, durch. Das weltweit erste von Linux betriebene Infotainment-System wurde von General Motors in Kooperation mit Bosch entwickelt. Die GENIVI Alliance definiert Anforderungen an eine Linux-Distribution speziell für Infotainment-Systeme in Fahrzeugen. Die größte Marktdurchdringung hat Linux in Japan. Zu den bekannten Unternehmen, die Linux verwenden, gehören: Ashisuto, Aisin AW, JVC KENWOOD Corporation, NTT DATA MSE und Turbo Systems.
Weitere Einsatzbereiche
Ferner können auch NAS-Speichersysteme oder WLAN-Router Linux als Betriebssystem nutzen. Vorteil ist, dass eine sehr aktive Entwickler-Community besteht, auf deren Ressourcen (der Kernel mit den Schnittstellen-, Speicherverwaltungs- und Netzwerkfunktionen, aber z. B. auch umfangreiche Entwicklerprogramme, bereits bestehender Code wie die Benutzeroberflächen OPIE oder GPE Palmtop Environment, Erfahrung etc.) die Hersteller dabei zurückgreifen können.
Sicherheit
Allgemeines
Die Gründe für die Bewertung von Linux als sicheres System sind verschieden und hängen von dessen Aufgaben und der verwendeten Softwarekonfiguration ab. So verfügt Linux als Desktop-System über eine strenge Unterteilung der Zugriffsrechte, die bei anderen verbreiteten Desktop-Systemen im Normalfall nicht eingehalten wird. Dies führt unter anderem dazu, dass viele Funktionsprinzipien verbreiteter Würmer und Viren bei Linux nicht greifen können beziehungsweise nur den ausführenden Benutzer, jedoch nicht das ganze System, kompromittieren können. Eine Kompromittierung des Nutzers kann gleichwohl zu sensiblen Datenverlusten führen. Bisher traten nur sehr wenige Viren unter Linux auf, beispielsweise Staog und Bliss. Im Vergleich zu anderen Desktop-Systemen hat Linux die erste größere Verbreitung bei Nutzern mit einem sehr technischen und sicherheitsbewussten Umfeld erfahren. Die Entwicklung geschah somit, verglichen mit anderen verbreiteten Desktop-Systemen, unter den Augen eines sehr sicherheitskritischen Publikums. Im Gegensatz zu Desktop-Systemen hängt die Sicherheit bei Serversystemen primär vom Grad der Erfahrung der Administratoren mit dem System selbst ab. Linux punktet dabei durch die freie Verfügbarkeit, die es Administratoren ermöglicht, das System ohne Mehrkosten in verschiedensten Testszenarien zu installieren und dort ausgiebig zu untersuchen. Zudem gibt es eine Reihe von speziell gehärteten Linux-Distributionen, welche besonderen Wert auf Sicherheitsaspekte legen. Initiativen wie SELinux bemühen sich dort um das Erfüllen hoher Sicherheitsstandards.
Da Linux quelloffene Software ist, kann jeder den Quellcode studieren, untersuchen und anpassen. Dies führt unter anderem auch dazu, dass der Quellcode (sei es zum Zwecke der Anpassung, zum Zwecke der Schulung, aus dem Sicherheitsinteresse einer Institution oder eines Unternehmens heraus oder aus privatem Interesse) von mehr Menschen studiert wird, als dies bei proprietären Programmen der Fall sein kann, wodurch Sicherheitslücken schneller auffallen (und dann behoben werden können).
Sicherheitsaktualisierungen
Ein wesentliches Merkmal vieler Linux-Distributionen ist es, dass sie kostenlos und automatisiert Sicherheitsaktualisierungen für alle bereitgestellte Software anbieten. Diese Funktion existiert zwar auch bei anderen gängigen Betriebssystemen, erfasst dort aber nicht alle bereitgestellte Software, funktioniert nicht durchgehend automatisch oder ist nicht kostenlos, weshalb die Hürde, solche Aktualisierungen einzuspielen, bei anderen Betriebssystemen höher ist als bei Linux.
