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https://de.wikipedia.org/wiki/Leipzig
Leipzig
Leipzig [], [] (im sächsischen Dialekt auch Leibzsch []; obersorbisch Lipsk) ist eine kreisfreie Stadt sowie mit  Einwohnern () bzw. 624.689 (laut Melderegister am 31. Dezember 2022) Einwohnern die einwohnerreichste Stadt im Freistaat Sachsen. Sie belegte 2021 in der Liste der Großstädte in Deutschland den achten Rang. Für Mitteldeutschland ist sie ein historisches Zentrum der Wirtschaft, des Handels und Verkehrs, der Verwaltung, Kultur und Bildung sowie gegenwärtig ein Zentrum für die „Kreativszene“ und eine wichtige Messe- und Universitätsstadt. Leipzig ist eines der sechs Oberzentren Sachsens und bildet mit der rund 35 Kilometer entfernten Großstadt Halle (Saale) im Land Sachsen-Anhalt den länderübergreifenden Ballungsraum Leipzig-Halle, in dem etwa 1,2 Millionen Menschen leben. Mit Halle und weiteren Städten in den Ländern Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen ist Leipzig Teil der polyzentralen Metropolregion Mitteldeutschland. Nach Verleihung des Stadtrechts und der Marktprivilegien um das Jahr 1165 entwickelte sich Leipzig bereits während der deutschen Ostsiedlung zu einem wichtigen Handelszentrum. Leipzigs Tradition als bedeutender Messestandort in Mitteleuropa mit einer der ältesten Messen der Welt geht auf das Jahr 1190 zurück und war eng mit der langjährigen Rolle Leipzigs als internationales Zentrum des Pelzhandels verknüpft. In der Zeit des Nationalsozialismus trug Leipzig von 1937 bis 1945 offiziell den Stadt-Ehrentitel Reichsmessestadt. Die Stadt ist ein historisches Zentrum des Buchdrucks und -handels. Außerdem befinden sich in Leipzig eine der ältesten Universitäten sowie die ältesten Hochschulen sowohl für Handel als auch für Musik in Deutschland. Leipzig verfügt über eine große musikalische Tradition, die vor allem auf das Wirken von Johann Sebastian Bach und Felix Mendelssohn Bartholdy zurückgeht und sich unter anderem auf die Bedeutung des Gewandhausorchesters und des Thomanerchors stützt. Im Zuge der Montagsdemonstrationen 1989, die einen entscheidenden Impuls für die Wende in der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) gaben, wurde Leipzig als Heldenstadt bezeichnet. Die informelle Auszeichnung für den so mutigen wie friedlichen Einsatz vieler Leipziger Bürger im Umfeld der Leipziger Nikolaikirche prägte den Ruf der Stadt nach der Wende und wird bei der Stadtvermarktung unter dem Motto „Leipziger Freiheit“ aufgegriffen. Darüber hinaus ist Leipzig für seinen Reichtum an aufwändig sanierten bzw. rekonstruierten Kulturdenkmalen und städtischen Kanälen, den artenreichen Zoo sowie das durch Rekultivierung ehemaliger Braunkohletagebaue entstehende Leipziger Neuseenland und den Bundesliga-Verein RB Leipzig bekannt. In Leipzig haben das Bundesverwaltungsgericht, der Fünfte und Sechste Strafsenat des Bundesgerichtshofes sowie das Fernstraßen-Bundesamt und die Bundesagentur für Sprunginnovationen ihren Sitz. Geographie Lage und Morphologie Leipzig liegt im Zentrum der Leipziger Tieflandsbucht, die den südlichsten Teil der Norddeutschen Tiefebene bildet, und am Zusammenfluss von Weißer Elster, Pleiße und Parthe. Die Flüsse sind im Stadtgebiet vielfach verzweigt und bilden so den Leipziger Gewässerknoten, der von einem großen Auwaldgebiet begleitet ist (siehe nachfolgender Abschnitt). Die Umgebung Leipzigs ist waldarm. Das Gebiet war im 20. Jahrhundert durch umfangreichen Braunkohletagebau geprägt, in dessen Folge nun zahlreiche Seen entstehen. Die Ausdehnung der Stadt beträgt in Nord-Süd-Richtung 23,4 Kilometer und in Ost-West-Richtung 21,3 Kilometer. Die Länge der Stadtgrenze beläuft sich auf 128,7 Kilometer. Im Norden grenzt der Landkreis Nordsachsen an die Stadt, im Süden der Landkreis Leipzig. * Entfernungen sind gerundete Straßenkilometer bis zum Ortszentrum. Der Höhenunterschied im Stadtgebiet beträgt etwa 60 Meter. Die höheren Teile liegen im Südosten und die tieferen im Nordwesten. Der tiefste Punkt mit 97 Meter über Normalnull befindet sich an der Neuen Luppe bei Gundorf. Die höchsten natürlichen Punkte der Stadt sind mit 159 Meter der Monarchenhügel und mit 163 Meter der Galgenberg in Liebertwolkwitz. Übertroffen wird der Monarchenhügel von den Deponien Seehausen () und Liebertwolkwitz (), eine innenstadtnahe Erhebung ist der Schuttberg mit dem Namen Fockeberg (). Obwohl die Weiße Elster der wasserreichste der drei Flüsse im Stadtgebiet ist, wird mit Leipzig vor allem die Pleiße in Verbindung gebracht, da diese mit ihrem Nebenarm, dem Pleißemühlgraben, der Innenstadt am nächsten kommt. Flächennutzung Die Grafik zeigt die Anteile der Flächennutzung auf dem Stadtgebiet im Jahr 2014. Natur und Umwelt Entlang der Flüsse zieht sich ein ausgedehntes Auwaldgebiet in Nord-Süd-Richtung durch die Stadt, das im mittleren Bereich zum Teil in Parks umgestaltet wurde. Der Auwald bildet eine klimatisch, ökologisch und für die Erholungsversorgung relevante Grünverbindung vom Leipziger Umland bis in die Kernstadt und hat trotz des jahrhundertelangen unmittelbaren anthropogenen Einflusses eine selten gewordene Flora und Fauna bewahrt. Die enge Verknüpfung zwischen Auwald und städtischer Bebauung ist ein Alleinstellungsmerkmal Leipzigs in Europa. Da sich unter Leipzig und seinem Umland bedeutende Braunkohlelagerstätten befinden, wurde bereits in den 1930er Jahren mit dem industriellen Abbau dieses Rohstoffes in Tagebauweise begonnen. Durch den Bergbau, der sich während der DDR-Zeit immer weiter ausbreitete (Braunkohle war der Hauptenergieträger der DDR), wurden südlich von Leipzig Teile des Auwaldes zerstört. Zahlreiche Hochwasserschutzmaßnahmen, unter anderem der Bau des Elsterbeckens und die Verlegung natürlicher Flussläufe, sowie mit dem Braunkohleabbau verbundene Absenkungen des Grundwasserspiegels führten zu Störungen des hochspezialisierten Ökosystems, das ursprünglich als natürliches Überflutungsgebiet diente. Die Stadt liegt inmitten des Leipziger Gewässerknotens, einem ehemaligen Binnendelta, das z. B. durch die Anlage von Mühlgräben und Hochwasserschutzanlagen häufig umgestaltet wurde. In den 1950er Jahren wurden der Pleißemühlgraben und ein Teil des Elstermühlgrabens – im Mittelalter für den Betrieb von Mühlen teilweise künstlich angelegte Nebenarme der beiden Flüsse Pleiße und Weiße Elster – wegen der Verschmutzung durch Industrieabwässer aus der Braunkohleverarbeitung südlich von Leipzig verrohrt oder verfüllt, so dass Leipzig seinen Charakter als Flussstadt teilweise verlor. Die Einleitung der hochgiftigen Abwässer hatte dazu geführt, dass die Flüsse biologisch tot waren. Seit dem weitgehenden Ende der gewässerverschmutzenden Industrie zu Beginn der 1990er Jahre werden beide Flussläufe nach und nach wieder freigelegt. Rund 141 Kilometer ständig wasserführende Fließgewässer verlaufen auf der Stadtfläche, hinzu kommen nur temporär wasserführende Bäche und Gräben. Neben der Gewässerverunreinigung brachte die Braunkohlebefeuerung veralteter Industrieanlagen, die teilweise noch dem Vorkriegsstandard entsprachen, sowie häuslicher Ofenheizungen eine sehr starke Luftverschmutzung mit sich. Die schwefel- und phenolhaltige Luft und der damit einhergehende saure Regen griffen Teile der Bausubstanz, vor allem die aus Sandstein, an. In den 1970er und 1980er Jahren galt Leipzig als eine der mit Umweltgiften am meisten belasteten Großstädte Europas. Nach der „Wende“ führten die Stilllegung der Altindustrie und die Modernisierung der Kraftwerke und häuslichen Heizungsanlagen sehr schnell zu erheblich verbesserten Wasser- und Luftverhältnissen und zu einer sichtbaren Erholung der Tier- und Pflanzenwelt. Leipzig zählt mit seinen zahlreichen Stadtparks, wie beispielsweise dem zentrumsnahen Clara-Zetkin-Park und dem Rosental, vielen neu geschaffenen Anlagen in den Wohngebieten sowie den traditionellen Schrebergartenvereinen zu den grünsten Städten Deutschlands. Der Grünflächenanteil wird mit rund 50 %, der Waldanteil mit etwa 7 % beziffert. Bis 2015 sollen der Waldanteil auf 10 % erhöht und Biotopverbünde ausgebaut werden. Leipzig ist seit 2007 Modellregion für das Erprobungs- und Entwicklungsvorhaben „Urbane Waldflächen“ des Bundesamtes für Naturschutz, wobei in Zusammenarbeit mit den zuständigen Stadtämtern Wälder verschiedenen Typs auf innerstädtischen Brachflächen angelegt und deren Wirkung auf Klima, Erholungsvorsorge und Naturschutz untersucht werden sollen. Dabei existieren im innerstädtischen Bereich Flächenpotentiale von rund 1850 Hektar. Einen wesentlichen Anteil am Leipziger Stadtgrün haben die Straßenbäume, wobei sie sowohl gestalterische als auch ökologische Funktionen erfüllen. Im Baumkataster der Stadt sind gegenwärtig 57.732 Straßenbäume registriert. Das sind mehr als die registrierten Parkbäume. Von den Straßenbäumen sind über 35 % Linden, zur Herkunft des Stadtnamens passend. 38 % der Straßenbäume sind jünger als 20 Jahre, was sowohl aus der Ergänzung alter Bestände als auch aus der sofortigen Bepflanzung neu angelegter Straßen resultiert. Seit Beginn der Aktion Baumstarke Stadt im Jahr 1996 konnten durch Spenden (ab 250 EUR pro Baum) jährlich bis zu 150 Bäume gepflanzt werden. Anfang der 1990er Jahre wurde der Braunkohleabbau gestoppt und mit der Rekultivierung der Tagebaurestlöcher und der Renaturierung des Umfeldes begonnen. Inzwischen sind aus den gefluteten Tagebauen mehrere Seen mit sehr guter Wasserqualität entstanden. Weitere Tagebaue befinden sich noch in der Flutung. Der Kulkwitzer und Cospudener See liegen dem Leipziger Stadtzentrum am nächsten, sie dienen als sehr gut erschlossenes Naherholungsgebiet. Zudem grenzt das Leipziger Stadtgebiet auch an den Zwenkauer See, welcher durch einen Kanal mit den Cospudener See verbunden werden soll. Der so entstehende großflächige Erholungsraum wird als „Leipziger Neuseenland“ touristisch vermarktet und soll bei Fertigstellung 70 km² Wasserfläche umfassen. Im Stadtgebiet selbst stehen rund 130 Stillgewässer mit einer Gesamtfläche von 80 Hektar unter städtischer Verwaltung. Um Natur und Landschaft der Region gemeinsam mit den umliegenden Kommunen und Landkreisen zu entwickeln und erlebbar zu machen, ist Leipzig seit 1996 Mitglied im Grünen Ring Leipzig. Am 1. März 2011 wurde ein großer Teil der Stadt zur Umweltzone der Schadstoffgruppe 4 erklärt. Stadtgliederung und Nachbargemeinden Leipzig ist seit 1992 verwaltungsmäßig in zehn Stadtbezirke gegliedert, die 63 Ortsteile enthalten. Im Gegensatz dazu werden als Stadtteile Gebiete der Stadt bezeichnet, die durch Eingemeindung vorher selbständiger Dörfer entstanden sind. Daher sind Grenzen von Stadt- und Ortsteilen nicht immer identisch. Zur Erreichung etwa gleich großer Verwaltungseinheiten bilden manchmal zwei Stadtteile einen Ortsteil, oder ein Stadtteil wird in mehrere Ortsteile zerlegt. Falls nicht durch Eingemeindung entstanden, entspricht mitunter ein Ortsteil keinem Stadtteil. Krostitz, Jesewitz, Schkeuditz, Rackwitz und Taucha liegen im Landkreis Nordsachsen, Borsdorf, Brandis, Markranstädt, Markkleeberg, Pegau, Zwenkau und Großpösna im Landkreis Leipzig. Klima Leipzig liegt in der gemäßigten Klimazone, im Übergangsbereich vom ozeanischen Klima Westeuropas zum Kontinentalklima Osteuropas. Die durchschnittliche Jahrestemperatur beträgt 8,4 °C und die mittlere jährliche Niederschlagsmenge 507 mm (Mittel 1972–2001). Im Mittel gab es im gleichen Zeitraum 77 Tage mit Frost, 37 Sommertage und über sieben heiße Tage. Der meiste Niederschlag fällt in den Sommermonaten Juni bis August mit einem Spitzenwert von 58,6 mm im August. Im Februar fällt der geringste Niederschlag mit 27 mm, in den anderen Wintermonaten liegt er etwa bei 30 mm. Der Regenschatten des Harzes erreicht im Leipziger Stadtgebiet seine südöstliche Grenze. Nach Süden schließen sich die Regenstaulagen des Erzgebirges an. Dies äußert sich in einem bedeutenden Niederschlagsgradienten in der Umgebung der Stadt, aber auch innerhalb des Stadtgebietes. Am trockensten ist der Norden Leipzigs, der meiste Niederschlag fällt im Südraum der Stadt, wobei die Jahresdifferenz etwa 100 mm beträgt. Zum Vergleich: In der vollständig im Regenschatten liegenden Stadt Halle (Saale) fallen nur etwa 450 mm Niederschlag im Jahr. Die höchste Temperatur wurde in Leipzig am 20. Juli 2022 mit 39,3 °C gemessen. Die niedrigste aufgezeichnete Temperatur wurde am 14. Januar 1987 mit −24,1 °C erfasst. Geschichte Um das Jahr 900 wurde an beiden Ufern der Parthe eine slawische Siedlung angelegt, wie Grabungen von Herbert Küas im Gebiet des heutigen Matthäikirchhofs bestätigten. Erstmals erwähnt wurde Leipzig 1015, als Thietmar von Merseburg von einer urbs Libzi (Stadt der Linden; sorbisch lipa = „Linde“) berichtete (Chronikon VII, 25). Als Gründungsjahr der Stadt gilt das Jahr 1165, in dem Markgraf Otto der Reiche von Meißen dem Ort an der Kreuzung der Via Regia mit der Via Imperii das Stadtrecht und das Marktrecht erteilte. Mit der Stadtgründung entstanden die beiden großen Kirchbauwerke – die Thomaskirche und die St.-Nikolaikirche. Der erste Nachweis der Münzstätte Leipzig ist mit Brakteaten der Umschrift MARCHIO OTTO DE LIPPI oder OTTO MARCHIO DE LIPPZINA des Markgrafen Otto des Reichen erbracht worden. Leipzig lag in der Markgrafschaft Meißen, die 1439 im Kurfürstentum Sachsen aufging. Das Kurfürstentum wurde bereits 1485 durch die beiden Brüder Albrecht den Beherzten und Ernst mit der Leipziger Teilung aufgeteilt. Leipzig gehörte danach zum Herzogtum Sachsen, zu dessen Hauptstadt das bis dahin im Vergleich zu Leipzig oder Meißen unbedeutende Dresden ernannt wurde. Leipzig war darin häufig Tagungsort des Landtags. Nach der Verwaltungsreform 1499 lag Leipzig als sogenanntes Kreisamt Leipzig im Leipziger Kreis, neben dem es sieben weitere im Kurfürstentum gab. Am 2. Dezember 1409 wurde die Universität Leipzig als „Alma Mater Lipsiensis“ gegründet und gehört damit zu den drei ältesten Universitäten in Deutschland. Der Gründungstag ist der Dies academicus der Universität. 1519 trafen sich Martin Luther, Andreas Karlstadt und Philipp Melanchthon mit dem katholischen Theologen Johannes Eck auf Einladung der Universität in der Pleißenburg zu einem Streitgespräch, das als Leipziger Disputation in die Geschichte einging. Nach Erhebung zur Reichsmessestadt 1497 und Ausdehnung des Stapelrechts auf einen Umkreis von 115 Kilometer zehn Jahre später durch den späteren Kaiser Maximilian I. wurde Leipzig zu einer Messestadt von europäischem Rang. Für den Güteraustausch zwischen Ost- und Westeuropa entwickelte es sich zum wichtigsten deutschen Handelsplatz. Bedeutend für die spätere Entwicklung zur Messestadt waren insbesondere der Fellhandel sowie die Weiterverarbeitung zu Pelzhalbfabrikaten für die Kürschnerei und die Herstellung der zugehörigen Werkzeuge und Maschinen. Der Leipziger Brühl wurde neben London zum internationalen Handelszentrum der Pelzwirtschaft, die bedeutende Rolle der Leipziger jüdischen Gemeinde war eng mit ihm verknüpft. Noch 1913 lag der Anteil der Pelzbranche am Steueraufkommen Leipzigs bei 40 Prozent. 1539 wurde die Reformation endgültig durch Luther und Justus Jonas in Leipzig eingeführt. Leipzig war vom Schmalkaldischen Krieg 1546 und 1547 betroffen, in dem es für Leipzig und Sachsen vorrangig um die Gleichstellung der protestantischen Konfession ging. Infolge des Krieges, in dem Herzog Moritz auf kaiserlicher (katholischer) Seite stand, wechselte die Kurwürde in Sachsen von der ernestinischen an die albertinische Linie, in deren Herzogtum Leipzig lag. In diesen Jahren war die Entwicklung Leipzigs vor allem durch die sich stetig verbessernden Lebensbedingungen gekennzeichnet. Als immer bedeutendere Handels- und Messestadt profitierte Leipzig dabei vom wohlhabenden Leipziger Handelsbürgertum. Bereits im 16. Jahrhundert entstand eine Trinkwasserversorgung. 1650 erschienen erstmals die Einkommenden Zeitungen sechsmal pro Woche. Sie gelten damit als älteste Tageszeitung der Welt. Der Dreißigjährige Krieg war ein schwerer Einschnitt in die prosperierende Entwicklung der Stadt, die Bevölkerungszahl ging von 18.000 auf 12.000 zurück. Zwischen 1631 und 1642 wurde die Stadt fünfmal belagert, von 1642 bis 1650 war sie schwedisch besetzt. Nachdem Kursachsen seinen Anteil zur Abdankung der schwedischen Armee am 30. Juni 1650 gemäß dem Nürnberger Exekutionstag vollständig beglichen hatte, übergab der schwedische Gouverneur die Stadt an Wolff Christoph von Arnim. Am 17. September 1631 war die Leipziger Umgebung mit der Schlacht bei Breitenfeld Schauplatz einer der größten Niederlagen der Kaiserlichen unter Tilly im Dreißigjährigen Krieg. In dem zu Leipzig gehörenden ehemaligen Rittergut Breitenfeld erinnert ein Gustav-Adolf-Denkmal an den schwedischen Heerführer. Ein Jahr darauf, am 16. November 1632, fiel Gustav Adolf in der Schlacht bei Lützen, etwa zehn Kilometer südwestlich der heutigen Leipziger Stadtgrenze. 1701 wurde in Leipzig eine Straßenbeleuchtung eingeführt. Die etwa 700 Laternen, nach Amsterdamer Vorbild gefertigt und mit Öl betrieben, wurden erstmals am Abend des 24. Dezember 1701 angezündet. Dazu stellte die Stadt sogenannte Laternenwärter ein, die nach einem festen Brennplan dafür zu sorgen hatten, dass die Laternen rechtzeitig angezündet und wieder gelöscht wurden. Während des Siebenjährigen Krieges war Leipzig von 1756 bis 1763 durch Preußen besetzt. Im Jahre 1813 fand die Völkerschlacht bei Leipzig im Zuge der Befreiungskriege statt. Die verbündeten Heere der Österreicher, Preußen, Russen und Schweden brachten in dieser Schlacht Napoleons Truppen und deren Verbündeten, darunter das Königreich Sachsen, die entscheidende Niederlage bei, die schließlich zur Verbannung Napoleons auf die Insel Elba führte. Am 20. April 1825 wurde der Börsenverein der Deutschen Buchhändler gegründet, zu dem Zeitpunkt war Leipzig eines der Zentren des deutschen Buchhandels und Verlagswesens. Als erste deutsche Fernbahnstrecke wurde 1839 die Leipzig-Dresdner Eisenbahn eröffnet. Leipzig entwickelte sich allmählich zum wichtigsten Verkehrsknotenpunkt in Mitteldeutschland, was sich auch darin äußerte, dass der Leipziger Hauptbahnhof von 1902 bis 1915 als einer der seinerzeit größten Kopfbahnhöfe Europas entstand. Am 2. April 1843 begründete Felix Mendelssohn Bartholdy mit dem Conservatorium der Musik die erste Musikhochschule Deutschlands, im selben Jahr erschien die erste Ausgabe der Illustrirten Zeitung. Infolge der Industrialisierung, aber auch vielfältiger Eingemeindungen der Vororte, stieg am Ende des 19. Jahrhunderts die Bevölkerungszahl rasant an. 1871 wurde Leipzig mit 100.000 Einwohnern Großstadt. Im Jahr 1900 konstituierte sich in Leipzig der Deutsche Fußball-Bund. Der VfB Leipzig war 1903 erster deutscher Fußballmeister. Am 1. Oktober 1879 wurde in Leipzig das Reichsgericht als oberstes Zivil- und Strafgericht des 1871 gegründeten Deutschen Reiches etabliert. Es hatte die Funktion des heutigen Bundesgerichtshofs und war ab 1895 im neuen Reichsgerichtsgebäude (Sitz des Bundesverwaltungsgerichts) untergebracht. Während der Leipziger Prozesse wurde versucht, dort Verbrechen des Ersten Weltkriegs aufzuklären und die Täter zu verurteilen. Während der Weimarer Republik spielte das Reichsgericht mit seinem Urteil zum sogenannten Preußenschlag vom 25. Oktober 1932 eine kontroverse Rolle auf dem Weg der Nationalsozialisten zur Macht. Mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933 wurde das Reichsgericht zunehmend vom Regime Hitlers instrumentalisiert. Im Dezember 1933 verhandelte es im Reichstagsbrandprozess gegen Marinus van der Lubbe. Er wurde zum Tode verurteilt und im Januar 1934 in Leipzig hingerichtet. Freisprüche weiterer Angeklagter führten zur Einrichtung des Volksgerichtshofs, um die Justiz bei den Delikten Hoch- und Landesverrat zu zentralisieren. Bis zum Ende des Krieges wurde die Strafpraxis am Reichsgericht verschärft, viele Strafen wurden zu Todesurteilen revidiert. Die Auflösung des Gerichtes erfolgte 1945. Leipzigs beherrschende Rolle im deutschsprachigen Verlagswesen und Buchgewerbe erreichte im späten 19. Jahrhundert und bis zum Ersten Weltkrieg seinen Höhepunkt. 1914 war etwa ein Zehntel der Stadtbevölkerung von etwa 600.000 Menschen in diesen Bereichen tätig. Der hiesige Kommissionsbuchhandel stellte alle anderen Städte weit in den Schatten. 1914 wurden im Statistischen Jahrbuch allein 323 Druckereien mit 18.307 Beschäftigten verzeichnet. Etliche renommierte Verlage wie Reclam, Teubner, Brockhaus, das Bibliographische Institut, Seemann, Baedeker, Hirzel, Barth und Velhagen & Klasing, im Musikalienhandel Breitkopf & Härtel, C. F. Peters und Friedrich Hofmeister, hatten hier ihren Sitz. Mit dem Deutschen Buchhändlerhaus, dem Deutschen Buchgewerbehaus und der Deutschen Bücherei saßen auch die zentralen Institutionen der Buchbranche und des Bibliothekswesens in Leipzig, wo sie sich im Graphischen Viertel östlich der Altstadt konzentrierten, der dichtesten Konzentration derartiger Betriebe und Einrichtungen in Europa. Hinzu kamen diverse Zuliefererindustrien für Maschinen, Farben, Papier, Einbände. Während des Zweiten Weltkrieges kam es in den Jahren 1943 bis 1945 zu häufigen Luftangriffen auf die Stadt, die zu erheblichen Zerstörungen der Innenstadt führten – bis zu 60 Prozent der Bausubstanz waren betroffen – und etwa 6000 Opfer forderten. Am 18. April 1945 erreichten Einheiten der 1. US-Armee die Stadt und errichteten ihr Hauptquartier im Hotel Fürstenhof. Aufgrund des 1. Londoner Zonenprotokolls von 1944 und der Beschlüsse der Konferenz von Jalta gehörte Sachsen zur Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) und die Rote Armee übernahm am 2. Juli 1945 Leipzig. Die Sowjetische Militäradministration in Deutschland (SMAD) bildete den Rat der Stadt und die Stadtverordnetenversammlung, deren Zusammensetzung mit Gründung der DDR die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED) diktierte. Nach dem Zweiten Weltkrieg ging die wirtschaftliche Bedeutung Leipzigs infolge der Lage in der Sowjetischen Besatzungszone bzw. der DDR stark zurück, was in einem kontinuierlichen Rückgang der Einwohnerzahl zu spüren war. Lediglich nach der Vollendung der Teilung Deutschlands durch den 1961 erfolgten Bau der Berliner Mauer erholten sich bis Mitte der 1960er Jahre die Bewohnerzahlen etwas. Zwischen 1950 und 1989 ging die Einwohnerzahl insgesamt um rund 87.000 (über 14 Prozent) auf 530.000 Personen zurück. Von 1952 bis 1990 war Leipzig Hauptstadt des gleichnamigen Bezirks und, gemessen nach Einwohnerzahlen, die zweitgrößte Stadt der DDR. In den Großstädten Berlin, Leipzig und Dresden wurden die meisten Kombinatsleitungen und Stammbetriebe angelegt, so dass sich die wirtschaftliche Bedeutung Leipzigs bezogen auf die DDR bis 1990 erhielt. 1989 leiteten die von der Nikolaikirche ausgehenden Montagsdemonstrationen das Ende der DDR mit ein. Da Gewalt gegen die staatliche Ordnungsmacht und Zerstörungen von den DDR-Behörden propagandistisch ausgenutzt wurden, fanden die Montagsdemonstrationen in Leipzig unter der Losung „Keine Gewalt“ statt. Mit der Besetzung der Bezirksverwaltung für Staatssicherheit durch Demonstranten am 4. Dezember 1989 endeten in Leipzig die staatlichen Überwachungsmaßnahmen. 1990 wurden Leipzig und der größte Teil des Bezirks Leipzig dem Freistaat Sachsen zugeordnet. Leipzig war seitdem Sitz des Regierungsbezirks Leipzig, der am 1. August 2008 im Direktionsbezirk Leipzig aufgegangen ist und am 1. März 2012 aufgelöst wurde. Am 23. September 2008 erhielt die Stadt den von der Bundesregierung verliehenen Titel „Ort der Vielfalt“. 2016 wurde Leipzig der Ehrentitel „Reformationsstadt Europas“ durch die Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa verliehen. Unverändert ist Leipzig als Messe-, Medien- und Universitätsstadt bekannt, wenn auch die Bedeutung geringer ist als vor dem Zweiten Weltkrieg. Namensentwicklung Der erste schriftliche Beleg Leipzigs erfolgte in der Chronik des Thietmar von Merseburg aus dem Jahr 1015 und lautet in urbe Libzi vocatur. Weitere Belege zeigen den Namen als Lipz oder Lipsk. Allgemein akzeptiert ist die Etymologie des Ortsnamens Leipzig als vom sorbischen Wort Lipsk kommend (gleichlautend aus dem Altsorbischen abgeleitet). Es bedeutet „Linden-Ort“. Im Sorbischen und Polnischen ist Lipsk immer noch in Gebrauch, der tschechische Name Leipzigs lautet Lipsko. Möglich – aber nicht durch handfeste Belege untermauert – ist, dass sich eine ältere, alteuropäische Wurzel im Ortsnamen verbirgt, die erst später zu Lipsk wurde. Hans Walther schlägt die Deutung des Namens Libz(i) von der urslawischen Wurzel *lib- als „wanken, schwanken“ bzw. von germanisch *lib-ia („weicher, schwankender, wasserhaltiger Boden/Gelände“) und Übernahme zu Lib-c ins Altsorbische vor, wonach der Name einen „Ort auf gewässerreichem schlammigen, lehmigem Boden“ bezeichnet (auf die Auenlandschaft bezugnehmend, was sich ebenfalls in Namen heutiger Ortsteile widerspiegelt: z. B. Lausen, Leutzsch, Mockau, Schleußig). Im Lateinischen wird der Name mit Lipsia wiedergegeben. In dem in der Stadt gesprochenen osterländischen Dialekt, der der Thüringisch-obersächsischen Dialektgruppe angehört, wird der Name der Stadt Leibzsch ausgesprochen. In der Tragödie Faust verewigte Goethe in einer Szene in Auerbachs Keller seinen Studienort Leipzig als Klein-Paris. Goethe lässt einen Studenten sagen: Mein Leipzig lob’ ich mir! Es ist ein klein Paris und bildet seine Leute. Die Bezeichnung etablierte sich in der Umgangssprache des zur Großstadt aufstrebenden und fortschrittlichen Leipzig des 19. Jahrhunderts. In der jüngeren Nachwendezeit wurde in Presseberichten das Modewort Hypezig als Kofferwort aus Hype und Leipzig geprägt. Der Blogger André Herrmann schuf den Begriff als Kritik an dem Leipzig-Hype, der sich vor allem durch Berlin-Leipzig-Vergleiche ausdrückte. Bevölkerung Einwohnerentwicklung Leipzig zählt nach umfangreichen Eingemeindungen Ende der 1990er Jahre zu den flächengrößten Städten Deutschlands. Vorher war es, im Gegensatz dazu, eine der kompaktesten Städte, die 1870 mit 100.000 Einwohnern zur Großstadt wurde. Die gegenwärtige Bevölkerungszahl hatte Leipzig bereits vor 1914 erreicht. Zum Ende des 19. und in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts holte die Bevölkerungszahl Leipzigs sprunghaft auf die größten Städte auf: Vor Beginn des Ersten Weltkriegs war sie mit fast 590.000 Einwohnern die viertgrößte Stadt Deutschlands. Um 1930 hatte die Bevölkerung mit etwas mehr als 700.000 Einwohnern den historischen Höchststand erreicht. Nach einem kriegsbedingten Rückgang stieg die Bevölkerung in Leipzig in den 1960er Jahren wieder auf etwa 600.000 Einwohner. Vor allem seit Ende der 1980er Jahre, aber schon in den 1970er Jahren, hatte die Stadt einen erheblichen Bevölkerungsschwund zu verzeichnen. Zum Zeitpunkt der Wiedervereinigung lebten aufgrund der restriktiven Migrationspolitik der DDR knapp 9.000 Ausländer in der Stadt. Der Tiefststand der Gesamtbevölkerung wurde Mitte der 1990er Jahre mit etwas weniger als 440.000 Einwohnern erreicht. Der Bevölkerungsschwund ist einerseits durch Abwanderung in Regionen der westlichen Bundesländer begründet, andererseits durch einsetzende Suburbanisierung. Wie alle größeren Städte versucht Leipzig, die Bevölkerungszahl aktiv zu erhöhen, um die Erträge aus dem kommunalen Finanzausgleich zu steigern, die über die Schlüsselzuweisung berechnet werden. Durch umfangreiche Eingemeindungen im Jahr 1999 versuchte Sachsen, der Suburbanisierung Leipzigs entgegenzuwirken. Es kamen mehrere große Industriegemeinden hinzu, wodurch sich die Fläche der Stadt etwa verdoppelt hat. Durch diese Eingemeindungen, ansteigende Geburtenraten und eine positive Bilanz bei Zu- und Wegzügen begann die Bevölkerungszahl Leipzigs wieder so zu wachsen, dass 2005 die Halbe-Million-Einwohner-Grenze überschritten wurde. Ab 2010 gehörte Leipzig zu den am schnellsten wachsenden Städten in Deutschland und erfuhr bis einschließlich 2017 jährlich einen Anstieg von etwa 10.000 Menschen, was jährlichen Wachstumsraten von über 2 Prozent entsprach. Zwischen 2012 und 2014 war Leipzig die am stärksten wachsende Großstadt Deutschlands und die tatsächliche Entwicklung übertraf jegliche Prognosen. Erklärt wird das starke Wachstum mit dem Zuzug junger Menschen, der Arbeit wegen, bei neuen großen Arbeitgebern und dem Geburtenüberschuss 2013 und 2014. Davor hatte Leipzig letztmals im Jahr 1965 einen Geburtenüberschuss. Auch die absolute Zahl der Geburten erreichte einen Höchststand. 2014 wurden so viele Kinder geboren wie zuletzt 1988. Dieses unerwartet hohe Wachstum sorgte für Schwierigkeiten bei der Versorgung mit Kinderkrippen, Kindergärten und Schulen. Im Jahr 2015 nahm die Bevölkerungszahl um fast 16.000 und im Jahr 2016 um 10.000 Einwohner zu. Im Zuge der Flüchtlingskrise in Deutschland 2015/2016 kam es zu einem Anstieg der ausländischen Bevölkerung und der Bevölkerung mit Migrationshintergrund. Zum 31. Dezember 2013 waren beispielsweise 919 Einwohner mit syrischem Migrationshintergrund in Leipzig gemeldet. Zum 31. Dezember 2019 waren es 9.498. Im Jahr 2017 kamen über 7.000 Einwohner hinzu. Seitdem ist das Bevölkerungswachstum leicht zurückgegangen, dennoch steigt die Bevölkerungszahl jährlich um mehrere Tausend. Laut dem Melderegister der Stadt Leipzig wuchs die Bevölkerungszahl 2019 um 5.151 und hatte Ende 2019 demnach 601.668 Einwohner, womit erneut die 600.000 Marke erreicht war. Die seitens des statistischen Landesamtes Sachsen veröffentlichte amtliche Bevölkerungszahl am 31. Dezember 2019 lag bei 593.145 und damit um mehr als 6.000 unter 600.000. Laut Einwohnerregister stieg die Bevölkerungszahl im Jahr 2020 um 3.739 auf 605.407 Personen. Mit der höchsten deutschen Bevölkerungswachstumsrate in den Jahren 2014 bis 2017 (6,9 %), wurde Leipzig 2018 zur achtgrößten Großstadt in Deutschland. Prognosen zufolge soll Leipzig mit einem Bevölkerungswachstum von 16 % in den Jahren 2017 bis 2035 die prozentual am stärksten wachsende Stadt Deutschlands bleiben. Leipzig verzeichnete am 31. Dezember 2019 einen Bevölkerungsanteil mit Migrationshintergrund von 15,4 %. Der Ausländeranteil belief sich auf 10,2 %. Hinter Berlin hat Leipzig somit den höchsten Bevölkerungsanteil mit Migrationshintergrund unter den Großstädten im Osten von Deutschland. Im Vergleich mit westdeutschen Großstädten ist es dennoch ein niedriger Wert. Die größten Gruppen der Leipziger mit Migrationshintergrund kamen am Stichtag 31. Dezember 2019 aus Russland (9.712), Syrien (9.498), Polen (6.279), Rumänien (4.672), Vietnam (3.498) und der Ukraine (3.450). Die Stadtteile mit den höchsten Migrantenanteilen zum 31. Dezember 2019 waren Volkmarsdorf (42,2 %) und Neustadt-Neuschönefeld (38,0 %) sowie Grünau-Mitte (27,4 %). Religionen Religionsgemeinschaften Leipzig gehörte bis zur Reformation zum Bistum Merseburg. Im 13. Jahrhundert entstanden in Leipzig vier Klöster: St. Paul (Dominikaner), St. Thomas (Augustiner-Chorherren), Zum Heiligen Geist (Franziskaner) und St. Georg (Zisterzienserinnen und Benediktinerinnen). Erste lutherische Predigten wurden 1522 abgehalten, 1539 wurde die Reformation eingeführt. Gegenwärtig gehören alle lutherischen Kirchengemeinden der Stadt zum Kirchenbezirk Leipzig der sächsischen Landeskirche oder gehören der jeweils altkonfessionellen Evangelisch-Lutherischen Freikirche oder der Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche an. Der Kirchenbezirk der sächsischen Landeskirche umfasst auch Gemeinden außerhalb der Stadt. Seit 1697 gibt es in Leipzig wieder katholische Gottesdienste. 1921 wurde das Bistum Meißen (jetzt Dresden-Meißen) wiedererrichtet, in dem die Messestadt Sitz eines Dekanats ist. Katholische Hauptkirche der Stadt ist die Propsteikirche St. Trinitatis. 2016 fand auf Einladung des Bistums Dresden-Meißen in Leipzig der 100. Deutsche Katholikentag statt. Gegen den bundesweiten Trend wächst beispielsweise die katholischen Hauptgemeinde der Messestadt um jährlich 150 Mitglieder. Dort wurde auch der größte Kirchenneubau nach 1990 im Osten Deutschlands verwirklicht. Seit 1700 besteht in Leipzig eine evangelisch-reformierte Gemeinde, die zur Evangelisch-reformierten Landeskirche gehört. Neben den beiden großen Kirchen bestehen in Leipzig eine Gemeinde der altkatholischen Kirche und Gemeinden evangelischer Freikirchen wie die Freie evangelische Gemeinde, die Baptisten, Methodisten, Mennoniten und die Siebenten-Tags-Adventisten. Leipzig ist Sitz der Bundesverwaltungsstelle der ChristusForums Deutschland im BEFG. Die erste Erwähnung jüdischen Lebens in Leipzig stammt aus einer Urkunde Heinrichs des Erlauchten von 1248. Nach 1800 bildete sich erstmals eine Jüdische Gemeinde. Bis zur Zeit des Nationalsozialismus prägten jüdische Bürger die Stadt als Unternehmer, Wissenschaftler, Künstler und Stifter wesentlich mit. 1912 gründete der Rabbiner Ephraim Carlebach die Höhere Israelitische Schule als erste jüdische Schule in Sachsen. Sie bestand bis 1942. 1929 hatte Leipzig mit über 14.000 Mitgliedern die größte jüdische Gemeinde Sachsens und eine der größten Deutschlands. Ab 1933 begann die systematische Auslöschung jüdischen Lebens in der Stadt, die mit der Deportation und Ermordung fast aller Leipziger Juden ihr Ende fand. Das Gedenkbuch des Bundesarchivs für die Opfer der nationalsozialistischen Judenverfolgung in Deutschland (1933–1945) verzeichnet namentlich 4904 jüdische Einwohner Leipzigs, die deportiert und größtenteils ermordet wurden. Daran erinnern auch an verschiedenen Orten der Stadt die Stolpersteine des Kunst-Projektes von Gunter Demnig. Nach dem Krieg bestand die Jüdische Gemeinde nur noch aus 24 Mitgliedern. Die Mitgliederzahl stagnierte bis Anfang der 1990er Jahre. 2004 zählte die „Israelitische Religionsgemeinde zu Leipzig“, insbesondere durch die Einwanderung russischer Juden, wieder über 1300 Mitglieder. 2009 wurde ein neues Kultur- und Begegnungszentrum im Ariowitsch-Haus errichtet. Die muslimische Gemeinde in Leipzig ist sehr jung, und der Bevölkerungsanteil der Muslime liegt weit unter dem der Großstädte in den alten Bundesländern, dennoch ist der Islam in der Stadt die zweitgrößte Religion nach dem Christentum. In Leipzig wurden 2009 etwa 10.000 Muslime gezählt, was einem Anteil von ungefähr 2,0 % an der Gesamtbevölkerung entspricht. Die größte Moschee ist die Ar-Rahman-Moschee. Es gibt eine türkische Gemeinde, welche unter dem Dachverband der Türkisch-Islamischen Union der Anstalt für Religion (DİTİB) steht. Konfessionsstatistik Laut der Volkszählung 2011 waren 11,8 % der Einwohner evangelisch, 4,0 % römisch-katholisch und 84,2 % waren konfessionslos, gehörten einer anderen Glaubensgemeinschaft an oder machten keine Angabe. Die Zahl der Protestanten ist seitdem gesunken, die Zahl der Katholiken ist seitdem gestiegen. Ende 2021 hatte Leipzig 609.869 Einwohner, 4,3 % (plus 0,3 %) Katholiken, 10,7 % (minus 1,1 %) Protestanten und 85,0 % gehörten entweder einer anderen oder keiner Glaubensgemeinschaft an. Unter den rund 100.000 Kirchenmitgliedern gab es 2021 3 % (3045) Kirchenaustritte. Kriminalität Nach der am 24. April 2017 veröffentlichten Polizeilichen Kriminalstatistik des Bundeskriminalamtes rangiert Leipzig nach Berlin auf Platz 2 der registrierten Kriminalität in deutschen Städten ab 200.000 Einwohnern. 2016 ereigneten sich pro 100.000 Einwohnern 15.811 Straftaten. Dabei bestehen zwischen den einzelnen Leipziger Ortsteilen starke Unterschiede. Der Kriminalitätsatlas des Landeskriminalamtes Sachsen bescheinigt 2016 dem Ortsteil Leipzig Zentrum die höchste Kriminalitätsrate mit 2664 Straftaten pro 1.000 Einwohnern (insgesamt 6082 Fälle), gefolgt von Leipzig Zentrum-Ost mit 728 Delikten pro 1.000 Einwohnern (insgesamt 3072). Rund um das Gebiet der Eisenbahnstraße, eingeschlossen die Parkanlage Rabet, galt seit 5. November 2018 in Leipzig nach der Sächsischen Waffenverbotszonenverordnung Leipzig eine Waffenverbotszone, die am 24. März 2021 wieder abgeschafft wurde. Politik Nach der Wende von 1989 wurde die „Stadtverordnetenversammlung“ (seit 1991 wieder Stadtrat) wieder frei gewählt. Erster Vorsitzender war von 1990 bis 1994 zunächst der Stadtpräsident Friedrich Magirius (parteilos). Seit 1994 ist der Oberbürgermeister Vorsitzender des Stadtrats. Anfangs wählte der Stadtrat den Oberbürgermeister, seit 1994 wird dieser jedoch direkt von den Leipziger Bürgern gewählt. Oberbürgermeister der Stadt ist seit März 2006 Burkhard Jung (SPD). Er löste Wolfgang Tiefensee (SPD) ab, der die Stadtgeschäfte von 1998 bis 2005 führte, das Amt aber wegen seiner Berufung zum Bundesverkehrsminister am 22. November 2005 niederlegte. Unterstützt wird der Oberbürgermeister von acht hauptamtlichen Beigeordneten, die die Amtsbezeichnung Bürgermeister tragen und vom Stadtrat für eine Amtszeit von sieben Jahren gewählt werden. Ergebnis der Stadtratswahl vom 26. Mai 2019 Der Leipziger Stadtrat hat insgesamt 70 Sitze. Seit den Kommunalwahlen 2019 sind Linke und Grüne mit jeweils 15 Sitzen stärkste Parteien im Leipziger Stadtrat. Sie lösten damit die CDU ab, die in der Wahlperiode 2014–2019 über 19 Sitze verfügte und 2019 sechs Sitze verlor. Stärkste Fraktion ist dagegen die Linke, die mit der PARTEI eine gemeinsame Fraktion bildet und auf gemeinsam 17 Sitze kommt. Insgesamt sind im aktuellen Stadtrat neun Parteien vertreten, die sechs Fraktionen bilden. Bei den Stadtratswahlen 2019 ergab sich folgendes Ergebnis: Nach der Stadtratswahl 2019 haben sich folgende Fraktionen gebildet: DIE LINKE (17 Mitglieder, incl. Die PARTEI), GRÜNE (16 Mitglieder, incl. WVL), CDU (13 Mitglieder), AfD (11 Mitglieder), SPD (9 Mitglieder), Freibeuter (4 Mitglieder, incl. FDP + PIRATEN). Weitere Wahlen In der folgenden Tabelle sind die Ergebnisse von Bundestags-, Landtags- und Europawahlen in Leipzig dargestellt. 1 bis 2007: PDS Ergebnis der letzten Oberbürgermeisterwahl Die letzten Oberbürgermeisterwahlen fanden im Frühjahr 2020 statt. Im ersten Wahlgang am 2. Februar 2020 traf Amtsinhaber Burkhard Jung (SPD) auf sieben Mitbewerber. Die Wahlbeteiligung betrug 49,1 Prozent. Da kein Kandidat im ersten Wahlgang die absolute Mehrheit der Stimmen auf sich vereinen konnte, bedurfte es des zweiten Wahlgangs, in dem die beiden Bestplatzierten des ersten Wahlgangs gegeneinander antraten, nachdem die übrigen Parteien ihre Kandidaten im Hinblick auf die Unterstützung von Burkhard Jung zurückgezogen hatten, obwohl diese nach dem sächsischen Kommunalwahlgesetz auch für den zweiten Wahlgang hätten kandidieren dürfen. Der zweite Wahlgang, in dem die einfache Mehrheit ausreicht, fand am 1. März 2020 statt. Burkhard Jung wurde bei einer Wahlbeteiligung von 48,4 % zum dritten Mal in Folge zum Oberbürgermeister Leipzigs gewählt. Stadtverwaltung Die Leipziger Stadtverwaltung wird geleitet von einem Oberbürgermeister, der die Stadt nach außen vertritt und dem Stadtrat vorsitzt, und den Bürgermeistern, die als Beigeordnete, für sieben Jahre vom Stadtrat gewählt, den Oberbürgermeister in den festgelegten Geschäftskreisen, den sogenannten Dezernaten, bei der Amtsführung unterstützen und ihn vertreten. Jedem Dezernat sind mehrere Ämter nachgeordnet. Leipzig hat mit mehr als 500.000 Einwohnern die höchstmögliche Zahl von acht Dezernaten und Beigeordneten. Folgende Bürgermeister sind gegenwärtig tätig: Bundestag und Bundespolitik Das Stadtgebiet ist deckungsgleich mit den Wahlkreisen 152 Leipzig I mit gut 200.000 Wahlberechtigten und 153 Leipzig II mit gut 210.000 Wahlberechtigten. 2009 bis 2017 vertrat Bettina Kudla (CDU) den Wahlkreis Leipzig I und Thomas Feist (CDU) den Wahlkreis Leipzig II. Damit gingen die Leipziger Direktmandate erstmals seit 1998 nicht an die SPD. 2017 und 2021 wurden Jens Lehmann (CDU) im Wahlkreis Leipzig I und Sören Pellmann (Die Linke) im Wahlkreis Leipzig II als Direktkandidaten gewählt. Darüber hinaus wird Leipzig im 20. Deutschen Bundestag auch durch die über die jeweiligen Landeslisten eingezogenen Abgeordneten Holger Mann, Nadja Sthamer (beide SPD) und Paula Piechotta (Bündnis 90/Die Grünen) vertreten. Der langjährige Oberbürgermeister Leipzigs, Wolfgang Tiefensee, war von 2005 bis 2009 Bundesminister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung im Kabinett Merkel, sowie der Beauftragte der Bundesregierung für die neuen Bundesländer. Bereits nach den Wahlen von 2002 erhielt er von Gerhard Schröder ein Angebot für diesen Ministerposten, lehnte diesen aber mit der Begründung der Verbundenheit mit seiner Arbeit in Leipzig ab. Landespolitik Leipzig ist in insgesamt sieben Landtagswahlkreise unterteilt. Seit der Landtagswahl 2019 hat die CDU vier der sieben Direktmandate inne, die übrigen verteilen sich auf die Grünen (zwei Mandate) und die Linke (ein Mandat). Wappen und Flagge Das Wappen der Stadt Leipzig zeigt in gespaltenem Schild heraldisch rechts in Gold einen nach rechts aufsteigenden rot gezungten und rot bewehrten schwarzen Meißner Löwen, links in Gold zwei blaue Landsberger Pfähle. Der Löwe der Mark Meißen und die Pfähle der Markgrafen von Landsberg sind alte wettinische Wappenbilder, die auf die Einbindung der Stadt Leipzig in deren Herrschaftsgebiet hindeuten. Nachweisen lässt sich das heutige Wappen erstmals 1468 als Siegel, vorher (um 1287) war auf ihm nur eine Burg beziehungsweise eine Burg mit dem Löwen der Markgrafen zu sehen. Im Volksmund des 17. Jahrhunderts wurde folgende Sage erzählt: Der Löwe habe einst in die andere Richtung geblickt und mit den Tatzen nach den Pfählen gegriffen, sei später aber „zur Strafe“ umgekehrt worden. Tatsächlich wendet sich der Löwe auf Groschen des 15. Jahrhunderts den Pfählen zu. Der Unterschied zum Dresdner Wappen besteht lediglich in der Tingierung der Landsberger Pfähle, der zum Chemnitzer und Delitzscher Wappen in der Anordnung der Schilde. Beim Wappen des ehemaligen Landkreises Leipziger Land wurde dem Leipziger Wappen noch ein Fluss hinzugefügt. Die Stadtfarben sind dem Wappen entsprechend Blau und Gelb. Die Flagge der Stadt besteht aus zwei gleich großen, horizontalen Streifen – oben blau und unten gelb – mit aufgelegtem Stadtwappen. Städtepartnerschaften Die Stadt Leipzig ist verschwistert mit: , Ukraine – seit 1961, erneuert 1992 , Italien – seit 1962, erneuert 1997 , Polen – seit 1973, erneuert 1995 , Tschechien – seit 1973, erneuert 1999 , Frankreich – seit 1981 , Griechenland – seit 1984, erneuert 2008 , Deutschland – seit 1987 , Volksrepublik China – seit 1988 , Deutschland – seit 1990 , Vereinigtes Königreich – seit 1992 , Vereinigte Staaten – seit 1993 , Bosnien und Herzegowina – seit 2003 , Äthiopien – seit 2004 , Israel – seit 2011 , Vietnam – seit 2021 Konsulate und Auslandsvertretungen In der Stadt befinden sich mehrere Auslandsvertretungen. Von den etwa 40 Konsulaten, die vor dem Zweiten Weltkrieg in Leipzig existierten, sind jedoch nur sehr wenige nach der Wende zurückgekehrt. So besitzen die Vereinigten Staaten und Russland ein Generalkonsulat in Leipzig. Polen unterhielt bis 2008, Griechenland bis Ende 2010 ein Generalkonsulat. Polen ersetzte dieses durch ein Honorarkonsulat. Weitere Länder, die Honorarkonsulate in Leipzig eingerichtet haben, sind Armenien, Bosnien-Herzegowina, Bulgarien, Costa Rica, Estland, Frankreich, Italien, Liberia, Malta, Mexiko, Norwegen, Peru, Polen, Rumänien, Schweden, die Slowakische Republik, Uganda und Zypern. Polen unterhält in Leipzig ein Polnisches Institut als Zweigstelle des Polnischen Institutes Berlin. Außerdem befindet sich in Leipzig ein British Council, ein Institut français und ein Konfuzius-Institut. Des Weiteren wurde 2008 von den Niederlanden ein „Netherlands Business Support Office“ (NBSO) in Leipzig eröffnet, das für die wirtschaftlichen Kontakte zwischen der Region und den Niederlanden verantwortlich ist. Um den kulturellen, wirtschaftlichen oder politischen Austausch zwischen Leipzig und anderen Regionen beziehungsweise Staaten zu vertiefen, wurden mehrere Vereine gegründet, wie das Deutsch-Arabische Kulturhaus, der Deutsch-Irakische Verein oder der Deutsch-Britische Verein. Jugendparlament Vom 23. bis 29. März 2015 wurde in Leipzig das erste Jugendparlament in einer Online-Wahl gewählt. Die 20 gewählten Parlamentarier im Alter von 14 bis 21 Jahren sollen die Interessen der Jugendlichen in der Stadt vertreten. Deutschlandweit ist Leipzig damit nach Stuttgart und Trier die dritte Großstadt, welche eine solche Institution ins Leben ruft. Eine Legislaturperiode dauert 2 Jahre. Die letzte Wahl zum Jugendparlament fand vom 27. März bis zum 3. April 2023 statt; die Wahlbeteiligung lag bei 5,8 Prozent. Über den zusätzlich eingerichteten Jugendbeirat, der aus 8 Mitgliedern des Jugendparlamentes und je einem Vertreter pro Stadtratsfraktion besteht, hat das Jugendparlament Rede- und Antragsrecht im Leipziger Stadtrat. Die Leitung der öffentlichen Sitzungen des Gremiums sowie anfallende organisatorische Aufgaben übernimmt ein von den Mitgliedern gewählter „Sprecher*innenkreis“. Die thematische Arbeit findet schwerpunktmäßig in den Arbeitsgruppen statt, die sich aus Mitgliedern des Jugendparlamentes und interessierten Jugendlichen zusammensetzen. Unterstützt wird das Parlament außerdem von einer pädagogischen Begleitung und einer Geschäftsstelle. Des Weiteren verfügt das Gremium über einen Jugendfonds durch den Projekte von und für Jugendliche mit maximal 500 Euro im Rahmen des Bundesprogrammes Demokratie leben! gefördert werden können. Beiräte In Leipzig gibt es zehn Stadtbezirksbeiräte, 14 Ortschaftsbeiräte und zehn Fachbeiräte. Sie setzen sich jeweils aus Mitgliedern der Stadtverwaltung und gewählten oder ernannten sachkundigen Einwohnern zusammen. Die Beiräte können keine rechtlich bindende Entscheidung treffen, haben aber Anhörungspflicht und die Möglichkeit, selber Angelegenheiten vorzubringen, mit denen sich die Ausschüsse des Stadtrats beschäftigen müssen. Es gibt folgende Fachbeiräte: Drogenbeirat, Beirat für Gleichstellung, Kinder- und Familienbeirat, Migrantenbeirat, Psychiatriebeirat, Seniorenbeirat, Behindertenbeirat, Tierschutzbeirat und Kleingartenbeirat. Der Migrantenbeirat wurde am 2009 gegründet und wird alle fünf Jahre gewählt (Letzte Wahl 2021). Er besteht aus 22 Mitgliedern, davon sechs Fraktionsvertreter und 16 Migranten. Die Geschäftsstelle des Beirats liegt in der Verantwortung des Referats für Migration und Integration. Wahlberechtigt hierfür sind alle Ausländer, die über einen gültigen Aufenthaltstitel oder eine Duldung verfügen, eingebürgerte Personen und Spätaussiedler, die am Wahltag das 18. Lebensjahr vollendet und seit mindestens drei Monaten in Leipzig ihren ständigen Wohnsitz haben. Zehn Mitglieder werden anhand von Herkunftsregionen frei gewählt (Nordafrika, West- und Zentralasien, Süd- und Mittelamerika, Nord-, West- und Mitteleuropa, Südostasien und sonstiges Asien, Süd- und Osteuropa, Nordamerika, Australien, Ozeanien und subsaharisches Afrika). Bewerben können sich alle wahlberechtigten Personen. Die übrigen zwölf Mitglieder setzen sich aus sechs Vertretern der Stadtratsfraktionen und sechs durch die Stadtverwaltung ernannten Personen zusammen. Wirtschaft und Infrastruktur Entwicklung bis 1990 Vor dem Zweiten Weltkrieg war Leipzig nicht nur ein bedeutender Handelsplatz (Leipziger Messe), sondern auch ein bedeutender Industriestandort. Traditionell waren hier Verlagswesen (z. B. Reclam, Teubner, Brockhaus, das Bibliographische Institut, Seemann, Baedeker, Hirzel, Barth und Velhagen & Klasing, Insel Verlag, bei den Musikalien Breitkopf & Härtel, C. F. Peters und Friedrich Hofmeister) und polygrafische Industrie, Maschinenbau (Pittler Drehmaschinen, Brehmer Heftmaschinen), Förderanlagen- und Seilbahnbau (Adolf Bleichert & Co.), Landmaschinenbau (Pflugfabrik Rud. Sack), Pelzindustrie, Textilindustrie (Leipziger Baumwollspinnerei, Buntgarnwerke Leipzig, Leipziger Wollkämmerei) ansässig. Ferner war der Klavierbau (Blüthner, Hupfeld, Schimmel, Feurich, Zimmermann) vertreten. In der DDR-Zeit blieb Leipzig ein bedeutender Wirtschaftsstandort. Der Bezirk Leipzig trug 1972 9,3 Prozent zur Industrieproduktion der DDR bei. Neben den bereits erwähnten Wirtschaftszweigen wurden insbesondere der Braunkohleabbau, die Energieerzeugung und die chemische Industrie südlich von Leipzig stark ausgebaut. Mit der Bildung von Kombinaten wurde Leipzig Sitz der Kombinate für Baumaschinen, komplette Anlagen und Erdbewegungsmaschinen (Baukema), Gießereianlagenbau und Gusserzeugnisse (Gisag), polygraphischen Maschinenbau, Rundfunk- und Fernmelde-Technik (RFT), Technische Gebäudeausrüstung (TGA), Tagebauausrüstungen, Krane und Förderanlagen (TAKRAF) und Chemieanlagenbau (Chemieanlagenbau Leipzig-Grimma, CLG). Robotron baute in seinem Leipziger Zweigbetrieb (VEB Robotron-Anlagenbau Leipzig) vor allem Großrechner für die Industrie. Die fruchtbaren Böden der Leipziger Tieflandsbucht im Leipziger Raum wurden intensiv landwirtschaftlich genutzt. Kennzahlen Im Jahre 2016 erbrachte Leipzig ein Bruttoinlandsprodukt (BIP) von 19,872 Milliarden Euro und belegte damit Platz 17 innerhalb der Rangliste der deutschen Städte nach Wirtschaftsleistung. Der Anteil an der Wirtschaftsleistung des Bundeslandes Sachsen betrug 16,8 Prozent. Das BIP pro Kopf lag im selben Jahr bei 35.123 Euro (Sachsen: 28.947 Euro, Deutschland 38.180 Euro). In der Stadt gab es 2016 ca. 328.700 erwerbstätige Personen. Die Arbeitslosenquote lag im Dezember 2018 bei 6,1 Prozent und damit leicht über dem Durchschnitt von Sachsen mit 5,6 Prozent. Gegenwärtig befinden sich in Leipzig über 38.000 bei der Industrie- und Handelskammer zu Leipzig gemeldete Unternehmen und mehr als 5.100 Handwerksbetriebe (Stand 2011). In Leipzig gibt es 58.704 bestehende Betriebe. Davon haben 90,3 % deutsche Betreiber und 9,7 % ausländische Betreiber (Stand 2019). Im Zukunftsatlas 2019 belegte die kreisfreie Stadt Leipzig Platz 104 von 402 Landkreisen, Kommunalverbänden und kreisfreien Städten in Deutschland und zählt damit zu den Regionen mit „Zukunftschancen“. In der Ausgabe von 2016 lag sie noch auf Platz 137 von 401. Leipzig belegte im HWWI/Berenberg-Städteranking 2015 nach München und Berlin den dritten Platz. Öffentliche Investitionen und Subventionen Wie in allen Städten und Gemeinden in den ostdeutschen Bundesländern flossen hohe Summen staatlicher Gelder nach Leipzig. Die Struktur der Investitionen und Förderungen unterscheiden sich dabei etwas. Vergleichsweise stark wurde die „unternehmensnahe Infrastruktur“ gefördert – im Zeitraum 1990 bis 2005 mit etwa 750 Millionen Euro. Nach Darstellung der Leipziger Wirtschaftsförderung können Zuschüsse für die gewerbliche Wirtschaft aufgrund der Wirtschaftsstruktur in Leipzig hauptsächlich für Großinvestitionen genutzt werden. Sie betrugen von 1990 bis 2005 etwa 650 Millionen Euro. Vergleichsweise wenig wurde für die Technologieförderung aufgebracht, sie summierte sich im Zeitraum 1990 bis 2005 auf 81 Millionen Euro. Leipzig liegt in einer „Ziel-1-Region“ des Europäischen Fonds für regionale Entwicklung. Im Zuge der EU-Osterweiterung erreichen die sächsischen Regionen die Fördergrenze, die sich am Bruttoinlandsprodukt je Einwohner relativ zum EU-Durchschnitt bemisst. Zum Nachteil von Leipzig könnte sich der Umstand entwickeln, dass die anderen sächsischen Großstädte durch strukturschwache Regionen wie dem Erzgebirge oder der Oberlausitz länger in einer „Ziel-1-Regionen“ verbleiben könnten. Die Förderregionen entsprechen den sächsischen Regierungsbezirken. Verschuldung der Stadt Leipzig Die Verschuldung der Stadt Leipzig begann 1992 und erreichte ihren Höchststand Ende 2004 mit einem Schuldenstand von 911,6 Mio. Euro. In den darauffolgenden Jahren wurde die Verschuldung kontinuierlich abgebaut, wobei der größte Sprung 2009 unter anderem durch Rückzahlung der Stadtanleihe von 100 Mio. Euro gemacht wurde. Zum 31. Dezember 2011 bestand das Kreditportfolio aus 101 Krediten mit einem Volumen von circa 733 Mio. Euro. Von 2011 zu 2012 stieg der Schuldenstand der Stadt Leipzig um die Netto-Neuverschuldung von rund 4 Mio. Euro von 733 Mio. Euro auf 737 Mio. Euro. Die Stadt Leipzig plant den vollständigen Schuldenabbau in den nächsten 25 Jahren. Ansässige Unternehmen Mit der Wende brach, wie in fast allen Regionen der ehemaligen DDR, nahezu die gesamte Industrieproduktion zusammen. Nur wenige Unternehmen blieben nach der Privatisierung erhalten. Es bestehen weiterhin die Maschinenbauunternehmen Kirow Ardelt GmbH (ein Hersteller von Eisenbahnkränen mit etwa 180 Mitarbeitern), TAKRAF GmbH (ein Tochterunternehmen der Tenova S.p.A. und Hersteller von Tagebauausrüstung und -einrichtungen mit etwa 400 Mitarbeitern in Leipzig und Lauchhammer) sowie das Kugel- und Rollenlagerwerk Leipzig (ein Hersteller von Wälzlagern mit etwa 192 Mitarbeitern). Von den Klavierherstellern besteht noch die Julius Blüthner Pianofortefabrik. Das 1852 in Leipzig gegründete Typographisches Kunst-Institut Giesecke & Devrient wurde 1948 als VEB Wertpapierdruckerei verstaatlicht und ist jetzt wieder als Giesecke & Devrient GmbH, Wertpapierdruckerei Leipzig in Leipzig ansässig. Nach der Wende gelangen aber auch einige große Industrieansiedlungen, darunter Siemens (etwa 1.700 Mitarbeiter), Porsche (etwa 4.300 Mitarbeiter bei Porsche Leipzig sowie weitere 800 in Dienstleistungsbetrieben) und BMW (3.700, mit Partnern und Zulieferern über 6.500 Mitarbeiter am Standort Leipzig). Mit der Ansiedlung der beiden letzteren konnte sich die Stadt als neuer Automobilstandort etablieren. 2005 stiegen die Leipziger Verkehrsbetriebe (LVB) in den Schienenfahrzeugbau ein. Das Tochterunternehmen HeiterBlick baute zunächst die Straßenbahn Leoliner für den Eigenbedarf, die sich mit einem konkurrenzfähigen Preis und ihrer Robustheit aber auch den osteuropäischen Markt erschließen sollte. 2010 übernahm Kirow Ardelt das Unternehmen vollständig und fertigt im Stadtteil Lindenau verschiedene Straßenbahnmodelle für andere deutsche Städte. Die LVB beschäftigen über 2.300 Mitarbeiter. Kirow Ardelt entwickelte sich zum Weltmarktführer von Eisenbahnkranen. Auch Unternehmen der Kommunikations- und Informationstechnologien wie die Comparex, die Softline AG oder der überregionale Kabelnetzbetreiber Primacom mit seiner größten ostdeutschen Niederlassung sind in Leipzig beheimatet. Die Unister Holding GmbH, ein auf den Betrieb und die Vermarktung von Webportalen spezialisierter E-Business-Anbieter, hatte ihren Hauptsitz in der Leipziger Innenstadt. Dieses Gebäude gehört seit April 2017 der Hamburger Immobilieninvestment- und Entwicklungsgesellschaft DC Values. Die buw Holding GmbH, ein Kommunikationsdienstleister, beschäftigt am Standort Leipzig rund 1.100 Mitarbeiter in Callcentern. Die Mercateo-Gruppe verlegte ihren Hauptsitz Anfang 2020 von München nach Leipzig. Neben Frankfurt am Main, München und Stuttgart gilt Leipzig darüber hinaus als überregional bedeutsamer Banken- und Finanzstandort. Seit 2017 hat die Förderbank des Freistaats, die Sächsische Aufbaubank (SAB), ihren Sitz in Leipzig. Neben der Sparkasse Leipzig, einer der größten in Mitteldeutschland, sitzen in Leipzig kleine Bereiche der Landesbank Baden-Württemberg, nachdem diese 2008 die Landesbank Sachsen übernommen hatte. Die gesamte Region Leipzig ist ein wichtiges Zentrum der Energiewirtschaft und Leipzig tritt als Energiemetropole Leipzig auf. Leipzig betreibt das Cluster Energie und Umwelt und hat dort einen Wirtschaftsförderschwerpunkt. 2008 wurde das Deutsche Biomasseforschungszentrum (DBFZ) in Leipzig eröffnet. Der umsatzstarke Energieversorger VNG – Verbundnetz Gas, der für Stadtwerke und kommunale Energieversorger Erdgas bereitstellt, hat in Leipzig seinen Sitz. In der Stadt wird mit der European Energy Exchange (EEX) die größte Energiebörse Kontinentaleuropas betrieben. In Leipzig sitzen zudem die Verwaltung und der Vorstand der Verbio Vereinigte Bioenergie AG. Leipzig besitzt mit den Stadtwerken Leipzig eines der acht großen Stadtwerke, die in den 8KU organisiert sind. In unmittelbarer Nähe Leipzigs befinden sich das Kraftwerk Lippendorf sowie der Solarpark Waldpolenz in Brandis und das Solarkraftwerk Espenhain, in Leipzig selbst mehrere kleinere Solarkraftwerke. In der Stadt selbst gibt es zudem einen Verwaltungsstandort der Veolia Wasser. Aufgrund der zentralen Lage entwickelte sich Leipzig zu einem Verkehrs- und Logistikzentrum. Die Logistik ist als Wirtschaftsschwerpunkt im Netzwerk Logistik Leipzig-Halle organisiert. So hat neben den Leipziger Verkehrsbetrieben auch der Mitteldeutsche Verkehrsverbund seinen Sitz in Leipzig. Die DB Netz koordiniert den Regionalbereich Südost von Leipzig aus. Das Tochterunternehmen der Transdev GmbH, Transdev Regio Ost und deren Marke Mitteldeutsche Regiobahn, haben ihren Sitz in Leipzig. Die Logistikbranche ist mittlerweile eine der wachstumsstärksten der Regionen in Deutschland. Schon kurz nach der Wende wurde in der Nähe des Messegeländes ein Quelle-Versandzentrum eröffnet, das allerdings im Zuge der Insolvenz des Unternehmens 2009 schließen musste. Dieses wurde 2012 reaktiviert und ist wieder voll vermietet. Darunter sind Unternehmen wie Momox und diverse Zulieferer der Automobilwerke. Im Herbst 2006 stellte Amazon sein zweites und größtes deutsches Logistikzentrum fertig. 2008 ging das europäische Luftdrehkreuz der Post-Frachttochter DHL am Flughafen Leipzig-Halle in Betrieb, das bisher in Brüssel beheimatet war. Damit sind 3.500 Arbeitsplätze direkt am Flughafen entstanden und etwa 7.000 in der näheren Umgebung. Das DHL-HUB wird ab 2014 in seiner Kapazität verdoppelt, womit weitere 400 Arbeitsplätze entstehen sollen. Im Norden der Stadt wurde von ProLogis ein Logistikzentrum mit 50.000 m² erbaut, dieses hat 350 Arbeitsplätze geschaffen. Im Norden wurde ein Logistikzentrum der DB Schenker mit 145.000 m² und ca. 800 Arbeitsplätzen geschaffen. Gesundheitswesen Die Stadt bekennt sich mit ihrer Wirtschaftsstrategie zum Cluster Gesundheitswirtschaft & Biotechnologie, unterstützt wird sie vom Verein zur Förderung der Gesundheitswirtschaft in der Region Leipzig e. V. Die Stadt ist Mitglied des bundesweiten Gesunde-Städte-Netzwerks. Das Universitätsklinikum mit seinen mehr als 4000 Mitarbeitern ist ein Krankenhaus der Maximalversorgung. Seine Vorläufer waren das St. Jacobs-Hospital und das Städtische Krankenhaus St. Jakob. Das 1994 gegründete Herzzentrum Leipzig in Trägerschaft der Helios Kliniken fungiert als Universitätsklinik und ist ein Fachkrankenhaus mit dem Versorgungsauftrag für Herzchirurgie, Kardiologie und Kinderkardiologie. Mit der Kapazität für 420 stationäre und 10 tagesklinische Patienten ist es das größte Herzzentrum der Welt. Das Klinikum St. Georg, das als Spital 1439 von der Stadt übernommen wurde, feierte 2012 sein 800-jähriges Bestehen. Das Klinikum ist ein Krankenhaus der Schwerpunktversorgung und beschäftigt über 3.000 Mitarbeiter. Die Infektionszentrale und das Schwerbrandverletztenzentrum besitzen bundesweite Bedeutung. 2006 übernahm das St. Georg das Fachkrankenhaus Hubertusburg in Wermsdorf. Das St. Georg bekam 2011 vom Freistaat den Zuschlag für die Errichtung einer Septischen Chirurgie. In unmittelbarer Nähe des Herzzentrums befindet sich mit dem Park-Klinikum, dem größten Krankenhaus der Regelversorgung (626 Betten, 98 teilstationär, 154 Rehabilitationsplätze) in Sachsen, eine weitere Einrichtung der Helios-Kliniken. In Leipzig gibt es mit dem evangelischen Diakonissenkrankenhaus und dem 1931 eingeweihten St. Elisabeth-Krankenhaus (in katholischer Trägerschaft) noch zwei Krankenhäuser der Regelversorgung. Letzteres ist eines der beliebtesten Krankenhäuser Sachsens. Das bis 2007 betriebene Bundeswehrkrankenhaus in Wiederitzsch will der Erwerber zusammen mit dem ehem. Amberger Bundeswehrkrankenhaus zu einer Fachklinik entwickeln. Leipzig verfügt über zwei zertifizierte Stroke Units (St. Georg, Uni), zwei Brustkrebszentren (St. Elisabeth, St. Georg), drei Darmkrebszentren (Diako, Park-Klinikum, Uni), ein Prostatakrebszentrum (Uni) und ein Hautkrebszentrum (Uni). Die Medica-Klinik für ambulante Rehabilitation und Sportmedizin ist eine der größten Einrichtungen für ambulante Reha in Deutschland und Akademisches Lehrkrankenhaus der Leipziger Universität. In Leipzig haben die Krankenhausgesellschaft Sachsen, der Verband der Privatkliniken in Sachsen und Sachsen-Anhalt und die Landesgeschäftsstelle Sachsen der Barmer GEK ihren Sitz. 1900 wurde in Leipzig der Hartmannbund, ein freier Berufsverband aller Ärzte, Zahnärzte und Medizinstudenten in Deutschland, gegründet. Die DAVASO GmbH in Mölkau, ein Technologieanbieter und Dienstleister für die gesetzlichen Krankenversicherungen, gehört mit ca. 1300 Mitarbeitern zu den 15 größten Unternehmen der Region. Zur Ansiedlung von Unternehmen der Biotechnologie wurde 2003 am Rande des alten Messegeländes die Bio City Leipzig errichtet. Hier befinden sich das Biotechnologisch-Biomedizinische Zentrum der Universität Leipzig sowie verschiedene Unternehmen. U. a. gehörten Vita 34 International, Europas erste und größte private Nabelschnurblutbank, sowie Haema, der größte unabhängige Blutspendedienst Deutschlands, zu den ersten Mietern. Das Leipziger Arzneimittelwerk ging aus einer 1926 in Paunsdorf errichteten Betriebsstätte der Unternehmung Dr. Willmar Schwabe hervor, 2000 wurde es von Riemser übernommen und 2013 an die Prange Gruppe weiterveräußert. Leipziger Messe Die Stadt Leipzig ist über die Grenzen Deutschlands hinaus durch die Leipziger Messe bekannt. Sie gilt als einer der ältesten Messeplätze der Welt, dessen Tradition auf das vom Meißner Markgrafen Otto dem Reichen 1165 verliehene Marktrecht zurückgeht. 1190 wurden der Jubilatemarkt (Ostermarkt) und der Michaelismarkt durch den Meißner Markgrafen Albrecht den Stolzen bestätigt. Ab 1218 ließen sich die ersten urkundlich benannten Kaufleute und Handwerker in Leipzig nieder. 1341 kauften die Tuchmacher ihr eigenes Gebäude am Leipziger Markt, das erste Gewandhaus. Ebenfalls ab dem 13. Jahrhundert wurden in Leipzig Waren mit polnischen und im 14. Jahrhundert mit böhmischen Kaufleuten gehandelt. Ab 1420 wurde der Markt als Umschlagplatz für Nürnberger Kaufleute nach Polen genutzt. 1458 erhielt die Stadt von Kurfürst Friedrich II. das Recht für den Neujahrsmarkt. Von diesem Zeitpunkt an war die Stadt ein bedeutender Umschlagplatz für Metalle, Pelze, Seide, Edelsteine, Zinn und sächsisches Silber. 1497 verlieh der römisch-deutsche König und spätere Kaiser Maximilian I. Leipzig das Reichsmesseprivileg. 1507 erhielt die Stadt das Stapelprivileg, was bedeutet, dass im Umkreis von 115 Kilometern keine Messen veranstaltet werden durften. Auch war das Lagern von Gütern vor der Stadt verboten. Seit 1573 war es der Stadt gelungen, feste Handelsbeziehungen nach Moskau aufzubauen. 1824 wurde Leipzig zum Welthandelsplatz, als auch Händler aus Nordamerika, Brasilien, Argentinien und Indien an der Messe teilnahmen. 1833 wurden alle Privilegien vom Deutschen Zollverein für ungültig erklärt. Allerdings hatte sich Leipzig zu der Zeit schon als Messestandort etabliert, weswegen sich der größte Konkurrent (Frankfurt) nicht durchsetzen konnte. Zum Frühjahr 1895 erfolgte die Umstellung von einer Waren- zur weltweit ersten Mustermesse. In der Zeit des Nationalsozialismus wurde die Leipziger Messe dem Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda unterstellt und zur einzigen „Allgemeinen internationalen Messe auf deutschem Boden“ erklärt. 1937 wurde Leipzig zur Reichsmessestadt ernannt. Während der DDR-Zeit waren die Frühjahrs- und Herbstmessen ein wichtiger Treffpunkt des Handels zwischen Ost und West. Mit der Wiedervereinigung wurden die beiden saisonalen Universalmessen von Fachmessen abgelöst. 1996 wurde ein neues und modernes Messegelände am Stadtrand erbaut und begonnen, neue Nutzer für die Alte Messe Leipzig zu suchen. Die Messegesellschaft steht seither national in Konkurrenz mit vielen, oft erheblich größeren Standorten wie Hannover, Frankfurt oder Düsseldorf und muss sich in einem engen Markt behaupten. Die Leipziger Messe mit einem Umsatz von 100 Mio. Euro (2016) konkurriert hier etwa mit der Messe Frankfurt mit einem siebenfachen Umsatz. Zu den wichtigsten Messen des Jahres zählen die Leipziger Buchmesse, die Zuliefermesse Z sowie die Industriemesse Intec, die Publikumsmesse Haus Garten Freizeit, die Messe Touristik & Caravaning International sowie die Auto Mobil International. Mit der Games Convention (GC) konnte erstmals eine Messe etabliert werden, die in Europa Alleinstellungsmerkmale besitzt. Die GC wurde jedoch im Sommer 2008 durch den Branchenverband BIU als gamescom nach Köln verlegt, mit der Begründung, man habe dort bessere Wachstumsmöglichkeiten. Die Leipziger Messe hatte sich zunächst entschieden, diese Unterhaltungssparte nicht ganz aufzugeben und dafür 2009 die Games Convention Online gegründet, eine Messe die ausschließlich auf Onlinespiele fokussiert war. Es gelang jedoch nicht, diese Messe zu etablieren, sodass sie nach nur zwei Auflagen seit 2011 nicht mehr stattfindet. Zur Leipziger Messe gehört mit dem Congress Center Leipzig ein Kongresszentrum für die Bereiche Medizin, Industrie und Dienstleistung. Neben dem Messegelände im Leipziger Norden betreibt die Leipziger Messe GmbH seit 2015 die Kongresshalle am Zoo in einem 1900 erbauten Gründerzeitgebäude im Leipziger Zentrum. Medien Funk- und Fernsehsender Leipzig ist Hauptsitz des Mitteldeutschen Rundfunks (MDR). Die Media City Leipzig, ein Studiokomplex für Fernseh- und Filmproduktionen, an der der MDR beteiligt ist, befindet sich in unmittelbarer Nähe. Die Privatsender Radio PSR, Energy Sachsen, R.SA und Radio Leipzig mit zwei Programmen, Leipzig eins, Deutschlands erstes lizenziertes Universitätsradio Mephisto 97.6 und das Freie Radio Radio Blau produzieren hier ihr Programm. Aber auch neue Medien wie das Internetradio und Podcast-Label detektor.fm haben ihre Studios in Leipzig. Aus dem Studio von Radio PSR sendete bis zum 31. Januar 2014 außerdem der Radiosender 90elf, der 24 Stunden am Tag über Bundesligaspiele berichtete. Leipzig Fernsehen und ehemals info tv leipzig sind bzw. waren lokale Fernsehsender. Leipzig ist Sitz der Sächsischen Landesanstalt für privaten Rundfunk und neue Medien. Presse Leipzig hat eine weit zurückreichende Tradition als Pressestadt mit zahlreichen Zeitungs- und Zeitschriftenverlagen und -redaktionen. Hier gab Timotheus Ritzsch von 1650 an die täglich erscheinenden Leipziger Einkommenden Nachrichten als erste Tageszeitung der Welt heraus; von 1660 an trug sie den Titel Neu-einlauffende Nachricht von Kriegs- und Welt-Händeln. Die Bedeutung Leipzigs als Pressestadt betont eine vom Leipziger Institut für Kommunikations- und Medienwissenschaft, von der Deutschen Presseforschung an der Universität Bremen und der Deutschen Forschungsgemeinschaft getragene und von Holger Böning geleitete Studie. Derzeit gibt es als einzige Tageszeitung die Leipziger Volkszeitung mit bis 1894 zurückreichender Geschichte, zudem eine regionale Ausgabe der Zeitung Bild. Seit 2004 erscheint das Online-Nachrichtenmagazin Leipziger Internet Zeitung, dessen Redaktion seit 2015 auch die gedruckte LZ Leipziger Zeitung herausbringt – zunächst als Wochenzeitung und dann umgestellt auf monatliche Erscheinung. Die Dresdener Morgenpost unterhält unter der Marke Tag 24 ein lokales Redaktionsbüro. Darüber hinaus werden mehrere Stadtmagazine, Kultur- und Wirtschaftsjournale publiziert, u. a. der Kreuzer und die Leipziger Zeitung. Buchstadt Leipzig Die Geschichte Leipzig als Druckort geht bis ins 16. Jahrhundert zurück. Ab dem 17. Jahrhundert gewinnt die Leipziger Buchmesse größere Bedeutung. Im Laufe des 19. Jahrhunderts hatte sich Leipzig als zentrale Schnittstelle und Hauptumschlagplatz des deutschen Buchgewerbes etabliert. Rund 1500 Firmen des herstellenden und vertreibenden Buchhandels, der polygrafischen Industrie sowie die zentralen Branchenverbände waren hier ansässig. Zentrum dessen war das Graphische Viertel. Dazu zählten Verlage wie Baedeker (Fritz Baedeker), Brockhaus (Bibliographisches Institut & F. A. Brockhaus), S. Hirzel Verlag, Insel Verlag, Gustav Kiepenheuer Verlag, C. F. Peters (Edition Peters), Reclam-Verlag, E. A. Seemann, B. G. Teubner und Georg Thieme, sowie große Firmen des Zwischenbuchhandels, Maschinenbauunternehmen, Buchbindereien, grafische Anstalten und Druckunternehmen (Giesecke & Devrient, Offizin Haag-Drugulin u. v. a.). Nahezu jeder zehnte Einwohner war in einem dieser Gewerbe tätig. Ein Beispiel für einen besonders vielseitigen Vertreter der Branche gibt Carl Berendt Lorck; er war als Buchhändler, Buch- und Presseverleger, Buchhistoriker, Typograf, Drucker und Autor aktiv. Im Ausland war die Buchstadt Leipzig als City of Books bekannt. Ihre Hochphase hatte sie Ende des 19. bis Anfang des 20. Jahrhunderts. Im Zweiten Weltkrieg hatten die Verlage unter starken Restriktionen zu leiden. Das sogenannte Graphische Viertel, in dem sich ein Großteil der Firmen konzentrierte, wurde in den Bombenhageln fast vollständig zerstört. Die Teilung Deutschlands führte zur Teilung von Verlagen und anderen Unternehmen, die fortan in Westdeutschland und Leipzig parallel agierten. In der DDR konnte sich Leipzig zwar weiterhin als Buchstadt behaupten, jedoch nicht mehr mit seiner früheren Bedeutung. Nach der Wiedervereinigung wurden die Leipziger Parallelverlage an ihre westdeutschen Alteigentümer restituiert und teilweise als Zweigniederlassungen weitergeführt, jedoch früher oder später geschlossen (Brockhaus, Hirzel, Insel, List, Reclam, Teubner, Thieme). Andere Verlage wurden verkauft und sind teilweise noch in Leipzig ansässig (E.A. Seemann, St. Benno, Koehler & Amelang, Buchverlag für die Frau u. a.). Parallel gab es nach 1989 viele Neugründungen und Neuansiedlungen (z. B. Klett-Verlag, Connewitzer Verlagsbuchhandlung, Evangelische Verlagsanstalt, Voland & Quist, Faber & Faber, Lehmstedt). Die Leipziger Buchmesse mit dem größten Lesefestival Europas Leipzig Liest, die Deutsche Nationalbibliothek, zahlreiche Ausbildungsstätten, Dauerausstellungen und Museen zeugen noch von der Buchstadt Leipzig. Die Stadt hatte eine große Bedeutung in der deutschen Enzyklopädik. Jahrzehntelang hatten mit dem Verlag F.A. Brockhaus und dem Bibliographischen Institut die beiden wichtigsten deutschen Lexikonverlage ihren Sitz in der Stadt. Eine lange Tradition hat die Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig, deren Ursprünge 1764 liegen. Unterlagen aus Unternehmensarchiven zu vielen dieser Unternehmen lagern im Staatsarchiv Leipzig. In Leipzig ist die Gesellschaft für zeitgenössische Lyrik ansässig. Sie veranstaltet Lesungen und poetologische Tagungen, gibt die Literaturzeitschrift Poesiealbum neu heraus und stellt der Öffentlichkeit mit der Leipziger Lyrikbibliothek eine der größten Sammlungen internationaler zeitgenössischer Poesie in Deutschland zur Verfügung. Sozial-Ökologische Infrastrukturen Leipzig verfügt über ein dichtes Netz sozial-ökologischer Infrastrukturen. Erwähnenswert sind im Lebensmittelbereich die Fairteiler von foodsharing, und die zahlreichen Solidarischen Landwirtschaften (SoLawi), im Textilbereich der Umsonstladen in Plagwitz, mehrere Fahrrad-Selbsthilfe-Werkstätten, im Computerbereich der Hackerspace Die Dezentrale. und im Bereich Reparieren das Café kaputt. Außerdem gibt es zahlreiche öffentliche Bücherschränke und Schenkregale, z. B. Lenes Tauscho im Lene-Voigt-Park. Öffentliche Einrichtungen Justiz Das Bundesverwaltungsgericht wurde am 26. August 2002 von Berlin nach Leipzig verlegt und hat seinen Sitz im Reichsgerichtsgebäude. Auch der Fünfte Strafsenat des Bundesgerichtshofes sowie eine Dienststelle des Generalbundesanwaltes sind in Leipzig angesiedelt. Außerdem sind das Sächsische Finanzgericht und Verfassungsgericht in Leipzig beheimatet, und weiterhin gibt es mehrere Gerichte der unteren Instanzen wie das Landgericht, Amtsgericht, Sozialgericht, Verwaltungsgericht und ein Arbeitsgericht. Wirtschaft Die Bundesnetzagentur für Elektrizität, Gas, Telekommunikation, Post und Eisenbahnen unterhält eine Außenstelle in Leipzig. Weitere öffentliche Einrichtungen sind die Handwerkskammer und die Industrie- und Handelskammer zu Leipzig. Die Hauptverwaltung der Deutschen Bundesbank für die Freistaaten Sachsen und Thüringen ist ebenfalls in der Stadt angesiedelt. Die Sparkasse Leipzig, die für die Stadt Leipzig und die umliegende Landkreise Leipziger Land und Nordsachsen zuständig ist, ist die wichtigste öffentliche Einrichtung auf dem Finanzsektor. Die 2008 erloschene Landesbank Sachsen hatte hier ebenfalls ihren Hauptsitz. Seit dem 1. April 2008 existiert die daraus entstandene Sachsen Bank, eine rechtlich unselbständige Anstalt des öffentlichen Rechts der Landesbank Baden-Württemberg (LBBW) mit Sitz in Leipzig. Auch die Deutsche Rentenversicherung Mitteldeutschland und der Kommunale Sozialverband Sachsen (KSV) haben ihre Hauptgeschäftsstellen in Leipzig. Durch bekanntgegebene geplante Änderungen und Umstrukturierungen innerhalb der sächsischen Verwaltung wird die Sächsische Aufbaubank in den kommenden Jahren ihren Hauptsitz von Dresden nach Leipzig verlegen, um den Finanzsektor und Bankenstandort Leipzigs zu stärken. Im Zuge der Reform wird der Sächsische Rechnungshof zum Jahr 2020 von Leipzig nach Döbeln umziehen. Wissenschaft Leipzig beherbergt drei Max-Planck-Institute (für evolutionäre Anthropologie (MPI-EVA), Kognitions- und Neurowissenschaften (MPI-CBS) und Mathematik in den Naturwissenschaften (MPI-MIS)), das Fraunhofer-Institut für Zelltherapie und Immunologie (IZI), das Fraunhofer-Zentrum für Mittel- und Osteuropa (MOEZ), die Leibniz-Institute für Troposphärenforschung (TROPOS), Oberflächenmodifizierung (IOM), für jüdische Geschichte und Kultur – Simon Dubnow (DI), für Geschichte und Kultur des östlichen Europas (GWZO) und Länderkunde (IfL) sowie das Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung – UFZ. Seit 2008 befinden sich außerdem das Deutsche Biomasseforschungszentrum (DBFZ), das Forschungs- und Transferinstitut Institut für Angewandte Informatik (InfAI), sowie das Deutsche Zentrum für integrative Biodiversitätsforschung (iDiv) in Leipzig. Die Stadt Leipzig ist weiterhin „Korporativ Förderndes Mitglied“ der Max-Planck-Gesellschaft. Des Weiteren betreibt der Deutsche Wetterdienst eine Außenstelle in Leipzig. Die Sächsische Akademie der Wissenschaften wurde als wissenschaftliche Organisation 1846 in Leipzig gegründet und hat hier am Standort der Sächsischen Landesuniversität ihren Sitz. Städtebau Leipzig verfügt noch über einen beträchtlichen Teil der Vorkriegsbebauung, die während der Gründerzeit, um die Jahrhundertwende sowie in der Weimarer Republik entstand. Diese kompakten Altbauviertel wurden zu DDR-Zeiten vernachlässigt und verfielen. Stattdessen wurde zwischen 1960 und 1980 auf Großsiedlungen, wie Grünau und Paunsdorf, gesetzt, die etwa 40 Prozent der nach 1945 in Leipzig entstandenen Wohnungen ausmachen. Eine Umstellung der Wohnungsbaupolitik in Richtung auf den Grundsatz der „Stadterneuerung im Bestand“ hat nun die großflächige Restaurierung der Gründerzeitquartiere zum Ziel. Leipzig stand 1990 vor dem Problem, dass 196.000 der 257.000 Wohnungen sanierungsbedürftig waren. In den Gründerzeitvierteln waren davon 103.000 Wohnungen betroffen. Ein Großteil der Quartiere in Plagwitz, Reudnitz und Connewitz war baufällig und drohte einzustürzen. Die Dächer waren nur notdürftig repariert, mehrere Straßenzüge komplett und dauerhaft eingerüstet, um Passanten vor herabfallenden Gebäudeteilen zu schützen. Mit der politischen Wende in der DDR nahmen sich die Medien dieses Problems an. Das DDR-Fernsehen sendete im November 1989 die aufsehenerregende Reportage „Ist Leipzig noch zu retten?“, die den Verfall Leipzigs am Beispiel des Stadtteils Plagwitz ungeschminkt darstellte. Insgesamt konzentrierte sich die Stadterneuerung im Bereich der Gründerzeitbebauung auf 13 Gebiete mit 464 Hektar und 29.000 Wohnungen. Ein Beispiel dafür ist das zwischen der Innenstadt und dem Rosental gelegene Waldstraßenviertel. Es ist eines der wenigen vollständig erhaltenen Gründerzeit-Wohngebiete in Deutschland. Auf einer Fläche von über 100 Hektar sind von 845 Gebäuden 626 als Einzeldenkmale ausgewiesen. Für ihre Strategie zum Erhalt dieses Ensembles erhielt die Stadt beim Bundeswettbewerb vom Bundesministerium für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau 1994 eine Goldmedaille. Ein Großteil der Altbausubstanz wurde in den ersten Jahren nach 1990 saniert. Direkte und indirekte staatliche Fördermodelle wie Investitionszulagen und Sonderabschreibungen trieben den Sanierungsprozess dabei wesentlich voran. Der Anteil des Wohnungsneubaus blieb dabei im Vergleich zur Zahl der Sanierungen von Altsubstanz sehr gering. Eine intensive Bautätigkeit betraf Anfang der 1990er Jahre insbesondere die Leipziger Innenstadt; damit im Zusammenhang steht auch das Wirken um Jürgen Schneider, der einen Immobilienskandal verursachte und sich dennoch eines gewissen Nimbus als Retter historischer Bauten erfreut, wenngleich wertvolle historische Bauten wie Barthels Hof noch unter dem von Schneider begonnenen Umbau weitgehend entkernt wurden; Thiemes Hof blieb unsaniert und wurde später abgerissen. In den weiteren Jahren wurde die Innenstadt aufwändig saniert, allerdings wurden zahlreiche historische Bauten entkernt, so dass sich das historische Stadtbild oft nur noch auf die Fassade beschränkt (vgl.). Mit einer einsetzenden Suburbanisierung infolge neu entstandener Einfamilienhaussiedlungen und der überregionalen Abwanderung in den 1990er Jahren kam es aufgrund fehlender Lenkungsmaßnahmen zu einem großen Überhang an Wohnraum. Der Leipziger Wohnungsmarkt war dadurch stark gesättigt. Investitionen in verbliebene unsanierte Objekte verringerten sich entsprechend der Marktsituation erheblich und erfolgten seitdem wesentlich gezielter meist in den attraktiveren Wohnlagen, die aufgrund der dort höheren Wohnraumnachfrage höhere Grundmieten ermöglichen. Es zeigte sich eine grundsätzliche Bevorzugung gegenüber unattraktiveren Gebieten (Stand 2011), obwohl das Investitionspotenzial in den attraktiveren Vierteln mit einem hohen Sanierungsstand nahezu ausgeschöpft ist. Daraus resultierend ist seit 1997 eine heterogene Entwicklung zwischen attraktiveren Standorten und solchen Altbauvierteln erkennbar, die in ihrer Entwicklung und Erneuerung zurückbleiben. Standen von den gründerzeitlichen Wohnungen, die saniert wurden, im Jahre 2000 etwa 2 Prozent leer, so waren von den unsanierten Wohnungen 71 Prozent unbewohnt. Im Jahre 2004 waren ca. 3.000 Gründerzeithäuser noch nicht saniert. Dem Leerstand versuchte das Stadtumbau-Ost-Programm entgegenzuwirken. Da dieses auch den Abriss historisch wertvoller Bauten nicht ausschloss, kam es in den 2000er Jahren zu einer regelrechten Abrisswelle von Gründerzeithäusern, nicht nur in Leipzig. Bis zum Jahre 2006 verschwanden hier 446 der denkmalgeschützten Gründerzeithäuser, so auch die Kleine Funkenburg oder das sogenannte Märchenhaus, was zu Protesten in der Bevölkerung und zur Gründung des Vereins Stadtforum Leipzig e. V. führte. Mit dem einsetzenden Bevölkerungswachstum in den Folgejahren zog die Nachfrage nach Gründerzeitwohnungen wieder stark an. Aufgrund ihrer höheren baulichen und architektonischen Qualität und der oftmals besseren Lage wurden die sanierten Altbaustandorte den nunmehr ebenfalls größtenteils sanierten Großwohnsiedlungen vorgezogen. Dies führt zu einer beginnenden Verödung der Neubauviertel in Plattenbauweise. Dort wurde versucht, mit teilweisem Rückbau und Umfeldaufwertungen eine Gesundung der Immobilienstruktur in der Stadt zu erreichen. Mit dem Bevölkerungswachstum schwächt sich mittlerweile dieser Trend ab, und die Plattenbauviertel erfahren sogar teilweise wieder eine punktuelle Verdichtung durch Neubauten. Bildung und Forschung Universität Leipzig Die 1409 gegründete Universität Leipzig (Alma Mater Lipsiensis) ist die zweitälteste durchgehend bestehende Universität auf dem Gebiet der heutigen Bundesrepublik Deutschland. Sie wurde 1953 in Karl-Marx-Universität umbenannt, 1991 wurde der Namenszusatz wieder entfernt. Anfang der 1990er Jahre wurde nach der Schließung der Deutschen Hochschule für Körperkultur (DHfK) als Ersatz eine Sportfakultät gegründet und die ehemalige Pädagogische Hochschule „Clara Zetkin“ angeschlossen. Die Universität hat 14 Fakultäten und einige angeschlossene Institute wie das Herder-Institut und das aus dem Literaturinstitut „Johannes R. Becher“ der DDR hervorgegangene Deutsche Literaturinstitut (DLL). An dieser im deutschsprachigen Raum einmaligen Lehranstalt werden in einem künstlerischen Studiengang Schriftsteller ausgebildet. 2009 fanden vom 9. Mai bis Mitte Dezember die Jubiläumsfeierlichkeiten zum 600. Geburtstag der Alma Mater Lipsiensis statt. An der Universität Leipzig waren im Wintersemester 2019/2020 3248 (11,2 %) der eingeschriebenen Studierenden ausländische Studierende. An der Leipziger Universität wurden einige bahnbrechende Forschungsleistungen erzielt. Hier unterrichteten unter anderem die Nobelpreisträger Werner Heisenberg, Gustav Hertz, Nathan Söderblom und Wilhelm Ostwald sowie der Begründer der experimentellen Psychologie Wilhelm Wundt. In den Fächern Soziologie und Psychologie wurde hier eine sogenannte „Leipziger Schule“ begründet. Prominente Studenten an der Universität waren unter anderem Georgius Agricola, Tycho Brahe, Johann Gottlieb Fichte, Johann Wolfgang von Goethe, Ulrich von Hutten, Erich Kästner, Gottfried Wilhelm Leibniz, Gotthold Ephraim Lessing, Karl Liebknecht, Angela Merkel, Thomas Müntzer, Friedrich Nietzsche, Novalis, Leopold von Ranke, Ferdinand de Saussure, Robert Schumann, Johann Gottfried Seume, Georg Philipp Telemann und Richard Wagner. Hochschulen Die Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig (HGB) wurde bereits 1764 als Zeichnungs-, Mahlerey- und Architecturakademie gegründet. Einer ihrer berühmtesten Studenten war Johann Wolfgang Goethe. 1901 wurde die Einrichtung in Königliche Akademie für graphische Künste und Buchgewerbe umbenannt, 1947 erhielt sie ihre heutige Ausprägung. Die HGB zählt zu den renommiertesten Kunsthochschulen Deutschlands. Nachdem sich hier bereits in den 1970er und 1980er Jahren mit der Leipziger Schule eine eigene Strömung in der Malerei gebildet hatte, werden seit Ende der 1990er Jahre Werke von Neo Rauch und anderen namhaften Künstlern als Neue Leipziger Schule bezeichnet. Die Hochschule für Musik und Theater „Felix Mendelssohn Bartholdy“ Leipzig entstand 1843 als Leipziger Konservatorium und war die erste höhere musikalische Bildungsstätte in Deutschland. Einer ihrer Mitbegründer war Felix Mendelssohn Bartholdy. 1992 wurde durch die Eingliederung der Theaterhochschule „Hans Otto“ das Ausbildungsprofil erweitert. Die Handelshochschule Leipzig (HHL) wurde am 25. April 1898 gegründet. Die seit 2012 auch unter dem Namen HHL Leipzig Graduate School of Management bekannte private Universität ist die älteste Business School Deutschlands und bildet Führungskräfte sowie Manager von Morgen aus. Neben Master- und MBA-Programmen beinhaltet das Programmportfolio auch Management-Weiterbildungen. Zudem befindet sich mit der Designhochschule eine private Akademie für die Bachelor-Studiengänge Game-, Grafik- und Modedesign in Leipzig. Die britische Lancaster University betreibt unter dem Namen Lancaster University Leipzig einen Studienstandort in Leipzig. Fachhochschulen Die Hochschule für Technik, Wirtschaft und Kultur Leipzig (HTWK) trägt seit 1992 ihren heutigen Namen und entstand aus der Technischen Hochschule Leipzig. Letztere wurde 1977 durch die Zusammenlegung der Hochschule für Bauwesen Leipzig, der Ingenieurhochschule Leipzig, der Fachschule für Bibliothekare und Buchhändler, der Fachschule für wissenschaftliches Bibliothekswesen sowie dem Institut für Museologie gebildet. Mit etwa 6300 (Stand Sommersemester 2009) immatrikulierten Studenten ist die HTWK Leipzig die größte Fachhochschule Sachsens. Die Hochschule für Telekommunikation (HfTL) ist eine Fachhochschule in privater Trägerschaft der Deutschen Telekom AG und wurde 1991 als Fachhochschule der Deutschen Bundespost TELEKOM durch den Freistaat Sachsen staatlich anerkannt. Weitere höhere Bildungseinrichtungen sind die AKAD-Fachhochschule Leipzig, die Hochschule für Kreativitätspädagogik (HfK), die Diploma Hochschule und die Studienakademie Leipzig, eine Zweigstelle der Berufsakademie Sachsen. 2008 eröffnete die Essener FOM – Hochschule für Oekonomie und Management ein Studienzentrum in Leipzig. Die Deutsche Hochschule für Prävention und Gesundheitsmanagement betreibt außerdem noch ein Studienzentrum in der Stadt. Im November 2017 eröffnet die SRH Fernhochschule – The Mobile University ein Studienzentrum in der Leipziger Innenstadt. Allgemeinbildende Schulen Aufgrund der wachsenden Einwohnerzahl ist auch die Anzahl der allgemeinbildenden Schulen in den letzten Jahren wieder gestiegen. So beherbergt die Stadt momentan 76 Grundschulen, 28 Oberschulen, 21 Gymnasien, 18 Förderschulen sowie eine freie Waldorfschule. Aufgrund der Bevölkerungsentwicklung fehlen demnächst 80 Schulen und 30 Kindergärten. Leipzig ist einer der Standorte der Bernd-Blindow-Schule, an denen berufliche Aus- und Weiterbildung, die Fachhochschulreife, das Abitur und sogar verschiedene Studiengänge angeboten werden. Deutsche Nationalbibliothek Leipzig Die Deutsche Bücherei wurde 1912 in Leipzig gegründet und diente bis zur deutschen Teilung als alleinige Sammelstätte für die gesamte deutschsprachige Literatur ab 1913. 1990 wurde sie in Die Deutsche Bibliothek integriert, seit 2006 ist sie Teil der Deutschen Nationalbibliothek (DNB), zu der die 1947 gegründete Deutsche Bibliothek in Frankfurt am Main und das 1970 gegründete Deutsche Musikarchiv gehören. Letzteres ist inzwischen von Berlin nach Leipzig umgezogen. Verkehr Leipzig war durch die Lage an der Kreuzung der Fernstraßen Via Regia und Via Imperii bereits frühzeitig ein wichtiger Verkehrsknotenpunkt. Die erste deutsche Fernbahnstrecke der Leipzig-Dresdner Eisenbahn-Compagnie führt seit 1839 von Leipzig nach Dresden. Insbesondere durch die nach der politischen Wende 1989/1990 investierten Mittel für die Modernisierung und den Ausbau der Fernstraßen-, Schienen- und Flugverkehrsanbindung kann Leipzig eine hervorragende Verkehrsinfrastruktur vorweisen. Die folgende Tabelle zeigt die Verteilung der in der Stadt zurückgelegten Wege auf die verschiedenen Verkehrsmittel (den sogenannten Modal Split) in ausgewählten Jahren seit 2003: Es ist festzustellen, dass der Anteil der im PKW zurückgelegten Wege zurückgegangen ist, während der Anteil von Fußverkehr, Radverkehr sowie öffentlichem Verkehr gestiegen ist. Der zuständige Bürgermeister Martin zur Nedden spricht von einer „positiven Entwicklung im Sinne der Leitlinien“. Schienenverkehr Der 1915 eröffnete Leipziger Hauptbahnhof ist hinsichtlich der überbauten Fläche der größte Kopfbahnhof Europas. Zugleich ist er ein überregional wichtiger Knotenpunkt im ICE- und Intercity-Netz der Deutschen Bahn sowie Verknüpfungspunkt des S-Bahn- und Regionalverkehrs im Ballungsraum Leipzig-Halle. Leipzig war in der Frühphase der Industrialisierung gemäß den Plänen des Nationalökonomen Friedrich List zum Zentrum des deutschen Schienenfernverkehrs auserkoren, demzufolge wurde hier auch die erste deutsche Fernstrecke (Leipzig-Dresden)1839 eröffnet. Daneben verfügt die Stadt mit dem Porticus des Bayerischen Bahnhofs über einen der ältesten europäischen Kopfbahnhöfe (Verkehr eingestellt). In Leipzig kreuzen sich die Intercity-Express-Strecken (Hamburg–) Berlin–Leipzig–Erfurt–Nürnberg–München und Dresden–Leipzig–Erfurt–Frankfurt am Main–(Wiesbaden/Saarbrücken) und befahren dabei zwischen Erfurt und Leipzig gemeinsam die Schnellfahrstrecke VDE 8 über den Flughafen Leipzig/Halle. Außerdem ist Leipzig Ausgangspunkt der Intercity-Linien Leipzig–Halle (Saale)–Magdeburg–Braunschweig–Hannover–Dortmund–Köln beziehungsweise Bremen–Oldenburg (–Norddeich Mole). Beide Linien ergänzen sich zum Stunden-Takt und halten am Flughafen Leipzig/Halle. Die einzige internationale Verbindung ist der täglich verkehrende Intercity Wien–Linz–Passau–Nürnberg–Saalfeld–Halle–Leipzig–Berlin–Rostock–(Warnemünde). Im Regionalverkehr sind die meisten Groß- und Mittelstädte in Sachsen sowie im südlichen Sachsen-Anhalt ohne Umsteigen erreichbar. Auch in Richtung Falkenberg/Elster–Cottbus beziehungsweise Hoyerswerda und Dessau–Magdeburg sowie Chemnitz bestehen Direktverbindungen durch Regional-Express-Linien. Das benachbarte Halle (Saale) ist über zwei S-Bahn-Linien, von denen eine stündlich über den Flughafen Leipzig/Halle verkehrt, erreichbar. Das Leipziger Umland wird durch zahlreiche Regionalbahn- und S-Bahn-Linien erschlossen. Die Bahnanbindung der Stadt wird zurzeit durch große Bauprojekte, insbesondere im Rahmen der Verkehrsprojekte Deutsche Einheit, stark verbessert. So wurde die Strecke nach Berlin ausgebaut und ist seit 2006 mit 200 km/h befahrbar. Am 13. Dezember 2015 wurde die für 300 km/h ausgelegte Hochgeschwindigkeitsstrecke von Leipzig nach Erfurt in Betrieb genommen. Die Fertigstellung deren Weiterführung nach Nürnberg erfolgte im Dezember 2017. Durch diese Einbindung in das Hochgeschwindigkeitsnetz wurden die Fahrzeiten der ICE von Leipzig in Richtung Nürnberg, München und Frankfurt am Main erheblich reduziert. Die Bahnstrecke Leipzig–Dresden, die 1839 als erste deutsche Fernbahn in Betrieb ging, befindet sich ebenfalls im Ausbau für 200 km/h. Bedeutendstes Bauvorhaben im Regionalverkehr war der im Dezember 2013 als Stammstrecke der S-Bahn Mitteldeutschland in Betrieb genommene, vier Kilometer lange City-Tunnel. Für den Güterverkehr gibt es Güterbahnhöfe in den Stadtteilen Wahren und Engelsdorf. Außerdem wurde in der Nähe des Schkeuditzer Kreuzes für den Warenumschlag zwischen Straße und Bahn ein großes Güterverkehrszentrum eingerichtet sowie ein Güterbahnhof auf dem Gelände des DHL-Hubs auf dem Flughafen Leipzig/Halle. S-Bahn Leipzig ist der Kern des Liniennetzes der S-Bahn Mitteldeutschland. Sechs der insgesamt elf Linien bilden zusammen mit der Straßenbahn das Rückgrat des öffentlichen Personennahverkehrs und eine wichtige Anbindung an die Region und ins benachbarte Halle. Stammstrecke der S-Bahn bilden die durch den City-Tunnel verbundenen unterirdischen S-Bahnhöfe Hauptbahnhof (tief), Markt, Wilhelm-Leuschner-Platz und Bayerischer Bahnhof sowie die oberirdische Station Leipzig MDR. Im Leipziger Stadtgebiet befinden sich insgesamt 30 S-Bahnhöfe. Endpunkte der S-Bahnstrecken sind unter anderem Oschatz, Zwickau, Geithain und Bitterfeld. Nach Halle verkehren zwei Linien, eine davon über den Flughafen Leipzig/Halle. 2015 erfolgen Erweiterungen des Netzes bis Dessau und Lutherstadt Wittenberg. Mit Fahrplanwechsel im Dezember 2004 wurden die Netze von Leipzig und Halle zur S-Bahn Leipzig-Halle zusammengefasst. Dieses Netz diente jedoch nur als Übergangslösung und wurde am 15. Dezember 2013 durch die S-Bahn Mitteldeutschland ersetzt. Gleichzeitig ging der als City-Tunnel Leipzig vermarktete Stammstreckentunnel in Betrieb. Der knapp vier Kilometer lange Tunnel unterquert die komplette Innenstadt vom Hauptbahnhof zum Bayerischen Bahnhof. Die S-Bahnhöfe liegen bis zu 22 Meter unter der Erde. Mit dem Bau wurde erstmals eine durchgängige Nord-Süd-Achse hergestellt, die durch den nach Norden ausgerichteten Kopfbahnhof bisher nicht existierte. Die Anbindung an den Süden der Stadt und des Bundeslandes wird dadurch stark verbessert. Straßenbahn und Bus Die seit dem 1. Januar 1917 bestehenden Leipziger Verkehrsbetriebe (LVB) unterhalten in der Stadt insgesamt 13 Straßenbahnlinien, 51 Buslinien und zwei Ridepooling-Bediengebiete. Auf wichtigen Straßenbahnstrecken, die einen Stadtbahnausbau erlauben, wird dieser nach und nach vorangetrieben. Dieser Ausbau ist bei den Linien 15 (mit Ausnahme von zwei Teilstücken) und 16 bereits erfolgt. Die Linien 11 und 7 (Ostabschnitt) sind die nächsten Strecken, auf denen der Stadtbahnausbau vorgesehen ist. Darüber hinaus finden an weiteren Linien Ausbauarbeiten statt. Es wurden jedoch einige weniger stark frequentierte Straßenbahnlinien eingestellt. Der Nordabschnitt der Linie 14 wurde im Dezember 2008 aufgegeben – dagegen ist der Westabschnitt selbiger Linie erhalten geblieben. Im Oktober 2010 wurden im Zuge der Einführung des neuen Busnetzes die Linien 2 und 8 auf ihrem jeweiligen Westabschnitt um einige Haltestellen gekürzt. Die Busnetzreform vom Oktober 2010 war eine Reaktion auf die sich verschiebende Einwohnerverteilung in den Stadtteilen sowie die bevorstehenden Veränderungen im S-Bahn-Netz. Nach der Einführung der neuen S-Bahn Mitteldeutschland wurde 2015 die Straßenbahnlinie 9 zwischen Connewitz und Markkleeberg-West eingestellt. Insgesamt umfasst das Straßenbahnnetz eine Streckenlänge von 146 Kilometern und ist damit vor Dresden mit 134,3 Kilometern das größte in Sachsen und das zweitgrößte in Deutschland (nach Berlin mit 193,6 km). Die längste Linie im Leipziger Netz ist die Linie 11, die auf 22 Kilometern Schkeuditz mit Markkleeberg-Ost verbindet und dabei als einzige Leipziger Straßenbahnlinie in drei Tarifzonen des Mitteldeutschen Verkehrsverbundes fährt. Die LVB modernisieren seit Jahren ihren Fuhrpark, insbesondere mit dem NGT12 („Classic XXL“), dem Leoliner und dem Tramino („XL“). Im Nachtverkehr verkehren die Nachtbuslinien N1 bis N9 sowie die Nachtstraßenbahn N17. An Samstagen, Sonn- und Feiertagen verkehren zusätzlich die Straßenbahnlinie N10 und die Buslinie N60. Zentraler Umsteigepunkt zwischen den Bus- und Straßenbahnlinien sowie zur S-Bahn ist der Hauptbahnhof Leipzig. Radverkehr Der Anteil des Radverkehrs am gesamten Verkehrsaufkommen betrug 2015 in Leipzig 17,3 Prozent. Einmal im Monat findet in Leipzig eine Critical Mass statt, um gemeinsam auf den Radverkehr als Form des Individualverkehrs aufmerksam zu machen. Seit 2004 gibt es mit Nextbike ein Fahrradverleihsystem. Die Ausleihe und Rückgabe ist per Smartphone-App oder telefonisch möglich. Seit 2018 ermöglicht das System die flexible Ausleihe und Rückgabe im inneren Stadtgebiet. Damit können in dieser Zone die Räder an nahezu jeder Straßenecke abgegeben und wieder ausgeliehen werden. Außerhalb dieser Zonen bestehen Stationen, an denen Räder bereitstehen. Die aktuellen Standorte der Räder sind über die App ersichtlich. Das Lastenradkollektiv Kolara verleiht Lastenräder. Es gibt Kooperationsangebote mit den Leipziger Verkehrsbetrieben und Carsharing, um eine möglichst lückenlose Mobilitätskette zu bieten. Fußverkehr Der Anteil des Fußverkehrs am gesamten Verkehrsaufkommen betrug 2008 in Leipzig 27,3 Prozent und im Jahr 2015 25,4 Prozent. Ziel für 2025 sind 27 Prozent. Straßenverkehr An Leipzig führen mehrere Bundesautobahnen vorbei: im Norden die , im Westen die und im Süden die . Die drei Autobahnen bilden einen dreieckigen Teilring des Autobahndoppelringes Mitteldeutsche Schleife um Halle und Leipzig. In Richtung Süden nach Chemnitz ist die bis Rötha noch in Bau. Außerdem wird derzeit eine bestandsnahe Neutrassierung der in Taucha geplant. Auch die nach Merseburg soll neu trassiert werden. Durch das Stadtgebiet führen die Bundesstraßen , , , , und . Der Ring, der dem Verlauf der alten Stadtbefestigung entspricht, umführt die Innenstadt Leipzigs, die in weiten Teilen verkehrsberuhigt ist. Neben dem üblichen Taxi-Angebot verfügt Leipzig über ein dichtes Netz an Carsharing-Stationen sowie ein Carsharing-Freefloating-Angebot. Bis Anfang 2022 gab es in Leipzig auch ein individuell über App buchbares Ridepooling-Angebot. Flugverkehr Der Leipzig/Halle Airport ist der internationale Verkehrsflughafen der gleichnamigen Region. Er befindet sich am Schkeuditzer Kreuz nordwestlich von Leipzig auf halber Strecke zwischen den beiden Großstädten. Durch den östlichsten Abschnitt der Neubaustrecke Erfurt–Leipzig/Halle erhielt der Flughafen einen Fernbahnhof, der 2015 mit deren Fertigstellung in das ICE-Netz eingebunden wurde. Angeflogen werden im Passagierbereich die großen deutschen Drehkreuzflughäfen, europäische Metropolen und Ferienziele vor allem im Mittelmeerraum und Nordafrika. Internationale Bedeutung hat der Flughafen im Frachtbereich. Hier belegt er in Deutschland den zweiten Platz nach Frankfurt am Main, in Europa den fünften und weltweit den 26. Platz (Stand 2015). DHL nutzt den Flughafen als zentralen Europa-Hub. Außerdem ist er die Heimatbasis der Frachtfluggesellschaften Aerologic und European Air Transport Leipzig. Der Flughafen Leipzig-Altenburg befindet sich etwa 40 Kilometer südlich der Innenstadt der Nähe der ostthüringischen Stadt Altenburg. Bis 2010/2011 bot Ryanair dort Verbindungen nach Barcelona und London. Fernbusse Seit März 2018 gibt es unmittelbar östlich des Leipziger Hauptbahnhofs einen zentralen Busbahnhof. Das neue Terminal bietet neun überdachte Bussteige – sogenannte Gates. Neben einer Vielzahl nationaler, bedienen einige internationale Linien Leipzig. So können unter anderem die Städte Bregenz, Budapest, Mailand, Prag, Sofia oder Zürich umsteigefrei erreicht werden. Erwartet werden am neuen Busbahnhof pro Jahr rund 30.000 Fahrten und 1,5 Millionen Passagiere. Einige Linien nutzen den am Autobahnkreuz A9/A14 gelegenen Flughafen Leipzig/Halle und die Leipziger Messe für einen Stopp. Passagiere können von dort mit der S-Bahn die Innenstadt erreichen. Schifffahrt In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde der Bau des Elster-Saale-Kanals, der Weiße Elster und Saale verbinden sollte, begonnen, um Leipzig an das Wasserstraßennetz anzuschließen. Der Ausbruch des Zweiten Weltkrieges stoppte die Arbeiten. Der Lindenauer Hafen war zwar fast fertiggestellt, aber noch nicht an den Elster-Saale- und erst 2015 an den Karl-Heine-Kanal angeschlossen worden. Die Leipziger Flüsse (Weiße Elster, Neue Luppe, Pleiße, Parthe) haben im Stadtraum größtenteils künstliche Flussbetten und werden durch einige Kanäle ergänzt. Diese Wasserwege eignen sich nur für muskelbetriebene Boote. Durch die Anlage neuer und den Ausbau vorhandener Gräben und Fließgewässer im Süden der Stadt und die Verbindung gefluteter Tagebaurestlöcher soll ein Gewässerverbund entstehen. Mehrfach geplant war weiterhin die Fertigstellung des Elster-Saale-Kanals. Ein solcher Schritt würde es Sportbooten ermöglichen, von Leipzig bis zur Elbe (Von der Elster an die Alster) zu gelangen. Im Februar 2012 wurde eine Potenzialanalyse vorgestellt. Sie sieht Chancen für den Tourismus in der Region, in der Diskussion stehen jährlich eine halbe Million Touristen und Kosten von ca. 100 Millionen Euro. Tourismus Leipzig ist ein beliebtes Ziel für Städtereisen und besitzt eine ausgebaute touristische Infrastruktur. 2016 besuchten rund 1,5 Millionen Touristen die Stadt bei etwa 2,8 Millionen Übernachtungen; es gab 122 Hotels/Pensionen mit 15.000 Betten. Die Zahlen konnten seit 2012 stetig gesteigert werden. Der Umsatz im Gastgewerbe und die zusätzlichen Umsätze durch Gäste in der Stadt betrugen 1,1 Milliarden Euro (2012). Die meisten Touristen (Werte 2012) kommen dabei aus anderen Teilen Deutschlands (ca. 840.000). Gäste aus anderen europäischen Staaten stammen zum großen Teil aus Großbritannien (ca. 11.800) und den Niederlanden (ca. 11.000), interkontinental sind US-Amerikaner (ca. 25.000) und Japaner (ca. 5600) am stärksten vertreten. In der neuesten Auflage von 2021 des Reiseführers „Lonely Planet“ des Verlags MairDumont belegt Leipzig in der Topliste der 250 beliebtesten Reiseziele in Deutschland den ersten Platz. Der Lutherweg, die Straße der Braunkohle, der Radweg Berlin–Leipzig und der Elster-Radweg sind die wichtigsten Themen- bzw. Radwege, die Leipzig kreuzen bzw. dort enden. Der Radwanderweg Grüner Ring Leipzig umrundet die Stadt und führt durch umliegende Städte und Gemeinden. Kultur und Sehenswürdigkeiten Lokale Besonderheiten Sprache In Leipzig wird teilweise osterländisch gesprochen. Dieser Dialekt gehört zur thüringisch-obersächsischen Dialektgruppe. Ein über die Grenzen Sachsens bekanntes Lied in Leipziger Sprache war „Sing, mei Sachse, sing“ des Kabarettisten Jürgen Hart. Die Leipziger Kabarettbühnen bieten regelmäßig Programme in sächsischer Sprache, beispielsweise die bekannten Academixer sowie Bernd-Lutz Lange und Gunter Böhnke mit ihren Bühnenpartnern. Von den in Leipziger Mundart schreibenden Autoren ist vor allem Lene Voigt einem breiteren Publikum bekannt. Im örtlichen Dialekt klingt der Name der Stadt etwa wie „Laibzsch“. Kulinarische Spezialitäten Leipzig hat mehrere lokale Spezialitäten zu bieten, darunter das Leipziger Allerlei, die Leipziger Lerche und die Leipziger Gose. Das Leipziger Allerlei ist ein gemischtes Gemüse, das in der Originalversion mit Flusskrebsen, Krebsbutter und Semmelklößchen angerichtet wurde. Die Leipziger Lerchen wurden im 18. und 19. Jahrhundert tatsächlich aus Singvögeln hergestellt. Diese wurden beispielsweise als gefüllte Pasteten gereicht. Nachdem 1876 ein Fangverbot für Singvögel verhängt worden war, entwickelten findige Bäcker ein feines Gebäck, das aus Mürbeteig mit Marzipanfüllung besteht und nur noch in der Form an die damaligen Pasteten erinnert. Eine weniger bekannte süße Köstlichkeit sind die Leipziger Räbchen, in heißem Öl ausgebackene, mit Marzipan gefüllte Dörrpflaumen. Die Gose ist ein ursprünglich aus Goslar stammendes obergäriges Bier, das zu DDR-Zeiten kaum noch gebraut wurde, nun aber wieder vermehrt als Spezialität in Gasthäusern gereicht wird. Außerdem gibt es den Leipziger Allasch, einen ursprünglich aus dem Baltikum stammendem Kümmellikör. Dieser wird oft mit der Gose gemixt, so entsteht der „Regenschirm“. Museen und Ausstellungen Museen Wegen ihrer Geschichte als alte Universitäts- und Messestadt mit einem wohlhabenden Bürgertum gibt es in Leipzig eine große Anzahl bedeutender Sammlungen und Ausstellungen. Die Museumskonzeption 2030 der Stadt Leipzig sieht unter anderem vor, dass die Besuche der vier städtischen Museen zukünftig kostenlos sind. Das Deutsche Buch- und Schriftmuseum der Deutschen Bücherei Leipzig ist das weltweit älteste Fachmuseum zur Buch-, Schrift- und Papierkultur und erinnert zusammen mit dem Museum für Druckkunst an die Leipziger Tradition als Buchstadt. 2018 wurde das Reclam-Museum eröffnet, in dessen Mittelpunkt die 1876 begründete Reclams Universal-Bibliothek steht. Die Universität Leipzig besitzt eine Reihe bedeutender Sammlungen. Einige, wie das Ägyptische Museum, das Antikenmuseum und das Museum für Musikinstrumente, sind permanent der Öffentlichkeit zugänglich. Anlässlich der Museumsnacht der Stadt Leipzig präsentiert die Universität ihre Lehrsammlungen einem breiten Publikum. Die HTWK unterhält ein Automatik-Museum. Das Stadtgeschichtliche Museum ist im Alten Rathaus beheimatet. Darüber hinaus besitzt es Nebenstellen mit dem ältesten Kaffeehaus Deutschlands Zum Arabischen Coffe Baum, dem Schillerhaus, in dem Friedrich Schiller den Sommer 1785 verbrachte, dem 1977 gegründeten Sportmuseum Leipzig und dem Völkerschlachtdenkmal. Das Zeitgeschichtliche Forum in der Innenstadt untersteht als Bundeseinrichtung dem Bundeskanzleramt. Es stellt die Geschichte Deutschlands vom Zweiten Weltkrieg bis zur Gegenwart mit Schwerpunkt auf der Geschichte der DDR dar. Die Gedenkstätte Museum in der „Runden Ecke“ im ehemaligen Sitz der Bezirksverwaltung des Ministeriums für Staatssicherheit arbeitet die Mechanismen des Repressionsapparats in der DDR auf. Zum Thema der Völkerschlacht gibt es in Leipzig und Umgebung noch weitere Museen, wie das Zinnfigurenmuseum im Torhaus Dölitz, das Sanitäts- und Lazarettmuseum Seifertshain, das Körnerhaus Großzschocher, das Memorialmuseum Liebertwolkwitz und das Regionalmuseum im Torhaus Markkleeberg. Im Komplex des Grassimuseums befinden sich neben dem Musikinstrumentenmuseum auch das Museum für Angewandte Kunst und das Museum für Völkerkunde zu Leipzig. Das Naturkundemuseum Leipzig besitzt eine große Sammlung an Dermoplastiken und ergänzt dieses Angebot durch wechselnde Sonderausstellungen zu Naturthemen. Das Deutsche Kleingärtnermuseum befindet sich im Vereinshaus des 1864 gegründeten, weltweit ersten Schrebergartenvereins. Im Panometer, einem 1910 erbauten und 1977 stillgelegten Gasometer, ist das größte Panoramagemälde der Welt zu sehen. Yadegar Asisi hat hier von 2003 bis 2005 das Panorama 8848Everest360° des Mount Everest und von 2005 bis Februar 2009 Rom CCCXII und zwischen März 2009 und August 2013 Amazonien gezeigt. Im März bis Juni 2012 war mit EVEREST – Erlebnis zwischen Expedition und Tradition eine überarbeitete Version des Everest-Panoramas von 2003 nochmals zu sehen. Von August bis September 2013 war Leipzig 1813 zu besichtigen, danach das Great Barrier Reef, seit Januar 2017 das Wrack der Titanic und seit Anfang 2019 Carolas Garten. Seit 2000 gibt es das Da Capo Oldtimermuseum & Eventhalle. Das 2010 eröffnete Kindermuseum Leipzig bietet wechselnde Ausstellungen zu Themen, die Kinder interessieren. Außerdem gibt es mit dem Mitspielzeugmuseum eine große Sammlung historischer Spielzeuge aus der DDR und den ehemaligen Staaten des Ostblocks. Zur Erinnerung an die gleichnamigen Komponisten und Musiker existieren Ausstellungen im Schumann- und im Mendelssohn-Haus sowie das Bach-Archiv und das Bach-Museum. Weiterhin gibt es das Sächsische Psychiatriemuseum, das Sächsische Apothekenmuseum, die Medizinhistorische Sammlung des Karl-Sudhoff-Instituts, das Schulmuseum, das Eisenbahnmuseum, das N’Ostalgiemuseum, das Kriminalmuseum des Mittelalters und das Reichsgerichtsmuseum. Das Privatmuseum Haus der Computerspiele hat keine festen Räumlichkeiten, erreicht aber als Wanderausstellung auf Messen und Festivals jährlich mehrere hunderttausend Besucher. Bildende Kunst Das 1837 durch den Leipziger Kunstverein gegründete Museum der bildenden Künste besitzt eine der eindrucksvollsten Bildersammlungen Deutschlands, die etwa 58.500 Exponate vom Spätmittelalter bis zur Moderne zeigt, darunter einige Exponate der Neuen Leipziger Schule, deren bekanntester Vertreter wohl Neo Rauch ist. Die 1990 gegründete Galerie für Zeitgenössische Kunst ergänzt dieses Angebot mit wechselnden Ausstellungen moderner und zeitgenössischer Kunst. Im Mai 2005 eröffnete in der Baumwollspinnerei in Lindenau ein Galeriezentrum. Elf kommerzielle und zwei nicht-kommerzielle Kunsträume präsentieren zeitgenössische Arbeiten. Rund 80 Künstler unterhalten auf dem Gelände Ateliers. Weitere kommerzielle Kunstzentren befinden sich im Tapetenwerk Leipzig, der Alten Handelsschule mit der LSOD Leipzig School of Design, dem Westwerk und im Kunstkraftwerk am Karl-Heine-Kanal. 2015 wurde die erste Leipziger Kunstmesse eröffnet, und findet seitdem jährlich statt. Darüber hinaus gibt es im Stadtgebiet zahlreiche Galerien, Kunstvereine und temporäre Projekte, die für einen regen Ausstellungsbetrieb sorgen, etwa die Universität mit einer ständigen Ausstellung von Stücken aus ihrer Kunstsammlung und die Kunsthalle der Sparkasse Leipzig. Die G2 Kunsthalle am Thomaskirchhof eröffnete im März 2015 als Privatmuseum und zeigt Positionen zur zeitgenössischen Kunst. Um die Kunst zu fördern und zu diskutieren, wurde am 17. Juni 1992 die Freie Akademie der Künste zu Leipzig nach dem Vorbild der Freien Akademie der Künste in Hamburg gegründet. Musik und Theater Theater und Oper Von Leipzig aus reformierten im 18. Jahrhundert Friederike Caroline Neuber und Johann Christoph Gottsched die deutsche Theaterlandschaft. So verfügt das Schauspiel Leipzig über mehrere Spielstätten. Zu dem städtischen Betrieb gehören neben der großen Bühne im Schauspielhaus auch kleinere Spielstätten wie die Diskothek, die Baustelle und die Residenz. Das Schauspiel Leipzig wird seit 2013/2014 von Enrico Lübbe geleitet und gehört zu den führenden Sprechtheatern im deutschsprachigen Raum mit Einladungen zum Berliner Theatertreffen, den Mülheimer Theatertagen, Ruhrfestspielen Recklinghausen, Autorentheatertagen Berlin, Heidelberger Stückemarkt und Biennale in Venedig. Zudem gibt es in Leipzig eine lebendige Off-Theater-Szene mit zahlreichen freien Theatergruppen und mehreren kleineren Spielstätten (LOFFT, Schaubühne Lindenfels, Ost-Passage Theater und weitere). Eine Reihe freier Choreographinnen und Tänzerinnen sorgen für ambitioniertes Tanztheater, seit 1967 existiert das Leipziger Tanztheater. Teile der Off-Kultur haben sich zur Interessengemeinschaft Freie Szene Leipzig zusammengeschlossen. Das Kinder- und Jugendtheater hat in Leipzig eine lange Tradition. Hauptträger ist das Theater der Jungen Welt, darüber hinaus gibt es einige Puppen- und Marionettentheater. Leipzig war und ist partiell immer noch eines der Zentren der deutschsprachigen Kabarett-, Varieté- und Kleinkunstszene. Zu den überregional bekannten Kabaretts zählen die Leipziger Pfeffermühle und die Academixer. Des Weiteren bestehen noch die Kabaretts Sanftwut, Leipziger Funzel und Leipziger Brettl. Die Oper in Leipzig blickt auf eine über dreihundertjährige Tradition zurück. Das erste Opernhaus am Brühl wurde 1693 errichtet. Nach dem Teatro San Cassiano in Venedig und der Oper am Gänsemarkt Hamburg war dies das dritte bürgerliche Opernhaus. Neben dem in Leipzig geborenen Richard Wagner ist die Geschichte der Oper in Leipzig verknüpft mit Komponisten wie Georg Philipp Telemann, Heinrich Marschner und Albert Lortzing. Das heutige Opernhaus (Leipzig) wurde 1960 am Augustusplatz an der Stelle des im Zweiten Weltkrieg zerstörten Neuen Theaters fertiggestellt. Das Gewandhausorchester spielt seit 1840 bei allen Vorstellungen der Oper Leipzig. Ulf Schirmer ist ab der Spielzeit 2009/2010 Generalmusikdirektor der Oper Leipzig und wurde zur Spielzeit 2011/2012 auch Intendant des traditionsreichen Musiktheaters. Das Repertoire der Oper Leipzig reicht vom Barock bis zur Gegenwart. Das Kellertheater der Oper Leipzig ist die kleine, experimentelle Spielstätte mit 99 Plätzen für Produktionen der Oper Leipzig, unter anderem des Kinderchors der Oper Leipzig, kleineren szenischen Produktionen des Opernensembles, aber auch von Gastproduktionen freier Ensembles, so auch von Heike Hennig & Co. Aufgrund von Sparmaßnahmen wird das Kellertheater jedoch seit einigen Spielzeiten nicht mehr bespielt. Die Musikalische Komödie (MuKo) im Haus Dreilinden in Lindenau, die zur Oper Leipzig gehört, hat eine bis 1713 zurückgehende Geschichte. Hier werden Operette und Musical gepflegt, aber auch die deutsche Spieloper. Orchester Das Gewandhausorchester ist eines der international renommiertesten Orchester. Als ältestes bürgerliches Konzertorchester Deutschlands wurde es 1781 gegründet. Das Gewandhausorchester hat drei Spielstätten: das Gewandhaus, die Oper Leipzig und die Thomaskirche. Chefdirigenten waren unter anderem Felix Mendelssohn Bartholdy, Arthur Nikisch, Wilhelm Furtwängler, Bruno Walter, Václav Neumann, Kurt Masur, Herbert Blomstedt und Riccardo Chailly, seit 2018 hat Andris Nelsons das Amt des Gewandhauskapellmeisters (Chefdirigent des Gewandhausorchesters) inne. Ulf Schirmer ist seit der Spielzeit 2009/2010 Generalmusikdirektor an der Oper Leipzig. Das Neue Bachische Collegium Musicum wurde 1979 von Mitgliedern des Gewandhausorchesters gegründet. Als „historisches Bachorchester“ kombiniert es moderne Instrumente und „historische“ Spielweise, von 2004 bis 2013 wurde es von Albrecht Winter geleitet. Seitdem arbeitet es ohne festen künstlerischen Leiter. Das MDR-Sinfonieorchester wurde 1924 als Leipziger Sinfonieorchester gegründet. Es trat dabei die Nachfolge des seit 1915 existierenden Orchesters des Konzertvereins an. 1925 wurde es von der damaligen Mitteldeutschen Rundfunk AG übernommen und als Rundfunk-Sinfonieorchester Leipzig bekannt. Chefdirigent war unter anderem Herbert Kegel, Kristjan Järvi leitete das Orchester bis 2018. Nach Gründung des Mitteldeutschen Rundfunks 1991 erhielt es seinen neuen Namen. Die aus Musikern des Rundfunk-Sinfonieorchesters zusammengesetzte und von 1970 bis 1993 bestehende Gruppe Neue Musik Hanns Eisler gehörte zu den bedeutendsten Interpreten Neuer Musik in der DDR. Mitglieder der Gruppe gründeten 1990 das Forum Zeitgenössischer Musik Leipzig. Weiterhin war bis 1993 das Leipziger Consort und ist seit 1992 das Ensemble Sortisatio Träger Neuer Musik in Leipzig. Die Capella Fidicinia am Musikinstrumenten-Museum der Universität Leipzig wurde von Hans Grüß 1957 gegründet. Das Kammerorchester spielt Werke alter Meister auf Originalinstrumenten. Das Akademische Orchester Leipzig wurde 1954 von Horst Förster an der Universität Leipzig ins Leben gerufen, der es weiterhin leitet. Es gibt jährlich sechs „Akademische Konzerte“ im großen Saal des Gewandhauses. Bereits 1951 wurde das Leipziger Lehrerorchester durch Karl Winkler gegründet und ist somit das älteste Laiensinfonieorchester der Stadt, welches von Gerd-Eckehard Meißner geleitet wird und ebenfalls im Gewandhaus auftritt. Die Berufszugehörigkeit spielt keine Rolle mehr, der Name wird aus Tradition beibehalten. Das Leipziger Universitätsorchester entstand 2003 als Leipziger studentisches Orchester. Es ist studentisch besetzt und gibt ein großes Sinfoniekonzert pro Semester sowie Kammermusikabende. Das Pauliner Kammerorchester wurde 1992 gegründet und stand bis 2004 unter der Leitung von Wolfgang Unger. Es steht dem Universitätschor mit modernen Instrumenten zur Verfügung. Das Pauliner Barockensemble wurde 1994 aus dem Pauliner Kammerorchester heraus gebildet und musiziert ausschließlich auf historischem Instrumentarium. Das Jugendsinfonieorchester der Leipziger Musikschule gehört ebenfalls zu den bekannteren der Leipziger Orchesterszene. Die Kammerphilharmonie Leipzig besteht aus Musikern, die an der Hochschule für Musik und Theater „Felix Mendelssohn Bartholdy“ Leipzig studieren oder diese absolviert haben. Das seit 2001 bestehende Orchester konzertiert im Großen Saal des Leipziger Gewandhauses und im Konzerthaus Berlin; Konzertreisen führten unter anderem nach China und Indien. Die Kammerphilharmonie arbeitet unter der Leitung von Michael Köhler. Das Leipziger Streichquartett wurde 1988 von damaligen Studenten der Leipziger Hochschule für Musik und Theater und späteren Mitgliedern des Gewandhausorchesters gegründet. Es ist ein international anerkannter Bestandteil der Kammermusikszene. Das Ensemble Avantgarde um den Komponisten und Pianisten Steffen Schleiermacher war bis 2007 eine Vereinigung von Musikern verschiedener Leipziger Orchester, die sich der Musik des 20. Jahrhunderts widmete. Es gründete die Konzertreihe musica nova am Leipziger Gewandhaus. Seit 1957 organisiert der Verein Jugend- & Blasorchester Leipzig e. V. mehrere Ensembles des Laienmusizierens in der Stadt: die Pfiffigen Musikusse, das Symphonische Blasorchester Leipzig sowie die ISKRA Oldstars. Chöre Der weltberühmte Thomanerchor wurde 1212 zusammen mit der Thomasschule als Klosterschule für zwölf Knaben gegründet und mit der Reformation 1519 vom Stadtrat übernommen. Der bekannteste Thomaskantor war der Leipziger Musikdirektor Johann Sebastian Bach, der diese Stellung von 1723 bis zu seinem Tod 1750 innehatte. Es singen etwa 100 Thomaner im Alter von 9 bis 18 Jahren im Chor, der dreimal in der Woche in der Thomaskirche auftritt. Der GewandhausChor wurde 1861 durch Gewandhauskapellmeister Carl Reinecke gegründet und 1920 mit dem 1875 gegründeten Bach-Verein fusioniert. Die Leitung hat seit August 2007 Gregor Meyer in der Nachfolge Morten Schuldt-Jensens inne. Der 1973 gegründete GewandhausKinderchor zählt zu den Kinderchören Deutschlands mit internationalem Renommee. Der MDR-Rundfunkchor Leipzig entstand 1924 als Leipziger Oratorienvereinigung. Nach der Auflösung 1942 wurden im August 1946 die verbliebenen Künstler als Kammerchor des Senders Leipzig durch den Mitteldeutschen Rundfunk übernommen. Ab 1947 firmierte er als Rundfunkchor Leipzig. Unter der Leitung von Herbert Kegel, der den Chor von 1949 bis 1978 führte, etablierte sich das Ensemble als europäischer Spitzenchor. Seinen heutigen Namen trägt er seit der Neugründung des Mitteldeutschen Rundfunks und der gleichzeitigen Übernahme des Chors am 1. Januar 1992. Derzeitiger künstlerischer Leiter ist Risto Joost. Der MDR-Kinderchor wurde 1948 von Hans Sandig gegründet und ist der einzige Kinderchor der ARD. Derzeit leitet Alexander Schmitt das Ensemble. Der Leipziger Universitätschor ging 1926 aus dem Madrigalkreis Leipziger Studenten hervor. Sein Leiter ist der Universitätsmusikdirektor David Timm. Unter der Leitung des inzwischen verstorbenen Wolfgang Unger erhielt der Chor im Jahr 2001 den von der Deutschen Phono-Akademie vergebenen ECHO-Klassik-Preis. Der Leipziger Studentenchor Vivat academia wurde 1954 gegründet und vereint Studierende vieler Leipziger Hochschulen. Er arbeitet seit 2009 als Philharmonischer Jugendchor Leipzig, ist an der Hochschule für Telekommunikation Leipzig ansässig und wird von Marcus Friedrich geleitet. Der Leipziger Oratorienchor wurde 1993 als Laienchor gegründet und wird seither von Martin Krumbiegel geleitet. Als gemeinnütziger Verein wird er sowohl von seinen Mitgliedern wie auch aus Mitteln der Stadt getragen. Der 1962 von Oberkantor Werner Sander gegründete und seit 2012 von Ludwig Böhme geleitete Leipziger Synagogalchor stellt sich der Aufgabe, synagogale Musik des 19. und 20. Jahrhunderts sowie jiddische und hebräische Folklore als besonders wertvollen Bestandteil des jüdisch-kulturellen Erbes nicht nur in Leipzig zu erhalten und zu pflegen. Der Leipziger Männerchor wurde 1891 von Gustav Wohlgemuth gegründet. Die Schola Cantorum Leipzig ist der Kinder- und Jugendchor der Stadt Leipzig. 1963 gegründet, besteht sie aus über 300 singenden Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Unesco-Initiative Musikstadt Leipzig war und ist eine bedeutende Musikstadt. So erinnert das Bach-Archiv Leipzig am Thomaskirchhof mit einem Bach-Museum im Bosehaus – die Familie Bose war eng mit der Familie Bach befreundet – an eine der bedeutendsten Persönlichkeiten der Stadt. Eine Besonderheit in Leipzig ist, dass eine Vielzahl an Komponistenhäusern erhalten geblieben ist, in den meisten sind Museen eingerichtet worden: so das Wohn- und Sterbehaus von Felix Mendelssohn Bartholdy, das als Mendelssohn-Haus der Öffentlichkeit zugänglich ist, das Schumann-Haus, wo Robert und Clara Schumann ihre ersten vier Ehejahre verbrachten, und die Talstraße 10, wo sich die Edvard-Grieg-Gedenk- und Begegnungsstätte befindet. Die Wohnorte von Gustav Mahler und Erwin Schulhoff befinden sich unweit der Innenstadt im Waldstraßenviertel, hier erinnern Gedenktafeln an die Komponisten. Das Geburtshaus Richard Wagners am Brühl existiert zwar nicht mehr, aber auch dort erinnern eine Gedenktafel und ein Platz an den Musiker. Albert Lortzing hatte gleich mehrere Wohnstätten in Leipzig, zumeist im Waldstraßenviertel. Um das musikalische Erbe besser zu vermarkten, wurde eine UNESCO-Initiative gegründet, die Leipzig zu einem Welterbetitel verhelfen möchte. Zu diesem Zweck werden momentan mehrere Routen durch Leipzig geplant. Zum einen die „Notenspur“. Diese stellt einen etwa 5,1 Kilometer langen Spaziergang dar, der die Arbeits- oder Wohnorte der Komponisten beziehungsweise andere musikalischer Objekte von überregionaler Bedeutung miteinander verbindet. Zu den Einrichtungen gehören neben den Komponistenhäusern die Nikolai- und Thomaskirche als Uraufführungsorte der Werke von Bach, die Musikbibliothek Peters, das Gewandhaus, die Oper und das Café Zum Arabischen Coffe Baum. Der zweite Spaziergang, der „Notenbogen“, ist etwa fünf Kilometer lang und verbindet unter anderen das Alte Bachdenkmal, die Hochschule für Musik und Theater „Felix Mendelssohn Bartholdy“ als Wirkungsstätte Max Regers und die Blindenmusikbibliothek der Deutschen Zentralbibliothek für Blinde. Als Letztes ist noch ein Radweg geplant: das „Notenrad“. Es ist in zwei Schleifen gegliedert, die westliche und die östliche, wobei beide ungefähr die gleiche Länge haben und an das Stadtzentrum angeschlossen sind. Sie führen zum Beispiel von der Thomaskirche bis zum (ehemaligen) Rittergut Kleinzschocher. Verbände Als bedeutende Musikstadt haben sich in Leipzig die sächsischen Landesverbände des deutschen Tonkünstlerverbandes und des Verbandes Deutscher Musikschulen sowie der Sächsische Musikbund niedergelassen. Freizeit und Unterhaltung Kino Leipzig besitzt eine lebendige Kinoszene. Internationale Bedeutung gewann das seit 1955 alljährlich stattfindende Festival für Dokumentar- und Animationsfilm. Nach zunehmender Beeinflussung des Festivalprogramms durch staatliche Organe der DDR in den Jahren ab 1968 entwickelte es sich nach der Wiedervereinigung mit modernisierter Ausrichtung erneut zu einem Publikumsmagneten. Neben größeren Kinos, wie CineStar und Passage Kinos im Zentrum, Regina Filmpalast in Reudnitz und Cineplex Leipzig in Grünau präsentieren zahlreiche Programmkinos Filme für kleinere Zielgruppen. Eine Mischform stellt das Filmtheater Schauburg in Kleinzschocher dar. Einmal jährlich finden seit 1995 in mehreren Spielstätten des Großraumes Halle-Leipzig die Französischen Filmtage statt. Seit 2001 wird in Leipzig jährlich die Filmkunstmesse ausgerichtet. Im Sommer finden an verschiedenen Orten unter freiem Himmel Kinovorführungen statt. Zudem findet seit 1991 jährlich die Visionale Leipzig, ein Medienwettbewerb für Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene, statt. Nachtleben Das alltägliche kulturelle Leben spielt sich vor allem in der Innenstadt, in der Gottschedstraße und der Südvorstadt entlang der Karl-Liebknecht-Straße bis zum Stadtteil Connewitz sowie in Plagwitz entlang der Karl-Heine-Straße ab. Im Jahr 2018 schaffte der Leipziger Stadtrat die Sperrstunde für Gastronomiebetriebe und Clubs ab. Ganz besonders in den Abend- und Nachtstunden der Sommermonate lässt sich im Barfußgäßchen und in der Gottschedstraße, wenn die Freisitze gefüllt sind, ein vitales Straßenleben erleben. Durch den Verfall der Bausubstanz während der DDR-Zeit sind viele ehemalige Kulturhäuser in den Stadtteilen verschwunden, so dass Leipzig nur noch eine begrenzte Anzahl an größeren Sälen für Musikveranstaltungen besitzt. Im Norden sind dies der Anker und das Haus Auensee, in der Westvorstadt das Haus Leipzig, im Zentrum die Moritzbastei sowie in Connewitz das Werk 2 und das Conne Island. Im Jahr 2006 eröffnete mit dem Volkspalast (seit 2012 als Eventpalast bezeichnet) eine neue Veranstaltungshalle, die größere Konzerte erlaubt, die zuvor der Mehrzweckhalle Arena Leipzig vorbehalten waren. In Connewitz und Teilen der Südvorstadt entwickelte sich nach der Wende eine lebendige alternative Szene. Aus dem ehemaligen Kino UT Connewitz wurde eine für alle Kulturformen genutzte Einrichtung. Das Tanzcafé Ilses Erika im Haus der Demokratie – ebenfalls in Connewitz gelegen – ist mit seinen Clubabenden und -konzerten eine der bekanntesten Indie-Adressen in Ostdeutschland. Die in der Südvorstadt gelegene Distillery gilt als Ostdeutschlands dienstältester Technoclub, welcher das Eintagesfestival Th!nk? veranstaltet. 2014 wurde der Techno-Club Institut für Zukunft eröffnet, der 2018 zur Spielstätte des Jahres gekürt wurde. Bekannt war auch das Nachtcafé, welches auf Blackmusic und House spezialisiert war. Vielfältige kulturelle Veranstaltungen wie Programmkino, Lesungen oder kleinere Konzerte finden außerdem in der naTo statt. Mit den Beschlüssen der 3. Hochschulreform der DDR 1968 entstanden in Leipzig zahlreiche Studentenclubs, von denen die meisten noch existieren und die nicht nur von Studenten genutzt werden. Der älteste Studentenclub ist der TV-Club Leipzig. Die Studentenclubs haben sich mit dem Runden Tisch Leipziger unabhängiger Studentenclubs (RuTiLuSt) Anfang der 1990er Jahre eine gemeinsame Plattform geschaffen. Der ehemals größte Studentenclub Europas, die Moritzbastei, wurde Ende der 1970er Jahre aus einer mittelalterlichen Festungsanlage ausgebaut. 1993 wurde er in eine GmbH umgewandelt. Freizeitpark Im Süden von Leipzig, zwischen Cospudener und Zwenkauer See, befindet sich mit Belantis der größte Freizeitpark in Mitteldeutschland. Errichtet wurde er auf einen 27 Hektar großen ehemaligen Braunkohlegebiet und bietet seinen Besuchern über 60 Attraktionen und Shows verteilt auf acht Themenwelten. Eröffnet wurde der Park am 5. April 2003 nach 19-monatiger Bauzeit und zählt jährlich über 500.000 Besucher. Natur und Erholung Parks und Gärten Leipzig besitzt einen verglichen mit ähnlichen Großstädten bemerkenswerten Anteil an Parks und Grünflächen, überwiegend mit hohem gestalterischem Anspruch oder stadtstruktureller Bedeutung. Weit überregional bekannt waren die aufwendigen Bürgergärten, die sich seit Renaissance und Barock um die historische Innenstadt legten, etwa Apels Garten oder der Großbosesche Garten. Mit dem städtischen Wachstum im 19. Jahrhundert wurden diese privaten Anlagen überbaut, jedoch erhielten sich ihre Bezeichnungen verschiedentlich in Straßennamen. Bereits Anfang des 18. Jahrhunderts begannen Begrünungen der städtischen Befestigungsanlagen und Wälle mit Alleen und Gehölzpflanzungen. Ende des Jahrhunderts entstand unter Bürgermeister Carl Wilhelm Müller (1728–1801) eine zusammenhängende Parkgestaltung am Schwanenteich und in dem heutigen Bereich vor dem Hauptbahnhof. Es handelte sich um die erste vom Bürgertum initiierte Landschaftsparkanlage Deutschlands. Zugleich war damit der Grundstein zu dem die Innenstadt umgebenden Promenadenring gelegt. Bis in das 20. Jahrhundert erfolgte die Gestaltung weiterer Abschnitte, darunter bis 1858 die Lenné-Anlage, Schillerpark genannt. Für die Planung konnte der Königlich Preußische Gartendirektor Peter Joseph Lenné gewonnen werden, einer der größten Gartenkünstler des 19. Jahrhunderts. Im Auftrag des Bankiers Wilhelm Seyfferth konzipierte er wenig später ebenfalls den städtischen Johannapark. Ab 1898 entstand unter Gartendirektor Otto Wittenberg direkt im Anschluss westlich der König-Albert-Park, ein repräsentativer Stadtpark mit Springbrunnenbassin, Teich und Musikpavillon. Seit 1955 führt er gemeinsam mit benachbarten Anlagen wie dem Palmengarten oder dem Scheibenholzpark die Bezeichnung Clara-Zetkin-Park. Unter Otto Wittenberg entstanden parallel mit der Stadtentwicklung Ende des 19. Jahrhunderts zahlreiche begrünte Stadtplätze, ferner die landschaftlich gestalteten Anlagen Volksgarten – Sellerhausen, Volkshain Stünz sowie der Südteil des Eutritzscher Parks. Im Gegensatz dazu schuf der Nachfolger Wittenbergs, Carl Hampel, zahlreiche formale Gestaltungen, unter anderem am westlichen Promenadenring, jedoch auch den weitläufigen Wilhelm-Külz-Park am Völkerschlachtdenkmal. Seit 1913 gestaltete Leberecht Migge in der seinerzeit noch selbständigen Gemeinde Schönefeld einen klassischen Volkspark, den Mariannenpark. Fertiggestellt wurde die Anlage in der Zwischenkriegszeit bis 1928 unter Stadtgartendirektor Molzen. Bereits 1932 begannen die Arbeiten am Richard-Wagner-Hain beiderseits des Elsterflutbeckens. Er sollte ein monumentales Denkmal zu Ehren des gebürtigen Leipzigers Richard Wagner aufnehmen. Die Nationalsozialisten nahmen sich des Vorhabens an und erklärten es zum Projekt „Richard-Wagner-Nationaldenkmal“. Für die erhaltene gärtnerische Gestaltung verantwortlich war Gustav Allinger. Emil Hipp fertigte am Chiemsee die Teile des Denkmals, das jedoch kriegsbedingt nicht mehr zur Aufstellung in Leipzig gelangte. Westlich an den Zoologischen Garten grenzt der weitläufige Park Rosental. Ursprünglich kurfürstlicher Besitz, dann an die Stadt verkauft, beabsichtigte August der Starke hier dennoch die Errichtung einer Residenz, die die Stadt finanzieren sollte. Zwar konnte dies abgewendet werden, jedoch veranlasste der Landesherr die Anlage der noch vorhandenen Sichtschneisen durch die begrenzenden Waldbereiche, ausgehend von der großen zentralen Wiesenfläche. Seit dem 19. Jahrhundert fanden verschiedene Umgestaltungen im Sinne einer landschaftlichen Gestaltung statt. Auf den Leipziger Arzt Moritz Schreber geht indirekt die nach ihm benannte Kleingartenbewegung (Schrebergärten) zurück. Neben der ältesten sogenannten Schreberanlage befindet sich in der Stadt das Deutsche Kleingärtnermuseum. Etwa 30 % (1240 ha) der Leipziger Grünfläche wird von Kleingärten gebildet, die damit zur Erholung und für die Biodiversität der Stadt eine wichtige Rolle spielen. Als Friedenspark wird der 1950 geschlossene ehemalige Neue Johannisfriedhof bezeichnet. Ab 1973 erfolgte die Beräumung der zahlreichen historisch bedeutenden Grabdenkmale. Einige wenige wurden auf dem erhaltenen Alten Johannisfriedhof aufgestellt, dem über Jahrhunderte zentralen Begräbnisplatz der Stadt. Zu den Parkfriedhöfen der Stadt gehören der Südfriedhof und der Ostfriedhof. Im Osten von Leipzigs Stadtteil Grünau befindet sich der 1913 vollendete und seit 1984 öffentlich zugängliche Robert-Koch-Park mit der Robert-Koch-Klinik als Außenstelle des städtischen Klinikums St. Georg. In den letzten Jahren entstanden neue Parkanlagen auf dem Gelände des ehemaligen Eilenburger Bahnhofs (Lene-Voigt-Park) und am Karl-Heine-Kanal in Plagwitz (Stadtteilpark Plagwitz). Botanischer Garten Der Botanische Garten der Universität Leipzig beheimatet auf einer Fläche von 3,5 Hektar etwa 10.000 verschiedene Arten. Er ist der älteste Botanische Garten Deutschlands und gehört zu den ältesten weltweit. In seiner Geschichte, die bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts zurückreicht, wurde der Standort des Botanischen Gartens dreimal im Stadtgebiet verlegt. Er befindet sich an der Linnéstraße im Ortsteil Zentrum-Südost, angrenzend an den Friedenspark. Tierparks Der Zoologische Garten Leipzig ist eine 26 Hektar große parkartig gestaltete Grünanlage nordwestlich der Leipziger Altstadt, in der etwa 900 Tierarten gehalten und präsentiert werden. Er grenzt an das Rosental, einen Stadtpark. Der Leipziger Zoo wurde am 9. Juni 1878 eröffnet und ist mit seinen vielen historischen Bauten einer der traditionsreichsten in Deutschland. Er war einst berühmt für seine Löwen- und später auch Tigerzucht, für die er seither das Internationale Zuchtbuch führt. Er beherbergt viele seltene Tierarten wie Baikalrobben, Moschustiere, Okapis oder Sepikwarane. Die wöchentliche Doku-Soap Elefant, Tiger & Co. des Mitteldeutschen Rundfunks machte den Zoo seit 2003 in ganz Deutschland bekannt. Eine der charakteristischen Backsteinanlagen ist die Bärenburg. Sie war Schauplatz vieler Zuchterfolge, ist aber längst veraltet. Noch in den 1990er Jahren war der Zoo stark sanierungsbedürftig und entsprach kaum mehr moderner Tierhaltung. Daher wird er seit einigen Jahren zu einem Zoo der Zukunft umgebaut, was ursprünglich 2014 abgeschlossen sein sollte. Die zwei größten Bauprojekte dabei waren die 2001 eröffnete weltgrößte Menschenaffenanlage Pongoland (als Teil des Wolfgang-Köhler-Primaten-Forschungszentrum) und Europas größte Tropenhalle Gondwanaland, in der seit 2011 Tiere und Pflanzen der Kontinente Asien, Südamerika und Afrika gezeigt werden. Ende 2011 kündigte die Zooleitung an, dass der Masterplan zum Umbau des Zoos überarbeitet wird. Die weiteren Baumaßnahmen sollen nunmehr bis zum Jahr 2020 erfolgen – Schwerpunkte sollen die Bereiche Asien und Südamerika sein. Der Wildpark Leipzig ist ein Naturpark im Süden der Stadt. Die Tiere des Parks kommen größtenteils aus der europäischen Region, gezeigt werden zum einen Rot-, Dam-, Reh-, Muffelwild, aber auch Elche, Wisente, verschiedene Vogelarten und Füchse, Wildkatzen, Hermeline, Marder und Waschbären. Am Zuchtprogramm für den gefährdeten europäischen Nerz nimmt der Wildpark teil. Demnächst soll ein Erlebnispfad mit Wolfsgehege erstellt werden. Bauwerke In Leipzig befinden sich einige bedeutende Gebäude aus den Epochen der letzten Jahrhunderte. Leipzig war ein Zentrum des bürgerlichen Barocks und wurde vor allem in der Gründerzeit und im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts durch viele öffentliche Gebäude des Historismus ergänzt. Leipzig besitzt einen vergleichsweise hohen Anteil an Gebäuden des Jugendstils. Außerdem befinden sich Gebäude der Vor- und Nachkriegsmoderne in Leipzig. Sakralbauten Eine Zusammenfassung aller Kirchen findet sich unter Liste der Kirchengebäude in Leipzig. Ausführliche Beschreibungen der Sakralbauten finden sich unter Kirchen in Leipzig, Ehemalige Kirchen in Leipzig und Synagogen in Leipzig. In der Innenstadt befinden sich zwei sehr bekannte Kirchenbauten. Die Thomaskirche war die Wirkungsstätte von Johann Sebastian Bach und wird noch durch Aufführungen des Thomanerchors belebt. Das gotische Bauwerk stammt größtenteils aus dem späten 15. Jahrhundert. Die Nikolaikirche war einer der wichtigsten Orte der Friedensgebete und Ausgangspunkt der Montagsdemonstrationen in Leipzig, einem wesentlichen Bestandteil der politischen Wende in der DDR. Sie wurde ab 1165, dem Jahr der Vergabe des Stadtrechts, im romanischen Stil errichtet und im Spätmittelalter zu einer gotischen Hallenkirche umgestaltet. Unmittelbar neben der Nikolaikirche befindet sich die Alte Nikolaischule. Zum Gedächtnis der russischen Gefallenen während der Völkerschlacht bei Leipzig entstand 1913 die Russische Gedächtniskirche im sogenannten Nowgoroder Stil russisch-orthodoxer Kirchen. In Leipzig sind zwei bedeutende Kirchenbauten der klassischen Moderne zu finden: die Versöhnungskirche in Gohlis-Nord und die Bonifatiuskirche in Connewitz. Die 1932 geweihte Versöhnungskirche zählt zu den wichtigsten Zeugnissen sakraler Architektur im Stile des Neuen Bauens in Deutschland. Die St.-Bonifatius-Kirche gilt als wichtigster katholischer Kirchenneubau zwischen den beiden Weltkriegen in Sachsen. Der Rundbau im Stil des Art déco wurde 1929/30 zur Erinnerung an die im Ersten Weltkrieg gefallenen Mitglieder des Katholischen Kaufmännischen Vereins errichtet. Historische Gebäude Die Innenstadt Leipzigs besteht aus sehr wechselvollen Ansichten. Im Herzen der Stadt dominiert das Alte Rathaus, ein Renaissancebau aus den Jahren 1556/57. Bemerkenswert ist, dass dieses nicht den damaligen Regeln gemäß axialsymmetrisch in der Frontansicht aufgebaut, sondern im Goldenen Schnitt geteilt ist. Der aus der Mittelachse gerückte Rathausturm galt als architektonische Avantgardeleistung der damaligen Zeit und stand mit dem dadurch verursachten Wirbel und Aufruhr für das städtische Selbstbewusstsein und das typische Leipziger Bestreben, stets einen eigenen, unabhängigen Weg zu wählen und zu behaupten. Sein Erbauer, Hieronymus Lotter, Stadtbaumeister, Ratsherr und Bürgermeister, errichtete die Alte Waage am Marktplatz sowie wesentliche Teile der Stadtbefestigung. So konstruierte er die noch erhaltene Moritzbastei, die zwischen 1551 und 1554 erbaut wurde. Sie galt als Meisterwerk der Festungsbaukunst und uneinnehmbar. Im Dreißigjährigen Krieg wurde sie jedoch von schwedischen Truppen überrannt. Vorher befand sich in unmittelbarer Nähe die Pleißenburg, die bereits im Schmalkaldischen Krieg im 16. Jahrhundert beschädigt und teilweise geschleift wurde. Das Neue Rathaus befindet sich auf den Resten der Pleißenburg. Es ist mit seinem 114 Meter hohen Hauptturm eines der größten Rathausgebäude weltweit. Mit dem starken Wachstum Leipzigs im 19. Jahrhundert benötigte die Stadtverwaltung dieses größere Bauwerk, das 1905 fertiggestellt wurde. Ein großer Teil der Innenstadt wird durch ehemals von der Leipziger Messe genutzte Handelshöfe – prachtvolle Kaufmannshäuser mit charakteristischen Passagen – dominiert. Die Passagen wurden ursprünglich angelegt, um den Kutschen in den engen Innenhöfen das Wenden zu ersparen. Der älteste noch erhaltene Handelshof ist Barthels Hof; weitere mittlerweile restaurierte sind Specks Hof oder Stentzlers Hof. Sie dienten hauptsächlich zur Ausrichtung von Handelsmessen. Das Städtische Kaufhaus und der Handelshof waren die ersten Mustermessehäuser der Stadt. Andere Handelshäuser wie Auerbachs Hof wurden bereits Anfang des 20. Jahrhunderts in Ladenstraßen umgewandelt, als sich der Rückzug der Leipziger Messe aus der Innenstadt mit dem Bau des Messegeländes abzeichnete. Auf dem Gelände von Auerbachs Hof befindet sich die prachtvollste Passage Leipzigs, die nach mailändischem Vorbild von 1912 bis 1914 errichtete Mädlerpassage. Hier befindet sich Auerbachs Keller, durch Goethes Faust weltberühmt geworden. In Leipzig gibt es noch viele Gebäude des bürgerlichen Barock, die in der wohlhabenden Kaufmannsstadt etwa zeitgleich mit den Gebäuden des kurfürstlichen Barock in Dresden entstanden. Unmittelbar hinter dem Alten Rathaus, am Naschmarkt, befindet sich die im Barockstil errichtete Alte Börse, die einstmals als Versammlungsgebäude der Leipziger Kaufmannschaft diente. Wohlhabende Bürger erbauten Stadtpalais in der kompakten Innenstadt wie das Fregehaus, das Romanushaus und das Königshaus, das bis ins 19. Jahrhundert als Gästehaus des Stadtrates für hochrangige Besucher diente. Teilweise bestanden die Gebäude schon vorher und wurden im 18. Jahrhundert umgebaut. In Randlage der Stadt entstand das Gohliser Schlösschen ebenfalls als barockes Bauwerk in bürgerlichem Besitz. An Aufenthalte und Wirkungsstätten von berühmten Personen erinnern einige Gebäude in Leipzig. So befindet sich östlich der Innenstadt das Mendelssohn-Haus, in dem Felix Mendelssohn Bartholdy, der als Komponist am Gewandhaus wirkte, bis zu seinem Tod lebte. Friedrich Schiller verbrachte 1785 einige Monate in Leipzig beziehungsweise im damals noch außerhalb der Stadtgrenzen gelegenen Gohlis. Dort befindet sich das Schillerhaus, das eigentlich ein Bauernhaus ist. Dort arbeitete Schiller unter anderem an dem Gedicht An die Freude, das später von Ludwig van Beethoven in seiner 9. Sinfonie vertont wurde. Leipzig besitzt einige bedeutende Gebäude des Historismus. Die Ähnlichkeit des Reichsgerichtsgebäudes, das von 1888 bis 1895 erbaut wurde, mit dem Reichstagsgebäude in Berlin ist nicht zu verkennen. Beide orientieren sich an Motiven der italienischen Renaissance und sollen über ihre monumentale Wirkung das gefestigte Deutsche Reich verkörpern. Die Deutsche Bücherei markiert am Ende des Vorkriegshistorismus einen Übergang zur Moderne. Ähnlich wie beim Deutschen Hygienemuseum bleiben die Formen monumental und aufragend; die Auffüllung der Fassade wurde aber vergleichsweise sachlich angelegt. Oskar Pusch entwarf neben der Bücherei das neoklassizistische Achilleion auf dem Messegelände Leipzigs. Das Gebäude der Universitätsbibliothek Albertina ist als Bauwerk der Neorenaissance mit einem mittigen Eingangsportal stark symmetrisch konzipiert. Der Mendebrunnen ist die größte Zierbrunnenanlage in Leipzig und wurde 1883 im Stil des Neobarock erbaut. Das Grassimuseum wurde 1925 bis 1929 in einem Stil mit Anklängen an Art déco und Neue Sachlichkeit als einer der wenigen deutschen Museumsneubauten in der Zeit der Weimarer Republik errichtet. Monumentalarchitektur Das Völkerschlachtdenkmal als eines der bekanntesten Wahrzeichen der Stadt wurde ab 1898 als Mahn- und Denkmal an die Völkerschlacht 1813 errichtet. Eingeweiht wurde es 1913 anlässlich des 100. Jahrestages der Schlacht. Seine Architektur ist über klassische Motive stark symbolbehaftet und wirkt durch seine Höhe von 91 Metern und der Stärke der Wände und Säulen monumental. Zusammen mit den Hochhäusern am Innenstadtring, dem Turm des Neuen Rathauses, dem Hotel „The Westin Leipzig“, dem Hochhaus der Leipziger Sparkasse in Löhrs Carré und den Kirchen im Stadtzentrum bestimmt es die Stadtsilhouette von Leipzig. Moderne und zeitgenössische Architektur Leipzigs Architektur der Moderne ist vor allem durch Hochhäuser geprägt. Das Krochhochhaus entstand 1927/28 als erstes Hochhaus in Leipzig in Stahlbetonskelettbauweise und gehört zu den wenigen erhaltenen Gebäuden der Vorkriegsmoderne. Der schlicht gestaltete schlanke, etwa 50 Meter hohe Turm mit markantem Glockenspiel wurde dem Uhrenturm (Torre dell’Orologio) in Venedig nachempfunden. Unweit davon überragt das City-Hochhaus mit seinen 142 Metern (155,40 m Gesamthöhe mit Antennenträger) weithin die Innenstadt. Es wurde von 1968 bis 1972 als Sektionsgebäude für die Universität erbaut und trägt durch seine Form als aufgeschlagenes Buch eine eindeutige Symbolik. Es war bis 1972 das höchste Gebäude in Deutschland, als es vom Jenaer Uniturm abgelöst wurde. 1972 wurde das 95 Meter hohe (106,8 m Gesamthöhe) Wintergartenhochhaus mit 31 Etagen am Hauptbahnhof als höchstes Wohngebäude Leipzigs eingeweiht. Ein weiteres architektonisch bedeutsames hohes Gebäude am östlichen Innenstadtring ist das 1928/29 im Stil der Neuen Sachlichkeit errichtete 53 Meter hohe Europa-Hochhaus an der Südostseite des Augustusplatzes, nach dem Krochhochhaus das zweite in Leipzig gebaute Hochhaus. Das Europa-Haus war Ausgangsbau des 1927 vom damaligen Stadtbaurat Hubert Ritter vorgelegten, jedoch nie verwirklichten Ringcity-Konzeptes. Dieses sah vor, die Innenstadt durch eine moderne Randbebauung mit mehreren Hochhäusern über den im 19. Jahrhundert angelegten Promenadenring hinweg zu erweitern und damit den kompakten Altstadtkern durch die Schaffung damals dringend benötigter neuer Gewerbeflächen zu entlasten und dessen historische Bebauung zu bewahren. Am Augustusplatz, der östlichen Grenze der Innenstadt, befinden sich das Neue Gewandhaus und das Opernhaus. Beide sind moderne Neubauten, die an der Stelle von im Zweiten Weltkrieg zerstörten Kulturhäusern errichtet wurden. Das Opernhaus wurde zwischen 1956 und 1960 am Ort des Vorgängerbauwerks errichtet und nimmt dessen spätklassizistische Formen vereinfacht auf. Der Bau gilt durch seine Verbindung von Tradition und Moderne als ein Musterbeispiel der DDR-Architektur jener Zeit. Das am Standort des ehemaligen Städtischen Museums erbaute Neue Gewandhaus war der einzige vollwertige Konzertsaalneubau der DDR und gehörte zu ihren aufwändigsten Bauprojekten. Auffällig ist die hohe Glasfront, auf die ein massiver Betonsims gesetzt ist. Mit dem Neubau moderner Kulturhäuser wurde in Leipzig ein anderer Weg gewählt als in Berlin und Dresden, wo Konzerthaus und Semperoper detailgetreu wiederaufgebaut wurden. Dies hatte neben Kostenaspekten konzeptionelle Gründe, da der damalige Karl-Marx-Platz in seiner Gesamtheit ein von sozialistisch geprägten Gestaltungsgrundsätzen geprägtes Antlitz erhalten sollte. Auch der nördliche Innenstadtring wird durch zwei Hochhäuser flankiert. Das knapp 70 Meter hohe Hochhaus Löhrs Carré (Sitz der Sparkasse Leipzig/Sachsen Bank) und das 96 Meter hohe Hotel „The Westin Leipzig“ bilden hier ein Ensemble. Die Dominante der Ringbebauung im Südwesten der City ist der 115 Meter hohe Turm des Neuen Rathauses, der zugleich der höchste Rathausturm Deutschlands ist. Eine zeitgenössische architektonische Besonderheit ist die sogenannte Niemeyer-Kugel, erbaut 2020 nach einem Entwurf des Star-Architekten Oscar Niemeyer am ehemaligen Kirow-Werk im Ortsteil Neulindenau. Die Betonkugel beherbergt ein Restaurant und Café mit Bar. Verkehrs- und Industriebauwerke Leipzig wird von einer Ringeisenbahn umgeben, an die sich zwei Kopfbahnhöfe anschließen. Beide Bahnhöfe, der Hauptbahnhof und der Bayerische Bahnhof sind durch den City-Tunnel verbunden. Der Hauptbahnhof gilt als der größte Kopfbahnhof Europas. Er steht mit einer fast 300 Meter breiten historistischen Fassade an der Grenze der Innenstadt und birgt dahinter zwei große Empfangshallen. Diese sind entstanden, weil der Bahnhof früher in einen sächsischen und einen preußischen Teil aufgeteilt war, wobei jeder seine eigene Empfangs- und Wartehalle hatte. Insgesamt verfügt der Bahnhof über sechs Bahnsteighallen. Er wurde bis 1997 aufwendig restauriert und am Querbahnsteig um ein Einkaufszentrum ergänzt. Südlich vor der Innenstadt liegt der bis 1844 errichtete Bayerische Bahnhof, der älteste erhaltene Kopfbahnhof Deutschlands. Markantes Merkmal des Bahnhofs ist der viertorige Portikus für die Eisenbahn. Die Buntgarnwerke in Plagwitz sind Deutschlands größtes Industriedenkmal aus der Gründerzeit mit über 100.000 Quadratmetern Geschossfläche. Im Süden liegen die Leipziger Großmarkthallen, scherzhaft „Kohlrabizirkus“ genannt. Sie beherbergen eine Eislaufbahn und werden als Veranstaltungshalle genutzt. Höchste Bauwerke Brücken Die Stadt Leipzig hat derzeit 479 Brücken und Stege. Dazu zählen gegenwärtig 180 Eisenbahnbrücken und 277 Straßenbrücken. Regelmäßige Veranstaltungen Musik und Theater Das Bachfest Leipzig ist ein Musikfestival, das erstmals 1908 stattfand. Seit 1999 wird es jährlich ausgerichtet und widmet sich ganz der Pflege der Werke von Johann Sebastian Bach. Bis 2016 wurden jährlich die Mendelssohn-Festtage Leipzig veranstaltet, die sich um das Erbe von Felix Mendelssohn Bartholdy in der Stadt kümmerten. Die Richard-Wagner-Gesellschaft Leipzig 2013 veranstaltet seit 2006 jährlich um den Geburtstag des Komponisten Richard Wagner herum die Wagner-Festtage Leipzig. Mit der Veranstaltung soll das Andenken an den Komponisten in seiner Heimatstadt verbessert werden. Der Robert-und-Clara Schumann-Verein veranstaltet in Gedenken der beiden jährlich die Schumann-Woche. Das Internationale Kammermusikfestival Leipzig wird in Kooperation mit dem Gewandhaus seit 1996 im November durchgeführt. Innerhalb der Classic Open Leipzig finden seit 1995 im August Freiluftkonzerte und Videoübertragungen von Konzerten in der Leipziger Innenstadt statt. Bei der seit 1997 veranstalteten Konzertwoche Internationales Festival für Vokalmusik „a cappella“ treten jeweils im Mai international renommierte und Nachwuchskünstler dieses Genres auf. Im Oktober werden seit 1976 die Leipziger Jazztage veranstaltet. Sie widmen sich dem zeitgenössischen Jazz und werden vom Jazzclub Leipzig e. V. ausgerichtet. Seit 2004 veranstaltet der Radiosender Energy Sachsen zweimal im Jahr die Energy Clubzone. Courage zeigen ist ein seit 1998 am 30. April stattfindendes Rockkonzert vor dem Leipziger Völkerschlachtdenkmal, das als Antwort auf die Neonazi-Aufmärsche am 1. Mai entstand. Seit 1991 findet jährlich im November das Festival euro-scene Leipzig statt. Es widmet sich dem experimentellen Theater und dem modernen Tanz. Die Lachmesse ist ein Europäisches Humor- und Satire-Festival, das seit 1991 jährlich im Oktober in Leipzig veranstaltet wird. Sie vergibt den mit 3500 Euro dotierten Kleinkunstpreis Leipziger Löwenzahn. Feste und Märkte Über Pfingsten ist Leipzig Austragungsort des viertägigen Wave-Gotik-Treffens (WGT), das seit 1992 stattfindet, derzeit regelmäßig bis zu 23.000 Besucher aus der Schwarzen Szene in die Stadt lockt und selbst szenefremde Besucher mit Veranstaltungen wie dem Wikingerlager im Rahmen des Heidnischen Dorfes und einem weiteren Mittelaltermarkt an der Moritzbastei erfreut. Alljährlich richtet der Leipzig Tourist Service das Leipziger Stadtfest aus, das mit seinen über 300.000 Besuchern zu den zehn größten Open Air Veranstaltungen Deutschlands zählt. Die Leipziger Kleinmesse ist ein jetzt dreimal (früher zweimal) jährlich stattfindendes Volksfest, das 1907 als Ableger der Leipziger Messe entstand. Bis 1935 wurde es auf der sogenannten „Vogelwiese“ an der Alten Elster veranstaltet. 1936 erfolgte der Umzug an den Cottaweg, westlich des Elsterbeckens. Anfang 2009 wurde der Kleinmesseplatz jedoch erneuert, es entstand ein runder, gepflasterter Platz für Zirkus und Kleinmesse. Der Leipziger Weihnachtsmarkt ist einer der größten in den östlichen Bundesländern und wird seit 1767 ausgerichtet. Im Herbst findet die Interkulturelle Woche statt, hier werden zahlreiche Lesungen, Diskussionen, Konzerte usw. veranstaltet. Das Eröffnungskonzert findet in der Nikolaikirche statt und markiert gleichzeitig den Beginn der sachsenweiten Aktionswochen. Die Saxonia International Balloon Fiesta war ein populäres Ballonfestival mit europäischer Beteiligung. Es fand jährlich Ende Juli in Leipzig statt und wurde von mehr als 130.000 Menschen besucht. Die erste Fiesta fand 1995 mit 5000 Besuchern und 100 Heißluftballonen in der sächsischen Kleinstadt Mügeln statt. 1996 wurde die Veranstaltung nach Leipzig in das Naherholungsgebiet an den Silbersee verlegt, da dieses außerhalb der offiziellen Flugkorridore liegt. Der Silbersee-Park liegt zwischen den urbanen Gebieten Lößnigs und der Braunkohlelandschaft des Leipziger Südraumes. Bei der Veranstaltung kämpften die Heißluftballone in den Kategorien Fuchsjagd, Weitflug und Keygrab. Seit 2009 wird jährlich mit dem Lichtfest Leipzig der Montagsdemonstration vom 9. Oktober 1989 gedacht. An der ersten Veranstaltung nahmen 150.000 Menschen teil. Der Karneval spielt im protestantischen Leipzig nur eine untergeordnete Rolle. Seit den 1950er Jahren entstand mit dem Leipziger Studentenfasching eine jährliche Veranstaltungsreihe. 1992 gründete sich das Förderkomitee Leipziger Karneval e. V. und richtet alljährlich einen Rosensonntagsumzug unter dem Motto Leila helau aus. Sport Institute Die Deutsche Hochschule für Körperkultur (DHfK) war in der DDR eine Sporthochschule, aus der zahlreiche Spitzensportler und -trainer hervorgingen. Das Forschungsinstitut für Körperkultur und Sport an der DHfK mit 20 Mitarbeitern entwickelte Doping-Substanzen und -methoden für das Zwangsdopingsystem. Die Einordnung der DHfK als Hochburg der Anabolika führte auch zur Schließung der Hochschule. 1993 wurde die Sportwissenschaftliche Fakultät der Universität Leipzig gegründet. Die Abkürzung „DHfK“ tragen noch die HSG DHfK und der SC DHfK im Namen. In Leipzig ist das Institut für Angewandte Trainingswissenschaft ansässig. Stützpunkte In der Stadt befindet sich zurzeit der Olympiastützpunkt Leipzig, in den mehrere Bundes- und Landesstützpunkte integriert sind. So gibt es Bundesstützpunkte in den Sportarten Kanu-Slalom, Kanu-Rennsport, Leichtathletik und Judo. Bundesstützpunkte für den Nachwuchs liegen beim Schwimmen, Turmspringen und Turnen der Frauen. Landesstützpunkte umfassen Volleyball der Männer, Handball der Frauen, Rudern und Ringen (Freistil). Des Weiteren existiert, neben dem Nachwuchsleistungszentrum von RasenBallsport Leipzig e. V., ein DFB-Talentestützpunkt an der Sportschule Egidius Braun. Sportverbände Neben dem Landessportbund Sachsen sind auch mehrere andere Landesverbände, wie der Sächsische Turn-Verband e. V., der Sächsische Fechtverband, der Sächsische Hockey-Verband, der Sächsische Kanu-Verband, der Sächsische Tennisverband, der Sächsische Fußball-Verband und der Rugby-Verband Sachsen in Leipzig angesiedelt. Inklusion 2021 bewarb sich Leipzig als Gastgeber („Host Town“) für die Gestaltung eines viertägigen Programms für eine internationale Delegation der Special Olympics World Summer Games 2023 in Berlin. 