Unter anderem wegen der allgemein verfügbaren Sicherheitsaktualisierungen sind Antivirenprogramme für Linux wenig verbreitet. Anstatt mit einem Antivirenprogramm nach Schadsoftware suchen zu lassen, die bekannte Sicherheitslücken in der installierten Anwendungssoftware ausnutzt, können die bekannten Lücken bereits über Sicherheitsaktualisierungen geschlossen werden. Die existierenden Antivirenprogramme für Linux werden daher hauptsächlich dafür eingesetzt, um Datei- und E-Mail-Server auf Viren für andere Betriebssysteme zu untersuchen.
Technische Fähigkeiten
Linux verfügt über viele der Fähigkeiten, welche für eine sicherheitstechnisch anspruchsvolle Umgebung erforderlich sind. Dazu gehört sowohl eine einfache Nutzer- und Gruppenrechteverwaltung mittels Role Based Access Control, wie auch eine komplexere Rechteverwaltung mit Hilfe von Access Control Lists. Zusätzlich implementieren viele aktuelle Distributionen auch Mandatory-Access-Control-Konzepte mit Hilfe der SELinux/AppArmor-Technik.
Ebenso bietet fast jede Linux-Distribution auch eine Secure-Shell-Implementierung (zumeist OpenSSH) an, mit der authentifizierte verschlüsselte und deswegen sichere Verbindungen zwischen Computern gewährleistet werden können. Andere Verschlüsselungstechniken wie Transport Layer Security werden ebenfalls voll unterstützt.
Im Rahmen der Verschlüsselung für auf Medien gespeicherte Daten steht das Kryptographie-Werkzeug dm-crypt zur Verfügung, das eine Festplattenverschlüsselung ermöglicht. Es bietet dabei die Möglichkeit der Verschlüsselung nach aktuellen Standards wie dem Advanced Encryption Standard. Transparente Verschlüsselung, bei der nur einzelne Dateien statt ganzer Festplatten verschlüsselt werden, stellen die Verschlüsselungserweiterung EncFS und das Dateisystem ReiserFS zur Verfügung. Zu den Sicherheitszertifikaten, die im Zusammenhang mit Linux erworben wurden, siehe den Abschnitt Software-Zertifikate.
Zertifikate
Personalzertifikate
Um den Grad der Kenntnisse von Technikern und Administratoren messbar zu machen, wurden eine Reihe von Linux-Zertifikaten ins Leben gerufen. Das Linux Professional Institute (LPI) bietet dafür eine weltweit anerkannte Linux-Zertifizierung in drei Levels, die ersten beiden Level (LPIC-1 und LPIC-2) mit jeweils zwei Prüfungen und den dritten Level (LPIC-3) mit einer Core-Prüfung (301) und mehreren optionalen Erweiterungsprüfungen. Auch die großen Linux-Distributoren wie Red Hat, openSUSE und Ubuntu bieten eigene Schulungszertifikate an, die aber zum Teil auf die Distributionen und deren Eigenheiten ausgelegt sind.
Software-Zertifikate
Um den Grad der Sicherheit von Technikprodukten zu bewerten, gibt es ebenfalls eine Reihe von Zertifikaten, von denen wiederum viele für bestimmte Linux-Distributionen vergeben wurden. So hat z. B. das Suse Linux Enterprise Server 9 des Linux-Distributors Novell die Sicherheitszertifikation EAL4+ nach den Common Criteria for Information Technology Security Evaluation erhalten, Red Hat hat für seine Redhat Enterprise Linux 4 Distribution ebenso die EAL4+-Zertifizierung erhalten. Ein Problem bei der Zertifizierung stellen für viele Distributoren allerdings die hohen Kosten dar. So kostet eine Zertifizierung nach EAL2 etwa 400.000 US-Dollar.