2022 wurde die Stadt als Gastgeberin für Special Olympics Libyen ausgewählt. Damit wurde sie Teil des größten kommunalen Inklusionsprojekts in der Geschichte der Bundesrepublik mit mehr als 200 Host Towns. Sportarten Hand-, Volley- und Basketball Der HC Leipzig (HCL) ist einer der erfolgreichsten Frauen-Handballclubs Deutschlands. Er war viermal Europapokal-Sieger, sechsmal Deutscher Meister, dreimal DHB-Pokalsieger und 13 Mal DDR-Meister. Im Herrenhandball war die MTSA Leipzig (Militär-Turn-und Sportabteilung) in den 30er Jahren erfolgreich. 1936 wurde der Verein Deutscher Vizemeister. Die Feldhandballmannschaft errang weiterhin dreimal in Folge (1937, 1938 und 1939) den Deutschen Meisterschaftstitel. In der Nachkriegszeit setzte der Verein SC DHfK Leipzig Handball die Erfolgsserie fort. In den 1960er und 70er Jahren gewann er einmal den Europapokal der Landesmeister, den Vorläufer der EHF Champions League, sechsmal die DDR-Meisterschaft und zweimal die Turniermeisterschaft. Seit der Saison 2015/16 spielt die Mannschaft in der 1. Handball-Bundesliga. Die 2009 neu gegründeten L.E. Volleys stiegen bis in die 2. Volleyball-Bundesliga auf. Der Basketball-Verein Leipzig (BBVL) spielte zeitweise in der Basketball-Bundesliga der Damen. Die letzten Erfolge der Herrenteams wurden in DDR-Zeiten erzielt. Fußball Leipzig hat eine lange und große Fußballtradition. Es war 1900 Gründungsort des Deutschen Fußball-Bundes (DFB). Die Gründungsversammlung des Deutschen Fußball-Bunds fand im Restaurant „Zum Mariengarten“ in der Karlstraße 10 (heute Büttnerstraße 10) statt. Der VfB Leipzig war mit vier weiteren Leipziger Vereinen Gründungsmitglied des DFB. Bei der ersten deutschen Meisterschaft konnte sich der VfB Leipzig den Meistertitel sichern. In den Jahren 1906 und 1913 konnten sie erneut deutscher Meister werden. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde der Verein aufgelöst. Der DDR-Fußballclub 1. FC Lokomotive Leipzig, welcher 1966 gegründet wurde, gilt als Nachfolger des VfB Leipzig. Der Verein war DDR-Pokalsieger, dreimaliger DDR-Vizemeister und schaffte es 1987 bis in das Finale des Europapokals der Pokalsieger. Nach der Wiedervereinigung wollte der Verein an die ruhmreichen Zeiten des VfB Leipzigs anknüpfen und nannte sich 1991 in VfB Leipzig um. Wie der Vorkriegsverein entwickelte sich der VfB Leipzig zum Mehrspartenverein. In der Saison 1993/94 spielte der Verein in der Bundesliga und belegt in der ewigen Tabelle den vorletzten Platz. Im Jahr 2004 ging der Verein dann Konkurs, wurde aber nie aus dem Vereinsregister gelöscht. Als inoffizieller Nachfolgeverein wurde der 1. FC Lokomotive Leipzig gegründet und dieser spielt seit der Saison 2016/17 in der Regionalliga Nordost. Im Oktober fusionierte der 1. FC Lok mit dem VfB Leipzig und schloss damit die Traditionslücke. Auch der zweite traditionsreiche Fußballverein der Stadt, die BSG Chemie Leipzig, hat eine wechselhafte Geschichte. Die DDR-Betriebssportgemeinschaft Chemie Leipzig konnte zweimal DDR-Meister werden und konnte zudem einmal den FDGB-Pokal (1966) gewinnen. Der Meistertitel von 1964 ging wegen des überraschenden Zustandekommens als „Leutzscher Legende“ in die DDR-Fußballgeschichte ein. Nach der Wende schlossen sich die BSG Chemie Leipzig und die BSG Chemie Böhlen zum FC Sachsen Leipzig zusammen, welcher 2011 nach zweifacher Insolvenz endgültig den Spielbetrieb einstellte. Bereits 1997 wurde die BSG Chemie Leipzig von Fans neugegründet und trat nach der Insolvenz die inoffizielle Nachfolge von Sachsen Leipzig an. Nachdem der Verein 2017/18 in der Regionalliga Nordost nicht den Klassenerhalt schaffen konnte, startete die Mannschaft in der Saison 2018/19 in der Staffel Süd Oberliga Nordost und schaffte dort den direkten Wiederaufstieg. Im Mai 2009 wurde der Verein RB Leipzig gegründet. Dieser spielte mit der Oberliga-Lizenz des SSV Markranstädt und schaffte nach einer Saison in der Oberliga den Aufstieg in die Regionalliga. 2013 schaffte es RB Leipzig in die 3. Liga, 2014 den Aufstieg in die 2. Bundesliga und 2016 den Aufstieg in die 1. Bundesliga. RB Leipzig trägt seine Heimspiele seit der Saison 2010/11 in der Red Bull Arena, dem als Fußballstadion umgebauten ehemaligen Zentralstadion, aus. In der Saison 2017/18 spielte er erstmals in der Champions League. Der FC International Leipzig oder kurz Inter Leipzig wurde erst 2013 gegründet. Der Verein konnte in der Saison 2013/14 in der Sachsenliga starten, da der Verein das Spielrecht des insolventen Vereins SV See 90 aus See bei Niesky übernehmen konnte. Seit der Saison 2015/16 spielt der Verein in der Südstaffel Oberliga Nordost. Obwohl es sich um einen Leipziger Verein handelt, trägt Inter Leipzig seine Heimspiele im Hafenstadion Torgau aus, da der Verein in Leipzig über kein Oberliga-taugliches Stadion verfügt. Das Leipziger Zentralstadion wurde 1956 mit 100.000 Plätzen als größtes Stadion Deutschlands eröffnet. Der Zuschauerrekord liegt weit über dem Fassungsvermögen und datiert aus dem Jahr 1958 beim Spiel SC Wismut Karl-Marx-Stadt gegen 1. FC Kaiserslautern, bei dem 125.000 Zuschauer im Stadion waren. Dies ist der Zuschauerrekord für Fußballspiele in Deutschland. Zwischen 2000 und 2004 wurde innerhalb des alten Stadionwalls ein neues Fußballstadion mit 44.345 Plätzen gebaut. Es diente während der Fußball-Weltmeisterschaft 2006 als Austragungsort von Gruppenspielen und einer Achtelfinalpartie. Es ist das Heimstadion von RB Leipzig und wurde 2010 in Red Bull Arena umbenannt. Es gehört mit der Arena Leipzig, der Nordanlage (Leichtathletikanlage) und der Festwiese zum Leipziger Sportforum. Das Bruno-Plache-Stadion in Probstheida war bei seiner Einweihung 1922 mit 40.000 Sitzplätzen das größte vereinseigene Stadion in Deutschland und ist Spielstätte des 1. FC Lokomotive Leipzig. Der Alfred-Kunze-Sportpark in Leutzsch ist das Heimstadion der BSG Chemie Leipzig. Hockey Mit dem ATV Leipzig 1845, dem Leipziger SC 1901 und dem HC Lindenau-Grünau wird in Leipzig Feld- und Hallenhockey auf hohem Niveau gespielt. Während die Damen des ATV in der Feldsaison 2010/11 in der 2. Bundesliga spielten, sind sie seit Jahren in der Hallenhockeybundesliga vertreten. Sowohl die Herren des ATV, als auch die Damen des HCLG Leipzig spielten beide in der Saison 2009/10 in der zweiten Bundesliga und sind aktuell in der dritthöchsten Spielklasse, der auch die Damen des Leipziger SC lange Jahre angehörten, vertreten. Die Herren des Leipziger SC schafften den Aufstieg 2010/11 in die Regionalliga und konnten diese Spielklasse 2011/12 halten. In der Arena Leipzig wurde 2003 die 1. Hallenhockey-Weltmeisterschaft in der Halle und 2015 die 4. Hallenhockey-Weltmeisterschaft ausgetragen. Es traten sowohl bei den Herren wie bei den Damen 12 Nationalmannschaften an. 2005 wurde in Leipzig die Feldhockey-Europameisterschaft der Herren ausgetragen. Leichtathletik Das Leichtathletikzentrum Leipzig übernahm die ehemals sehr erfolgreiche Leichtathletiksektion der DHfK. Besonders in den Disziplinen Kugelstoßen und Hürdenlauf konnten in den vergangenen Jahren Erfolge erzielt werden. Wassersport Um national und international erfolgreicher auftreten zu können, haben sich verschiedene Leipziger Schwimmvereine am 25. September 2008 zu einer Startgemeinschaft (SSG Leipzig) zusammengeschlossen. Hier treten die D-Kader der Vereine geschlossen bei Wettkämpfen auf. Der Kanusport hat in Leipzig eine große Tradition. So ist der Leipziger Kanu Club (LKC) besonders im Kanuslalom aktiv. Aber auch im Rennsport (zum Beispiel bei der SC DHfK Leipzig sowie LVB Leipzig) sind Leipziger Kanusportler international erfolgreich (unter anderem: Christian Gille, Anett Schuck, Robert Nuck, Tina Dietze und Mandy Planert). Darüber hinaus gibt es viele Kanuvereine, die ausschließlich das Wasserwandern betreiben. Der SC DHFK ist beim Turmspringen aktiv, Heike Fischer gewann bei den Olympischen Spielen in Peking 2008 eine Bronzemedaille. Radsport Auf der Radrennbahn Alfred-Rosch-Kampfbahn in Kleinzschocher finden seit 1949 Bahnradsportveranstaltungen statt, deutsche Bahnmeisterschaften, früher DDR-Meisterschaften. 1960 wurden auf ihr die Bahn-Weltmeisterschaften ausgetragen sowie 1981 die Juniorenweltmeisterschaften. 1988 war sie Ziel der Internationalen Friedensfahrt. Rugby Rugby kann auf eine lange Tradition in Leipzig verweisen. Rugby in Leipzig geht bis in die 1950er Jahre zurück, als mehrere Rugby-Abteilungen gegründet wurden. BSG Lok Leipzig-Wahren, DHfK Leipzig, BSG Gastronom Leipzig und der Armeesportklub ASK Leipzig waren vier Teams, die sich in dieser Zeit bildeten. DHfK war das erfolgreichste Team. Die Mannschaft gewann zwischen 1954 und 1963 fünf Meisterschaften, gefolgt von Lok mit vier. In den 1980er Jahren hatten nur zwei Rugby-Abteilungen überlebt. Dies waren Lok und Gastronom. Lok hatte eine erfolgreiche Periode in den späten 1970er Jahren, als er die Dominanz von BSG Stahl Hennigsdorf brach und drei Ostdeutsche Meisterschaften hintereinander gewann. Mit der deutschen Wiedervereinigung gingen die beiden Rugby-Abteilungen in den HSG DHfK Leipzig über. Im September 1994 traten die Rugbyspieler in den TSV 1893 Leipzig-Wahren ein, wo sie wieder eine eigene Abteilung gründeten. Die Rugbyspieler blieben die nächsten zehn Jahre beim TSV, bis sie im September 2004 den RC Leipzig im Stadtteil Lützschena-Stahmeln gründeten. Der Rugby-Verband Sachsen hat seinen Sitz in Leipzig und plant zusammen mit dem Deutschen Rugby-Verband und der WILD Rugby Academy den Aufbau eines Leistungszentrums. Rugby zählt neben wenigen anderen Sportarten in Leipzig zu einer Bundesligasportart. Bergsport Sektion Leipzig des Deutschen Alpenvereins Sektion BSV Leipzig-Mitte des Deutschen Alpenvereins IG Klettern und Naturfreunde Mittelsachsen, Mitpächter der Steinbrüche der Leipziger Kletterschule Andere Damenmannschaft des Tischtennisvereins LTTV Leutzscher Füchse 1990; Aufstieg in der Saison 2012/13 in die erste Tischtennis-Bundesliga American Football Club ASC Leipzig Hawks e. V. (Herren-, U19-, U17-, Damenmannschaft und den Hawkies) American Football Club Leipzig Lions von 1992 in der Regionalliga American Football Team Leipzig Kings in der European League of Football (kein eingetragener Verein) Unihockey-Abteilung des SC DHfK Leipzig und Unihockey-Löwen Leipzig; beide in der Unihockey-Bundesliga Eishockeymannschaft Icefighters Leipzig in der Eishockey-Oberliga Nord. SC Leipzig-Gohlis: Herren- und Damenmannschaft zeitweise in der Schachbundesliga Jährlich wird auf der Anlage des Leipziger Tennisclubs 1990 das Tennisturnier Leipzig Open als Teil der German Masters Series durchgeführt. Motorsport: Speedway im Motodrom des Motorsportclubs MC Post Leipzig am Cottaweg. Slackline: Neben Dresden und Chemnitz ist der Slacknetz Leipzig e. V. einer der ersten Slackline-Vereine in Deutschland. Internationale Großveranstaltungen Leipzig war in den letzten Jahren oftmals Austragungsort von internationalen Sportveranstaltungen. Die 1. Hallenhockey WM wurde 2003 in der Arena ausgetragen, ebenso wie die Europameisterschaft der Herren im Feldhockey und die Weltmeisterschaften im Fechten in den Jahren 2005 und 2017. Bundesweites Aufsehen erweckte auch 2005 die Leipziger Kandidatur für die Olympischen Spiele 2012 und in deren Folge aufgekommene Korruptionsvorwürfe. Leipzig setzte sich zunächst überraschend gegen andere deutsche Städte wie Hamburg als nationaler Kandidat durch. Die Bewerbung wurde allerdings vom IOC nicht angenommen, weil die Stadt mit dieser weltweit größten Veranstaltung überfordert sei. Die Nachnutzung der erforderlichen Anlagen sei nicht gesichert und die Hotelkapazität zu klein. Die Spiele 2012 wurden nach London vergeben. 2006 war die Stadt offizieller Austragungsort der Fußball-Weltmeisterschaft 2006. Ein Jahr später folgte die Weltmeisterschaft im Bogenschießen auf der Festwiese. Dazu kamen denn die Europameisterschaften im Modernen Fünfkampf 2009 und im Fechten (2010). Im Pferdesport kann die Stadt auf zahlreiche Veranstaltungen zurück- und vorausblicken. So fand 2002 das Weltcupfinale der Springreiter und 2008 der Vierspänner in Leipzig statt. Das Weltcupfinale 2011 wurde auf der Leipziger Messe erstmals in allen vier Disziplinen ausgetragen. Jährlich im Januar findet das Weltcupturnier „Partner Pferd“ statt. Die Tradition des Leipzig-Marathons reicht bis ins Jahr 1897 zurück, als vom Leipziger Club Sportbrüder der erste Marathonlauf auf deutschem Boden organisiert wurde. Die jetzige Veranstaltung wird seit 1977 ausgetragen. Seit 1990 findet im Auwald der Leipziger 100-km-Lauf statt. Persönlichkeiten Leipzig hat zahlreiche prominente Söhne und Töchter, beispielsweise den Philosophen und Wissenschaftler Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716), den Komponisten Richard Wagner (1813–1883), den Kunsthistoriker Nikolaus Pevsner (1902–1983), den Sozialisten Karl Liebknecht (1871–1919) oder den NASA-Manager Jesco von Puttkamer (1933–2012). Zahlreiche nicht weniger berühmte Persönlichkeiten haben zumindest Teile ihres Lebens in Leipzig verbracht und gewirkt, wie die Komponisten Johann Sebastian Bach und Felix Mendelssohn Bartholdy, der Philosoph Friedrich Nietzsche, der Physiknobelpreisträger Werner Heisenberg oder der Automobilbauer August Horch. Die Stadt Leipzig hat seit 1832 an 82 Persönlichkeiten das Ehrenbürgerrecht verliehen. Sechs Personen (Karl Binding, Paul von Hindenburg, Adolf Hitler, Hans Frank, Wilhelm Frick und Walter Ulbricht) wurde das Ehrenbürgerrecht wieder aberkannt. Seit dem Jahre 1997 verleiht die Stadt Leipzig die Ehrenmedaille an Persönlichkeiten, die sich um das Ansehen der Stadt verdient gemacht haben. Die Bürger der Stadt Leipzig wurden 2006 mit dem Courage-Preis für ihren Mut und gewaltlose Demonstrationen, die den Grundstein für die Wiedervereinigung legten, ausgezeichnet. Leipzig hat auch eine Vielzahl von Persönlichkeiten, die als Originale zu bezeichnen sind. Dazu zählt u. a. Achim Ernst Brembach, der als „Kerzenmann von Leipzig“ Bekanntheit erlangte. Nach Leipzig benannte Orte Das Dorf Thurland in Sachsen-Anhalt hat einen Ortsteil Klein Leipzig. In Russland gibt es in der Oblast Tscheljabinsk (Rajon Warnenskij) im Südural nahe der Grenze zu Kasachstan ein Dorf mit dem Namen Лейпциг (Leipzig), das auf Kosaken zurückgeht, die an der Völkerschlacht bei Leipzig teilgenommen hatten. Die ukrainische Siedlung Serpnewe westlich von Odessa nahe der Grenze zur Republik Moldau wurde 1814 von 126 deutschen Auswandererfamilien gegründet, die Zar Alexander I. als Kolonisten ins Gouvernement Bessarabien im Russischen Kaiserreich gerufen hatte. Der Ort hieß von 1817 bis 1940 Leipzig. Der im bessarabischen Leipzig (heute Serpnewe) geborene Daniel Sprecher wanderte 1885 in die USA aus, zunächst nach Dakota. 1893 ließ er sich mit weiteren deutschen Aussiedlern in Nord-Dakota nieder. 1895 wurde der neu entstandene Ort nach Sprechers Geburtsort New Leipzig benannt. Um die Aussprache zu erleichtern, wurden Orte in den USA statt Leipzig als Leipsic bezeichnet, so ein Leipsic im Bundesstaat Ohio, … und ein weiteres Leipsic in Delaware. In der kanadischen Provinz Saskatchewan gibt es in der Landgemeinde Reford No. 379 einen Weiler mit dem Namen Leipzig, der bis 1984 ein eigenständiges Dorf war. Er enthält das ehemalige Kloster Leipzig Convent. Die Feste Leipzig (seit 1918 Groupe fortifié François-de-Guise) ist eine etwa neun Kilometer nordwestlich von Metz gelegene, von 1907 bis 1912 zur Verteidigung des Deutschen Kaiserreichs gegen Frankreich errichtete Festungsanlage. Anlässlich der Erstbesteigung 1989 eines Berges im Pamir an der Grenze von Kirgisistan und Tadschikistan durch eine Bergsteigergruppe aus Leipzig wurde dieser als Pik Leipzig benannt. Leipzig im Film Leipzig ist Kulisse für mehrere Filme und Fernsehserien. Der DEFA-Kriminalfilm Schwarzer Samt mit Erich Gerberding, Christine Laszar und Fred Delmare wurde 1963 in und um Leipzig gedreht. Drehorte waren unter anderem das Hotel Astoria und das Völkerschlachtdenkmal. Auch Rudi Strahls 1965/66 gedrehte Gangster-Komödie Hände hoch oder ich schieße mit Rolf Herricht, Herbert Köfer und Manfred Uhlig zeigt verschiedene Orte der Leipziger Innenstadt. Er ist der letzte unveröffentlichte DEFA-Film mit Aufführungsverbot aus der Zeit des 11. Plenums von 1965 und konnte erst 2009 für eine Kinoversion rekonstruiert werden. Leipziger Schauplätze präsentieren auch der DEFA-Musikfilm Heißer Sommer von 1968, der Kinderfilm Der Weihnachtsmann heißt Willi (1969), ebenfalls mit Rolf Herricht und die DEFA-Komödie Du und ich und Klein-Paris von 1971 nach dem gleichnamigen Jugendbuch von Rudi Strahl. Auch Nikolaikirche, ein Film über die Demonstrationen im Wendeherbst 1989, wurde an Leipziger Originalschauplätzen gedreht. Das ZDF zeigt die Krimiserie SOKO Leipzig. Die ARD zeigt im Ersten die Serien Tierärztin Dr. Mertens und In aller Freundschaft sowie im MDR Fernsehen Dokumentationen über den Zoo (Elefant, Tiger & Co.) sowie über den Bahnhof Leipzig Hauptbahnhof. Außerdem zeigte die ARD im Ersten zwischen 2000 und 2007 die Leipziger Ermittler Ehrlicher und Kain und von 2008 bis 2015 Saalfeld und Keppler der Fernsehkrimireihe Tatort. In dem Dokumentarfilm Tanz mit der Zeit werden vier ehemalige Mitglieder der Oper Leipzig, die in dem Tanzstück Zeit – tanzen seit 1927 von Heike Hennig & Co mit achtzig Jahren auf die Bühne zurückkehrten, für ZDF und Arte von Trevor Peters porträtiert. Die im Auftrag von ARD und MDR produzierten Filme Ein Fall von Liebe sowie die dazugehörige Fernsehserie werden ebenfalls in Leipzig gedreht. Auch der größte Teil des Films Das Fliegende Klassenzimmer nach dem gleichnamigen Buch von Erich Kästner spielt in Leipzig. Die westlichen und südlichen Stadtteile der Wendezeit bilden die Kulisse für den Videoclip zu Die da von den Fantastischen Vier. In jüngerer Zeit war die Stadt Drehort für Fernsehfilme wie Die Frau vom Checkpoint Charlie, Die Gustloff oder Dresden und Kinofilme wie Das weiße Band, Flightplan, Mr. Nobody, Schwerkraft, Ein russischer Sommer, Lila, Lila, Unknown Identity und The First Avenger: Civil War. Zitate Trivia/Redewendung Leipzig/Einundleipzig: Nach dem deutschen Sieg im Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 (abgekürzt gesprochen: „Siebzig/Einundsiebzig“) über Napoleon III. wurde der Sieg der Deutschen und Verbündeten in der Völkerschlacht bei Leipzig (1813) über Napoleon I. kurz und in Erinnerung daran „Leipzig/Einundleipzig“ benannt. Diese Redewendung hielt sich sehr lange im deutschen Sprachraum. Später verstand man darunter: „Das ist schon so lange her!“ Siehe auch Sozialversicherungszentrum Leipzig Kreisreformen in Deutschland nach 1990 Sächsisch-Thüringische Industrie- und Gewerbeausstellung Leipzig 1897 Garnison Leipzig Literatur Stadtführer Toma Babovic, Edgar S. Hasse: Leipzig. 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Lexika Weblinks Offizielle Website der Stadt Leipzig Leipzig auf stadtpanoramen.de Leipzig-Stadtchronik, Geschichte der Stadt Leipzig von frühzeitlichen Funden über die Stadtgründung bis zur Gegenwart Leipzig-Lexikon – umfangreiches privates Weblexikon Einzelnachweise Kreisfreie Stadt in Sachsen Deutsche Universitätsstadt Ort an der Weißen Elster Ehemalige Kreisstadt in Sachsen Stadt als Namensgeber für einen Asteroiden Deutscher Ortsname slawischer Herkunft Ersterwähnung 1015
Q2079
892.570297
5571107
https://de.wikipedia.org/wiki/Altern
Altern
Das Altern ist ein fortschreitender biologischer Prozess der meisten mehrzelligen Organismen, der graduell zum Verlust der gesunden Körper- und Organfunktionen und schließlich zum biologischen Tod führt. Altern ist der bei weitem wichtigste Risikofaktor für diverse Krankheiten wie Krebs, koronare Herzkrankheit, Alzheimer-Krankheit, Parkinson-Krankheit und chronisches Nierenversagen. Die maximale Lebenszeit, die ein Individuum erreichen kann, wird durch das Altern maßgeblich beschränkt. Altern ist als physiologischer Vorgang ein elementarer Bestandteil des Lebens aller höheren Organismen und eines der am wenigsten verstandenen Phänomene der Biologie. Allgemein ist die Annahme akzeptiert, dass eine Reihe verschiedener hochkomplexer, vielfach noch ungeklärter Mechanismen für das Altern verantwortlich sind. Sie beeinflussen und begrenzen die Lebensdauer von biologischen Systemen wie Zellen, den daraus aufgebauten Organen, Geweben und Organismen. Auf die Frage, warum Organismen altern, gibt es eine Vielzahl unterschiedlichster Antworten (Alternstheorien), aber bis heute keine wissenschaftlich akzeptierte umfassende Antwort. Die Gerontologie, auch Alters- und Alternswissenschaft genannt, ist die Wissenschaft vom menschlichen Leben im hohen Alter und vom Altern der Menschen. Die biologische Grundlagendisziplin – ohne Fokussierung auf die Spezies Mensch – ist die Biogerontologie. Definition und Abgrenzungen Für das Altern selbst gibt es keine allgemein akzeptierte wissenschaftliche Definition. Eine weiter gefasste neuere Definition sieht jede im Laufe des Lebens eines Organismus stattfindende zeitgebundene Veränderung als Altern an. Darunter fallen sowohl die als „positiv“ bewerteten Reifungsprozesse in der Kindheit als auch die negativ gesehenen degenerativen Erscheinungen bei alten Erwachsenen. Aus dieser Definition abgeleitet beginnt das Altern höherer Organismen unmittelbar nach der Vereinigung von Samenzelle und Eizelle und führt zu seinem Tod. Andere Gerontologen definieren das Altern nur über die negativen zeitlichen Veränderungen eines Organismus, beispielsweise den Funktionsverlust von Organen oder die Vergreisung (Seneszenz) nach dem Erwachsenwerden (Adoleszenz). Der deutsche Mediziner und Begründer der Gerontologie, Max Bürger, definierte 1960 das Altern als eine irreversible zeitabhängige Veränderung von Strukturen und Funktionen lebendiger Systeme. Die Gesamtheit der körperlichen und geistigen Veränderungen von der Keimzelle bis zum Tod wird nach Bürger Biomorphose genannt. Welche Veränderungen man dabei dem Altern zuordnet, lässt allerdings viel Spielraum für Interpretationen. Der US-amerikanische Gerontologe Leonard Hayflick definiert Altern als die Summe aller Veränderungen, die in einem Organismus während seines Lebens auftreten und zu einem Funktionsverlust von Zellen, Geweben, Organen und schließlich zum Tod führen. Für Bernard L. Strehler wird das Altern eines mehrzelligen Organismus durch drei Bedingungen definiert: Universalität: Die Prozesse des Alterns sind bei allen Individuen einer Art mit der gleichen Gesetzmäßigkeit vorhanden. Systemimmanenz: Altern ist eine Erscheinungsform des Lebens. Die Prozesse des Alterns laufen auch ohne exogene Faktoren ab. Irreversibilität: Das Altern läuft stets nur in eine Richtung. Die sich dabei vollziehenden Veränderungen sind irreversibel. Über diese naturwissenschaftlichen Definitionen hinaus ist das Altern beim Menschen ein sozial komplexes vieldimensionales Durchlaufen der Lebensspanne von Geburt bis Tod. Die genetische Disposition und die biologischen Veränderungen sind das zentrale Element der komplexen Wechselwirkung zwischen Mensch und Umwelt. Die Vorgänge beim Altern unterliegen subjektiven, biologischen, biographischen, sozialen und kulturellen Bewertungen. Das Altern selbst ist ein Phänomen mit sowohl biologischen als auch psychischen und gesellschaftlichen Aspekten. Im allgemeinen Sprachgebrauch wird Altern weitgehend mit negativen Veränderungen, mit Verfall, Verschlechterung und Degeneration der sensorischen und körperlichen Fähigkeiten assoziiert. Diese Veränderungen werden besser mit der Bezeichnung Seneszenz wiedergegeben. Die Bezeichnung Alterung sollte nur für unbelebte Materie verwendet werden. Mit dem Begriff Alter sind meistens die Lebensperiode älterer Menschen, die der „Alten“, und das Ergebnis des Altwerdens gemeint. Im Gegensatz dazu geht es beim Altern vor allem um die Prozesse und Mechanismen, die zum Alter führen und die dem Altwerden und dem Altsein zugrunde liegen. Siehe auch: Alter als Lebensabschnitt des Menschen am Lebensende, insbesondere auch das Altersbild. Primäres und sekundäres Altern Beim Altwerden wird zwischen zwei Formen unterschieden, dem primären und dem sekundären Altern. Primäres Altern, auch physiologisches Altern genannt, wird durch zelluläre Alternsprozesse hervorgerufen, die in Abwesenheit von Krankheiten ablaufen. Diese Form des Alterns definiert für einen Organismus seine maximal erreichbare Lebensspanne (auch ‚maximal erreichbares Alter‘ genannt, engl.: maximum attainable age). Beim Menschen liegt dieser Wert bei ungefähr 120 Jahren (siehe auch: Ältester Mensch) und wird mit dem griechischen Buchstaben ω (Omega, Symbol für das Ende) versehen. Andere Autoren setzen ω auf den Wert 122,45 Jahre. Dies ist das Alter, das Jeanne Calment zum Zeitpunkt ihres Todes erreichte, und das bisher höchste verifizierte Alter eines Menschen. Bisher sind keine evidenzbasierten Mittel (beispielsweise Arzneistoffe) und sonstige Behandlungsmethoden bekannt, durch die das primäre Altern beim Menschen verzögert oder gar verhindert werden kann. In verschiedenen Tiermodellen konnte das primäre Altern durch bestimmte Maßnahmen, wie beispielsweise Kalorienrestriktion oder die Gabe von Rapamycin, verzögert werden. Als sekundäres Altern bezeichnet man dagegen die Folgen äußerer Einwirkungen, die die maximal erreichbare Lebensspanne verkürzen. Dies können beispielsweise Krankheiten, Bewegungsmangel, Fehlernährung oder Suchtmittelkonsum sein. Das sekundäre Altern kann somit durch den Lebensstil beeinflusst werden. Der Gegenstand dieses Artikels ist im Wesentlichen das primäre Altern. Die beiden Formen des Alterns lassen sich in der Praxis nicht immer eindeutig unterscheiden. Die Gerontologie ist die Alters- und Alternswissenschaft und behandelt entsprechend alle Aspekte des Alterns. Die Biogerontologie setzt sich mit den biologischen Ursachen des Alterns auseinander. Die Geriatrie ist dagegen die Lehre von den Krankheiten alter Menschen. Seneszenz Seneszenz (lat. senescere ‚alt werden‘, ‚altern‘) ist kein Synonym für Altern. Seneszenz kann als altersbedingte Zunahme der Mortalität (Sterberate) und/oder Abnahme der Fertilität (Fruchtbarkeit) definiert werden. Altern kann zur Seneszenz führen: Die Seneszenz ist der degenerative Abschnitt des Alterns. Nur wenn die schädlichen Effekte graduell und langsam akkumulieren, sollte man von Seneszenz sprechen. Häufig lässt sich dennoch nicht sauber zwischen Altern und Seneszenz unterscheiden. Der Anfang der Seneszenz wird meist auf einen Zeitpunkt nach dem Ende der Reproduktionsphase gelegt. Dies ist eine willkürliche Festlegung, die den Vorgängen bei verschiedenen Spezies nicht gerecht wird. So zeigen Wirbeltiere Phänomene der Seneszenz wie beispielsweise die Anreicherung des Alterspigmentes Lipofuszin noch während ihrer fruchtbaren Phase und Wasserflöhe legen trotz Seneszenz bis zu ihrem Tod fertile Eier. Ein typisches Kennzeichen der Seneszenz ist der Anstieg der Mortalitätsrate über die Zeit. Viele altersbedingte Veränderungen in adulten Organismen haben keinen oder kaum einen Einfluss auf die Vitalität oder Lebensdauer. Dazu gehört beispielsweise das Ergrauen der Haare durch eine verminderte Expression der Katalase CAT und der beiden Methioninsulfoxidreduktasen MSRA und MSRB. Die Alterung der Zellen (Zellalterung) wird als Zellseneszenz bezeichnet. Lebenserwartung und Lebenspotenzial Sowohl die durchschnittliche Lebenserwartung als auch die maximal erreichbare Lebensspanne ω sind von Organismus zu Organismus sehr unterschiedlich. Eintagsfliegen und Galápagos-Riesenschildkröten sind dabei Extrembeispiele. Die statistisch ermittelte Lebenserwartung eines Individuums ist bei jedem Organismus erheblich geringer als die maximale Lebensdauer. Der Katastrophentod durch Krankheiten, Unfälle oder Prädatoren (Fressfeinde) führt dazu, dass die meisten Organismen in freier Wildbahn nicht in den Bereich ihres Wertes für ω kommen. Lediglich ein kleiner Teil der Todesfälle ist alternsbedingt. Beim Menschen kann über seine Entwicklungsgeschichte, insbesondere der letzten 100 Jahre, eine zunehmende Annäherung der mittleren Lebenserwartung der Bevölkerung an die maximale Lebensdauer beobachtet werden. Nicht-biologische Formen des Alterns Neben dem biologischen Altern gibt es beim Menschen noch andere Formen des Alterns. Dazu zählt das psychologische Altern. Darunter versteht man die Veränderungen kognitiver Funktionen, Erfahrungen des Wissens und der subjektiv erlebten Anforderungen, Aufgaben und Möglichkeiten des Lebens. Dabei können sich durch das Altern auch Stärken, wie beispielsweise bereichsspezifische Erfahrungen, Handlungsstrategien und Wissenssysteme, bilden. Mit sozialem Altern sind die Veränderungen in der sozialen Position, die durch das Erreichen eines bestimmten Lebensalters oder einer bestimmten Statuspassage eintreten, definiert. Das Ausscheiden aus dem Berufsleben und der Eintritt in das Rentenalter ist in der Industriegesellschaft die Statuspassage, mit der das soziale Altern beginnt. Mit den Aspekten des sozialen Alterns befassen sich unter anderem die Disengagementtheorie (der selbstbestimmte Rückzug aus sozialen Kontakten), die Aktivitätstheorie und die Kontinuitätstheorie des Alterns. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) fördert seit den 1990er Jahren durch das Konzept des Aktiven Alterns den Versuch, bei alternden und alten Menschen Kompetenzen zu erhalten und in Form von Teilhabe wirksam werden zu lassen. Vom Altern nicht betroffene Organismen Altern ist ein Vorgang, der viele höhere Organismen ihr ganzes Leben begleitet und in letzter Konsequenz zu ihrem Tod führen kann. Viele Organismen mit differenzierten somatischen Zellen („normale“ diploide Körperzellen) und Gameten (Keimzellen, das heißt haploide Zellen) mit Keimbahn altern und sind sterblich. Mehrjährige Pflanzen bilden hier eine wichtige Ausnahme, da sie durch vegetative Vermehrung potenziell unsterblich sind. Im Pflanzenreich findet sich eine Vielzahl von Arten, die – nach gegenwärtigem Kenntnisstand – nicht altern. Beispielsweise produziert eine über tausend Jahre alte Stieleiche jedes Jahr Blätter und Eicheln von immer derselben Qualität. Wenn der Baum stirbt, dann durch äußere Einflüsse, wie beispielsweise Brände oder Pilzbefall. Viele niedere Organismen, die keine Keimbahn aufweisen, altern nicht und sind potenziell unsterblich. Man spricht dabei auch von einer somatischen Unsterblichkeit. Zu diesen potenziell unsterblichen Organismen gehören die Prokaryoten, viele Protozoen (beispielsweise Amöben und Algen) und Arten mit ungeschlechtlicher Teilung (beispielsweise auch Mehrzeller wie Süßwasserpolypen (Hydra)). Faktisch haben diese Organismen allerdings sehr wohl eine begrenzte Lebensdauer. Äußere Faktoren, wie beispielsweise ökologische Veränderungen oder Fressfeinde (Prädatoren), limitieren die Lebenserwartung erheblich und führen zum sogenannten Katastrophentod. Von besonderem wissenschaftlichen Interesse sind höhere Organismen, die, nachdem sie adult wurden, offensichtlich nicht weiter altern und keine Anzeichen von Seneszenz zeigen. Man spricht dabei von „vernachlässigbarer Seneszenz“ (englisch negligible senescence). Kennzeichen solcher Organismen sind eine über das Alter konstante Reproduktions- und Sterberate; im Gegensatz zu alternden Organismen bleibt ihre spezifische Mortalität also mit zunehmendem Lebensalter konstant. Für einige Spezies werden diese Eigenschaften vermutet. Dazu gehört beispielsweise der Felsenbarsch Sebastes aleutianus (englisch Rougheye rockfish), von dem ein 205 Jahre altes Exemplar nachgewiesen wurde, und die Amerikanische Sumpfschildkröte (Emydoidea blandingii). Einige Autoren sehen auch beim Nacktmull – als bisher einzigem Säugetier – eine vernachlässigbare Seneszenz. Generell gestaltet sich die Beweisführung, dass überhaupt eine höhere Art eine vernachlässigbare Seneszenz aufweist, als sehr schwierig. Extrem alte Exemplare sind sehr selten, da keine Art gegen einen Katastrophentod gefeit ist. Daten von Tieren in Gefangenschaft liegen bisher für keinen ausreichend langen Zeitraum vor. Das Postulat der vernachlässigbaren Seneszenz wurde erst 1990 aufgestellt. Die Qualle Turritopsos Nutricula soll ihre Zellen erneuern können, wenn die Lebensfunktionen nachlassen. Laut des Forschers Ferdinando Boero sei dieser Zustand erreicht, lasse sie sich auf den Meeresboden hinabsinken und regeneriere dort ihr Zellvolumen. Sie lebt ohne Begrenzung, sofern sie nicht beispielsweise von anderen Tieren getötet wird. Bei nichtalternden Organismen ist die Wahrscheinlichkeit des Todes unabhängig von Alter und Zeitpunkt. Die altersspezifische Mortalitätsrate, das ist die Anzahl der Todesfälle in einer bestimmten Altersklasse, ist deshalb konstant. Die Überlebenskurve nichtalternder Organismen ist in halblogarithmischer Darstellung eine Gerade. Bei den „unsterblichen“ Bakterien oder sich spaltenden Hefen sind die Tochterzellen weitgehend identische Kopien der Ausgangszellen. Es wird diskutiert, ob in solchen Fällen wirklich von einer Unsterblichkeit gesprochen werden kann, schließlich entstehen zwei neue Individuen. Unabhängig von dieser philosophischen Frage dürfen solche Zellen keine Alterserscheinungen zeigen: Diese würden auf die Tochterzellen übertragen, von Generation zu Generation sich anhäufen (akkumulieren) und letztlich die gesamte Spezies auslöschen (eliminieren). In Vielzellern (Metazoa) und knospender Hefe kann dagegen das Altern in den somatischen Zellen, beziehungsweise Mutterzellen, stattfinden. Die für die Erhaltung der Art wichtigen Keimzellen – im Fall der Hefe Tochterzellen – müssen dagegen intakt bleiben. Modellorganismen der Alternsforschung Für die Grundlagenforschung über die Vorgänge und Ursachen zum Altern werden im Wesentlichen kurzlebige Spezies wie Taufliegen, Fadenwürmer und Farbmäuse verwendet. Dabei werden beispielsweise die Auswirkungen von potenziellen Wirkstoffen, der Ernährung und anderer äußerer Lebensbedingungen sowie von Manipulationen des Genoms untersucht. Als man in den 1980er-Jahren damit begann, mit sehr einfachen Organismen biogerontologische Versuche durchzuführen, war es noch nicht absehbar, dass dies – aus genetischer Sicht betrachtet – ein Glücksgriff war. Erst zu Beginn des 21. Jahrhunderts wurde mit der Entschlüsselung des Genoms verschiedener Modellorganismen und des Menschen festgestellt, dass eine sehr hohe Anzahl von Genen bei diesen Spezies übereinstimmen. Gerade die Gene, die einen erheblichen Einfluss auf das Altern haben, sind teilweise hochkonserviert und ermöglichen eine Übertragung der Forschungsergebnisse auf andere Spezies. Menschliche Alternsprozesse, die über viele Jahrzehnte ablaufen, lassen sich allerdings nur unzureichend abbilden. Taufliegen haben beispielsweise andere altersassoziierte Erkrankungen als Menschen. Einige Forschungsgruppen gehen einen anderen Weg. Sie untersuchen das Genom und die Lebensbedingungen von Spezies, die vergleichsweise alt werden. Dazu gehören insbesondere der Nacktmull (Heterocephalus glaber) und die Little Brown Bat (Myotis lucifugus), eine nordamerikanische Fledermausart aus der Gattung der Mausohren. Die mausgroßen Nacktmulle übertreffen gleich große Nagetiere bei der maximalen Lebensspanne um den Faktor neun. Sie haben keine altersbedingte Zunahme der Mortalität, wie sie sonst bei jedem anderen Säugetier vorhanden ist. Darüber hinaus zeigen Nacktmulle über ihre gesamte Lebensspanne nur geringe altersbedingte Veränderungen. Die fortpflanzungsfähigen Weibchen haben bis in die dritte Lebensdekade eine gleichbleibende Fruchtbarkeit. Bisher wurden auch noch bei keinem Nacktmull spontane Tumoren beobachtet. Die maximal 14 g schweren Fledermäuse werden in der Wildnis bis zu 34 Jahre alt. Auch das Genom des Grönlandwals, der über 200 Jahre alt werden kann, ist von wissenschaftlichem Interesse. In der Biogerontologie haben sich einige Tiermodelle zur Erforschung des Alterns etabliert. Dazu gehören neben den nachfolgend beschriebenen Fadenwürmern und Fruchtfliegen vor allem die Backhefe (Saccharomyces cerevisiae) und die Farbmaus. Caenorhabditis elegans Der adulte Fadenwurm Caenorhabditis elegans besteht aus lediglich 959 somatischen Zellen, die alle post-mitotisch, das heißt nicht mehr teilungsfähig, sind. 2002 waren schon über 50 verschiedene Mutanten bekannt, die gegenüber dem Wildtyp ein verlangsamtes primäres Altern aufweisen und so eine höhere Lebensspanne erreichen. Ein Teil der dabei identifizierten Gene beeinflusst die Stressresistenz der Versuchstiere positiv; andere wirken unmittelbar auf die Stoffwechselrate und senken diese. Der Einfluss auf die Stoffwechselrate passt unmittelbar zu den Vorhersagen der Disposable-Soma-Theorie (siehe unten). Eine Mutation im clk-1-Gen (ein Clock-Gen in der mitochondrialen DNA) von C. elegans kann seine mittlere Lebensdauer um 50 % erhöhen. Außer durch Mutationen in der mitochondrialen DNA kann das Altern von C. elegans auch durch niedrige Temperaturen – die unmittelbar die Körpertemperatur herabsetzen –, Kalorienrestriktion und eine verminderte Expression von Insulin bzw. insulinähnlichen Wachstumsfaktoren signifikant reduziert werden. Werden alle vier Maßnahmen gleichzeitig angewendet, so addieren sich die lebensverlängernden Effekte. Allerdings sind vom Wirkungsmechanismus her offensichtlich nur die Kalorienrestriktion und die Reduzierung der Temperatur voneinander unabhängige Parameter. In neuen Studien konnte nachgewiesen werden, dass die durch Mitochondrien vermittelte Lebensverlängerung in C. elegans direkt mit dem Energiestoffwechsel zusammenhängt und von Gewebe zu Gewebe weitervermittelt werden kann, wobei der Stoffwechsel der Zelle (ohne Mitochondrium) unberührt bleibt. Drosophila melanogaster Die Taufliege Drosophila melanogaster ist für die Erforschung der Prozesse des Alterns ein häufig verwendeter Modellorganismus. Das auf nur vier Chromosomen befindliche Genom wurde bereits im Jahr 2000 vollständig sequenziert und der zeitliche Abstand einer Generationsfolge ist mit neun bis 14 Tagen sehr kurz. Durch eine Mutation im mth-Gen (englisch methuselah, dt. Methusalem) erhöht sich die Lebenserwartung dieser Spezies um 35 %. Die mutierten Tiere sind gegenüber verschiedenen Formen von Stress deutlich beständiger. Auch eine teilweise Deaktivierung von Genen, die unmittelbar in die Elektronentransportkette in den Mitochondrien eingreifen (ETC-Gene, engl. electron transport chain), erhöht die Lebenserwartung von D. melanogaster. Biomarker für das Altern Altern ist ein dynamischer Prozess, der nicht nur von der Spezies, dem Geno- und Phänotyp, sondern auch von äußeren Einflüssen (sekundäres Altern) abhängig ist. Für Populationen lassen sich durch die Überlebens- beziehungsweise Mortalitätsraten Aussagen über das Altern treffen. Dabei dient als sehr einfacher „Biomarker“ der Tod der Individuen. Der kann wiederum individuell sehr verschiedene, auch nicht altersbedingte, Ursachen haben, weswegen der Tod eine individuelle Aussage über das momentane biologische Alter, gewissermaßen als aktuellen Status, nicht liefert. Auch das chronologische Alter eines Organismus kann nur begrenzt Informationen liefern. Biomarker des Alterns sind Merkmale, die eine bessere Vorhersage der tatsächlichen Funktionsfähigkeit des Organismus in einem höheren Alter erlauben und dabei zuverlässiger als das chronologische Alter sind. Anders ausgedrückt, zeigen die Biomarker des Alterns das wahre „biologische Alter“ in einer Weise auf, wie es das chronologische Alter nicht vermag. Validierte Biomarker des Alterns ermöglichen eine Prüfung, ob bestimmte Eingriffe der Verlängerung der Lebensdauer dienlich sind, indem Veränderungen in den Biomarkern beobachtet werden, die auf ein niedriges biologisches Alter hinweisen. Im Idealfall sollten die Biomarker des Alterns nur den biologischen Prozess des Älterwerdens prüfen, jedoch nicht die Prädisposition für eine bestimmte Krankheit. Die Messung der Biomarker sollte den Organismus dabei möglichst wenig negativ beeinflussen, reproduzierbar sein und die Ergebnisse für eine kurze Zeitspanne müssen direkt im Verhältnis zur gesamten Lebenszeit des Organismus stehen. Eine internationale Forschergruppe hat erstmals eine molekulare Signatur entdeckt, welche das biologische Alter bestimmt und durch einen Bluttest ermittelt werden kann. Die Fragestellung ist, wie kann das biologische Alter gemessen, beziehungsweise das Fortschreiten (Progression) des Alterns, eines Individuums bestimmt werden? Die Schwierigkeit dabei ist, dass Altern ein komplexer mehrdimensionaler Vorgang ist. In den einzelnen Dimensionen kann das Altern sehr unterschiedlich ablaufen. So kann beim Altern des Menschen beispielsweise einerseits die Gedächtnisleistung ab-, das Erfahrungswissen aber zeitgleich zunehmen. Körperliche Beeinträchtigungen können durch psychische Anpassungen so kompensiert werden, dass das Wohlbefinden subjektiv stabil bleibt. Das Altern kann auch beim Menschen sehr individuell verlaufen. Äußere, kaum quantifizierbare, Zeichen des Alterns sind beim Menschen beispielsweise die Haltung, der Gang, die Elastizität der Haut (Falten) sowie die Haut- und Haarfarbe. Eine der Bestrebungen der Gerontologie ist es, die altersbedingten Funktionsverluste standardisiert messen zu können. Dies kann beispielsweise über Biomarker oder den sogenannten frailty index („Gebrechlichkeitsindex“) geschehen. Andere Tests erfassen eine Vielzahl von unterschiedlichen Messdaten wie beispielsweise Blutdruck, Vitalkapazität, Pulsfrequenz vor und nach einer körperlichen Belastung, Sauerstoffgehalt im Blut, Handkraft, Gelenkbeweglichkeit, Hör- und Sehvermögen, Reaktionszeiten, Konzentrations- und Koordinierungsfähigkeit sowie Gedächtnisleistungen. Ein häufig verwendeter Biomarker ist die Lungenfunktion. Mit zunehmendem Alter nimmt die Atemkapazität und die Ausblasgeschwindigkeit ab. Das Ziel dieser Tests zur Ermittlung des biologischen Alters ist es, Risikofaktoren frühzeitig zu erkennen und mögliche Präventivmaßnahmen einzuleiten. Ein Beispiel für ein solches standardisiertes Verfahren ist der Age Scan. Der Nutzen dieser Verfahren, und allgemein der Biomarker für das Altern, ist umstritten. Einige Autoren bezweifeln den Sinn, da die Natur des Alterns noch weitgehend unklar ist. Zudem laufen viele Vorgänge des Alterns in einem Individuum unabhängig voneinander ab. Beispielsweise gibt es keinen Bezug zwischen dem Ergrauen der Haare und einer altersassoziierten Schwerhörigkeit. Die Alternsrate ist von Mensch zu Mensch unterschiedlich. Einige der Biomarker sind rein krankheitsassoziiert und eine Korrelation zum Altern selbst ist fragwürdig. So ist beispielsweise bei einer diagnostizierten Beeinträchtigung der Lungenfunktion die Mortalitätsrate in den nächsten 4 bis 20 Jahren höher als bei einer Normalfunktion. Die Haupttodesursachen sind allerdings kardiovaskulärer und maligner und nicht pulmonaler Natur, sodass die Kritiker die Frage stellen, ob die Lungenfunktionsmessung nicht eher ein Prädiktor für die beiden Krankheitsgruppen Herz-Kreislauf und Krebs als für das Altern ist. Darüber hinaus ist die Vorhersagekraft der gemessenen Lungenfunktion bezüglich der Mortalität nicht besser als das chronologische Alter des Betroffenen. Eine vorzeitige Mortalität durch bestimmte Krankheiten lässt sich zwar prognostizieren, Langlebigkeit jedoch nicht. Biologische Uhren, zum Beispiel die epigenetische Uhr, sind vielversprechende Biomarker des Alterns. Steve Horvath entwickelte einen Marker, der über den Methylierungszustand der DNA Aufschluss über das Alter verschiedener Gewebe und Zelltypen gibt. Bei im Labor gehaltenen Modellorganismen fehlt bisher ein zuverlässiger Biomarker, mit dem die individuelle Lebenserwartung vorhergesagt werden kann. Es wurde allerdings zum Beispiel gezeigt, dass die Anzahl der CD4- und CD8-T-Gedächtniszellen (auch CD4-Zellen mit P-Glykoprotein) und der naiven T-Zellen eine gute Vorhersage der erwarteten Lebensdauer von genetisch heterogenen Mäusen mittleren Alters ergeben. Pathologie des Alterns Altern ist ein physiologischer Vorgang und keine Krankheit. Das British Medical Journal veröffentlichte 2002 eine ‚Liste der Nicht-Krankheiten‘. Die Leser wählten dabei ‚Altern‘ (ageing) an die erste Stelle der Nicht-Krankheiten. Aus dem Bereich der Anti-Aging-Bewegung vertreten einige Protagonisten, wie beispielsweise Aubrey de Grey und David A. Sinclair, die Meinung, dass Altern sehr wohl eine Krankheit ist, die zu bekämpfen sei. Die US-amerikanische Food and Drug Administration (FDA) sieht im Altern keine Indikation gegeben. Das heißt, Altern ist nach Maßgabe der FDA kein Krankheitsbild, für das der Einsatz einer bestimmten medizinischen Maßnahme angebracht ist. Altern ist nicht zwangsläufig mit Krankheiten verbunden. Das Alter ist aber ein bedeutsamer Risikofaktor für die Gesundheit. Die mit dem Altern einhergehende verringerte Anpassungs- und Widerstandsfähigkeit des Organismus führt zu einer erhöhten Störungsanfälligkeit. Chronische Erkrankungen nehmen zu, treten häufig gemeinsam auf (Multimorbidität) und erhöhen die Sterblichkeit. Die Sterblichkeitsrate steigt mit der Zunahme von körperlichen Defiziten exponentiell an. Typischerweise beschleunigt sich das Ansammeln dieser Defizite bei älteren Menschen vor ihrem Tod. Altern ist derzeit zumeist keine primäre Todesursache: Durch das Altern bedingte zelluläre und daraus folgende organische Veränderungen erhöhen die Wahrscheinlichkeit, an einer Alterskrankheit oder an einer in jungen Jahren eher unkritischen Krankheit zu sterben. Typische Alterskrankheiten sind viele Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Erkrankungen der Gehirngefäße, Bronchitis, Diabetes mellitus Typ II, Osteoporose, Arthrose und auch Krebs. Alterskrankheiten zählen zu den Hauptursachen, warum die maximale Lebensspanne nur äußerst selten erreicht werden kann. Physiologisch betrachtet ist das Altern durch einen langsamen und progressiven Verlust verschiedener Körperfunktionen gekennzeichnet, von dem alle Organsysteme betroffen sind. Der Zeitpunkt des Nachlassens dieser Funktionen ist von Organ zu Organ sehr unterschiedlich. So nimmt beim Menschen beispielsweise die glomeruläre Filtrationsrate (GFR) der Nieren (die Nierenleistung) schon in der Kindheit ab, während die Nervenleitungsgeschwindigkeit erst ab 30 Jahren nachlässt. Aus dem Bereich der Inneren Medizin ist außer der GFR vor allem noch das Nachlassen der Vitalkapazität der Lungenfunktion, der maximalen Sauerstoffaufnahmekapazität, des Atemzugvolumens, des Blutflusses im Gehirn und in der Leber sowie des Herzschlagvolumens zu beobachten. Als wichtigste neurologische Veränderung ist eine nachlassende Gedächtnisfunktion feststellbar. Das Hormonsystem produziert weniger Hormone. Der Verdauungstrakt reduziert die Sekretion von Verdauungsenzymen und die Verwertung von Nährstoffen lässt – wie auch die Peristaltik des Darmes – nach. Zu diesen organspezifischen Veränderungen kommt noch ein systemischer Verlust von Strukturproteinen, der sich vor allem als Verlust von Muskelmasse, Bindegewebe und Unterhautfettgewebe äußert. Die nachfolgende Tabelle gibt eine Übersicht über die wichtigsten altersbedingten Veränderungen. In Deutschland hat sich, wie in vielen anderen Industrienationen auch, die Lebenserwartung in den letzten 100 Jahren nahezu verdoppelt. Die Ursache hierfür sind im Wesentlichen verbesserte Hygienebedingungen, Reduzierung der Sterblichkeitsrate von Neugeborenen und effektivere Therapien und Prävention einer Vielzahl von akuten Krankheiten. In den Vereinigten Staaten waren im Jahr 1900, mit einem Anteil von 31 % bei allen Sterbefällen, die drei häufigsten Todesursachen Influenza/Lungenentzündung, Tuberkulose und Gastroenteritis/Durchfall. 2002 stellten im selben Land mit Herzkrankheiten, Krebs und Schlaganfall, drei eindeutig altersassoziierte Erkrankungen mit zusammen 61 % aller Sterbefälle die häufigsten Todesursachen. Die Folge dieser Entwicklung ist, dass immer mehr Menschen älter werden. Die maximale Lebensspanne von etwa 120 Jahren hat sich durch diese Maßnahmen jedoch nicht verändert. Der Gerontologe Leonard Hayflick geht davon aus, dass dieser Wert in den letzten 100.000 Jahren der Menschheitsgeschichte konstant geblieben ist. Genetische Einflüsse Die extremen Unterschiede für ω bei den einzelnen Spezies werden von den meisten Wissenschaftlern mit einer genetischen Bestimmung begründet, was allerdings umstritten ist. Als programmiertes Altern bezeichnet man die genetisch gesteuerte Biomorphose (auch Ontogenese) und Differenzierung. Für diese beiden Vorgänge ist die genetische Steuerung unstrittig. Sehr kontrovers ist dagegen die Diskussion, ob es eine programmierte Seneszenz gibt und diese die Ursache für die Unterschiede von ω zwischen einzelnen Spezies ist. Weitgehender Konsens herrscht darüber, dass innerhalb einer Spezies das Altern und die Lebenserwartung von bestimmten Genen beeinflusst wird. So wird auch beim Menschen beides, außer von seinem Lebensstil und anderen äußeren Einflüssen, zu einem Teil von seiner Genetik bestimmt. Man schätzt den Anteil der genetischen Disposition an der Lebenserwartung auf 20 bis 30 %. Statistisch gesehen steigt beim Menschen bis ungefähr zum 92. Lebensjahr die Sterbewahrscheinlichkeit (Mortalitätsrate) exponentiell an. Für noch ältere Altersgruppen flacht sie wieder ab. Der Anstieg der Sterblichkeit verlangsamt sich (englisch late-life mortality deceleration), geht aber keinesfalls zurück. Dies bedeutet eine Abweichung von dem 1825 von Benjamin Gompertz formulierten „Gesetz der Mortalität“ (Gompertz-Makeham-Modell). Frauen und Männer oberhalb eines Alters von 92 Jahren bilden bezüglich der Mortalität eine eigene Gruppe. Für dieses Phänomen werden im Allgemeinen die Erbanlagen („Altersgene“) und das für das Erkennen und Vernichten von Krebszellen wichtige Immunsystem verantwortlich gemacht. Der Einfluss der Erbanlagen auf die Langlebigkeit ist beim Menschen und einer Vielzahl von Modellorganismen eindeutig belegt. Entsprechend erreichen Kinder mit hochbetagten Eltern durchschnittlich ein höheres Lebensalter als Menschen, deren Eltern früher gestorben sind. Aus der Zwillingsforschung weiß man, dass bei zweieiigen Zwillingen der mittlere Unterschied in der Lebensdauer doppelt so hoch wie bei den genetisch identischen eineiigen Zwillingen ist. Umgekehrt kann aus der genetischen Disposition bezüglich des Alterns nicht auf ein genetisches Programm Altern oder ein spezifisches „Alternsgen“, das das Altern eines Organismus fördert, geschlossen werden. Ein solches nachteiliges Gen wäre nach einer Mutation, die es funktionslos machen würde, durch die Evolution längst ausselektiert worden – wenn es nicht für die gesamte Spezies einen Vorteil bietet. Es gibt zumindest beim Menschen keine Gene für das Altern. Die Genetik des Alterns ist hochkomplex. Das Altern wird durch ein kontinuierliches Ansammeln von somatischen Schäden hervorgerufen, die eine Folge einer begrenzten Investition des Körpers in seine Wartung und Reparatur sind. Reparaturmechanismen, wie beispielsweise DNA-Reparatur und die Bekämpfung von oxidativem Stress, werden von Genen kontrolliert, die dadurch Einfluss auf die Langlebigkeit und das Altern des Organismus haben. Es gibt möglicherweise auch Anpassungen an die Folgen des Alterns: in Ratten ist die Expression von Megalin in den Nieren im Alter erhöht, wahrscheinlich um die steigende Anzahl der Defekte an dem großen Protein auszugleichen. In natürlichen Lebensräumen ist die Sterblichkeit von Organismen – mit Ausnahme des Menschen – vor allem auf externe Ursachen (Katastrophentod) zurückzuführen. Altern ist eine Begleiterscheinung, die in freier Wildbahn kaum auftritt, da die meisten Organismen schon vorher sterben. Aus diesem Sachverhalt heraus lässt sich ableiten, dass ein genetisches „Todesprogramm“ als Ergebnis einer evolutionären Selektion sehr unwahrscheinlich ist. Das Altern ist weniger auf deterministische (zukünftige Ereignisse sind durch Vorbedingungen festgelegt) als auf stochastische Prozesse (zeitlich geordnete, zufällige Vorgänge) zurückzuführen. Bei einigen semelparen Organismen gibt es eine Form von programmiertem Tod (Fortpflanzungstod). Am bekanntesten ist dabei der Lebenszyklus der Pazifischen Lachse (Oncorhynchus), die während ihrer Laichwanderung kaum noch oder gar keine Nahrung aufnehmen. Der Körper unterliegt erheblichen hormonellen Veränderungen und die Tiere verenden kurz nach ihrer Fortpflanzung in den Laichgewässern. Ähnliche Verhaltensweisen sind von Kraken (Octopoda) bekannt. Die Männchen der australischen Breitfuß-Beutelmäuse (Antechinus) sterben nach der Paarung, letztlich hervorgerufen durch eine Überproduktion von Testosteron und Cortisol. Wissenschaftler des Deutschen Krebsforschungszentrums (DKFZ) in Heidelberg haben 2018 erstmals ein Protein namens TXNIP (Thioredoxin-interacting protein) entdeckt, das eine zentrale Schaltstelle im Alterungsprozess darstellt. Es kontrolliert die Lebensspanne eines Individuums – von der Fliege bis hin zum Menschen. Mutationen, die das Altern beeinflussen können Das Phänomen Altern hat einen genetischen Hintergrund. Der Fadenwurm Caenorhabditis elegans hat eine maximale Lebensspanne (ω) von wenigen Wochen. Der Mensch erreicht für ω einen Wert von etwa 120 Jahren. Beide Arten haben in ihrer Stammesgeschichte einen gemeinsamen Vorfahren. Geht man davon aus, dass dieser Vorfahre für ω einen ähnlichen Wert wie C. elegans hatte, so bedeutet dies, dass im Laufe der Jahrmillionen die Evolution durch Mutation und Selektion den Wert um das über 2000-fache gesteigert hat. Eines der von der Biogerontologie untersuchten Probleme ist es, die dafür verantwortlichen Gene zu identifizieren. Im Labor lässt sich in Modellorganismen – wie beispielsweise C. elegans – durch das gezielte Zu- oder Abschalten (Gen-Knockin beziehungsweise Gen-Knockout) bestimmter Gene der Wert von ω verkürzen oder verlängern. In der freien Natur können spontane Mutationen Gene betreffen, die einen unmittelbaren Einfluss auf das Altern haben. Dies kann sowohl beim Menschen als auch bei anderen Organismen beobachtet werden. Progerie Unter der Bezeichnung Progerie werden einige äußerst seltene Erbkrankheiten zusammengefasst, die durch ein um den Faktor fünf bis zehn beschleunigtes Altern der betroffenen Patienten gekennzeichnet sind. Ursache dieser Erkrankungen sind spontane Punktmutationen. Vom sogenannten Hutchinson-Gilford-Syndrom sind weltweit etwa 40 Kinder betroffen, die eine mittlere Lebenserwartung von ungefähr 14 Jahren haben. Einige der typischen alterassoziierten Erbkrankheiten wie Herzinfarkt oder Schlaganfall sind bei Kindern mit Progerie besonders häufig und die Haupttodesursache. Dagegen ist das Risiko, an Krebs oder Morbus Alzheimer zu erkranken, nicht erhöht. Progerie ist deshalb keine Erkrankung, die einem beschleunigten Altern unmittelbar entspricht. Aufgrund dieser Unterschiede zwischen Progerie und normalem Altern gibt es eine kontroverse Diskussion, ob Progerie wirklich eine Form des beschleunigten Alterns ist. Auf molekularbiologischer Ebene wurden inzwischen genügend Daten erhalten, die die Hypothese des beschleunigten Alterns zumindest für das Hutchinson-Gilford-Syndrom bestätigen. So wurden beispielsweise Parallelen bei der Instabilität des Genoms und des Telomer-Abbaus gefunden. Eine besondere Form der Progerie stellt die Dyskeratosis congenita dar. Bei dieser sehr seltenen Erbkrankheit ist das Enzym Telomerase infolge einer Mutation direkt oder indirekt in seiner Funktion betroffen. Durch die eingeschränkte Aktivität der Telomerase werden die Telomere an den Enden der Chromosomen der betroffenen Patienten schneller abgebaut. Die Patienten altern unter anderem schneller als normal, haben fragile Knochen, unterentwickelte Hoden und zeigen eine Prädisposition für Krebserkrankungen. Dwarf-Mäuse Dwarf-Mäuse sind Mutanten der Art Mus musculus (Hausmaus, beziehungsweise deren Zuchtform Farbmaus, Gattung: Mäuse) und nicht mit der Art Zwergmäuse (Micromys minutus) aus der Gattung Micromys zu verwechseln. Diese Tiere weisen bedingt durch eine spontane Genmutation ein Defizit an Wachstumshormonen auf. So kann beispielsweise die Produktion von insulinähnlichen Wachstumsfaktoren (IGF-1), Thyreotropin (TSHB) und Prolactin (PRL) um über 99 % reduziert sein. Diese Mutation hat für die Dwarf-Mäuse zur Folge, dass sie deutlich langsamer altern und ihre Lebensspanne um 68 % (Weibchen) beziehungsweise 49 % (Männchen) höher als bei Tieren der gleichen Art ohne Mutation ist. Als Trade-off (Ausgleich) ist bei diesen Tieren – entsprechend der Life-history-Theorie – ein reduziertes Wachstum und eine geringere Fruchtbarkeit zu beobachten. So sind die Weibchen der Ames- und Snell-Dwarf-Mäuse unfruchtbar und die Männchen haben eine geringe Fertilität. Das Körpergewicht ist um 67 % geringer als beim Wildtyp. Per Gen-Knockout lassen sich solche Mäuse seit Ende der 1980er Jahre gezielt im Labor produzieren. Daneben wurde eine Vielzahl von gentechnischen Veränderungen an Mäusen und anderen Organismen vorgenommen, bei denen die Werte von ω erhöht oder erniedrigt werden konnten. Beispielsweise haben Mäuse, bei denen der Apoptoseinduktor p66Shc abgeschaltet wurde, eine um 30 % gesteigerte Lebenserwartung, die durch eine höhere Resistenz gegenüber oxidativem Stress hervorgerufen wird. FOXO3 Eine Arbeitsgruppe um die Kieler Wissenschaftlerin Almut Nebel analysierte das Genom von 388 hundertjährigen Deutschen im Vergleich mit 731 jüngeren Personen. Dabei stellten sie fest, dass ein bestimmter Genotyp des FOXO3-Gens bei den Hundertjährigen besonders häufig anzutreffen ist. In der Presse wurden danach Begriffe wie Langlebigkeits-Gen, Alters-Gen, Greisen-Gen oder Methusalem-Gen verwendet. Schon ein Jahr zuvor hatte eine andere Arbeitsgruppe festgestellt, dass der FOXO3-Genotyp einen erheblichen Einfluss auf die Lebenserwartung eines Menschen hat. Studien in anderen Ländern kommen zu dem gleichen Ergebnis. Das Genprodukt von FOXO3 wirkt als Transkriptionsfaktor unmittelbar auf die Genexpression von Sirtuin-1. Sirtuin-1 wird bei der Kalorienrestriktion vermehrt ausgeschüttet, die bei einer Vielzahl von Modellorganismen ein verzögertes Altern und eine höhere Lebenserwartung bewirkt. Sirtuin-1 wiederum hemmt mTOR (mammalian Target of Rapamycin) und kann durch bestimmte Substanzen, wie beispielsweise Resveratrol, aktiviert werden. Gerontogene In den beiden für die Biogerontologie wichtigen Modellorganismen Caenorhabditis elegans (Fadenwurm) und Drosophila melanogaster (Taufliege) konnten mehrere Gene identifiziert werden, die – wenn sie deaktiviert sind – die maximale Lebenserwartung dieser Tiere deutlich erhöhen können. Solche Gene werden als Gerontogene bezeichnet. Sie gelten als Beweis dafür, dass das Altern durch spezifische Gene reguliert wird. Alternstheorien Zur Klärung der Frage, warum alle höheren Organismen altern, gibt es bis zum heutigen Tag keine allgemein wissenschaftlich akzeptierte Antwort. Für das Altern und den dadurch bedingten Tod gibt es auch für höhere Organismen – einschließlich des Menschen – kein Naturgesetz, das diesen Prozess zwangsläufig „vorschreibt“. Der US-amerikanische Evolutionsbiologe George C. Williams formulierte dies 1957 mit den Worten: Die Ursachen des primären Alterns sind sehr vielschichtig und äußerst komplex. Als Folge davon gab es 1990 bereits etwa 300 verschiedene Theorien zum Altern, aber keine davon ist in der Lage, das Altern alleine zu erklären. Die Alternstheorien lassen sich in zwei Hauptgruppen einteilen: Evolutions- und Schadenstheorien. Gegenwärtig sehen die meisten Forscher in den Evolutionstheorien das beste Erklärungsmodell dafür, warum der Mensch und andere Organismen altern, auch wenn diese Theorien noch einige Schwächen aufweisen. Die Geschwindigkeit des Alterns bestimmt die maximale Lebenserwartung eines Individuums. Dabei gibt es innerhalb einer Spezies leichte und zwischen einzelnen Spezies erhebliche Unterschiede. Zwischen den beiden Säugetieren Hausmaus und Grönlandwal besteht beispielsweise ein Unterschied von nahezu zwei Größenordnungen. Der Aufbau der Körperzellen, den elementaren Bausteinen beider Spezies, ist weitgehend gleich. Auch bei den aus den Zellen aufgebauten Organen und Geweben bestehen funktionell gesehen kaum Unterschiede. Die entscheidenden Unterschiede liegen im Genom, auch wenn dies in seiner Gesamtheit eine sehr hohe Ähnlichkeit aufweist. Die maximale Lebensspanne wird durch eine Vielzahl sehr unterschiedlicher Gene bestimmt. Diese Gene werden offensichtlich nicht selektiert und sie beeinflussen den Prozess des Alterns nicht unmittelbar. Das Altern selbst ist im Wesentlichen die Folge der Akkumulation von somatischen Schäden, da zur Erhaltung des Somas nur begrenzt Ressourcen (Energie) eingesetzt werden. Diese Ressourcen sind limitiert und müssen zwischen Selbsterhaltung, Wachstum und Reproduktion aufgeteilt werden. Zudem gibt es noch pleiotrope Gene, die in jungen Jahren vorteilhaft für den Organismus sind, sich aber mit zunehmendem Alter nachteilig auswirken. Die naturwissenschaftlich fundierten Alternstheorien werden in der Wissenschaftsgemeinde sehr kontrovers diskutiert. Einen allgemeinen Konsens gibt es bisher nicht. Die Meinungen der verschiedenen Lager gehen zum Teil sehr weit auseinander. So kommen beispielsweise die beiden renommierten britischen Forscher Sir Richard Peto und Sir Richard Doll bezüglich des Alterns sogar zu der extremen Aussage: Diese Meinung wird von der Mehrzahl der Gerontologen nicht geteilt. Auf der anderen Seite der Extreme finden sich Gerontologen, die das Altern auf einfache Schadenstheorien, wie Telomerabbau, oxidative Schäden durch freie Radikale oder mitochondriales Altern, reduzieren. Nachfolgend sind die wichtigsten Kategorien von Alternstheorien aufgeführt. Schadenstheorien Zu den populärsten und in der Bevölkerung am weitesten verbreiteten Theorien des Alterns gehören die Schadenstheorien. Nach ihnen ist das Altern ein Vorgang, der durch die Summe von Schäden, die durch zerstörerische Prozesse, wie Oxidation, Abnutzung oder die Akkumulation von schädlichen Nebenprodukten des Stoffwechsels, hervorgerufen wird. Organismen altern danach – stark vereinfacht ausgedrückt – ähnlich einem Auto oder einer Außenfarbe. Die bekannteste Theorie dazu ist die auf der Rate-of-Living-Theorie aufbauende Theorie der freien Radikale von Denham Harman. Sie dient auch als Erklärungsmodell für die Entstehung von Krankheiten wie beispielsweise Krebs, Arteriosklerose, Diabetes mellitus und Alzheimer. Nach der anfänglichen Ablehnung wurde die Theorie in den 1990er Jahren außerordentlich populär. Antioxidantien, die im Labor als Radikalfänger in der Lage sind, freie Radikale abzufangen, wurden als potenzielle Wirkstoffe gegen das Altern und altersbedingte Erkrankungen gesehen. Diese Euphorie hat sich inzwischen – zumindest in der Gerontologie – gelegt. Für die Theorie der freien Radikale gibt es eine Reihe von experimentellen Ergebnissen, die sie unterstützen. So wurde in vergleichenden Studien unterschiedlicher Spezies festgestellt, dass die Lebenserwartung sehr stark mit der Fähigkeit der Zellen oxidativen Stress zu überstehen korreliert. Andererseits sind einige grundlegende experimentelle Beobachtungen völlig konträr zu dieser Theorie. So wurden in den Zellen der vergleichsweise langlebigen Nacktmulle hohe Werte oxidativer Schäden festgestellt. Eine durch Gen-Knockout induzierte deutlich verminderte Expression von wesentlichen Elementen des Antioxidativen Systems, beispielsweise von Mangan-Superoxid-Dismutase (MnSOD), erhöht zwar die Inzidenz für Krebs, beschleunigt aber nicht das Altern der Versuchstiere. In einer Vielzahl von klinischen Studien konnten zudem keine positiven Effekte bei der Einnahme von Antioxidantien festgestellt werden. Anti-Aging-Produkte, die sich auf den antioxidativen Effekt berufen, haben beim Menschen vermutlich gar keine Wirkung. Noch einen Schritt weiter geht die Arbeitsgruppe um Michael Ristow, die zeigen konnte, dass freie Radikale notwendig sind, um die Mitohormesis in Gang zu setzen. Dadurch erreicht die Zelle in einer Art „Training“ eine erhöhte Abwehrkapazität gegen freie Radikale. Antioxidantien verhindern dagegen die Mitohormesis. Nach der Fehler-Katastrophen-Theorie (AE: error catastrophe (of aging)), 1963 erstmals von Leslie Orgel aufgestellt, gibt es zwei Arten von Proteinen innerhalb einer Zelle: solche die Stoffwechselfunktionen ausüben und solche, die in Informationsprozesse involviert sind. Schäden in einem metabolischen Protein seien demnach für die Zelle nicht relevant, da es nur ein falsches Protein von vielen anderen (richtigen) ist. Fehler in den molekularen ‚Kopierprozessen‘ (Transkription und Translation) von Proteinen, die ihrerseits an der Proteinsynthese beteiligt sind, könnten aber eine ganze Fehlerkaskade in der Zelle auslösen. Die mit steigendem Alter zunehmende Anzahl von Fehlern in der Aminosäurensequenz der Proteine einer Zelle sei – so die Theorie – letztlich die Ursache für das Altern. Die Akkumulation der Fehler führt in letzter Konsequenz zum Zelltod. Für die Fehler-Katastrophen-Theorie gibt es bisher keine experimentellen Beweise; eine Reihe von Versuchsergebnissen spricht gegen die Theorie. Es war allerdings auch nicht Orgels Absicht mit seiner Theorie eine neue Alternstheorie aufzustellen. Als beschreibende Theorien bieten die Schadenstheorien zwar einen Erklärungsansatz für die Prozesse beim Altern, aber keine Antwort darauf, warum Organismen altern. Zudem ist der Vergleich mit der Alterung eines toten Gegenstandes im Ansatz falsch: Organismen stellen dynamische Systeme mit einem ständigen Stoffaustausch dar; sie kämpfen während ihres gesamten Lebens gegen die Entropie (Henri Bergson). In ungefähr sieben Jahren ersetzt der menschliche Körper 90 % der Bestandteile aus denen er aufgebaut ist. Körperzellen verfügen über eine Vielzahl von Reparaturmechanismen. Beispielsweise finden pro Tag im Genom jeder einzelnen menschlichen Körperzelle mehr als 55000 Einzelstrangbrüche, 12000 Basenverluste, 200 Desaminierungen und 10 Doppelstrangbrüche statt, die durch entsprechende Mechanismen weitgehend repariert werden. Tote Zellen in Organen können durch neu gebildete ersetzt werden und einige Spezies sind sogar in der Lage verlorene Körperteile wieder vollständig herzustellen. Eine Antwort auf die Frage, warum in vielen Organismen diese zweifelsfrei vorhandenen Reparaturprozesse nur unzureichend genutzt werden, liefern die Schadenstheorien nicht. Telomer-Hypothese des Alterns Die Telomer-Hypothese des Alterns baut auf der 1965 von Leonard Hayflick gefundenen Hayflick-Grenze auf. Die Hypothese wurde 1991 von Calvin Harley aufgestellt. Nach dieser Hypothese haben die Telomere für das Altern einer Zelle und dadurch für den Gesamtorganismus eine entscheidende Funktion. Vom Zeitpunkt der Geburt aus gerechnet verkürzen sich die Telomere an den Chromosomenenden etwa parallel zum Alter: Je mehr Zellteilungen eine Zelle durchlaufen hat, umso kürzer sind die Telomere. Elizabeth Blackburn hat entdeckt, dass durch die Telomerase ein Organismus die Telomere in beschränktem Maße wiederherstellen kann. Umwelteinflüsse können die Telomerlänge jedoch ebenfalls verkürzen. Zum Ende des Alterns hin verlangsamt sich die Zellteilungsrate und ab einer bestimmten Telomerlänge teilt sich die Zelle überhaupt nicht mehr. Sie wird seneszent. Der Zeitpunkt, zu dem eine Zelle dieses Stadium erreicht, ist zum einen vom Zelltyp und zum anderen von der Spezies abhängig. Die Verkürzung der Telomere ist in einer Vielzahl von mitotisch aktiven Geweben zu beobachten. Dazu gehören vor allem die Hautfibroblasten, die peripheren Blutzellen, die Epithelien des Magen-Darm-Traktes Zellen der Nebenniere im Nierenkortex, der Leber und der Milz. In mitotisch inaktiven Organen, wie dem Gehirn und dem Herzmuskel, sind über den gesamten Zeitraum des Alterns die Telomerlängen weitgehend konstant. Für eine Reihe von chronischen Erkrankungen verschiedener Organe konnten erhöhte Telomerverkürzungen nachgewiesen werden. So beispielsweise im Endothel bei Atherosklerose und in den Hepatozyten bei chronischen Lebererkrankungen. Zwischen der Anzahl der durch die Telomerlänge begrenzten Zellteilungen und der maximalen Lebensspanne ω eines Organismus besteht eine Korrelation. Das Proliferationspotenzial (Zellteilungsvermögen) ist bei langlebigen Organismen höher. Als ein Beweis für die Telomer-Hypothese des Alterns wird das Schaf Dolly gesehen. Dolly wurde aus einer somatischen Zelle eines fünf Jahre alten Schafes geklont. Bei dem Spender-Schaf waren die Telomere in der entnommenen Zelle durch eine Vielzahl von Teilungen bereits erheblich verkürzt. Dolly verstarb deutlich vor dem Erreichen der mittleren Lebenserwartung eines Schafes und zeigte einen früh einsetzenden und schnellen Prozess des Alterns. Bei Patienten, die am Werner-Syndrom, einer seltenen Erbkrankheit mit beschleunigtem Altern, erkrankt sind, können sich die Zellen im Durchschnitt nur etwa zwanzigmal teilen und werden danach seneszent. Im Modellorganismus Caenorhabditis elegans hat die Telomerlänge dagegen keinen Einfluss auf das Altern. Die langlebigen daf-2- und die kurzlebigen daf-16-Mutanten können kurze oder lange Telomere haben, beides ändert die Lebensspanne der Tiere nicht. Zellalterung, zelluläre Seneszenz – Krebs oder Altern Bis in die 1950er Jahre wurde das Altern als langsame Abnutzung (Verschleiß) der Zellen, der daraus gebildeten Gewebe und Organe und des daraus aufgebauten Körpers verstanden. Die molekularen Ursachen des Alterns wurden nicht erkannt beziehungsweise verstanden. Nachdem es gelang, Säugetierzellen in vitro zu kultivieren, wurde es möglich, die molekularen Veränderungen zu analysieren und zu verstehen. Erst 1961 wurde durch die Versuche von Leonard Hayflick festgestellt, dass sich normale menschliche Zellen nicht beliebig oft teilen können und nicht unsterblich sind. Humane Fibroblasten aus Feten können sich in einer Zellkultur 60- bis 80-mal teilen; die gleichen Zellen aus einem älteren Erwachsenen dagegen nur noch 10- bis 20-mal. Diesen Vorgang der Zellalterung nennt man zelluläre oder replikative Seneszenz. Die Zellen verharren in der G1-Phase des Zellzyklus, die S-Phase wird nicht mehr erreicht. Die Zellen funktionieren normal weiter, replizieren sich aber nicht mehr. Viele dieser Zellen sind dann auch ausdifferenziert, das heißt, sie haben ihre spezielle endgültige physiologische Funktion übernommen. Die seneszenten Zellen sind dann auch gegen den programmierten Zelltod, die Apoptose, resistent. Die für eine Zelle zulässige Anzahl der Teilungen ist in der DNA über Telomere vorprogrammiert. Bei Tieren mit kurzer Lebensspanne können sich die Zellen weniger oft teilen als bei Tieren mit einer höheren Lebensspanne. Nicht alle Zellen des Körpers werden seneszent. Wäre dies der Fall, so gäbe es beispielsweise keine Wundheilung. Ein Teil der Zellen wird deshalb nicht seneszent: die Stammzellen. Aus diesen undifferenzierten Vorläuferzellen können sich differenzierte Zellen bilden. Der Anteil an Stammzellen ist während der embryonalen Phase sehr hoch und nimmt mit zunehmendem Alter kontinuierlich ab. Während des gesamten Lebens sind sie jedoch vorhanden, um beispielsweise Zellen der Haut, der Darmschleimhaut und des Immunsystems zu ersetzen beziehungsweise zu bilden. Außer den Stammzellen sind auch Gameten (Keimzellen) und Krebszellen von der zellulären Seneszenz ausgenommen und können sich – bei Bedarf – beliebig oft teilen. Außer durch das Erreichen der Hayflick-Grenze kann die zelluläre Seneszenz auch durch nicht mehr reparable Schäden der DNA aktiviert werden. Diese Schäden können beispielsweise durch reaktive Sauerstoffspezies (freie Radikale) entstehen, die zudem auch Lipide (Lipidperoxidation) und Proteine (Proteinoxidation) innerhalb der Zellen angreifen können. Die dabei entstehenden Reaktionsprodukte, wie beispielsweise das Alterspigment Lipofuszin, können oft nur unzureichend abgebaut werden und sammeln sich in der Zelle an. Abhängig vom Ausmaß der Schäden wird die Zelle entweder vorzeitig seneszent oder leitet bei schwereren Schäden – wenn sie noch teilungsfähig ist – die Apoptose ein. Durch diese Maßnahmen wird verhindert, dass sich im Organismus zu viele geschädigte Zellen ansammeln. Der Grund für die beiden Maßnahmen (vorzeitige Seneszenz oder Apoptose) ist – so das vorherrschende Erklärungsmodell –, dass dadurch die Entartung von Zellen und somit die Entstehung von Krebszellen verhindert werden soll. Die Seneszenz wird durch die beiden Proteine p53 („Wächter des Genoms“) und pRB (Retinoblastom-Protein) reguliert. Defekte in den beiden Tumorsuppressorgenen TP53 und RB1, die für p53 beziehungsweise pRB kodieren, können das Seneszenzprogramm und den programmierten Zelltod ausschalten und zu Krebs führen. Folglich sind Zellen, die sowohl das Seneszenzprogramm als auch die Apoptose umgehen können, Krebszellen. Mäuse, bei denen gezielt die Expression von p53 herunterreguliert wird (Gen-Knockdown), entwickeln dementsprechend sehr leicht spontane Tumoren. Wird bei ihnen dagegen p53 überexprimiert, so wird die Wahrscheinlichkeit einer Krebserkrankung erwartungsgemäß deutlich reduziert. Allerdings ist dies mit dem Effekt verbunden, dass die Lebenserwartung der Tiere durch frühzeitige Alterserscheinungen, wie beispielsweise Osteoporose und universelle Atrophie der Organe, erheblich verkürzt wird. Aus diesem Sachverhalt schließen einige Forschergruppen, dass das Altern der Preis der weitgehenden Vermeidung von Krebserkrankungen ist. TP53 ist ein streng reguliertes Gen. Sowohl ein Überschuss als auch ein Mangel an p53 sind für den Organismus von Nachteil. p53 hat für den Organismus pleiotrope Eigenschaften: In der Jugend ist es für den Organismus durch die Vermeidung von Krebserkrankungen von Vorteil, später aber durch das schnellere Altern von Nachteil. Apoptose und zelluläre Veränderungen Altern kann als Konflikt zwischen dem ‚Individuum‘ Zelle und der ‚Gemeinschaft‘ Organismus aufgefasst werden. Aus Sicht der Evolution ist die langfristige Fortpflanzung des Gesamtorganismus wichtiger als die perfekte Reparatur einer einzelnen Zelle. Der Organismus, das heißt die Mehrzahl der Zellen, wehrt sich mit Hilfe des programmierten Zelltods – der Apoptose – gegen einzelne Zellen, die von der „Norm“ abweichen. Diese Abwehrstrategie ist ein wesentliches Element zum Aufbau eines Organismus aus einem Zellverband. Zelluläre Seneszenz und Apoptose sind die Werkzeuge, um bösartige Veränderungen in Zellen zu unterdrücken. Auf der anderen Seite sind beide Vorgänge zwangsläufig mit Altern verbunden. Altern ist offensichtlich ein antagonistischer pleiotroper Prozess, um Entartungen von Zellen zu unterdrücken. Die Rolle, die die Apoptose beim Altern spielt, ist noch weitgehend unklar und wird kontrovers diskutiert. Offensichtlich werden während des Alterns signifikante Mengen an Muskelfaserzellen (Myozyten) des Herzmuskels und der Skelettmuskulatur durch Apoptoseprozesse abgebaut. Die Ursache hierfür sind möglicherweise mitochondriale Schäden, beispielsweise durch oxidativen Stress. Während des Alterns verändert sich das Membranpotenzial, der Lipidanteil und die Fluidität der Zellen. Die Anzahl der Mitochondrien in den Zellen nimmt ab. Diese zellulären Veränderungen lassen sich bei allen Säugetieren feststellen. Entzündungsaltern Die vermehrte Ausschüttung von proinflammatorischen Zytokinen bei älteren Menschen wird als Entzündungsaltern (AE: inflammaging) bezeichnet. Diese Ausschüttung führt zu einer leichten systemischen und chronischen Entzündung. Dieser Vorgang wird mit einer Reihe von altersassoziierten Erkrankungen in Verbindung gebracht und wird auch selbst als eine Ursache für das Altern gesehen. Entzündungen sind – so die Hypothese – in jungen Jahren für den Organismus hilfreich, da sie die Überlebenschancen gegen Pathogene erheblich verbessern, aber entsprechend der Theorie der antagonistischen Pleiotropie im Alter für den Organismus eher schädlich. Für diese These spricht, dass durch die Gabe des Immunsuppressivums Rapamycin die Lebenserwartung bei Mäusen signifikant verlängert werden kann. Aus evolutionärer Sicht ist das Überleben eines Organismus zumindest bis zum Ende seiner reproduktiven Phase wichtig. Die meisten Organismen (einschließlich des Menschen) starben, bevor sie das Ende der Reproduktionsphase erreichten. Die nachteiligen Auswirkungen des Entzündungsalterns traten somit nur sehr selten in Erscheinung. Eine Selektion gegen dieses die Lebensspanne verkürzende und erst nach der Reproduktionsphase auftretende Entzündungsaltern wäre somit nicht möglich. Evolutionstheorien des Alterns Im Gegensatz zu proximaten Theorien, wie beispielsweise den Schadenstheorien, die Erklärungsmodelle darüber liefern, wie ein Organismus altert, versuchen die auf der Theorie der Evolution basierenden Theorien des Alterns die Frage nach dem warum zu beantworten (ultimate Theorien). Das Altern ist – diesen Theorien zur Folge – ein Ergebnis des Evolutionsprozesses. Die ersten Lebewesen, die auf der Erde entstanden, alterten nicht. Das Altern entstand im Laufe der Evolution als eine Eigenschaft höherer Lebewesen. Diese Theorien können eine Reihe von Phänomenen, die im Zusammenhang mit dem Altern stehen, erklären. Auch in verschiedenen Modellorganismen konnten Übereinstimmungen zwischen Theorie und Experiment erhalten werden. Es gibt derzeit noch keine allgemeine evolutionsbiologische Erklärung für das Altern. Ein Merkmal, das die Lebensdauer begrenzt und zudem die Phase der Fruchtbarkeit limitiert, hat negative Auswirkungen auf die Darwin-Fitness. Selbst Darwin war sich dieses Problems bewusst und nahm an, dass die begrenzte Lebensdauer der höheren Organismen einen Nutzen haben müsse, der den Nachteil des Alterns und des damit verbundenen Sterbens mehr als nur kompensiert. Was dabei der Nutzen ist, konnte Darwin nicht beantworten. Programmiertes Altern Die ersten evolutionären Theorien des Alterns wurden unmittelbar nach der Evolutionstheorie im 19. Jahrhundert aufgestellt. Der deutsche Biologe August Weismann sah 1881 im Altern und – als dessen Folge – im Sterben eine Notwendigkeit, die aus der Evolution heraus entstanden sei, weil sie dem Überleben der Art diene. Danach sorgt das Altern dafür, dass die Vorläufergenerationen nicht im Wettbewerb mit ihren Nachkommen um Nahrung und Lebensraum stehen. Die Alten machen sozusagen Platz für die Jungen, damit diese bessere Chancen im „Kampf ums Dasein“ haben. Weismann argumentierte, dass die Unsterblichkeit für ein Individuum nutzlos sei, weil es früher oder später durch einen Unglücksfall oder durch die Ansammlung von nicht vollständig geheilten Verletzungen über die Zeit sowieso getötet werden würde. Gerade Letzteres würde zu älteren Organismen führen, die weniger fit als die jüngeren wären. Die Älteren würden dann den Jüngeren Ressourcen vorenthalten, die besser in die Jüngeren investiert würden. Der Tod alter Organismen infolge von Seneszenz wäre deshalb ein Selektionsvorteil für die Art. Weismann konnte jedoch keinen darwinistischen Mechanismus für seine These finden. Zudem stellte seine Annahme, dass Organismen keine vollständige Heilung zeigen können, einen Zirkelschluss dar. Tiere einer Art, die in freier Wildbahn als Beutetiere kein fortgeschrittenes Alter erreichen, können in Gefangenschaft verschiedene Alterserscheinungen zeigen, wenn sie die mittlere natürliche Lebensdauer überschritten haben; selbst dann, wenn sie im Verlauf ihrer Evolutionsgeschichte nie die Möglichkeit hatten, diese Alterserscheinungen zu zeigen. Aus diesen Gründen gab Weismann einige Jahre später seine Hypothese wieder auf. Dennoch findet man Weismanns Hypothese auch heute noch in einer Reihe von Veröffentlichungen außerhalb des Fachgebiets der Biogerontologie. In der Theorie des programmierten Alterns sind Alterungsprozess und Tod notwendige Komponenten der Evolution aber nicht anderweitig biologisch bedingt obligatorisch. Seit Beginn des 21. Jahrhunderts erlebt diese Theorie eine Renaissance. Studien an Modellorganismen wie der Backhefe haben als Ergebnis, dass es zumindest in diesem Einzeller eine Form des ‚programmierten und altruistischen (selbstlosen) Alterns und Sterbens‘ (englisch programmed and altruistic ageing and death) gibt. Wenn etwa 90 bis 99 % der Individuen von Saccharomyces cerevisiae in einer Kultur gestorben sind, entsteht eine kleine mutierte Subpopulation, welche die von den abgestorbenen Zellen freigesetzten Nährstoffe nutzt und sich weiterentwickelt. Zudem wurde festgestellt, dass Hefe-Zellen mit den gleichen Genen auf einem von zwei verschiedenen Wegen altern – nukleolarer oder mitochondrieller Verfall. Wissenschaftler ermittelten den molekularbiologischen Mechanismus, der bestimmt welcher dieser Alterungsprozesse angetreten wird, und erstellten mittels Genmodifizierung für erhöhte Sir2-Expression einen dritten Mechanismus mit deutlich verlängerter Lebensspanne. Da die molekularen Mechanismen, die das Altern kontrollieren, bei vielen Tiermodellen sehr ähnlich sind, besteht die Vermutung, dass das programmierte Altern auch in höheren Eukaryoten vorhanden sein könnte. Als ein Paradebeispiel dient den Verfechtern des programmed ageing dabei der Pazifische Lachs. Mehrere Theorien des programmierten Alterns wurden entwickelt. Einige basieren auf der Gruppenselektion und Verwandtenselektion, andere auf der Evolvierbarkeit. Diese anpassungsabhängigen Theorien (englisch adaptive theories) stehen im Widerspruch zu den nachfolgend behandelten anpassungsunabhängigen Theorien (englisch non-adaptive theories). Klassische Evolutionstheorien des Alterns Mit zunehmendem Alter nimmt die natürliche Selektion ab. In freier Wildbahn erreichen durch eine Vielzahl von Faktoren die wenigsten Individuen überhaupt den Bereich des Alterns. Beispielsweise sterben neun von zehn Hausmäusen vor dem zehnten Lebensmonat, während die gleiche Art in Gefangenschaft ein durchschnittliches Alter von 24 Monaten erreicht. Das Rotkehlchen (Erithacus rubecula) hat eine durchschnittliche Mortalitätsrate von 0,6 pro Jahr. Das heißt, dass 60 % der Tiere pro Jahr sterben. Aus Markierungen und Beobachtungen in der freien Wildbahn konnte man errechnen, dass nur eines von 60.000 Rotkehlchen überhaupt in den Bereich seiner bisher ermittelten maximalen Lebenserwartung von zwölf Jahren kommen kann. Dabei ist noch weitgehend unklar, in welchem Bereich die maximale Lebenserwartung eines Rotkehlchens wirklich liegt. Andere Vögel erreichen mehr als den doppelten Wert, ohne Anzeichen von Seneszenz. Eine lange Lebensdauer bedeutet hohe biologische Kosten, das heißt einen größeren Bedarf an Energie. Die meisten Arten haben deshalb eine lange Lebensdauer gegen eine hohe Reproduktionsrate in jungen Jahren „eingetauscht“. Ihre Fortpflanzung folgt der sogenannten r-Strategie. Das heißt, sie investieren ihre Ressourcen in eine hohe Anzahl von Nachkommen und weniger in eigenes Wachstum und Reparaturmechanismen zur Erhaltung des Somas. Aber auch die – relativ wenigen – Arten, die der K-Strategie folgen, erreichen in der freien Wildbahn in den seltensten Fällen ihre maximale Lebensspanne ω. Schimpansen (Pan troglodytes) werden in Gefangenschaft durchschnittlich 23 (Männchen) und 30 (Weibchen) Jahre alt. 20 % erreichen gar ein Alter von 50 Jahren. Im Gegensatz dazu liegt die Lebenserwartung in freier Wildbahn für die nächsten Verwandten des Menschen bei lediglich acht Jahren, und nahezu kein Exemplar erreicht ein Alter von 50 Jahren. Die Überlebenskurve der ersten Menschen (Homo) war mit der heutiger Schimpansen weitgehend gleich. Eine durch die Selektion begünstigte weitere Investition in Wachstum und vor allem in die Aufrechterhaltung der Homöostase konnte nicht stattfinden – die große Mehrzahl der Individuen starb schon den Katastrophentod, bevor sie in den Bereich des Alterns kam. Generell erreichen bei allen Arten in freier Wildbahn nur sehr wenige Individuen ein Alter, um einen ausreichenden Selektionsdruck gegen das Altern aufzubauen. Man spricht dabei auch von einem Selektionsschatten (englisch selection shadow). Der Evolutionstheorie zufolge sollten Arten mit einer geringeren Wahrscheinlichkeit eines Katastrophentodes, beispielsweise weil sie kaum Fressfeinde haben, länger leben. Diese Arten hätten genug Zeit zur Entwicklung von Schutzmechanismen zur Aufrechterhaltung der Homöostase, beispielsweise durch den Aufbau antioxidativer Schutzmechanismen in den Zellen oder durch eine bessere Regulation der Expression von Onkogenen. Dies ist unter anderem für Vögel der Fall, die – verglichen mit gleich großen Säugetieren – eine fünf- bis zehnfach höhere Lebenserwartung haben. Gleiches gilt beispielsweise für Fledertiere, Schildkröten und den Menschen. Selbst innerhalb einer Art kann durch den Wegfall von Prädatoren die Evolution in Richtung eines verlangsamten Alterns gelenkt werden. Ein Beispiel hierfür ist das Nordopossum (Didelphis virginiana) in Virginia. Eine seit 4500 Jahren vom Festland abgeschnittene Population dieser Beutelsäuger hat eine deutlich reduzierte Anzahl von Prädatoren. Diese Exemplare altern signifikant langsamer als die Population auf dem Festland. Der Gedanke des Selektionsschattens wurde zuerst von dem britischen Genetiker J. B. S. Haldane publiziert. In seinem 1942 erschienenen Buch New paths in genetics betrachtete er die Erbkrankheit Chorea Huntington. Aus der Tatsache heraus, dass diese tödlich verlaufende Erkrankung typischerweise erst nach der dritten Lebensdekade auftritt, schloss Haldane, dass sie nur deshalb existiert, weil sie zu den Zeiten unserer Urahnen – noch vor Beginn des Ackerbaus – keinerlei selektiven Effekt auslösen konnte. Weiter postulierte Haldane, dass die natürliche Selektion in späten Lebensabschnitten, typischerweise nach Abschluss der Reproduktionsphase, nur noch eine schwache Kraft sei. Nur wenige Menschen hätten vor Beginn der Zivilisation überhaupt ein Alter von 40 Jahren und mehr erreicht. Ihre genetisch bedingten lebensbedrohlichen Erkrankungen, die erst im Alter zum Ausbruch kamen, konnten keinen Beitrag zur Evolution mittels natürlicher Selektion leisten. Peter Brian Medawar griff Haldanes Gedanken auf und entwickelte 1952 die Mutations-Akkumulations-Theorie (englisch mutation accumulation theory), nach der sich im Laufe des Lebens eines Organismus schädliche Mutationen anhäufen (akkumulieren), die letztendlich das bewirken, was als Altern wahrgenommen wird. Durch den geringeren Selektionsdruck auf alte Organismen bei Populationen, in denen die meisten Individuen sterben, bevor sie in den Bereich der maximalen Lebenserwartung gelangen, würden sich auch kaum Reparaturmechanismen durchsetzen. Allerdings sei dieser Prozess meist auf die individuelle Entwicklung beschränkt und eine Vererbung solcher Mutationen eher selten. 1957 entwickelte George C. Williams aus den Überlegungen zur Mutations-Akkumulation die Theorie der antagonistischen Pleiotropie. Nach ihr sind antagonistisch pleiotrope Gene für das Altern von Organismen verantwortlich, die sich geschlechtlich fortpflanzen. Pleiotrop sind Gene, die unter verschiedenen Bedingungen auch verschiedene Erscheinungsbilder verursachen. Antagonistisch (entgegengesetzt) bedeutet in diesem Zusammenhang, dass einige pleiotrope Gene unter den Bedingungen in einem jungen Organismus für die Fortpflanzung förderliche, aber unter den Bedingungen in demselben, gealterten Organismus schädliche Wirkungen haben – worin diese Theorie den Grund des Alterns sieht. Da die schädlichen Wirkungen solcher Gene häufiger erst nach der Zeugung von Nachkommen und damit Weitergabe der Gene auftreten, haben sie nur geringe negative Auswirkungen auf den Fortpflanzungserfolg ihrer Träger. Schädliche Mutationen, die erst im Alter ihre Wirkung zeigen, häufen sich nach Williams daher im Genom eines Organismus vermehrt an, wenn diese Mutationen dem Organismus in einem frühen Lebensabschnitt Fortpflanzungs-Vorteile verschaffen. Der Begriff antagonistische Pleiotropie wurde 1982 von Michael R. Rose geprägt. William D. Hamilton formulierte die Theorie um. Wenn Organismen altern, so sinkt ihr Beitrag zur Fortpflanzung, da ihre Fertilität mit der Zeit abnimmt. Die Selektion führt daher bei älteren Organismen zu höheren Mortalitätsraten. Ohne diese Unterschiede bei der Fruchtbarkeit zwischen jungen und alten Organismen gäbe es von Seiten der Evolution keinen Grund, warum Organismen altern und somit beispielsweise leichter lebensverkürzende Krankheiten bekommen. Diesen Überlegungen widerspricht jedoch die Beobachtung, dass manche Lebewesen – insbesondere der Mensch – sich auch nach Abschluss ihrer Reproduktionsphase, wenn sie keinen unmittelbaren Beitrag zur Fortpflanzung leisten können, bester Gesundheit erfreuen können. Dieser Sachverhalt lässt sich dadurch erklären, dass viele Lebewesen nicht nur in die Geburt, sondern auch in die Aufzucht ihres Nachwuchses investieren. Die Investitionen können auch in die Enkelgeneration erfolgen (siehe auch Großmutter-Hypothese). Beim Großen Tümmler (Tursiops truncatus) beispielsweise beaufsichtigen, beschützen und säugen die Großeltern ihre Enkel. Die 1977 von Tom Kirkwood aufgestellte Disposable-Soma-Theorie basiert auf den beiden von Medawar und Williams aufgestellten Theorien. Zusätzlich kommen noch Aspekte der Life-history-Theorie hinzu. Prinzipiell verfügt jeder Organismus über Reparaturmechanismen. Einige Arten, wie beispielsweise der mexikanische Schwanzlurch Axolotl (Ambystoma mexicanum), sind in der Lage verlorene Körperteile vollständig wiederherzustellen. Es würde gegen keine Naturgesetz verstoßen, wenn ein höherer Organismus – wie beispielsweise der Mensch – gealterte, degenerierte Zellen oder ganze Organe vollständig ersetzen könnte und so potenziell unsterblich wäre. Solche Mechanismen sind teilweise vorhanden, aber in ihrer Funktion, insbesondere mit zunehmendem Alter, unzureichend. Auf den ersten Blick müsste ein solcher Organismus von der Evolution bevorzugt sein. Er ist es aber nicht. Es ist eher genau das Gegenteil der Fall. Jedem Organismus stehen nur begrenzte Ressourcen zu Verfügung. Diese muss er gemäß der Life-history-Theorie aufteilen in: eigenes Wachstum Selbsterhaltung Fortpflanzung Jede Investition in einen dieser konkurrierenden Prozesse bedeutet eine Verknappung der Ressourcen bei einem der beiden anderen Prozesse (trade-off genannt, engl. für ‚Zielkonflikt‘). Jeder Organismus passt seine Lebenszyklusstrategie an die Menge und Verteilung der verfügbaren Ressourcen in seinem Habitat an. Dabei existiert eine große Vielfalt an Lebenszyklusstrategien. Der Körper (das Soma) hält den Aufwand für die Selbsterhaltung auf einem Niveau, das gerade hoch genug ist, um für die normale Lebenserwartung in freier Wildbahn in einem guten Zustand zu sein – und die beiden anderen Prozesse nicht zu kurz kommen zu lassen –, aber nicht so hoch, dass er ohne sicheren Tod leben kann. Das Soma ist nach Kirkwood disposable, das heißt, es gibt keine Notwendigkeit zu einer genetischen Optimierung. Eine Reihe von Beobachtungen an verschiedenen Spezies bestätigen die Evolutionstheorien des Alterns, insbesondere die Theorie der Antagonistischen Pleiotropie und die Disposable-Soma-Theorie; so beispielsweise Experimente mit dem Modellorganismus Drosophila melanogaster in den 1980er Jahren. Für in freier Wildbahn lebende Spezies gibt es noch relativ wenige Daten, die eine Überprüfung der Theorien ermöglichen. Bis 2008 waren bei lediglich fünf in freier Wildbahn lebenden Wirbeltierarten die dem Alternsprozess zugrunde liegenden Mechanismen untersucht worden. Beispielsweise konnten bei der Trottellumme (Uria aalge), dem Höckerschwan (Cygnus olor), der Kegelrobbe (Halichoerus grypus) und dem Rothirsch (Cervus elaphus) Übereinstimmungen zu den Vorhersagen der Evolutionstheorien des Alterns gefunden werden. Als freilebende Wirbeltiere eignen sich besonders Vögel. Die Überlebenskurven aller Lebewesen in freier Wildbahn zeigen, dass der Katastrophentod – beispielsweise durch Prädatoren, Krankheiten oder sich dramatisch ändernde Lebensbedingungen – der Normalfall ist. Eine Investition in eine potenzielle Unsterblichkeit wäre unter diesen Bedingungen eine Fehlinvestition. Für das Überleben der Art ist die Investition in eigenes Wachstum – beispielsweise um weniger Prädatoren zu haben – oder in mehr Nachkommen die bessere Anlage von Ressourcen. Die Überlebenskurve vieler Menschen weicht erst seit einem evolutionsgeschichtlich unbedeutend kurzen Zeitraum von der anderer Arten in freier Wildbahn ab. In diesem kurzen Zeitraum konnten durch natürliche Selektion keine grundlegenden Änderungen in der Lebenszyklusstrategie stattfinden. Geschlechtsunterschiede beim Altern Bei den meisten Säugetieren, einschließlich des Menschen, und Insekten ist die Lebenserwartung der Männchen signifikant kürzer als die der Weibchen. Beim Menschen beträgt der Unterschied in der Lebenserwartung zwischen den Geschlechtern – je nach Land – zwischen sechs und acht Jahren. Um Rückschlüsse auf ein biologisch bedingt unterschiedliches Altern der Geschlechter zu schließen, müssen weitere Einflussfaktoren erfasst und herausgerechnet werden, also nicht-biologisch-bedingte Unterschiede zwischen den Geschlechtern, die sich lebensverkürzend auswirken (etwa Rauch-, Trinkverhalten, Unfalltod im Straßenverkehr, Tod durch Kriegseinsätze). Dieser Umstand wird in nichtwissenschaftlichen Publikationen selten berücksichtigt, so dass oft allein anhand der Sterberate gefolgert wird, dass Männer schneller dem Alterstod erliegen als Frauen. Wissenschaftliche Aufbereitungen zum Thema jedoch kommen auf unterschiedliche Ergebnisse: Laut L. Mealey ist die durchschnittlich geringere Lebenserwartung der Männer tatsächlich zu einem Großteil durch unterschiedliche Raten beim Altern und eine früher eintretende und progressivere Seneszenz verursacht. Andere Studien hingegen legen als Ursache für die kürzere Lebenserwartung der Männer geschlechtsbezogene Unterschiede in der Lebensführung nahe, die auch mit den regionalen Unterschieden der alters- und geschlechtsbezogenen Sterberate korrelieren. Bei den meisten Vogel-Taxa verhält es sich umgekehrt als beim Großteil der Säugetiere und Insekten: Hier werden die meisten Männchen älter als die Weibchen. Die Ursachen für die Geschlechtsunterschiede beim Altern bei den genannten zoologischen Klassen sind offensichtlich von mehreren Faktoren abhängig. Es wurden verschiedene Erklärungsmodelle für dieses noch weitgehend ungeklärte Phänomen aufgestellt. Asymmetrische Vererbungsmuster Einige Theorien zur Erklärung des Phänomens basieren auf asymmetrischen Vererbungsmustern. So die unguarded X-hypothesis („Hypothese vom ungeschützten X-Chromosom“). Männliche Säugetiere sind hemizygot, das heißt, sie tragen zwei unterschiedliche Geschlechtschromosomen (X und Y). Die Weibchen sind dagegen homozygot. Sie sind mit zwei identischen Geschlechtschromosomen (X und X) ausgestattet. Bei Männchen ist somit nur ein X-Chromosom vorhanden (das „ungeschützte X-Chromosom“), während bei Weibchen das X-Chromosom redundant ist. Nachteilige Mutationen auf dem X-Chromosom kommen daher bei Männchen in jedem Fall zur Wirkung, was sich – so die Hypothese – in einer höheren Mortalitätsrate äußern sollte. Es gibt bisher keine experimentelle Verifikation oder Falsifikation der Hypothese. Sie stimmt aber mit der Beobachtung überein, dass bei den meisten Vogel-Taxa die Männchen eine höhere Lebenserwartung haben, da bei Vögeln die Männchen homozygot (Z + Z) und die Weibchen hemizygot (Z + W) sind. Eine andere Hypothese basiert auf einem asymmetrischen Vererbungsmuster der mitochondrialen DNA, die bei den meisten Organismen nur von der Mutter an die Nachkommen vererbt wird. Dieses Genom wird folglich nur bei den Weibchen selektiert und so weiter optimiert. Es kann daher – so die Hypothese – unter Umständen bei Männchen suboptimale Eigenschaften entfalten, die zu einer erhöhten Mortalität führen. Die Mitochondrien spielen beim Altern eine aktive Rolle. Sie haben unmittelbaren Einfluss auf die Mortalitätsrate und die maximale Lebensspanne, was zu dieser Hypothese passt. Allerdings lässt sich nicht erklären, warum bei vielen Vogelarten Männchen länger als Weibchen leben. Evolutionäre Hypothesen Bei der sexuellen Selektion werden Männchen durch Weibchen derselben Art erwählt und erhalten dadurch einen Vorteil gegenüber ihren Geschlechtsgenossen bei der Fortpflanzung. Dies kann auf Kosten anderer Funktionen, wie beispielsweise der Selbsterhaltung des Somas, geschehen. Pleiotrope Gene, die den Männchen für die Reproduktion Vorteile verschaffen, sich aber im fortgeschrittenen Alter eher negativ auswirken, sind ein anderes evolutionäres Erklärungsmodell. Ein weiteres evolutionäres Erklärungsmodell geht dabei davon aus, dass bei polygynen Arten zwischen den Männchen ein erbitterter Wettbewerb um die Weibchen herrscht. Dies wirkt sich unmittelbar auf Wachstum und Verhalten der Männchen aus, die mehr Ressourcen in Paarungsstrategien investieren, beispielsweise um einen Wettbewerbsvorteil gegenüber anderen Männchen zu haben oder um Wettbewerber von ihrem Weibchen fernzuhalten. Der Selektionsdruck sollte daher bei Männchen höher als bei Weibchen sein, was sich in höheren Mortalitätsraten über die meiste Zeit ihrer Lebensspanne niederschlägt. Bei monogamen Arten sollte zwischen den Geschlechtern der Unterschied im Altern, und daraus abgeleitet der mittleren Lebenserwartung, geringer sein. Bei dem Vergleich zwischen sechs monogamen mit sechs polygynen Arten konnten überzeugende Indizien für diese Hypothese gefunden werden. Alternspsychologie Die physischen und psychischen Aspekte des Alterns verlaufen nicht zwingend synchron. Körperliche degenerative Prozesse können mitunter zeitgleich mit einer Zunahme mentaler Agilität stattfinden. Parallel zu einem möglichen Rückgang der Gedächtnisleistung (fluide Intelligenz) können davon weitgehend unbeeinflusste klare Reflexionsleistungen (kristalline Intelligenz) beobachtet werden. Insgesamt zeigt sich der Alternsprozess in einer Verlangsamung der vom ZNS gesteuerten Verhaltensreaktionen und kann individuell sehr unterschiedlich verlaufen. Veränderung kognitiver Fähigkeiten Kognitiv-mentale Fähigkeiten zur Verarbeitung von Informationen sind unweigerlich mit dem Erleben und dem Verhalten des Menschen verbunden. Es wird angenommen, dass die unterschiedlichen kognitiven Fähigkeiten unterschiedlichen Alternsprozessen unterliegen. So haben Untersuchungen gezeigt, dass die kristalline Intelligenz (zum Beispiel der Wortschatz) bis ins Alter stabil bleibt oder sich sogar weiterentwickelt, wohingegen bei der fluiden Intelligenz (zum Beispiel das Arbeitsgedächtnis) mit zunehmendem Alter ein Abbau zu beobachten ist. Folgende Veränderungen im kognitiven Bereich können auftreten: Faktoren wie Genetik, Ernährung, Stressbelastung sowie physiologische und mentale Fitness können den kognitiven Alterungsprozess verlangsamen. Die Genetik an sich ist weitgehend festgelegt und definiert somit eine Obergrenze der kognitiven Leistungsfähigkeit. Die Epigenetik bietet jedoch Möglichkeiten, den genetisch festgesetzten Rahmen bestmöglich auszuschöpfen. So konnte in Studien mit Mikroorganismen z. B. gezeigt werden, dass kalorische Restriktion einen positiven Effekt auf den Insulinstoffwechsel hat. Die Prozesse sind unterschiedlich fortschreitend und können aktiv verlangsamt werden. Durch gezieltes Training („Gehirnjogging“) sowie körperliche Bewegung lassen sich auch im Alter kognitive Leistungsreserven mobilisieren. Mit ihren Forschungsergebnissen wiesen Brand und Markowitsch dem präfrontalen Cortex eine „Schlüsselrolle für den altersbedingten Abbau kognitiver Leistungen zu, weil er einerseits von Bedeutung für diverse Gedächtnisfunktionen ist und andererseits zentral exekutive Funktionen steuert, die wiederum auf Gedächtnisleistungen zurückwirken“. Eine Studie weist darauf hin, dass nicht nur die Fitness, sondern auch die kognitive Leistungsfähigkeit im Zusammenhang mit der Lungengesundheit steht. Über 19 Jahre wurden 832 Testpersonen beobachtet. Es wurden Lungenfunktionstests sowie kognitive Tests durchgeführt. Die Ergebnisse wurden miteinander verglichen. Während eine schlechtere Lungenfunktion keinen Einfluss auf die Erinnerung zu haben scheint, beeinflusst sie sehr wohl die Fähigkeiten der Problemlösung und der Verarbeitungsgeschwindigkeit. Einen expliziten Grund für diesen Zusammenhang konnten die Forscher noch nicht finden. Die allgemein verbreitete Annahme höherer Kompetenz im Umgang mit sozialen Konflikten als Teil einer „Altersweisheit“ wird empirisch gestützt: Im Rahmen einer Studie des Psychologen Igor Grossmann et al. bedienten sich ältere Probanden im Vergleich zu solchen jungen und mittleren Alters in größerem Umfang weiterentwickelter Schemata bei der Analyse von Konfliktsituationen, die mehrere Blickwinkel berücksichtigen, Kompromisse ermöglichen und die Grenzen des Wissens anerkennen. Entwicklungspsychologische Aspekte Die Entwicklungsmöglichkeiten der Persönlichkeit sind von äußeren Bedingungen wie Lebensalter, -abschnitt, Gesundheit und Krankheit weitgehend unabhängig. Entwicklungspsychologisch stellt Altern die Wechselwirkung dar zwischen Regression auf der einen Seite und der Entwicklung und Stabilisierung von Persönlichkeits- und Leistungsmerkmalen auf der anderen Seite. Sozialpsychologische Aspekte Die Rolle des alten Menschen in der Gesellschaft ist stark im Wandel durch die Zunahme des durchschnittlichen Lebensalters und den rückläufigen Geburtenraten der meisten westlichen Industriestaaten. Infolge dieser Verschiebung der Proportionen verändert sich das Verhältnis der Generationen zueinander und ihr jeweiliges Rollenverständnis. Insgesamt ist die Präsenz älterer Menschen und deren Selbstbewusstsein in der Gesellschaft gestiegen. Das zeigt sich etwa in vermehrten Freizeitangeboten für Senioren wie in der öffentlichen Thematisierung des langzeitigen Tabuthemas Sexualität im Alter. Die Angst vor dem Altern erweist sich empirisch als bedeutender individueller bestimmender Faktor für Ageism. Klinisch-psychologische Aspekte Mit zunehmender Lebensdauer nimmt auch die Anzahl einschneidender Lebensereignisse zu. Zu den kritischsten gehört der Tod des Lebenspartners. Parallel verändern sich die Lebensperspektiven im Alter hinsichtlich Lebensdauer, Gesundheit, sozialer Einbindung, Mobilität etc. Diese Umstände stellen erhöhte Ansprüche an die Fähigkeit, solche Ereignisse zu verarbeiten. Der Gerontopsychiater Hartmut Radebold wies auf die klinische Bedeutung des traumatischen Charakters der Häufung bedrohlicher Verluste, narzisstischer Kränkungen und Attacken (Vorwürfe, Einengungen, Gewalt) in dieser Lebensphase hin. Die häufigste psychische Erkrankung des Alters ist die Depression, weswegen bisweilen von „Altersdepression“ die Rede ist. Der Erhalt von sinnstiftenden Tätigkeiten und die Pflege sozialer Kontakte spielen eine zentrale Rolle, die Krisen zu überwinden. Mit zunehmendem Alter haben viele Menschen ein Bedürfnis, über ihr Leben nachzudenken, es so wertzuschätzen, wie es verlaufen ist, und es als sinnvoll zu verstehen. Ein Lebensrückblick, der mit dem eigenen Leben versöhnt, kann u. a. in einer Lebensrückblickstherapie erreicht werden (Maercker & Forstmeier 2013). Weitere mentale Aspekte zur Förderung der Gesundheit im Alter und zur Erhaltung der möglichen Lebenserwartung finden sich im nächsten Kapitel „Maßnahmen gegen das Altern: Mentale Einflüsse“. Maßnahmen gegen das Altern Die oft mit den Worten Jeder möchte alt werden, doch keiner möchte alt sein beschriebene Situation des Alterns speziell beim Menschen ist die Basis für einen ganzen Wirtschaftszweig: Anti-Aging. Viele der Ratschläge fokussieren sich auf eine möglichst gesunde und zufriedene Lebensweise. Bei den Maßnahmen gegen das Altern muss zwischen primärem und sekundärem Altern unterschieden werden. Durch eine Reihe von Verhaltensregeln, wie beispielsweise gesunde ausgewogene Ernährung, Verzicht auf Tabakkonsum und regelmäßige Bewegung, kann das sekundäre Altern beim Menschen minimiert werden. Viele Ergebnisse aus Tierversuchen sind kaum auf den Menschen übertragbar. Menschliche Alternsprozesse, die über viele Jahrzehnte ablaufen, lassen sich nur unzureichend mit Organismen abbilden, die erheblich kürzere Lebenserwartungen haben. Kontrollierte klinische Studien, idealerweise Doppelblindstudien, am Menschen sind kaum oder nur sehr aufwändig durchzuführen. Sie müssten über Jahrzehnte mit statistisch ausreichend großen Populationen durchgeführt werden. Ethische Bedenken, extrem hohe Kosten und Risiken stehen einer Erprobung im Weg. Nebenwirkungen eines Anti-Aging-Mittels, das gesunde Menschen über viele Jahrzehnte einnehmen müssten, würden nicht toleriert werden und einer Zulassung entgegenstehen. Eine Verlängerung der Lebensspanne erscheint vielen Menschen nur dann als sinnvoll, wenn auch die Lebensqualität für den gewonnenen Zeitraum entsprechend hoch ist. In diesem Zusammenhang ist etwa von gesundem oder erfolgreichem Altern die Rede. Kalorienrestriktion In einer Vielzahl von Modellorganismen konnte nachgewiesen werden, dass das primäre Altern durch eine erhebliche Reduzierung der Nahrungsaufnahme (Kalorienrestriktion) verzögert werden kann. Die Kalorienrestriktion erhöht die mittlere und die maximale Lebenserwartung. Altersassoziierte Krankheiten werden abgeschwächt beziehungsweise verzögert. Ein Nachweis, dass die Kalorienrestriktion auch bei Primaten das primäre Altern verzögert und die Lebenserwartung erhöht, steht noch aus. Mehrere Studien mit Rhesusaffen brachten insgesamt widersprüchliche Ergebnisse. Beim Menschen deuten die Laborergebnisse für die wichtigsten Biomarker bei Probanden, die mit einer Kalorienrestriktion leben, darauf hin. Die für eine Kalorienrestriktion erforderliche Askese ist allerdings für die meisten Menschen nicht praktikabel. Die genauen Ursachen für die lebensverlängernde Wirkung der Kalorienrestriktion sind noch nicht endgültig geklärt. Fest steht, dass weder die katabolische Rate pro Kilogramm Körpermasse, noch die Menge an freien Radikalen reduziert wird. Beides Indizien dafür, dass die Mechanismen aus den Schadenstheorien in diesem Fall keine Rolle spielen. Ein Erklärungsmodell liefert aus evolutionärer Sicht die Disposable-Soma-Theorie. Die Kalorienrestriktion bewirkt im Organismus eine Verschiebung der r-/K-Strategie in Richtung der Selbsterhaltung auf Kosten reduzierter Fortpflanzung. Die äußere Bedingung wenig Nahrung ist ein Signal dafür, dass eine Fortpflanzung zu diesem Zeitpunkt ungünstig ist. Um diesen Zeitraum des Nahrungsmangels zu überbrücken, darf sich der Organismus nur wenig verändern (altern), um sich später noch fortpflanzen zu können. Der durch das Hungern ausgelöste Stress führt über das Eigennutzprinzip der Zellen zu einer aktiven Anpassung. Die Stressantwort der Zellen kann über eine veränderte Genexpression nachgewiesen werden. Zu den vermehrt exprimierten Genen gehören unter anderem die Hitzeschockproteine (HSP) aus der Familie der Hsp70 und Sirtuin-1. Auf der anderen Seite ist eine verminderte Expression von pro-inflammatorischen Genen nachweisbar. Auch beim intermittierenden Fasten, bei dem die Gesamtnährstoffaufnahme über die Zeit nicht reduziert sein muss und das Körpergewicht gehalten wird, lässt sich bei einer Reihe von Modellorganismen eine höhere Lebenserwartung und eine geringere Rate an altersbedingten Erkrankungen beobachten. Wirkstoffe Das Altern ist nach Maßgabe der Food and Drug Administration keine Krankheit. Dies hat zur Folge, dass neue Wirkstoffe, die potenziell gegen das Altern wirksam wären, derzeit nur dann eine Chance zur Zulassung haben, wenn sie eine Wirksamkeit (Therapie) beziehungsweise eine vorbeugende Wirkung (Prävention) gegen Krankheiten zeigen. Es gibt derzeit kein gegen das Altern wirksames zugelassenes Arzneimittel. Für keine Substanz wurde – unabhängig vom Zulassungsstatus – bisher der wissenschaftliche Nachweis erbracht, dass sie beim Menschen das Altern verzögern oder gar stoppen kann. Unabhängig davon hat sich ein grauer Markt mit unseriösen Heilsversprechungen für eine Reihe von potenziellen, aber auch nachgewiesen unwirksamen oder gar nachteiligen Substanzen entwickelt. Beispiele sind die „Anti-Aging-Hormone“ Dehydroepiandrosteron (DHEA), Testosteron, Somatotropin und Melatonin. Die vermeintlich positiven Wirkungen begründen sich in den meisten Fällen nur auf der Beobachtung, dass die Spiegel bestimmter Hormone mit zunehmendem Alter immer weiter absinken und – als mutmaßlich logischer Schluss daraus –, dass ein Hormonersatz einen jugendlichen Zustand bewirken könne. Dabei ist in vielen Fällen die Beziehung von Ursache-Wirkung unklar: Ist die nachlassende Hormonausschüttung eine Folge des Alterns und daher möglicherweise ein sinnvoller physiologischer Vorgang oder bewirken die sinkenden Hormonspiegel das Altern? Die Diskussion über die Gabe von Hormonen im Alter ist sehr kontrovers. Siehe dazu auch Hormonersatztherapie. Für alle Wirkstoffe auf Hormonbasis fehlt bis heute der Nachweis einer Wirksamkeit gegen das Altern beim Menschen. Eine 2011 veröffentlichten Studie von Michael Ristow legt einen Zusammenhang zwischen einer erhöhten Aufnahme des Spurenelements Lithium und einer niedrigeren Sterblichkeit nahe. In einer Untersuchung in Japan wurde in Gegenden mit vergleichsweise hohem Vorkommen des Elements im Trinkwasser gegenüber der allgemeinen Lebenserwartung eine deutlich höhere festgestellt. Im Laborexperiment wurde beim Fadenwurm Caenorhabditis elegans nach der Behandlung mit einer äquivalenten Dosierung des Spurenelements ebenfalls eine Erhöhung der durchschnittlichen Lebenserwartung nachgewiesen. Dies liefert erste Anhaltspunkte für einen möglichen Zusammenhang auch beim Menschen, allerdings noch keine Schlussfolgerung. Gentechnische Ansätze Die Molekularbiologie hat mit der Entschlüsselung des menschlichen Genoms zu Beginn des 21. Jahrhunderts erhebliche Fortschritte gemacht. Dabei wurden auch Gene identifiziert, die unmittelbar an den Vorgängen des Alterns beteiligt sind. Es ist derzeit nicht abzusehen, wann und wie sich das Altern zukünftig durch molekularbiologische Interventionen beeinflussen lässt. Welche Potenziale dabei prinzipiell bestehen konnte an Modellorganismen, wie beispielsweise den Dwarf-Mäusen oder Caenorhabditis elegans, gezeigt werden. Mentale Einflüsse 1979 startete die amerikanische Sozialpsychologin Ellen J. Langer ein Experiment, bei dem Männer zwischen Ende 70 und Anfang 80 Jahren sich eine Woche lang in eine simulierte Umgebung von 1959 begaben. Eine Gruppe hatte zudem den Auftrag, sich aktiv in diese Zeit und das, was sie damals bewegte, hineinzuversetzen – alle Ereignisse nach 1959 sollten thematisch tabu sein. Das Ergebnis war insofern erstaunlich, als sich sowohl mentale als sogar auch körperlich manifestiert erscheinende Fähigkeiten wie etwa Sehkraft und Beweglichkeit der Gelenke verbessert hatten; und zwar besonders deutlich bei der Gruppe, die sich aktiv mit ihrem Leben während dieser Zeit auseinandergesetzt hatte. Möglicherweise hatte das zeitliche Zurückversetzen und die Sicht auf das jüngere Selbst die Selbstwirksamkeitserwartung – also die Erwartung, bestimmte Dinge machen zu können – der Teilnehmer erhöht und diese positiven Effekte gefördert. Diese und weitere Ergebnisse dazu sind u. a. Gegenstand eines 2010 erschienenen Fachartikels des Magazins Perspectives on Psychological Science und wurden in mehreren populärwissenschaftlichen Abhandlungen aufgegriffen. Die Epidemiologin und Sozialmedizinerin Becca R. Levy von der Yale University wertete die Lebensspanne von 650 Menschen aus, die 1979 in einer Umfrage gebeten worden waren, positive oder negative Aussagen zum Thema Alter als zutreffend anzukreuzen. Über 20 Jahre später ergab die Analyse, dass diejenigen, die das Altern tendenziell positiv betrachteten, im Durchschnitt 7,5 Jahre länger lebten als jene, die eine negative Haltung zeigten. Das Altern aus medizingeschichtlicher Sicht Das Interesse am Altern und der Kampf gegen seine negativen Auswirkungen dürfte fast so alt wie die Menschheit selbst sein. Fulgentius (Mythographus) entnahm in „sermones antiqui“ dem Geschichtswerk des Cincius Alimentus dessen Zitat des Gorgias: „Wer als Tattergreis das Ende seiner Tage herbeisehnte, der entrönne, wenn schon nicht dem Tod, doch wenigstens der Gebrechlichkeit.“ Der Text des Cincius ist die erste überlieferte schriftliche Auseinandersetzung mit dem Alter im lateinischen Kulturkreis. Als Nächstes ist erst wieder Lucilius zu nennen und dann Juvenal. Der Erhalt der Jugend, Lebensverlängerung oder gar Ewiges Leben sind uralte Menschheitsträume, die sich in einer Vielzahl mythischer oder religiöser Überlieferungen wiederfinden. Die Überlieferungen handeln beispielsweise von Jungbrunnen als Quelle der Ewigen Jugend oder des Ewigen Lebens. Ein Kraut, das Ewiges Leben spendet, wurde vom Gilgamesch im gleichnamigen Epos um 3000 vor Christus gesucht. Die goldenen Äpfel der Hesperiden verliehen den Göttern der Griechischen Mythologie die Ewige Jugend. Tithonos wurde zwar auf Bitten von Eos das Ewige Leben durch Zeus gewährt, allerdings vergaß Eos auch um die Ewige Jugend zu bitten, so dass Tithonos alterte und bis zu einer Zikade schrumpfte. Dieses Thema wurde später von Jonathan Swift in Gullivers Reisen mit den unsterblichen Struldbrugs aufgegriffen und variiert. Das 1. Buch Mose im Alten Testament berichtet von dem Baum des Lebens, zu dessen Früchten Adam und Eva nach der Vertreibung aus dem Paradies – sie hatten zuvor verbotenerweise von den Früchten des Baumes der Erkenntnis gegessen – keinen Zugang mehr hatten. Dies ist ein früher religiöser Erklärungsansatz für die Sterblichkeit des Menschen. Die Genesis liefert auch einen Hinweis auf die maximale Lebensspanne des Menschen: Im Papyrus Edwin Smith werden Rezepturen gegen Altersflecken und Falten der Haut beschrieben. Bei Hippokrates von Kos, Aristoteles und Galenos finden sich Altersprophylaxen in Form von Diät und Mäßigung. Aristoteles versucht dabei das Aufzehren der „inneren Wärme“, die für ihn das Leben darstellt, zu verhindern oder zumindest zu verzögern. Galenos begründete die Gerokomie (medizinische Behandlung der Alten) und sorgte so für Alten- und Pflegeheime im römischen Konstantinopel. Bis in die Neuzeit hinein waren die Auffassungen darüber, ob Altern eine Krankheit sei, sehr kontrovers. Für Aristoteles war Altern eine natürliche Krankheit und für Seneca gar eine unheilbare. Terenz meinte Senectus ipsa morbus (est), dt. ‚das Alter selbst ist eine Krankheit‘. Für Galenus war das Altern keine Krankheit, da er Krankheit als wider die Natur betrachtete. Paracelsus sah im 16. Jahrhundert im Altern eine Selbstvergiftung. Ignatz Leo Nascher, der Vater der modernen Geriatrie, betonte stets, dass Altern keine Krankheit sei. Bis in die Renaissance versuchte man mit Sunamitismus die männliche Altersschwäche zu therapieren. Dabei sollten die körperlichen „Ausdünstungen“ einer Jungfrau, die zu dem behandelten Greis ins Bett gelegt wurde – ohne dass dabei Geschlechtsverkehr stattfand –, verjüngend wirken. Diese Form der Therapie geht auf das Alte Testament zurück. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts begründete der deutsche Arzt Christoph Wilhelm Hufeland die Makrobiotik. Sein 1796 erschienenes Buch Makrobiotik oder Die Kunst das menschliche Leben zu verlängern wurde ein Welterfolg. Bis in das 20. Jahrhundert hinein gingen einige Ärzte noch davon aus, dass das Altern vor allem durch eine „Rückbildung der Geschlechtsdrüsen“ verursacht werde. Dies führte in einigen Fällen zu heute abstrus erscheinenden „Therapieansätzen“, wie beispielsweise injizierten Hodenextrakten verschiedener Spezies. Charles-Édouard Brown-Séquard arbeitete gegen Ende des 19. Jahrhunderts mit subkutanen Injektionen von Hoden-Extrakten von Meerschweinchen und Hunden, dem sogenannten Brown-Séquard-Elixier, mit dem er auch sich selbst „verjüngt“ hatte. Serge Voronoff implantierte am 12. Juni 1920 erstmals in das Skrotum eines Patienten in Scheiben geschnittene Hoden eines Schimpansen. Die dünnen Scheiben sollten dabei die Vereinigung des Xenografts mit dem Gewebe des Patienten fördern. Weltweit ging die Zahl dieser Eingriffe in die Tausende. In Österreich arbeitete Eugen Steinach an einer Variante von Vornoffs Transplantationen. Später transplantierte Voronoff auch Affenovarien (erfolglos) in Frauen, um die Menopause zu verhindern. Als sich die von Voronoff versprochenen Wirkungen bei den Patienten nicht einstellten – die kurzzeitig beobachteten Erfolge werden heute im Wesentlichen dem Placebo-Effekt zugesprochen – geriet Vornoffs Transplantationsmethode aus der Mode. Als wenige Jahre später das Testosteron als die aktive Substanz der Hoden identifiziert wurde, keimten die Hoffnungen zur Revitalisierung und Verjüngung des Mannes wieder auf. Die erhoffte Wirkung stellte sich aber nicht ein. Testosteron verlängerte nicht die Lebenserwartung der Versuchstiere. Durch die pleiotrope Wirkung des Testosterons ist eher das Gegenteil der Fall. Einen ähnlichen Weg ging der Schweizer Arzt Paul Niehans, der 1931 mit Zellsuspensionen von Schaf-Feten die sogenannte ‚Zellulartherapie‘ (Frischzellentherapie) erfand. Das Verfahren hatte bis in die 1980er Jahre eine gewisse Verbreitung und fand vor allem durch die Behandlung zahlreicher Prominenter, wie beispielsweise Konrad Adenauer, Pius XII. und Hirohito, in der Boulevardpresse Beachtung. Für die Wirksamkeit der Frischzellentherapie liegt bis heute kein wissenschaftlicher Nachweis vor. Siehe auch: Forschung zu den ältesten Menschen (Langlebigkeit, Hundertjährige und Hundertzehnjährige – engl. supercentenarians; Daten zur maximalen Lebensspanne) Weiterführende Literatur Fachzeitschriften zum Thema Altern Experimental Gerontology. Elsevier, seit 1964 Mechanisms of Ageing and Development. Elsevier, seit 1972 Ageing International. Springer, seit 1974 Neurobiology of Aging. Elsevier, seit 1980 Archives of Gerontology and Geriatrics. Elsevier, seit 1982 Journal of Cross-Cultural Gerontology. Springer, seit 1986 Journal of Aging Studies. Elsevier, seit 1987 Gerontology. S. Karger, seit 1998 Zeitschrift für Gerontologie und Geriatrie. Springer, seit 1998 Journal of Aging and Identity. Springer, 1998–2002 Biogerontology. Springer, seit 2000 Ageing Research Reviews. Elsevier, seit 2002 Immunity & Ageing. Journal im Open Access, Beiträge unter CC-by-sa, seit 2004 European Journal of Ageing. 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Deutsches Zentrum für Altersfragen Deutscher Alterssurvey Deutsche Gesellschaft für Gerontologie und Geriatrie American Federation for Aging Research (englisch) Fußnoten Einzelnachweise Gerontologie
Q332154
88.135079
6726
https://de.wikipedia.org/wiki/1718
1718
Ereignisse Politik und Weltgeschehen Türkenkrieg 21. Juli: Der von Großbritannien und den Niederlanden vermittelte Friede von Passarowitz zwischen Venedig, Österreich und dem Osmanischen Reich wird geschlossen. Er beendet den Venezianisch-Österreichischen Türkenkrieg. Sultan Ahmed III. tritt das Temescher Banat und die Kleine Walachei sowie Nordserbien mit Belgrad und einen Grenzstreifen in Nordbosnien an Österreich ab. Venedig verliert jedoch die Morea endgültig an die Osmanen, behält aber die Festungen Butrinto, Parga, Prevesa, Vonitza auf dem griechischen und albanischen Festland, sowie die ionischen Inseln. Infolge des Friedensvertrages werden auch Handelsverträge abgeschlossen, nach denen türkische Untertanen auf dem Gebiet der Habsburgermonarchie Handelsfreiheit genießen. Krieg der Quadrupelallianz 3. Juli: Nachdem sie im Vorjahr bereits Sardinien erobert haben, landen die Spanier auf Sizilien, das zu diesem Zeitpunkt dem Haus Savoyen gehört, erobern Palermo und besetzen im Anschluss die ganze Insel bis auf Messina, das länger Widerstand leistet. Danach strengt Minister Giulio Alberoni Verhandlungen mit dem savoyischen Herzog Viktor Amadeus II. an und schlägt ihm ein anti-habsburgisches Bündnis vor. 2. August: Kaiser Karl VI. tritt der im Vorjahr geschlossenen Tripel-Allianz von Großbritannien, Frankreich und den Niederlanden gegen Spanien bei. Darin stimmt er unter anderem einem Tausch von Sizilien gegen Sardinien zu. Der Krieg der Quadrupelallianz ist nur noch eine Frage der Zeit. 11. August: In der Seeschlacht vor Kap Passero greift eine britische Flotte unter dem Befehl von Admiral George Byng ohne vorherige Kriegserklärung eine spanische an und reibt sie auf. 30. September: Nach monatelanger Belagerung ergibt sich Messina als letzte Stadt Siziliens den Spaniern. Herbst: Ein kleines österreichisches Heer setzt von Neapel nach Sizilien über, kann jedoch nur einen Brückenkopf um Milazzo halten. 17. Dezember: Nach der spanischen Zurückweisung von Bedingungen der Quadrupelallianz erklärt Großbritannien gegenüber Spanien den Krieg. Der Krieg weitet sich damit auf die spanischen Kolonien in Südamerika aus. Zum Jahreswechsel tritt auch Frankreich offiziell in den Krieg ein, nachdem die von Giulio Alberoni und Louise Bénédicte de Bourbon geplante Verschwörung von Cellamare gegen den französischen Regenten Philippe II. de Bourbon, duc d’Orléans, bekannt geworden ist. Großer Nordischer Krieg Mai: Auf den Aland-Inseln beginnt die erste russisch-schwedische Friedenskonferenz. Georg Heinrich von Görtz und Carl Gyllenborg auf schwedischer Seite verhandeln mit Heinrich Johann Friedrich Ostermann und Jacob Daniel Bruce. Der schwedische Vorschlag sieht vor, dass Russland alle seine Besitzungen bis auf Finnland behalten, dafür aber Norwegen und Hannover den Schweden zufallen sollen. Ferner soll eine Landung in Schottland eine Rückkehr der Jakobiten auf den dortigen Thron vorbereiten. Oktober: Schweden greift das mit Dänemark in Personalunion verbundene Norwegen im Großen Nordischen Krieg erneut an. Das Hauptkorps der Schweden unter König Karl XII. marschiert auf Fredrikshald zu. Ein Teil der schwedischen Armee unter dem Kommando von Generalleutnant Carl Gustaf Armfelt marschiert nach Trondheim. Der Feldzug soll den Kriegsgegnern die scheinbar ungebrochene Stärke Schwedens vor Augen führen, trifft aber im eigenen Land auf allgemeine Missbilligung, da das Land faktisch am Ende seiner Kräfte ist. 20. November: Die Belagerung von Frederikshald durch Karl XII. beginnt. 11. Dezember: Der schwedische König Karl XII. wird bei der Belagerung der Festung Fredriksten im norwegischen Fredrikshald durch einen Schuss getötet, ob von einer Kugel aus feindlichen oder den eigenen Reihen ist ungeklärt. Seine Schwester Ulrika Eleonore übernimmt die Regierung, ihr Ehemann General Friedrich von Hessen-Kassel hebt die Belagerung am 14. Dezember auf und führt das Heer nach Schweden zurück. Der Rückmarsch ist überhastet und unkoordiniert, zahlreiche Schweden sterben an Hunger und Kälte. Russland 7. Juli: Zarewitsch Alexei von Russland stirbt in Haft. Er ist bei seiner Rückkehr aus dem Exil nach Moskau am 14. Februar festgenommen, zum Thronverzicht gezwungen und wegen Verschwörung gegen seinen Vater Peter den Großen zum Tode verurteilt worden. Auf die Hinrichtung wurde zwar verzichtet, doch stirbt Alexei kurze Zeit später vermutlich an den Folgen der erlittenen Folter. Heiliges Römisches Reich 15. November: Herzog Moritz Wilhelm von Sachsen-Zeitz stirbt ohne Erben. Dadurch fällt die albertinische Sekundogenitur wieder an Kursachsen zurück. Asien Sultan ibn Saif II., Imam der Yaruba-Dynastie in Oman, stirbt. Die Nachfolge ist umstritten, da sein Sohn Saif ibn Sultan II. noch minderjährig ist. Trotzdem setzt das Volk dessen Einsetzung gegen die Bedenken der Geistlichkeit durch. Piraterie in der Karibik und vor Nordamerika 11. April: Der ehemalige Freibeuter Woodes Rogers, neu ernannter Gouverneur der Bahamas, bricht von Bristol aus nach New Providence auf, das zu diesem Zeitpunkt als Piratenhauptstadt bekannt ist. Im Gepäck hat er einen Königlichen Pardon für alle Piraten, die sich vor dem 5. September ergeben. Er erreicht New Providence am 26. Juli. Die meisten Piraten, unter ihnen Benjamin Hornigold, nehmen das Angebot an, nur Charles Vane widersetzt sich, entzündet ein frisch gekapertes Schiff im Hafen und lässt es als Brander auf die vor Anker liegenden Schiffe des Gouverneurs zulaufen. Danach flüchtet er mit seiner Mannschaft, zu der unter anderem Jack Rackham und Anne Bonny gehören. Nachdem er im März und April mehrere Schiffe in der Karibik gekapert hat, erscheint Edward Thatch, genannt Blackbeard, mit seiner Piratenflotte vor Charleston in der Province of South Carolina und belagert die Stadt. Mindestens neun Schiffe, die die Blockade durchbrechen wollen, werden aufgebracht. Nach der Übergabe von Medikamenten und medizinischen Utensilien brechen die Piraten die Belagerung ab und segeln weiter nach Beaufort in North Carolina. Dort läuft jedoch Blackbeards Flaggschiff, die Queen Anne’s Revenge auf Grund und geht verloren. Inzwischen entsendet Alexander Spotswood, der Gouverneur von Virginia, in Überschreitung seiner örtlichen Kompetenz zwei als Handelsschiffe getarnte Kriegsschiffe der Royal Navy unter dem Befehl von Leutnant Robert Maynard, um Blackbeard festzunehmen oder zu töten. 21. November: Nachdem Blackbeard mit seiner Mannschaft die beiden vermeintlichen Handelsschiffe geentert hat, wird er von Robert Maynard im Kampf getötet. Blackbeard wird enthauptet und sein Kopf an den Bugspriet von Maynards Schaluppe gehängt, bis die Piratenjäger wieder in Virginia eintreffen. Nordamerikanische Kolonien Juni: Mit einem Vertrag zwischen den Siedlern und den verbliebenen Tuscarora endet der Tuscarora-Krieg endgültig. Damit wird auch das Fort Christanna geschlossen. Jean-Baptiste Le Moyne de Bienville gründet in der französischen Kolonie Louisiana die Stadt La Nouvelle-Orléans. Wirtschaft 15. Mai: Der Londoner Anwalt James Puckle erhält ein Patent auf das von ihm erfundene Maschinengewehr. Es gibt wenig Interesse dafür. Dem österreichischen Hofkriegsratsagent Claudius Innocentius du Paquier gelingt es, das wohlgehütete Produktionsgeheimnis der Königlich-Polnischen und Kurfürstlich-Sächsischen Porzellanmanufaktur in Erfahrung zu bringen. Mit Hilfe des kaiserlichen Gesandten am polnisch-sächsischen Hof, Damian Hugo von Virmont, kann er einige der Handwerker aus Meißen nach Wien abwerben und eine eigene Porzellanmanufaktur errichten. Die Wiener Porzellanmanufaktur, für die er am 27. Mai ein kaiserliches Privilegium zur Porzellanherstellung in den habsburgischen Ländern erhält, ist die zweite in Europa. Die 1674 aufgelöste Französische Westindienkompanie wird wiedergegründet, übernimmt das Tabakmonopol und fusioniert mit der Senegalkompanie. Wissenschaft und Technik November: Der deutsche Naturwissenschaftler Daniel Gottlieb Messerschmidt erhält über Laurentius Blumentrost den kaiserlichen Auftrag Peters des Großen für eine mehrjährige Forschungs- und Sammelreise durch Sibirien. Kultur Architektur 9. September: In Vorbereitung der geplanten Hochzeitsfeierlichkeiten von Kurprinz Friedrich August mit Maria Josepha von Österreich wird in Dresden der Grundstein für das Opernhaus am Zwinger gelegt. Die Wallgrabenbrücke verbindet die westlichen Dresdner Vorstädte außerhalb der Dresdner Befestigungsanlagen mit dem Zwinger. Musik und Theater Februar: Das Melodrama Telemaco von Alessandro Scarlatti auf das Libretto von Carlo Sigismondo Capece hat seine Uraufführung am römischen Teatro Capranica. Frühsommer: Georg Friedrich Händel komponiert die Masque Acis and Galatea und die Erstfassung des Oratoriums Esther. 1. Oktober: Uraufführung der Oper Temistocle von Nicola Porpora in Wien 4. November: Uraufführung der Oper Ifigenia in Aulide von Alessandro Scarlatti in Wien 26. November: Uraufführung der Oper Il trionfo dell’onore von Alessandro Scarlatti am Teatro dei Fiorentini in Neapel Gesellschaft In Schweden wird die erste Rechtsverkehrsordnung erlassen. Katastrophen Februar: Große Teile von Bukarest werden durch einen Brand zerstört. Im gleichen Jahr kommt es wegen einer Dürre zu einer Hungersnot. Das Picardsche Schweißfieber tritt in Nordfrankreich erstmals auf. Geboren Erstes Halbjahr 7. Januar: Israel Putnam, britischer Offizier und US-amerikanischer General († 1790) 20. Januar: Ambrosio de Benavides, spanischer Kolonialverwalter, Gouverneur von Puerto Rico, Charcas und Chile († 1787) 20. Januar: Élie Catherine Fréron, französischer Literat und Publizist († 1776) 29. Januar: Paul Rabaut, französischer evangelischer Prediger und Pfarrer († 1794) 2. Februar: Christoph Bauer, deutscher lutherischer Theologe († 1778) 17. Februar: Matthew Tilghman, Delegierter von Maryland im Kontinentalkongress († 1790) 18. Februar: Søren Abildgaard, dänischer Biologe, Autor und Illustrator († 1791) 18. Februar: Robert Henry, schottischer Historiker († 1790) 24. Februar: George Rodney, 1. Baron Rodney, britischer Flottenadmiral († 1792) Februar: Hilaire-Marin Rouelle, französischer Chemiker und Apotheker († 1779) Februar: Mary Wortley-Montagu, 1. Baroness Mount Stuart, britische Adelige († 1794) 12. März: Johann Berenberg, deutsche Bankier, Kunstsammler und Mäzen († 1772) 21. März: Johann Friedrich Hiller, deutscher Pädagoge, Rhetoriker und Philosoph († 1790) 21. März: Friedrich August Krubsacius, deutscher Architekt und Architekturtheoretiker († 1789) 27. März: Andreas Weber, deutscher Philosoph und lutherischer Theologe († 1781) 31. März: Maria Anna Viktoria von Spanien, Königin und Regentin von Portugal († 1781) April: Wilhelmine Dorothee von der Marwitz, Wiener Salonnière und Geliebte des Markgrafen Friedrich von Brandenburg-Bayreuth († 1787) 10. Mai: Angelius Johann Daniel Aepinus, deutscher Philosoph und Hochschullehrer († 1784) 13. Mai: Christian Friedrich Exner, deutscher Baumeister († 1798) 16. Mai: Maria Gaetana Agnesi, italienische Mathematikerin und Philanthropin († 1799) 17. Mai: Matthew Maty, niederländischer Mediziner, Biograf und Bibliothekar († 1776) 25. Mai: Johann Christian Blasche, deutscher lutherischer Theologe († 1792) 16. Juni (getauft): Thomas Chippendale, englischer Möbeldesigner († 1779) 23. Juni: Emmanuel von Croÿ, Reichsfürst und französischer Heerführer († 1784) Zweites Halbjahr 15. Juli: Alexander Roslin, schwedischer Maler († 1793) 31. Juli: John Canton, englischer Physiker († 1772) 11. August: Jobst Anton von Hinüber, deutscher Jurist, Postmeister und Klosteramtspächter († 1784) 16. August: Jakob Emanuel Handmann, Schweizer Porträtmaler († 1781) 25. August: Christianus Carolus Henricus van der Aa, niederländischer lutherischer Theologe († 1793) 8. September: François-Thomas-Marie de Baculard d’Arnaud, französischer Dichter und Dramatiker († 1805) 14. September: Maria Anna von Österreich, Herzogin von Lothringen († 1744) 24. September: Christian Georg Schütz der Ältere, deutscher Maler und Kupferstecher († 1791) 25. September: Martin Johann Schmidt, österreichischer Barockmaler († 1801) 26. September: Johann Friedrich Stahl, deutscher Forstwissenschaftler († 1790) 29. September: Nikita Iwanowitsch Panin, russischer Außenminister († 1783) 2. Oktober: Louisa Catharina Harkort, deutsche Unternehmerin († 1795) 2. Oktober: Elizabeth Montagu, englische Salondame, Schriftstellerin und Mäzenin, Mitbegründerin der Blaustrumpf-Bewegung († 1800) 14. Oktober: Vito D’Anna, sizilianischer Maler († 1769) 19. Oktober: Victor-François de Broglie, französischer Heerführer und Staatsmann, Marschall von Frankreich († 1804) 25. Oktober: Reinhold Rücker Angerstein, schwedischer Metallurg, Beamter und Unternehmer († 1760) 3. November: John Montagu, 4. Earl of Sandwich, britischer Diplomat und Staatsmann († 1792) 10. November: Anton Laube, böhmischer Komponist und Kirchenmusiker († 1784) 21. November: Friedrich Wilhelm Marpurg, deutscher Musiktheoretiker und -kritiker († 1795) 28. November: Hedvig Charlotta Nordenflycht, schwedische Dichterin († 1763) 4. Dezember: Carl August von Veltheim, deutscher Generalleutnant und Generalinspekteur der hannoverschen Kavallerie († 1781) 9. Dezember: Wilhelm Christian Justus Chrysander, deutscher lutherischer Theologe, Mathematiker und Orientalist († 1788) 12. Dezember: Elisabeth Dorothea von Wiser, pfälzische Gräfin, Grundherrin und Wohltäterin des Dorfes Friedelsheim († 1771) 16. Dezember: Johann Tobias Krebs, deutscher Philologe und Pädagoge († 1782) 18. Dezember: Anna Leopoldowna, Großfürstin und Regentin Russlands († 1746) 18. Dezember: Ernst Friedrich Wernsdorf, deutscher lutherischer Theologe und Kirchenhistoriker († 1782) 31. Dezember: Nicolas-Sylvestre Bergier, französischer Theologe und berühmter Apologet († 1790) Genaues Geburtsdatum unbekannt Karai Senryū, japanischer Dichter († 1790) David Klaus, deutscher Philosoph († 1793) Nano Nagle, irische Ordensfrau und Ordensgründerin († 1784) Tsuga Teishō, japanischer Schriftsteller († 1794) Veli Pascha von Delvina, osmanischer Pascha († 1763) José Joaquín de Viana, spanischer Politiker und Militär baskischer Herkunft († 1773) Lawrence Washington, Soldat und Landbesitzer in Virginia, Halbbruder von George Washington († 1752) Geboren um 1718 Sünbülzade Vehbi, osmanischer Dichter († 1809) Gestorben Januar bis April 6. Januar: Giovanni Vincenzo Gravina, italienischer Schriftsteller und Jurist und Mitbegründer der Accademia dell’Arcadia (* 1664) 14. Januar: Andreas Dietrich Apel, deutscher Handelsherr und Seidenfabrikant (* 1662) 16. Januar: Johann Hugo von Lente, deutscher Jurist und Diplomat in dänischen Diensten (* 1640) Januar: Nikolaes Heinsius der Jüngere, niederländischer Arzt und Schriftsteller (* 1656) 1. Februar: Charles Talbot, 1. Duke of Shrewsbury, britischer Politiker (* 1660) 5. Februar: Elisabeth Johanna von Pfalz-Veldenz, Wild- und Rheingräfin zu Salm-Kyrburg (* 1653) 5. Februar: Adrianus Reland, niederländischer Orientalist (* 1676) 14. Februar: Viktor I. Amadeus, Fürst von Anhalt-Bernburg (* 1634) 14. Februar: Wilhelm Heinrich, Fürst von Nassau-Usingen (* 1684) 27. Februar: Václav Karel Holan Rovenský, tschechischer Komponist (* 1644) 1. März: Jacobus le Mort, niederländischer Chemiker und Mediziner (* 1650) 3. März: Jean d’Estrées, französischer Politiker und Erzbischof von Cambrai (* 1666) 11. März: Guy-Crescent Fagon, französischer Arzt und Botaniker (* 1638) 13. März: Friedrich Nicolaus Bruhns, norddeutscher Komponist (* 1637) 15. März: Ferdinand von Fürstenberg, Obriststallmeister des Hochstifts Paderborn sowie Erbdrost verschiedener Ämter im Herzogtum Westfalen (* 1661) 20. März: Edward Lloyd, britischer Kolonialgouverneur von Maryland (* 1670) 1. April: Johann Jacob Stolterfoht, deutscher Mediziner und Stadtphysicus von Lübeck (* 1665) 3. April: Franziska Barbara von Weltz, Gräfin von Hohenlohe, Herrin von Wilhermsdorf (* 1666) 10. April: Georg Friedrich Meinhart, deutscher evangelischer Theologe (* 1651) 15. April: Antonio Grano, sizilianischer Maler (* um 1660) 18. April: Michael Wening, bayerischer Kupferstecher (* 1645) 21. April: Philippe de La Hire, französischer Mathematiker (* 1640) 26. April: Maria Eleonore von Dernbach, Gräfin der Herrschaft Wiesentheid (* 1680) 26. April: Henry Tew, Vizegouverneur der Colony of Rhode Island and Providence Plantations (* 1654) Mai bis August 1. Mai: Robert Daniell, britischer Gouverneur der Province of South Carolina (* 1646) 3. Mai: Zwi Hirsch Aschkenasi, böhmischer Rabbiner und Talmudgelehrter (* 1656) 3. Mai: Gottfried Suevus der Jüngere, deutscher Rechtswissenschaftler (* 1652) 6. Mai: Johann Paul Hebenstreit, deutscher Moralphilosoph und lutherischer Theologe (* 1660) 7. Mai: Maria Beatrice d’Este, Königin von England, Schottland und Irland (* 1658) 15. Mai: Stephan Anton Mdzewski, polnischer Geistlicher, Titularbischof von Calama sowie Weihbischof in Luzk und Gnesen (* um 1653) 18. Mai: Arvid Karlsteen, schwedischer Medailleur, Münzer und Miniaturmaler (* 1647) 19. Mai: Juan Andrés de Ustariz de Vertizberea, spanischer Kaufmann und Gouverneur von Chile (* 1656) 22. Mai: Gaspard Abeille, französischer Geistlicher, Schriftsteller und Dramatiker (* 1648) 23. Mai: Jacobus Sackmann, evangelischer Theologe (* 1643) 30. Mai: Arnold van Keppel, 1. Earl of Albemarle, niederländischer Höfling und Offizier (* 1669) 30. Mai: Bernard Nieuwentijt, niederländischer Philosoph und Mathematiker (* 1654) 4. Juni: Georg Lybecker, schwedischer Feldherr 18. Juni: Wybrand Gerlacus Scheltinga, niederländischer Admiral in russischen Diensten (* 1677) 24. Juni: Ludwig Friedrich I., Fürst von Schwarzburg-Rudolstadt, Graf von Hohnstein, Herr von Rudolstadt, Blankenburg und Sondershausen (* 1667) 24. Juni: Mathias Prininger, österreichischer Glockengießer (* 1652) Juni: Sudfeld Vick, deutscher Baumeister 7. Juli: Alexei von Russland, Zarewitsch (Kronprinz) von Russland (* 1690) 11. Juli: Caspar Löscher, deutscher lutherischer Theologe (* 1636) 18. Juli: Friedrich Adolf, Graf von Lippe-Detmold (* 1667) 21. Juli: Sabbatai Ben Josef, jüdischer Schriftsteller, Gelehrter, Bibliograph und Verleger (* 1641) 27. Juli: Johann Schorn, Salzburger Lauten- und Geigenbauer (* 1658) 28. Juli: Étienne Baluze, französischer Historiker (* 1630) 30. Juli: William Penn, Quäker und Begründer Pennsylvaniens (* 1644) September bis Dezember 9. September: Diego Ladrón de Guevara, Bischof von Quito und Vizekönig von Peru (* 1641) 21. September: Graf Johann Philipp von Isenburg-Offenbach, Regent der Grafschaft Isenburg (* 1655) 19. Oktober: Henri d’Harcourt, Marquis de Beuvron et de Thary-Harcourt, Marschall und Pair von Frankreich, bevollmächtigter Gesandter in Spanien (* 1654) 23. Oktober: Johann Caspar Posner, deutscher Physiker und Rhetoriker (* 1670) 31. Oktober: Johanna Ursula von Geusau, deutsche Kirchenlieddichterin (* 1659) 3. November: Karl Wilhelm, Fürst von Anhalt-Zerbst (* 1652) 15. November: Moritz Wilhelm, Herzog von Sachsen-Zeitz (* 1664) 17. November: Philipp Ludwig Probst, fürstlich braunschweig-lüneburgischer Premierminister, Kanzler und Landsyndikus sowie Erbherr auf Wendhausen, Schöningen und Riddagshausen (* 1633) 22. November: Edward Thatch, fälschlich Edward Teach, alias „Blackbeard“, englischer Pirat im karibischen Meer (* um 1680) 30. November: Robert Erskine, schottischer Arzt, Präsident der ersten medizinischen Akademie im Russischen Reich (* 1677) 5. Dezember: Johann Friedrich Willading, Schweizer Staatsmann (* 1641) 6. Dezember: Georg Christoph Petri von Hartenfels, deutscher Arzt, Naturwissenschaftler und Hochschullehrer (* 1633) 6. Dezember: Nicholas Rowe, englischer Dichter und Dramatiker (* 1673) 7. Dezember: Rudolf Emanuel Passavant, Frankfurter Kaufmann (* 1641) 9. Dezember: Vincenzo Maria Coronelli, italienischer Kartograf, Kosmograf und Globenbauer (* 1650) 10. Dezember: Stede Bonnet, englisch-barbadischer Landbesitzer und Pirat (* 1688) 11. Dezember: Karl XII., König von Schweden und Herzog von Pfalz-Zweibrücken (* 1682) 13. Dezember: Johann Arnoldi, stolbergischer Hofrat (* 1648) 21. Dezember: Cai Burchard Graf von Ahlefeldt, Gutsherr der Adligen Güter Bystorp, Gut Eschelsmark, Ornum und Stubbe (* 1671) 25. Dezember: Franz Arnold von Wolff-Metternich zur Gracht, Fürstbischof von Paderborn und Münster (* 1658) 25. Dezember: Franz Joseph Feuchtmayer, deutscher Bildhauer und Stuckateur (* 1660) 26. Dezember: Rudolph Wilhelm Krause der Jüngere, deutscher Mediziner (* 1642) 28. Dezember: Johann Brokoff, böhmischer Bildhauer (* 1652) 28. Dezember: Benoîte Rencurel, französische Hirtin und Mystikerin (* 1647) Genaues Todesdatum unbekannt Giulio Broggio, italienischer oder Schweizer Architekt und Baumeister (* 1628) Giovanni Antonio Matera, sizilianischer Bildhauer (* 1653) Sultan ibn Saif II., Imam von Oman Giulio Taglietti, italienischer Violinist und Komponist (* um 1660) Nikolaus Wurmstich, deutscher Maurermeister und Architekt Weblinks
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https://de.wikipedia.org/wiki/Kirchenslawisch
Kirchenslawisch
Kirchenslawisch ist eine traditionelle Liturgiesprache, die in den slawischsprachigen Ländern von den orthodoxen Kirchen und den katholischen Ostkirchen verwendet wurde oder, in den slawischen orthodoxen Kirchen, verwendet wird. Sie entstand im Rahmen der Slawenmission durch Kyrill und Method und war bis in die Neuzeit die wichtigste slawische Literatursprache. Die am besten untersuchte Variante des Kirchenslawischen ist das Altkirchenslawische. Redaktionen Das Altkirchenslawische ist lediglich die „Spitze des Eisbergs“ an kirchenslawischer Literatur, ein klar abgegrenztes Handschriftenkorpus, das sich durch orthographisch-phonologische Charakteristika als archaisch auszeichnet. Der überwiegende Großteil der kirchenslawischen Literatur, der bis in die Neuzeit entstand und tradiert wurde, erfuhr eine sprachliche Beeinflussung durch die lokalen volkssprachlichen Idiome und unterschied sich dadurch von den altkirchenslawischen kanonischen Texten. Man spricht in diesem Zusammenhang von Redaktionen des Kirchenslawischen. Bulgarisch-Kirchenslawisch Nachdem die Schüler Methods aus Großmähren vertrieben worden waren, fanden sie – und mit ihnen die kirchenslawische Literatur – im bulgarischen Reich die sogenannte „zweite Heimat“. Unter dem Zaren Simeon I. entstand eine Vielzahl an vorwiegend aus dem Griechischen übersetzten Texten, deren älteste sie überliefernde Handschriften zum Teil noch zum altkirchenslawischen Kanon zählen. Später, ab etwa 1200, unterscheiden sich die Texte von den altkirchenslawischen durch den Einfluss der lokalen Dialekte, zum Beispiel durch die Verwechslung der Nasalvokale. Dieses Textkorpus wird als Bulgarisch-Kirchenslawisch oder Mittelbulgarisch bezeichnet. Die immer weiter tradierten Bücher wurden im 14. Jahrhundert einer Revision unterzogen (Euthymios von Tarnowo, Orthographie von Tarnowo), wobei Überlieferungsfehler getilgt wurden und die Orthographie archaisierend vereinfacht wurde. Eine wichtige Rolle spielten hierbei die slawischen Klöster auf dem Athos, in welchen fleißig an und mit der Überlieferung gearbeitet wurde. Mit dem Vordringen der Osmanen auf den Balkan wurde die Blüte der kirchenslawischen Schriftkultur in Bulgarien beendet. Serbisch-Kirchenslawisch In Serbien wurde das Kirchenslawische vom štokavischen Substrat beeinflusst. Auch dort wurde die Überlieferung als Folge des Traktats „Über die Buchstaben“ von Konstantin von Kostenec auf Grundlage der Schule von Tarnowo archaisiert, wodurch das Prestige der Sprache gesteigert werden sollte. Als Blütezeit gelten das 14. und 15. Jahrhundert (aus dem Griechischen übersetzte Abschriften, Heiligengeschichten). Serbisch-Kirchenslawisch war die hauptsächliche Schriftsprache Serbiens bis in das 18. Jh. und eine der Amtssprachen in der frühen Periode des Osmanischen Reiches. Bei den Serben, die sich nach den Türkenkriegen in der Vojvodina ansiedelten, kam seit Ende des 17. Jahrhunderts Russisch-Kirchenslawisch (Neukirchenslawisch) und später für das weltliche Schrifttum Slawenoserbisch als Schriftsprache in Gebrauch, im übrigen Serbien selbst wurde Serbisch-Kirchenslawisch weiterverwendet. Russisch-Kirchenslawisch Entstehung und Entwicklung Als wichtigste Grundlage gilt das auf dem Boden der Kiewer Rus entstandene Russisch-Kirchenslawisch. Das Ostromir-Evangelium von 1056 ist davon ein erstes datiertes Denkmal, welches wahrscheinlich von einer südslawischen nicht erhaltenen Vorlage abgeschrieben wurde. Das Ostromir-Evangelium zeigt im Gegensatz zu den altkirchenslawischen Denkmälern die Verwechslung der Nasalvokale ǫ und ę mit den oralen Vokalen u und ‘a. In der Gesamtschau sind nur geringe sprachliche Unterschiede zum Altkirchenslawischen festzustellen. Auch nicht explizit liturgisch eingesetzte Denkmäler der frühen Zeit, wie die Nestorchronik, zeigen sich abseits der genannten (und weiteren) orthographisch-phonetischen Besonderheiten sowie vereinzelten lexikalischen Ostslawismen weitgehend in kirchenslawischer Gestalt. Die Weiterentwicklung der ostslawischen Idiome und die selbstständige Tradierung der Literatur auf ostslawischem Boden führte dazu, dass bis zum 14. Jahrhundert sich die russische Redaktion zumindest orthographisch recht deutlich von den altkirchenslawischen Texten unterschied. Zweiter südslawischer Einfluss Eine Re-Archaisierung der orthographischen Gestalt der Texte erfolgte, als infolge des Vordringens der Osmanen auf den Balkan viele slawische, vornehmlich bulgarische Gelehrte der Tarnower Schule (wie zum Beispiel der spätere Metropolit Kiprian) ab dem Ende des 14. Jahrhunderts in der mittlerweile erstarkten Moskauer Rus Zuflucht fanden. Man spricht in diesem Zusammenhang vom zweiten südslawischen Einfluss (wobei als erster südslawischer Einfluss die Übernahme der bulgarischen kirchenslawischen Literatur im Zusammenhang mit der Christianisierung der Kiewer Rus unter Wladimir I. im Jahre 988 zu gelten hat). Ergebnis dieser Re-Archaisierung war unter anderem der Versuch einer etymologisch korrekten Nasalenschreibung, wie sie beispielsweise in Ansätzen in der ersten kirchenslawischen Vollbibel, der Gennadiusbibel von 1499 des Erzbischofs Gennadius von Nowgorod, anzutreffen ist. Der Weg zum Neukirchenslawischen Im 16. Jh. wurde die Rus als mittlerweile führende Vertreterin der slawischen Orthodoxie mit vielfältigen kulturellen Herausforderungen konfrontiert. Infolge der Reformation und vor allem der von den Jesuiten in den seit 1569 unter der polnischen Krone vereinten (süd)westlichen ostslawischen Gebieten (heute Belarus und die Westukraine) vorangetriebenen Gegenreformation wurde die Orthodoxie und damit das Kirchenslawische bedroht. Eine wichtige Rolle bei der Verbreitung des theologisch unterschiedlichen Gedankenguts spielte der Buchdruck, der im Laufe des 16. Jahrhunderts auch in den östlichen Gebieten Europas Verbreitung fand. Die konfessionell-theologischen Herausforderungen und das Bedürfnis der Drucker nach Einheitlichkeit führten zur ersten gedruckten kirchenslawischen Bibel, der Ostroger Bibel von 1581, sowie zu Kodifikationsversuchen des Kirchenslawischen in Grammatiken und Wörterbüchern, die dank der gedruckten Form eine hohe Verbreitung erfuhren und damit normative Kraft entfalten konnten. Zu nennen sind in diesem Zusammenhang unter anderem die Grammatik von Meleti Smotryzky (1619) sowie das Wörterbuch von Pamwo Berynda (1627), Werke, die allesamt im von Kulturkontakten geprägten Raum der (süd)westlichen Rus entstanden. Das hiermit normierte und kodifizierte System des Neukirchenslawischen fand in der Mitte des 17. Jahrhunderts mit ukrainischen Gelehrten seinen Weg nach Moskau. Dieser Kulturimport wird als Dritter Südslawischer Einfluss bezeichnet, auch wenn der südslawische Raum hier kaum eine Rolle spielte, sondern stattdessen das Geistesleben in der (südlich Moskaus liegenden) Ukraine; von Moskau strahlte das Neukirchenslawische nach der Revision der liturgischen Bücher anhand griechischer Texte unter Nikon und dem Druck weiterer Bibelausgaben in die anderen Gebiete der orthodoxen Slawia und wird in annähernd dieser Form noch heute im orthodoxen Gottesdienst verwendet. Kroatisch-Kirchenslawisch Eine Sonderstellung innerhalb der Geschichte des kirchenslawischen Schrifttums nimmt das Kroatisch-Kirchenslawische ein. Dem katholisch-lateinischen Kulturkreis zugehörig, bewahrte es dennoch die kyrillomethodianische Tradition in der Textüberlieferung auch nach dem Morgenländischen Schisma von 1054, wobei zur Texterstellung die eckige Glagoliza verwendet wurde. Da keine permanenten Kulturkontakte mit dem Ostbalkanraum bzw. der Rus vorhanden waren, durch die die Überlieferung beeinflusst worden wäre, lassen sich in kroatisch-glagolitischen Handschriften oftmals archaische Lesarten bezeugen. Tschechisch-Kirchenslawisch Die frühen Bezeugungen des Kirchenslawischen in der westlichen Peripherie, namentlich das Tschechisch-Kirchenslawische, spielten in der weiteren Überlieferungsgeschichte des Kirchenslawischen nur eine geringe Rolle. Literatur August Schleicher: Die Formenlehre der kirchenslawischen Sprache erklärend und vergleichend dargestellt. Nachdruck: H. Buske Verlag, Hamburg 1998, ISBN 3-87118-540-X. Klaus Trost: Untersuchungen zur Übersetzungstheorie und -praxis im späten Kirchenslavisch. 1978. Nicolina Trunte: Kirchenslavisch in 14 Lektionen. 2. Auflage. Harrassowitz, Wiesbaden 2022, ISBN 978-3-447-10953-6. Nicolina Trunte: Славе́нскїй я҆зы́къ. Lehrbuch des Kirchenslavischen in 30 Lektionen. Zugleich eine Einführung in die slavische Philologie. 2 Bände. Band 1: Altkirchenslavisch (6. Auflage 2022), Band 2: Mittel- und Neukirchenslavisch (2. Auflage 2014, Verlag Otto Sagner, München / Berlin / Washington, D.C., ISBN 978-3-86688-427-4). Weblinks Einzelnachweise
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https://de.wikipedia.org/wiki/Marburg
Marburg