Hardwareunterstützung
Eine häufige Schwierigkeit beim Einsatz von Linux besteht darin, dass oft keine ausreichende Hardware-Unterstützung gegeben ist. Tatsächlich verfügt Linux zahlenmäßig über mehr mitgelieferte Treiber als vergleichbare Systeme (Windows, macOS). Das führt dazu, dass in der Regel nicht einmal eine Treiber-Installation notwendig ist und dass sogar ein Wechsel von Hardware reibungslos möglich ist. Das bietet dem Anwender deutlich mehr Komfort als bei vergleichbaren Betriebssystemen, da so z. B. ein problemloser Umzug des Betriebssystems auf einen anderen Rechner oder sogar die Installation des Betriebssystems auf Wechseldatenträgern möglich ist, ohne dass hierfür spezielle Anpassungen am System nötig wären.
Oft ist diese reibungslose Hardware-Unterstützung jedoch nicht gegeben. Das gilt insbesondere für aktuellere Hardware. Die Ursache liegt darin begründet, dass nur wenige Hardwarehersteller selbst Linux-Treiber für ihre Hardware zur Verfügung stellen oder diese nur in schlechter Qualität vorliegen. Während für Hardware mit offen dokumentierter, standardisierter Schnittstelle (z. B. Mäuse, Tastaturen, Festplatten und USB-Host-Controller) Treiber zur Verfügung stehen, ist dies für andere Hardwareklassen (z. B. Netzwerkschnittstellen, Soundkarten und Grafikkarten) nicht immer der Fall. Viele Hardwarehersteller setzen auf proprietäre hardwarespezifische Schnittstellen, deren Spezifikation zudem nicht öffentlich zugänglich ist, sodass sie mittels Black-Box-Analyse bzw. Reverse Engineering erschlossen werden muss. Beispiele hierfür sind Intels HD Audio-Schnittstelle und deren Linux-Implementierung snd-hda-intel oder der freie 3D-Grafiktreiber nouveau für bestimmte 3D-Grafikchips von Nvidia. Ein anderes Beispiel ist der Energieverwaltungsstandard ACPI, der sehr komplex und auf die jeweilige Hauptplatine zugeschnitten ist, sodass eine Implementierung durch die Linux-Gemeinschaft aus Mangel an Ressourcen oder Hintergrundwissen oft unzureichend ist. Oft kann in diesem Zusammenhang auch das Mitwirken der Anwender hilfreich sein, indem sie auf Probleme hinweisen und idealerweise sogar technische Informationen zu ihrer Hardware ermitteln und der Linux-Gemeinschaft zur Verfügung stellen oder Entwicklerversionen vor der Veröffentlichung testen.
Ein oft genannter Grund für die Nichtbereitstellung von Linuxtreibern ist das Entwicklungsmodell des Linux-Kernels: Da er keine feste Treiber-API besitzt, müssen Treiber immer wieder an Veränderungen in den einzelnen Kernel-Versionen angepasst werden. Direkt in den Kernel integrierte Treiber werden zwar von den Kernel-Entwicklern meist mit gepflegt, müssen aber unter der GNU General Public License (GPL) veröffentlicht sein, was einige Hardware-Hersteller ablehnen. Extern zur Verfügung gestellte Treiber müssen aber ebenfalls ständig angepasst und in neuen Versionen veröffentlicht werden, was einen enormen Entwicklungsaufwand mit sich bringt. Außerdem ist die rechtliche Lage solcher externen Module, die nicht unter der GPL stehen, umstritten, weil sie in kompilierter Form technisch bedingt GPL-lizenzierte Bestandteile des Kernels enthalten müssen.