Marburg ist die Kreisstadt des mittelhessischen Landkreises Marburg-Biedenkopf und liegt an der Lahn. Zur traditionellen Abgrenzung von Marburg an der Drau wurde die Stadt bis 1974 offiziell Marburg an der Lahn bzw. Marburg a. d. Lahn und anschließend bis Ende 1976 Marburg (Lahn) genannt. Marburg ist eine Universitätsstadt und mit Einwohnern die achtgrößte Stadt Hessens. Das Stadtgebiet erstreckt sich beiderseits der Lahn westlich ins Gladenbacher Bergland hinein und östlich über die Lahnberge hinweg bis an den Rand des Amöneburger Beckens. Seit dem 13. Jahrhundert hat Marburg Stadtrechte. Heute erfüllt es die Funktion eines Oberzentrums im Regierungsbezirk Gießen (Mittelhessen). Als größere Mittelstadt hat Marburg wie noch sechs andere Mittelstädte in Hessen einen Sonderstatus im Vergleich zu den anderen kreisangehörigen Gemeinden. Die Stadt übernimmt daher Aufgaben des Landkreises, sodass sie in vielen Dingen einer kreisfreien Stadt gleicht. Marburg besitzt mit der 1527 gegründeten Philipps-Universität die älteste noch existierende protestantisch gegründete Universität der Welt, die auch heute noch durch ihre Bauwerke und das Studentenleben das Stadtbild prägt. Den Namen Marburg könnte die Stadt dem Umstand verdanken, dass hier ehemals eine Grenze („mar[c]“) zwischen den Territorien der Landgrafen von Thüringen und der Erzbischöfe von Mainz verlief. Historisch lässt sich das nicht eindeutig belegen. Die herausragenden Sehenswürdigkeiten in Marburg sind die Elisabethkirche, die Alte Universität, das Landgrafenschloss sowie die unterhalb von diesem gelegene Altstadt, die in Marburg „Oberstadt“ genannt wird. Geographie Geographische Lage Marburg liegt in Mittelhessen, etwa in der Mitte zwischen Frankfurt am Main und Kassel, von beiden Städten jeweils rund 77 Kilometer Luftlinie entfernt. Die benachbarte Universitätsstadt Gießen liegt etwa 27 Kilometer südlich. Das Siedlungsgebiet Landschaftlich liegt Marburg im Marburger Bergland, einem Südwestausläufer des Burgwaldes, der durch das Tal der Lahn in Nord-Süd-Richtung durchbrochen wird. Nach Westen grenzt es mit der Elnhausen-Michelbacher Senke und den sich anschließenden Damshäuser Kuppen unmittelbar an Teile des Gladenbacher Berglandes und damit an das Rheinische Schiefergebirge, nach Osten schließt sich das Amöneburger Becken an, das ebenfalls Anteil an der Stadtgemarkung hat. Der höchste Berg innerhalb des zu Marburg gehörenden Stadtgebiets ist mit der Störner westlich der eigentlichen Stadt, nordwestlich des kleinen Stadtteils Dilschhausen. Die niedrigste Stelle befindet sich im Süden der Stadt an der Lahn (). Die größte Ausdehnung des Hauptsiedlungsgebietes beträgt in Nord-Süd-Richtung etwa neun Kilometer (Norden Wehrdas bis Süden Cappels), in Ost-West-Richtung maximal 4 (Westen Marbachs bis östlicher Ortenberg) bis 4,5 Kilometer (westlicher Stadtwald bis östlicher Richtsberg), zumeist aber – an die Enge des Tals der Lahn angepasst – deutlich weniger. Westlich der Marburger Lahntalsenke ziehen sich Teile der Altstadt und anderer Ortsteile den Marburger Rücken hoch, östlich schließen sich die Lahnberge an, in deren Gipfellagen sich das Universitätsklinikum und diverse Institute befinden. Die historische Altstadt Der historische Altstadtkern liegt westlich vom heutigen Stadtzentrum, unterhalb des Landgrafenschlosses (Marburger Schloss); auch der Brückenvorort, das ehemalige Gerberdorf Weidenhausen auf der anderen Lahnseite, hat Altstadtcharakter. Marburg hat sich im Laufe der letzten zwei Jahrhunderte vom Altstadtkern abwärts in das Lahntal ausgedehnt. Südlich des Schlosses befindet sich das Jugendstilviertel Südviertel, westlich davon das 1931 eingemeindete Ockershausen. Im unmittelbaren Osten der Kernstadt liegt der durch die Bahnlinie von der Innenstadt getrennte Ortenberg, im äußersten Südosten der alten Stadtgemarkung liegt in höheren Lagen die erst in den 1960er Jahren gebaute Hochhaussiedlung Richtsberg. Gebietsreform Während der Gebietsreform 1974 sind die Großstadtteile Marbach (nördlicher Westen), Wehrda (Norden) und Cappel (Süden) eingemeindet worden, in die das bebaute Stadtgebiet fließend übergeht. Speziell Marbach kann heute, ähnlich wie Ockershausen, als Teil der Kernstadt angesehen werden, wenngleich der Ortsteil aus historischen Gründen nicht als Innenstadtbezirk verwaltet wird. Nachbargemeinden Marburgs sind im Uhrzeigersinn, beginnend im Norden, folgende Städte und Gemeinden: Lahntal, Cölbe, Kirchhain, Ebsdorfergrund, Weimar (Lahn), Gladenbach und Dautphetal. Geologie Nachdem die Lahn südlich der Frankenberger Bucht die Flüsse Wetschaft und Ohm aufgenommen hat, wendet sie sich nach Süden und durchschneidet bei Marburg ein mächtiges, in weiten Bereichen flach liegendes und überwiegend bewaldetes Schichtpaket des Buntsandsteins, der in der Unteren Trias abgelagert wurde. Das Stadtbild wird deshalb bestimmt durch die tief liegenden Ablagerungen der Lahn in der Marburger Lahntalsenke und die im Westen und Osten aufragenden Höhen des Buntsandsteins. Hauptgestein des Buntsandsteins bei Marburg ist der etwa 250 Meter mächtige Mittlere Buntsandstein. Seine wechselnd feinen bis groben, rötlichen Quarzsande und Sandsteine unterlagern die bewaldeten Höhen der Lahnberge und des Marburger Rückens. In der Westhälfte des Marburger Rückens überwiegt der Untere Buntsandstein. Nicht an der Oberfläche aufgeschlossen sind im westlichen Stadtgebiet die etwa 60 Meter mächtigen Sedimentgesteine des Zechsteins, die den Buntsandstein am Ostrand des Rheinischen Schiefergebirges unterlagern. Sie wurden am Ostrand des flachen Zechsteinmeers abgelagert und bestehen vor allem aus Kupferschiefer. Eine große Rolle in der geologischen Struktur der Marburger Umgebung spielen Störungen, die ab dem Oberen Jura und während des Tertiärs die Hessische Senke in ein Bruchschollenfeld zerlegten und verschieden alte Gesteine auf gleiches Niveau brachten. Die nur etwa fünf Kilometer westlich im Schiefergebirge bekannten Gesteine der Lahnmulde und ihrer benachbarten geologischen Strukturen wurden durch Bruchtektonik abgesenkt und bilden in einigen hundert Metern unter der Oberfläche die Unterlage des Zechsteins und Buntsandsteins unterhalb Marburgs. Sie erscheinen im Nordosten im Kellerwald wieder an der Erdoberfläche. In Zusammenhang mit der Bruchschollenbildung steht der Vulkanismus des Vogelsbergs, der wenige Kilometer südöstlich von Marburg den Buntsandstein und die ihn überlagernden Schichten des Miozäns weitflächig mit basaltischen Gesteinen überdeckt, die im Miozän vor 7 bis 20 Millionen Jahre vor heute gefördert wurden. Den zentralen Teil des Stadtgebietes unterlagern Schluffe, Sande und Kiese der Marburger Lahntalsenke, die nur wenig verfestigt sind. Sie wurden von der Lahn abgelagert, die ein Tal durch den Buntsandstein geschnitten hat und sich wenige Kilometer südlich der Stadt in den wenig widerständigen Gesteinen des Zechsteins deutlich ausweitet. Stadtgliederung Die Stadt Marburg setzt sich aus der Kernstadt sowie 18 Stadtteilen mit eigenem Ortsbeirat zusammen, die bis zu ihrer Eingemeindung in den 1970er Jahren selbstständig waren. Einen eigenen Ortsbeirat haben ferner das bereits 1931 eingemeindete Ockershausen und der erst ab 1963 erschlossene Richtsberg, die beide sehr eigenständig und in der in etwa nach geographischer Lage geordneten Listung unten mit aufgeführt sind. Die linke Spalte zieht sich, bis auf Dilschhausen (Damshäuser Kuppen), von Nord nach Süd durch die Elnhausen-Michelbacher Senke. Die halblinke Spalte folgt ebenfalls der Senke, zieht sich jedoch nach Osten bis zum Westhang des Marburger Rückens. Die mittlere Spalte zieht sich vom Osthang des Rückens, bis auf Marbach, nach Osten bis zum westlichen Lahnufer (Marburger Lahntalsenke), im Falle Wehrda auch zum östlichen Teil der Senke. Die halbrechte Spalte setzt erst süd(öst)lich der Marburger Kernstadt an und zieht sich vom östlichen Lahntal bis zum Westhang der Lahnberge. Die rechte Spalte liegt am Osthang der Lahnberge zum Amöneburger Becken. Folgendermaßen verteilen sich die Stadtteile entlang der skizzierten Linien: Auch die älteren inneren Stadtviertel Altstadt (ohne Ketzerbach, Zwischenhausen und Roten Graben), Campus-Viertel, Südviertel und Weidenhausen sowie das jüngere Viertel Waldtal verfügen über Ortsbeiräte. Statistische Bezirke Zu statistischen Zwecken wird Marburg außerdem in 33 Stadtbezirke unterteilt: die 18 Außenstadtteile sowie die Kernstadt, die in 15 Innenstadtbezirke unterteilt ist (davon Ockershausen und der Richtsberg je in zwei). Die nominelle Kernstadt hat (Stand: 31. Dezember 2016) 45.773 Einwohner, das um Cappel, Wehrda und Marbach ergänzte innere Stadtgebiet 61.647, während auf die dörflichen Außenstadtteile 12.055 Einwohner entfallen. Stadtteilgemeinden Neben der offiziellen Gliederung hat die Stadt 18 sogenannte Stadtteilgemeinden, die auch als (zum Teil eingetragene) Heimatvereine ehrenamtlich mit der Arbeitsgemeinschaft Marburger Stadtteilgemeinden auf die Entwicklung der Stadtteile einwirken. Außer der Organisation von Veranstaltungen in den verschiedensten Bereichen nehmen diese Vereine an Planungen teil oder beteiligen sich mit Eigenleistungen an der Stadtteilentwicklung wie dem Bau von Kinderspielplätzen oder Kleingärten. Die Stadtteilgemeinden heißen: Geschichte „Die alte, von jeher durch den letzten Aufenthalt, Tod und Begräbnis der heiligen Landgräfin Elisabeth von Hessen berühmte Stadt, liegt krumm, schief und buckelig unter einer alten Burg, den Berg hinab.“ So urteilte vor mehr als 200 Jahren der Marburger Professor Johann Heinrich Jung-Stilling über die Stadt an der Lahn und rühmte gleichzeitig, dass die Umgebung der Stadt „schön und sehr angenehm“ sei. Durch Jahrhunderte hindurch nahezu unverändert in ihren wesentlichen Bestandteilen, erhebt sich die Häuserkulisse der Altstadt mit dem Marburger Schloss als Stadtkrone und der Elisabethkirche über dem Lahntal. Diese Altstadt gibt Marburg das charakteristische Aussehen und ist Marburgs Touristenattraktion. Vor- und Frühgeschichte Erste Besiedlungsspuren um Marburg sind für die Würmeiszeit vor ungefähr 50.000 Jahren belegt. Sowohl auf den Lahnbergen als auch im Bereich zwischen den Neuhöfen und der Dammühle wurden Schaber und anderes Werkzeug gefunden, die auf eine Besiedlung in dieser Zeit schließen lassen könnten. Auch für die Jungsteinzeit gibt es zahlreiche Belege. In dieser Zeit des Übergangs der Bevölkerung von Jägern und Sammlern zu sesshaften, den Boden bearbeitenden Menschen stellten die naturräumlichen Voraussetzungen des Amöneburger Beckens mit seinen fruchtbaren Böden eine attraktive Basis hierfür dar. Bandkeramische Funde deuten auf eine Besiedlung in dieser Zeit hin. Nach Demandt stießen hier mehrfach Kulturen wie die Rössener Kultur oder die Michelsberger Kultur aufeinander. Weitere kulturelle Überlagerungen sind anhand von Funden aus der Einzelgrabkultur, der Schnurkeramik und der Glockenbecherkultur nachvollziehbar. Die fortgesetzte Besiedlung der Marburger Umgebung in der Bronzezeit ist unter anderem durch zahlreiche Hügelgräber dieser Zeitstellung belegt. Reste eines Grabes aus der jüngeren Bronzezeit sind im Neuen Botanischen Garten zu sehen. Eine sichelförmige bewehrte Anlage auf dem in der Nähe gelegenen Schanzenkopf, die so genannte Heimburg, lässt sich der spätmerowingischen Zeit zurechnen und deutet auf eine Besiedlung um 700 n. Chr. hin. Stadtgründung und Mittelalter Die ersten Anfänge der Burganlage reichen bis ins 9./10. Jahrhundert zurück. Die erste urkundliche Erwähnung Marburgs ist für 1138/39 belegt. Im Jahr des Stadtjubiläums 2022 blickt die Stadtgesellschaft auf 800 Jahre Geschichte zurück; in der Reinhardsbrunner Chronik wurde im Jahr 1222 die „Bürgerschaft der Stadt“ erwähnt. Die Bewohner zogen wohl aus den umliegenden, heute wüsten Orten Aldenzhausen, Lamersbach, Walpertshausen, Ibernhausen und Willmannsdorf nach Marburg. Durch die räumliche Nähe zur Burg wurden die Orte Weidenhausen und Zahlbach zu Vorstädten. Unterhalb der Burg bildete sich früh ein Ring von Burgmannensitzen. Auf dem Grundstück des ehemaligen Berlepschen Hofes thront heute die Wolfsburg. In der Barfüßer Str. 4 steht seit 1452 noch der Burgmannshof, „Dernbacher Hof“ genannt, der Herren von Dernbach (Adelsgeschlecht). Große Bedeutung erhielt die Stadt aber erst, als Landgräfin Elisabeth von Thüringen Marburg 1228 als Witwensitz wählte. Sie ließ ein Hospital bauen, in dem sie sich bei der Pflege von Kranken und Gebrechlichen aufopferte. Obwohl Elisabeth im Jahr 1231 bereits im Alter von 24 Jahren starb, gilt sie bis heute als die bedeutendste Persönlichkeit, die je in Marburg wirkte. Über sie werden viele Legenden erzählt. Schon 1235 wurde sie heiliggesprochen, und der Deutsche Orden begann noch im selben Jahr, über ihrem Grab die Elisabethkirche zu erbauen, den ersten rein gotischen Kirchbau in Deutschland. Pilger aus ganz Europa kamen zum Grab der Heiligen und trugen dazu bei, dass Marburg als Stadt aufblühte. Der Pilgerfriedhof lag an der St.-Michaels-Kapelle, die Michelchen genannt wird. Marburg als Wiege Hessens Zwischen 1248 und 1604 war Marburg – mit einigen Unterbrechungen – Residenz der Landgrafen von Hessen-Marburg. Nach dem Aussterben der Landgrafen von Thüringen 1247 sollte die Landgrafschaft zunächst an die Wettiner fallen, aber Sophie von Brabant, die Tochter der Heiligen Elisabeth, ließ ihren Sohn Heinrich 1247 auf der Mader Heide bei Fritzlar zum Landgrafen ausrufen und 1248 die Marburger Bürger ihr und Heinrich huldigen. Im folgenden hessisch-thüringischen Erbfolgekrieg (1247–1264) erstritt Sophie für Heinrich die Unabhängigkeit Hessens. Jener wurde erster Herrscher der neuen Landgrafschaft Hessen, 1292 von König Adolf von Nassau in den erblichen Reichsfürstenstand erhoben und die Landgrafschaft Hessen damit offiziell reichsrechtlich anerkannt. Die Bemühungen um Anerkennung spiegelten sich insbesondere im Ausbau der Stadt zur Residenz und Festung mit der Erweiterung der Stadtmauer um die heutige Oberstadt wider. Um 1250 erhielt die Vorstadt Weidenhausen eine steinerne Lahnbrücke und wurde dadurch besser an die Stadt angeschlossen. 48 Jahre nach Beginn der Bauarbeiten zur Elisabethkirche wurde diese am 1. Mai 1283 geweiht. Die Fertigstellung der beiden Türme dauerte unterdessen nochmals etwa 50 Jahre. Da das Wachstum der Stadt immer weiter anhielt und die Marburger Bürger einen repräsentativeren Bau wünschten, bauten sie als Ersatz für die Kilianskapelle die Pfarrkirche St. Marien als dritte Kirche nach der Schlosskirche und der Elisabethkirche. Der gotische Chor wurde 1297 geweiht. Es entstanden auch Klöster wie das Franziskanerkloster am Barfüßertor sowie das Dominikanerkloster an der Weidenhäuser Brücke. Bedeutungsverlust zugunsten Kassels Als Heinrich I. 1308 starb, teilte er die Landgrafschaft in die zwei Teile Oberhessen und Niederhessen. Niederhessen mit der Residenz Kassel sowie den Städten Homberg (Efze), Melsungen und Rotenburg an der Fulda bekam sein Sohn Johann, Otto I. bekam mit Oberhessen das Gebiet um Marburg, Gießen, Grünberg und Alsfeld. Da Johann bereits 1311 starb, vereinigte Otto I. die beiden Teilfürstentümer wieder und residierte nun abwechselnd in Kassel und Marburg, so dass Marburg entsprechend an Bedeutung verlor. 1319 fiel beinahe die ganze Stadt einem großen Brand zum Opfer. Otto I. führte eine lange Fehde gegen den Erzbischof von Mainz, die sein Sohn Heinrich und dessen Neffe Hermann II. von Hessen weiter führten und die in den Sternerkrieg mündete. Kurz nach dem Tode Ottos I. wurde unter Heinrich II. 1330 der Saalbau des Landgrafenschlosses, dessen Fürstensaal als der größte gotische Profanraum in Deutschland gilt, erbaut. Infolge der durchziehenden Kriegsheere wurde die Pest 1348/49 in Marburg eingeschleppt. Zum Ende der Auseinandersetzungen mit dem Sterner-Ritterbund griff dieser unter Führung des Grafen von Ziegenhain 1373 erfolglos Stadt und Schloss an. Nach dem Tod Ludwigs I., des Sohnes Hermanns II., wurde die Landgrafschaft zwischen 1458 und 1500 nochmals geteilt. Heinrich III. residierte 1458 bis 1483 in Marburg, Wilhelm III. 1483 bis 1500. Da dieser kinderlos starb, wurde die Landgrafschaft unter seinem Vetter Wilhelm II. wieder vereinigt. Reformation, Universität und der Dreißigjährige Krieg 1504 wurde Philipp I. in Marburg geboren. Da sein Vater, Landgraf Wilhelm II., 1509 gestorben war, übernahm er bereits 13-jährig die Regentschaft. Als Anhänger der protestantischen Lehre wurde er zum Vorkämpfer der Reformation im Deutschen Reich. 1527 gründete der Landgraf die nach Liegnitz (1526) zweite protestantische Universität, die seitdem für die Stadt der wichtigste Wirtschaftsfaktor war und es bis heute geblieben ist. Zu ihr gehörten auch das Gymnasium Philippinum sowie die Hessische Stipendiatenanstalt, die als ältestes deutsches Studentenwohnheim gilt. 1529 fand auf dem Marburger Schloss auf Einladung Philipps des Großmütigen das Marburger Religionsgespräch statt, um eine gemeinsame Vorgehensweise nach der erneuten Bestätigung des Wormser Ediktes festzulegen. Hierbei ging es unter anderem um die unterschiedlichen Auffassungen Luthers und Zwinglis zur Rolle des Abendmahls (siehe Abendmahlsstreit). Nach dem Tode Philipps I. am 31. März 1567 wurde die Landgrafschaft Hessen nach den altertümlichen Erbregeln im hessischen Fürstenhaus unter seine vier Söhne aufgeteilt: Wilhelm erhielt den nun Hessen-Kassel genannten nördlichen Teil, Ludwig erhielt Hessen-Marburg, Philipp Hessen-Rheinfels und Georg den nun als Hessen-Darmstadt bezeichneten südlichen Landesteil. Da Philipp und Ludwig 1583 und 1604 jeweils kinderlos starben, fielen diese Territorien an die Kasseler bzw. Darmstädter Linien. Marburg wurde Teil der Landgrafschaft Hessen-Kassel. Aus der Vierteilung Hessens wurde nach 1604 eine faktische Zweiteilung. Der Erbfolgestreit um Hessen-Marburg und die konfessionellen Differenzen zwischen der lutherischen Darmstädter und der reformierten Kasseler Linie führten in der Folge zu erbitterter, jahrzehntelanger Gegnerschaft (siehe Konfessionsverhältnisse in der Landgrafschaft Hessen-Kassel). Seit dem Dreißigjährigen Krieg Darmstadt und Kassel führten über Jahrzehnte hinweg um das Marburger Erbe Krieg gegeneinander, teilweise im größeren Zusammenhang des Dreißigjährigen Kriegs, in dem Kassel mit Schweden, Darmstadt dagegen an der Seite des Kaisers kämpfte. 1623 kam es vorübergehend zur Einnahme der Stadt und Festung Marburg durch die Truppen Tillys. Auch der „Hauptakkord“ von 1627, der das Erbe Darmstadt zusprach, konnte den Streit nicht dauerhaft beenden. Die Kasseler Landgräfin Amalie Elisabeth begann 1645 mit der Belagerung Marburgs den Hessenkrieg, den sie drei Jahre später siegreich beenden konnte. Oberhessen wurde dauerhaft geteilt, Marburg fiel an Kassel, Gießen und das Hessische Hinterland mit Biedenkopf an Darmstadt. Marburgs Bedeutung sank danach zunehmend, es spielte nur noch eine Rolle als Verwaltungssitz und militärischer Stützpunkt. Ab 1807 wurden die Festungsanlagen des Schlosses im Zuge der Napoleonischen Kriege geschleift. Später wird Marburg Hauptstadt des Departements der Werra als Teil des Königreichs Westphalen unter Jérôme Bonaparte. Auch die Auflösung des Deutschen Ordens in Marburg, der bis dahin einen immensen Einfluss auf die Stadt hatte, fällt in diese Zeit. 1850 wurde die Eisenbahnstrecke Kassel-Marburg eröffnet und ab 1852 bis Frankfurt am Main verlängert (Main-Weser-Bahn). Marburg erhielt dadurch am Ostufer der Lahn einen Bahnhof, der die Stadtentwicklung stark vorantrieb. Im 1866 von Preußen annektierten Kurfürstentum Hessen war Marburg mit Unterbrechungen von 1821 bis 1868 oberkurhessische Provinzhauptstadt. Neuzeit Nach der Annexion Kurhessens durch Preußen 1866 erlebte die Universität einen Aufschwung, der ein schnelles Anwachsen der Stadt zur Folge hatte. Innerhalb weniger Jahrzehnte verdreifachte sich die Zahl der Einwohner, die Zahl der Studenten verzehnfachte sich. Nicht wenige Marburger Bürger verdienten sich durch die Vermietung von Zimmern an Studenten ein Zubrot. Es hieß: Die Marburger leben von einem Studenten unterm Dach und zwei Ziegen im Keller. So verspotteten die Bewohner der Umgebung die Marburger Stadtbürger. Mit der Annexion durch Preußen prosperierte die Stadt. Zuerst entstanden Stadtteile außerhalb der mittelalterlichen Stadtmauern, jedoch sämtlich östlich der Lahn. Nach 1900 wurden auch die bis dahin ausschließlich landwirtschaftlichen Flächen links der Lahn in Besitz genommen. Zuerst wurden dort Kleingärten angelegt, danach auch Siedlungsbauten. U. a. hatte der 1907 gegründete Marburger Spar- und Bauverein Grundstücke von dem Ökonomen Hoffmann erworben. Die Verbindung zur anderen Lahnseite stellten die im 13. Jahrhundert errichtete Weidenhäuser Brücke, die 1723 gebaute Elisabethbrücke (später auch Bahnhofsbrücke genannt) und die 1892 erstellte Schützenpfuhlbrücke her. Zudem wurden zwischen den drei kilometerweit auseinanderliegenden Steinbrücken vier Holzbrücken in Marburg errichtet. Zeit des Nationalsozialismus Im Zuge einer Kreisneugliederung wurde Marburg 1929 kreisfrei und im gleichen Zuge um den Stadtteil Ockershausen vergrößert. Bei der Reichstagswahl März 1933 errang die NSDAP 57,6 % (Reichsdurchschnitt 43,9 %) im neuen Stadtkreis, die DNVP 11,1 %, die SPD 13,5 %, das Zentrum 5,8 %, die KPD 4,8 % und die DVP 3,6 %. Sofort setzten die Nationalsozialisten die Gleichschaltung aller Vereine und Verbände in der Stadt rigoros durch als auch die demonstrative Bücherverbrennung am Kämpfrasen. Dennoch hielt am 17. Juni 1934 Vizekanzler Franz von Papen an der Universität die als „Marburger Rede“ bekannt gewordene letzte öffentliche Rede gegen den umfassenden Machtanspruch des Nationalsozialismus. Zwei Wochen später wurden im Zuge des Röhmputsches der Redenschreiber Edgar Julius Jung und ein weiterer politischer Referent und Vertrauter von Papens, Herbert von Bose, ermordet. In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 wurde die Synagoge in der Universitätsstraße durch Mitglieder der Marburger SA niedergebrannt. In derselben Nacht wurden 31 Juden von der SA verhaftet, misshandelt und in das KZ Buchenwald gebracht. Nach Monaten kamen 30 von ihnen wieder frei. Im Dezember 1941 sowie Mai und September 1942 wurden die letzten 267 Juden aus Marburg und Umgebung in Konzentrationslager deportiert. Die Deportation der Sinti und Roma aus Marburg erfolgte am 23. März 1943. Während des Zweiten Weltkriegs mussten von Herbst 1939 bis März 1945 in der Stadt Marburg und ihren heutigen Stadtteilen mindestens 3.863 Ausländer Zwangsarbeit leisten. Dies waren etwa zu gleichen Teilen sowohl zivile Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen als auch Kriegsgefangene. Diese Menschen stammten aus 20 verschiedenen Staaten, die meisten von ihnen aus der Sowjetunion, Polen, Frankreich, Italien, Belgien und Jugoslawien. Der Frauenanteil lag bei 29 %, wobei die meisten Frauen aus den osteuropäischen Ländern stammten. Von den Zwangsarbeitskräften profitierte die gesamte Stadt: Industrie, Handwerk, Handel, Gewerbe sowie kommunale und staatliche Behörden, Schulen, kirchliche Einrichtungen aber auch Landwirtschaft, Gastwirtschaften, Pensionen und Privathaushalte. Im Jahr 2000 beschloss die Stadt Marburg, die Zwangsarbeit im heutigen Stadtgebiet und das Schicksal der Zwangsarbeiter wissenschaftlich untersuchen zu lassen. In der Folge zahlte die Stadt 2002 an 176 ehemalige zivile Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen und Kriegsgefangene eine symbolische Entschädigung von jeweils 2000 Euro. Im Juni 2003 wurden ehemalige ukrainische und im Oktober 2004 polnische Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen jeweils zu einer Begegnungswoche nach Marburg eingeladen. Luftangriffe Den Zweiten Weltkrieg überstand Marburg mit relativ geringen Zerstörungen. Alliierte Bomben zerstörten circa 4 % der Stadt, dabei 281 Wohnungen. Der Bahnhof Marburg (Lahn) wurde als wichtiger Bahnknotenpunkt gezielt angegriffen und bei einem Bombenangriff am 22. Februar 1945 schwer beschädigt, daher stehen im Bahnhofsviertel relativ viele Häuser aus der Nachkriegszeit. Auf den Lahnbergen gibt es noch heute zahlreiche Bombenkrater. Auch das Chemische Institut der Universität, mehrere Klinikgebäude, unter anderem die Augenklinik und die Chirurgische Klinik, sowie die Reithalle am Ortenberg wurden zerstört. US-Armee nimmt Marburg am 28. März 1945 kampflos ein Am 28. März 1945 gegen Mittag erreichte die 3. US-Panzerdivision unter Generalmajor Maurice Rose, welche dem VII. US-Korps der 1. US-Armee unterstellt war, Marburg. Die Stadt wurde vom kommissarischen Bürgermeister Walter Voß in Verweigerung des Befehls des Generalkommandos in Kassel kampflos übergeben. Das VII. Korps war vom Brückenkopf Remagen/Rhein aus über den Westerwald kommend in Hauptstoßrichtung der heutigen B 255 folgend, vorgerückt und hatte bereits am 27. März bei Herborn die Dill erreicht. Früh morgens am 29. März, Gründonnerstag, schwenkte die tags zuvor bis zu einer Linie Dillenburg – Marburg vorgestoßene 3. US-Panzer-Division auf vier getrennten Routen, meist auf Nebenstraßen, nach Norden in Richtung Paderborn, um den Ruhrkessel (von der deutschen Wehrmacht so genannt) von Süden her schnell zu umschließen. Von Marburg aus führte Route vier über Wetter, Frankenberg, Bad Wildungen, Fritzlar nach Norden. Die Stadt wurde danach vom Combat Command B der 1. US-Armee besetzt. Im Verlauf dieses Vormarsches fielen den Amerikanern gegen 9:00 im Bahnhof Bromskirchen ein kompletter V2-Raketenzug der Wehrmacht mit 10 Raketen in die Hände. Die Särge von zwei preußischen Königen und von Hindenburg in der Elisabethkirche Um im Januar 1945 die sterblichen Überreste Paul von Hindenburgs und seiner Frau Gertrud sowie der Preußenkönige Friedrich II. („der Große“) und Friedrich Wilhelm I. („Soldatenkönig“) vor der anrückenden Roten Armee zu schützen, sollten die Särge durch die Wehrmacht in einem thüringischen Salzbergwerk eingelagert werden. Die Amerikaner, die weite Teile Thüringens eroberten, brachten die berühmten Toten nach Marburg, wo Hindenburg mit seiner Frau in der Nordturmkapelle der Elisabethkirche endgültig beigesetzt wurde. Der Sarg Friedrich Wilhelms I. befindet sich heute im Kaiser-Friedrich-Mausoleum in Potsdam; Friedrich II. ist seit 1991 in einer Gruft am Schloss Sanssouci beigesetzt. Entwicklung nach dem Zweiten Weltkrieg Marburg musste als Folge der Vertreibungen eine große Zahl von Flüchtlingen aufnehmen. Erst seit dieser Zeit gibt es in der Stadt eine größere Zahl kleinerer und mittlerer Industriebetriebe. Aufgrund des raschen Bevölkerungsanstiegs nach dem Krieg und der daraus resultierenden Wohnungsnot wurden 1963 auf kommunalpolitischer Ebene das Neubaugebiet Richtsberg für etwa 9.000 Einwohner sowie der Bau der Stadthalle, des Großsportfeldes und mehrerer Schulen beschlossen. Marburg trägt seit dem 12. August 1966 die amtliche Zusatzbezeichnung Universitätsstadt, in Bezug auf die Philipps-Universität. 1972 begann mit der förmlichen Festlegung des ersten Abschnittes die Altstadtsanierung. Seitdem wurde die historische Bausubstanz der Altstadt sorgfältig renoviert. Im Stadtbild ist dies durch die immer noch wachsende Zahl wiederhergestellter Fachwerkgebäude deutlich erkennbar. 1972 feierte man die 750-Jahr-Feier und gleichzeitig den Hessentag 1972. Im Rahmen der Gebietsreform in Hessen verlor Marburg seine Kreisfreiheit am 1. Juli 1974. Gleichzeitig wurde der amtliche Name der Stadt von Marburg an der Lahn bzw. Marburg a. d. Lahn amtlich in Marburg (Lahn) geändert. Die Stadt wurde zum Mittelpunkt des neuen Großkreises Marburg-Biedenkopf und wuchs durch die Eingliederung von 13 Umlandgemeinden flächenmäßig um mehr als das Fünffache, bezogen auf die Einwohnerzahl der Stadt um ein Drittel auf 70.922. Seit dem 1. Januar 1977 heißt die Stadt Marburg. Am 1. August 1979, zugleich mit der Auflösung der Stadt Lahn, erlangten die kreisangehörigen Städte mit mehr als 50 000 Einwohnern, also auch Marburg, den Rang von Sonderstatusstädten mit zusätzlichen Kompetenzen und dem Privileg, dass die beiden Personen an der Verwaltungsspitze die Amtsbezeichnung Oberbürgermeister und Bürgermeister tragen. Mit dem Verkauf eines Eckgrundstückes an der Biegenstraße (wo zu Beginn des 20. Jahrhunderts der Bauunternehmer und Spekulant Weißkoopf Mietshäuser in der Nähe der Universitätsklinik gebaut hatte, wo zunächst vor allem Medizindozenten, wie etwa Ferdinand Sauerbruch, einzogen waren) begann 1991 die umfassende Neugestaltung im Bereich Marburg-Mitte. Diese Planungen lösten seit den 1980er Jahren heftige Diskussionen um das Biegeneck und den alten Schlachthof aus; dies führte zu Hausbesetzungen und Polizeieinsätzen. Nach wie vor ist die Universität mit über 3900 Beschäftigten und mehr als 21.000 Studierenden der wichtigste Wirtschaftsfaktor in der Stadt. Das dazugehörige, inzwischen privatisierte und mit seinem Gießener Pendant fusionierte Universitätsklinikum beschäftigt in Marburg über 4200 Mitarbeiter. Aufsehen erregte 1982 eine 1977 von der Regierungskoalition aus CDU und SPD eingeführte Sonderregel, die die DKP vom Meinungsbildungsprozess ausschloss. Nachdem das so genannte Marburger 15-Stimmen-Quorum für Protestaktionen und Klageerhebungen gesorgt hatte, wurde es ein Jahr später abgelöst. 2009 fand in Marburg der 6. Internationale Kongress für Psychotherapie und Seelsorge statt, der öffentliche Kontroversen hervorrief und in dessen Vorfeld die „Marburger Erklärung“ abgegeben wurde. Am 25. Mai 2009 erhielt die Stadt den von der Bundesregierung verliehenen Titel „Ort der Vielfalt“. Am 30. September 2015 wurde Marburg als 40. Stadt der Ehrentitel „Reformationsstadt Europas“ durch die Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa verliehen. Verwaltungsgeschichte im Überblick Die folgende Liste zeigt die Staaten und Verwaltungseinheiten, denen Marburg angehört(e): vor 1256: Heiliges Römisches Reich, Landgrafschaft Thüringen ab 1256: Heiliges Römisches Reich, Landgrafschaft Hessen, Amt Marburg ab 1567: Heiliges Römisches Reich, Landgrafschaft Hessen-Marburg, Amt Marburg ab 1605: Heiliges Römisches Reich, Landgrafschaft Hessen-Darmstadt, Amt Marburg ab 1648: Heiliges Römisches Reich, Landgrafschaft Hessen-Kassel, Amt Marburg ab 1806: Landgrafschaft Hessen-Kassel, Amt Marburg 1807–1813: Königreich Westphalen, Departement der Werra, Distrikt Marburg, Kanton Marburg ab 1815: Kurfürstentum Hessen, Amt Marburg ab 1821: Kurfürstentum Hessen, Provinz Oberhessen, Landkreis Marburg ab 1848: Kurfürstentum Hessen, Bezirk Marburg ab 1851: Kurfürstentum Hessen, Provinz Oberhessen, Landkreis Marburg ab 1867: Königreich Preußen, Provinz Hessen-Nassau, Regierungsbezirk Kassel, Landkreis Marburg ab 1871: Deutsches Reich, Königreich Preußen, Provinz Hessen-Nassau, Regierungsbezirk Kassel, Landkreis Marburg ab 1918: Deutsches Reich, Freistaat Preußen, Provinz Hessen-Nassau, Regierungsbezirk Kassel, Landkreis Marburg ab 1929: Deutsches Reich, Freistaat Preußen, Provinz Hessen-Nassau, Regierungsbezirk Kassel, Stadtkreis Marburg ab 1944: Deutsches Reich, Freistaat Preußen, Provinz Kurhessen, Landkreis Marburg ab 1945: Amerikanische Besatzungszone, Groß-Hessen, Regierungsbezirk Kassel, Landkreis Marburg ab 1946: Amerikanische Besatzungszone, Land Hessen, Regierungsbezirk Kassel, Landkreis Marburg ab 1949: Bundesrepublik Deutschland, Land Hessen, Regierungsbezirk Kassel, Landkreis Marburg ab 1952: Bundesrepublik Deutschland, Land Hessen, Regierungsbezirk Kassel, Kreisfreie Stadt Marburg ab 1974: Bundesrepublik Deutschland, Land Hessen, Regierungsbezirk Kassel, Landkreis Marburg-Biedenkopf ab 1981: Bundesrepublik Deutschland, Land Hessen, Regierungsbezirk Gießen, Landkreis Marburg-Biedenkopf Gerichte seit 1821 Mit Edikt vom 29. Juni 1821 wurden in Kurhessen Verwaltung und Justiz getrennt. Der Kreis Marburg war für die Verwaltung und das Landgericht Marburg war als Gericht erster Instanz für Marburg zuständig. 1850 wurde das Landgericht in Justizamt Marburg umbenannt. Nach der Annexion Kurhessens durch Preußen 1866 erfolgte am 1. September 1867 die Umbenennung des bisherigen Justizamtes in Amtsgericht Marburg. Auch mit dem Inkrafttreten des Gerichtsverfassungsgesetzes von 1879 blieb das Amtsgericht unter seinem Namen bestehen. Garnisonsgeschichte Marburg war jahrhundertelang Garnisonsstadt. Die Geschichte als Garnison geht bis in die Zeit der Gründung der Stadt zurück. Mit dem Einzug der preußischen Truppen in Kurhessen im Jahr 1866 wurde Marburg Standort des 11. Preußischen Jägerbataillons. Im Jahr 1868 wurde die alte Jägerkaserne nahe dem Kämpfrasen im Südviertel gebaut. Weitere Bauten folgten in den Jahren bis 1913, u. a. ein Exerzierhaus, das Offizierkasino und das Bezirkskommando. Nach dem Ersten Weltkrieg und infolge des Versailler Vertrages trat an die Stelle des Jägerbataillons ein Ausbildungsbataillon des 15. Infanterieregiments der Reichswehr. In den 1930er Jahren wurden dann neue Kasernenbauten errichtet, so unter anderem 1937 die neue Jägerkaserne auf dem Kämpfrasen und 1938 die Tannenbergkaserne im Wald bei Ockershausen. Nach dem Zweiten Weltkrieg nutzten zunächst amerikanische Truppen von 1945 bis 1950 und anschließend von 1951 bis 1956 französische Truppenteile die beiden Kasernen. Die Bundeswehr übernahm diese Standorte, wobei ab 1970 dort die 2. Jägerdivision in der Jägerkaserne stationiert war. In der Tannenbergkaserne waren das Fernmeldebataillon 2, das Sanitätsbataillon 2 sowie eine Feldjägerkompanie untergebracht. In den 1960er und 1970er Jahren wurden dort weitere Unterkünfte für die Flugabwehr errichtet. Es war dort zuletzt das Flugabwehrsystem Roland stationiert, vorher das Waffensystem Bofors L70. Nach der Wiedervereinigung und der Umstrukturierung der Bundeswehr wurden Mitte bis Ende der 1990er Jahre beide Kasernen von der Bundeswehr aufgegeben und von der Stadtentwicklungsgesellschaft in Gewerbegebiete konvertiert. Damit wurde die lange Tradition der Garnisonsstadt beendet. Eingemeindungen Am 1. Januar 1931 wurde die Gemeinde Ockershausen nach Marburg eingemeindet. Mit der Gebietsreform in Hessen wurde die Stadt Marburg am 1. Juli 1974 kraft Landesgesetz mit den Landkreisen Marburg und Biedenkopf zum neuen Landkreis Marburg-Biedenkopf zusammengeschlossen. Gleichzeitig wurden Marburg die Gemeinden Bauerbach, Cappel, Cyriaxweimar, Dilschhausen, Elnhausen, Ginseldorf, Gisselberg, Haddamshausen, Hermershausen, Marbach, Schröck, Wehrda und Wehrshausen als Stadtteile eingegliedert. Einwohnerentwicklung Marburg hatte im Mittelalter und der frühen Neuzeit nur wenige tausend Einwohner. Die Bevölkerung wuchs nur langsam und ging durch die zahlreichen Kriege, Seuchen und Hungersnöte immer wieder zurück. So starben beim Ausbruch der Pest 1348/49 und während des Dreißigjährigen Krieges (1618–1648) zahlreiche Bewohner. Erst mit dem Beginn der Industrialisierung im 19. Jahrhundert beschleunigte sich das Bevölkerungswachstum. Lebten 1800 erst 6.000 Menschen in der Stadt, so waren es 1905 bereits 20.000. Mit der Einwohnerzahl stieg auch die Zahl der Studenten. 1866 studierten erst 264 Personen in Marburg, 1907 bereits 1.954 (darunter erstmals 28 Studentinnen), und 1929 waren schon über 4.000 Studenten in der Stadt gemeldet. Bis 1939 stieg die Bevölkerungszahl von Marburg auf 28.000. Kurz nach dem Zweiten Weltkrieg führte der Zuzug vieler Flüchtlinge und Vertriebener zu einem Anstieg der Einwohnerzahl um 11.000 Personen auf 39.000 bis Ende 1946. Im Jahre 1964 hatte Marburg mit 25,2 Prozent das höchste Wohnungsdefizit in der Bundesrepublik Deutschland. Durch zahlreiche Eingemeindungen wuchs die Stadt am 1. Juli 1974 auf 70.922 Einwohner an. Auch die Zahl der Studenten stieg weiter. Im Wintersemester 1945/46 studierten 2.543 Personen in Marburg, im Sommersemester 1963 schon 7.423; im Wintersemester 2002/03 waren es 18.540 (nur zur Hälfte in Marburg mit Erstwohnsitz gemeldet), im Wintersemester 2010/11 bereits 21.833. Durch die Schließung der beiden Bundeswehrstandorte entstand zu Beginn der 1990er Jahre ein „Knick“ in der Bevölkerungsentwicklung. Beim Zensus 2011 wurde eine Abweichung der Einwohnerzahl zur vorhergehenden Fortschreibung festgestellt, am 31. Dezember 2011 betrug die amtliche Einwohnerzahl Marburgs 72.190 (gegenüber 81.147 aus der Fortschreibung). Die folgende Übersicht zeigt die Einwohnerzahlen nach dem jeweiligen Gebietsstand. Bis 1845 handelt es sich meist um Schätzungen, danach um Volkszählungsergebnisse (1864–1939, 1946–1961, 1970 und 1987) oder amtliche Fortschreibungen des Statistischen Landesamtes. Die Angaben beziehen sich ab 1871 auf die „ortsanwesende Bevölkerung“, ab 1925 auf die Wohnbevölkerung und seit 1987 auf die „Bevölkerung am Ort der Hauptwohnung“. Vor 1871 wurde die Einwohnerzahl nach uneinheitlichen Erhebungsverfahren ermittelt. Religion Die religiöse Bedeutung Marburgs begann 1235 mit der Heiligsprechung Elisabeths von Thüringen und dem Bau der Elisabethkirche. Nach Rom und Santiago de Compostela gehörte Marburg in jener Zeit zu den bedeutendsten europäischen Pilgerorten. Mit der Reformation, die durch Philipp den Großmütigen unterstützt und umgesetzt wurde, und der damit verbundenen Gründung der weltweit ersten protestantischen Universität setzte sie sich fort. Durch die Universität wiederum entstand das weite religiöse Spektrum, das heute in der Stadt zu finden ist. Im Jahre 721 errichtete Bonifatius unterhalb der Burg Amöneburg ein kleines Kloster und eine neue Kirche beziehungsweise widmete eine iroschottische Vorgängerkirche um. In Marburg entstand aber erst 1227, als Marburg Stadt wurde, eine eigene Pfarrei. Die ansässige Pfarrei war zuvor ein Filial der Mutterkirche in Oberweimar gewesen. Der Deutsche Orden übernahm nach dem Tod der heiligen Elisabeth deren Hospital und baute ihr zu Ehren die Elisabethkirche. Das geistliche Leben war bis zur Reformation katholisch geprägt, was durch die Präsenz zahlreicher Orden wie der Brüder vom gemeinsamen Leben („Kugelherren“), der Augustiner oder der Franziskaner (Barfüßer) belegt wird. Mit der Reformation übernahm Landgraf Philipp der Großmütige die protestantische Lehre und verbot gleichzeitig den Katholizismus. Erst 1788 wurde die katholische Lehre in Marburg wieder zugelassen. Christentum Die evangelischen Kirchengemeinden Marburgs gehören zum Kirchenkreis Marburg im Sprengel Marburg innerhalb der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck. Sie besitzen bedeutende Kirchengebäude in der Kernstadt, darunter die Elisabethkirche, die Pfarrkirche St. Marien und die Universitätskirche und auch alte Dorfkirchen in den Außenstadtteilen Bortshausen, Cappel, Dilschhausen, Elnhausen, Hermershausen, Haddamshausen, Michelbach, Moischt, Ronhausen, Wehrshausen und Wehrda. Die römisch-katholischen Kirchengemeinden gehören zum Bistum Fulda. Mit der Gebietsreform 1974 kamen die drei katholischen Dörfer Ginseldorf, Bauerbach, Schröck aus ehemaligem Mainzer Gebiet zu Marburg. Freikirchen und Evangelische Gemeinschaften gibt es in Marburg seit dem 19. Jahrhundert. Die Evangelisch-Freikirchliche Gemeinde wurde 1840 gegründet und zählt damit zu den ältesten deutschen Baptistengemeinden. Ihr Gemeindezentrum ist die 1957 eingeweihte Uferkirche. Seit 1958 verfügt sie auch über ein Studentenwohnheim. Von den sogenannten altkonfessionellen Kirchen ist in Marburg nur die Selbständige Evangelisch-Lutherische Kirche vertreten. Der Christus-Treff Marburg ist eine ökumenische Gemeinschaft, in der sowohl freikirchliche als auch evangelisch-landeskirchliche und katholische Verantwortliche mitarbeiten. Als Ganzes ist er Teil der Evangelischen Kirche und über das Netzwerk „TGG“ („Treffen Geistlicher Gemeinschaften“) in die EKD eingeordnet. Fünf Evangelische Gemeinschaften arbeiten in Marburg. Sie gehören unter das Dach des Evangelischen Gnadauer Gemeinschaftsverbandes e. V. Dieser ist ein Dachverband deutscher Gemeinschaftsbewegungen und arbeitet innerhalb der evangelischen Landeskirchen in Deutschland. Ebenfalls in Marburg existieren eine Gruppe der deutschen Jesus-Freaks, die Katholisch-Apostolische Gemeinde und die Brüdergemeinde. Weitere Religionsgemeinschaften in Marburg sind die Neuapostolische Kirche und die anthroposophisch geprägte Christengemeinschaft. Christliche Gemeinden in Marburg Gemeinschaften innerhalb der evangelischen Landeskirchen (Gnadauer Verband) Evangelische Gemeinschaft Cappel Evangelische Gemeinschaft Marburg-Ortenberg Evangelische Gemeinschaft Marburg-Süd Evangelische Gemeinschaft Wehrda Hebrongemeinde Evangelische Stadtmission Marburg (Chrischonagemeinde) Vereinigung Evangelischer Freikirchen VEF Evangelisch Freikirchliche Gemeinde, Baptisten, Uferkirche Evangelisch Methodistische Kirche, EmK, Christuskirche Anskar-Kirche Marburg, Evangelische Freie Gemeinde Freie evangelische Gemeinde, FeG Siebenten-Tags-Adventisten, STA Christengemeinde, Licht der Hoffnung, Russlanddeutsche Gemeinde, im BfP Ökumenische Gemeinschaften Christus-Treff Altkonfessionelle Kirchen SELK, Selbständige Evangelisch-Lutherische Kirche, MR Katholische Kirche in Marburg-Kernstadt St. Johannes („Kugelkirche“), katholisch St. Peter und Paul, katholisch Liebfrauen, katholisch Katholische Kirche in Marburg-Stadtteile Wehrda St. Martin (zu St. Peter und Paul), katholisch Cappel St. Franziskus in Verbindung mit Liebfrauen, katholisch Bauerbach/Ginseldorf (Pfarramt Bauerbach) Schröck/Moischt (Pfarramt Schröck) Bortshausen, Ronhausen (St. Franziskus Cappel) Gisselberg, Cyriaxweimar, Haddamshausen, Hermershausen, Wehrshausen, Elnhausen, Dagobertshausen, Michelbach (zu St. Johannes Kugelkirche mit Filialkirche in Wenkbach) Dilschhausen Evangelische Kirche im Stadtverband Marburg (Kernstadt) Elisabethkirche, evangelisch Evangelische Kirche am Richtsberg zu MR Lukaskirche, evangelisch Lutherische Pfarrkirche St. Marien Markuskirche, evangelisch (Marbach) Matthäuskirche, evangelisch, Ockershausen Pauluskirche, evangelisch Universitätskirche, evangelisch Evangelische Kirche in den Marburger Stadtteilen Bauerbach/Ginseldorf (Pfarramt Bauerbach) Moischt/Schröck (Pfarramt Wittelsberg)* Bortshausen, Ronhausen (Pfarramt Cappel) Cappel Gisselberg, Cyriaxweimar (Pfarramt Niederweimar)* Hermershausen/Haddamshausen (Pfarramt Oberweimar)* Wehrshausen (Pfarramt Elnhausen) Elnhausen/Dagobertshausen (Pfarramt Elnhausen) Michelbach Dilschhausen, Dilschhausen (Pfarramt Weitershausen)* Pfarramt außerhalb Marburgs Ökumene in Marburg Die Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen in Marburg (ACK) ist ein Bund von christlichen Kirchen und Gemeinschaften zur Förderung ökumenischer Zusammenarbeit und der Einheit der Christen und der Kirchen. Das Gespräch, Begegnungen und Gottesdienste fördern das gegenseitige Verständnis. Die Evangelische Allianz ist ein Bund von Christen aus verschiedenen christlichen Kirchen, Gemeinschaften, christlichen Gruppen und Werken. Die Arbeit der Evangelischen Allianz Marburg wird von einem Arbeitskreis getragen, der dem Austausch, dem gemeinsamen Gebet und der Wahrnehmung gemeinsamer Verantwortung dient. Evangelistische, seelsorgerliche und diakonische Aktivitäten werden geplant und begleitet. Diese beiden übergemeindlichen, ökumenischen Arbeitskreise führen Menschen unterschiedlicher christlicher Prägung zusammen zum gemeinsamen Pfingstmontagsgottesdienst, der Allianzgebetswoche zum Beginn des Jahres; zu Gottesdiensten für die Einheit der Kirche. Zentralen christlicher Werke mit Sitz in Marburg Hauptstelle des Deutschen Gemeinschafts-Diakonieverbandes DGD. Der Deutsche Gemeinschafts-Diakonieverband (DGD) mit Sitz in Marburg ist ein Verbund diakonisch-missionarischer Einrichtungen im Evangelischen Gnadauer Gemeinschaftsverband mit diakonischen Einrichtungen in Deutschland, Japan, den Niederlanden, den USA und Brasilien. Die Marburger Mission ist ein evangelikales Missionswerk mit Sitz in Marburg mit Arbeitszweigen in Japan, Taiwan, Thailand, Ostafrika, Brasilien, Spanien und Russland. Zentrale der Studentenmission in Deutschland SMD. Die SMD ist ein deutschlandweites Netzwerk von Christen in Schule, Hochschule und akademischer Berufswelt (gegründet 1949 als Studentenmission in Deutschland e. V.). Compassion Deutschland ist der deutsche Zweig von Compassion International, einem der größten christlichen Kinderhilfswerke der Welt. Christliche Ausbildungsstätten Fachbereich Evangelische Theologie an der Philipps-Universität Marburg Evangelische Hochschule Tabor Katholisch-Theologisches Seminar Marburger Bildungs- und Studienzentrum (MBS) Judentum In Marburg gab es erstmals im Mittelalter eine jüdische Gemeinde. Eine größere Anzahl jüdischer Familien lebte in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts in der Judengasse. Nach Vertreibungen im 14. und 16. Jahrhundert wuchs die Gemeinde bis ins 20. Jahrhundert auf über 500 Mitglieder. Bereits zu Beginn des Nationalsozialismus zogen viele Juden fort oder wanderten aus. 77 Juden, die in Marburg blieben, wurden 1941/42 nach Riga beziehungsweise Theresienstadt und in Vernichtungslager des Ostens deportiert und ermordet. In den 1980er Jahren wurde eine neue jüdische Gemeinde gegründet. Am 26. November 2005 konnte eine neue Synagoge in der Liebigstraße eingeweiht werden. 2006 gehörten der Gemeinde etwa 350 Personen an. Am 28. November 2010 weihte die jüdische Gemeinde die erste neue Thorarolle seit der Shoah ein. An der Stelle, wo ehemals die Synagoge stand, die durch Nationalsozialisten zerstört wurde, befindet sich nun der „Garten des Gedenkens“. Ein Kupfermodell zeigt das Aussehen der Synagoge, ein Stein mit einer Inschrift erklärt die Bedeutung dieses Ortes. Islam Nach offiziellen Angaben leben in Marburg etwa 5000 Muslime. Seit 1986 verfügt Marburg über eine Moschee, die Omar-Ibn-Al-Khattab-Moschee. Getragen wird sie vom Verein „Orientbrücke Marburg e. V.“ Dieser Verein gehört zur Islamischen Gemeinschaft Deutschland e. V. (IGD) und wird wie diese im Verfassungsschutzbericht des Bundes thematisiert. Die IGD war ursprüngliche Trägerin der Moschee. Sie gilt als deutsche Zentrale der Muslimbruderschaft. Die Verbindungen dieser Organisation reichen bis zu Gruppierungen, die im Verdacht stehen, den islamistischen Terrorismus zu unterstützen. Im Jahr 2002 wurde der Verein „Islamische Schule“ gegründet, der in „Orientbrücke“ umbenannt wurde. Seitdem ist die Marburger Moschee formell unabhängig von der IGD. Ein muslimischer Friedhof befindet sich in einem Abschnitt des städtischen Friedhofs im Stadtteil Ockershausen. Am 21. Juni 2013 wurde der Grundstein für ein islamisches Kulturzentrum mit Moschee im Viertel „Bei St. Jost“ gelegt. Neben dem Gebetsraum sollen eine Cafeteria, ein Feinkostladen, eine Bibliothek und Multifunktionsräume Platz in dem Gebäude finden; alles soll der Öffentlichkeit zugänglich sein. Die Baukosten von rund 1,8 Millionen Euro sind spendenfinanziert. Daneben gibt es eine Gemeinde der Ahmadiyya Muslim Jamaat in der Uferstraße und die Dar-Al-Salem-Moschee in der Friedrich-Ebert-Straße. Auf letztere wurde am 10. November 2017 ein Brandanschlag verübt. Weitere Religionen Es gibt in Marburg eine Gemeinde der Zeugen Jehovas und eine der Bahá'í. Bis kurz nach dem Jahr 2000 gab es eine Zentrale des Universellen Lebens in der Biegenstraße. Mit einem Shambhala-Zentrum gehört Marburg auch zu den größeren europäischen buddhistischen Zentren. Die Gemeinschaft besteht aus etwa 50 bis 120 Praktizierenden. Sie ist Mitglied der Deutschen Buddhistischen Union, wird von Shambhala International gelistet und ist über Shambhala Europe Mitglied in der European Buddhist Union. Daneben gibt es eine Vielzahl weiterer religiöser Gruppierungen, die nicht zuletzt durch die Universität nach Marburg kamen. Für 1995 ist ein Wicca-Coven belegt. Marion Näser-Lather führte 2012 themenzentrierte Interviews mit Wicca aus dem Marburger Raum durch. Politik Stadtverordnetenversammlung Die Kommunalwahl am 14. März 2021 lieferte folgendes Ergebnis, in Vergleich gesetzt zu früheren Kommunalwahlen: Die Sitzungen der 59-köpfigen Stadtverordnetenversammlung finden in der Regel einmal monatlich statt. Die Mehrheit und damit die Etathoheit hat seit der Kommunalwahl 2021 eine Koalition aus Bündnis 90/Die Grünen, SPD und Klimaliste. Stadtverordnetenvorsteherin ist seit dem 23. April 2021 Dr. Elke Neuwohner (Bündnis 90/Die Grünen). Im kommunalen Parlament sind außerdem die Fraktionen von CDU und FDP, Marburger Linke und Bürger für Marburg sowie die Piraten und die AfD vertreten. Oberbürgermeister und Magistrat Nach der hessischen Kommunalverfassung wird in den Sonderstatusstädten der Oberbürgermeister für eine sechsjährige Amtszeit gewählt, seit 1993 in einer Direktwahl, und ist Vorsitzender des Magistrats, dem in der Stadt Marburg neben dem Oberbürgermeister der Bürgermeister als sein hauptamtlicher Vertreter, zwei hauptamtliche Stadträte sowie elf ehrenamtliche Stadträte angehören. Oberbürgermeister ist seit dem 1. Dezember 2015 Thomas Spies (SPD). Er wurde als Nachfolger von Egon Vaupel (SPD), der erklärt hatte, sein Amt nach Vollendung des 65. Lebensjahres aus gesundheitlichen Gründen am 30. November 2015 vorzeitig niederlegen zu wollen, am 28. Juni 2015 in einer Stichwahl bei einer Wahlbeteiligung von 38,88 Prozent mit 60,04 Prozent der Stimmen gewählt. Eine Wiederwahl folgte 2021, wiederum in einer Stichwahl, denkbar knapp mit 95 Stimmen Vorsprung. Sein Kontrahentin Nadine Bernshausen (Grüne) kandidierte anschließend erfolgreich auf die vakante Stelle der hauptamtlichen Bürgermeisterin, die sie nach der Wahl durch die Stadtverordnetenversammlung am 28. Januar 2022 antrat. Amtszeiten der Oberbürgermeister 2015–2027 Thomas Spies (SPD) 2005–2015 Egon Vaupel (SPD) 1993–2005 Dietrich Möller (CDU) 1970–1992 Hanno Drechsler (SPD) 1951–1970 Georg Gaßmann (SPD) 1946–1951 Karl Theodor Bleek (LDP, später FDP) Weitere Einzelheiten sind der Liste der Stadtoberhäupter von Marburg zu entnehmen. Die ehrenamtlichen Stadträte werden von der Stadtverordnetenversammlung in oder bald nach der konstituierenden Sitzung für die fünfjährige Wahlperiode bis zur nächsten Kommunalwahl in den Magistrat gewählt. Für die Dauer ihrer Wahlzeit werden sie zu Ehrenbeamten ernannt und können, im Gegensatz zu hauptamtlichen Magistratsmitgliedern, nicht abgewählt werden. Die Stärke der in der Stadtverordnetenversammlung vertretenen Fraktionen spiegelt sich grundsätzlich in der Zusammensetzung des ehrenamtlichen Magistrats wieder. Der Magistrat steht an der Spitze der Stadtverwaltung und wird von dieser unterstützt. Er trifft die Entscheidungen zu laufenden Verwaltungsangelegenheiten, bereitet gemeinsam mit der Verwaltung die Beschlüsse der Stadtverordnetenversammlung vor und führt diese aus. Er wirkt mit bei der Ausführung der Gesetze und Verordnungen innerhalb der Stadt, bei der Verwaltung des Vermögens, bei der Erstellung des Haushaltsplanes sowie bei der Überwachung des Kassen- und Rechnungswesens. Auch die Wahrung der Bürgerinteressen ist seine Aufgabe. Er vertritt die Gemeinde nach außen, führt den Schriftwechsel und vollzieht die Gemeindeurkunden. Er tagt unter Vorsitz des Oberbürgermeisters in nicht-öffentlichen Sitzungen. An den Sitzungen der Stadtverordnetenversammlung nehmen die Stadträte ohne Stimmrecht teil. Der hauptamtliche Bürgermeister und die hauptamtlichen Stadträte werden von der Stadtverordnetenversammlung auf die Dauer von sechs Jahren als Wahlbeamte gewählt. Nach dem Geschäftsverteilungsplan des Oberbürgermeisters sind die vier hauptamtlichen Magistratsmitglieder als Dezernenten jeweils für einen Teil der Ämter und Fachbereiche der Stadtverwaltung zuständig. Neben Oberbürgermeister Frank-Tilo Becher (SPD) handelt es sich um Bürgermeisterin Nadine Bernshausen (Grüne) sowie um Stadträtin Kirsten Dinnebier (SPD) und Stadtrat Michael Kopatz (Grüne). Ortsbeiräte Übersicht Folgende Ortsbezirke mit Ortsbeirat und Ortsvorsteher, nach Maßgabe der §§ 81 und 82 HGO und des Kommunalwahlgesetzes in der jeweils gültigen Fassung, gibt es im Stadtgebiet: Für die Stadtteile Bauerbach, Bortshausen, Cappel, Cyriaxweimar, Dagobertshausen, Dilschhausen, Elnhausen, Ginseldorf, Gisselberg, Haddamshausen, Hermershausen, Marbach, Michelbach, Moischt, Ronhausen, Schröck, Wehrda und Wehrshausen besteht jeweils ein Ortsbezirk in den Gemarkungsgrenzen der ehemaligen Gemeinden. (Details siehe bei den Stadtteilen) Der Ortsbezirk Ockershausen besteht aus dem Gebiete der ehemaligen Gemeinde Ockershausen und aus den Häuser Bachweg 25, 27 und 29 und den Straßen Am grünen Hang, Habichtstalgasse, Karl-Dörbecker-Weg, Konrad-Laucht-Weg, Leopold-Lucas-Straße 3 bis 65, Ockershäuser Allee, Tauben-weg, Ziegelstraße, Anne-Frank-Straße, Carl-von-Ossietzky-Straße, Cilly-Schäfer-Straße, Dietrich-Bonhoeffer-Straße, Edith-Stein-Straße, Elisabeth-von-Thadden-Straße, Georg-Elser-Straße, Hannah-rendt-Straße, Hedwig-Jahnow-Straße, Jakob-Kaiser-Straße, Luise-Berthold-Straße, Platz der Weißen Rose und Rudolf-Breitscheid-Straße. (Details siehe Ockershausen.) Der Ortsbezirk Richtsberg besteht aus dem Stadtteil Richtsberg. (Details siehe Richtsberg.) Der Ortsbezirk Altstadt besteht aus dem Gebiet eines abgegrenzten Teils des statistischen Bezirkes „Altstadt“ bestehend aus den Straßen: Am Plan, Augustinergasse, Aulgasse, Barfüßerstraße, Hanno-Drechsler-Platz, Hirschberg, Hof-statt, Jakobsgasse, Krebsgasse, Kugelgasse, Lahntor, Landgraf-Philipp-Straße, Langgasse, Lutherischer Kirchhof, Mainzer Gasse, Markt, Marktgasse, Metzgergas-se, Mühltreppe, Neustadt, Nikolaistraße, Pilgrimstein, Reitgasse, Renthof, Ritterstra-ße, Rübenstein, Schloß, Schloßsteig, Schloßtreppe, Schneidersberg, Schuhmarkt, Steingasse, Steinweg, Untergasse, Wendelgasse, Wettergasse und Willy-Sage-Platz. Der Ortsbezirk Weidenhausen besteht aus dem statistischen Bezirk Weidenhausen. Der Ortsbezirk Campusviertel besteht aus dem statistischen Bezirk Campusvierte. Der Ortsbezirk Südviertel besteht aus dem statistischen Bezirk Südviertel. Der Ortsbezirk Waldtal besteht aus dem statistischen Bezirk Waldtal. Die Wahl der Ortsbeiräte erfolgt im Rahmen der Kommunalwahlen. Der Ortsbeirat wählt eines seiner Mitglieder zum Ortsvorsteher. Kernstadt-Ortsbeiräte Wappen Flagge Die Stadt führt eine längsgestreifte Flagge in den Farben Blau, Weiß und Rot. Die Stadtfarben sind Ende des 18. Jahrhunderts entstanden, als die Landgrafen von Hessen das Blau aus ihren Farben gerade entfernten, um nicht die gleichen Farben wie die verhasste Revolution in Frankreich zu führen. Die Bannerflagge wird in drei Varianten gezeigt und folgendermaßen beschreiben: Städtepartnerschaften Seit 1961 besteht eine Städtepartnerschaft mit der französischen Stadt Poitiers. Zurückzuführen ist diese Partnerschaft auf die Beziehungen der beiden ansässigen Universitäten. 1969 erfolgte die Verschwisterung mit der slowenischen namensgleichen Stadt Maribor (Marburg an der Drau), 1971 mit Sfax in Tunesien. 1988 wurde die Verschwisterungsurkunde mit der damals noch zur DDR gehörenden Stadt Eisenach in Thüringen unterzeichnet. Die Verantwortlichen wollten damit ein Zeichen zur Völkerverständigung und zur Überwindung der deutschen Teilung setzen und die Beziehungen der beiden Städte durch das Wirken der heiligen Elisabeth verdeutlichen. Die Städtepartnerschaft zu Northampton in England entwickelte sich über die Partnerschaft beider Städte mit der französischen Stadt Poitiers und führte 1992 zur Verschwisterung. Die letzte Städtepartnerschaft wurde 2005 mit Sibiu/Hermannstadt in Rumänien geschlossen, da bereits viele Kontakte auf universitärer, schulischer, kirchlicher und kultureller Ebene bestanden. Zur Würdigung des Engagements in den partnerschaftlichen Beziehungen wurde die Stadt 1980 mit der Ehrenfahne des Europarates ausgezeichnet. Solarsatzung Im Juni 2008 wurde vom Marburger Stadtparlament mit den Stimmen der SPD, von Bündnis 90/Die Grünen und der Linken die bundesweit bisher einzigartige und umstrittene Marburger Solarsatzung verabschiedet. Danach sollen bis auf wenige Ausnahmen alle Marburger Bauherren verpflichtet werden, bei Neubauten oder größeren Änderungen an Dächern oder Heizungsanlagen solarthermische Anlagen zu installieren. Der Gießener Regierungspräsident hob diesen Beschluss am 7. Oktober 2008 auf. Gegen diese Verfügung hat die Stadt Marburg beim Verwaltungsgericht Gießen Klage erhoben. Einem auf Anraten des Verwaltungsgerichts Gießen zwischen der Stadt Marburg und dem Regierungspräsidium ausgehandelten Vergleich hat das Wirtschaftsministerium im März 2010 nicht zugestimmt. Im Mai 2010 hat das Verwaltungsgericht die Klage abgewiesen. Die Stadt Marburg hat gegen das Urteil kein Rechtsmittel eingelegt, sondern eine neue Fassung der Satzung erarbeitet. Diese Vorlage passierte im darauffolgenden September den Magistrat und wurde am 29. Oktober 2010 von der Stadtverordnetenversammlung beschlossen. Bürgerinformationssystem Die Stadt Marburg betreibt ein Bürgerinformationssystem, mit Hilfe dessen sich Bürger über die politischen Gremien informieren können. Hier werden die nächsten Sitzungen mit ihrer Tagesordnung angekündigt, des Weiteren kann man Informationen (Name, Parteizugehörigkeit, Funktion und Kontakt) zu den Kommunalpolitikern einsehen. Schuldenstand Kultur Theater und Kino Das Hessische Landestheater Marburg ist das jüngste der sechs großen hessischen Theater mit fünf örtlichen Spielstätten und zusätzlichen Freiluftaufführungen. Jährlich findet hier seit 1995 die „Hessische Kinder- und Jugendtheaterwoche“ mit einem Workshop-Programm für Schulklassen und Lehrer für darstellendes Spiel aus der Region statt. In Marburg existieren derzeit fünf freie Theater, die teils kommunal unterstützt werden. Das 1989 gegründete Theater GegenStand im Kulturzentrum „Waggonhalle“ führt vorwiegend eigene Produktionen auf und legt den Schwerpunkt auf eine „Vielfalt der Formen, Inhalte und Methoden“, wozu auch die Theaterpädagogik gehört. 2003 gründete sich als Ableger die Improvisationstheatergruppe Fast Forward Theatre; gespielt wird an wechselnden Orten. Die Marburger Theaterwerkstatt Theater neben dem Turm (TNT) (bis Oktober 2018 german stage service) in dem ehemaligen Gaswerk an den Afföllerwiesen ist eine Einrichtung, die 1983 gegründet wurde und ein Ort für „neue künstlerische Positionen“ und „gesellschaftliche Diskurse“ sein möchte. Das TNT bietet Künstlern eine Bühne an, fördert junge Theaterspieler und entwickelt eigene Aufführungen. Im Mai 2018 eröffnete das Studio Beisel in der Ketzerbach-Straße 42. Es wird von Kajetan Skurski und Laurenz Raschke geleitet und versteht sich als vielfältiger Ort für „Raumkunst und Ereignisse“. Im Marburger Stadtteil Weidenhausen gibt es ein Puppentheater: die blaue bühne (gegründet 2011). Als Figuren werden Hohnsteiner Kasperfiguren, Stabfiguren und Marionetten verwendet, mit denen die Spieler überwiegend selbst entwickelte Stücke für Kinder aufführen. Das 2009 geschlossene Schnaps & Poesie Theater war das kleinste Marburger Theater. In wechselnden sehr kleinen Spielstätten (jeweils ca. 20 Plätze) wurde Hör-Theater in Form szenischer Lesungen angeboten. Von 2010 bis 2013 gab es die vom ehemaligen Oberspielleiter des Marburger Landestheaters Peter Radestock gegründete Kleine Komödie, die sich dem gehobenen Boulevard-Theater mit eigenen Produktionen zugewandt zeigte. Im November 2013 schloss die Kleine Komödie. Des Weiteren gibt es gelegentlich Vorstellungen studentischer Theatergruppen und Aufführungen der Schulen. Mit jährlich rund einer halben Million verkaufter Eintrittskarten (bei einem Einzugsgebiet von rund 253.000 Einwohnern im Landkreis) nimmt das Kino einen hohen Stellenwert in der Freizeitgestaltung ein. Das Angebot umfasst neben 14 kommerziell betriebenen Kinosälen an drei Standorten – darunter sieben im Marburger Cineplex – auch das unabhängige und nichtkommerzielle Kino im Kulturzentrum trauma im g-werk (Traumakino) Im Sommer finden auf der Freiluftbühne im Schlosspark Großleinwandvorführungen statt. Seit 1994, zeigt das internationale Kurzfilmfestival OpenEyes Filmfest, in jedem Jahr, aktuellste Produktionen im Publikumswettbewerb. Seit 2006 findet jährlich im Cineplex in Kooperation mit den Fachdiensten Kultur- und Jugendförderung der Stadt Marburg das Marburger Kinder- und Jugendfilmfestival Final Cut statt. Die Marburger Kameragespräche mit dem Marburger Kamerapreis sind ein jährliches Ereignis für das Fachpublikum und die Cineasten. Die Stadthalle in der Biegenstraße gegenüber dem Audimax-Hörsaalgebäude der Universität wurde seit dem 11. Juni 2013 komplett saniert und ausgebaut. Mit der Wiedereröffnung 2016 erhielt das Gebäude den Namen Erwin-Piscator-Haus, benannt nach dem in Marburg aufgewachsenen Theaterregisseur (1893–1966). Neben dem Kulturzentrum KFZ und dem Hessischen Landestheater zog auch die „Marburg Tourismus und Marketing GmbH“ ins Piscator-Haus ein. Museen Marburg bietet neben drei über viele Jahre existierenden privaten Galerien – Galerie Henke, Galerie Schmalfuß und LOG-Gallery – mehrere zugängliche Künstlerateliers und viele weitere Ausstellungsorte und Museen, wovon fünf zur Universität gehören. Museum für Kunst und Kulturgeschichte Das Museum für Kunst und Kulturgeschichte Marburg unterhält an zwei Standorten Einrichtungen. Die Sammlung in der Biegenstraße 11 zeigt neben wechselnden Ausstellungen Werke des Expressiven Realismus (etwa des Marburger Künstlers Franz Frank) und des Pointillismus (besonders von Paul Baum), daneben Kunst des 17. bis 20. Jahrhunderts, Kunst der Gegenwart wie Gemälde von Bernard Schultze, Dieter Krieg und Harald Häuser, Werke von Carl Bantzer und Otto Ubbelohde sowie der Willingshäuser Schule. Auch eine Sammlung von Abgüssen antiker Statuen ist hier zu sehen. Das Gebäude wurde 1927 als Geschenk des Marburger Universitätsbundes zum 400-jährigen Bestehen der Universität eröffnet und wird seit 2011 saniert, wobei das Museum neu konzipiert wird (neue Rundgänge, neuer Eingangs- und Servicebereich). Eine Keramiksammlung im Landgrafenschloss zeigt Marburger Irdenware und Steinzeug aus Hessen und dem Westerwald. Im Wilhelmsbau des Schlosses sind die Kulturgeschichtlichen Sammlungen auf fünf Stockwerken untergebracht. Zudem finden wechselnde Sonderausstellungen statt. Völkerkundliche Sammlung Die Marburger Völkerkundliche Sammlung befindet sich im Institut der Völkerkunde der Universität Marburg in der Kugelgasse 10. Sie beherbergt dauerhaft mehr als 5.000 Objekte und setzt sich aus vielen verschiedenen (privaten) Teilsammlungen zusammen. Attraktiv ist für Studenten die oft genutzte Möglichkeit, selbst aktiv Ausstellungen aus der Ethnologie zu organisieren und direkt an den Objekten zu arbeiten. Die ausgestellten Gegenstände decken zwar ein weites Feld ab, jedoch liegt der Fokus deutlich auf (Alltags-)Gegenständen indigener Gruppen im Amazonasgebiet. Mineralogisches Museum Das Mineralogische Museum Marburg besitzt etwa 45.000 Mineralien, 50.000 Gesteinsproben, mehrere tausend Edelsteinrohproben und 150 Meteoriten. Die größte mineralogische Sammlung Hessens gilt unter Fachleuten als eine der wichtigsten Deutschlands. Entstanden ist sie als Lehr- und Forschungssammlung des Instituts für Mineralogie der Universität Marburg. Religionskundliche Sammlung Der Theologe und Religionsphilosoph Rudolf Otto gründete 1927 die Religionskundliche Sammlung, das Museum für Religion. Nach mehreren Umzügen befindet es sich in der „Neuen Kanzlei“ in der Landgraf-Philipp-Straße 4. Es werden Kultfiguren, Bilder und Ikonen, Rollbilder, Ritualgegenstände, Hausaltare sowie verschiedene Modelle und Nachbildungen ausgestellt, sortiert nach den Themengebieten Altamerika, Altägypten, Religionen Afrikas, Religionen Süd- und Ostasiens (Hinduismus, Buddhismus, Daoismus, Konfuzianismus, Shintō und Tenrikyō) und Monotheistische Religionen (Judentum, Christentum, Islam). Auch hier werden Sonderausstellungen zu wechselnden Themen angeboten. Die Marburger Religionskundliche Sammlung gehört neben Einrichtungen in Glasgow und Sankt Petersburg zu den wenigen Museen, die sich ausschließlich auf die Darstellung von Religion spezialisiert haben. Die Besichtigung der Sammlung ist im Rahmen von angemeldeten Führungen möglich. „Museum anatomicum“ Im Dachgeschoss des Instituts für Zytobiologie befindet sich das Museum anatomicum. Gezeigt werden etwa 2000 Präparate aus der Zeit von 1650 bis 1920, unter anderem in Formalin-gefüllten Glasbehältern aufbewahrte Präparate aus dem Gebiet der systematischen und topographischen Anatomie, der Embryologie und der Missbildungslehre. Ein weiterer Schwerpunkt bietet eine Sammlung von Knochen und Skeletten. Gezeigt werden darin zum Beispiel Schädel von Hingerichteten, Präparate zur Schädel- und Zahnentwicklung oder die Rassenschädelsammlung. Anatomische Geräte, chirurgisches Instrumentarium und alte Mikroskope sind außerdem ausgestellt. Ein bekanntes Einzelstück ist das „Marburger Lenchen“, die präparierte Leiche einer schwangeren Frau, die in der Lahn ertrank. Weitere Museen Die neue Marburger Kunsthalle des Kunstvereins wurde 2000 auf dem Gelände des ehemaligen Schlachthofes am Gerhard-Jahn-Platz 5 eröffnet. Auf über 500 Quadratmetern bietet sie wechselnde Ausstellungen zur Kunst der Gegenwart. Im Gebäude Bahnhofstraße 7 der Marburger Universität gibt es im 1. Stock die Dauerausstellung Blut ist ein ganz besonderer Saft, die über den ersten Medizinnobelpreisträger Emil von Behring informiert. Die Ausstellung ist die zweite von zwölf Stationen der acht Kilometer langen Marburger Behring-Route, die an Lebens- und Wirkstätten dieses bedeutenden Marburgers vorbeiführt. Im 1. Deutschen Polizeioldtimer-Museum in der Herrmannstraße 200 (an der Kreisstraße 69) können über 70 historische Polizeifahrzeuge besichtigt werden. Mit weiteren Exponaten wie technischem Material und Fotos mit Bezug zur Motorisierung der deutschen Polizei stellt das Museum die größte Sammlung von Polizeifahrzeugen in Deutschland dar; sein Bestand wird häufig für historische Film- und Fernsehproduktionen genutzt. Das Kindheitsmuseum wurde 1979 in privater Trägerschaft von Helge Ulrike und Charles Barry Hyams in der Hüterschen Villa am Barfüßertor eröffnet. Bis zum Ende des Jahres 2008 gab es einen Einblick in die Kindheit der letzten beiden Jahrhunderte und verfügte über eine Sammlung jüdischer Kinderbücher. Zu sehen waren außerdem Spielzeuge aus den Jahren 1850 bis 1950, ein Spiel-Zoo mit 600 Spielzeugtieren und Miniaturgebäuden, historische Kinder- und Schulbücher, ein Einblick in die „Marburger Puppenklinik“, ein historisches Klassenzimmer aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg und weitere Exponate. Das Kindheitsmuseum soll mittelfristig zusammen mit dem Zirkus-Archiv und einer Ausstellung der Deutschen Blindenstudienanstalt in einem neuen Museumszentrum auf dem Waggonhallen-Gelände am Ortenberg eine neue Heimat finden. Literarische Gesellschaft Lesungen, durchschnittlich 30 im Jahr, in einem Café in der Marburger Altstadt, veranstaltet der Verein Neue Literarische Gesellschaft. „Literatur um 11“ findet seit 1974 statt. Das Programm reicht vom literarischen Chanson bis zum historischen Vortrag, von der aktuellen Belletristik über Lyrik bis zur Lebensphilosophie. Archive Marburg beherbergt mehrere bundesweit bedeutende Archive. Das Hessische Staatsarchiv Marburg ist zuständig für das bei den staatlichen Behörden im Regierungsbezirk Kassel und Teilen des Regierungsbezirks Gießen anfallende Schriftgut. Das Bildarchiv Foto Marburg ist das deutsche Dokumentationszentrum für Kunstgeschichte und besitzt ein Bildarchiv zur europäischen Kunst und Architektur mit rund 1,7 Millionen fotografischen Originalaufnahmen. Im Lichtbildarchiv älterer Originalurkunden werden erhaltene Urkunden, die in Deutschland vor 1250 geschrieben wurden, verwahrt und fotografisch dokumentiert. Weitere bedeutende Archive sind: Universitätsarchiv der Philipps-Universität Marburg Archiv der deutschen Blindenstudienanstalt und internationale Dokumentationsstelle für das Blinden- und Sehbehindertenwesen, beherbergt Dokumente, Zeitungsausschnitte und Ähnliches zur Geschichte des internationalen Blinden- und Sehbehindertenwesens sowie der deutschen Blindenstudienanstalt Herder-Institut für historische Ostmitteleuropaforschung, umfasst eine Forschungsbibliothek, ein Zeitungsarchiv, ein Bildarchiv, eine Kartensammlung und eine Dokumentesammlung (klassisches Archivgut) mit bedeutenden Beständen zur Geschichte, Kultur und Landeskunde Ostmitteleuropas Archiv des Hessischen Landesamts für Geschichtliche Landeskunde, beherbergt ein Flurnamenarchiv für das Gebiet der ehemals preußischen Provinz Hessen-Nassau Behring-Archiv, beherbergt sowohl Materialien und Dokumente zur Person Emil von Behrings als auch zur Geschichte der Behringwerke Corpus der minoischen und mykenischen Siegel, beherbergt Abdrücke und Fotos von minoischen und mykenischen Siegeln sowie Publikationen darüber Deutscher Sprachatlas des Forschungsinstituts für deutsche Sprache, beherbergt handschriftliche und gedruckte Dokumente, Karten, Bild- und Tondokumente zur Geschichte der Dialekte und Regionalsprachen in Deutschland sowie ihrem Wandel im Laufe der Zeit. Ein dedizierter Neubau für den Sprachatlas und das zugehörige Forschungsinstitut entstanden auf dem ehemaligen Brauereigelände und wurden im April 2016 fertiggestellt. Deutsches Adelsarchiv, Nachweis und Stammbaum aller deutschen Adelsfamilien Forschungsstelle für Personalschriften an der Philipps-Universität Marburg, eine europaweit einzigartige Institution, ermittelt und katalogisiert Leichenpredigten, die zwischen 1550 und 1750 gedruckt wurden Forschungsstelle Georg Büchner (FGB), Forschung und Erarbeitung von Publikationen zu Leben, Werk und Wirkung Georg Büchners Handschriften- und Nachlassarchiv der Universitätsbibliothek, beherbergt Bände mit Marburger Vorlesungsnachschriften, Studentenstammbücher, Bände mit Universitätsstatuten und -verordnungen sowie mehr oder weniger umfangreiche Nachlässe und Teilnachlässe von Marburger Professoren wie z. B. Friedrich Carl von Savignys und Paul Natorps Kant-Forschungsarchiv der Philipps-Universität, beherbergt Original-Schriften des Philosophen Immanuel Kant, ist nicht museal zugänglich Lichtbildarchiv älterer Originalurkunden, sammelt alle in Deutschland verwahrten Urkunden, die vor 1250 geschrieben wurden, und dokumentiert diese fotografisch Religionen in Deutschland – Archiv mit Dokumentationsstelle, beherbergt umfangreiche Bestände so genannter grauer Literatur von Religionsgemeinschaften in Deutschland und dokumentiert aktuelle Religionsgeschichte Stadtarchiv, zentrale städtische Dienststelle für alle Fragen zur Marburger Stadtgeschichte, beherbergt Unterlagen zur Dokumentation des Marburger Stadtlebens seit dem Mittelalter Zentralarchiv der deutschen Volkserzählung im Institut für Europäische Ethnologie/Kulturwissenschaft der Philipps-Universität, beherbergt eine große Sammlung von Sagen und Märchen Circus-, Varieté- und Artisten­archiv, beherbergt Programme, Kostüme, Requisiten und Fotos aus dem Zirkus-, Artisten- und Varietébereich Sport und Freizeit Sportvereine Aushängeschilder in sportlicher Hinsicht sind die Basketball-Damen des BC Marburg, die seit 1992 einen festen Bestandteil in der 1. Damen-Basketball-Bundesliga bilden und im Jahr 2003 Deutscher Meister und Pokalsieger wurden, sowie die Footballer der 1991 gegründeten Marburg Mercenaries, die ihre Spiele im 12.000 Zuschauer fassenden Georg-Gaßmann-Stadion austragen, 2005 den europäischen EFAF Cup gewannen und 2006 Deutscher Vizemeister wurden. Eine weitere Marburger Mannschaft in der 1. Bundesliga sind die 2004 gegründeten Marburg Saints, der Lacrosse-Verein des VfL 1860 Marburgs. Seit 2014 in der Squash-Bundesliga sind vertreten die Skwosch-Frösche Marburg. Auch Tischtennis-Bundesliga gibt es seit Sommer 2009 in Marburg nicht mehr, nachdem sich der TTV Gönnern, der einige seiner Liga-Heimspiele in Marburg austrug, aus der deutschen Eliteklasse zurückgezogen hat. Im Tennis spielen die Damen- und Herrenmannschaften des TC Marburg in der Hessenliga. Die größte Fußballabteilung in Marburg und im Kreis Marburg-Biedenkopf mit ca. 700 Mitgliedern, davon ca. 600 Aktive in 27 Teams, hat der Verein Sportfreunde Blau-Gelb Marburg. Die erste Mannschaft der Männer spielt in der Verbandsliga, ebenso wie die erste Mannschaft des VfB Marburg. Im Blindenfußball wurde die SSG Blista Marburg, die den Sportfreunde angeschlossen ist, fünfmal Deutscher Meister, zuletzt 2019. Die Rhönradabteilung des TSV Marburg-Ockershausen ist mit über einem Dutzend nationalen Meistertiteln und neun Weltmeisterschaften eine der erfolgreichsten Rhönrad-Mannschaften Deutschlands. Mit Laura Stullich, Victoria Hennighausen und Friederike Schindler stellte der Verein drei Weltmeisterinnen. Der Kurhessische Verein für Luftfahrt (KVfL) mit dem Flugplatz Marburg-Schönstadt ist einer der ältesten Luftsportvereine Deutschlands. Mit heute etwa 300 Mitgliedern und den vier Sparten Modellflug, Motorflug, Segelflug und Ballonfahren ist der Verein auch überregional aktiv. Zu seinen sportlich erfolgreichsten Mitgliedern zählt der zweifache Weltmeister im Segelflug Werner Meuser. In unmittelbarer Nähe des Flugplatzes befindet sich in Cölbe-Bernsdorf der 2003 erbaute 18-Loch-Golfplatz des Oberhessischen Golf-Clubs Marburg. Einer der ältesten Vereine, die Kraftsport in Deutschland betreiben, ist die Sportvereinigung Athleten Club 1888 Marburg. Im Rugby spielen die Damen- und Herrenmannschaften der 1973 gegründeten Rugby Union Marburg in der Regionalliga Hessen. Auch bei den Freiwilligen Feuerwehren zeichnet sich Marburg immer wieder durch eine Stadtteilfeuerwehr (Marburg-Michelbach) aus, auf Kreis-, Bezirks- und Landesentscheiden repräsentiert diese Marburg erfolgreich. Sport und Inklusion Nachdem sich Marburg 2021 als Host Town für die Gestaltung eines viertägigen Programms für eine internationale Delegation der Special Olympics World Summer Games 2023 beworben hatte, wurde die Stadt 2022 als Gastgeberin für Special Olympics Vereinigte Arabische Emirate ausgewählt. Das Programm wird vor den Weltspielen stattfinden und macht Marburg zu einem Teil des größten kommunalen Inklusionsprojekts in der Geschichte der Bundesrepublik mit mehr als 200 Host Towns. Alpinsport Die 1891 gegründete Sektion Marburg/Lahn des Deutschen Alpenvereins (DAV) ist einer der größten Sportvereine Marburgs mit Mitgliedern (Stand: ). Sie unterhält eine Kletterhalle (Volksbank Kletterhalle Marburg). Musik Drei Kulturzentren sorgen für eine weite Bandbreite von Konzerten der Bereiche Rock, Pop, Hip-Hop, A cappella, Tango, Ska, Punk, Reggae, Weltmusik. Vereine wie die Jazz-Initiative Jazz Initiative MarburgJIM sowie der Folkclub Marburg ergänzen das Angebot. Im Bereich der klassischen Musik gibt es einen aktiven Konzertverein, zwei junge Sinfonieorchester, nämlich das Studentisches-Sinfonieorchester Marburg und die Junge Marburger Philharmonie, sowie viele Chöre im Stadtgebiet, darunter der Marburger Bachchor und der mit der Universität assoziierte Universitätschor Marburg. Immer wieder gibt es Compilations mit verschiedenen Marburger Bands. Die bekanntesten Veröffentlichungen sind die CDs Wildwechsel und die CD „MR-CD 06421“, die jeweils 20 Bands aus der Marburger Musikszene präsentieren. Die CD-Serie „MR-CD 06421“ erschien in mehreren Auflagen und wurde von der Oberhessischen Presse, dem Stadtmagazin Express und dem Kulturmanager George Lindt initiiert. Diskotheken und Szenegastronomie In den letzten Jahren schlossen immer mehr der angestammten Discotheken und Clubs. Zu ihnen zählten das PAF in Cölbe, der Fun-Park, das Phoenix (später Unix) und die Kult-Hallen. Etabliert hat sich der Club Nachtsalon am Hauptbahnhof. Des Weiteren gibt es zahlreiche After-Work-Partys sowie Veranstaltungen im Dunstkreis der studentischen Selbstverwaltung und Hochschulpolitik (Fachschaftspartys, Solidaritätspartys). Unter Studenten populär und stark besucht sind das KFZ und das Café Trauma. Auch haben sich viele Szenebars und -lounges im gesamten Stadtbereich etabliert. Regelmäßige Veranstaltungen Frühjahr Ende Februar bzw. Anfang März wird alljährlich vom Ultra Sport Club Marburg der Marburger Lahntallauf ausgetragen. Der 10 km Rundkurs der Strecke dieses Ultramarathons (weitere Distanzen 10 km, Halbmarathon, 30 km und Marathon) führt entlang der Lahn und durch das Cappeler Feld. Bereits mehrmals waren die deutschen Meisterschaften 50 km Straße in diese Veranstaltung integriert. Mitte März findet in Marburg die Verleihung des „Marburger Kamerapreises“ im Rahmen der Marburger Kameragespräche statt. Außerdem wird vom Hessischen Landestheater Marburg eine Kinder- und Jugendtheaterwoche organisiert. Am zweiten Aprilwochenende findet der Marburger Frühling in der ganzen Stadt statt. Dafür wird die Universitätsstadt mit Frühjahrsblumen dekoriert. Blumenmädchen verschenken tausende von Blumen an die Passanten und im Rahmen eines verkaufsoffenen Sonntags gibt es ein vielfältiges Programm. Ebenfalls am Sonntag finden der Flohmarkt und eine Fahrradbörse in Weidenhausen statt. Außerdem sind verschiedene Kleinkünstler mit Musik, Komik und Akrobatik vertreten. Ab dem letzten Aprilwochenende findet auf dem Messeplatz für neun Tage die Frühjahrsmesse statt. Am Abend des letzten Apriltages beginnt um Mitternacht das traditionelle Maieinsingen. Der nächste Tag (1. Mai) ist vormittags geprägt durch Demonstrationen und Kundgebungen der Gewerkschaften, am Nachmittag folgt ein Fest. Anfang Mai findet jährlich das Hafenfest statt. Am Fronleichnamstag wird vom Kulturzentrum KFZ das A-cappella-Festival Nacht der Stimmen auf der Freilichtbühne im Schlosspark veranstaltet. In der ersten Juniwoche organisiert das Kulturamt Marburg das Kinderfestival Ramba Zamba. Sommer Von 1977 bis 2006 sowie 2008 und 2009 fand immer am letzten Freitag im Juni das „Uni-Sommerfest“ auf einem abgesperrten Innenstadtgelände in der Biegenstraße zwischen Hörsaalgebäude und Stadthalle mit fünf Bühnen statt. Nachdem es nun einige Jahre lang kein „Uni-Sommerfest“ gegeben hatte, fanden in den Jahren 2014 und 2015 wieder Sommerfeste statt, allerdings jeweils Ende Mai und am Landgrafenschloss. Im Juli findet regelmäßig das Stadtfest 3 Tage Marburg (3TM) statt mit sechs Märkten, zehn Bühnen mit 60 Rock- und Pop-Bands sowie 12 Klassik-Ensembles und -Solisten, Freibieranstich, dem Drachenboot-Cup und einem Höhenfeuerwerk auf dem Schlossberg. Ebenfalls im Juli, immer zwei Wochen nach 3TM, beginnt das internationale Kurzfilmfestival OpenEyes Filmfest. In den Monaten Juli und August bietet die Marburger Sommerakademie Kurse zu Kunst, Theater und Musik an. Der Verein KFZ organisiert Anfang August auch das Straßenfest Summer in the City, während das Kulturzentrum Waggonhalle zwischen Mitte August und Mitte September den Marburger Varieté-Sommer veranstaltet. Im September veranstalten die Weidenhäuser ihr traditionelles Höfefest. Herbst Der Herbst wird jedes Jahr am zweiten Wochenende im Oktober mit dem Elisabethmarkt eingeläutet. Er ist die größte im Herbst stattfindende „Open-Air“ – Veranstaltung in Marburgs Innenstadt. Neben einem Rahmenprogramm des Jahrmarktes ist der Sonntag verkaufsoffen. Parallel findet an dem Sonntag auch das Weidenhäuser Entenrennen statt. Winter Die Vorweihnachtszeit beginnt in Marburg ab dem Freitag vor dem ersten Advent mit Marburg b(u)y Night. Marburg b(u)y Night ist ein Städte-Illuminationsprojekt, das seit 2006 in Marburg stattfindet und jährlich mehrere zehntausend Zuschauer anlockt. Am letzten Freitag im November werden über 30 öffentliche Gebäude, Plätze, Sehenswürdigkeiten und Objekte mit Licht- und Videoinstallationen in Szene gesetzt. Unter dem Motto „Lichterglanz und Einkaufsvergnügen“ findet zeitgleich ein verkaufsoffener Freitagabend mit zahlreichen beleuchteten Geschäften, Gaststätten, Hotels sowie Bank- und Privatgebäuden statt. Am Abend von Marburg b(u)y Night öffnen auch der Adventsmarkt am Rathaus und der Weihnachtsmarkt rund um die Elisabethkirche. Die offizielle Eröffnung beider Märkte findet am darauf folgenden Samstag mit dem Weihnachtsoratorium in der Elisabethkirche und der Bläsermusik im Kerzenschein statt. Ein besonderes Ereignis zu Beginn eines neuen Jahres war zwischen 1998 und 2007 die Aufführung des Films Feuerzangenbowle von 1944 am letzten Freitag im Januar auf einer Großleinwand auf dem Rathausplatz. Das MaNo-Festival („Marburg Northampton Poitiers Festival“) wird jährlich Anfang März vom Marburger MusikerInnen Verein organisiert. Drei Tage lang spielen über 60 Bands aus Marburg sowie den Partnerstädten Northampton, Poitiers und Maribor in 15 Marburger Clubs und Kneipen. Ohne jahreszeitlichen Bezug Bedingt unter anderem durch die geisteswissenschaftlichen Fachgebiete der Universität wie beispielsweise der Germanistik, gibt es in Marburg auch im Literaturbereich viele Angebote. Neben mehreren literarischen Vereinen mit unterschiedlichen Schwerpunkten finden im „Café Vetter“ jeden Sonntag Veranstaltungen der Vortragsreihe Literatur um 11 statt, regelmäßig findet im KFZ ein Poetry-Slam statt, einmal monatlich des Weiteren das Late-Night-Lesen in der Jazzkneipe „Cavete“ sowie „Punk und Poesie“ in der Oberstadtkneipe „Schlucke“. Der Marburger Literaturpreis der Universitätsstadt Marburg und des Landkreises Marburg-Biedenkopf wurde zwischen 1980 und 2005 alle zwei Jahre vergeben. Im Jahre 2006 entschieden der Landrat des Kreises Marburg-Biedenkopf und der Oberbürgermeister der Stadt Marburg, den Preis einzustellen. Stattdessen wolle die Stadt Marburg zukünftig stärker als bisher Kinder- und Jugendliteratur fördern. Das Chemikum Marburg, kein Museum, sondern eine Art Versuchslabor, wurde im Jahre 2005 für Kinder und Jugendliche eingerichtet. Die Initiative ging von der Universität Marburg aus. Sehenswürdigkeiten und Tourismus Marburg und seine Umgebung bieten zahlreiche Sehenswürdigkeiten. Der Tourismus stellt in der Universitätsstadt einen nicht unerheblichen Wirtschaftsfaktor dar. Hauptanziehungspunkte sind die Elisabethkirche, das Schloss sowie die historische Altstadt. Für Übernachtungen bietet Marburg außer dem Campingplatz und einer ganzen Reihe Hotels und Pensionen in allen Preisklassen die DJH-Jugendherberge in der Jahnstraße (Weidenhausen) die über viele Jahre 167 Betten bot und in unmittelbarer Nähe zur Lahn und zum Universitätsstadion liegen bleibt, jedoch im Januar 2020 geschlossen wurde. 