Das Problem der Hardwareunterstützung durch sogenannte Binärtreiber (Gewähren von Binärdateien ohne Offenlegung des Quellcodes) wird im Linux-Umfeld kontrovers diskutiert: Während manche für einen Ausschluss proprietärer Kernel-Module plädieren, befürworten andere, dass einige Hersteller überhaupt – zur Not auch proprietäre – Treiber bereitstellen, mit dem Argument, dass die Linux-Nutzer ohne sie benachteiligt wären, weil sie sonst von bestimmter Hardware schlicht abgeschnitten wären.
Allerdings können Treiber für viele Geräteklassen (z. B. alle per USB oder Netzwerk angeschlossenen Geräte) auch ganz ohne Kernelcode programmiert werden, was sogar die bevorzugte Vorgehensweise ist.
Digitale Rechteverwaltung
Linus Torvalds betont, dass sich Linux und digitale Rechteverwaltung (DRM) nicht ausschließen. Auch sind freie DRM-Verfahren zur Nutzung unter Linux verfügbar.
In der Praxis ist die Nutzung DRM-geschützter Medien unter Linux jedoch seltener möglich als unter anderen Systemen, da aufgrund des Prinzips des Digital Rights Management allein die Rechteinhaber entscheiden können, auf welchen DRM-Systemen ihre Medien genutzt werden dürfen. Die dabei eingesetzten Verfahren sind nicht standardisiert, sondern werden von den jeweiligen Herstellern kontrolliert, und die beiden größten Hersteller von DRM-Systemen im Consumer-Umfeld, Microsoft und Apple, haben bis Oktober 2009 keine entsprechenden Programme für Linux veröffentlicht oder auch nur entsprechende Absichten bekundet.
Allerdings gibt es Windows-DRM-zertifizierte Software, die unter Linux eingesetzt werden kann, wie sie beispielsweise bei der AVM FRITZ!Media 8020 verwendet wird.
Grundsätzlich besteht bei DRM-Verfahren die Notwendigkeit, dass die Daten, an denen der Nutzer nur eingeschränkte Rechte erhalten soll, dem Nutzer zu keiner Zeit in unverschlüsselter Form zur Verfügung gestellt werden dürfen, da er ja sonst in diesem Moment eine unverschlüsselte Kopie anfertigen könnte. Da Linux quelloffen ist, ist es dem Nutzer leicht möglich, den entsprechenden Programmteil eines lokalen, rein softwarebasierten DRM-Systems durch eigenen Code zu ersetzen, der genau dies tut.
Veranstaltungen und Medien
Kongresse
Bis 2014 war der LinuxTag die größte jährlich stattfindende Messe zu den Themen Linux und freie Software in Europa. Neben den Ausstellungen aller namhaften Unternehmen und Projekte aus dem Linux-Umfeld wurde den Besuchern auch ein Vortragsprogramm zu verschiedenen Themen geboten. Der LinuxTag selbst existierte von 1996 bis 2014 und zog zuletzt jährlich mehr als 10.000 Besucher an. Neben dem großen LinuxTag gibt es noch eine Vielzahl kleinerer und regionaler Linuxtage, die oft mit Unterstützung von Universitäten organisiert werden. Seit 2015 sind die Chemnitzer Linux-Tage die größte Veranstaltung dieser Art in Deutschland.
Zu den weiteren internationalen Messen gehört der Linux Kongress – Linux System Technology Conference in Hamburg. Ein Kuriosum ist die jährlich stattfindende LinuxBierWanderung, die Linux-Enthusiasten der ganzen Welt eine Möglichkeit zum gemeinsamen „Feiern, Wandern und Biertrinken“ geben will.
Neben den allgemeinen Messen und Kongressen findet jedes Jahr das LUG-Camp statt. Dieses wird seit dem Jahr 2000 von Linux-Benutzern aus dem Raum Flensburg bis hin zur Schweiz organisiert und besucht.
Als bekannt wurde, dass der LinuxTag 2015 im Messeformat ausfällt, nahmen andere Menschen dies als Anlass den Linux Presentation Day (kurz LPD) zu etablieren. Der LPD ist allerdings nicht als Ersatz für den LinuxTag gedacht. Stattdessen hat sich der LPD auf die Fahnen geschrieben, Linux auf dem Desktop zu mehr Erfolg zu verhelfen. Dazu wird er meist von den mittlerweile weltweit verteilten Linux User Groups (Linux Benutzer Gruppen) als eine Art Messe veranstaltet.
Printmedien und elektronische Medien
Mit der zunehmenden Verbreitung von Linux hat sich auch ein Angebot an Printmedien entwickelt, die sich mit der Thematik beschäftigen. Neben einer Vielzahl an Büchern zu nahezu allen Aspekten von Linux haben sich auch regelmäßig erscheinende Zeitschriften auf dem Markt etabliert. Bekannteste Vertreter sind hier die einzelnen Hefte der Computec Media, die monatlich (Linux-Magazin, LinuxUser) oder vierteljährlich (EasyLinux) erscheinen. Schon seit einer ganzen Weile produzieren auch andere große Verlage wie IDG mit der zweimonatlich erscheinenden LinuxWelt sowie Heise mit der in unregelmäßiger Abfolge erscheinenden c't Linux Heftreihen beziehungsweise Sonderhefte zu langjährig bestehenden Computerzeitschriften, nämlich PCWelt und c’t. Darüber hinaus gibt es auch noch für die Distribution „Ubuntu Linux“ und ihre Derivate das jährlich viermal erscheinende Magazin UbuntuUser, das durch den Medienanbieter Computec Media veröffentlicht wird.
Rezeption
Wissenschaft
Der Asteroid (9885) Linux wurde am 12. Oktober 1994 entdeckt. Er wurde nach dem Linux-Kernel benannt.
Filme
Die Thematik rund um Linux wurde auch in einer Reihe von Dokumentationen behandelt. So behandelt der Kino-Dokumentationsfilm Revolution OS die Geschichte von Linux, freier Software und Open Source und stützt sich dabei größtenteils auf diverse Interviews mit bekannten Vertretern der Szene. Die TV-Dokumentation Codename: Linux, in Deutschland von Arte ausgestrahlt, geht ähnliche Wege, stellt aber auch einen chronologischen Verlauf der Entwicklung von Linux und Unix dar.
Siehe auch
Linux Foundation
Liste von Linux-Distributionen
Literatur
Weblinks
The Linux Kernel Archives – offizielle Website des Quelltextes des Linux-Kernels der Linux Kernel Organization, Inc
The Linux Foundation – offizielle Website von Linux (englisch)
Google Groups (Linus Torvalds’ erstes Posting in einer Newsgroup über Minix)
Einzelnachweise
Freie Software
Freies Betriebssystem
Unixoides Betriebssystem
Namensgeber für einen Asteroiden
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Q388
| 1,428.625533 |
436304
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https://de.wikipedia.org/wiki/Kragengei%C3%9Feltierchen
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Kragengeißeltierchen
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Kragengeißeltierchen (Choanomonada, auch Choanoflagellata) sind eine Gruppe einzelliger Lebewesen, die zu den Holozoa gerechnet werden. Durch ihre Ähnlichkeit mit den Kragengeißelzellen (Choanocyten) der Schwämme werden die Choanomonada als die nächsten einzelligen Verwandten der mehrzelligen Tiere angesehen.