2009 wies die Stadt bei einem Angebot von 5974 Betten 562.653 Übernachtungen vor. Stadtführungen (auch zu Sonderthemen wie Märchen, Romantikepoche etc.) sowie Märchenrundfahrten in die Umgebung zu den vom Maler Otto Ubbelohde illustrierten „Schauplätzen“ der Grimmschen Märchen und der Deutschen Märchenstraße lassen sich bei der Touristen-Information buchen. Von April bis Oktober gibt es jeden Samstag Kasematten-Führungen durch die unterirdischen Festungsanlagen des Schlosses. Der älteste Sakralbau Marburgs, die romanische Martinskirche, befindet sich im Ortsteil Michelbach. Elisabethkirche Die Elisabethkirche, vom Volksmund gewöhnlich „E-Kirche“ genannt, ist der früheste rein gotische Kirchenbau auf deutschem Boden und wahrscheinlich das bekannteste Gebäude Marburgs. Sie wurde vom Deutschen Orden, dessen Niederlassung, das Deutschhaus, sich in direkter Nachbarschaft zur Elisabethkirche befindet, errichtet. Der Bau der Elisabethkirche erfolgte durch den Deutschen Orden zu Ehren der heiligen Elisabeth von Thüringen, deren Grabmal sich in der Kirche befand. Der Bau wurde im Jahr ihrer Heiligsprechung (1235) begonnen und 1283 vollendet. Marburg wurde dadurch im Spätmittelalter zu einem bedeutenden Wallfahrtsort. Die Kirche gilt als Meisterwerk der deutschen Frühgotik. Sie zählt zu den ersten rein gotischen Hallenkirchen im deutschen Kulturgebiet. Mit der Liebfrauenkirche in Trier ist sie die erste rein gotische Kirche im deutschen Sprachraum. Für den Kölner Dom gilt sie als Vorbild. Landgrafenschloss Das Landgrafenschloss erhebt sich weithin sichtbar westlich über der Stadt und dem in nord-südlicher Richtung verlaufenden Lahntal. Der Schlossberg hat eine Höhe von und bildet einen Ausläufer des Marburger Rückens – eines Buntsandstein-Hochlandes. Durch die relativ steilen Talflanken bestand hier eine sehr gute fortifikatorische Ausgangslage für die Errichtung einer mittelalterlichen Burg, die in der Folgezeit und bis in die Gegenwart zahlreiche bauliche Veränderungen erfuhr. Neben seiner historischen Bedeutung als erste Residenz der Landgrafschaft Hessen ist das Schloss von großem kunst- bzw. bauhistorischem Interesse. Dies betrifft neben den Bauteilen aus dem 11./12. Jahrhundert vor allem das Schloss aus der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts, das noch heute den Gesamteindruck der Anlage wesentlich bestimmt. Die Schlosskapelle und der Saalbau mit dem Großen Saal beziehungsweise Fürstensaal, der zu den größten und qualitätvollsten profanen gotischen Sälen in Mitteleuropa gehört, sind herausragende Leistungen der europäischen Burgenarchitektur. Heute wird das Schloss in Teilen vom Marburger Universitätsmuseum für Kulturgeschichte genutzt, das eine große Sammlung von Exponaten zur Geschichte der Region seit der Steinzeit beherbergt. Außerdem finden hier auch Theateraufführungen, Konzerte sowie weitere kulturelle Veranstaltungen wie zum Beispiel mittelalterliche Märkte usw. statt. Beliebt ist auch das zwischen Mai und September stattfindende Open-Air-Kino auf der Freiluftbühne im Schlosspark. Gebäude der Kugelherren In der Oberstadt zwischen der Barfüßer- und der Ritterstraße befinden sich in der Kugelgasse zwei Gebäude, die im 15. Jahrhundert im Auftrag des Ordens „Brüder zum gemeinsamen Leben“ erbaut wurden. Die so genannten Kugelherren, die wegen ihrer Kopfbedeckung, der Gugel, so genannt wurden, waren ab 1477 in Marburg ansässig. Möglich wurde der Bau der Gebäude durch eine Schenkung eines reichen Marburgers, des Patriziers Heinrich Imhof. Das Kugelhaus ist ein im spätgotischen Stil erbautes Stift, das 1491 fertiggestellt wurde. Heute ist dort die Völkerkundliche Sammlung des Instituts für Vergleichende Kulturforschung: Religionswissenschaft und Völkerkunde untergebracht. 1527 ging das Haus, in dem auch eine Lateinschule untergebracht war, an die Universität über, nachdem Landgraf Philipp den Orden und die Schule, in der er selbst Schüler war, aufgelöst hatte. Die Universität wollte das Gebäude im Laufe des Jahres 2011 aufgeben; es sollte an die Kugelkirchen-Gemeinde verkauft werden, die darin ein Gemeindezentrum einrichten will. Die Kugelkirche, die 1485 von Johannes Bonemilch von Laasphe geweiht wurde, ist das zweite Gebäude des Ordens. Sie wurde zwischen 1478 und 1520 erbaut. Die Kirche besitzt Spitzbogenfenster und einen Dachreiter. Das Netzgewölbe zieren spätgotische Rankenmalereien. Orgel, Kanzel und Hochaltar stammen aus dem 19. und 20. Jahrhundert. Weitere innerstädtische Bauwerke In der Marburger Oberstadt ist eine große Zahl von Fachwerk-Bauten rund um das historische Rathaus durch ein langjähriges, planmäßiges Restaurierungskonzept erhalten geblieben. Das dreigeschossige Rathaus selbst wurde in den Jahren 1512 bis 1513 unter der Leitung des Wetzlarer Steinmetzes Klaus (der Nachname ist unbekannt) errichtet, der Innenausbau jedoch erst 1526 fertiggestellt. Die Reste einer mittelalterlichen Synagoge oberhalb des Marktplatzes neben dem Haus Markt 23 sind unter einem Glaskubus von außen einsehbar. Die ehemalige Kilianskapelle (heute Kilian) wurde zwischen 1180 und 1200 als Marktkapelle im romanischen Stil erbaut. Nach der Reformation wurde die Kapelle nicht mehr als solche genutzt. Der nicht mehr vorhandene Ostturm wurde 1552 bis 1554 niedergerissen und zum Wiederaufbau der eingestürzten Weidenhäuser Brücke verwendet. Nachdem auch Giebel und Gewölbe abgebrochen worden waren, erhielt der Kilian 1580/81 dann mit einem Fachwerkobergeschoss weitestgehend sein heutiges Erscheinungsbild. Die erstmals 1248 urkundlich erwähnte Grüner Mühle ist eine ehemals als Ölmühle genutzte Wassermühle am Wehr unterhalb der Weidenhäuser Brücke. Ein Werk der Moderne ist die 1954 von Heinrich Lauterbach errichtete Jugendherberge. In der Stadtteilgemeinde Hansenhaus steht seit 1904 eine Bismarcksäule. Dieser 15 m hohe Aussichtsturm wurde nach dem Typenentwurf „Götterdämmerung“ des Architekten Wilhelm Kreis aus rotem Sandstein errichtet, die Baukosten trugen Studenten und Bürger Marburgs. Baubeginn war 1903, durch Änderungen an der Bauausführung wurde der Turm jedoch erst am 21. Juni 1904 eingeweiht. Stadtbildprägend ist ein Anfang der 1970er Jahre im Stil des Brutalismus errichtetes 14-geschossiges Hochhaus, das im Volksmund den Spitznamen Affenfelsen erhielt und aus heutiger Sicht als Bausünde gilt. Brücken Marburg hat durch seine exponierte Lage am engen Flusslauf der Lahn und die vergleichsweise steilen Hänge neben vielen Treppen und den Aufzügen eine Vielzahl an Brücken und Überführungen in seinem Stadtgebiet. Das „Michelchen“, St. Michaelskapelle Unweit der Elisabethkirche inmitten eines ehemaligen Totenhofes liegt die kleine mittelalterliche St.-Michaels-Kapelle, „Michelchen“ genannt. Brüder des Deutschen Hauses erbauten sie 1268 in dem Totenhof, wo die zum Grabe der heiligen Elisabeth gekommenen und in Marburg verstorbenen Pilger und die in ihrem Hospital verstorbenen Pfründner ihre letzte Ruhestätte fanden. In ihr versahen die Ordenspriester ebenso wie in der Elisabethkirche den Gottesdienst. Mehrere zum Besuch der Kapelle ausgestellte Ablassbriefe sind aus dem 13. Jahrhundert bekannt. In der Reformationszeit ging das Michelchen in den Besitz der Stadt über. Als notwendige Arbeiten und Aufsicht unterlassen wurden, verkam es zur Ruine. Nach 1583 wurden Renovierungsarbeiten am Dachstuhl vorgenommen, neue Türen und Fenster eingesetzt sowie eine Kanzel und eine Empore errichtet. Auch die Mauer um den Friedhof wurde erneuert. Heute wird der Totenhof nicht mehr benutzt. Die noch vorhandenen etwa 50 Grabsteine stammen sämtlich aus dem 16. bis 18. Jahrhundert. Sie geben einen Überblick über den Wandel der künstlerischen Auffassung von Figurengrabsteinen der Renaissance über den Inschriftgrabstein des Barock bis zum klassizistischen Grabdenkmal. Restaurierungsarbeiten am „Michelchen“ wurden auch in den Jahren 2009 und 2020/2021 durchgeführt. Heute ist der Totenhof ein Park und Ruhepunkt im Nordviertel von Marburg. „Spiegelslust“ Der Name „Spiegelslust“ geht auf Werner Freiherr von Spiegel zum Desenberg zurück, der im 19. Jahrhundert in Marburg studierte und diesen Platz, der früher „Köhlers Ruhe“ hieß, zu einem Ausflugsziel ausbaute. Der Ort ist seit der Zeit der Romantik ein beliebtes Ausflugsziel und wird bewirtschaftet. Zunächst wurde dort ein Pavillon errichtet, später folgte der Aufbau eines Gasthauses. Dieses blieb bis 1989 Eigentum der Stadt, wurde dann vom damaligen Pächter der Stadt abgekauft und wird bis heute durch diesen bewirtschaftet. „Spiegelslust“ liegt 200 Meter entfernt vom Kaiser-Wilhelm-Turm (nach Wilhelm I.). Der Turm, der auch als Spiegelslustturm bekannt ist, ist ein Aussichtsturm auf den Lahnbergen. 1872 hatte ein Verein Geld gesammelt, um den Turm als Erinnerung an die Reichsgründung und den Deutsch-Französischen Krieg (1870/71) zu finanzieren. In der Nacht vom 12. auf den 13. März 1876 brachte ein Sturm den fast fertigen Turm zum Einsturz. 14 Jahre später wurde das 36 Meter hohe Bauwerk fertiggestellt; die feierliche Einweihung fand am 2. September 1890 statt. Parks Alter Botanischer Garten Wenige hundert Meter südlich der Elisabethkirche liegt am Pilgrimstein der 3,6 Hektar große Alte Botanische Garten der Universität Marburg. 1811 gegründet, beruht bis heute die Einmaligkeit dieses Gartendenkmals auf der gelungenen Verknüpfung eines „Wissenschaftsgartens“ mit der „englischen Gartenkunst“. Noch heute zeigt er wichtige Spuren seiner Geschichte. Diese betrifft sowohl die Geschichte der Gartenkunst als auch die Geschichte der Naturwissenschaften von den Zeiten der „nur“ beschreibenden „Naturgeschichtler“ nach Carl von Linné, dann der „Pflanzengeographie“ Alexander von Humboldts über die Zeit der evolutorischen Erklärungsversuche Charles Darwins oder Ernst Haeckels bis zur Labor-Botanik. Mit der Errichtung der neuen Zentralen Universitätsbibliothek auf dem angrenzenden Streifen zur Elisabethkirche hin und dem Umzug zahlreicher Institute der Universität in die nahegelegenen alten Klinikgebäude soll der Alte Botanische Garten zum Mittelpunkt des geisteswissenschaftlichen „Campus Firmanei“ werden. Botanischer Garten Der Botanische Garten Marburg liegt auf den Lahnbergen. Gegen Ende der 1960er Jahre wurden die naturwissenschaftlichen Fächer der Philipps-Universität Marburg dorthin verlegt, da in der Innenstadt kein Platz für umfangreiche Neubauten vorhanden war. In der räumlichen Nähe zum Botanischen und Zoologischen Institut des Fachbereichs Biologie wurde dort ein vom Landschaftsarchitekten Günther Grzimek geplanter neuer botanischer Garten angelegt und im Jahr 1977 eröffnet. Mit 20 ha ist er einer der größeren botanischen Gärten Deutschlands. Neben einer großen Baumsammlung (Arboretum) hat er eine systematische Abteilung, eine Abteilung mit Heil- und Nutzpflanzen, die Farnschlucht, den Frühlingswald, ein Alpinum und einen Heidegarten. In Schaugewächshäusern mit einer Grundfläche von 1700 m² sind zahlreiche Pflanzen der Tropen und Subtropen zu sehen, darunter die Riesenseerose Victoria amazonica. Der Botanische Garten kämpft seit Jahren gegen die Unterfinanzierung und war mehrfach schließungsbedroht. Die Orchideensammlung musste aus Kostengründen bereits geschlossen werden, für die Rhododendronsammlung ist dasselbe Schicksal zu befürchten. Schlosspark Nach der Aufgabe des Landgrafenschlosses im 17. Jahrhundert wurde das südlich gelegene Gebiet des Schlossbereichs, das zuvor wahrscheinlich als militärisches Übungsgebiet genutzt worden war, zu Gartenland. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts begann die Stadt Marburg die Gartenflächen zu einer Parkanlage umzugestalten. Während des Zweiten Weltkriegs wurden hieraus jedoch Nutzgärten. Gegen Ende des Krieges wurde die Fläche erneut umgestaltet, es wurde ein Rosengarten angelegt. Im Jahre 1981 begann die Umgestaltung zum heutigen Schlosspark. Die letzte umfassende Neugestaltung fand 2009/10 statt. Die Anlage ist nun ein öffentlicher Erholungs- und Freizeitpark auf der Südseite des Landgrafenschlosses. In dem nach wie vor vorhandenen Rosengarten sind heute rund 7000 Rosen in 65 Varietäten zu finden. Unter anderem finden hier auch Veranstaltungen wie bei dem Stadtfest 3-Tage-Marburg statt. Inmitten des Schlossparks liegt eine Freilichtbühne, die für diverse kulturelle Ereignisse genutzt wird. Natur und Freizeit Marburgs Kernstadtgebiet wird im Osten durch die bewaldeten Lahnberge begrenzt. Die Berge im Westen sind mit dem Schloss und der Altstadt bebaut und bewohnt; dahinter liegen der Stadtwald und der Wehrdaer Wald. Im Norden und im Süden werden die Ebenen im Lahntal vorwiegend landwirtschaftlich genutzt. Durch Marburg fließt die Lahn; im Stadtgebiet ist diese nicht schiffbar. Durch die Innenstadt führt ein Lahnnebenarm, der am Wehrdaer Wehr beginnt und in der Mitte der Uferstraße wieder in den Hauptlauf mündet. Im Bereich des Südviertels teilt sich die Lahn ein zweites Mal und bildet hier eine kleine Insel (Auf der Weide). Im Stadtbereich wurden durch umfangreiche Renaturierungsmaßnahmen in den letzten Jahren die Lahnwiesen teilweise in Lahnauen zurückverwandelt. In die Lahn münden zahlreiche kleinere Bäche; die bekanntesten sind der Ketzerbach und der Gefällebach. Über die Lahnberge zieht sich ein gut ausgebautes Netz von Wanderwegen, der überörtliche Lahnwanderweg bietet vom Marburger Rücken aus Panoramablicke in die Täler. Im Norden und Süden befinden sich in Lahnnähe Baggerseen, die überwiegend der Öffentlichkeit zum Schwimmen offenstehen. Auf einer Strecke von sechs Kilometern verläuft entlang des Radwegs an der Lahn der Marburger Planetenlehrpfad. Er wurde 1995 als erster Planetenlehrpfad der Welt eröffnet, der auch blinden Menschen einen Zugang ermöglicht. Am bewaldeten Schlossberg befindet sich das Naturschauspiel „Küssender Hirsch“, eine natürliche Baumformation, die Ähnlichkeit mit einem jungen Hirsch hat, der zärtlich einen Baum küsst. Spezialitäten, kulinarische und andere Der Kräuterlikör „Marburger Nachtwächter“ wird bereits seit 1799 durch eine in der Marburger Oberstadt ansässige Brennerei hergestellt. Seit einiger Zeit wird die Herstellung des „Nachtwächters“ durch eine Firma im Nachbarort Weimar durchgeführt. „Elisabethbräu“, Bier einer kleinen Privatbrauerei „Elisabethkaffee“ (Marburger Weltladen, fair gehandelt) Keramiktassen mit Blindenschrift (Töpferei Schneider in der Oberstadt) Stolpersteine Von den weltweit über 69.000 verlegten Stolpersteinen befinden sich 77 Stolpersteine an 33 Örtlichkeiten Marburgs. Wirtschaft und Infrastruktur Universität Marburg Größter Arbeitgeber der Stadt ist die Philipps-Universität, welche 1527 durch Landgraf Philipp den Großmütigen als erste evangelische Universität gegründet wurde. Durch den auf die Einwohnerzahl gerechnet hohen Anteil an Studenten und Mitarbeitern (25.700 Studierende, 4530 Angestellte ohne Klinikum) entwickelte sich der Spruch: „Andere Städte haben eine Universität – Marburg ist eine“. Dies bringt zum Ausdruck, wie eng verknüpft die Geschichte von Universität und Stadt ist. Die Universität bietet ein überdurchschnittlich breit gefächertes Studienangebot mit vielen außergewöhnlichen Studiengängen. 2018 wurde die neue Universitätsbibliothek eröffnet. Bildung Neben der Philipps-Universität befinden sich in Marburg die Deutsche Blindenstudienanstalt, das Max-Planck-Institut für terrestrische Mikrobiologie und Forschungsabteilungen diverser Pharmafirmen, die aus den ehemaligen Behringwerken hervorgegangen sind. Die Stadt Marburg ist „Korporativ Förderndes Mitglied“ der Max-Planck-Gesellschaft. Die Archivschule Marburg ist eine staatliche Ausbildungsstätte von Archivaren mit Status einer Fachhochschule. Die Technische Hochschule Mittelhessen kooperiert breit mit der Philipps-Universität. Medizinern ist Marburg durch das Universitätsklinikum, das Marburg-Virus, die Gewerkschaft der angestellten Ärzte und besonders durch den Marburger Bund bekannt. In Marburg gibt es diverse Schulen jeder Form, darunter mit der Elisabethschule, der Martin-Luther-Schule und dem Gymnasium Philippinum drei reine Gymnasien sowie den Zweig des beruflichen Gymnasiums an den Kaufmännischen Schulen und der Adolf-Reichwein-Schule. Hinzu kommen die integrierte Gesamtschule am Richtsberg, einige Grundschulen, Haupt- und Realschulen sowie berufliche Schulen. Die Schule am Schwanhof und die Mosaikschule Marburg sind zwei Förderschulen der Stadt Marburg. Mit der Otto-Ubbelohde-Schule verfügt Marburg über die einzige sechsjährige Grundschule Hessens. Bei der Geschwister-Scholl-Schule Marburg handelt es sich um eine „Musikalische Grundschule mit Vorklasse und Betreuungsangebot“. Stark ausgeprägt ist in Marburg die Schullandschaft in freier Trägerschaft. Abgesehen von der Blindenstudienanstalt, gibt es sieben solcher Schulen mit besonderem pädagogischem Profil, die sich nicht in Trägerschaft von Staat und Stadt befinden. Neben Förderschulen sind darunter eine Freie Waldorfschule, eine Montessori-Schule, die sechsjährige Grundschule mit Kindergarten (Freie Schule Marburg) und das Landschulheim Steinmühle, ein Gymnasium und Internat. Zudem hat eines der wichtigsten Zentren für historische Ostmitteleuropa-Forschung, das Herder-Institut, seinen Sitz in Marburg. Unter den Landesbehörden sind das Hessische Staatsarchiv Marburg sowie das Hessische Landesamt für geschichtliche Landeskunde zu nennen. Wirtschaft Die drei größten Arbeitgeber der Stadt sind die Philipps-Universität Marburg, das privatisierte und zum Rhön-Klinikum gehörende Universitätsklinikum Gießen und Marburg und die teilweise zu den internationalen Konzernen CSL Behring, Siemens Healthcare Diagnostics, GSK Vaccines und Biontech (vormals Novartis Deutschland) gehörenden ehemaligen Behringwerke (Pharma- und Medizintechnikbranche). Darauf folgt auf Platz vier die Deutsche Blindenstudienanstalt (Blista). Rund 81,7 Prozent der versicherungspflichtig beschäftigten Arbeitnehmer Marburgs arbeiteten 1998 im Dienstleistungsbereich, 18,1 Prozent im produzierenden Gewerbe. Die höchsten Beschäftigungsanteile in Marburg hatten die Bereiche Gesundheit (Universitätskliniken) und Wissenschaft (Universität, Blista) aufzuweisen. Insgesamt arbeiteten in diesen beiden Wirtschaftszweigen über 10.000 Menschen. Die für eine Stadt dieser Größe recht hohe Zahl von über 300 Restaurants, Gaststätten, Cafés und Kneipen macht die Ausrichtung der Gastronomie auf die Zielgruppe Studenten deutlich. Ansässige Unternehmen In Marburg sind viele Unternehmen ansässig, die in ihrem Tätigkeitsfeld durch Innovationen und Größe in Deutschland und teilweise darüber hinaus hohe Bedeutung haben: Ahrens Kaufhaus AG, CSL Behring GmbH, Deutsche Vermögensberatung AG, Eukerdruck GmbH & Co KG (Tochtergesellschaft von CCL Label), Fritz Herzog AG, GSK Vaccines, Hitzeroth Druck und Medien GmbH & Co KG, Inosoft AG, Sanitätshaus Kaphingst GmbH, Marburger Lederwaren Knetsch GmbH & Co KG, Monette Kabel- und Elektrowerk GmbH, Musik Meyer GmbH, Nano Repro AG, Novartis Deutschland GmbH, Pharmaserv, Sälzer GmbH, Seidel GmbH & Co KG, Siemens Healthcare Diagnostics Products GmbH, Sparkasse Marburg-Biedenkopf, Stadtwerke Marburg, Temmler Pharma GmbH & Co KG (heute Teil der Aenova Group), Vila Vita Rosenpark Hotel, CCP Software GmbH. Die Deutsche Bundespost verlegte 1978 ihre Briefermittlungsstelle nach Marburg. Diese wird auch heute noch von der Deutschen Post AG genutzt. Verkehr Eisenbahn Der Bahnhof Marburg (Lahn) ist Intercity- und ICE-Halt auf der Linie Stralsund–Hamburg–Hannover–Frankfurt–Karlsruhe und im Zweistundentakt an den Fernverkehr auf dieser Linie angebunden. Zudem lässt sich der Bahnhof mit Zügen des Nahverkehrs über die Main-Weser-Bahn in der Relation Kassel–Frankfurt am Main erreichen. In Marburg beginnen die Nebenstrecken der Kurhessenbahn über Frankenberg nach Korbach (Burgwaldbahn) sowie die Obere Lahntalbahn über Biedenkopf und Bad Laasphe nach Erndtebrück. Durch den Mittelhessen-Express, der zwischen Treysa und Frankfurt eingesetzt wird, erhielt Marburg 2007 eine Anbindung ans Rhein-Main-Gebiet in dichterem Takt. Die Verkehrsanlagen, das Empfangsgebäude und das gesamte städtebauliche Umfeld des Hauptbahnhofs werden seit 2010 vollständig umgestaltet. 2015 wurde der fertig umgestaltete Marburger Bahnhof vom Verkehrsverband Allianz pro Schiene als Bahnhof des Jahres ausgezeichnet. Am ehemaligen Südbahnhof war die Marburger Kreisbahn nach Ebsdorfergrund an das Schienennetz angeschlossen. Nach der Stilllegung und der Demontage der Gleise wurde der Bahnhof zum einfachen Haltepunkt Marburg Süd, der vom auf der Main-Weser-Bahn fahrenden Mittelhessen-Express angefahren wird. Von 1903 bis 1911 besaß Marburg zunächst eine von Pferden betriebene, ab 1911 eine elektrische Straßenbahn. Diese wurde 1951 durch Oberleitungsbusse ersetzt, die bis 1968 fuhren. Bundesstraßen Mit dem Auto ist Marburg über die Bundesstraßen 3, 62, 252 und 255 zu erreichen. Weite Teile des Stadtgebiets der Kernstadt Marburg sind seit dem 1. April 2016 Umweltzone und nur für Fahrzeuge mit grüner Plakette frei befahrbar. Die B 3 verläuft quer durch das Stadtgebiet (Stadtautobahn B 3a), größtenteils parallel zur Bahnstrecke. Dadurch wird einerseits das Verkehrsaufkommen in der Innenstadt verringert, andererseits wird die Lärmbelastung durch viele Anwohner kritisiert. Das letzte zwischen der Kreuzung mit der B 62 bei Cölbe und dem Gießener Nordkreuz noch fehlende Ausbauteilstück zwischen Niederweimar und Roth wurde am 11. Mai 2011 in Betrieb genommen. Die Strecke ist nun durchgehend vierspurig befahrbar und dient als Verbindung zum Gießener Ring (A 485) und weiter ins Rhein-Main-Gebiet. Die Arbeiten zum Lückenschluss begannen im Frühjahr 2007, die im gleichen Jahr begonnenen Brückenbauwerke der Unterführung der K 42 bei Wolfshausen und der Überführung der B 255 am Kieswerk von Niederweimar wurden bereits im Jahr 2008 fertiggestellt. Die Errichtung der neuen Lahnbrücke bei Argenstein war im Frühjahr des Jahres 2010 beendet. Busverkehr Der öffentliche Nahverkehr in Marburg wird von den Stadtwerken mit 19 Stadtbuslinien bedient. Tagsüber besteht ein dichter Takt innerhalb der Kernstadt und den näheren Stadtteilen; einige Linien fahren bis in den Abend und bedienen dann nur noch die Kernstadt mit den inneren Stadtteilen. Zusätzlich gibt es Anrufsammeltaxen in Form von Vans und Kleinbussen sowie eine Nachtbuslinie (N8Express), die am Wochenende bis 4 Uhr die Kernstadt bedient. Zu Anfang des 20. Jahrhunderts gab es eine Straßenbahn, die 1951 durch den Oberleitungsbus Marburg abgelöst wurde, bevor auch dieses System 1968 stillgelegt wurde. Heute verkehren Diesel- und seit Anfang 2005 auch Erdgasbusse, darunter spezielle, besonders kleine Busse, die die engen und steilen Straßen in der Oberstadt und am Ortenberg befahren können. Marburg und der Landkreis sind seit 1995 Mitglied im Rhein-Main-Verkehrsverbund (RMV). Zum Fahrplanwechsel im Dezember 2006 wurde eine komplette Neuordnung des Busnetzes vorgenommen, wobei man sich auf die Einführung von drei Hauptlinien bezog, welche vom Hauptbahnhof über die Innenstadt zum Südbahnhof im Fünf-Minuten-Takt verkehren. Die anderen Stadtbuslinien sollen sinnvoll an die Hauptachse anknüpfen und nicht zentral durch die Innenstadt verkehren. Es wurde eine erhebliche Entlastung der Marburger Innenstadt durch dieses Vorhaben erwartet. Marburger Schlossbahn Auf Initiative eines privaten Betreibers sollte seit Anfang Juli 2014 eine privat finanzierte Wegebahn zum Schloss fahren. Da sich die geplante Route kurzfristig als zu steil, um genehmigungsfähig zu sein, herausstellte, startete die Bahn erst Anfang August 2014 mit dem regulären Betrieb von drei Fahrten pro Tag zum Schloss. Seit 2015 fährt die Marburger Schlossbahn von März bis Oktober, Mittwoch bis Sonntag. Seilbahn Überlegungen, die Tallagen der Stadt entweder mit dem Schlossberg oder mit dem Universitäts-Neubaugebiet auf den Lahnbergen durch eine Seilbahn zu verbinden, datieren bereits aus den 1960er Jahren. Seit 2009 wird erneut diskutiert, ob die Innenstadt mittels einer Seilbahn mit dem Standort Lahnberge (Klinikum, Universitätsstandort und Neuer Botanischer Garten) verbunden werden und so der öffentliche Personennahverkehr verbessert werden kann. Bürgermeister Franz Kahle (Bündnis 90/Die Grünen) hatte sich für die Prüfung einer solchen Verbindung ausgesprochen. Die Seilbahnhersteller Leitner AG und Doppelmayr/Garaventa haben im Herbst 2010 bei Informationsveranstaltungen in Marburg die grundsätzliche Machbarkeit einer Seilbahnverbindung dargestellt. Zuletzt hatten sich im Marburger Stadtparlament aber CDU und SPD gegen eine weitere Prüfung, Bündnis 90/Die Grünen, FDP und Teile der Linken für die nähere Prüfung einer Seilbahn ausgesprochen. Das Stadtparlament hat im Juni 2011 ein Verkehrsgutachten zu den Beziehungen Innenstadt/Lahnberge unter Einbeziehung der Prüfung einer Seilbahn beschlossen. Aufzüge Neben Bad Schandau, Engen und Helgoland gehört Marburg zu den deutschen Gemeinden, in denen Aufzüge Bestandteil des öffentlichen Nahverkehrs sind. Besonders zu erwähnen sind der Oberstadtaufzug, der den Rudolphsplatz mit der Reitgasse verbindet, die Aufzüge des Parkhauses Oberstadt vom hinteren Pilgrimstein zur Wettergasse sowie der Aufzug am Ortenbergsteg zwischen Hauptbahnhof und Ortenbergplatz. Medien Einzige regionale Tageszeitung ist heute die Oberhessische Presse mit einer Auflage von über 30.000 Exemplaren. Daneben gab es bis zum 30. September 2010 die Marburger Neue Zeitung, eine Regionalausgabe der Zeitungsgruppe Lahn-Dill mit eigener Lokalredaktion in Marburg und einer Auflage von rund 2.500 Stück. Der kostenlose Marburger Express ist ein Stadtmagazin mit Veranstaltungskalender und erscheint wöchentlich im Marbuch-Verlag des „Marbuchs“ für Neubürger. Der Verlag der Oberhessischen Presse gibt mittwochs mit Marburg extra und samstags mit Mein Samstag (bis Juni 2011 win – Die Wocheninfo) zwei kostenlose Wochenblätter heraus. Aus Gießener Verlagshäusern kommen die Gratis-Wochenzeitungen Mittelhessische Anzeigen-Zeitung am Mittwoch, Marburger Freitagszeitung und Sonntag-Morgenmagazin. Weiterhin existieren freie Medien, unter anderem der freie Radiosender Radio Unerhört Marburg (RUM) und Kirche in Marburg (KIM), ein monatliches Programm der evangelischen und katholischen Gemeinden. Solare Baupflicht In Marburg gilt eine solare Baupflicht für Neubauten (seit 2008) und für Umbauten (seit 2010). Auszeichnungen Die Stadt Marburg sowie ihre Institutionen und Initiativen haben bisher schon viele verschiedene Preise, Auszeichnungen und Ehrentitel erhalten. Marburg war unter anderem schon Hauptstadt des Fairen Handels oder gewann den hessischen Tourismuspreis für den Grimm-Dich-Pfad. Persönlichkeiten Die bekannteste Persönlichkeit und Patronin der Stadt ist die heilige Elisabeth von Thüringen (1207–1231). Auf ihre Hospitalgründung und Armenfürsorge sowie die spätere Heiligsprechung gründet sich die Bedeutung der Stadt. Eine weitere wichtige Gestalt ist Landgraf Philipp der Großmütige (1504–1567), der für die Gründung der Universität verantwortlich ist. Über die Universität kamen in die lange Zeit recht kleine Stadt, die noch zu Anfang des 20. Jahrhunderts lediglich ungefähr 20.000 Einwohner hatte, viele große Persönlichkeiten, als Lehrende der Universität, wie etwa Denis Papin, Ferdinand Sauerbruch, Emil von Behring, Alfred Wegener, Martin Heidegger, Erwin Piscator und Wolfgang Abendroth, ein noch größerer Teil als Studenten. Zu nennen sind etwa die Brüder Grimm, Friedrich Carl von Savigny, Gustav Heinemann, Otto Hahn oder Ulrike Meinhof. Daneben gibt es auch eine Reihe von Persönlichkeiten des Zeitgeschehens, die aus Marburg stammen oder längere Zeit in Marburg gewirkt haben. Hierzu zählen etwa Martin Schneider oder Margot Käßmann. Sonstiges 1906 wurde an der Lahn in der Nähe von Marburg ein rund drei Kilogramm schwerer Meteorit gefunden und als Pallasit klassifiziert. Nur ein kleiner Teil des Fundes ist erhalten geblieben. Im Juni 1958 übernahm die Stadt Marburg die Partnerschaft des Stückgutfrachters Marburg der Hamburg-Amerikanischen Packetfahrt-Actien-Gesellschaft (HAPAG). Siehe auch Literatur Christian Schönholz, Karl Braun (Hrsg.): Marburg. Streifzüge durch die jüngere Stadtgeschichte. Ein Lesebuch 1960–2010. Jonas Verlag, Marburg 2010, ISBN 978-3-89445-437-1. Erhart Dettmering, Rudolf Grenz (Hrsg.): Marburger Geschichte. Rückblick auf die Stadtgeschichte in Einzelbeiträgen. Magistrat der Stadt Marburg, Marburg 1982, ISBN 3-9800490-0-0. Anke Stößer: Marburg im ausgehenden Mittelalter. Stadt und Schloss, Hauptort und Residenz (= Schriften des Hessischen Landesamtes für geschichtliche Landeskunde. 41). Selbstverlag des Hessischen Landesamtes für geschichtliche Landeskunde, Marburg 2011, ISBN 978-3-921254-80-6. Marbuch. 7. Auflage. Marbuch, Marburg 2003, ISBN 3-9806487-1-0 (umfassend, mit Stadtplan). Nils Folckers, Ambros Waibel (Hrsg.): Marburganderlahnbuch. Verbrecher-Verlag, Berlin 2003, ISBN 3-935843-33-X. Wilmfried Brand: Wanderführer Marburg. 2. Auflage. Hitzeroth, Marburg 2005, ISBN 3-89616-195-4. Hermann Bauer: Alt-Marburger Geschichten und Gestalten. Rathaus-Verlag, Marburg 1986, ISBN 3-923820-16-X. Walter Bernsdorff, Jutta Buchner-Fuhs, Gabriele Clement: Marburg in den Nachkriegsjahren. Rathaus-Verlag, Marburg 1998, ISBN 3-923820-65-8. Carsten Beckmann: Marburg und das Marburger Land in den 1950er Jahren. Historische Aufnahmen. Wartberg, Gudensberg 2002, ISBN 3-8313-1033-5. Erhart Dettmering: Kleine Marburger Stadtgeschichte. Pustet, Regensburg 2007, ISBN 978-3-7917-2086-9. I. G. Marburg (Hrsg.): Marburg. Abbruch und Wandel. Städtebauliche Planungen in einer mittelalterlichen Stadt. Jonas Verlag, Marburg 2009, ISBN 978-3-89445-393-0. Arbeitsgruppe des Kunstgeschichtlichen Instituts der Philipps-Universität in Zusammenarbeit mit der Stadtplanungsabteilung der Stadt Marburg (Hrsg.): Die Stadt Marburg. Jonas Verlag, Marburg 1976–1981, (2 Bände). Historistischer Fachwerkbau in Marburg. In: Jahrbuch für Hausforschung. 32, 1981, S. 305–320. Klaus Laaser (Fotograf): Marburg. Laaser, Marburg 2001, ISBN 3-9808062-0-0. Angus Fowler, Dieter Woischke: Marburg 1849–1920. Laaser, Marburg 1989, ISBN 3-9800115-9-3. Ellen Kemp, Katharina Krause, Ulrich Schütte (Hrsg.): Marburg. Architekturführer. Imhof, Petersberg 2002, ISBN 3-935590-67-9. Catharina Graepler, Richard Stumm: Marburg für Kinder. Jonas, Marburg 2008, ISBN 978-3-89445-408-1. Rosa-Luxemburg-Club Marburg (Hrsg.): Marburg rauf und runter – Stadtspaziergänge durch Geschichte und Gegenwart. BdWi-Verlag, Marburg 2013, ISBN 978-3-939864-15-8. Marita Metz-Becker: Hommage an Marburg – Poetische Impressionen durch drei Jahrhunderte. Jonas, Marburg 2014, ISBN 978-3-89445-493-7. Georg Ulrich Großmann: Marburg an der Lahn. Führer durch die Stadt und ihre Geschichte. 7., neu bearb. Auflage. Trautvetter und Fischer, Marburg an der Lahn/ Witzenhausen 1992, ISBN 3-87822-103-7. Georg Ulrich Großmann: Marburg: Stadtführer. 3. Auflage. Imhof, Petersberg 2015, ISBN 978-3-86568-091-4. Sebastian Chwala, Frank Deppe, Rainer Rilling, Jan Schalauske (Hrsg.): Die gekaufte Stadt? Der Fall Marburg: Auf dem Weg zur »Pohl-City«? VSA Verlag, Hamburg 2016, ISBN 978-3-89965-683-1. Kerstin Weigel (Hrsg.): Marburg höchstpersönlich. Jonas, Marburg 2016, ISBN 978-3-89445-537-8. Pia Thauwald: Marburg an einem Tag – Ein Stadtrundgang. 3. Auflage. Lehmstedt, Leipzig 2020, ISBN 978-3-942473-63-7. Heinrich Stürzl, Hans-Peter Ziemek: Kleines Marburg-ABC. Husum, Husum 2022, ISBN 978-3-96717-043-6. Eva Bender, Ruth Fischer und Christoph Otterbeck (Hrsg.): Marburg. Stadtgeschichten 1222-2022. Wallstein, Göttingen 2022. ISBN 978-3-8353-5172-1. Weblinks Fachwerk in Marburg. In: fachwerkfreunde.de, Andy Stützer (Fotos) Anmerkungen und Einzelnachweise Anmerkungen Einzelnachweise Ort im Landkreis Marburg-Biedenkopf Deutsche Universitätsstadt Kreisstadt in Hessen Sonderstatusstadt in Hessen Ehemaliger Residenzort in Hessen Ehemalige kreisfreie Stadt in Hessen Ort an der Lahn Stadt als Namensgeber für einen Asteroiden
Q3869
103.802826
2682965
https://de.wikipedia.org/wiki/Einwanderung
Einwanderung
Menschen, die einzeln oder in Gruppen ihre bisherigen Wohnorte verlassen, um sich an anderen Orten dauerhaft oder zumindest für längere Zeit niederzulassen, werden als Migranten bezeichnet. Pendler, Touristen und andere Kurzzeitaufenthalte fallen nicht unter die Definition von Migration, saisonale Arbeitsmigration wird manchmal mit einbezogen. Überschreiten Menschen im Zuge ihrer Migration Ländergrenzen, werden sie aus der Perspektive des Landes, das sie betreten, Einwanderer oder Immigranten (von lateinisch , „wandern“) genannt. (Aus der Perspektive des Landes, das sie verlassen, heißen sie Auswanderer oder Emigranten.) Die Soziologie bezeichnet Immigration in der Regel als Zuwanderung (sowie Emigration entsprechend Abwanderung). Obwohl das aus dem Lateinischen stammende Wort „Migrant“ wörtlich „Wandernder“ bedeutet, werden auch Zugewanderte, deren Migrationsvorgang abgeschlossen ist, als „Migranten“ bezeichnet, bis aus ihnen sprachlich „Menschen mit Migrationshintergrund“ werden. Auch ihre im Zuwanderungsland geborenen Abkömmlinge werden, vor allem im Zusammenhang von Bevölkerungsstatistiken, als „Menschen mit Migrationshintergrund“ bezeichnet, auch wenn sie selbst an keinem Migrationsvorgang teilgenommen haben. Weltweit wird die Anzahl der Immigranten (d. h. derer, die im Laufe ihres Lebens ihren dauernden Wohnsitz vom Ausland ins Bezugsland verlegt haben) auf 231,5 Millionen geschätzt, das sind 3,25 % der Weltbevölkerung. Migration ist eine bedeutende Änderung im Leben eines Menschen und mit großen, zum Teil lebensbedrohlichen Risiken verbunden (siehe unerlaubte Migration), und zerreißt oft Familienverbände und soziale Strukturen. Das moderne Bild der Immigration ist im Zusammenhang mit den Begriffen Nationalstaaten und Nationalitäten sowie Pässen, Grenzen mit Grenzkontrollen und Staatsbürgerschaftsrecht zu sehen. In vielen Staaten haben Immigranten als Nicht-Staatsbürger im Verhältnis zu Staatsbürgern eingeschränkte Rechte, besonders das Recht auf Niederlassung wird zum Teil streng durch Immigrationsgesetze beschränkt (siehe auch Ausländerrecht). Immigration ohne gesetzliche Erlaubnis oder Verstoß gegen die durch die Form der Aufenthaltserlaubnis gesetzten Grenzen – sogenannte illegale Immigration – kann strafbar sein und führt gewöhnlich zu Festnahme und Verurteilung und/oder zur Abschiebung durch Staatsorgane. Immigranten unterscheiden sich, sofern es sich nicht um Rückwanderer handelt, mitunter von den Einwohnern eines Staates. Dies kann zu Problemen und Spannungen zwischen Immigranten und den alteingesessenen Landesbewohnern führen. Dies ist auch von Kultur, Mentalität und Traditionen (z. B. Gastfreundschaft, Xenophobie), Wirtschaftslage bzw. -aussichten und vielen anderen Faktoren abhängig. Manchmal nehmen Immigranten und Einheimische den gleichen Spannungs- bzw. Problemfall sehr unterschiedlich wahr. In vielen Ländern gibt es seit Jahrzehnten Debatten um Integration bzw. Assimilation und die Effekte von Multikulturalität. Statistiken Nach einem Bericht aus dem Jahr 2006 vom Generalsekretariat der Vereinten Nationen (UNO) über die weltweite Immigration und Entwicklung gibt es weltweit etwa 200 Millionen Einwanderer. Die UNO definiert einen internationalen Migranten als eine Person, die ihren Ort des gewöhnlichen Aufenthalts – verstanden als jener Ort, wo er oder sie die tägliche bzw. wöchentliche Ruhe- und Freizeit verbringt – verlässt und sich in einem anderen Ort in einem anderen Staat niederlässt, so dass dieser der neue Ort des gewöhnlichen Aufenthalts wird. Nach dieser UNO-Definition war der Prozentsatz der Immigranten in ausgewählten Mitgliedstaaten der Europäischen Union (mit Großbritannien) 2014 wie folgt: Wanderungsbewegungen im 20. Jahrhundert Religiöse, kulturelle und politische Verfolgung in vielen Ländern vor allem Europas und des Nahen Ostens führte im 20. Jahrhundert, vor allem in den 1930er Jahren, dazu, dass z. B. Liberale und Juden in offenere Gesellschaften auswanderten, etwa in die Vereinigten Staaten von Amerika, nach Kanada oder Australien. Etwa 12 bis 14 Millionen Deutsche und deutschstämmige Angehörige verschiedener Staaten waren zwischen 1944/45 und 1950 von Flucht und Vertreibung betroffen. Das Ende der Kolonialzeit führte dazu, dass aus überseeischen Kolonien viele Menschen in die (Noch- oder Nicht-mehr-)Kolonialländer kamen, speziell in Metropolen wie London, Paris und Brüssel. Der jahrzehntelange deutsche Wirtschaftsaufschwung nach dem Krieg führte dazu, dass aus Ländern wie z. B. Türkei, Italien, Spanien, Griechenland, Marokko oder Jugoslawien sogenannte Gastarbeiter angeworben wurden (Arbeitsmigration). Durch Familiennachzug nahm die Zahl an Immigranten weiter zu. Gastarbeiter hatten in der Regel befristete Verträge und es war vorgesehen, dass sie nur eine Zeit lang in Deutschland bleiben. Die Mehrheit kehrte daher letztendlich wieder in ihre Herkunftsländer zurück, ein kleiner Teil blieb aber in Deutschland. Dies führte dazu, dass auch nach dem Anwerbestopp 1973 Millionen von Menschen aus den ehemaligen Gastarbeiterländern den Gastarbeitern folgten. Sie suchten in Deutschland Arbeit oder migrierten aus anderen Gründen und blieben in der Regel im Land. Andere westeuropäische Länder schlossen ähnliche Verträge ab. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und bis zum Fall des Eisernen Vorhangs 1989 flüchteten viele Menschen vor politischer Verfolgung aus den Ländern des damaligen Ostblocks in den Westen Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs kamen viele osteuropäische Migranten nach Westeuropa. Nach der Kapitulation Südvietnams 1975 flüchteten in den 20 Jahren darauf über 1,6 Millionen Südvietnamesen auf Booten aus dem Land (sogenannte Boatpeople). Vielen von ihnen gelang es, direkt oder auf Zwischenstationen in ein westliches Land einzuwandern. Infolge des Zerfalls der Sowjetunion kamen Anfang der 1990er Jahre Spätaussiedler nach Deutschland. Aufgrund politischer Ursachen wie Krieg, Umstürze oder politischer Verfolgung beantragten vor allem in den 1980er und 1990er Jahren zahlreiche Menschen aus dem Nahen und Mittleren Osten sowie Afrika unter anderem auch in Deutschland Asyl. Aus Kriegsgebieten wie dem zerfallenden Jugoslawien kamen in den 1990er Jahren Hunderttausende Menschen aus den Balkanländern nach Westeuropa, meist in den deutschsprachigen Raum. Bis zur Gegenwart haben Fluchtbewegungen aus dysfunktionalen oder von Kriegen und Bürgerkriegen betroffenen Ländern Afrikas und des Nahen Ostens (inkl. Afghanistan) in den globalen Norden stark zugenommen, gipfelnd in der Flüchtlingskrise in Europa ab 2015. Einwanderung in verschiedene Länder Es gibt klassische Einwanderungsländer, vor allem die USA, Kanada, die Länder Südamerikas und Australien, in die ein großer Anteil der Bevölkerung erst in den letzten Jahrhunderten eingewandert ist und die bis heute relativ dünn besiedelt sind. Auch in Europa hat es seit jeher große Migrationsbewegungen gegeben, zum Beispiel zur Zeit der Völkerwanderung oder in nachkolonialer Zeit die Migration aus Nordafrika nach Frankreich (nachdem Frankreich 1962 den Algerienkrieg verloren hatte, gab es etwa 1,4 Millionen Pied-noirs; viele von ihnen siedelten 1962 oder bald darauf nach Frankreich um). Andere globale Einwanderungsgebiete (vor allem Binnenmigration) sind die Ostregion Chinas um Shanghai, verschiedene Teile Indonesiens (Transmigrasi), die Kapregion Südafrikas, Israel (Zuwanderung v. a. russischer Juden), Saudi-Arabien und Russland (Rückwanderung ethnischer Russen aus GUS-Staaten). Durch die Einwanderung in die USA hat sich die Zusammensetzung der dortigen Bevölkerung stark verändert. Nach einer Volkszählung von 1790 stammten von den weißen Einwohnern rund 60 Prozent aus England. Zwischen 1850 und 1930 kamen 5 Millionen Deutsche, zwischen 1876 und 1910 rund 3 Millionen Personen aus Österreich-Ungarn in die Vereinigten Staaten. Ab 1882 wurden chinesische Arbeiter von der Einwanderung ausgeschlossen. Einwanderungsrecht Einwanderungswillige sehen sich oft mit Einwanderungsgesetzen ihrer Zielländer konfrontiert, die ihr Vorhaben der Migration gesetzlich regeln. Siehe Artikel Ausländerrecht. Einwanderung nach Deutschland Geschichte Das Gebiet Deutschlands ist aufgrund seiner zentralen Lage in Europa seit Jahrhunderten sowohl Durchgangsland als auch Ziel verschiedener Einwanderergruppen. Das Edikt von Potsdam, auch Potsdamer Toleranzedikt genannt, war ein Toleranzedikt, das am vom preußischen Großen Kurfürsten Friedrich Wilhelm von Brandenburg erlassen wurde. Der Kurfürst – im Gegensatz zur evangelisch-lutherischen Bevölkerungsmehrheit Brandenburgs selbst calvinistischen Glaubens – bot seinen in Frankreich wegen ihrer Religion verfolgten protestantischen Glaubensgenossen, den Hugenotten, freie und sichere Niederlassung in Brandenburg an. Den Flüchtlingen wurden großzügige Privilegien gewährt, unter anderem Befreiung von Steuern und Zöllen, Subventionen für Wirtschaftsunternehmen und Bezahlung der Pfarrer durch das Fürstentum. Viele von ihnen siedelten sich in Potsdam und Berlin an (siehe dazu Hugenotten in Berlin). Als 1620 nach der Schlacht am Weißen Berg die Religionsfreiheit in Böhmen endete, gelangten in Mähren und Böhmen die Protestanten zunehmend unter den Druck der Gegenreformation. Ab 1722 wanderten nach einer Unterstützungszusage des Grafen Nikolaus Ludwig von Zinzendorf eine große Zahl von Sympathisanten der Böhmischen Brüder zuerst aus Mähren kommend nach Sachsen ein. In deren Gepäck befand sich auch das theologische und philosophische Erbe Johann Amos Comenius. Die Exulanten blieben zunächst unter sich und gründeten in Herrnhut 1727 die noch heute bestehende Brüderunität. Konflikte mit und Misstrauen unter der damaligen angestammten Bevölkerung führten jedoch auch zu einer Fortsetzung der Wanderungsbewegung, wodurch sich Gruppen der Herrnhuter Brüdergemeine zunächst in Berlin und später an weiteren deutschen Orten ansiedelten. 1905 lebten mehr als eine Million Ausländer im Deutschen Reich, davon 42 % weiblich. Etwa die Hälfte waren „Österreicher“ (inkl. Tschechen, Slowaken, Galizier und anderer Zuwanderer aus damals zu Österreich gehörenden Ländern), etwa 107.000 „Russen“ (inkl. Polen und andere Zuwanderer aus dem damaligen Russischen Kaiserreich), je um die 100.000 Niederländer und Italiener, 82.000 Ungarn (alle Länder der ungarischen Krone), 63.000 Schweizer, 30.000 Dänen, jeweils etwa 20.000 Franzosen, Briten und Amerikaner (einschließlich Lateinamerikaner), 14.000 Luxemburger, je etwa 12.000 Belgier und Skandinavier, 397 Chinesen, 174 Japaner, 100 sonstige Asiaten (einschl. Türken) und 99 Afrikaner. Durch Flucht und Vertreibung Deutscher aus Mittel- und Osteuropa kamen 1945–1950 rund 6 Millionen Menschen, überwiegend Deutsche, in die spätere Bundesrepublik Deutschland, die rund 15 Prozent der Gesamtbevölkerung Westdeutschlands ausmachten. Eine weitere Migrationswelle setzte in den 1950er, 1960er und 1970er Jahren ein, als im Zuge des „Wirtschaftswunders“ viele Millionen Arbeiter aus Italien, Spanien, Griechenland, Jugoslawien, Türkei, Portugal, Marokko, Tunesien und Südkorea als Gastarbeiter beschäftigt wurden (siehe hierzu auch „Entwicklung in der Bundesrepublik Deutschland“). 1973 wurde ein Anwerbestopp verhängt, die wichtigste Möglichkeit der Einwanderung war nun die Familienzusammenführung. Die nächsten Jahre waren geprägt von erfolglosen Bemühungen der Bundesregierungen von Helmut Schmidt und Helmut Kohl um Begrenzung der Zuwanderung oder Rückführung von ehemaligen Gastarbeitern in ihre Herkunftsländer. Die Mehrheit der Gastarbeiter blieb nur für einige Zeit in Deutschland und kehrte dann wieder in ihre Herkunftsländer zurück. Jedoch blieben auch Millionen von Gastarbeitern langfristig in Deutschland. In den 1980er Jahren wurde die Debatte um Einwanderung vor allem durch teilweise sehr emotionale Auseinandersetzungen um das Asylrecht geprägt. Aufgrund politischer Ursachen wie den Libanonkrieg, den Kriegen in Afghanistan, den Ersten Golfkrieg, Konflikten und Kriegen in Afrika, der Verfolgung von Kurden oder in Folge der Iranischen Revolution oder des Vietnamkrieges (boat people) beantragten vor allem in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre und in den 1980er und 1990er Jahre zahlreiche Menschen in Deutschland Asyl. Dessen aus historischen Gründen sehr großzügige Auslegung ermöglichte nicht nur Kriegsflüchtlingen und politisch Verfolgten, sondern auch Arbeitsmigranten die Einwanderung in die Bundesrepublik Deutschland, die ansonsten stark erschwert worden war. So migrierten aus Ländern wie der Türkei auch nach dem Anwerbestopp 1973 eine große Anzahl an Leuten. Sie erhofften sich meist in Deutschland mehr Wohlstand und höhere Löhne. Viele migrierten aber oft auch aus politischen Gründen wie Unruhen, Umstürze oder der Politik im Herkunftsland. Das von der Bundesregierung 1988 beschlossene Sonderprogramm zur Eingliederung von Aussiedlern, die Öffnungspolitik der sowjetischen Regierung Ende der 1980er Jahre, welche auch die Ausreise einer großen Anzahl von Aussiedlern genehmigte, der Zerfall der Sowjetunion 1991 sowie Armut in Russland und Ukraine führten dazu, dass eine größere Zahl von Menschen aus der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland einwanderten, darunter auch Millionen Spätaussiedler (Menschen deutscher Abstammung), welche Russlanddeutsche genannt werden, sowie Kontingentflüchtlinge „jüdischer Nationalität“, die heute den Großteil der Juden in Deutschland ausmachen. Neben der Sowjetunion kamen vor allem aus Polen ebenfalls viele Aussiedler nach Deutschland. In den 1990ern wanderten auch viele Menschen im Zuge der Jugoslawienkriege aus den Balkanländern nach Deutschland, meist Kosovo-Albaner, Bosnier, Kroaten und Serben. Zunehmende Fremdenfeindlichkeit, eine emotionalisierte Asyldebatte und eine Serie rassistischer Anschläge Anfang der 1990er Jahre führten 1992 schließlich zum so genannten Asylkompromiss, einer deutlichen Verschärfung des Asylrechts. Die Reform des Staatsangehörigkeitsrechts der rot-grünen Bundesregierung Gerhard Schröders aus dem Jahr 2000 kann als Zeichen dafür gelten, dass sich Deutschland als Einwanderungsland und als multikulturelle Gesellschaft zu verstehen begann. Im Gegensatz zur alten Version des Gesetzes aus dem Jahr 1913, das gemäß dem Ius sanguinis die deutsche Staatsangehörigkeit über die ethnische Herkunft bestimmte, nähert sich das neue Gesetz dem Normalfall westeuropäischer Einwanderungsgesellschaften, dem Ius soli und gibt in Deutschland geborenen Einwanderern der zweiten Generation die Möglichkeit der Einbürgerung (so genanntes „Optionsmodell“). Jedoch setzte, ähnlich wie in anderen westeuropäischen Staaten, in diesen Jahren auch eine Debatte um Integration und Integrationsdefizite vor allem muslimischer Einwanderer ein. In den 2000er Jahren migrierten Hunderte Polen nach Deutschland. Die Zahl der Einwanderer nahm aber insgesamt rapide ab. Das EU-Freizügigkeitsgesetz 2005 sowie der EU-Beitritt von Rumänien und Bulgarien 2007 führte dazu, dass zahlreiche Bulgaren und Rumänen nach Deutschland kamen. Seitdem stieg die Zahl der Immigranten wieder stark an. Speziell ab 2015 beantragten Millionen Menschen, meist aus dem Nahen Osten (vor allem aus Syrien), Afghanistan sowie Afrika, in Deutschland Asyl (Flüchtlingskrise). Aus der Sicht des Jahres 2015 bilanziert der „Spiegel“ die typische Haltung Deutscher zum Thema Einwanderung. Er kommt zu dem Schluss, dass die entscheidende Frage sei, „wie viel Diversität die deutsche Gesellschaft am Ende wirklich“ aushalte. Die „Spiegel“-Autoren stellen außerdem fest: „Einwanderer werden in Deutschland weiterhin entweder als Armutsmigranten abgetan oder gefürchtet oder von der Wirtschaft als schnelle, billige Lückenfüller für den Arbeiter- und Fachkräftemangel missverstanden. Viel Gutes kann aus solchen verkürzten Blickweisen nicht folgen.“ Tatsächlich trifft der Topos vom schlecht qualifizierten Zuwanderer nur noch bedingt zu. Die neueste Generation der Zuwanderer nach Deutschland war 2013 durchschnittlich wesentlich besser qualifiziert als Deutsche. Eine wichtige Rolle spielt hierbei die hohe Jugendarbeitslosigkeit in vielen Staaten der Europäischen Union, von der auch viele Hochqualifizierte betroffen sind. Im Januar 2014 stellte Werner Eichhorst, Direktor für Europäische Arbeitsmarktpolitik am „Institut für die Zukunft der Arbeit (IZA)“ fest: „Es gibt keine Anzeichen für eine Zuwanderung in Arbeitslosigkeit oder Armut. Die Arbeitssuchenden, die kommen, finden in der Regel Jobs, ohne einheimische Arbeitskräfte zu verdrängen.“ Statistik Ende 2022 lebten nach Angaben des Statistischen Bundesamtes in Deutschland 13,4 Millionen Ausländer, d. h. melderechtlich registrierte Personen ohne deutsche Staatsangehörigkeit. 2011 war etwa jeder Fünfte der damals 6,9 Millionen Ausländer in der Bundesrepublik geboren. Stand 2022 lebten die Zuwanderer im Durchschnitt seit 14,3 Jahren in Deutschland. Insgesamt hatten laut Mikrozensus 2022 rund 20,2 Millionen Menschen in Deutschland einen Migrationshintergrund, d. h., sie sind nach 1950 in die Bundesrepublik eingewandert oder stammen von diesen Einwanderern ab. Das waren 24,3 % der Bevölkerung. Die Begriffe Ausländer und Migrationshintergrund werden in der Bevölkerung oft synonym verwendet, obwohl beide Begriffe zu unterscheiden sind. Migranten, die die deutsche Staatsangehörigkeit annehmen, gelten vom Zeitpunkt der Einbürgerung an nicht mehr als Ausländer, aber als Personen mit Migrationshintergrund. 2009 wanderten 606.000 Menschen mit ausländischer Staatsangehörigkeit nach Deutschland ein und 579.000 ohne deutsche Staatsangehörigkeit aus. Das entspricht einem Überhang von etwa 27.000 Zuwanderungen. 2011 zogen 958.000 Menschen nach Deutschland zu. 2014 hielten sich in Deutschland 629.000 registrierte Flüchtlinge auf (130.000 mehr als 2013), von denen 338.000 als solche anerkannt sind. Die übrigen registrierten Flüchtlinge sind Asylbewerber und Geduldete. Befürwortern einer Verstärkung der Zuwanderung wird oftmals entgegengehalten, dass diese in vielen Fällen zu einer „Zuwanderung in die Sozialsysteme“ führe. Nach einer Untersuchung der Beauftragten der Bundesregierung für Ausländerfragen ist auch der Zuzug der Familien zu ihren erwerbstätigen Ehegatten zu berücksichtigen. Laut einer Analyse der Stiftung Marktwirtschaft aus dem Jahr 2009 zahlten die meisten Ausländer in Deutschland aufgrund ihres im Vergleich zu deutschen Beschäftigten schlechten Qualifikations- und Lohnniveaus im Laufe ihres Lebens in Deutschland weniger Steuern und Abgaben, als sie an Leistungen erhielten. Der überwiegende Anteil der Einwanderung nach Deutschland nach 1973 (dem Jahr des Anwerbestopps von Gastarbeitern), die sich vor allem über die Familienzusammenführung vollzogen habe, sei in das deutsche Sozialsystem erfolgt: Obgleich die Zahl der Ausländer bis zum Jahr 2000 auf 7,5 Millionen Menschen stieg, stagnierte der Anteil der Erwerbstätigen unter den Ausländern bei rund 2 Millionen. Im Jahr 1974 lag die Erwerbsquote der ausländischen Bevölkerung bei 61,5 %, derjenige der Deutschen nur bei 42,7 %. Heute dagegen kann man – bedingt durch den Familiennachzug und die Differenzierung der Zuwanderung nach dem Anwerbestopp (z. B. Arbeitsmigration, Familiennachzug, Flüchtlinge, jüdische Kontingentflüchtlinge) – von einer Normalisierung sprechen: Bei Deutschen wie bei Ausländern lag die Erwerbsquote im Jahr 2001 bei 49,1 % (Deutsche) bzw. 50,9 % (Ausländer), auch die Alters- und Geschlechtsstruktur hat sich angeglichen. Nach Berechnungen des „Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW)“ aus dem Jahr 2014 zahlt jeder Ausländer in Deutschland pro Jahr durchschnittlich 3300 Euro mehr Steuern und Sozialabgaben, als er an staatlichen Leistungen erhält. Das Plus pro Kopf ist demnach in den vergangenen zehn Jahren um über die Hälfte gestiegen. Durchschnittlich überweise jeder Mensch ohne deutsche Staatsangehörigkeit in seinem Leben 22.300 Euro mehr an den Staat, als er an Transfers erhalte. In Summe profitiere der Sozialstaat in einer Größenordnung von 147,9 Milliarden Euro von den bereits heute in Deutschland lebenden Ausländern. Jeder Bürger könnte dem ZEW zufolge um mehr als 400 Euro jährlich fiskalisch entlastet werden, wenn künftig pro Jahr mindestens 200.000 Zuwanderer nach Deutschland kämen und 30 Prozent von ihnen hoch und weitere 50 Prozent mittel qualifiziert wären. Das ZEW stellt in der oben erwähnten Studie allerdings einschränkend fest, dass Kinder ausländischer Eltern, die 2012 in Deutschland geboren wurden, per saldo den deutschen Staat über den gesamten Lebenszyklus hinweg durchschnittlich ca. 44.000 Euro mehr an Transferzahlungen kosten werden, als sie an Steuern und Sozialbeiträgen zahlen, wenn sie durchschnittlich keine deutlich besseren Qualifikationen erwerben als ihre Eltern. Um zu erreichen, dass Zuwanderer der zweiten Generation das durchschnittliche Qualifikationsniveau der deutschen Bevölkerung erreichen, seien intensivere staatliche Anstrengungen nötig. Zudem würde die gezieltere Steuerung der Zuwanderung „Deutschlands demografische Probleme deutlich entschärfen“, die dazu beitragen müsste, dass Ausländer aufgrund ihrer im Durchschnitt relativ geringen Qualifikation in ihrer aktiven Phase zwischen 20 und 60 Jahren deutlich weniger an Steuern und Abgaben als Deutsche zahlen und so verstärkt dem Risiko ausgesetzt sind, im Alter aufgrund ihrer Altersarmut auf Leistungen aus der Grundsicherung angewiesen zu sein. Per saldo würde es aber ausreichen, wenn 30 Prozent der Kinder ausländischer Eltern, die 2012 in Deutschland geboren wurden, das für Deutsche typische Durchschnitts-Lebenseinkommen erzielen würden (unter der Annahme, dass die übrigen 70 Prozent kein höheres Lebenseinkommen erzielen als ihre Eltern), damit durch diesen Jahrgang von Menschen mit Migrationshintergrund der deutschen Volkswirtschaft durch seinen Daueraufenthalt in Deutschland kein Schaden entsteht. Eine 2019 veröffentlichte Studie der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) bescheinigte Deutschland nur bedingte Attraktivität für ausländische Fachkräfte. Im Vergleich von 30 Industrienationen belegte Deutschland den zwölften Platz, insbesondere aufgrund unterdurchschnittlicher beruflicher Chancen. Die Arbeitslosenquote für zugewanderte Akademiker lag mit sieben Prozent über dem Durchschnitt. Vor diesem Hintergrund gab es auch Kritik am Fachkräfteeinwanderungsgesetz aufgrund komplizierter Regelungen zur Anerkennung von Abschlüssen aus Nicht-EU-Ländern. Herkunftsländer 2012 lebten 10,7 Millionen Menschen aus 194 Ländern in Deutschland, die Mehrheit (7,4 Millionen) davon kommt aus Europa. Wichtigstes Herkunftsland ist nach wie vor die Türkei, gefolgt von Italien und Polen. Fast jeder vierte Ausländer ohne deutsche Staatsbürgerschaft in Deutschland stammt aus der Türkei. Zugleich sinkt die Zahl der Türken in Deutschland seit dem Höchststand von 2,1 Millionen im Jahr 1999 ständig – von damals 2,1 Millionen auf 1,47 Millionen im Jahr 2018. Als Gründe nennen die Statistiker neben Einbürgerungen auch Sterbefälle und Rückkehrer. Mehr als jeder dritte (36 Prozent) Ausländer in Deutschland stammt aus einem der 27 EU-Mitgliedstaaten. Die Zahl der Europäer nahm mit 75.400 (plus 3,2 Prozent) innerhalb eines Jahres auch besonders stark zu. Als Hauptursache nennen die Statistiker Zuwanderung. Den größten Zuwachs gab es mit 21.600 Menschen bei Rumänen, gefolgt von Polen und Bulgaren. 2012 kamen rund 71.000 Bulgaren und Rumänen nach Deutschland. Prozentual gesehen war der Anstieg aus Lettland, Bulgarien und Rumänien am höchsten. Griechenland ist der einzige EU-Mitgliedstaat, aus dem nennenswert weniger Menschen in Deutschland lebten als im Vorjahr (minus 1400). Einwanderungspolitik Rechtlicher Status Das deutsche Einwanderungsrecht unterliegt gewissen Bindungen durch die Vorschriften der Europäischen Union über den Freien Personenverkehr. In Deutschland lassen sich Einwanderer in folgende Gruppen unterteilen: Spätaussiedler, mithin deutsche Volkszugehörige aus deutschen Siedlungsgebieten in Osteuropa, insbesondere aus den heute zu Polen und Russland gehörenden Gebieten (Einwanderungsregelung gemäß Bundesvertriebenen- und -flüchtlingsgesetz (BVFG) von 1953 sowie Aussiedleraufnahmegesetz (AAG) von 1990), Unionsbürger und Angehörige der übrigen Staaten des Europäischen Wirtschaftsraums (EWR) und ihre Familienangehörigen (auch aus Nicht-EWR-Staaten); diese genießen das Recht auf Freizügigkeit nach dem Freizügigkeitsgesetz/EU, ähnliches gilt für Schweizer Bürger nach dem Freizügigkeitsabkommen EG-Schweiz, Arbeitsmigranten aus Drittstaaten (Nicht-EU-Ländern); diese können nach dem Aufenthaltsgesetz als Arbeitnehmer oder Selbstständige einreisen und sich in Deutschland aufhalten; der Zuzug zur Arbeitsmigration ist jedoch stark eingeschränkt, Familienangehörige Deutscher und hier lebender Ausländer, insbesondere Ehepartner und minderjährige Kinder; diese können ggf. nach dem Aufenthaltsgesetz ein Nachzugsrecht erhalten, Studenten; diese können ggf. nach dem Aufenthaltsgesetz ein Aufenthaltsrecht zu Studienzwecken erhalten, Asylsuchende; diese können nach Artikel 16a Grundgesetz und dem Asylverfahrensgesetz einen Flüchtlingsstatus, die Asylberechtigung oder die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, beantragen, Personen, die aus humanitären, politischen oder völkerrechtlichen Gründen ein Aufenthaltsrecht nach dem Aufenthaltsgesetz oder nach Vereinbarungen der IMK (ministerielle Erlasse) erhalten (zumeist ohne Rechtsanspruch); darunter fielen bisher z. B. Bürgerkriegsflüchtlinge, Kontingentflüchtlinge; dieser Personenkreis konnte von 1991 bis 2004 überwiegend aus den Staaten der ehemaligen Sowjetunion in Deutschland aufgenommen werden, Illegale Einwanderer, die keinen regulären Status nach dem Ausländerrecht besitzen. Die Einwanderung von Menschen nach Deutschland, und auch die transnationale Migration, betrifft nicht nur Einzelpersonen, sondern auch Familien: im Zuwanderungsgesetz ist z. B. das Nachzugsalter von Familienangehörigen von Zuwanderern geregelt. Deshalb wird Immigration im 6. Familienbericht der Bundesregierung „Familien ausländischer Herkunft – Leistungen – Belastungen – Herausforderungen“, 2000, als Familienprojekt bezeichnet, das generationsübergreifend stattfindet und nicht in einer Generation abgeschlossen ist. U. a. durch diesen Bericht des Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) aus dem Jahr 2000 ist klargestellt, dass die Bundesrepublik Deutschland ein Einwanderungsland ist und dass die Integration der Immigranten durch den zeitlich nahen Nachzug der Familienmitglieder gefördert und stabilisiert wird. Immigranten haben die unterschiedlichsten Migrations- oder Fluchtgründe und unterscheiden sich etwa in der Absicht, kurz oder länger in Deutschland zu bleiben oder nur durchzuwandern. Seit 1996 gibt es eine Statistik zum Familiennachzug. Diese weist eine Größenordnung von 55.000 bis 63.000 Familienangehörige im Jahr aus. Zwei Drittel des Familiennachzugs sind Ehepartner und etwa ein Drittel sind Kinder (20.000). Verglichen mit der Zahl der primären Immigranten von 649.249 Personen addiert sich die Anzahl eines Zehntels dieser Anzahl durch Familiennachwanderung. „Integrationspolitik muss verstärkt die ‚ganze Familie‛ in den Blick nehmen und diese Perspektive zumindest ergänzend und verstärkend neben die ‚Familienmitglieder-Zielgruppenorientierung‘ setzen, die heute vor allem in der Form von Kinder-, Jugend- und Mädchenprojekten umgesetzt wird“, heißt es im Zwischenbericht zum Projekt „Der soziale Nahraum in seiner Integrationsfunktion für Familien ausländischer Herkunft“ des Deutschen Jugendinstituts, weil die Familien von Immigranten auch einen Lebensraum darstellen, der einer Integration entgegenwirken kann, da sich der Spracherwerb und die Überwindung der kulturellen Fremdheit verzögern können. Gesellschaftliche Akzeptanz Eine Mitte 2019 veröffentlichte repräsentative Befragung von Kantar Emnid im Auftrag der gemeinnützigen Bertelsmann Stiftung attestierte eine weitverbreitete Skepsis gegenüber Zuwanderung. 49 % der Teilnehmenden meinten, Deutschland könne keine weiteren Flüchtlinge mehr aufnehmen (2017 lag der Wert bei 54 %; 2015 bei 40 %). 37 % (2017: 37 %; 2015: 51 %) meinten, Deutschland könne weitere Flüchtlinge aufnehmen. Die Willkommenskultur gegenüber Einwanderern, die in Deutschland arbeiten oder studieren, wurde von den Studienautoren als „robust“ bezeichnet. Sowohl bei Behörden (79 %) als auch bei der Bevölkerung vor Ort (71 %) seien die Einwanderer mehrheitlich willkommen. Insbesondere jüngere Menschen sahen Zuwanderung positiv. Insgesamt stand eine Mehrheit der Befragten den Folgen pragmatisch gegenüber. Einwanderung in die Schweiz In der Schweiz wurde eine Volksinitiative zur Beschränkung der Zuwanderung am 9. Februar 2014 angenommen. Einwanderung nach Österreich Der Aufenthalt von Nicht-Staatsbürgern (juristisch „Fremden“) in Österreich ist staatlich reglementiert. Das Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG) regelt die verschiedenen Typen an Aufenthaltstiteln für Fremde, die sich länger als sechs Monate in Österreich aufhalten wollen. Aufenthalte von weniger als sechs Monaten werden europaeinheitlich durch die Verordnung (EU) 2018/1806 (EU-Visum-Verordnung) geregelt. Das Fremdenpolizeigesetz 2005 (FPG) befasst sich demgegenüber nicht mit Aufenthaltstiteln, sondern mit dem Verfahren: Es regelt die Ausübung der Fremdenpolizei, die Erteilung von Einreisetiteln, die Zurückweisung, die Erlassung von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen, die Abschiebung, die Duldung, die Vollstreckung von Rückführungsentscheidungen von EWR-Staaten und die Ausstellung von Dokumenten für Fremde. Zur alleinigen Einreise von Drittstaatsangehörigen ist ein Schengen-Visum notwendig. Für einen längeren Aufenthalt ist ein Aufenthaltstitel notwendig (Details zu diesen siehe im verlinkten Artikel). Ein Aufenthaltstitel darf nur erteilt werden, wenn der beantragende Fremde über einen angemessenen Wohnsitz, ein festes regelmäßiges Einkommen und eine Krankenversicherung verfügt. Bei Besitz eines Aufenthaltstitels für dauerhaften bzw. längerfristigen Aufenthalt müssen Module der Integrationsvereinbarung absolviert werden. EWR-Bürger und Schweizer Bürger genießen Visumfreiheit und haben das Recht auf ungehinderten Aufenthalt für einen Zeitraum von drei Monaten. Im Rahmen der EU-Personenfreizügigkeit sind diese Fremden zu einem längeren Aufenthalt berechtigt, wenn sie in Österreich beschäftigt, selbstständig oder in Ausbildung sind und über „ausreichende Existenzmittel und einen umfassenden Krankenversicherungsschutz“ für sich und ihre Angehörigen verfügen. Ein solcher Aufenthalt unterliegt der Anzeigepflicht. Einwanderung nach Dänemark → siehe Einwanderung und Einwanderungspolitik in Dänemark seit 1945 Einwanderung nach Frankreich Frankreich besitzt eine lange Zuwanderungsgeschichte: Schon im 19. Jahrhundert wurden Einwanderer aufgenommen, da es im Zuge des Industrialisierungsprozesses, bei gleichzeitig sinkenden Geburtenraten, zu einem Mangel an Arbeitskräften gekommen war. Damit stellte Frankreich in dieser Phase eine Ausnahme in Westeuropa dar. Die meisten anderen Industriestaaten, darunter auch Deutschland, hatten höhere Geburtenraten und waren hauptsächlich Auswanderungsländer. Durch den Rückgang der Bevölkerung infolge des Ersten Weltkriegs verschärfte sich der Arbeitskräftemangel. Um diesen zu beseitigen, schloss Frankreich Anwerbeabkommen mit Italien (1904, 1906, 1919), Belgien (1906), Polen (1906) und der Tschechoslowakei (1920). Zu Beginn der 1930er Jahre war Frankreich – gemessen an absoluten Zahlen – nach den USA das zweitwichtigste Einwanderungsland der Welt. Damals lebten etwa 2,7 Mio. Einwanderer in Frankreich (6,6 % der Gesamtbevölkerung). Außerdem kamen politische Flüchtlinge nach Frankreich, etwa „weiße“ Russen nach der Oktoberrevolution, Armenier und anderen orientalische Christen aus dem Osmanischen Reich nach dem Völkermord von 1915, Italiener nach der Machtübernahme der Faschisten oder Spanier nach dem Spanischen Bürgerkrieg und dem Sieg der Nationalisten Francos. Schon damals war die Einwanderung ein häufig debattiertes und politisch brisantes Thema. Schließlich erließ die Regierung einen Anwerbestopp und versuchte, jede weitere Einwanderung zu verhindern, politische Flüchtlinge aus Spanien wurden etwa in Lagern festgehalten, die später auch vom Vichy-Regime genutzt wurden. Nach dem Zweiten Weltkrieg und während des Wirtschaftsaufschwungs der 1950er und 1960er Jahre (les trentes glorieuses) warb Frankreich erneut Arbeitskräfte vor allem aus Italien, Portugal und Spanien an, ähnlich den Gastarbeitern in Westdeutschland. Im Zusammenhang mit der Unabhängigkeit Algeriens 1962 kam es zu einer umfangreichen Wanderungswelle französischer Siedler (pieds-noirs) und pro-französischer Algerier (Harkis) nach Frankreich. In der Wirtschaftskrise der frühen 1970er Jahre folgte Frankreich dem Vorbild anderer europäischer Länder und stellte 1974 alle Anwerbeprogramme für ausländische Arbeitskräfte ein. Dies führte jedoch nicht zu einer Rückkehr der Einwanderer bzw. einem Rückgang der Einwanderung. Viele Einwanderer blieben in Frankreich und holten ihre Familien nach. Die Familienzusammenführung ist seitdem die zahlenmäßig wichtigste Form der Zuwanderung. Gleichzeitig verstärkte sich die Einwanderung aus den ehemaligen Kolonien infolge der Entkolonialisierung: Es kamen nun Einwanderer von den Antillen, aus dem Maghreb, Schwarzafrika und in geringerem Maße aus Südostasien (Indochina). In den 1980er Jahren entwickelte sich als Reaktion auf verbreiteten Rassismus eine Art Bürgerrechtsbewegung der maghrebinischen Einwanderer, die sich nun selbst als beurs bezeichneten, ein Slangwort für arabe (Araber), es entstanden Organisationen wie SOS Racisme. Die Idee eines multiethnischen und multikulturellen Frankreich, einer société métissé, wurde nun von der politischen Linken besonders betont. In den frühen 1990er Jahren änderte sich die Tendenz der Politik, der konservative Innenminister Charles Pasqua verfolgte das Ziel einer Null-Einwanderungs-Politik (immigration zéro). Zahlreiche Regelungen wurden dabei verschärft. So wurde z. B. die Wartezeit für Familienzusammenführungen von ein auf zwei Jahre verlängert, und ausländischen Absolventen französischer Universitäten war es untersagt, eine Arbeit in Frankreich anzunehmen. Die Einführung der so genannten „Pasqua-Gesetze“ war jedoch heftig umstritten. Die Proteste fanden ihren Höhepunkt 1996 in der Besetzung einer Kirche in Paris durch Afrikaner und Chinesen, die lange Jahre ohne Aufenthaltsstatus in Frankreich gelebt hatten und auf ihre prekäre Situation aufmerksam machen wollten. Tausende von Menschen unterstützten die Protestaktionen der sans papiers, wie man in Frankreich illegale Einwanderer nennt. Unter dem sozialistischen Premierminister Lionel Jospin wurden ab 1997 viele der restriktiven Regelungen zurückgenommen oder abgeschwächt. Zudem wurde ein spezieller Einwanderungsstatus für hochqualifizierte Arbeitnehmer, Wissenschaftler und Künstler geschaffen. Im Jahr 1997 wurde außerdem ein Legalisierungsprogramm für Ausländer aufgelegt, die sich ohne entsprechende Erlaubnis im Land aufhielten. Seit dem erneuten Regierungswechsel im Jahr 2002 und seit der Präsidentschaft von Nicolas Sarkozy 2007 ist eine Rückkehr zu einer restriktiveren Einwanderungspolitik zu beobachten. Heute wohnen viele Immigranten in großen, ab den 1970er Jahren entstandenen Neubausiedlungen (Banlieue) am Rand der Großstädte. Die Integration der Einwanderer, von denen eine Mehrheit die französische Staatsbürgerschaft besitzt, ist nur sehr unvollständig gelungen. Traditionell verfolgte Frankreich eine Politik der Assimilation der Einwanderer, so dass frühere Einwanderergruppen nach einiger Zeit vollständig in der französischen Gesellschaft aufgingen und bei ihren Nachkommen ihre Herkunft nur durch ihre italienischen, spanischen oder polnischen Namen erkennbar ist. Dies stieß nun auf seine Grenzen, da vor allem muslimische Zuwanderer auf ihrer kulturellen Eigenständigkeit bestehen. Gerade die Religion stellt in Frankreich, das eine streng laizistische Politik verfolgt, eine häufige Konfliktursache dar. In den Großstädten haben ganze Stadtviertel einen orientalischen oder afrikanischen Charakter angenommen, oft wird in diesem Zusammenhang von Ghettoisierung gesprochen. Diese „Maghrebisierung“ schürt Überfremdungsängste und Rassismus in der Mehrheitsgesellschaft. Konflikte mit Polizisten sowie deutliche soziale und wirtschaftliche Benachteiligung ließen das Konfliktpotenzial wachsen und führten immer wieder zu offenen Gewaltausbrüchen, so auch zu den Unruhen im Oktober und November 2005. Auch hat die Zahl rassistischer Übergriffe auf islamische und jüdische Einrichtungen – Frankreich hat mit 6 Millionen Muslimen und 600.000 Juden sowohl die größte muslimische als auch die größte jüdische Gemeinde Europas – deutlich zugenommen, Antisemitismus ist auch unter muslimischen Jugendlichen sehr verbreitet. Die Nationalversammlung stimmte am 12. Oktober 2010 einem verschärften Einwanderungsgesetz zu, welches den Entzug der Staatsbürgerschaft für Einwanderer bei schweren Angriffen auf Amtspersonen ebenso wie eine leichtere Ausweisung von EU-Bürgern in bestimmten Fällen vorsieht. In den Worten der taz dürfte Frankreich dann „über die schärfsten Gesetze gegen EU-Bürger innerhalb der Union verfügen“. Diese zielen vor allem auf Romafamilien aus Rumänien und Bulgarien, die als potenzielle Ruhestörer und Kriminelle wahrgenommen werden. Der Wahrnehmung von Einwanderung als Problem steht aber auch ein wachsendes Bewusstsein gegenüber, dass Einwanderung eine Bereicherung der französischen Gesellschaft darstellt. Das 2007 in Paris eröffnete Museums der Geschichte der Einwanderung (Cité nationale de l’histoire de l’immigration) deutet in diese Richtung. Ziel des Projekts ist es zum einen, die Geschichte der Einwanderung nach Frankreich darzustellen. Darüber hinaus soll das Museum auch dazu beitragen, einen Wandel im Umgang mit Zuwanderung zu erreichen: Migration soll unter Betonung ihrer positiven Aspekte immer mehr als Normalität betrachtet werden. Einwanderung nach Großbritannien → siehe Demografie des Vereinigten Königreichs#Migration Einwanderung nach Südafrika Das Staatsgebiet des heutigen Südafrikas war und ist das Zielgebiet für Migranten aus unterschiedlichen Herkunftsregionen. Zu den größten Einwanderungsgruppen im Verlaufe mehrerer Jahrhunderte gehören Bantuvölker, Europäer (Buren, Deutsche, Engländer, jüdische Emigranten) und Indischstämmige. Einwanderung nach Israel → siehe Alija Einwanderung in die USA → siehe Einwanderung in die Vereinigten Staaten Siehe auch Wanderungsbilanz Flüchtlingskrise in Deutschland ab 2015 Flüchtlingsaufnahmegesetz Remigration Literatur Klaus Jürgen Bade Enzyklopädie Migration in Europa: Vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart. 3. Auflage, Fink / Schöningh, Paderborn / München / Wien / Zürich 2010, ISBN 978-3-7705-4133-1 (Fink) / ISBN 978-3-506-75632-9 (Schöningh). Harald Bauder: How Migration Regulates Labor Markets, 2006, New York, ISBN 0-19-518088-7. Paul Collier: Exodus. Warum wir Einwanderung neu regeln müssen. Siedler Verlag, München 2014, ISBN 978-3-88680-940-0. Kien Nghi Ha: Ethnizität und Migration Reloaded. Kulturelle Identität, Differenz und Hybridität im postkolonialen Diskurs. Überarb. und erw. Neuauflage, [Westfälisches Dampfboot/WVB] 1999/2004, ISBN 3-86573-009-4. Gerda Heck: „Illegale Einwanderung.“ Eine umkämpfte Konstruktion in Deutschland und den USA. Edition DISS Band 17, Münster 2008, ISBN 978-3-89771-746-6 (Interview heise online, 10. November 2008). Ulrich Herbert: Geschichte der Ausländerpolitik in Deutschland. Saisonarbeiter, Zwangsarbeiter, Gastarbeiter, Flüchtlinge, C. H. Beck, München 2001, ISBN 3-406-47477-2. Christine Inglis, Wei Li, Binod Khadria (Hrsg.): The SAGE Handbook of international migration. Los Angeles SAGE, 2020, ISBN 978-1-4129-6175-2. Karl-Heinz Meier-Braun: Einwanderung und Asyl. Die 101 wichtigsten Fragen. C.H. Beck, München 2015, ISBN 978-3-406-68355-8. 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Weblinks Themenportal „Migration“ des deutschen Bundesministeriums des Innern Themenportal „Migration“ des DGB Bildungswerks Grafik: Migration in Europa, Ende 2017, aus: Zahlen und Fakten: Europa, Bundeszentrale für politische Bildung/bpb Grafik: Deutschland: Ein- und Auswanderung, 1984–2016, aus: Zahlen und Fakten: Die soziale Situation in Deutschland, bpb Netzwerk Migration in Europa – Initiative von Migrationsexperten, die das Wissen und Verständnis für Migrationen in europäischen Gesellschaften fördern möchte Mediendienst Integration Interaktive dreidimensionale Grafik: Migration, aus Zahlen und Fakten 3D, Bundeszentrale für politische Bildung/bpb Zuwanderung: Ankunft – Akzeptanz – Anteilnahme. Politikwissenschaftliche Auswahlbibliografie der Annotierten Bibliografie der Politikwissenschaft, Oktober 2015, abgerufen am 21. Oktober 2015. Studien Studie: Gezielte Einwanderung ist gut für Deutschland, INSM, 27. August 2015 Migration und Integration in Deutschland. Bibliografie von Dokumenten und Materialien, die im Internet online frei zugänglich sind. Stand: 31. Dezember 2009. Bibliothek des Hessischen Landtags (PDF; 20 MB) Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesagentur für Arbeit analysiert im monatlich erscheinenden Zuwanderungsmonitor Zuwanderung, Beschäftigung und Arbeitslosigkeit verschiedener Personengruppen. Österreich Das Kriterium des ausreichenden Unterhalts im österreichischen Niederlassungsverfahren (Eberwein/Jessner FABL 2/2010-I 60) (PDF; 457 kB) Einzelnachweise Migrationssoziologie
Q131288
411.276775
9105
https://de.wikipedia.org/wiki/Astrologie
Astrologie
Die Astrologie (im 16. Jahrhundert als griechisch astrologia ‚Sterndeutung‘, gebildet aus und ) ist die Deutung von Zusammenhängen zwischen astronomischen Ereignissen bzw. Gestirnskonstellationen und irdischen Vorgängen. Nach modernen Maßstäben ist sie keine Wissenschaft und wird daher als Pseudowissenschaft angesehen (siehe Wissenschaftstheoretische Einordnungen). Sie wurde schon in vorchristlicher Zeit in verschiedenen Kulturkreisen praktiziert, insbesondere in China, Indien und Mesopotamien. Die „westliche“ Astrologie hat ihre Ursprünge in Babylonien und Ägypten. Ihre in Grundzügen noch heute erkennbaren Deutungs- und Berechnungsgrundlagen erfuhr sie im hellenistisch geprägten griechisch-ägyptischen Alexandria. Lange Zeit bildete sie mit der Astronomie eine kaum unterscheidbare Einheit. In Europa hatte die Astrologie eine wechselvolle Geschichte. Nach der Erhebung des Christentums zur Staatsreligion im Römischen Reich wurde sie teils bekämpft, teils ans Christentum angepasst und zeitweilig auch ins Abseits gedrängt. Im Laufe des Frühmittelalters lebte die Astrologie, vor allem die gelehrte Astronomie-Astrologie, im Byzantinischen Reich etwa ab dem späten 8. Jahrhundert erneut auf, wie etwas später auch im muslimischen Al-Andalus auf der Iberischen Halbinsel. Vom späteren Hochmittelalter an und vor allem in der Renaissance bis ins 17. Jahrhundert galt sie in Europa, immer verbunden mit der Astronomie, vielfach als eine Wissenschaft, wenn auch als durchaus umstrittene. Erst im Laufe des 17. Jahrhunderts begannen sich Astronomie und Astrologie stärker zu trennen, und die Astronomie entwickelte sich zur deutungsfreien Beobachtung und mathematischen Erfassung des Weltalls, während die Astrologie in den gebildeten Kreisen Europas ihre Plausibilität verlor. Um 1900 entstand wieder ein ernsthaftes Interesse an der Astrologie, häufig auch im Fahrwasser neuer esoterischer Strömungen wie der Theosophie oder der Okkultismus-Mode ab dem späteren 19. Jahrhundert. Ab dem 20. Jahrhundert verlagerte sich der Schwerpunkt besonders der „westlichen“ Astrologie stark auf die Deutung des Geburtshoroskops des Menschen. Seit den späten 1960er Jahren, ausgehend von der New-Age-Bewegung, hat sie in der westlichen Hemisphäre meist in Form der Geburtshoroskopie und der Zeitungs-Horoskope ein hohes Maß an Popularität erlangt. Wissenschaftlich werden heutzutage vor allem die Entstehung, Entwicklung und Erscheinungsformen der Astrologie erforscht; beispielsweise aus religionswissenschaftlicher, altphilologischer, archäoastronomischer, ethologischer sowie kultur-, mathematik-, medizin- und wissenschaftshistorischer Perspektive, vielfach auch interdisziplinär. Seit den 1960er Jahren wurden Aussagen von Astrologen im westlichen Kulturraum vermehrt empirisch-wissenschaftlich untersucht. Die Ergebnisse aller methodisch korrekten Nachprüfungen zeigen, dass die überprüften Aussagen nicht statistisch signifikant besser zutreffen als willkürliche Behauptungen. Begriff Die heute inhaltlich strenge Trennung von Astronomie/astronomia und Astrologie/astrologia gab es bis in die Spätantike hinein so nicht. Beide Begriffe konnten jeweils die Deutung des angeblichen Effektes der Himmelskörper auf die sogenannte sublunare Sphäre, mithin die Erde, meinen, oder die Himmelsbeobachtung zum Zweck der Erfassung wie Erforschung der Himmelskörperbewegungen. Entsprechend fanden die astrologischen Aspekte der Sternkunde bei antiken Astronomen wie Ptolemäus oder Hipparch Interesse und Anerkennung, was in der Sternkunde mit deutlich abnehmender Akzeptanz teils bis zum Ende des 17. Jahrhunderts noch so blieb. Wann die Trennung zwischen wissenschaftlicher Astronomie und unwissenschaftlicher Astrologie endgültig vollzogen war, ist umstritten. Der Philosoph Siegfried Wollgast nennt die zweite Hälfte des 17. Jahrhunderts, der Altphilologe Stephan Heilen nennt dafür das Zeitalter der Aufklärung, nach Kocku von Stuckrad war der Prozess in letzter Konsequenz erst im 19. und 20. Jahrhundert abgeschlossen. Die Astrologie entstand antik zunächst als Mundanastrologie; seit dem Hellenismus kamen noch vor Christi Geburt die Astrologie-Bereiche der Geburtshoroskopie, der Katarchen-Horoskope für den besten Zeitpunkt eines öffentlichen oder privaten Handlungsbeginnes sowie das sogenannte thema mundi dazu, einer Art „Ur-Horoskop“ für den legendären Zeitpunkt der Welterschaffung. Heute wird unter Astrologie meist nur die Geburtshoroskopie verstanden. Zugrundeliegende Weltanschauungen Die Astrologie beruhte bis ins 18. Jahrhundert vielfach auf der Annahme, dass es einen physikalischen Zusammenhang zwischen den Positionen und Bewegungen von Planeten sowie Sternen und irdischen Ereignissen gebe, häufig unter dem Begriff der so genannten „natürlichen Astrologie“ geführt, die beispielsweise auf das Wetter, die Landwirtschaft und in der Medizin wirken sollte. Auf der anderen, weit weniger eindeutig physikalisch verstandenen Seite stand besonders die Geburtshoroskop-Astrologie mit ihren Auswirkungen auf das Leben der Menschen, die oft den Anspruch erhob, zukünftige Entwicklungen des menschlichen Lebens vorhersagen zu können, und die in ihren Deutungen oft genug tatsächlich oder vermeintlich lange tradierte, weit zurück reichende Astrologie-Erfahrungen wiederholte. Dies geht bei der Geburtshoroskop-Astrologie u. a. auf die Vorstellung zurück, von Makrokosmos (All) und Mikrokosmos (Erde bzw. Mensch) zurück, die als Einheit aufeinander bezogen gedacht werden. Der Mensch als Mikrokosmos sei ein Spiegel des Makrokosmos, es gäbe eine Entsprechung des menschlichen Körpers mit Teilen des Kosmos, und damit ein System gegenseitiger Abhängigkeiten der Teile des kosmischen Organismus. Einige gehen von einer direkten Einwirkung des Makro- auf den Mikrokosmos aus (Wirkungstheorie), andere glauben lediglich an eine Widerspiegelung (Symboltheorie). „Wie oben, so unten“, wie es in der hermetischen Tabula Smaragdina heißt. Diese Weltsicht ist im weiteren Sinne religiöser Natur. In der heutigen westlichen Astrologie lassen sich vier Auffassungen über die Natur astrologischer Aussagen unterscheiden. Die esoterische Astrologie beruft sich auf ein von göttlichen Wesen oder von „Eingeweihten“ mitgeteiltes Wissen. Die symbolische Astrologie setzt ein tradiertes Deutungssystem voraus, in dem astronomischen Gegebenheiten eine Bedeutung in Bezug auf irdische zugeschrieben wird. Daneben wird eine „Astrologie als Erfahrungswissenschaft“ vertreten, die sich um eine empirische Grundlegung bemüht, und schließlich gibt es noch die Einflusshypothese, wonach die astrologischen Planeten auf Lebewesen in einer bislang nicht näher bekannten Weise einwirken. Wissenschaftstheoretische Einordnungen Aus wissenschaftstheoretischer Perspektive können astrologische Lehren, wie sie im Laufe der Antike im östlichen Mittelmeerraum und Orient entstanden, als Protowissenschaft betrachtet werden. Sie basierten seit dem Hellenismus zunehmend auf der Physik des Aristoteles, dass Himmelskörper – die supralunare Sphäre – direkten Einfluss auf den sublunaren Weltbereich der irdischen Atmosphäre mit den vier Elementen ausüben und damit Ereignisse bewirken. Zuvor hatten Astrologen-Astronomen ab etwa dem fünften bis vierten vorchristlichen Jahrhundert begonnen, immer mehr mathematische Modelle bzw. Berechnungen zu entwickeln, um Regelmäßigkeiten in beobachtbaren Naturphänomenen aufzuweisen und voraus berechnen zu können. Da der Zeitpunkt eine entscheidende Rolle spielte, wurden aber schon zuvor seit Jahrhunderten detaillierte Tabellen angelegt, um den Eintritt bestimmter Ereignisse zu prognostizieren, da man zu entsprechenden Berechnungen noch nicht in der Lage war. Zur Bestimmung der Position und Umlaufbahn von Planeten waren z. T. komplexe Berechnungen mit Hilfe der Geometrie und Trigonometrie notwendig. Daher handele es sich bei diesen Praktiken nicht um Aberglauben, sondern um eine Frühform der Wissenschaft. Die Suche nach Regelmäßigkeiten in Naturerscheinungen und deren umfassende Beschreibung in rationaler Form ist ein typisch wissenschaftliches Programm. Daher sah auch der Philosoph Ernst Cassirer (1925) in der Astrologie eine prinzipiell wissenschaftliche Denkform. Sie verwende Erklärungen, . Die Astrologie sei damit eine zur neuzeitlichen Naturwissenschaft ebenbürtige Weltbeschreibung, die auf einem ganz anderen „Weltbegriff“ beruhe, und deshalb sei eine Falsifikation der Astrologie gerade aus wissenschaftstheoretischer Sicht nicht möglich. Karl Popper unterschied Anfang der 1950er Jahre zwischen Wissenschaft, Pseudowissenschaft und Metaphysik im Rahmen des von ihm begründeten Kritischen Rationalismus, der die Wissenschaftstheorie bis in die 1970/1980er Jahre, in der Hochmoderne, stark prägte. Der Fall Astrologie stellt nach Popper ein übliches Unterscheidungsmerkmal in Frage: Oft werde argumentiert, dass sich Wissenschaft von Pseudowissenschaft oder Metaphysik dadurch abgrenze, dass sie eine empirische Methode verwende, die von Beobachtungen und Experimenten ausgeht. Dies treffe aber auch auf die Astrologie zu, die eine stupende Masse von empirischen, auf Beobachtung basierenden Belegen sammle und dennoch nicht wissenschaftlichen Standards genüge. Für Popper lag das daran, dass Astrologie (darin in seiner Sicht der Psychoanalyse ähnlich) eher wie ein „Mythos“ funktioniert, der nach Bestätigung seiner Überzeugungen sucht, statt Hypothesen ergebnisoffen an der Wirklichkeit zu testen. Astrologen seien beeindruckt und fehlgeleitet von dem, was sie für Bestätigungen ihrer Annahmen halten. Mehr noch, sie formulierten ihre Interpretationen und Prophezeiungen so vage, dass alles, was als Widerlegung gelten könnte, leicht wegargumentiert werden könne. Das zerstöre die Testbarkeit der Theorie, die dadurch nicht falsifizierbar sei. So sei auch nicht die Herleitung aus archaischen Mythen das wesentliche Problem der Astrologie – das gelte für alle wissenschaftlichen Theorien –, sondern dass sie sich nicht in Richtung einer Testfähigkeit entwickelt habe. In diesem Sinne sei die Astrologie in der Vergangenheit aus den falschen Gründen kritisiert worden: Anhänger von Aristoteles und andere Rationalisten, bis hin zu Isaac Newton, hätten vor allem die Annahme der planetarischen Wirkung auf terrestrische Ereignisse angegriffen. Dabei basiere sowohl Newtons Theorie der Schwerkraft als auch die Gezeiten­theorie im Kern auf astrologischen Denktraditionen. Während dieser Umstand bei Newton großen Widerwillen ausgelöst habe, habe Galileo Galilei die – heute allgemein anerkannte – Gezeitentheorie aufgrund ihrer historischen Wurzeln komplett abgelehnt. Für Popper war Astrologie somit eine Pseudowissenschaft (Scheinwissenschaft), da sie zwar induktiv und empirisch vorgeht (und damit wissenschaftlichen Anschein erweckt), sich aber systematisch ihrer Überprüfung entzieht und damit den wissenschaftlichen Anschein nicht einlöst. Thomas S. Kuhn wendete ab den späteren 1960er Jahren gegen Poppers Argumentation ein, dass weder die Vorhersagemethoden noch der Umgang mit Falschprognosen die Astrologie aus dem wissenschaftlichen Kanon ausschließe. Astrologen hätten von jeher die epistemologischen Probleme ihres Vorgehens reflektiert, auf die Komplexität und Fehleranfälligkeit ihrer Methoden hingewiesen und unerwartete Ergebnisse diskutiert. Für ihn ist Astrologie aus einem anderen Grund keine Wissenschaft: Astrologie sei ihrem Wesen nach eher praktisches Handwerk, darin dem Ingenieurswesen, der Meteorologie oder der frühen Medizin ähnlich. So gab es Regeln und Erfahrungswissen, aber keine übergeordnete Theorie. Im Mittelpunkt stand Anwendung, nicht Forschung. Ohne theoriegeleitete Problemlösung habe die Astrologie keine Wissenschaft werden können, selbst wenn die Annahme richtig gewesen wäre, dass die Sterne das menschliche Schicksal bestimmen. Auch wenn Astrologen testbare Vorhersagen trafen und feststellten, dass diese nicht immer zutrafen, bildeten sie keine wissenschaftstypischen Strukturen aus (Normalwissenschaft). Für Paul Feyerabend war in den 1970er Jahren weder die mangelnde Testfähigkeit noch die fehlende Problemlösungsabsicht das Kernproblem der Astrologie, sondern deren fehlende Weiterentwicklung. So habe die Astrologie sehr interessante und fundierte Ideen gehabt, diese aber nicht konsequent fortgeführt und auf neue Bereiche übertragen. Der Philosoph und Wissenschaftstheoretiker Paul R. Thagard versuchte 1978 eine Synthese der bisherigen Abgrenzungsversuche. Er suchte ein komplexes Kriterium, das neben den logischen Erwägungen Poppers auch die sozialen und historischen Gesichtspunkte Kuhns und Feyerabends einbezieht. In Abgrenzung zu Popper und in Übereinstimmung mit Kuhn und Feyerabend verwies Thagard auf die „Progressivität“ einer Theorie. In seiner Definition ist eine Theorie oder Disziplin, die beansprucht, wissenschaftlich zu sein, dann pseudowissenschaftlich, wenn sie über einen längeren Zeitraum weniger progressiv ist als alternative Theorien und zugleich zahlreiche ungelöste Probleme beinhaltet. Weitere Merkmale sind: Die Vertreter der Theorie unternehmen wenige Versuche einer Weiterentwicklung, bereinigen nicht konkrete Widersprüche, setzen die Annahmen ihrer Theorie nicht in Beziehung zu anderen Theorien und gehen selektiv mit möglichen Widerlegungen um. All dies sei bei der Astrologie der Fall, weshalb er sie als Pseudowissenschaft bezeichnet, und damit lasse sich an ihrem Beispiel eine allgemeine Abgrenzungsmatrix entwickeln. Heute schätzen Wissenschaftstheoretiker und Wissenschaftler astrologische Lehren fast durchgehend nicht als Wissenschaft ein, allerdings mit unterschiedlichen Begründungen und Zuordnungen. Astrologische Lehren stellen ein klassisches Fallbeispiel dar für die moderne Suche der Wissenschaftssphäre nach eindeutigen und umfassenden, aber doch möglichst wenigen und sicheren Unterscheidungskriterien von Wissenschaft und Nicht-Wissenschaft. Der Astronom Joachim Herrmann definiert sie als einen zu einem System entwickelten Glauben an einen Einfluss der Gestirne auf die Menschen, der nicht stichhaltig sei. Der Theologe Werner Thiede versteht Astrologie „als Funktionalisierung astronomisch-quantitativer Beobachtungen und Berechnungen zugunsten einer kosmisch- und anthropologisch-qualitativen Deutung der Gestirne“, die von „der Allverwobenheit aller Dinge und einem damit zusammenhängenden, auch magische Vorstellungen begünstigenden Analogiedenken ausgeht“. Der Altphilologe Wolfgang Hübner nennt die Astrologie „falsche Lehren“, die in ihrer Mischung aus Mythos und Rationalität trotz allem die Zeiten überdauert hätten. Martin Mahner, ein Vertreter der Skeptikerbewegung, reiht die Astrologie in die Pseudotechnologien ein, da sie eine angewandte Disziplin sei. An anderer Stelle nennt er sie eine Nicht-Wissenschaft und zeigt ihre mögliche Einordnung als Parawissenschaft bzw. Paratechnologie auf. Der Philosoph Massimo Pigliucci bezeichnet die Astrologie als „fast perfektes Beispiel für Pseudowissenschaft“ bzw. als „Unsinn“ („bunk“), da ihre Grundannahmen mit den Naturwissenschaften nicht in Einklang zu bringen seien und sie in der Praxis nachgewiesenermaßen nicht funktioniere. Laut dem schwedischen Philosophen Sven Ove Hansson besteht, ganz unabhängig davon, wie man das Demarkationsproblem zwischen „echter“ Wissenschaft und Nicht-Wissenschaft bzw. Pseudowissenschaft löst, große Einigkeit darüber, dass Astrologie, ebenso wie Kreationismus, Homöopathie, Präastronautik, Holocaustleugnung und Klimawandelleugnung eine Pseudowissenschaft ist. Einige Wissenschaftstheoretiker schätzen das Demarkationsproblem selber dagegen als Pseudo-Problem ein. Entsprechend wird in manchen wissenschaftlichen bzw. wissenschaftstheoretischen Publikationen die Astrologie beispielsweise eine Kunstlehre oder auch Nicht-Wissenschaft genannt, aber nicht mehr eine Pseudo-Wissenschaft. So wird in der Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie die Astrologie als „stark umstrittene Kunstlehre“ bezeichnet. Der Astronom Jürgen Hamel nennt sie lediglich eine „Lehre“ und bekräftigt ihre Nicht-Wissenschaftlichkeit. Geschichte der westlichen Astrologie Vorläufer der Astrologie: Sinnvollerweise unterscheidet man zwischen der 'klassischen' Astrologie, die hauptsächlich im Hellenismus bzw. Ptolemäerreich ab dem 3. Jahrhundert v. Chr. entstand, und Vorformen wie z. B. Astralkulte für Sonne, Mond und Venus sowie weitere Himmelskörper samt ihren Kult-Anlagen und -Gegenständen, Astralmythologien, Kult-Kalender, astrale Divinationen etc. Sie waren vor- und frühgeschichtlich wie antik weit verbreitet. Mesopotamien, der Einfluss Ägyptens und Antike Für Mesopotamien bzw. besonders Babylonien können drei Phasen unterschieden werden. Die Omen-'Astrologie' mit einer Blütezeit etwa zwischen dem 14. und dem 7. Jahrhundert v. Chr., die Anfänge einer Astrologie-Vorform mit dem noch unvollständigen Tierkreis etwa im 6. Jahrhundert v. Chr. und die erste Entwicklung eines astrologischen Systems ab dem 5. Jahrhundert v. Chr. mit den zwölf Tierkreiszeichen, berechneten Planetenpositionen und omenartiger Deutung individueller Geburtskonstellationen. Östlicher Mittelmeerraum: Im Alten Ägypten entstand gegen Ende des 3. Jahrtausends v. Chr. als Vorform der Astrologie mit den Dekan-Sternen bzw. den 36 Dekan-Göttern und Auf- und Untergängen am Horizont eine umfangreiche Bewertung günstiger und ungünstiger Tage. Die 36 Dekane wurden wohl im ptolemäischen Ägypten mit dem ebenfalls 360° umfassenden, babylonischen Tierkreis kombiniert. Daraus entstand vermutlich zunächst die Lehre vom bei Geburt am Ost-Horizont aufsteigenden „Tierkreis-Dekan“, bald darauf vom aufsteigenden Tierkreis-Grad, dem Horoskop-Aszendenten. Die griechische Kultur übernahm ca. ab dem 6. Jahrhundert v. Chr. Elemente der babylonischen Astronomie. Die babylonische Omen-Astrologie und ihre Elemente waren nicht mit übernommen worden. Nach den Eroberungszügen Alexanders des Großen im 4. Jahrhundert v. Chr. breiteten sich viele östliche Mysterienreligionen in der hellenistischen Welt aus, mit diesen waren oft astrologische Lehren verbunden. In den beiden Jahrhunderten vor und nach der Zeitwende bildete sich vor allem in Ägypten bzw. Alexandria das System der klassischen bzw. Hellenistischen Astrologie heraus. Elemente der klassischen Astrologie: die zwölf Tierkreiszeichen, genaue Zeichenposition der Planeten mit Sonne und Mond, Planeten-Erhöhungen in bestimmten Zeichen; Konzept der 36 Dekane, mit dem aufsteigenden Dekan am Ost-Horizont, aus dem sich die Idee des Aszendenten entwickelte; die vier Elemente, „männliche“ und „weibliche“ Zeichen, Zeichen-Herrschersystem (z. B. der Mond „herrscht“ über das Zeichen Krebs), Planetenstunden; die zwölf Horoskophäuser, Planeten-Aspekte, die „pars fortuna“ oder der „Glückspunkt“, das jährliche Solar-Horoskop, eine stundenastrologische Methode mit dem Begriff „Katarchen-Horoskope“ (Wahl eines astrologisch günstigen Zeitpunktes). In Rom erlangte die Astrologie ab dem ersten nachchristlichen Jahrhundert eine große Popularität in allen Bevölkerungsschichten. Der Einfluss der Astrologie bzw. von Astrologen am Kaiserhof hatte im Laufe des 2. Jahrhunderts allerdings wieder nachgelassen. Die Vorstellung, dass die Bewegungen der Planeten das Schicksal der Menschen vollkommen bestimmten, galt zu dieser Zeit weithin als plausibel. Eine philosophische Rechtfertigung erfuhr die Astrologie vor allem aufgrund der Stoa mit ihrem Fatalismus. Alle Philosophenschulen der Antike griffen die Astrologie auf mit Ausnahme des Epikureismus. Dennoch gab es immer auch Widerstände. Marcus Tullius Cicero etwa referiert in seinem 44 v. Chr. entstandenen Werk De divinatione die skeptischen Argumente der mittleren Akademie und des Stoikers Panaitios: Ganz offenkundig teilten Zwillinge, die doch dasselbe Geburtshoroskop hätten, nicht dasselbe Schicksal; und Menschen, die dasselbe Schicksal erlitten, hätten ganz unterschiedliche Horoskope. Angesichts der nahezu unendlichen Entfernung der Himmelskörper von der Erde sei es nicht plausibel, ihnen einen wesentlichen Einfluss zuzubilligen; wichtiger als die Gestirne seien immer die Erbanlagen der Eltern. Daher bezeichnet Cicero die Astrologie als eine , einen „unglaublichen Unsinn“. Sextus Empiricus, ein Vertreter der pyrrhonischen Skepsis des 2. Jahrhunderts, sah die Astrologie in einem Trilemma: Ereignisse geschähen entweder aus Notwendigkeit oder aus Zufall oder durch menschliches Handeln. Wenn sie notwendig einträfen, sei die Astrologie nutzlos, weil sich auch durch das Vorwissen, das sie vermittle, nichts ändern ließe. Wenn Ereignisse aber zufällig oder von Menschen beabsichtigt einträfen, sei die Astrologie unmöglich, weil sie dann nicht vorhersehbar seien. Das frühe Christentum befand sich in einem Zwiespalt gegenüber der Astrologie, da nach Auffassung vieler Kirchenlehrer die Vorherbestimmung des Schicksals dem freien Willen als unbedingter Voraussetzung (conditio sine qua non) des christlichen Glaubens widerspricht, andererseits ein astronomisches Ereignis mit einer astrologischen Aussage bezüglich der Geburt Christi verbunden wurde. So verschwand die Astrologie nach Erhebung des Christentums zur Staatsreligion des Römischen Reiches im 4. Jahrhundert zunehmend aus der gelehrten Wahrnehmung wie Öffentlichkeit. Astrologische Anschauungen wurden fortan christlich überformt und die Beschäftigung mit der Astrologie verlagerte sich in persische, mesopotamische und muslimische Kulturräume. Infolge der Schwächung und Auflösung des Weströmischen Reiches im 5. Jahrhundert versiegte in diesen Territorien die Astrologie als ausgeübte und gelehrte Tradition weitgehend. Im Oströmischen Reich bzw. Byzanz blieb die Astrologie erhalten, wenngleich geschwächt bzw. von großen Schwankungen auch in der späteren, allerdings ab dem 7./8. Jahrhundert herkömmlich schon dem Mittelalter zugerechneten Geschichte von Byzanz geprägt. Der Komplex bzw. Teile der Hellenistischen bzw. klassischen Astrologie selber wurden wohl bereits ab dem 2. Jahrhundert n. Chr. z. B. nach Indien weiter vermittelt und ab dem 3. Jahrhundert im großpersischen Sassanidenreich aufgenommen. Das neue muslimisch-arabische Reich wiederum rezipierte bzw. übersetzte nach der Eroberung des Sassanidenreiches im 7. Jahrhundert offenkundig vielfach das dort vorgefundene astrologische Gedankengut hellenistischer, persischer und indischer Herkunft. Byzantinisches Reich Byzantinisches Reich: Die Kultur und das geistige Leben des Byzantinischen Reiches kann noch vor dem lateinischen-christlichen Europa als der unmittelbare, christliche Erbe der spätantiken, hellenistischen Astrologie im mittelalterlich-christlichen Raum betrachtet werden. Mit der astrologischen Blütezeit im benachbarten islamisch-arabischen Orient wurde die dortige Astrologie, inklusive der rezipierten hellenistischen oder klassischen Astrologie-Werke, vielfältig im konkurrierenden Byzantinischen Reich rezipiert. Während der byzantinischen Geschichte schwankte das Interesse an der Astrologie-Astronomie sowie ihre Ausübung erheblich. Einen Höhepunkt erreichten Praxis und Lehre während der Makedonischen Renaissance im 9./10. Jahrhundert. Im 11. und 12. Jahrhundert fand erneut ein Aufschwung während der Komnenen-Dynastie statt. Für die byzantinische Palaiologen-Dynastie (13.–15. Jh.) kann eine weitere Blütezeit der Astrologie festgestellt werden, an welcher auch der kaiserliche Hof in Konstantinopel mitbeteiligt war. Im späten 14. Jahrhundert sind gleich zwei Gelehrte und Astronomen-Astrologen, Johannes Abramios und Eleutherios von Elis, in einem Kreis weiterer Schüler und Astrologen, wohl u. a. in Konstantinopel wirkend, durch verschiedene, teils umfangreichere Handschriften greifbar. Mittelalter In der mittelalterlichen Periode der Astrologie zwischen Antike bzw. Spätantike, mit ihrer klassischen, hellenistischen Astrologie, und der Neuzeit dominierten in der astrologischen Praxis und Lehre die Fragehoroskope und „Elektionen“ – Wahl eines astrologisch günstigen Zeitpunktes für ein Vorhaben – aus dem Bereich der so genannten Stundenastrologie sowie mundanastrologische Themen. Die Deutung von Geburtshoroskopen war im Hochmittelalter eher selten bzw. kaum möglich. Im Mittelalter wurde die spätantike Astrologie vor allem im islamischen Kulturbereich weiter gepflegt unter Rezeption besonders der hellenistischen Astrologie sowie indischen und wie auch persisch-sassanidischen Astrologie-Elementen. Die arabisch-islamische Astrologie erlebte im Orient eine Blütezeit bis ins 11. Jahrhundert. Schließlich kam mit der Eroberung von Bagdad (1258) und des arabisch-islamischen Kalifenreich durch die Mongolen u. a. die breite Lehre und Ausübung der 'wissenschaftlichen' und Hof-Astrologie vielfach zum Erliegen. Doch vor allem während der arabisch-islamischen Herrschaft auf der Iberischen Halbinsel (8.–15. Jh.), Al-Andalus genannt, und der einsetzenden christlichen Rückeroberung wurden u. a. zahlreiche Astrologie-Texte z. B. in Toledo durch Übersetzungen ab dem 12. Jahrhundert nach und nach von Südeuropa her im hochmittelalterlichen, christlichen Europa rezipiert, was ab dem 13. Jahrhundert zu einer ersten europäischen Blüte der Astrologie führte. Leistungen der arabischen Astrologie: verbesserte, präzisere Planetentafeln – die Ephemeriden Weiterentwicklung der sogenannten Katarchen-Astrologie zur noch heute verwendeten Stundenastrologie mundanastrologische Geschichtsbetrachtung, besonders mit der so genannten Großen Konjunktion Wiederkehrhoroskop bzw. Solar-Horoskop für den genauen Zeitpunkt der Sonnen-Wiederkehr auf die exakte Position der Geburts-Sonne Verwendung und Deutung der so genannten Mondhäuser aus indischer Herkunft. Weil bis in die Spätantike hinein astrologische Werke fast ausschließlich auf Griechisch verfasst wurden, war die eigentliche Astrologie im lateinisch-christlichen Europa bis ins Hochmittelalter unbekannt. Ein weiterer Grund hierfür war ihre Verdammung durch die Kirche. Einfache, laienastrologische Formen aus dem Komplex der Astrologie, wie beispielsweise schlichte Tierkreiszeichen-Deutungen vor allem im Rahmen einer Adaption an christliche Lehren, prägten bis weit ins Hochmittelalter die zunächst wenigen und meist zaghaften Anwendungen astrologischer Herkunft. Astrologische Prognosen und Deutungen, Anwendungen wie Methoden auf Basis einer gelehrten, wissenschaftlichen Astrologie in Verbindung mit den dafür notwendigen mathematisch-astronomischen Kenntnissen sind erst ab dem 12. Jahrhundert im lateinisch-christlichen Europa greifbar. Dies geschah vor allem in Folge der arabisch-islamischen Herrschaft auf der Iberischen Halbinsel (8.–15. Jh.) und der einsetzenden christlichen Rückeroberung. In diesen Zusammenhang wurden u. a. zahlreiche Astrologie-Texte z. B. in Toledo durch Übersetzungen ab dem 12. Jahrhundert nach und nach im hochmittelalterlichen, christlichen Europa rezipiert, mit einer ersten Astrologie-Blüte im 13. Jahrhundert. Ab der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts verbreitete sich die gelehrte Astrologie im lateinischen Europa von Süden her allmählich in den zahlreich entstehenden größeren Städten aus, in Norditalien vielleicht sogar von Sizilien ausgehend, wo in Forlì mit Guido Bonatti der vermutlich bekannteste und vielfach noch weit später zitierte Astrologe/Astronom des 13. Jahrhunderts praktizierte. Das lateinisch-europäische Spätmittelalter mit wachsender Bevölkerung, steigender Wirtschaftsleistung und weiteren Gründungen von Universitäten und städtischen Gymnasien verstärkte die Nachfrage und Verbreitung wie eigenständige Weiterentwicklung der Astronomie/Astrologie. Als Teil des Quadriviums der sieben freien Künste hatte sie einen festen Platz im Bildungsgang der Universitäten. Ging es um Astrologie im heutigen (westlichen) Sinne, so nannte man sie im lateinischen, westlicheren Europa des Spätmittelalter und der Frühen Neuzeit meist astrologia divinatoria („prophezeiende Astrologie“), astrologia superstitiosa („weissagerische“ oder „abergläubische Astrologie“) oder astrologia iudicaria („urteilende Astrologie“). Einen weiteren, merklichen Anstoß erfuhr die Astrologie im Übergang von Spätmittelalter zur Frühen Neuzeit ab dem Renaissance-Humanismus. Typischerweise rückte entlang dieser Entwicklung das Individuum mitsamt einer stärker antikisierenden-pantheistischen Weltsicht mehr in den Mittelpunkt, sodass die Erstellung und Deutung von Geburtshoroskopen deutlich zunahm. Renaissance und kopernikanische Wende Im Renaissance-Humanismus und in der Renaissance erlebte die gelehrte Astrologie eine weitere Blütezeit, die bis in das späte 17. Jahrhundert andauerte. Sie wurde vor allem an Höfen und an Universitäten gepflegt, wo sie mit der Astronomie und der Medizin verknüpft war. Der Schwerpunkt lag zunächst in Italien. Von Italien aus verbreitete sie sich dann in ganz Europa. Es gab aber auch bereits Widerstände: Der italienische Philosoph Giovanni Pico della Mirandola (1463–1494) verfasste zwölf Bücher Disputationes adversus astrologiam divinatricem, in denen er die Schicksalsgläubigkeit der Astrologie (in ihrer Ausprägung als astrologia divinatoria) scharf kritisierte. Die Erfindung des Buchdrucks im späten 15. Jahrhundert beschleunigte die Verbreitung und Häufung sowie Verbesserung astrologischer Werke und Lehrwerke wie Ephemeriden stark. Nun setzte die Produktion zahlreicher populär-astrologischer Schriften wie Vorhersagen, Jahresprognosen, Almanachen und Darstellungen der astrologischen Medizin ein. Zur Entwicklung der Renaissance-Astrologie trug bei, dass antike Schriften wiedergefunden wurden, die im Mittelalter unbekannt gewesen waren, und dass arabische und mittelalterliche Schriften in gedruckter Form Verbreitung fanden. Die sogenannte astronomische Revolution, die Herausbildung des heliozentrischen Weltbilds, zunächst durch Nikolaus Kopernikus und dann Johannes Kepler, stellte die Astrologie vor neue Herausforderungen. Einige Astrologen versuchten, ihr System auf die neue Lehre umzustellen, doch ohne Erfolg. Kepler selbst, der wie Kopernikus und auch Galileo Galilei von der Richtigkeit einer recht verstandenen Astrologie überzeugt war, betonte, sie sei mit dem heliozentrischen Weltbild problemlos vereinbar, da es ja nicht auf die Stellung der Himmelskörper an sich ankomme, sondern auf ihre geometrische Beziehung zueinander, wie sie von der Erde aus gesehen werde. Kopernikus und Kepler verneinten weitgehend einen aristotelisch-physikalischen Einfluss der Sterne auf das menschliche Schicksal, verstanden die Astrologie in einer platonischen Perspektive mit Betonung eines ganzheitlichen Kosmos und der Entsprechung von Mikro- und Makrokosmos, verbunden mit einer symbolischen Bedeutung der Sterne. Weil Anpassungen an das neue Weltbild insofern nicht nötig sind, bedienen sich Astrologen bis heute der Begrifflichkeiten aus vorkopernikanischer Zeit. Die Kulturwissenschaftlerin Angela Schenkluhn formuliert, dass ihre „Grundannahmen auf den mathematischen Berechnungen des geozentrischen Weltbildes der Antike“ beruhen. Problematisch für die Astrologie wurde vielmehr das neue Paradigma, das sich seit den Veröffentlichungen Kopernikus‘, Keplers sowie nicht zuletzt des (ebenfalls astrologiegläubigen) Isaac Newton durchsetzte: Statt einer kategorialen Trennung einer sublunaren und einer supralunaren Sphäre galten nun die gleichen Naturgesetze überall im Kosmos, statt der Annahme einer geheimnisvollen „Sympathie“ zwischen unbelebten Gegenständen galt nun nur das noch was empirisch messbar war. Astrologen, die sich nicht wie Kepler auf die symbolische Deutung von Sternkonstellationen beschränken wollten, sondern am traditionellen Weltbild festhielten, gaben sich der Lächerlichkeit preis. Niedergang Neben der kopernikanischen Wende trugen im konfessionellen Zeitalter die massive Instrumentalisierung der Astrologie für politische, vor allem konfessionspolitische Zwecke, die Popularisierung abergläubischer Prophezeiungen und die Verschärfung der kirchlichen Kontrolle über die Wissenschaften im Zuge der Gegenreformation zu einem allmählichen Niedergang der Astrologie bei. Nach dem Konzil von Trient verbot eine Index-Kommission am 4. Dezember 1563 sämtliche Bücher, die mit Divination, Magie, Zauberei und deterministisch orientierter Astrologie zu tun hatten. In der Bulle Constitutio coeli et terrae verschärfte Papst Sixtus V. 1586 das Verbot der Astrologie, wenngleich in Italien Astrologen, die das aristotelisch-neuscholastische System gegen das kopernikanische verteidigten, weiterhin akzeptiert wurden. Mit dem Durchbruch zum heliozentrischen Weltbild geriet die Astrologie in Frankreich als altmodische und unwissenschaftliche Methode in Verruf und ihr Studium wurde den Mitgliedern der Französischen Akademie streng verboten. Am 31. Juli 1682 verbot König Ludwig XIV. astrologische Kalender und Almanache in Frankreich. Als sich gegen Ende des 17. Jahrhunderts die Naturphilosophie zunehmend einer mechanistischen Betrachtung des Universums zuwendete, verloren die philosophischen Grundlagen der Astrologie an Plausibilität. Im Zeitalter der Aufklärung distanzierten sich gebildete Kreise noch deutlicher von der Astrologie, die sich den Kriterien der wissenschaftlichen Rationalität entzog. Obschon die Astrologie nach 1750 als Aberglaube galt, und die Aufklärer sie als „Pseudo-Wissenschaft“ betrachteten, scheiterte Friedrich der Große mit seinem Verbot der astrologischen Hauskalender am Protest der Bauern. Kaiserin Maria Theresia verbot 1756 „alle astrologischen Wahrsagereyen und abergläubischen Mutmaßungen“ in Kalendern und die Neuauflage von Ephemeriden, womit sie den Sterndeutern das Fundament entzog. Die Astrologie verschwand aus den Universitäten und aus dem öffentlichen Bewusstsein, der Astrologiehistoriker S. Jim Tester spricht von einem „zweiten Tod der Astrologie“. Entwicklung der modernen Astrologie Im 19. Jahrhundert kam es speziell in England erneut zu einer Blüte astrologischer Studien, die sich an der ptolemäischen Richtung orientierten und sich vor allem mit technischen Aspekten und empirischen Überprüfungen befassten. In Frankreich dagegen wurde die Astrologie erst im späten 19. Jahrhundert überwiegend in Geheimgesellschaften wieder gepflegt. Parallel entwickelte sich im englischen Sprachraum im Umfeld der 1875 gegründeten Theosophischen Gesellschaft eine esoterische Spielart der Astrologie, deren wichtigste Vertreter Sepharial und Alan Leo waren. Leos Lehrbücher trugen sehr zur Popularisierung der Astrologie bei. In Deutschland bewirkte vor allem Karl Brandler-Pracht ab etwa 1905 ein Wiederaufleben der Astrologie. In den folgenden Jahrzehnten wurden dort diverse neue Ansätze entwickelt, u. a. die Halbsummen-Astrologie von Alfred Witte, die von den Schülern Reinhold Ebertins bekannt gemacht wurde. In den 1920er Jahren wurden im deutschsprachigen Raum erstmals Astrologie-Titel mit stark psychologischer Orientierung in der Deutung veröffentlicht. Das erste greifbare Buch dieser Richtung stammte von Oscar A. H. Schmitz, das 1922 unter dem Titel Der Geist der Astrologie erschien und bereits von der Analytischen Psychologie Carl Gustav Jungs geprägt war. Weitere Vertreter dieser Richtung waren Herbert Freiherr von Kloeckler und die Ärztin Olga von Ungern-Sternberg. Im englischsprachigen Bereich folgte eine erste Hinwendung zur neueren Psychologie durch Dane Rudhyar mit seinem Buch The Astrology of Personality (1936). Nach dem Zweiten Weltkrieg erfreute sich die Astrologie wieder steigender Beliebtheit. Sie erlebte eine regelrechte Blütezeit, da viele Menschen eskapistisch versuchten, aus ihrer als bedrückend empfundenen Realität zu fliehen. Nach dem Abflauen der Kriegswirkungen ließ ihre Verbreitung nach. Insofern deutet der Religionssoziologe Günter Kehrer sie als eine Art „Krisensymptom“. In der Gegenwart bildet die Astrologie einen großen Markt, der weitgehend von der so genannten Vulgär-Astrologie abgedeckt wird: Hierzu zählen etwa kommerzielle Horoskope in Zeitungen, per Telefon oder Computer sowie mehrere Zeitschriften und Almanache. Diese Form der Astrologie gilt generell als wertlos. Sie bezieht sich ausschließlich auf die Sonnenzeichen, kann daher keine sehr spezifischen Prognosen machen, da ja ein Zwölftel der Menschheit im selben Zeichen geboren ist und schwerlich an ein und demselben Tag dasselbe Schicksal zu erwarten hat. Sie dient vornehmlich der Unterhaltung. Es gibt aber auch reine Geschäftemacher, die es unter Vorspiegelung astrologischer Kenntnisse darauf anlegen, ihren Kunden das Geld aus der Tasche zu ziehen. In der „seriösen“ Astrologie (in Unterscheidung zur Vulgär- oder Populärastrologie) finden sich heute drei wichtige Schulen: eine, die die Astrologie als esoterische Geheimwissenschaft versteht, eine zweite empirisch orientierte, die stark statistisch arbeitet, und eine dritte, die sich an der Psychologie orientiert. Letztere steht Prognosen skeptisch bis ablehnend gegenüber und legt besonderen Wert auf die Willensfreiheit und die Entwicklungsmöglichkeiten des Menschen. Die meisten Vertreter dieser Richtung beziehen sich auf Jungs Tiefenpsychologie, in der das Synchronizitätsprinzip eine bedeutende Rolle einnimmt. Seit den späten 1960er Jahren erlebt die westliche Astrologie einen ausgesprochenen Boom. Ein wesentlicher Auslöser war das Konzept des Wassermannzeitalters, wie es durch das Musical Hair bekannt wurde. Seitdem gewinnt die Astrologie als Lebenshilfe und Mittel der Selbstfindung wieder neue Attraktivität, wobei sie verstärkt das Individuum in den Blick nimmt und auf spekulative Prognosen verzichtet. Laut dem Religionswissenschaftler Karl Hoheisel passt die verbreitete Annahme lediglich akausaler Beziehungen zwischen Gestirnen und Menschenleben aber schlecht zur Postulierung eines neuen geschichtsphilosophischen Zeitalters, dem implizit ja doch kausale Wirkungen unterstellt würden. Seit dem Fall des Eisernen Vorhangs findet sie auch zunehmend Anhänger im ehemaligen Ostblock, und im Zuge der Globalisierung verbreitet sie sich weltweit. Es gibt verschiedene deutschsprachige Astrologie-Verbände in Deutschland, Österreich und der Schweiz, die Mehrzahl ist im Dachverband VDA (Verband deutschsprachiger Astrologen) zusammengeschlossen. Die größte dort vertretene Organisation ist der Deutsche Astrologen-Verband (DAV). Astrologie in anderen Kulturräumen China Im Kaiserreich China wurde der Kaiser als Sohn des Himmels verehrt. Mindestens seit dem 4. Jahrhundert v. Chr. beschäftigten sich chinesische Kosmographen mit der Katalogisierung von Sternbildern und der Aufzeichnung der Gestirnsbewegungen. An den fürstlichen Höfen der Kriegsherren hielten Astrologen ständig Ausschau nach zukünftigen Ereignissen, die sich am Himmel abzeichneten. Während der 2. Han-Dynastie (25–225 n. Chr.) entstanden unterschiedliche Schulen, nach welchen das Weltbild zu erklären versucht wurde. Eine der ältesten Auslegungen bezeichnete den Himmel als einen beweglichen Baldachin (t’ien kai), unter welchem die Erde in Gestalt einer viereckigen, geköpften Pyramide bewegungslos ruht. Die chinesische Astrologie schuf einen 28-teiligen, den kaiserlichen Palästen zugeordneten Mondkalender wie auch einen zwölfgeteilten Tierkreis. In der Chinesischen Astrologie nimmt eher der Jupiter als die Sonne eine zentrale Rolle ein, wodurch mittels Abstraktion auch die bekannten und in ganz Ostasien volkstümlichen Begriffe wie „Jahr der Ratte“, „Jahr des Hasen“ zustande kommen. Schon vor Christi Geburt beobachteten chinesische Astrologen den Halleyschen Kometen, ab 28 v. Chr. Sonnenflecken. Indien Die indische oder vedische Astrologie wird Jyotisha genannt. Sie beruht auf bestimmten Schriften aus dem Corpus der Veden (2. Jahrtausend v. Chr.). Sie war fester Bestandteil der höheren Gelehrsamkeit und wird auch heute noch praktiziert. Die indische Astrologie bezieht viele Fixsterne in ihre Deutungen ein und bevorzugt die realen Sternbilder. Die zwölf Tierkreiszeichen, nach den in der heutigen westlichen Astrologie die in jeweils 30° großen Himmelsabschnitte benannt wurden, werden in der indischen Astrologie ebenfalls benutzt und haben sogar ähnliche Namen (Mesha – Widder, Kartaka – Krebs usw.). Manchmal wird die indische Astrologie auch „Mondastrologie“ genannt, weil die Position des Mondes das eigentliche „Sternzeichen“ darstellt. Die wichtigsten erhaltenen Werke vedischer bzw. indischer Astrologie sind das Brihat-Jataka von Varaha Mihira und das Hora Shastra von Parashara Muni. Als zeitgenössische Autoren wichtiger astrologischer Abhandlungen sind in Indien besonders B. V. Raman, Ojhas und Shyamasunadara Dasa bekannt geworden. B. V. Raman schrieb über ein Dutzend Werke in englischer Sprache, wie Graha Bhava Balas und Notable horoscopes. Im Gegensatz zur heutigen westlichen Astrologie geht die indische Astrologie vom real sichtbaren Sternenhimmel aus, bei dem die jährliche Verschiebung der Polarachse berücksichtigt wird (Ayanamsa). Deshalb gibt es einen Unterschied von etwa 24 Grad zwischen der Position der Planeten in der westlichen und der indischen Astrologie. Es gibt in Indien viele Tempel, in denen von den Astrologen die neun Hauptplaneten (Nava Graha) als Gottheiten verehrt werden. Auch kennt sie neben der Erstellung eines Geburtshoroskopes noch viele andere Techniken der Weissagung, wie Prashna, d. h. die Berechnung des Zeitpunktes einer konkreten Frage. Weltweites Aufsehen erregte in neuerer Zeit die Existenz sogenannter Palmblattbibliotheken, von denen in Indien einige Dutzend existieren, die aber nicht alle von den führenden Astrologen anerkannt sind. Hier wurde angeblich auf Palmblättern vor einigen Jahrtausenden die gesamte Geschichte der Menschheit festgehalten. Einige dieser angeblich antiken Dokumente wurden jedoch inzwischen als plumpe Fälschungen entlarvt. Maya Aus präkolumbianischer Zeit liegen für Mittelamerika Hinweise auf astrologische Aktivitäten vor, vor allem für die Zivilisation der Maya. Dort wurde neben Sonne und Mond vor allem der Venus große Bedeutung beigemessen. Diese galt als Unglücksbote und Kriegsbringer und wurde daher sehr aufmerksam beobachtet. Insbesondere das Erscheinen der Venus als Morgenstern wurde als unheilvoll betrachtet; dem Morgenstern waren mehrere Kriegsgottheiten zugeordnet. Das durch die Venus verkündete Unheil versuchte man durch Zeremonien abzuwenden. Der Tierkreis der Maya bestand aus dreizehn Zeichen. Das Horoskop In der westlichen Astrologie werden Aussagen und Deutungen oft aus einem Horoskop bzw. einer Horoskop-Grafik abgeleitet, welche die Positionen der Himmelskörper stark vereinfachend zweidimensional darstellen. Diese Positionen für ein Horoskop wurden bereits in der Antike mathematisch auf Basis tabellarischer Ephemeriden errechnet, da der Großteil der entsprechenden Himmelskörper zu einem bestimmten Zeitpunkt nicht beobachtbar bzw. sichtbar waren und sind: wegen Tageslicht und Wolken, bei Nacht und da der Himmel nur über dem Horizont sichtbar ist. Heutzutage kann das auch mit Hilfe von Computerprogrammen geschehen. Bei der Deutung des Horoskops spielen tradierte Interpretationsmuster eine Rolle, an die der Astrologe aber nicht gebunden ist. Vielfach verwendete Grundelemente des Horoskops sind beispielsweise der Tierkreis, die Planeten und deren Aspekte sowie die sogenannten Horoskop-Häuser, der Aszendent und verschiedene Knotenpunkte wie aufsteigender Mondknoten sowie sensitive Punkte wie der sogenannte Glückspunkt. Der Tierkreis ist eine Einteilung der geozentrisch betrachteten Bahn der Sonne (Ekliptik) über den Fixsternhimmel in zwölf gleich große Abschnitte. Die zwölf Abschnitte sind die Tierkreiszeichen. Die Planeten der Astrologie sind die „Wandelsterne“ der früheren geozentrischen Astronomie, also diejenigen Himmelskörper, die sich von der Erde aus betrachtet sichtbar gegenüber dem Fixsternhimmel bewegen. Neben den Planeten der heutigen Astronomie sind das auch Sonne und Mond. Die Häuser sind ebenfalls eine Teilung der Ekliptik in zwölf Abschnitte, in diesem Fall nach der Sichtbarkeit zum betreffenden Zeitpunkt an dem betreffenden Ort. Berechnung Mit der Berechnung eines Horoskopes ist normalerweise die Erstellung einer Horoskop-Zeichnung bzw. -Figur für ein Ereignis an einen bestimmten Ort auf der Erde und eine bestimmte Zeit gemeint. Mit der Zeichnung wird in einer lediglich zweidimensionalen Perspektive das Sonnensystem aus Sicht des Ereignisortes abgebildet. Der Ort wird nach geografischer Länge und Breite berücksichtigt, die Ereignis-Zeit am Ort in astronomische Sternzeit umgerechnet. Grundlagen sind rein astronomische Berechnungsmethoden. Früher wurden zur Berechnung die Ephemeriden und sogenannte Häusertabellen (zur Berechnung der Horoskop-Häuser) genutzt; heute wird meistens eine Astrologie-Software verwendet, die auf diese zurückgreift. Das Ereignis kann eine Geburt sein, eine Krönung oder Staatsgründung, eine Vertragsunterschrift oder Schiffstaufe, auch Unglücke aller Art, Grundsteinlegungen oder Jahreshoroskope usw. Dem erst folgt die eigentliche astrologische Tätigkeit, die Deutung. Verschiedene Horoskoparten Einige geozentrische Horoskopformen im Überblick: Geburtshoroskop (Radix): Es soll die Deutungsgrundlage für die Beschreibung der Persönlichkeitsmerkmale und des Schicksals eines Menschen, eines anderen Lebewesens oder auch eines Staates sein. Das Radixhoroskop gibt grafisch die genaue Gestirnstellung zu einem bestimmten Zeitpunkt wieder. Fügt man diesem ein weiteres, später entstandenes hinzu, spricht man von einem Transithoroskop, aus dem der Astrologe die astrologische Konflikt- oder Harmoniesituation zu diesem Zeitpunkt ablesen kann. Elektionshoroskop: Es wird auf einen beliebigen Zeitpunkt in der Zukunft erstellt und soll dabei helfen, günstige „Konstellationen“ für geplante Unternehmungen auszuwählen. In der klassischen Astrologie bis in das Mittelalter hinein war diese Art der Astrologie ein wichtiger Zweig, der vor bedeutsamen politischen Ereignissen und auch für den Zeitpunkt einer kriegerischen Handlung als Orakel verwendet wurde. Partnerschaftshoroskop (auch Beziehungshoroskop, Synastrie): Dieses soll Aufschluss über die Beziehung zwischen Menschen und auch Institutionen (Vergleich von Staatshoroskopen) geben, also auch die Beziehung zwischen Geschäftsfreunden, Arbeitskollegen, zwischen einem Elternteil und einem Kind oder zwischen Geschwistern. Davon zu unterscheiden ist die Publikationsform des sogenannten Zeitungshoroskops. Als deren Erfinder gilt der Brite R. H. Naylor. Am 24. August 1930 veröffentlichte er im Sunday Express ein ausführliches Horoskop der neugeborenen Prinzessin Margaret und sagte im selben Beitrag verschiedene Ereignisse für die laufende Woche voraus. Naylor veröffentlichte am 31. August desselben Jahres einen Folgebeitrag mit geburtstagsabhängigen astrologischen Vorhersagen für Personen, die im September geboren waren. Am 5. Oktober folgte ein entsprechender Artikel für Personen mit Geburtstag im Oktober. Ab dem 12. Oktober 1930 wurde daraus eine wöchentliche Kolumne. Bezüge auf das Tierkreiszeichen enthielt die Kolumne ab 1935. Später teilte Naylor seine Vorhersagen nicht mehr nach Monaten ein, sondern nach dem Datumsbereich des jeweiligen Tierkreiszeichens. Dieses Publikationsformat für Horoskope wurde nach und nach von zahlreichen Zeitungen und Zeitschriften übernommen und erfreut sich bis heute großer Beliebtheit. Planeten Die klassische Astrologie berücksichtigt vor allem die folgenden sieben Himmelskörper: Sonne, Mond, Merkur, Venus, Mars, Jupiter und Saturn. Nach der Entdeckung der mit bloßem Auge nicht sichtbaren Planeten Uranus (1781) und Neptun (1846) und des Zwergplaneten Pluto (1930) wurden diese nachträglich in das astrologische Weltbild integriert, und gelegentlich werden auch weitere Zwergplaneten und Asteroiden, zum Beispiel (1) Ceres und (4) Vesta, herangezogen. Im 17. Jahrhundert nennt der Astrologe William Lilly für die Himmelskörper u. a. noch folgende Qualitäten/Eigenschaften: Mond: weiblicher, nächtlicher Planet; kalt, feucht, phlegmatisch; gut gestellt: ruhige, gelassene Art, zartes Wesen; ängstlich, friedliebend, unbeständig; neigt dazu, umzuziehen und Wohnung umzustellen; Liebhaber ehrlicher und geistreicher Wissenschaften; schlecht gestellt: Vagabund, ohne Geist, unberechenbar, mit keiner Lebensbedingung zufrieden; Merkur: weder männlich, noch weiblich; kalt und trocken, melancholisch; gut gestellt: Menschen mit spitzfindigem, staatspolitischem Gehirn, Intellekt und Wahrnehmung; sehr guter Gegner und Logiker; beredtsam; lernt fast alles ohne Lehrer; unermüdliche Phantasie, Händler, Sucher von Mysterien; sehnt sich nach Reisen und fremden Landstrichen; schlecht gestellt: mühseliger Verstand, verwirrter Mann mit Zunge und Feder gegen jeden; Lügner, Schwätzer, Geschichtenerzähler, leichtgläubig, Esel ohne eigenen Stadtpunkt und Meinung; ohne Urteilskraft, Stehler; Venus: weiblicher Planet, mäßig kalt und feucht, nachtbetont, das kleiner Glück, Urheber von Fröhlichkeit und Lustigkeit, bei den Launen phlegmatisch in Blut und Geist; gut gestellt: ruhiger Mensch, angenehm, nett und sauber; liebt Fröhlichkeit in Wort und Handlung; musikalisch; mag Bäder, fröhliche Treffen und Bühnenspiele; meidet Arbeit und Mühsal; Gesellschafter; schlecht gestellt: liederlich, verschwenderisch, Ehebrecher, ohne Guthaben; Atheist und ungezwungener Mann, verbraucht sein Vermögen in Bierhäusern und Tavernen; fauler Geselle; Mars: männlich, Nachtplanet, heiß und trocken, cholerisch, das kleine Unglück, Urheber von Streit; gut gestellt: in Kriegskunst und Mut unbesiegbar, unterwirft sich keinesfalls, kühn, standhaft, streitsüchtig, liebt den Krieg, wagt jede Gefahr, gehorcht keinem; schlecht gestellt: Schwätzer ohne Maß und Ehrlichkeit, Mörder, Anstifter und Aufrührer, Verräter, unbesonnen, Unterdrücker, gewalttätig; Sonne: heiß, trocken, männlich, Tagplanet, bei guter Stellung gleichbedeutend mit Glück; gute Stellung: vertrauensvoll, hält Versprechen; dringendes Verlangen, überall zu regieren und zu herrschen; klug und große Urteilskraft; leutselig, sehr menschlich zu allen Leuten, großherzig, liebt Pracht und Herrlichkeit; schlecht gestellt: arrogant, überheblich, schätzt Menschen gering, anstrengend, töricht, Verschwender, rastlos; Jupiter: Tagplanet, männlich, mäßig heiß und feucht, das große Glück, Urheber von Mäßigkeit, Gerechtigkeit; gut gestellt: großmütig, vertrauensvoll, macht glorreiche Dinge, ehrenwert, religiös, liberal, respektvoll alten Menschen gegenüber, Liebhaber von fairem Teilen, weise, kraftvoll; schlecht gestellt: heuchlerisch religiös, verschwendet Erbe, dogmatisch, sorglos, abtrünnig, jeder prellt ihn; von grober Aufnahmefähigkeit; Saturn: Tagplanet, kalt, trocken, erdig, männlich, größeres Unglück, Urheber von Einsamkeit; gut gestellt: profunde Vorstellungskraft, ernst in seinen Handlungen, in Worten zurückhaltend, sehr sparsam im Sprechen und Geben; bei der Arbeit geduldig, strebsam, in Diskussionen gewichtig; schlecht gestellt: neidisch, misstrauisch, gewinnsüchtig, stur, verborgener Lügner, niemals zufrieden, bösartig; Peter Niehenke führt dagegen in Astrologie. Eine Einführung (2000) zu den Himmelskörpern diese astrologischen Grundprinzipien an: Mond: Aufrechterhaltung der Lebensprozesse, Bedürfnis nach menschlicher Nähe und Geborgenheit, assoziatives Denken, Träumen; Merkur: Zentrales Nervensystem, Informationsverarbeitung, Sprache, Nüchternheit, Zweckdenken, Verstand; Venus: homöostatische Prozesse, weibliche Geschlechtsorgane, Lust-Unlust, Sexualität, denken eher in ästhetischen Kategorien; Mars: Muskeln, Blut, männliche Geschlechtsorgane, Aggression, Risikobereitschaft, Scharfsinn, Denken in klaren Alternativen; Sonne: Antriebskraft, Lebensenergie, Herz, Selbstbewusstsein, mit sich im Einklang sein, Mentalität (Denkungsart, Einstellungen); Jupiter: Wachstum, Reifen, die Assimilation von Nährstoffen, Leber; Bedürfnis, gut zu sein; Talent zum Glück; Vernunft; Fähigkeit, intuitiv größere Zusammenhänge zu erkennen; Saturn: Abwehr, Milz, Haut, Schmerz, Anpassungsbereitschaft, Gedächtnis; Uranus: Beziehungen zum Nervensystem, Hypophyse; Impuls, Veränderungen vorzunehmen; Intuition, Geistesblitz; Neptun: Sonnengeflecht, Durchlässigkeit und Verbundenheit; Altruismus, Ahnen, erfinden; Pluto: Regeneration, biologische Tod; Drängen zu destruktiven Handlungen; Zerstörung der Lebensgrundlagen; aktiv auf Beendigung gerichtet; Der Astronom und Astronomie-Historiker Jürgen Hamel wiederum notiert in Begriffe der Astrologie (2010) u. a. folgende astrologischen Planetenzuordnungen: Mond: weibliche Macht, Symbol für Rhythmus, zyklische Zeit, Veränderung, Unbeständigkeit des Irdischen, beherrscht die Zeiten, weiblich, feucht und kalt; Merkur: Führer, Bote, Redner, Beschützer des Handels, steht in Verbindung mit Wissenschaft, wenig ausgeprägt, ihn aspektierende Planeten prägen ihn; kalt und feucht; Neigung zu Rhetorik, Geometrie und Philosophie; Venus: das kleine Glück, Liebe, Fruchtbarkeit, Krieg, weiblich, kalt und feucht, irdische Freude, vorübergehendes Wohl, Gesang, Musik; Mars: das kleine Unglück, Krieg, aufrührerisch, unberechenbar, Anstrengung, männlich, trocken und heiß, Arbeitskraft, Unternehmungslust; Sonne: männlich, positiv, warm und mäßig trocken, gütig, Symbol für Herrscher aller Art, Verbindung zu Gold, Verständnis und Freigiebigkeit, Reichtum, mild und ehrlich, gerecht; Jupiter: männlich, großes Glück, mäßig warm und feucht, streben nach höheren Werten, Großzügigkeit, Aspekte des gesellschaftlichen Zusammenlebens, friedlich, Gerechtigkeit, vernünftig und weltweise, religiös, fröhlich; hilft Leuten, sobald er kann; Saturn: das große Unglück, kalt und trocken, männlich, Gerechtigkeit, Beständigkeit, Ordnung, Konzentration aufs Wesentliche, Realitätsbezug, Disziplin, Abgrenzung (zu anderen), Herr der Zeit, Verderber und Feind der Natur, verkörpert Arbeiten müssen, schwer, Schwermut, selten reich, unglücklich, bleibt gerne allein, Uranus: Streben nach Freiheit und Individualität, schöpferische Ideen und Impulse, intuitive Verbindung zu universellem Bewusstsein, plötzlicher Umschwung, Aufbruch in andere Dimensionen; Neptun: weiblich, Grenzen langsam auflösend, Sehnsucht, Transzendenz, Spiritualität, Aufgehen in Größerem, Inspiration; Pluto: Massenbewegungen, tiefe Wandlungsprozesse, Krise, Heilung, Transformation, Intensität, Urgewalt; Tierkreiszeichen Es gibt zwei unterschiedliche Tierkreiszeichen-Systeme, die denselben Messkreis, den 360°-Tierkreis mit zwölf Zeichen zu je 30°-Abschnitten auf der Ekliptik benutzen. Dabei differieren die Positionen der astrologisch berücksichtigten Himmelskörper und Zeichen zwischen den Systemen. Die überwiegend westlich ausgerichtete Methode benutzt den tropischen Tierkreis. Die Abschnitte bzw. einzelnen Tierkreiszeichen tragen die gleichen Namen wie Namen die antik ursprünglich neben ihnen liegenden Sternbilder. Siderischer Tierkreis Die überwiegend indisch ausgerichtete Methode, als Vedische Astrologie bekannt, benutzt die Sternbilder des siderischen Tierkreises. Sie teilt den Messkreis wie beim tropischen Tierkreis in zwölf Abschnitte zu 30° und orientiert sich nach wie vor an dem antiken Sternbild Widder als Beginn für den Tierkreis, dessen Ayanamsha-Wert – ein in den Ephemeriden aufgeführter Wert, der angibt, um wie viele Bogengrade, -minuten und -sekunden sich der tropische vom siderischen Tierkreis unterscheidet – sich offiziell an der Opposition zu Spica orientiert. Da sich die jährlich wiederkehrenden Positionen der Sternbilder aufgrund der Präzession ganz langsam ändern (um ca. 1° in 72 Jahren), wandert der Punkt des Frühjahr-Äquinoktiums um den 21. März im tropischen Tierkreis scheinbar rückwärts entlang der Tierkreis-Sternbilder derzeit durch das Sternbild Fische und wird nach Vedischer Sternbild-Einteilung im Jahr 2442 n. Chr. das Sternbild Wassermann erreichen. Tropischer Tierkreis In der westlichen Astrologie wird weitgehend der tropische Tierkreis verwendet. Seine Ausrichtung an den vier Ekliptikpunkten der Äquinoktien und Solstitien der Sonne gab dem tropischen Tierkreis seinen Namen, der sich ableitet vom griechischen τρόποι, trópoi, was „Wendungen, Wendepunkte“ bedeutet. Anhand der Äquinoktien und den Solstitien wird dabei ausgehend vom Frühlingspunkt die Ekliptik in zwölf Abschnitte zu 30° unterteilt, die zwölf Tierkreiszeichen. Der tropische Tierkreis ist also eine geometrische Abstraktion, da er nicht mit den Sternbildern auf der Ekliptik korrespondiert. In der Spätantike, nach dem 5. Jahrhundert, setzte er sich schließlich gegen den siderischen Tierkreis durch. Astronomen hatten schon mehrere Jahrhunderte zuvor bemerkt, dass der damals noch am siderischen Tierkreis bzw. Ekliptiksternbild Widder und an den früher so bezeichneten „Normalsternen“ genormte astronomische Frühlingsbeginn immer später im Jahreslauf erreicht wurde, mithin aufgrund der Präzession in Richtung meteorologischer Sommer wanderte, wodurch sich auch die Ekliptiksternbilder im Verhältnis zum Jahreskreis verschoben. Um etwa 300 v. Chr. entwickelte sich im Hellenismus die Idee, den einzelnen Tierkreisabschnitten eine bestimmte Deutung zu unterlegen. Unterstützt wurde sie von der bereits seit langem in Ägypten praktizierten Unterteilung des Himmels in Dekane mit ihren Bedeutungen. Später entwickelten sich daraus die Dekan-Deutungen innerhalb der Geburtshoroskopie. Aufgrund der bereits bekannten Vier-Elemente-Lehre (Wasser, Luft, Feuer, Erde), die sich vom 6. bis 5. Jahrhundert v. Chr. ausgebildet hatte (Thales von Milet, Anaximenes, Heraklit, Empedokles), in antiken Vorstellungen Ausdruck einer grundlegenden Vierheit, sowie der Harmonielehre der Pythagoreer, die mit Zählsteinen geometrische Figuren, Dreiecke (Trigone) und Vierecke (Tetraktys), formten und ihnen große Bedeutung beimaßen (ungerade Zahlen: begrenzt, männlich; gerade Zahlen: unbegrenzt, weiblich) entstand zusammen mit dem Tierkreis eine neue Kombination und Zuordnung. Doch erst mit Aristoteles’ (384–322 v. Chr.) damals sehr erfolgreichen, systematisierenden Ausführungen zu Physik und Kosmos wurde die etablierte Vier-Elemente-Lehre fest in den Komplex astronomisch-astrologischer Lehren übernommen. Zusätzlich erweiterte er die Vier-Elemente-Lehre mit den Zuordnungen Trockenheit bzw. Feuchtigkeit und Wärme bzw. Kälte. Die sich daraus bildende Zusammenstellung führte zu einer Ordnung, in der sich bilden: Trockenheit und Wärme das Feuer; Feuchtigkeit und Wärme die Luft; Feuchtigkeit und Kälte das Wasser; Trockenheit und Kälte die Erde. Die vier Elemente werden u. a. in Verbindung mit den Tierkreiszeichen-Qualitäten bzw. -Modalitäten kardinal, fix und beweglich bzw. variabel den zwölf Zeichen zugeordnet, in dem jeweils ein Element und eine Modalität mit einem Tierkreiszeichen verbunden werden. Der Löwe beispielsweise gilt daher als Feuer-Zeichen mit fixer Qualität, Merkmale wie Stabilität und Ausdauer, Unbeirrbarkeit und Festigkeit usw. zählen zu den fixen Qualitäten. Die Tierkreiszeichen können weiterhin nach den jeweiligen Elementen in die Feuerzeichen (Widder, Löwe, Schütze) und Erdzeichen (Stier, Jungfrau, Steinbock), in Luftzeichen (Zwillinge, Waage, Wassermann) und Wasserzeichen (Krebs, Skorpion, Fische) eingeteilt werden. Die zwölf Zeichen werden zudem noch häufig nach den zwei Geschlechtern weiblich und männlich unterschieden, abwechselnd aufeinanderfolgend im Tierkreis: Das Tierkreiszeichen Krebs gilt als weiblich, das nachfolgende Löwe-Zeichen entsprechend als männlich, die dem Löwe-Zeichen folgende Jungfrau wiederum als weiblich usw. Aszendent Der Aszendent bildet den zu einem bestimmten Zeitpunkt am Horizont aufsteigenden Ekliptik-Punkt ab, der an einem bestimmten Zeitpunkt und Ort im Osten des Ereignisortes aufsteigt, er fällt auf einen bestimmten Grad des zeitgleich am Osthorizont stehenden Tierkreizeichens. Der Aszendent wird als eigenständiger, besonders wichtiger und individueller Wirkpunkt im Horoskop betrachtet, der einerseits den Anfang des I. Hauses abbildet, alle nachfolgenden Horoskophäuser sind vom Aszendenten abhängig. Andererseits wird ihm astrologisch eine besondere Qualität und Funktion zugeordnet, die vielfach ähnlich bedeutsam wie jene der Sonne im Horoskop sein soll. So verbindet man den Aszendenten beispielsweise mit den persönlichen Anlagen des Geborenen, dem im Leben angelegten Grundbedürfnis, Charakter und Temperament, der Erscheinung und Körperlichkeit, der Individualität eines Menschen, in der psychologischen Astrologie das Ich schlechthin, in Zusammenhang mit dem Tierkreiszeichen bzw. auch Tierkreiszeichen-Abschnitt, in welchem der Aszendent steht. Häuser oder Felder Der genaue Zeitpunkt und der geographische Ort, für den ein geozentrisches Horoskop berechnet wird, bestimmen die Position der „Häuser“, auch Felder genannt, die sich aus der Momentaufnahme der Erdrotation errechnet. Die Häuser sind die Darstellung des geozentrischen Blickwinkels von einem geographischen Punkt aus auf den Tierkreis. Der Ekliptikgrad, der gerade über den Horizont steigt, wird Aszendent (Asz.) genannt und markiert den Beginn des ersten Hauses. Es folgen drei Häuser bis zum Punkt der unteren Kulmination des Tierkreises, das heißt dem tiefsten Punkt unter dem Horizont, dann drei Häuser bis zum gerade untergehenden Punkt des Tierkreises (Deszendent, DC), drei Häuser zur oberen Kulmination, und schließlich drei Häuser zurück zum Aszendenten. Wegen des Winkels von rund 23° 26' zwischen der Erdbahn-Ebene und dem Äquator sind die Häuser im Allgemeinen auf der Ekliptik unterschiedlich groß. Der Aszendent markiert die Spitze des ersten Hauses, von welchem aus man nun die übrigen, gegen Osten unter dem Horizont fortgehend, zählt. Die Häuser folgen der Reihe nach aufeinander als 1. bis 12. Haus. Bildlich kann man sich die Häuser wie eine in zwölf gleiche Stücke nach der üblichen Art aufgeschnittene Orangenschale vorstellen, wobei Stängelansatz und Blütenrest der Orange genau am Nord- und Südpunkt des Horizonts liegen, eine Schnittlinie von Norden nach Süden den Himmel entlang läuft und unter der Erde wieder zurück nach Norden, eine am Horizont entlang, und auf jeder Seite noch je zwei Schnitte dazwischen liegen. Allerdings wird der Abstand der Planeten zur Ekliptik meist bei der Häuserzuordnung nicht berücksichtigt. Je nach astrologischer Schule oder Richtung werden die Häuser teilweise nach verschiedenen Systemen berechnet, die zu abweichenden oder sogar sich widersprechenden Aussagen führen können. Ein Häusersystem ist jenes nach Campanus von Novara, andere nach Porphyrios und Regiomontanus, Placidus de Titis oder Walter Koch. Beim oft eingesetzten äqualen System werden die Häuser vom Aszendenten aus gleich groß in 30°-Abschnitten dargestellt. Bei den anderen Systemen sind die Häuser je nach der verwendeten Projektionsebene (der Schnittebene im Orangenbild) unterschiedlich groß. So wie den Tierkreiszeichen in der Deutung verschiedene Charaktereigenschaften und den Himmelslichtern (Planeten, Sonne, Mond) verschiedene Eigenschaften zugesprochen werden, so stellen die Häuser unterschiedliche Lebensbereiche dar (ich bin, ich habe, ich denke, ich fühle u. ä.), in denen sich die dort präsenten Tierkreiszeichen und Planeten entsprechend bemerkbar machen sollen. Diese Lebensbereiche werden der Reihe nach in symbolischer Analogie zu den Eigenschaften der Tierkreiszeichen, beginnend mit Widder, den Häusern zugeordnet. Aspekte Der Abstand zwischen zwei Horoskopfaktoren, wie den Planeten, wird durch Winkel ausgedrückt. Einigen Winkelgrößen wird eine besondere Bedeutung zugemessen, diese Winkel werden als Aspekte (lateinisch aspiciere – anblicken, betrachten) bezeichnet und in Horoskopen häufig als Verbindungslinien eingezeichnet. Traditionell waren dies bis weit ins 20. Jahrhundert das Sextil und das Quadrat, das Trigon und die Opposition sowie die Konjunktion. Letztere galt antik wie auch noch Jahrhunderte später nicht als Aspekt und speziell die Konjunktion von Jupiter sowie Saturn erfuhr seit der Spätantike bis weit in die Neuzeit hinein eine gesonderte Deutung unter dem Begriff der Großen Konjunktion für die astrologische Geschichtsbetrachtung. Als Sonderfall gelten häufig die sogenannten Spiegelpunkte, die in der Astrologiegeschichte wiederum teilweise nicht zu den Aspekten gerechnet und entsprechend eben sowenig mitgedeutet wurden. Mittlerweile werden eine immer noch zunehmende Zahl von weiteren Aspekten, je nach astrologischer Richtung oder Schule, in die Deutung einbezogen. So z. B. das Halbquadrat oder Quintil. Die von Alfred Witte eingeführten Halbsummendeutungen berücksichtigen insbesondere die Symmetrieeigenschaften der Aspekte. Nach astrologischer Auffassung beschränkt sich die Wirksamkeit der Aspekte nicht auf die exakten Winkelabstände, die praktisch nie gegeben sind. Vielmehr wird um diese herum ein Streubereich, der sogenannte Orbis zugelassen, der je nach astrologischer Schule unterschiedlich groß sein kann. Neuere Auffassungen gehen von einer kontinuierlichen Abnahme der Wirksamkeit mit dem Abstand von exakten Wert aus. Rezeption Die Kritik an der Astrologie bewegte sich lange Zeit zumeist auf einer abstrakten und philosophischen Ebene. So wurden etwa die unterschiedlichen Schicksale von Menschen diskutiert, die zum selben Zeitpunkt geboren waren, oder das Fehlen plausibler Darlegungen, wie die postulierten astrologischen Einflüsse stattfinden sollten. Heutige Kritik an der Astrologie beruft sich dagegen vor allem auf kontrollierte empirische Studien, in denen die – auch psychologisch begründbare – Fähigkeit von Astrologen geprüft wurde, aus Horoskopen Aussagen über die zugehörige Person abzuleiten, die aber regelmäßig keine über den Zufall hinausgehende Trefferrate zum Ergebnis hatten. Empirische Studien Im Jahr 1979 stellte Kelly in einer Metaanalyse der bis dahin vorliegenden Studien fest, dass die große Mehrheit der empirischen Studien, die zu dem Zweck durchgeführt wurden, die astrologische Lehre zu überprüfen, deren Behauptungen nicht bestätigen konnte und Einige wissenschaftliche Studien kamen zu dem Ergebnis, dass es keinen feststellbaren Zusammenhang gebe zwischen Deutungselementen der Astrologie und menschlichen Eigenschaften wie Intelligenz oder Persönlichkeit, wie sie in der Psychologie typischerweise begrifflich operationalisiert werden. Auch weitere Untersuchungen konnten einen Zusammenhang zwischen Sternzeichen und der Persönlichkeit nicht nachweisen. Bei der Voraussage künftiger Ereignisse schneiden Astrologen nicht besser ab als bei zufälligem Erraten. Eine der bekanntesten Untersuchungen ist der Doppel-Blindtest von Shawn Carlson, der 1985 in der Fachzeitschrift Nature publiziert wurde. David Voas ging der Frage nach, ob der Erfolg in der Beziehung und ein Hingezogenfühlen zum Lebenspartner mit den astrologischen Aussagen, die spezifisch dies konstatieren, korrelieren. Hierfür standen ihm Personendaten von über elf Millionen Menschen aus Wales und England zur Verfügung. Die Studie zeigte, dass weder Ehen von unter astrologischen Gesichtspunkten „geeigneteren“ Partnern länger anhalten würden, noch, dass es eine höhere Verteilung an astrologisch „kompatibleren“ Partnern gebe. Ein dänisch-deutsches Forscherteam um Peter Hartmann wertete in einer großangelegten Studie die Daten von insgesamt mehr als 15.000 Personen statistisch aus: Ein Zusammenhang zwischen Geburtsdatum – und damit auch dem so genannten „Sternzeichen“ (dem Tierkreiszeichen, in dem zum Zeitpunkt der Geburt die Sonne steht) – und individuellen Persönlichkeitsmerkmalen konnte nicht nachgewiesen werden. Darüber hinaus betonen verschiedene Autoren entscheidende methodische Schwächen scheinbar stützender Studien wie selektive Auswahl der Testpersonen, Ungenauigkeiten bei der Geburtszeit oder zu geringe Probandenzahlen. Für die positiven Befunde solcher Studien fanden die Forscher alternative Erklärungen; so tendieren Personen mit astrologischen Kenntnissen dazu, sich gemäß ihren Erwartungen zu ihrem jeweiligen Sternzeichen zu verhalten. Astrologische Zwillinge, das sind Personen, die zum selben Zeitpunkt geboren wurden, sollten nach Auffassung vieler Astrologen und Kritiker der Astrologie der beste Test für die Leistungsfähigkeit der Astrologie sein. In einer umfangreichen, wissenschaftlich durchgeführten Studie konnten keine Korrelationen zwischen Geburtsdatum und signifikant höheren Ähnlichkeiten bei astrologischen Zwillingen – im Vergleich zu anderen Personen – festgestellt werden. Im Jahr 1997 wollte Gunter Sachs in seinem Buch Die Akte Astrologie mittels 300.000 untersuchten Fällen nachweisen, dass statistisch signifikant erscheinende Korrelationen zwischen den Tierkreiszeichen der untersuchten Personen und Alltagsphänomenen wie Heirat, Unfall, Krankheit, Interessen oder Selbstmord bestünden: So kam er u. a. auf 25 statistisch signifikant häufige und seltene Eheschließungskombinationen. Er glaubte, diese auch mittels Kontrollexperiment (künstliche Sternzeichen mittels Zufallsauswahl) verifizieren zu können. Allerdings wurden von Statistikern grobe methodische Fehler in Sachs’ Buch aufgezeigt. Eine im März 2011 veröffentlichte Stellungnahme der Statistiker Katharina Schüller und Walter Krämer kam zu dem Schluss, dass die handwerklich-methodischen Fehler, die Statistiker zuvor den Auswertungen von Gunter Sachs nachsagten, nicht vorhanden seien – was allerdings nicht als Beweis für die Richtigkeit von Sachs’ Behauptungen missverstanden werden dürfe. Psychologie Neben der Selbstprojektion finden sich in der Psychologie weitere Theorien, etwa die Fremdprojektion (ähnlich dem Erlernen der Geschlechterrolle) sowie der Bejahungsfaktor bei schwammigen Aussagen (sogenannter Barnum-Effekt), die die Selbstbestätigung über das Horoskop in Frage stellen. Diese Bejahungstendenz ist beispielsweise gegeben bei Persönlichkeitsbeschreibungen, die Gegensätze in einem ausgewogenen Verhältnis gegenüberstellen (). Für diese Effekte gibt es jeweils fundierte Studien, die deren teils starke Wirkung beschreiben. Ähnlich wie mit der physikalischen Kritik bleibt für den astrologischen Anteil hier nur ein kaum messbarer Hauch eines äußeren Einflusses übrig. Mögliche Beobachtungen sind vielmehr der Ausdruck des Erlernten als direkte Folge der Prägung der Psyche durch das astrologische Modell. In diesem Zusammenhang hat eine Untersuchung, die im Jahr 1978 von den Psychologen Mayo, White und Eysenck durchgeführt wurde, gezeigt, dass abhängig vom jeweiligen Wissen um Gestirnstände Personen, die dieses Gedankengebäude kennen und für sich auch als wichtig betrachten, auch Stellungen der Planeten widerspiegeln. Diese Auffälligkeiten verschwanden jedoch genau dann, wenn Personen getestet wurden, die keine astrologischen Behauptungen kannten. Einzig die Analytische Psychologie nach C. G. Jung steht der Astrologie offen gegenüber und begreift sie als einen Ausdruck von Synchronizität. Jung hat besonders die so genannte «psychologische Astrologie» erheblich beeinflusst. Jungs Begriffe und ihre inhaltlichen Beschreibungen wie «Animus/Anima» und der «Schatten», die Persona und die «Individuation», die «Archetypen-Lehre» sowie das Modell der «Synchronizität» werden in der Astrologie z. B. vielfach bei der Deutung von Geburtshoroskopen verwendet. Darüber hinaus verfügte Jung selber über umfangreiche Astrologiekenntnisse, so dass er beispielsweise bei der Arbeit mit seinen Klienten Geburtshoroskope von ihnen erstellte und die Horoskopdeutung in die psychologische Arbeit mit einbezog, wie Jung bereits 1911 in einem Brief an Sigmund Freud geschrieben hatte. Vertreter einer jungianisch geprägten Astrologie sind z. B. die Psychoanalytikerin und Astrologin Liz Greene, der Komponist, Maler und Astrologe Dane Rudhyar sowie der Psychologe, Therapeut und Astrologe Peter Orban. Allerdings werden Theorien und Modelle der analytischen Psychologie von der akademischen Psychologie mehr kritisch gesehen, da aus Sicht der universitären Psychologie vielfach mit unwissenschaftlichen Methoden gewonnen. Kirchen Die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) rät ihren Gläubigen zu einem vorsichtigen und distanzierten Umgang mit der Astrologie als Instrument der Vorhersage eines vermeintlich festgelegten Schicksals. Die Zentralstelle für Weltanschauungsfragen der EKD sieht in der Popularität der Astrologie sowie speziell in ihrer Ausprägung als eine Methode der Lebensberatung einen Bedarf geistlicher Orientierung in der modernen Welt. Das Denken in Symbolen, wie es bei der Astrologie der Fall sei, könne dabei durchaus konstruktive Selbsterkenntnis in einem guten Sinne fördern. Gleichzeitig komme bei der astrologischen Deutung einem fremden Menschen eine enorme Deutungshoheit über das eigene Leben zu, woraus Abhängigkeiten und andere negative Konsequenzen entstehen könnten. Aus christlicher Perspektive seien jedoch nicht die Sterne Herrscher über das Leben, sondern nur Gott. Der christliche Glaube basiere auf der grundsätzlichen Freiheit eines Christen, sein Leben in eigener Verantwortung vor Gott zu leben und sein Schicksal selbst zu bestimmen. Diese Freiheit und damit auch das eigenverantwortliche Handeln vor Gott sei gefährdet, wenn man den Sternen oder einem Sternendeuter Autorität über das eigene Schicksal zubillige. Martin Luther habe auf die astrologische Warnung davor, die Elbe an einem bestimmten Tag im Boot zu überqueren, mit den Worten „Domini sumus“ (‚Wir sind des Herrn‘) geantwortet und sei in den Kahn gesprungen. Dies sei ein Beispiel dafür, wie als Christ mit dem Thema konstruktiv umzugehen sei. Der evangelische Hochschulpfarrer Andreas Fincke kritisiert, dass die Astrologie oft religiöse bzw. ersatzreligiöse Züge trage und die Überzeugung vermittle, von unpersönlichen, transkosmischen Mächten abhängig oder geprägt zu sein, statt ein Leben in Freiheit und Verantwortung vor Gott zu führen. Die katholische Kirche lehnt die Astrologie und sämtliche Formen der „Wahrsagerei“ ab. In ihrem Katechismus werden im Abschnitt 2116 mit Bezug auf Bibelstellen alle „Handlungen, von denen man zu Unrecht annimmt, sie könnten die Zukunft ‚entschleiern‘“, abgelehnt. Hinter derartigen Aktivitäten verberge sich der Wille, Macht über die Geschichte und andere Menschen zu erlangen sowie sich „andere Mächte geneigt zu machen“. Dies widerspreche „der mit liebender Ehrfurcht erfüllten Hochachtung“, die man als Katholik „allein Gott“ schulde. Naturwissenschaft Die Naturwissenschaft lehnt jede Form der Astrologie aufgrund ihrer „unstrittigen Unwissenschaftlichkeit“ ab. Im Jahr 1975 veröffentlichte die amerikanische Zeitschrift The Humanist eine Erklärung mit dem Titel Einwände gegen die Astrologie. Einleitend hieß es: „Wir, die Unterzeichner – Astronomen, Astrophysiker und Naturwissenschaftler anderer Fachrichtungen – möchten die Öffentlichkeit vor einem ungeprüften Vertrauen zu den Vorhersagen und Ratschlägen warnen, die Astrologen privat und öffentlich machen und erteilen. Wer an die Astrologie glauben möchte, sollte sich vor Augen halten, daß es für ihre Lehren keine wissenschaftliche Grundlage gibt.“ Unterzeichnet wurde die Erklärung von 186 Wissenschaftlern, darunter 18 Nobelpreisträgern. Im Jahr darauf wurde das Committee for the Scientific Investigation of Claims of the Paranormal (CSICOP) gegründet, was zu großen Teilen eine Antwort auf die enorme Popularität der Astrologie war. Dem folgten bald ähnliche Organisationen der naturalistischen Positionen vertretenden Skeptikerbewegung in anderen Ländern. Diese machten es sich zu einem ihrer Hauptanliegen, dem Glauben an die Astrologie und andere ihrem Verständnis nach mit den Naturwissenschaften nicht vereinbare Themen wie Entführungen durch Außerirdische, Hellsehen, Homöopathie usw. entgegenzuwirken und vor ihrer Anwendung zu warnen. Bevölkerung Nach Umfragen in einigen westlichen Ländern ist etwa ein Viertel der Bevölkerung davon überzeugt, dass die Astrologie zutreffende Aussagen über Persönlichkeitszüge oder über Ereignisse im Leben eines Menschen treffen kann. So glaubten 2009 etwa 25 % der US-Amerikaner an Astrologie, vermischten dies aber mit Reinkarnation und spiritueller Energie. In Deutschland glaubten 23 %, dass „Sterne unser Leben beeinflussen, aber […] nicht die einzigen Einflussfaktoren“ sind, und 2 %, dass „unser Lebensweg […] einzig von den Sternen bestimmt“ wird. 38 % der Wiener glauben 2017, dass „die Beschreibung des eigenen Sternzeichens zumindest eher auf den eigenen Charakter und das Verhalten zutrifft.“ In Vorarlberg glaubten 28 % (sehr) stark, dass „die Stellung von Sternen oder Planeten [i]hr Leben“ beeinflusse und 16 % finden Horoskope in Zeitungen, Zeitschriften oder im Radio (sehr) wichtig. Die Tendenz, an Astrologie zu glauben, ist zumindest zum Teil dadurch erklärt, was Personen über Wissenschaft wissen, aber auch durch Persönlichkeitsmerkmale. So glauben zum Beispiel 8 % der US-Amerikaner, dass Astrologie sehr wissenschaftlich ist. Rechtliche Situation in Deutschland Das Recht, sich astrologisch zu betätigen, ist in Deutschland durch das Grundrecht der Berufsfreiheit geschützt. Im Jahre 1965 hob das Bundesverwaltungsgericht mit seinem Urteil unter Verweis auf Art. 12 GG Verbote auf, die bis dahin in einigen Bundesländern in Kraft waren, beispielsweise die Bremer Wahrsageverordnung vom 6. Oktober 1934. Da aber das Berufsbild „Astrologe“ gesetzlich nicht näher definiert ist und keiner staatlichen Aufsicht unterliegt, bestehen hinsichtlich des Zugangs und der Ausübung des Astrologenberufs keinerlei Einschränkungen. Lediglich die Anzeigepflicht gemäß § 14 der Gewerbeordnung ist zu beachten. Bis zum Jahr 2011 galt nach einem Urteil des Oberlandesgerichts Düsseldorf, dass ein „Vertrag über Stellen von Horoskopen auf astrologischer Grundlage […] auf eine objektiv unmögliche Leistung gerichtet [ist], die zur Nichtigkeit führt.“ Im Zuge des Urteils III ZR 87/10 im Jahr 2011 entschied der Bundesgerichtshof, dass „Wahrsager […] generell Anspruch auf Honorar“ haben, „es sei denn, sie beuten labile Menschen aus“. Vorausgegangen war die Klage einer Kartenlegerin auf ihr Honorar für erbrachte Leistungen. Der Bundesgerichtshof entschied daraufhin, dass die Leistung beim Versprechen des Einsatzes übernatürlicher, „magischer“ oder parapsychologischer Kräfte und Fähigkeiten nach dem Stand der Erkenntnis von Wissenschaft und Technik schlechthin nicht erbracht werden kann. „Erkauft“ sich jedoch jemand Leistungen in dem vollen Bewusstsein, dass deren Grundlagen und Wirkungen nach den Erkenntnissen der Wissenschaft und Technik nicht erweislich sind, sondern nur einer inneren Überzeugung, einem dahingehenden Glauben oder einer irrationalen, für Dritte nicht nachvollziehbaren Haltung entsprechen, würde es Inhalt und Zweck des Vertrags sowie den Motiven und Vorstellungen der Parteien widersprechen, den Vergütungsanspruch zu verneinen. Literatur Udo Becker: Lexikon der Astrologie. Freiburg im Breisgau 1981. Nicholas Campion: A History of Western Astrology. 2 Bände. Continuum, London/New York 2008, 2009. Hans Jürgen Eysenck, David Nias: Astrologie – Wissenschaft oder Aberglaube? List Verlag, 1987, ISBN 3-471-77417-3. Jürgen Hamel: Begriffe der Astrologie. Von Abendstern bis Zwillingsproblem. Harri Deutsch Verlag, Frankfurt am Main 2010, ISBN 978-3-8171-1785-7. Joachim Herrmann: Das falsche Weltbild. Astronomie und Aberglaube. Franckh Verlag, Stuttgart 1962; Taschenbuchausgabe: Deutscher Taschenbuch-Verlag, München 1974. James Herschel Holden: A History of Horoscopic Astrology. 2. Auflage. American Federation of Astrologers, Tempe (USA) 2006. Ivan W. Kelly: Why Astrology Doesn’t Work. In: Psychological Reports. Band 82, 1998, S. 527–546. Gustav-Adolf Schoener: Astrologie in der Europäischen Religionsgeschichte. Kontinuität und Diskontinuität (= Tübinger Beiträge zur Religionswissenschaft. Band 8). Peter Lang Verlag, Frankfurt 2016. Christoph Schubert-Weller: Wege der Astrologie – Schulen und Methoden im Vergleich. Chiron Verlag, Mössingen 2000, ISBN 3-925100-22-9. Kocku von Stuckrad: Das Ringen um die Astrologie. Jüdische und christliche Beiträge zum antiken Zeitverständnis. De Gruyter, Berlin 2000. Kocku von Stuckrad: Geschichte der Astrologie. Beck, München 2003, ISBN 3-406-50905-3. Weblinks Einzelnachweise Überholte Theorie (Astronomie)