Merkmale
Kragengeißeltierchen sind mit Größen von in der Regel bis zu 10 µm vergleichsweise kleine Protisten. Kennzeichnend für sie ist vor allem ein „Kragen“ aus 30 bis 40 feinen, fadenförmigen Zellfortsätzen (Mikrovilli), der in dieser Form bei keiner anderen Protistengruppe existiert, und eine einzelne Geißel in dessen Zentrum, die über den Kragen hinausragt. Eine ehemals wohl vorhandene zweite Geißel ging im Lauf der Entwicklungsgeschichte verloren und lässt sich nur noch am erhalten gebliebenen Kinetosom nachweisen. Die Geißel dient festsitzenden Arten wie Codosiga botrytis dazu, eine Strömung zu erzeugen, um Nahrungspartikel den Kragen-Zellfortsätzen zuzuführen, frei schwimmenden Arten wie zum Beispiel Monosiga brevicollis außerdem auch zum Antrieb. Zwischen Kragen (in der englischsprachigen Fachliteratur collar) und Zellkern befindet sich ein Golgi-Apparat. Das Plasma enthält Mitochondrien. Das Zellende gegenüber der Geißel kann Filipodien tragen oder bei sessilen Arten einen Stiel ausbilden.
Die Gruppe der Acanthoecida bildet eine Lorica, eine korbähnliche Schutzhülle mit rippenartigen, silikathaltigen Verstärkungen. Viele sessile Arten bilden Thecae aus, extrazelluläre, kelch- oder krugförmige, teils gestielte Zellhüllen.
Lebensweise
Kragengeißeltierchen kommen entweder als stationäre oder als frei schwebende Individuen bzw. Kolonien im Meer- wie im Süßwasser vor. Es gibt einzellige, frei schwimmende Arten wie Monosiga brevicollis, frei schwimmende Kolonien wie Salpingoeca rosetta und an Substrat fixierte Kolonien wie Codosiga botrytis. Sie schwimmen mit nach hinten gerichter Geißel (Schubgeißel).
Sie ernähren sich von organischen Partikeln, vor allem von im Wasser schwebenden Bakterien und von Viren, die sie fangen, indem sie mit der Bewegung ihrer Geißel diese an ihren Kragen heranstrudeln. Das Wasser mit den Nahrungspartikeln wird von außen nach innen wie in einem Reusenapparat bewegt. Die Bakterien oder sonstigen Teilchen bleiben an der Außenseite der schleimüberzogenen Mikrovilli des Kragenapparates hängen und wandern mit dem Schleim zum Kragenansatz, wo sie in Nahrungsvakuolen transportiert und verdaut werden. Das elektronenmikroskopische Bild rechts unten zeigt einen Kragenflagellaten bei der Aufnahme von Nahrung.
Viele Arten lassen sich leicht kultivieren und haben eine Generationszeit von 6 bis 8 Stunden. Die Vermehrung erfolgt sowohl asexuell als auch sexuell. Am häufigsten ist die asexuelle Vermehrung durch Längsteilung. Bei dem marinen Wimpertierchen Salpingoeca rosetta konnte nachgewiesen werden, dass durch bestimmte Bakterieninhaltsstoffe ein Schwärmen und eine anschließende sexuelle Vermehrung ausgelöst wird.
„Choanovirus“ ist eine vorgeschlagene Gattung von Riesenviren aus dem Phylum Nucleocytoviricota (NCLDV), die Choanoflagellaten der Spezies Bicosta minor (Acanthoecidae) befällt.
Manche Kragengeißeltierchen ernähren sich jedoch unter anderem von Viren: Julia M. Brown et al. berichteten im September 2020 über den Fund von Virus-DNA in Choanoflagellaten und Picozoen (Picozoa). Bei der gefundenen viralen DNA handelte es sich überwiegend um die von Virophagen (Bakterienviren), also nicht um Viren dieser Einzeller (wie etwa „Choanovirus“) selbst. Da in den Einzellern aber keine Bakterien-DNA gefunden wurde, scheidet auch eine Aufnahme der Virus-DNA als Beifang zusammen mit etwaigen Bakterien aus. Die Autoren gehen daher davon aus, dass die Viren von den Choanoflagellaten als Nahrung aufgenommen wurden. Die Konsequenzen für die marine Ökologie und Fragen zum dadurch möglichen Gentransfer zwischen den Viren und den Einzellern müssen allerdings noch erforscht werden.
Systematik
Äußere Systematik
Die Kragengeißeltierchen bilden zusammen mit den Vielzelligen Tieren (Metazoa) und einigen Einzellern das Taxon Holozoa:
Innere Systematik
Die Kragengeißeltierchen stellen eine der Gruppen der sogenannten Holozoa dar. Sie wurden traditionell in drei weitere Gruppen unterteilt:
Monosigidae
Salpingoecidae
Acanthoecidae
Spätere Forschungsergebnisse führten jedoch durch die Zusammenfassung der Monosigidae und der Salpingoecidae zur Einteilung in nur noch zwei Gruppen:
Ordnung Craspedida
15 Gattungen
Astrosiga: Kent, 1880-1882
Codonocladium Stein, 1878
Codonosiga James-Clark, 1868
Codosiga botrytis (Stielchen-Flagellat) kommt in stehenden Gewässern an Wasserpflanzen vor. Die Flagellaten sitzen einzeln oder in Gruppen an der Spitze eines Stiels, der 2 - 10x so lang wie der Organismus ist. Die Zellgröße beträgt 8 - 30 µm. Die Organismen heften sich häufig an die Stiele von Glockentierchenen.
Desmarella Kent, 1880-1882
Monosiga Kent, 1880-1882
Monosiga ovata (Eiförmiger Kragenflagellat) ist ein einzeln lebender, kugelig bis einförmiger Flagellat, der direkt oder mit kurzem Stiel auf einer Unterlage sitzt. Man findet ihn in stehenden Binnengewässern an Detritus, Wasserpflanzen und zum Teil auf Plankton aufsitzend. Die Größe beträgt 5-16 µm. Die Geißel ist etwa 20 µm lang.
Monosiga fusiformis (Spindelflagellat) lebt als Einzeller und sitzt mit zugespitztem Hinterende auf einer Unterlage fixiert. Es hat einen relativ großen Plasmakragen und zwei kontraktile Vakuolen. Es bevorzugt saubere stehende Süßgewässer und heftet sich oft an Plankton.
Phalansterium Norris, in Parker, 1982.
Phalansterium digitatum (Wasserfinger) ist eine Süßwasserart, die in kleinen stehenden Gewässern und zwischen nassen Moosen vorkommt. Die Organismen bestehen aus fingerförmlig verzweigten Gallertsäulen an deren Enden ein bis vier Flagellaten von 17 μm Größe sitzen. Die 35 μm langen Geißeln reichen weit über die Gallerte hinaus.
Proterospongia Kent, 1880-1882
Sphaeroeca Lauterborn, 1894
Stylochromonas Norris, in Parker, 1982
Aulomonas Lackey, 1942
Choanoeca Ellis, 1930
Diploeca Ellis, 1930
Pachysoeca Ellis, 1930
Salpingoeca James-Clark, 1868
Salpingoeca rosetta: Meeresbewohner
Stelexomonas Lackey, 1942
Ordnung Acanthoecida
Norris, 1965, 31 Gattungen
Acanthocorbis Hara & Takahashi, 1984
Acanthoeca Ellis, 1930
Acanthoecopsis Leadbeater & Thomsen, 2000
Amoenoscopa Hara & Takahashi, 1987
Apheloecion Thomsen, 1983
Bicosta Leadbeater, 1978
Calliacantha Leadbeater, 1978
Calotheca Thomsen & Moestrup, 1983
Campyloacantha Hara & Takahashi, 1987
Conion Thomsen, 1982
Cosmoeca Thomsen, 1984
Crinolina Thomsen, 1976
Crucispina Espeland, 1986
Diaphanoeca Ellis, 1930
Diplotheca Valkanov, 1970
Kakoeca Buck & Marchant, 1991
Monocosta Thomsen, 1979
Nannoeca Thomsen, 1988
Parvicorbicula (Meunier, 1910) Deflandre, 1960
Platypleura Thomsen, 1983
Pleurasiga Schiller, 1925
Polyfibula Manton, 1981
Polyoeca Kent, 1880
Saepicula Leadbeater, 1980
Saroeca Thomsen, 1979
Savillea (Ellis, 1930) Loeblich, 1967
Spiraloecion Marchant & Perrin, 1986
Sportelloeca Norris, in Parker, 1982
Stephanacantha Thomsen, 1983
Stephanoeca Ellis, 1930
Syndetophyllum Thomsen & Moestrup, 1983
Evolution
Ein entscheidender Schritt der Evolution war der Übergang von Einzelzellen zu mehrzelligen Organismen, der sich mehrfach ereignet hat. Höhere Pflanzen, mehrzellige Algen, Pilze und tierische Metazoen haben diesen Schritt vollzogen. Der Übergang zur Mehrzelligkeit der Tiere war besonders markant, weil er den Beginn der sogenannten Kambrischen Explosion markiert, die zur raschen Entstehung der meisten Tierstämme von 530 Millionen Jahren führte. Durch den Vergleich von Proteinen, insbesondere Actin, α-Tubulin, und Elongationsfaktor-la, konnte festgestellt werden, dass sowohl Pilze als auch tierische Metazoen als gemeinsame Vorfahren einen Opisthokonten hatten. Die Analyse von Mitochondrien-DNA zeigte, dass innerhalb der Opisthokonten die Kragengeißeltierchen den Metazoen am nächsten stehen und hier wiederum den Schwämmen. Das legt auch die Morphologie nahe. Das Kragengeißelsystem der Kragengeißeltierchen ist mit hoher Wahrscheinlichkeit homolog zu dem der Choanozyten der Schwämme (Porifera); dies wird allerdings von einigen Forschern bestritten. Choanoflagellaten und aus Schwammorganismen isolierte Choanozyten sind morphologisch nicht zu unterscheiden. Schwämme und Kragengeißeltierchen bilden also gleichsam eine Brücke zwischen Ein- und Mehrzellern. Der Vergleich der Mitochondrien-DNA zeigt auch, dass Schwämme und Kragengeißeltierchen genetisch gut unterscheidbare Organismengruppen sind und nicht unterschiedliche Manifestationen der gleichen Gruppe. Auch frühere Theorien, die Mehrzelligkeit der Tiere sei mehrfach unabhängig voneinander entstanden, wurde widerlegt, weil keine andere Gruppe von Einzellern irgendeiner Gruppe von tierischen Metazoen näher steht als die Kragengeißeltierchen. Letztere sind also die Schwestergruppe der vielzelligen Tiere, d. h. unter den Einzellern ihre nächsten noch lebenden Verwandten.
Nachweise
Klaus Hausmann, Norbert Hülsmann, Renate Radek: Protistology, 3. Aufl., Schweizerbart, 2003, S. 81, ISBN 3-510-65208-8
I. Ruiz-Trillo, A. J. Roger, G. Burger, M. W. Gray, B. F. Lang: A phylogenomic investigation into the origin of metazoa. In: Molecular biology and evolution. Band 25, Nummer 4, April 2008, S. 664–672, doi:10.1093/molbev/msn006, PMID 18184723.
B. S. Leadbeater, Q. Yu, J. Kent, D. J. Stekel: Three-dimensional images of choanoflagellate loricae. In: Proceedings. Biological sciences / The Royal Society. Band 276, Nummer 1654, Januar 2009, S. 3–11, doi:10.1098/rspb.2008.0844, PMID 18755674, (Review).
Einzelnachweise
Weblinks
Beitrag auf Tree of Life von Nicole King, Online
Choanoflagellata Auf: Mikrobewiki, Kenyon College, Department of Biology.
Opisthokonten
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Q129012
| 183.283184 |
Subsets and Splits
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