Q34362
324.846907
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https://de.wikipedia.org/wiki/Brailleschrift
Brailleschrift
Die Brailleschrift [] ist eine Blindenschrift und wird international von Blinden und stark Sehbehinderten benutzt, da sie Schwarzschrift nicht oder nur schwer lesen können. Sie wurde 1825 von dem Franzosen Louis Braille entwickelt. Die Schrift besteht aus in einem aus sechs Punkten bestehenden System befindlichen Punktmustern, die meist von hinten in Papier eingedrückt werden und vorne mit den Fingerspitzen als Erhöhungen zu ertasten sind. Allgemeines Sechs Punkte, drei in der Höhe mal zwei Punkte in der Breite, bilden das Raster für die Punkte-Kombinationen, mit denen die Zeichen (Buchstaben, Ziffern, Leerzeichen, …) dargestellt werden. Die Anzahl von sechs Punkten ergab sich aus der Erfahrung, dass maximal sechs Tasteindrücke gleichzeitig von den Fingern distinktiv wahrgenommen werden können. Bei sechs (binären) Punkten ergeben sich 26 = 64 Variationen; es sind also 64 verschiedene Zeichen darstellbar. Die Punkte einer Braillezelle werden in der linken Spalte von eins bis drei und in der rechten Spalte von vier bis sechs nummeriert – innerhalb einer Spalte jeweils von oben nach unten. Dem sind die im Bild unterhalb dargestellten Hexadezimalwerte 1-2-4 links, und 8-10-20 rechts (1016 = 1610 und 2016 = 3210) zugeordnet. Für die Ausgabe von Texten in Brailleschrift durch den Computer werden Braillezeilen verwendet. Da für die Arbeit am Computer mehr Zeichen notwendig sind als sich mit sechs Punkten darstellen lassen, werden bei der Braillezeile noch zwei weitere Punkte je Braillezeichen hinzugefügt, so dass acht Punkte, vier in der Höhe mal zwei in der Breite, zur Verfügung stehen (Computerbraille, spezielle Implementierung: Eurobraille). Auf diese Weise erhält man 28 = 256 Variationen. Die Codierung der Standardzeichen bleibt dabei jedoch gleich, die unterste Zeile bleibt lediglich leer. Bei der Nummerierung der Punkte eines Achtpunktzeichens bleibt die Nummerierung der oberen sechs Punkte unverändert – die beiden unteren Punkte erhalten die Nummern 7 (links) und 8 (rechts) mit entsprechenden Hexadezimalwerten 6410 = 4016 und 12810 = 8016. Die engen Grenzen der so entstandenen Zeichensätze (64 bzw. 256 Zeichen) werden durch zwei Methoden erweitert: Für viele Sprachen bzw. Fachsprachen gibt es eigene Zeichensätze (Notationen), bei denen die Bedeutung der Zeichen anders ist. Dazu zählen z. B. die Mathematikschrift, die Chemieschrift, die Musikschrift und andere. Es muss daher am Textanfang darauf hingewiesen werden, dass ein spezieller Zeichensatz folgt. Bei der normalen 6-Punkt-Brailleschrift spricht man dagegen von Literaturbraille. Für ein Schwarzschriftzeichen wird eine Kombination aus Braillezeichen verwendet. Auffälligstes Beispiel hierfür ist, dass es im 6-Punkt-Braille (Basisschrift) keinen Unterschied zwischen Groß- und Kleinschreibung gibt. Ein Buchstabe wird durch die Voranstellung eines speziellen Zeichens zum Großbuchstaben erklärt. IPA Braille ist die moderne Standardkodierung des Internationalen Phonetischen Alphabets (IPA) für Brailleschrift. Prägemaschinen und -geräte Bei Benutzung von Punktschriftmaschinen sind die Tasten der Punkte gleichzeitig zu betätigen, um das entsprechende Zeichen der Codetabelle zu schreiben. Dabei befinden sich die Tasten für die Punkte eins bis drei in absteigender Reihenfolge auf der linken Seite, sowie die Tasten für die Punkte vier bis sechs aufsteigend auf der rechten Seite. Dazwischen liegt die Leertaste. Will man zum Beispiel ein R () schreiben, so muss man mit der linken Hand die Tasten [3], [2] und [1] und mit der rechten Hand die Taste [5] gleichzeitig drücken. Unterschieden wird dabei zwischen Bogenmaschinen und Stenomaschinen. Beide Maschinentypen sind inzwischen weitgehend abgelöst durch Modelle, die die Daten auf digitale Medien speichern – aber gerade wegen der Zuverlässigkeit (kein Strom notwendig etc.) sind Stenomaschinen immer noch beliebt. Schreibtafeln Neben Maschinen sind auch Schreibtafeln im Gebrauch. Es handelt sich um zwei Tafeln, die mit einem Scharnier verbunden sind. Die obere Tafel hat rechteckige Aussparungen, die der Größe von sechs Punkten der Braille-Schrift entsprechen. Die untere Tafel hat grübchenförmige Vertiefungen im Abstand der sechs Braille-Punkte. Zwischen die beiden Tafeln wird ein geeignetes Blatt Papier eingelegt und mit einem Metallstift werden nun die erforderlichen Punkte in das Papier „gestochen“. Zu beachten ist, dass, um lesbare Zeichen zu erhalten, auf der Rückseite des Papiers in Spiegelschrift und von rechts nach links „gestochen“ wird. Schreibtafeln gibt es aus Metall oder Kunststoff in verschiedenen Größen (etwa DIN A6 bis DIN A4). Sie werden von Nichtsehenden für Notizen verwendet, können aber auch zum zusätzlichen „Beschriften“ von Papieren mit „Schwarzschrift“ (Postkarten, Visitenkarten etc.) verwendet werden. Bandprägegeräte Im Handel sind Prägegeräte erhältlich, die Braille-Zeichen in selbstklebende Bänder prägen. Die Prägung erfolgt meist von der Rückseite her, so dass seitenrichtig von links nach rechts gearbeitet werden kann. Die so hergestellten Bänder sind gut geeignet, um unterschiedlichste Gegenstände des täglichen Gebrauchs zu kennzeichnen. Sie werden auch im öffentlichen Raum eingesetzt, um z. B. Handläufe von Treppengeländern zu kennzeichnen. Codetabelle für die deutsche Sprache Siehe Normenreferenz Buchstaben und Kombinationen Symbole und Zeichen Systematik des Punkteaufbaus Die ersten zehn Buchstaben (A–J) bzw. die Ziffern (0–9) nutzen nur die vier oberen der insgesamt sechs Punkte (Punkte Nr. 1, 2, 4, 5): Die nächsten zehn Buchstaben (K–T) unterscheiden sich nur durch einen zusätzlichen Punkt unten links (Punkt Nr. 3). Die folgenden Zeichen (darunter U–Z) unterscheiden sich wiederum durch einen zusätzlichen Punkt unten rechts (Punkt Nr. 6) neben dem unten links. Das W () wird in Brailles Muttersprache Französisch nicht benutzt und wurde daher erst später aufgenommen, basierend auf der Grundform von j (). Es erscheint daher in dieser Übersicht erst in der vierten Zeile. In weiteren schwarzschriftlichen Digraphen und anderen Sonderzeichen wird nur der Punkt Nr. 6 unten rechts ergänzt und der unten links (Punkt 3) nicht gesetzt. Das Zeichen für öffnende runde Klammer ( steht auch für die schließende runde Klammer ) und das Gleichheitszeichen =. Je nach Stellung des Zeichens vor oder nach Buchstaben bzw. Leerzeichen wird die gemeinte Bedeutung erkennbar. Das Zeichen st steht auch für die schließende eckige Klammer ]. Außerdem sind die Zeichen für Plus + und das Ausrufezeichen ! identisch. Die Zeichen , ; : / ? + ( » * « stehen in der genannten Reihenfolge für die um eine Punktreihe tiefergestellten Ziffern 1–9 und 0 und können statt der jeweiligen Ziffer als Ordnungszahl verwendet werden; das Zahlenzeichen # ist zu setzen. Besonderheiten bei der Verwendung und Steuerzeichen Das $ bezeichnet das nächste Zeichen als Großbuchstaben und steht z. B. vor Eigennamen. Das > wird verwendet, wenn alle nachfolgenden Zeichen als Großbuchstaben betrachtet werden sollen. Das ' (Apostroph als Aufhebungszeichen) wird verwendet, wenn die folgenden Zeichen wieder Kleinbuchstaben sein sollen. Es wird auch als Auflösungspunkt bezeichnet und dient z. B. zur Umwandlung von ss in ß. Das # ist das Zahlenzeichen, das vor einer oder mehreren Ziffern steht. Leerzeichen, Apostroph oder andere Zeichen, die nicht mit Ziffern verwechselt werden können, beenden die Zahl. Der Apostroph wird anstelle des Leerzeichens verwendet, wenn direkt hinter der Zahl noch Buchstaben oder Satzzeichen folgen sollen, die mit Ziffern verwechselt werden können. Zahlen in Zahlengruppen werden mit dem Punkt getrennt. In mathematischen Formeln können die Rechenzeichen durch ein Akzentzeichen (Punkt Nr. 4) angekündigt werden. In der vereinfachten Schreibweise kann das Akzentzeichen weggelassen werden, wenn es keine Verwechslungsgefahr mit anderen Zeichen gibt. Ordnungszahlen können durch das Schreiben der Ziffern um eine Punktreihe tiefergesetzt gekennzeichnet werden. Das ist möglich, weil Ziffern zur Darstellung nur die oberen zwei Punktreihen benötigen. Der abschließende Punkt zur klassischen Kennzeichnung von Ordnungszahlen entfällt dann. Brüche werden mit Zähler und Nenner direkt hintereinander dargestellt, der Nenner ist allerdings um eine Punktreihe nach unten verschoben. Prozent und Promille werden als Bruch 0/0 bzw. 0/00 dargestellt, dabei ist der Nenner 0 bzw. 00 wieder tiefergestellt. Als Dezimaltrennzeichen kann außer dem Komma auch der Punkt verwendet werden. Verkürzung der Schrift zum Zwecke der Beschleunigung Bestrebungen, die Schrift schneller zu machen, führten zu einer Verkürzung der Wortbilder. In der deutschen Brailleschrift werden grundsätzlich vier verschiedene Kürzungsgrade für Literaturbraille unterschieden. Basisschrift Hier entspricht im Allgemeinen jeder Buchstabe einem Braillezeichen. Es gibt nur Kleinbuchstaben, weswegen Großbuchstaben, Ziffern oder Akzentbuchstaben durch Voranstellen bestimmter Zeichen zu solchen erklärt werden. Vollschrift Acht Buchstabengruppen der deutschen Sprache (au ei eu äu ie ch sch st) werden durch eigene Braillezeichen ersetzt. Dadurch verkürzt sich der Text gegenüber der Basisschrift um etwa 5 % bis 10 %. Die Vollschrift ist die Grundstufe für den Erwerb der deutschen Brailleschrift. Kurzschrift Die Kurzschrift ist vergleichbar mit der Stenografie in der Schwarzschrift (z. B. steht u für und). Der Text wird dabei um etwa 30 % bis 40 % gegenüber der Vollschrift verkürzt. Geübte Blinde können diese Kurzschrift fast im selben Tempo lesen wie Sehende Schwarzschrift. Blindenstenografie Kompliziertes Regelwerk zur Verkürzung von Wörtern, Redewendungen und ganzen Sätzen, um gesprochene Sprache mitschreiben zu können. Die Braille-Stenografie beherrschen nur wenige ausgebildete Blinde. Teilweise wird mit Sieben- oder Acht-Punkt-Systemen gearbeitet. Die Kurzschrift wird am häufigsten zur Erstellung von Druckerzeugnissen in Brailleschrift (80 bis 85 %) und bei Mitschriften blinder Menschen mit der Punktschriftmaschine eingesetzt. Ein Zeichen in Brailleschrift ist etwa 6 mm lang und 4 mm breit, so dass die Tastschärfe von trainierten Menschen nicht unterschritten wird. Die Punkthöhe (Erhebung) soll 0,4 mm nicht unterschreiten, damit die Zeichen taktil erfassbar bleiben. Lese-Leistung Erfahrene Braille-Leser können etwa 100 Wörter pro Minute lesen. Zum Vergleich: sehende Leser schaffen etwa 250 bis 300 Wörter pro Minute. Kurzschrift Die Kürzungen erweitern das Inventar der Vollschrift und sollen dort nur innerhalb von Morphemen erfolgen. Es gibt einige Doppelbelegungen, die durch Markierungszeichen aufgelöst werden sollen bzw. derentwegen manche Kürzungen nur an bestimmten Stellen im Wort möglich sind. Andere Brailleschriften Brailleschriften für spezielle Inhalte Für spezielle Themen gibt es eigene Brailleschriften, so z. B. die Braille-Musikschrift, die Braille-Schaltungsschrift, die Braille-Schachschrift und die Braille-Strickschrift. Braille für andere Schriften Neben zusätzlichen Belegungen für Zeichen mit Diakritika gibt es auch Übertragungen der Brailleschrift auf andere Schriftsysteme als das lateinische. Für die Alphabete der russischen oder griechischen Sprache werden die Zeichen entsprechend ihrer Transliteration in das lateinische Schriftsystem, also unabhängig von ihrer Reihenfolge im Alphabet, übertragen. Für anders strukturierte Schriften, wie z. B. Japanisch, Koreanisch oder Tibetisch, wurden die Zeichen jedoch komplett neu zugeordnet. So wird zum Beispiel in der Japanischen Brailleschrift jeder Silbe der Kana jeweils ein eigenes Zeichen zugeordnet. Braillezeichen in Unicode / UTF-8 Unicode ist heute (Stand 2011) praktisch auf jedem Computersystem verfügbar. Da die Braillezeichen in Unicode vorhanden sind, ist eine Darstellung der Braillezeichen auf Bildschirmen etc. problemlos möglich. Die Unicode-Zeichen sind also vorteilhaft für die Darstellung von Brailleschrift für Sehende – dem Blinden selbst nutzt der Unicode nur wenig (Beispielsweise Ausdrucke auf Schwellpapier in Ausnahmefällen). In Unicode werden die aus sechs Punkten bestehenden Braillezeichen durch die Zeichennummern U+2800 bis U+283F (hexadezimale Schreibweise) repräsentiert. Dies sind einschließlich des Leerzeichens 64 Zeichen. Die Reihenfolge der Zeichen wurde so definiert, dass jeder Punkt eines Braillezeichens einem gesetzten Bit entspricht. Dabei ist die Reihenfolge der Bits wie oben beschrieben (siehe Abb. „Nummerierung“). Ein Zeichen ist damit also durch #×2800 + Wert der Punkte codiert. Die Reihenfolge der in Unicode codierten Zeichen weicht damit erheblich von der in Absatz #Systematik des Punkteaufbaus dargestellten ab. In Unicode wurde der Zeichenvorrat von Braille auf 256 erweitert, indem unter den Block aus sechs Punkten noch weitere zwei Punkte eingefügt wurden (bei Braillezeilen werden ebenfalls meist 8 Punkte dargestellt). Die Zeichen mit 8 Punkten (U+2840 bis U+28FF) sind in der Tabelle farblich abgesetzt dargestellt. Mit Brailleschrift erstellte Inhalte Das inhaltliche Angebot in Brailleschrift umfasst ein weites Spektrum unterschiedlichster Werke. Es reicht von klassischer und moderner Literatur, über Fachbücher bis hin zu unterschiedlichster Pornografie. Es existieren auch Zeitschriften zu unterschiedlichsten Themenbereichen. So veröffentlichte z. B. der Playboy in den Jahren von 1970 bis 1985 sein Magazin auch in Brailleschrift. In Deutschland gibt es eine Pflicht zur Kennzeichnung von Medikamentenverpackungen in Brailleschrift. In Brailleschrift angefertigte Schriftstücke werden von der Deutschen Post als Blindensendung kostenlos befördert. Siehe auch Braille-Musikschrift Braillezeile Bharati-Brailleschrift, Chinesische Brailleschrift, Japanische Brailleschrift, Vietnamesische Brailleschrift Blindenschriftübersetzungsprogramm Literatur Bernhard Walter Panek: Blindenschrift. Schrift – Grafik – Druck. Herstellung und Vervielfältigung taktil erfaßbarer Publikationen. Wiener Universitätsverlag Facultas, Wien 2004, ISBN 978-3-7089-0153-4 Weblinks Das System der deutschen Brailleschrift – 2., korrigierte Auflage 2021, herausgegeben vom Brailleschriftkomitee der deutschsprachigen Länder (BSKDL) braille.ch erstellt von Vivian Aldridge – Vertreter des Verbands für Blinden- und Sehbehindertenpädagogik e. V (VBS) Matthias Hänel: Die Blindenschrift Wolfgang Hubert: Kurze Einführung in die Blindenschrift Lernprogramm vom Bundes-Blindenerziehungsinstitut Beschreibung vom Deutschen Blinden- und Sehbehindertenverband Online-Braille-Übersetzer der Christoffel-Blindenmission (grafische Ausgabe) braillepost.be ermöglicht das kostenlose Versenden von Nachrichten in Punktschrift an Blinde Brailleschrift online lernen, eigene Texte in Braille umwandeln, Punktschrift-Tafel-Simulator und mehr – fakoo.de Aussprache von Brailleschrift auf Forvo.com Informationen zu Aufklebern mit Brailleschrift nach DIN-Norm Schriftarten Liste der UTF-8 Zeichen (U+2800–U+28FF) bei utf8-zeichentabelle.de Schriftart „Blistabraille“ zum Download für die Anzeige am PC Font „Braille“ für Braillezeichen, gemäß dem Unicode-Standard (Link direkt zur TTF-Datei zum Download) Spezielle Braille-Zeichensätze Das Neue internationale Handbuch der Braillenotenschrift (1998) erläutert die Musiknotation Computerbraille und Eurobraille Blindenschrift für die russische Sprache Einzelnachweise
Q79894
328.345421
6849
https://de.wikipedia.org/wiki/1888
1888
Ereignisse Politik und Weltgeschehen Deutsches Reich 9. März: Kaiser Wilhelm I. stirbt im Alter von fast 91 Jahren in Berlin. Ihm folgt, als Kaiser Friedrich III. sein ältester Sohn, Kronprinz Friedrich Wilhelm (99-Tage-Kaiser). 15. Juni: Friedrich III. stirbt und der letzte Kaiser des Deutschen Reiches, Wilhelm II., besteigt nach dem Tod seines Vaters den Kaiserthron (Dreikaiserjahr in Deutschland). Weitere Ereignisse in Europa 1. Januar: Wilhelm Hertenstein wird Bundespräsident der Schweiz. 21. Oktober: Die Sozialdemokratische Partei der Schweiz wird gegründet. 29. Oktober: Aus ungeklärter Ursache entgleist bei Borki südlich von Charkow der Zug des Zaren Alexander III. auf der Rückfahrt aus dem Kaukasus nach St. Petersburg. Die kaiserliche Familie bleibt beim Eisenbahnunglück unverletzt. 26. Dezember: Mit dem Färöischen Weihnachtstreffen keimt die dortige Nationalbewegung auf. In der Geschichte der Färöer entsteht der Wunsch nach eigener Sprache und Unabhängigkeit von dänischer Herrschaft. 30. Dezember: Der Hainfelder Parteitag zur Gründung der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Österreichs beginnt. Victor Adler hat dafür ein Programm ausgearbeitet, das von Karl Kautsky gebilligt worden ist. Von den 110 Delegierten aus den habsburgischen Kronländern sind 69 stimmberechtigt. Afrika 28. April: Die Deutsch-Ostafrikanische Gesellschaft (DOAG) schließt einen Vertrag mit Sultan Chalifa ibn Said von Sansibar, wonach die Gesellschaft die Verwaltung des sansibarischen Festlandes und die Erhebung der Küstenzölle im Namen des Sultans gegen eine jährliche Pachtsumme übernimmt. 16. August: Der Aufstand der ostafrikanischen Küstenbevölkerung gegen die Deutsch-Ostafrikanische Gesellschaft bricht von Pangani aus los und breitet sich rasch aus. Auslöser ist die Hissung der DOAG-Flagge neben der des Sultans und das herrische Auftreten des DOAG-Vertreters Emil von Zelewski. Außer Bagamoyo und Dar es Salaam muss die DOAG bis Ende September alle ihre Stationen an der Küste verlassen. Daraufhin gibt es ein offizielles Hilfeersuchen der DOAG an die deutsche Reichsregierung. 22. November: Die Reichspost gründet die Postagentur Lamu als erste Postanstalt des Deutschen Kaiserreichs auf dem Boden Ostafrikas. Vereinigte Staaten von Amerika 6. November: Bei der Präsidentschaftswahl in den Vereinigten Staaten erhält der demokratische Amtsinhaber Grover Cleveland zwar die meisten Stimmen, der republikanische Herausforderer Benjamin Harrison kann jedoch mehr Wahlmännerstimmen auf sich vereinen und wird zum 23. Präsidenten der Vereinigten Staaten gewählt. Südamerika 13. Mai: Prinzessin Isabella von Brasilien, die für ihren in Europa weilenden Vater Pedro II. die Regentschaft führt, unterzeichnet die tags zuvor vom Senat beschlossene Lei Áurea zur Abschaffung der Sklaverei in Brasilien. Mit der Unterzeichnung des Gesetzes ist Brasilien das letzte westliche Land, das die Sklaverei abschafft. Durch das Gesetz wird rund eine Million Sklaven in die Freiheit entlassen. Isabella erhält im Volksmund den Ehrentitel A Redentora („die Erlöserin“) und wird von Papst Leo XIII. mit einer Goldenen Rose geehrt. Ozeanien 16. April: Das Deutsche Reich annektiert auf Basis der Britisch-deutschen Erklärungen über den westlichen Pazifik aus dem Jahr 1886 die Insel Nauru. 3. Oktober: Die deutschen Besatzer beenden mit Waffengewalt den seit zehn Jahren tobenden Nauruischen Stammeskrieg, der die Bevölkerung der Insel an den Rand der Ausrottung gebracht hat. 6. Juni: Nach der Entdeckung von Phosphat-Vorkommen wird die Weihnachtsinsel von Großbritannien annektiert. Die Cookinseln werden britisches Protektorat. Weitere Ereignisse weltweit 29. Oktober: Die Konvention von Konstantinopel proklamiert die Freiheit der Schifffahrt im Sueskanal. Wirtschaft Weltausstellung Für die vom 8. April bis 9. Dezember stattfindende Weltausstellung 1888 in Barcelona wird in nur 53 Tagen das Gran Hotel Internacional erbaut. Patente 22. Mai: Leroy S. Buffington, dem Architekten der Pillsbury A Mill in Minneapolis, wird ein US-Patent auf eine Stahlbauweise für Wolkenkratzer gewährt. 7. August: Der Erfinder Theophilus Van Kannel erhält in den Vereinigten Staaten das Patent auf die Drehtür. 21. August: William Seward Burroughs erhält das US-Patent Nummer 388.116 auf das von ihm erfundene Modell einer Rechenmaschine. 7. Dezember: Der schottische Reifenpionier John Boyd Dunlop meldet das erste Patent für den Fahrradluftreifen an. Der Fotograf Ottomar Anschütz lässt sich seinen vor der Bildebene liegenden Jalousieverschluss patentieren. Unternehmensgründungen 13. Februar: Die Financial Times ist erstmals in London erhältlich. Unter diesem Titel wird der rund einen Monat zuvor herausgebrachte London Financial Guide weitergeführt. 12. März: Cecil Rhodes gründet zusammen mit der Rothschild-Bank in Paris und anderen Geschäftspartnern die „De Beers Consolidated Diamond Mines“, ein Unternehmen, das nach kurzer Zeit nahezu ein weltweites Monopol im Diamantenhandel erreichte und auch gegenwärtig noch besitzt. 6. September: Die Flensburger Brauerei wird eröffnet. Verkehr 4. Juni: Der König der Belgier, Leopold II., eröffnet das erste der hydraulischen Schiffshebewerke des belgischen Canal du Centre. Der Weiterbau der Wasserstraße verzögert sich in der Folge aus Kostengründen. 14. Juni: In der Schweiz wird die von der Jura–Bern–Luzern gebaute Brünigbahn von Brienz über den Brünigpass nach Alpnachstad feierlich eröffnet. 1. Juli: Die Bahnstrecke Stralsund–Rostock wird von den Preußischen Staatseisenbahnen offiziell eröffnet. 18. August: Der Frankfurter Centralbahnhof wird als größter Bahnhof Europas eröffnet. 18. September: In Hamburg wird die Deutsch-Australische Dampfschiffs-Gesellschaft gegründet, die einen Linienverkehr zum fünften Kontinent einrichtet. 25. September: Die Nerobergbahn in Wiesbaden wird eröffnet. 4. Oktober: Unter ihrem Vorstandsvorsitzenden Georg von Siemens erwirbt die Deutsche Bank die Konzession zum Bau der Anatolischen Eisenbahn. Sie wird dabei von Reichskanzler Bismarck unterstützt. Sonstiges 29. Oktober: In einer feierlichen Zeremonie legt Kaiser Wilhelm II. den Schlussstein für den ersten Abschnitt der Speicherstadt in Hamburg. Wissenschaft und Technik 13. Januar: In Washington, D.C. gründen 33 Männer die National Geographic Society zur Förderung der Geographie. Zum ersten Präsidenten der Gesellschaft wird am 27. Januar Gardiner Greene Hubbard gewählt. 23. Juni: Der deutsche Verein zur Förderung der Luftschifffahrt führt die erste der sogenannten Berliner wissenschaftlichen Luftfahrten durch. An Bord des Gasballons Herder befinden sich unter anderem das Vereinsmitglied Hans Bartsch von Sigsfeld und der Meteorologe Victor Kremser. 29. Juni: Mit einem von Thomas Alva Edison entwickelten Wachswalzen-Phonographen werden Teile von Händels Oratorium Israel in Egypt aufgenommen, womit die erste bis heute erhaltene Musikaufnahme entsteht. 1. August: Carl Benz erhielt für seinen Motorwagen die erste Fahrerlaubnis der Welt, ausgestellt am 1. August 1888 vom Großherzoglich-Badischen Bezirksamt. 5. August: Bertha Benz fährt mit ihren beiden Kindern im Wagen ihres Mannes Carl Benz (ohne dessen Wissen) von Mannheim nach Pforzheim. Es ist die erste Überlandfahrt eines Automobils. 7. September: Das Baby Edith Eleanor McLean wird als erstes Kind in den USA in einen Brutkasten gelegt. 9. Dezember: Statistiker Herman Hollerith installiert die von ihm erfundene lochkartengesteuerte Rechenmaschine im US-Kriegsministerium. 13. Dezember: Heinrich Hertz informiert in seinem Bericht „Über Strahlen elektrischer Kraft“ die Berliner Akademie der Wissenschaften über die Existenz elektromagnetischer Wellen. Seine Entdeckung liefert den entscheidenden Impuls für die Entwicklungen in Richtung drahtloser Telegrafie und Rundfunk. Wilhelm Hallwachs entdeckt den Photoeffekt (auch „lichtelektrischer Effekt“). Erste Teile der Kittelsthaler Tropfsteinhöhle werden entdeckt. In Thailand wird der Suriyakati-Kalender eingeführt. Der deutsche Ingenieur Andreas Flocken stellt in der Maschinenfabrik A. Flocken in Coburg den Flocken Elektrowagen her, das erste Elektroauto der Welt. Kultur Architektur In Turin wird die Mole Antonelliana, das höchste Gebäude Italiens, fertiggestellt. Bildende Kunst März/Mai: Der Maler Vincent van Gogh malt das Bild Brücke von Langlois (in 2 Versionen). August: Vincent van Gogh malt mehrere Versionen des Gemäldes Sonnenblumen. Sommer: Vincent van Gogh malt den Sonnenuntergang bei Montmajour. September: Vincent van Gogh fertigt in Öl auf Leinwand die Gemälde Das Nachtcafé, Caféterrasse am Abend und Sternennacht über der Rhone. 23. Oktober: Paul Gauguin trifft in Arles ein, um mit van Gogh ein „Atelier des Südens“ zu gründen. Vincent van Gogh malt die erste Version seines Schlafzimmers im „Gelben Haus“ in Arles. 23. Dezember: Vincent van Gogh verletzt sich unter ungeklärten Umständen am rechten Ohr. Der Künstler Claude Monet malt das Bild Antibes vom Hügel ‚Notre Dame‘ aus gesehen. Gründung der Milwaukee Art Association Literatur 30. September: Friedrich Nietzsche beendet in Turin die Arbeiten an seiner Schrift Der Antichrist; Beginn der alternativen Zeitrechnung, die am Ende des Buches vorgeschlagen wird. Theodor Fontanes Roman Irrungen, Wirrungen wird veröffentlicht. Musik und Theater 13. Februar: Uraufführung der Symphonia Tragica von Felix Draeseke in Dresden 25. Februar: Uraufführung der Oper Jocelyn von Benjamin Godard am Théâtre de la Monnaie in Brüssel 11. April: Das Concertgebouw in Amsterdam wird eröffnet. 4. Oktober: Im K. u. k. Hofoperntheater in Wien wird das Pantomimische Divertissement Die Puppenfee mit der Musik von Josef Bayer nach einem gemeinsamen Libretto von Joseph Haßreiter und Franz Gaul uraufgeführt. 28. Oktober: Uraufführung des einaktigen „Scherzes“ Der Bär von Anton Tschechow am Korsch-Theater in Moskau John Philip Sousa komponiert den Militärmarsch Semper Fidelis. Sonstiges 17. Oktober: In den USA erscheint die Erstausgabe des National Geographic Magazine, dessen Monatsausgaben ihrer Bilder, Reportagen und Essays wegen bald einen festen Kundenstamm haben. 14. Oktober: Mit Roundhay Garden Scene dreht Louis Le Prince den ältesten Film der Filmgeschichte. Ende Oktober folgt der Film Traffic Crossing Leeds Bridge. 4. Dezember: Gründung des Heraldischen Vereins „Zum Kleeblatt“ in Hannover 13. Dezember: Gründung der Deutschen Schule Thessaloniki, Griechenland Gründung des Deutschen Historischen Institutes in Rom Gesellschaft 12. Februar: William Robert Woodman, Samuel Liddell MacGregor Mathers und William Wynn Westcott gründen in England den magischen Geheimbund Hermetic Order of the Golden Dawn. 31. Juli: In München kommt es während einer Centenarfeier anlässlich des 100. Geburtstages von Ludwig I. zur sogenannten Elefantenkatastrophe, als auf einem Festzug eine Gruppe von Elefanten scheut und dadurch eine Massenpanik ausgelöst wird. Dabei kommen vier Menschen ums Leben, 42 werden verletzt. 13. August: Auf Einladung von Valentin Salzmann erfolgt die Gründung des Schwäbischen Albvereins in Plochingen. Am 12. November wird ein erster Satzungsentwurf vorgelegt. 31. August (möglicherweise auch früher) bis 9. November: Jack the Ripper treibt sein Unwesen im Londoner Stadtteil Whitechapel. 27. September: Der Stanley Park in Vancouver, Kanadas größter Stadtpark, wird eröffnet. 29. November: Sechs Zimmerleute gründen in Berlin den Deutschen Arbeiter-Samariter-Bund. Religion Römisch-Katholische Kirche 20. Juni: In der Enzyklika Libertas praestantissimum donum anerkennt Papst Leo XIII. die Gewissensfreiheit, hält aber zugleich fest: „Die uneingeschränkte Freiheit des Denkens und die öffentliche Bekanntmachung der Ge­danken eines Menschen gehören nicht zu den Rechten der Bürger“. 24. Juni: Papst Leo XIII. rät über die Bischöfe in der Enzyklika Saepe nos den Iren zu Gehorsam, Gerechtigkeit und legalem Vorgehen in Irlands Umwälzungszeiten. 10. Dezember: In der Enzyklika Quam aerumnosa sorgt sich Papst Leo XIII. um die italienischen Immigranten in Amerika. Priestermangel und Sprachprobleme könnten Rückwirkungen auf das Geben der Sakramente haben. Entsandte Geistliche aus Italien sollen dem Engpass abhelfen. Anglikanische Kirche 3.–27. Juli: Dritte Lambeth-Konferenz der Anglikanischen Kirche Katastrophen 12. Januar: Ein plötzlich einsetzender Schneesturm in den nördlicheren Binnenstaaten der USA kostet mehrere hundert Menschen, darunter zahlreiche Schulkinder das Leben. Er wird deswegen Schoolchildren’s Blizzard genannt. 11. März: Ein einsetzender Blizzard beginnt das Leben an der Ostküste der USA lahmzulegen. Der Große Schneesturm von 1888 tobt in der Spitze ununterbrochen eineinhalb Tage lang. Am Ende der Wetterunbilden werden etwa 400 Tote gezählt. Am 15. März schreibt der kubanische Schriftsteller José Martí den Erlebnisbericht Nueva York bajo la nieve, der am 27. April in der argentinischen Zeitschrift La Nación veröffentlicht wird. 25. Juni: In Sundsvall bricht der bis dahin größte Stadtbrand Schwedens aus. 400 Höfe werden zerstört und 9.000 Einwohner obdachlos. Am selben Tag wütet ferner ein Großbrand in Umeå, der dort 2.500 der rund 3.000 Bewohner um ihr Zuhause bringt. 15. Juli: Die Eruption des Schichtvulkans Bandai in Japan fordert 461 Menschenleben; 70 Personen werden verletzt. 14. August: Vor Sable Island sinkt der dänische Passagierdampfer Geiser nach der Kollision mit einem Schiff derselben Reederei. 118 Menschen sterben. 29. Oktober: Beim Eisenbahnunfall von Borki sterben 23 Menschen, die Familie von Zar Alexander III., die sich im Zug befindet, bleibt unverletzt. Sport 21. Januar: In den Vereinigten Staaten entsteht der Sportverband Amateur Athletic Union (AAU). 22. März: Der Schotte William McGregor gründet in England The Football League, die weltweit erste Fußball-Profiliga. Die Football League 1888/89 startet mit 12 teilnehmenden Vereinen am 8. September. 1. April: Der Rotterdamsche Cricket & Football Club Sparta wird gegründet, aus dem später der Fußballverein Sparta Rotterdam hervorgeht. Geboren Januar 1. Januar: Hermann Arnold, deutscher Unternehmer († 1973) 1. Januar: Eduard Bass, tschechischer Schriftsteller und Schauspieler († 1946) 1. Januar: Frank Stokes, US-amerikanischer Blues-Musiker († 1955) 1. Januar: Johannes Hohlfeld, deutscher Genealoge und Historiker († 1950) 4. Januar: Walther Kossel, deutscher Physiker († 1956) 5. Januar: Lauri Pihkala, finnischer Leichtathlet, Erfinder des Pesäpallo († 1981) 8. Januar: Richard Courant, deutscher Mathematiker († 1972) 10. Januar: Nemo Agodi, italienischer Turner († 1940) 10. Januar: Alfred Birlem, deutscher Fußballschiedsrichter († 1956) 12. Januar: Claude Delvincourt, französischer Komponist († 1954) 13. Januar: Wassil Boschinow, bulgarischer Komponist († 1966) 18. Januar: Michael Horlacher, deutscher Politiker († 1957) 18. Januar: Wim Bronger, niederländischer Fußballspieler († 1965) 19. Januar: Ernesto Ruffini, italienischer Bischof und Kardinal († 1967) 20. Januar: Tryggve Gran, norwegischer Pilot, Entdecker und Autor (erster Alleinflug über die Nordsee 1914) († 1980) 20. Januar: Paul Weyland, deutscher Chemiker († 1972) 21. Januar: Ernst Kapp, deutscher Altphilologe(† 1978) 22. Januar: Willy Moog, deutscher Philosoph († 1935) 23. Januar: Paul Peter Ewald, deutscher Physiker († 1985) 23. Januar: Jerzy Gablenz, polnischer Komponist († 1937) 23. Januar: Bianca Stagno Bellincioni, italienische Sängerin und Schauspielerin († 1980) 24. Januar: Ernst Heinkel, deutscher Luftfahrtpionier († 1958) 24. Januar: Vicki Baum, österreichische Harfenistin und Schriftstellerin († 1960) 27. Januar: Otto Schmidt-Hannover, deutscher Politiker († 1971) 27. Januar: Victor Moritz Goldschmidt, Geochemiker († 1947) 28. Januar: Ossip Zadkine, weißrussischer Maler und Bildhauer († 1967) 29. Januar: Walter Bau (Lehrer), deutscher Lehrer, Geologe, Paläontologe und Zoologe († 1967) 29. Januar: Sydney Chapman, britischer Astronom und Geophysiker († 1970) Februar 1. Februar: Hans Anton Aschenborn, deutscher Tiermaler, Illustrator und Autor († 1931) 2. Februar: Johannes Eckert, Frankfurter Original († 1959) 2. Februar: Irene Scharrer, englische Pianistin († 1971) 4. Februar: Paul Althaus, deutscher protestantischer Theologe († 1966) 5. Februar: Hedwig Anneler, schweizerischer Ethnologin und Schriftstellerin († 1969) 6. Februar: Oscar Gans, deutscher Dermatologe († 1983) 7. Februar: Lothar van Gogh, niederländischer Fußballspieler († 1945) 8. Februar: Hans Arko, österreichischer Rechtsanwalt und Politiker († 1953) 8. Februar: Edith Evans, britische Schauspielerin († 1976) 8. Februar: Jakob Kaiser, deutscher Politiker († 1961) 8. Februar: Matthijs Vermeulen, niederländischer Komponist († 1967) 9. Februar: Cas Ruffelse, niederländischer Fußballspieler († 1958) 10. Februar: Alfredo Pacini, italienischer römisch-katholischer Kardinal († 1967) 10. Februar: Giuseppe Ungaretti, italienischer Schriftsteller († 1970) 10. Februar: Harry Beaumont, US-amerikanischer Filmregisseur († 1966) 10. Februar: Wilhelm Thöny, österreichischer Maler und Grafiker († 1949) 10. Februar: Willy Jaeckel, deutscher Künstler († 1944) 11. Februar: Alfred Johan Asikainen, finnischer Ringer († 1942) 11. Februar: Rolf Gustav Haebler, deutscher Politiker und Heimatforscher († 1974) 12. Februar: Anders Oscar Ahlgren, schwedischer Ringer († 1976) 12. Februar: Hans von Sponeck, Generalmajor der Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg († 1944) 13. Februar: Georgios Papandreou, griechischer Politiker und Regierungschef († 1968) 14. Februar: Robert Remak, deutscher Mathematiker († 1942) 17. Februar: Hans Blüher, deutscher Schriftsteller und Philosoph († 1955) 17. Februar: Otto Stern, deutscher Physiker († 1969) 17. Februar: Ludwig Weinacht, deutscher Ruderer († 1946) 19. Februar: Adelina Domingues, kap-verdisch-amerikanische Altersrekordlerin († 2002) 19. Februar: Tom Spencer Vaughan Phillips, britischer Admiral († 1941) 19. Februar: Rosy Wertheim, niederländische Komponistin, Pianistin und Musikpädagogin († 1949) 20. Februar: Georges Bernanos, französischer Schriftsteller († 1948) 21. Februar: Albert Förster, deutscher Arbeiterführer und Widerstandskämpfer († 1958) 22. Februar: Owen Brewster, US-amerikanischer Politiker († 1961) 22. Februar: Gussy Holl, eigentlich Auguste Marie Holl, deutsche Schauspielerin und Diseuse († 1966) 22. Februar: Leo Waibel, deutscher Geograph († 1951) 23. Februar: Josef Eichheim, deutscher Schauspieler († 1945) 23. Februar: Edith Marcus, deutsche Malerin († unbekannt) 25. Februar: John Foster Dulles, US-amerikanischer Außenminister († 1959) 25. Februar: Heinrich Kemper, deutscher Politiker († 1962) 26. Februar: Maria Grengg, österreichische Erzählerin und Malerin († 1963) 26. Februar: Maurice Schilles, französischer Radrennfahrer († 1957) 27. Februar: Roberto Assagioli, italienischer Arzt, Psychiater und Psychotherapeut († 1974) 27. Februar: Lotte Lehmann, deutsch-US-amerikanische Opernsängerin († 1976) 28. Februar: Eugène Bigot, französischer Dirigent und Komponist († 1965) 29. Februar: Herbert Ihering, deutscher Theaterkritiker († 1977) 29. Februar: Gyula Kertész, ungarischer Fußballspieler und -trainer († 1982) 29. Februar: Domenico Tardini, italienischer römisch-katholischer Kardinal († 1961) März 1. März: Josef Brendle, deutscher Kunstmaler († 1954) 1. März: Robert Petschow, deutscher Ballonfahrer, Fotograf und Sportfunktionär († 1945) 2. März: Adolf Rading, deutscher Architekt († 1957) 3. März: Hans von Borstel, deutscher kommunistischer Politiker († 1962) 3. März: Olaf Hytten, schottischer Schauspieler († 1955) 5. März: Joshua Barnes Howell, US-amerikanischer Blues-Gitarrist, Sänger und Songschreiber († 1966) 5. März: Ramón Otero Pedrayo, spanisch-galicischer Schriftsteller († 1976) 5. März: Friedrich Schnack, deutscher Dichter († 1977) 5. März: Franz Schwede, deutscher nationalsozialistischer Politiker († 1960) 7. März: Alidius Warmoldus Lambertus Tjarda van Starkenborgh Stachouwer, Generalgouverneur von Niederländisch Ostindien († 1978) 9. März: Willy Westra van Holthe, niederländischer Fußballspieler († 1965) 9. März: Raquel Meller, spanische Sängerin und Filmschauspielerin († 1962) 10. März: Ilo Wallace, US-amerikanische Politikergattin († 1981) 12. März: Hans Knappertsbusch, deutscher Dirigent († 1965) 12. März: Erich Rothacker, deutscher Philosoph und Soziologe († 1965) 13. März: Josef Loos, tschechoslowakischer Eishockeyspieler († 1955) 13. März: Anton Semjonowitsch Makarenko, sowjetischer Pädagoge und Schriftsteller († 1939) 14. März: Knud Ahlborn, deutsche Persönlichkeiten der frühen Jugendbewegung († 1977) 16. März: Lenka von Koerber, deutsche Journalistin († 1958) 16. März: Anton Köllisch, deutscher Chemiker († 1916) 17. März: Eduard Fraenkel, deutsch-englischer Altphilologe († 1970) 17. März: Hans Schimank, deutscher Physiker und Wissenschaftsgeschichtler († 1979) 18. März: Gabriel del Orbe, dominikanischer Geiger († 1966) 18. März: Alfred Mahncke, deutscher General († 1979) 19. März: Josef Albers, deutscher Maler, Kunsttheoretiker und -pädagoge († 1976) 19. März: Gottlob Wieser, Schweizer evangelischer Geistlicher († 1973) 20. März: Franz Dornseiff, deutscher Altphilologe († 1960) 20. März: Krsto Odak, kroatischer Komponist († 1965) 20. März: Renée Sintenis, deutsche Bildhauerin und Graphikerin († 1965) 20. März: Siegfried von Vegesack, deutscher Schriftsteller († 1974) 21. März: Norbert von Hellingrath, deutscher Germanist († 1916) 21. März: Franz Koch, deutsch-österreichischer Germanist und Literaturhistoriker († 1969) 23. März: Heinrich Thieslauk, deutscher Widerstandskämpfer gegen das NS-Regime († 1937) 23. März: Hans Thirring, österreichischer Physiker († 1976) 24. März: Friedrich Burmeister, Politiker der DDR († 1968) 26. März: Elsa Brändström, schwedische Philanthropin († 1948) 26. März: Gustav Geierhaas, deutscher Komponist († 1976) 26. März: Émile Lacharnay, französischer Autorennfahrer († 1962) 27. März: Agnes Windeck, deutsche Bühnen-, Film- und Fernsehschauspielerin († 1975) 30. März: Edvardas Adamkevičius, litauischer General († 1957) April 1. April: Edmund Friedemann Dräcker, fiktiver deutscher Diplomat 1. April: Hermann Pünder, deutscher Politiker († 1976) 1. April: Gerhard Storm, deutscher Märtyrer der katholischen Kirche († 1942) 2. April: Louis Colas, französischer Autorennfahrer († 1949) 2. April: Marietta Schaginjan, sowjetische Schriftstellerin († 1982) 3. April: Georg Alexander, deutscher Schauspieler, Regisseur und Produzent († 1945) 3. April: Sibylle Ascheberg von Bamberg, deutsche Malerin († 1966) 6. April: Dan Andersson, schwedischer Arbeiterdichter und Lyriker († 1920) 6. April: Hans Richter, deutscher Maler und Filmkünstler des Dadaismus († 1976) 6. April: Gerhard Ritter, deutscher Historiker († 1967) 8. April: Dennis Chavez, US-amerikanischer Politiker († 1962) 8. April: Wilhelm Andreae, deutscher Sozialökonom († 1962) 9. April: Mary Barratt Due, norwegische Pianistin und Musikpädagogin († 1969) 9. April: Joseph Ferche, Weihbischof in Breslau und Köln († 1965) 11. April: Paul Appenzeller, Schweizer Mundartautor († 1951) 12. April: Dan Ahearn, US-amerikanischer Leichtathlet († 1942) 12. April: Carlos Julio Arosemena Tola, ecuadorianischer Bankier und Präsident († 1952) 12. April: Cecil Kimber, englischer Automobilkonstrukteur († 1945) 12. April: Heinrich Neuhaus, russisch-ukrainischer Pianist († 1964) 14. April: August Adam, deutscher Priester und Theologe († 1965) 14. April: Franz Seitz senior, deutscher Filmproduzent, Filmregisseur und Drehbuchautor († 1952) 15. April: Hermann Köhl, deutscher Flugpionier († 1938) 17. April: Maggie Teyte, britische Sopranistin († 1976) 17. April: Jan Vos, niederländischer Fußballspieler († 1939) 18. April: Arnold Lunn, britischer Skipionier, Bergsteiger und Schriftsteller († 1974) 19. April: Elias Aslaksen, norwegischer Prediger († 1976) 19. April: Oswald Menghin, österreichischer Universitätsprofessor, Prähistoriker, Unterrichtsminister († 1973) 20. April: Charles D. Hall, britisch-amerikanischer Szenenbildner († 1970) 21. April: Ludwig Ankenbrand, deutscher Geistlicher, Schriftsteller und Journalist († 1971) 21. April: Boris Pertel, russischer Sportschütze († ????) 22. April: Carlo Agostini, Erzbischof und Patriarch von Venedig und Kardinal († 1952) 23. April: Hans Freiherr von Pranckh, bayerischer Offizier und österreichischer Heimwehrführer († 1945) 24. April: Iwan Alexejewitsch Akulow, sowjetischer Gewerkschafter, Partei- und Staatsfunktionär († 1937) 26. April: Robert Bloch, französischer Autorennfahrer († 1984) 26. April: Hans Krebs, deutscher Publizist und Politiker († 1947) 27. April: Alexander Andrae, deutscher Offizier († 1979) 29. April: Dionys Schönecker, österreichischer Fußballspieler und -trainer († 1938) 30. April: David Jacobs, britischer Leichtathlet und Olympiasieger († 1976) 30. April: Hans Reingruber, Minister für Verkehr der DDR († 1964) Mai 1. Mai: Wilhelm Knothe, deutscher Politiker und MdB († 1952) 1. Mai: Jan Morávek, tschechischer Schriftsteller und Journalist († 1958) 1. Mai: John Francis O’Hara, Erzbischof von Philadelphia und Kardinal († 1960) 3. Mai: Alfred Braun, deutscher Rundfunkpionier († 1978) 5. Mai: Cuno Raabe, deutscher Politiker († 1971) 7. Mai: Hermann Fränkel, deutsch-amerikanischer Altphilologe († 1977) 9. Mai: Francesco Baracca, italienischer Jagdflieger im Ersten Weltkrieg († 1918) 10. Mai: Max Steiner, österreichischer Komponist († 1971) 11. Mai: Irving Berlin, US-amerikanischer Komponist († 1989) 11. Mai: Paul Gury, kanadischer Schauspieler, Regisseur und Drehbuchautor französischer Herkunft († 1974) 11. Mai: Max Zimmermann, deutscher Widerstandskämpfer gegen den Nationalsozialismus, Stadtverordneter in Dortmund und Arbeitersportaktivist († 1945) 12. Mai: Egmont Colerus, österreichischer Schriftsteller († 1939) 12. Mai: Theodor Reik, österreichisch-amerikanischer Psychoanalytiker († 1969) 12. Mai: Fritz Schäffer, deutscher Politiker, Bundesminister († 1967) 13. Mai: Inge Lehmann, dänische Seismologin († 1993) 15. Mai: John E. Miller, US-amerikanischer Politiker († 1981) 16. Mai: Wilhelm von Kaufmann, deutscher Arzt und Filmproduzent († 1959) 17. Mai: Horace Elgin Dodge, US-amerikanischer Automobilhersteller († 1920) 17. Mai: Annie Rosar, österreichische Schauspielerin († 1963) 18. Mai: Maria Niggemeyer, deutsche Politikerin († 1968) 19. Mai: Nikolai Schwernik, sowjetischer Politiker († 1970) 20. Mai: Theodor August Ankermann, deutscher Gewerkschafter und Politiker († 1967) 20. Mai: Mannes Francken, niederländischer Fußballspieler († 1948) 21. Mai: May Frances Aufderheide Kaufman, US-amerikanische Ragtimekomponistin († 1972) 21. Mai: Evasio Lampiano, italienischer Automobilrennfahrer († 1923) 21. Mai: Agnes Pechuel-Lösche, deutsche Malerin und Kunstgewerblerin († unbekannt) 21. Mai: Michael Schulien, deutscher katholischer Geistlicher, Päpstlicher Apostolischer Visitator für das Saargebiet († 1968) 23. Mai: Alexander N. Vyssotsky, russischer Astronom († 1973) 24. Mai: Melecio Arranz, philippinischer Politiker († 1966) 24. Mai: Johannes Göderitz, deutscher Architekt und Stadtplaner († 1978) 24. Mai: Walter Hammer, deutscher Schriftsteller und Verleger († 1966) 24. Mai: Walter Hösterey, deutscher Verleger und Schriftsteller († 1966) 24. Mai: Alex Osborn, US-amerikanischer Autor († 1966) 25. Mai: Anatoli Alexandrow, russischer Komponist († 1982) 25. Mai: Max Becker, deutscher Politiker († 1960) 27. Mai: Louis Durey, französischer Komponist († 1979) 27. Mai: Walter Sommé, deutscher General († 1971) 27. Mai: Rosi Wolfstein, deutsche Politikerin († 1987) 28. Mai: Nikolaus von Arseniew, russischer Emigrant und Theologe († 1977) 28. Mai: Johanna Geisler, deutsche Sängerin und Schauspielerin († 1956) 30. Mai: Hans Arnhold, deutsch-US-amerikanischer Bankier († 1966) Juni 1. Juni: Herbert Garbe, deutscher Bildhauer († 1945) 1. Juni: Imre Payer, ungarischer Fußballspieler und -trainer († 1956) 2. Juni: Hans Karl Breslauer, österreichischer Filmregisseur und Schriftsteller († 1965) 4. Juni: Fritz Arendt, deutscher Klassischer Philologe und Gymnasiallehrer († 1915) 4. Juni: Ingeborg Steffensen, dänische Opernsängerin (Mezzosopran) († 1964) 5. Juni: Armand Léon Annet, französischer Politiker und Gouverneur († 1973) 5. Juni: J. Hervey Germain, kanadischer Schauspieler und Humorist († 1961) 5. Juni: Max Picard, Schweizer Arzt und Schriftsteller († 1965) 7. Juni: Helen Smith Woodruff, US-amerikanische Schriftstellerin († 1924) 9. Juni: Martin Honecker, deutscher Psychologe und Philosoph († 1941) 9. Juni: Christian Schmidt, deutscher Fußballspieler († 1917) 10. Juni: Leo Weismantel, deutscher Schriftsteller († 1964) 12. Juni: Richard Bernaschek, österreichischer Politiker, Widerstandskämpfer und Schutzbundführer († 1945) 13. Juni: Fernando Pessoa, portugiesischer Dichter und Schriftsteller († 1935) 13. Juni: Elisabeth Schumann, deutsch-US-amerikanische Sopranistin († 1952) 14. Juni: Jacques de Lacretelle, französischer Schriftsteller († 1985) 15. Juni: Frank Clement, britischer Autorennfahrer († 1970) 15. Juni: Theodor Steinbüchel, deutscher katholischer Moraltheologe und Sozialethiker († 1949) 16. Juni: Alexander Friedmann, russischer Physiker und Mathematiker († 1925) 16. Juni: Alfred Wilhelm Arnold, deutscher Politiker († 1960) 17. Juni: Friedrich Grimm, deutscher Völkerrechtler und Strafverteidiger († 1959) 17. Juni: Heinz Guderian, deutscher General († 1954) 18. Juni: Walter von Sanden-Guja, deutscher Schriftsteller, Naturforscher und Dichter († 1972) 18. Juni: Margarita Xirgu, katalanische Schauspielerin († 1969) 22. Juni: Harold Hitz Burton, US-amerikanischer Richter und Politiker († 1964) 22. Juni: Lo La Chapelle, niederländischer Fußballspieler († 1966) 22. Juni: Lyman Hine, US-amerikanischer Bobsportler († 1930) 22. Juni: Alan Seeger, US-amerikanischer Poet († 1916) 22. Juni: Jeanette Wolff, deutsche Politikerin († 1976) 23. Juni: Bronson M. Cutting, US-amerikanischer Politiker († 1935) 23. Juni: F. Ryan Duffy, US-amerikanischer Politiker und Jurist († 1979) 23. Juni: Paul Hertz, deutscher Politiker († 1961) 24. Juni: José de Jesús Angulo del Valle y Navarro, mexikanischer Bischof († 1966) 24. Juni: Gerrit Rietveld, niederländischer Architekt und Designer († 1964) 25. Juni: Tami Oelfken, deutsche Schriftstellerin und Reformpädagogin († 1957) 28. Juni: Alfons von Czibulka, österreichischer Schriftsteller und Maler († 1969) 29. Juni: Wladimir Wettschinkin, sowjetischer Aerodynamiker († 1950) 30. Juni: Rudolf Amelunxen, deutscher Politiker († 1969) Juli 1. Juli: Alberto Magnelli, italienischer Maler († 1971) 3. Juli: Ramón Gómez de la Serna, spanischer Schriftsteller († 1963) 4. Juli: Henry Armetta, italienisch-US-amerikanischer Schauspieler († 1945) 5. Juli: Herbert Spencer Gasser, US-amerikanischer Neurophysiologe († 1963) 5. Juli: Jacques de la Presle, französischer Komponist und Musikpädagoge († 1969) 6. Juli: Eugen Rosenstock-Huessy, deutscher Kulturphilosoph, Jurist, Historiker und Soziologe († 1973) 7. Juli: Lambert Schill, deutscher Politiker († 1976) 8. Juli: Timothy Carroll, irischer Leichtathlet († 1955) 9. Juli: Kawaji Ryūkō, japanischer Lyriker († 1959) 10. Juli: Hazel Hempel Abel, US-amerikanische Politikerin († 1966) 10. Juli: Giorgio de Chirico, italienischer Maler († 1978) 10. Juli: Charles Flohot, französischer Autorennfahrer († 1927) 10. Juli: Anna Haag, deutsche Schriftstellerin, Pazifistin, Politikerin (SPD) und Frauenrechtlerin († 1982) 10. Juli: Kagawa Toyohiko, japanischer Theologe und Sozialreformer († 1960) 11. Juli: Carl Schmitt, deutscher Staatsrechtler und Philosoph († 1985) 12. Juli: Adolf Horion, deutscher römisch-katholischer Geistlicher und Entomologe († 1977) 14. Juli: Hans Adt, deutscher Papierindustrieller († 1980) 14. Juli: Satomi Ton, japanischer Schriftsteller († 1983) 14. Juli: Kakuza Tscholoqaschwili, georgischer Partisanenführer († 1930) 14. Juli: Odile Defraye, belgischer Radrennfahrer († 1965) 15. Juli: Hans Avé-Lallemant, deutscher Unternehmensleiter († 1945) 15. Juli: Ernst von Harnack, deutscher Politiker und Widerstandskämpfer († 1945) 16. Juli: Frits Zernike, niederländischer Physiker († 1966) 17. Juli: Johannes Brockmann, deutscher Politiker († 1975) 17. Juli: Milán Füst, ungarischer Schriftsteller († 1967) 17. Juli: Samuel Agnon, israelischer Schriftsteller († 1970) 20. Juli: Selman Abraham Waksman, US-amerikanischer Forscher († 1973) 20. Juli: Franz Jacobi, Hüttenbeamter in der Dortmunder Stahlindustrie († 1979) 23. Juli: Raymond Chandler, US-amerikanischer Krimi-Schriftsteller († 1959) 24. Juli: Nils Åberg, schwedischer Historiker, Archäologe († 1957) 24. Juli: Grace Hayle, US-amerikanische Schauspielerin († 1963) 24. Juli: Einar Ralf, schwedischer Opernsänger und Komponist († 1971) 25. Juli: Giacomo Acerbo, italienischer Agrarwissenschaftler und Politiker († 1969) 26. Juli: Marcel Jouhandeau, französischer Schriftsteller († 1979) 27. Juli: Prinz Oskar von Preußen, preußischer Offizier, 5. Kaisersohn († 1958) 29. Juli: Robert Görlinger, deutscher Politiker († 1954) 29. Juli: Wladimir Kosmitsch Sworykin, russischer Ingenieur, Physiker und Erfinder († 1982) 30. Juli: Raden Soetomo, indonesischer Arzt († 1938) 30. Juli: Emilie Kiep-Altenloh, deutsche Politikerin († 1985) 30. Juli: Harry Smith, US-amerikanischer Langstreckenläufer († 1961) 30. Juli: Werner Jaeger, deutscher Altphilologe († 1961) 31. Juli: Arno Glockauer, deutscher Turner († 1966) 31. Juli: Otto Erich Strasser, Schweizer evangelischer Geistlicher und Hochschullehrer († 1985) August 1. August: Vito Frazzi, italienischer Komponist und Musikpädagoge († 1975) 1. August: Charles Winslow, südafrikanischer Tennisspieler († 1963) 3. August: August Kubizek, Österreicher, einziger Freund Adolf Hitlers während dessen Wiener Zeit († 1956) 5. August: Joseph Cattaneo, italienischer Unternehmer und Autorennfahrer († 1975) 5. August: Walther Engelmann, deutscher Kunstturner († 1959) 6. August: Nagayo Yoshirō, japanischer Schriftsteller († 1961) 6. August: Heinrich Schlusnus, deutscher Opern- und Konzertsänger (Bariton) († 1952) 6. August: Arthur Fields, US-amerikanischer Sänger († 1953) 9. August: Ludwig Schaschek, österreichischer Kameramann († 1948) 10. August: René Dély, französischer Autorennfahrer († 1935) 10. August: Lauri Ikonen, finnischer Komponist († 1966) 11. August: Rudolf Hägni, Schweizer Lehrer, Liedtexter und Schriftsteller († 1956) 13. August: John Logie Baird, britischer Fernsehpionier († 1946) 13. August: Walter Jauch, deutscher Versicherungskaufmann († 1976) 14. August: Emma Zimmer, SS-Oberaufseherin im Konzentrationslager Ravensbrück († 1948) 15. August: Gottlieb Duttweiler, Schweizer Unternehmer und Politiker († 1962) 15. August: Hermann Leopoldi, österreichischer Komponist, Kabarettist und Klavierhumorist († 1959) 15. August: Albert Spalding, US-amerikanischer Violinvirtuose und Komponist († 1953) 16. August: Thomas Edward Lawrence (besser bekannt als Lawrence von Arabien), britischer Archäologe und Geheimagent († 1935) 18. August: Gerhard Wagner, Mediziner und Reichsärzteführer († 1939) 19. August: Sam Gilbert Bratton, US-amerikanischer Politiker († 1963) 21. August: Giulio Foresti, italienischer Autorennfahrer († 1965) 21. August: Wilhelm Schmidt, deutscher Politiker, ehemaliges MdB († 1962) 22. August: Willi Schur, deutscher Schauspieler, Sänger und Regisseur († 1940) 22. August: Walther von Seydlitz-Kurzbach, deutscher General († 1976) 24. August: Leo Bosschart, niederländischer Fußballspieler († 1951) 29. August: Mikawa Gun’ichi, japanischer Vizeadmiral der kaiserlichen Marine († 1981) 30. August: Walther Penck, deutscher Geomorphologe und Sohn von Albrecht Penck († 1923) September 1. September: Ephraim Lipson, britischer Wirtschaftshistoriker († 1960) 2. September: Charles Gossett, US-amerikanischer Politiker († 1974) 2. September: Leo Wohleb, deutscher Politiker († 1955) 3. September: Hans Friedrich Blunck, deutscher Jurist und Schriftsteller († 1961) 4. September: La Argentina, spanische Ballett-Tänzerin und Choreografin († 1936) 4. September: Charles Belben, französischer Autorennfahrer († 1961) 4. September: Oskar Schlemmer, deutscher Maler, Bildhauer und Bühnenbildner († 1943) 5. September: Marie-Anne Asselin, kanadische Sängerin und Musikpädagogin († 1971) 5. September: Sarvepalli Radhakrishnan, indischer Philosoph und Staatspräsident († 1975) 6. September: Joseph P. Kennedy, US-amerikanischer Politiker und Diplomat († 1969) 9. September: Josef Adlmannseder, österreichischer Politiker († 1971) 9. September: Lothar Kreuz, letzter Rektor der Friedrich-Wilhelm-Universität Berlin († 1969) 9. September: Armand Leclaire, kanadischer Schauspieler und Autor († 1931) 11. September: Karl Pfaff, deutscher Unternehmer († 1952) 12. September: Maurice Chevalier, französischer Schauspieler, Sänger († 1972) 13. September: Fritz Becker, deutscher Fußballspieler († 1963) 15. September: Hans Christoph Ade, deutscher Schriftsteller († 1981) 15. September: Antonio Ascari, italienischer Autorennfahrer († 1925) 16. September: Til Brugman, niederländische Schriftstellerin († 1958) 16. September: Charles Ruffell, britischer Leichtathlet († 1923) 16. September: Almira Sessions, US-amerikanische Schauspielerin († 1974) 16. September: Frans Eemil Sillanpää, finnischer Schriftsteller († 1964) 18. September: Grey Owl, englischer Schriftsteller († 1938) 23. September: Rudolf Freidhof, deutscher Politiker († 1983) 23. September: Gerhard Kittel, deutscher evangelischer Theologe († 1948) 24. September: Georges Darrieus, französischer Ingenieur († 1979) 24. September: Kanken Toyama, japanischer Karatemeister und Adeliger († 1966) 26. September: Andreas Breynk, deutscher Fußball-Nationalspieler († 1957) 26. September: Thomas Stearns Eliot, US-amerikanischer Lyriker, Dramatiker und Essayist, Literaturnobelpreisträger († 1965) 30. September: Raulino Galvao, deutscher Hockeyspieler Oktober 3. Oktober: Joseph Noyon, französischer Komponist und Kirchenmusiker († 1962) 3. Oktober: Louis Paris, französischer Autorennfahrer († 1958) 3. Oktober: Clawson Roop, US-amerikanischer Wirtschaftsmanager und Regierungsbeamter († 1972) 4. Oktober: Friedrich Olbricht, deutscher General († 1944) 5. Oktober: Takashi Akiba, japanischer Soziologe († 1954) 5. Oktober: Oskar Kanehl, deutscher Schriftsteller und Herausgeber († 1929) 6. Oktober: Max Butting, deutscher Komponist († 1976) 6. Oktober: Roland Garros, französischer Luftfahrtpionier († 1918) 6. Oktober: John Howard, kanadischer Leichtathlet († 1937) 7. Oktober: Henry A. Wallace, US-amerikanischer Politiker, Vizepräsident der USA († 1965) 8. Oktober: Adolf Aeschbach, Schweizer Politiker († 1969) 8. Oktober: Ernst Kretschmer, deutscher Psychiater († 1964) 8. Oktober: Friedrich Fromm, deutscher Offizier († 1945) 9. Oktober: Nikolai Bucharin, sowjetischer Politiker und marxistischer Theoretiker († 1938) 9. Oktober: Josesito García Vila, dominikanischer Pianist und Komponist († 1919) 10. Oktober: Pietro Lana, italienischer Fußballspieler († 1950) 11. Oktober: Alfred Agostinelli, französischer Mechaniker, Chauffeur und Sekretär († 1914) 11. Oktober: Christine Teusch, deutsche Politikerin, Kultusministerin in Nordrhein-Westfalen († 1968) 11. Oktober: Emil Bohnke, deutscher Bratschist, Komponist und Dirigent († 1928) 11. Oktober: Norman S. Case, US-amerikanischer Politiker († 1967) 13. Oktober: Heinrich Welsch, Saarländischer Ministerpräsident von 1955 bis 1956 († 1976) 14. Oktober: Paul Burkhard, Schweizer Bildhauer und Zeichner († 1964) 14. Oktober: Katherine Mansfield, britische Schriftstellerin († 1923) 14. Oktober: Oskar Hagen, deutscher Kunsthistoriker und Begründer der Händel-Festspiele († 1957) 15. Oktober: Willard Huntington Wright, US-amerikanischer Schriftsteller und Kunstkritiker († 1939) 16. Oktober: Eugene O’Neill, US-amerikanischer Dramatiker († 1953) 16. Oktober: Gustav Klingelhöfer, deutscher Politiker († 1961) 19. Oktober: Arnold Brügger, Schweizer Maler († 1975) 20. Oktober: Sadayoshi Tanabe, ältester Mann der Welt vom 29. April 1999 bis zu seinem Tod († 2000) 21. Oktober: Richard Katz, deutsch-böhmischer Journalist und Reiseschriftsteller († 1968) 22. Oktober: Renzo Bracesco, italienischer Komponist und Musikpädagoge († 1982) 24. Oktober: Marek Weber, deutscher Violinist und Orchesterleiter († 1964) 25. Oktober: Richard Evelyn Byrd, US-amerikanischer Polarforscher und Admiral († 1957) 26. Oktober: Iver Callø, dänisch-deutscher Politiker († 1972) 27. Oktober: Wilhelm Bahlburg, deutscher Politiker († 1958) 29. Oktober: Helene Jacobsen, dänische Lithografin und Malerin († 1927) 30. Oktober: Marie Ulfers, deutsche Schriftstellerin († 1960) 31. Oktober: Hubert Wilkins, australischer Polarforscher, Flugpionier und Fotograf († 1958) November 1. November: George Kenner, deutscher bildender Künstler († 1971) 2. November: Ivar Rooth, schwedischer Bankier († 1972) 3. November: Jaska Saarivuori, finnischer Kunstturner († 1938) 4. November: Richard Queck, deutscher Fußballspieler († 1968) 5. November: Jupp Wiertz, deutscher Grafiker († 1939) 7. November: Nestor Machno, Anführer einer anarchistischen Volksbewegung in der Ukraine († 1934) 7. November: C. V. Raman, indischer Physiker († 1970) 7. November: Karl Ritter, deutscher Regisseur († 1977) 7. November: Reinhold Schünzel, deutscher Schauspieler und Regisseur († 1954) 8. November: Piet Valkenburg, niederländischer Fußballspieler († 1950) 9. November: Jean Monnet, französischer Staatsmann und Politiker († 1979) 10. November: Andrei Nikolajewitsch Tupolew, russischer Flugzeugkonstrukteur († 1972) 10. November: Juan Antonio Ríos Morales, chilenischer Politiker († 1946) 12. November: Hans Howaldt, deutscher U-Boot-Kommandant im Ersten Weltkrieg († 1970) 12. November: Max Breunig, deutscher Fußballspieler († 1961) 15. November: Harald Ulrik Sverdrup, norwegischer Ozeanograph und Professor († 1957) 17. November: Curt Goetz, deutscher Schriftsteller und Schauspieler († 1960) 17. November: Max Lingner, deutscher Maler, Graphiker und Widerstandskämpfer († 1959) 18. November: Georg Adlmüller, deutscher Architekt und Baubeamter († 1966) 19. November: Georg Richard Kinat, deutscher Politiker († 1973) 19. November: José Raúl Capablanca, kubanischer Schachspieler und Schachweltmeister († 1942) 19. November: Manuel Gonçalves Cerejeira, Erzbischof von Lissabon und Kardinal († 1977) 20. November: Willi Tillmans, deutscher Kunstmaler († 1985) 22. November: Hans von Benda, deutscher Dirigent, Musikredakteur und Offizier († 1972) 23. November: Harpo Marx, US-amerikanischer Komiker († 1964) 23. November: Al Bernard, US-amerikanischer Sänger († 1949) 24. November: Dale Carnegie, US-amerikanischer Schriftsteller und Persönlichkeitstrainer († 1955) 24. November: Fritz Klein, rumäniendeutscher KZ-Arzt († 1945) 25. November: Hilde Knoth, deutsche Schauspielerin und Hörspielsprecherin († 1933) 26. November: Ford Beebe, US-amerikanischer, Regisseur, Drehbuchautor und Produzent († 1978) 26. November: Francisco Canaro, uruguayisch-argentinischer Musiker, Arrangeur, Bandleader und Komponist († 1964) 26. November: Franz Jung, deutscher Schriftsteller, Ökonom und Politiker († 1963) 27. November: Michael Aures, deutscher Musikpädagoge († 1982) 28. November: Jakob Ahrer, österreichischer Rechtsanwalt und Politiker († 1962) 29. November: Toni Sender, deutsche Politikerin († 1964) 30. November: Kenneth Macgowan, US-amerikanischer Filmproduzent und Oscargewinner († 1963) 30. November: Hans von Tettau, deutscher Infanteriegeneral während des Zweiten Weltkriegs († 1956) Dezember 3. Dezember: Heinrich Backhaus, deutscher Politiker der NSDAP († 1943) 3. Dezember: Algernon Kingscote, britischer Tennisspieler († 1964) 5. Dezember: Leslie Callingham, britischer Autorennfahrer († 1960) 6. Dezember: Willie Eckstein, kanadischer Pianist und Komponist († 1963) 7. Dezember: Albert Florath, deutscher Schauspieler († 1957) 11. Dezember: Maud von Ossietzky, Frau von Carl von Ossietzky († 1974) 12. Dezember: Philip Neame, britischer Generalleutnant († 1978) 13. Dezember: Alfred Landé, deutscher Physiker († 1976) 14. Dezember: Harold Hardwick, australischer Schwimmer, Boxer und Rugby-Union-Spieler († 1959) 15. Dezember: Aloys Heuvers, deutscher Maschinenbau-Ingenieur († 1967) 15. Dezember: James Maxwell Anderson, US-amerikanischer Dramatiker und Librettist († 1959) 15. Dezember: William Holloway, US-amerikanischer Politiker († 1970) 16. Dezember: Alexander I., König der Serben, Kroaten und Slowenen († 1934) 16. Dezember: Wilhelm Murr, deutscher NS-Politiker, Reichsstatthalter von Württemberg († 1945) 17. Dezember: Rudolf Martin Argus, deutscher Politiker († 1969) 18. Dezember: Robert Moses, US-amerikanischer Stadtplaner († 1981) 18. Dezember: Karl Albrecht von Habsburg-Lothringen, österreichischer und polnischer Militär und Gutsbesitzer († 1951) 19. Dezember: Fritz Reiner, US-amerikanischer Dirigent († 1963) 19. Dezember: Gustav Gundelach, deutscher Politiker († 1962) 21. Dezember: Frederick von Antal, ungarisch-britischer Kunsthistoriker († 1954) 22. Dezember: J. Arthur Rank, englischer Industrieller und Filmproduzent († 1972) 23. Dezember: Friedrich Wolf, deutscher Arzt und Schriftsteller († 1953) 24. Dezember: Willi Schlage, deutscher Schachmeister und -trainer († 1940) 25. Dezember: Leivick Halpern, jiddischsprachiger Dichter († 1962) 25. Dezember: Bodewin Keitel, deutscher General († 1953) 25. Dezember: Bernhard Marschall, deutscher katholischer Geistlicher und Journalist († 1963) 27. Dezember: Thea von Harbou, deutsche Schauspielerin und Autorin († 1954) 27. Dezember: Tito Schipa, italienischer Tenor und Komponist († 1965) 28. Dezember: Friedrich Murnau, deutscher Regisseur († 1931) 29. Dezember: Josef Beran, Erzbischof von Prag und Kardinal († 1969) 30. Dezember: Ilse Fromm-Michaels, deutsche Komponistin († 1986) Genaues Geburtsdatum unbekannt ʿAlī ʿAbd ar-Rāziq, ägyptischer Islamgelehrter und Scharia-Richter († 1966) Rasim Haşmet Akal, türkischer Dichter, Schriftsteller und Verleger († 1918) Otto Aschmann,deutscher Kaufmann und Politiker († 1965) Julio Bertrand Vidal, chilenischer Architekt, Fotogra und Zeichner († 1918) Abelardo Bustamante, chilenischer Maler und Bildhauer († 1934) Ali-Akbar Davar, iranischer Jurist und Politiker († 1937) Heinrich Müller, Schweizer Fußballspieler und -trainer († 1957) Paul Panda Farnana, kongolesischer Agronom († 1930) Mert Plunkett, kanadischer Impresario und Komponist († 1966) Sundar Singh, indischer Glaubensbote und christlicher Sadhu († 1929) Cyril Snipe, britischer Automobilrennfahrer († 1944) Rudolf Steinweg, deutscher Automobilrennfahrer († 1935) Gestorben Erstes Quartal 2. Januar: Joel Parker, US-amerikanischer Politiker (* 1816) 8. Januar: Auguste Maquet, französischer Schriftsteller (* 1813) 10. Januar: Jacques Guillaume Lucien Amans, französischer Maler (* 1801) 17. Januar: Big Bear, Cree-Häuptling, letzter Indianeraufstand in Kanada (* um 1825) 19. Januar: Anton de Bary, deutscher Naturwissenschaftler, Mediziner und Botaniker (* 1831) 21. Januar: Jakob Joseph Adam, Schweizer Politiker (* 1828) 21. Januar: Adolph Douai, deutsch-US-amerikanischer Journalist, Verleger und Pädagoge (* 1819) 22. Januar: Eugène Marin Labiche, französischer Lustspieldichter (* 1815) 31. Januar: Johannes Bosco, italienischer Priester und Ordensgründer (* 1815) 6. Februar: Thomas Davatz, Schweizer Brasilien-Auswanderer (* 1815) 8. Februar: Robert Houston Anderson, US-amerikanischer Brigadegeneral (* 1835) 9. Februar: Benjamin Eggleston, US-amerikanischer Politiker (* 1816) 10. Februar: Heinrich Leberecht Fleischer, deutscher Arabist (* 1801) 19. Februar: Karl Bartsch, deutscher Philologe und Gründer des ersten Germanistischen Instituts in Deutschland (* 1832) 22. Februar: Moses Witbooi, Kaptein der Witbooi-Orlam (* 1807/08) 4. März: Amos Bronson Alcott, US-amerikanischer Schriftsteller und Pädagoge (* 1799) 4. März: Giovanni Antonio Farina, Seliger, italienischer Bischof (* 1803) 5. März: Franz von Sonnenfeld, Schweizer Schriftsteller (* 1821) 6. März: Louisa May Alcott, US-amerikanische Schriftstellerin (* 1832) 9. März: Wilhelm I., Deutscher Kaiser und König von Preußen (* 1797) 11. März: Friedrich Wilhelm Raiffeisen, Kommunalpolitiker, Mitgründer der genossenschaftlichen Bewegung in Deutschland (* 1818) 13. März: Carl Hunstein, deutscher Kolonialbeamter und Ornithologe (* 1843) 16. März: Ludwig Steub, deutscher Schriftsteller (* 1812) 17. März: Horace Fairbanks, US-amerikanischer Politiker (* 1820) 18. März: Charles Monselet, französischer Schriftsteller, Journalist, Lyriker und Librettist (* 1825) 19. März: John Pendleton King, US-amerikanischer Politiker (* 1799) 23. März: Morrison R. Waite, Oberster Richter der USA 1874–1888 (* 1816) 24. März: John Thompson Hoffman, von 1869 bis 1873 Gouverneur des Bundesstaates New York (* 1828) 25. März: Désiré Nisard, französischer Literaturhistoriker (* 1806) 26. März: Barghasch ibn Said, Sultan von Sansibar (* 1837) 28. März: Erneste-Louis-Henri-Hyacinthe Arrighi de Casanova, Herzog von Padua und französischer Politiker (* 1814) 29. März: Charles Valentin Alkan, französischer Komponist und Klaviervirtuose (* 1813) Zweites Quartal 1. April: Jean Conte, französischer Komponist (* 1830) 4. April: Benjamin H. Brewster, US-amerikanischer Politiker (* 1816) 10. April: Marie von Württemberg, paragierte Landgräfin von Hessen-Philippsthal (* 1818) 15. April: Matthew Arnold, englischer Dichter und Kulturkritiker (* 1822) 15. April: Anton Stecker, österreichischer Afrikareisender (* 1855) 16. April: Friedrich Grillo, deutscher Industrieller (* 1825) 19. April: Arunah Shepherdson Abell, US-amerikanischer Verleger (* 1806) 19. April: Thomas Russell Crampton, britischer Maschinenbauer und Ingenieur (* 1816) 22. April: Ferdinand Gustav Kühne, deutscher Schriftsteller und Literaturkritiker (* 1806) 25. April: Urs Schild, Schweizer Industrieller und Politiker (* 1829) 1. Mai: William Wirt Adams, US-amerikanischer Brigadegeneral des konföderierten Heeres im Amerikanischen Bürgerkrieg (* 1819) 6. Mai: Vinzenz Kreuzer, österreichischer Zeichner und Landschaftsmaler (* 1809) 11. Mai: Frederick Miller, US-amerikanischer Unternehmer (* 1824) 16. Mai: Pierre Adolphe Lesson, französischer Arzt, Anthropologe und Naturforscher (* 1805) 19. Mai: Julius Rockwell, US-amerikanischer Politiker (* 1805) 26. Mai: Ascanio Sobrero, italienischer Chemiker (* 1812) 1. Juni: Anton Sommer, deutscher (Thüringer) Mundartdichter (* 1816) 4. Juni: Turki ibn Said, Sultan von Maskat und Oman (* 1832) 7. Juni: Edmond Lebœuf, französischer General, Marschall von Frankreich (* 1809) 15. Juni: Friedrich III., Deutscher Kaiser und König von Preußen (* 1831) 15. Juni: Ole Richter, norwegischer Jurist, Redakteur und Politiker (* 1829) 16. Juni: Georg von Adelmann, deutscher Mediziner (* 1811) 20. Juni: Johannes Hermann Zukertort, polnischer Schachspieler (* 1842) 21. Juni: Victoria Benedictsson, schwedische Schriftstellerin (* 1850) 22. Juni: Franz Napoleon Heigel, französisch-deutscher Maler (* 1813) 22. Juni: Edmund Neupert, norwegischer Pianist, Komponist und Musikpädagoge (* 1842) Drittes Quartal 4. Juli: Theodor Storm, deutscher Schriftsteller (* 1817) 4. Juli: Friedrich Albert Mehmel, deutscher Orgelbauer (* 1827) 11. Juli: Peter Taugwalder, Schweizer Bergsteiger und Bergführer (* 1820) 11. Juli: Hugo Ernst Heinrich Rühle, deutscher Mediziner (* 1824) 14. Juli: Johannes Henricus Brand, Präsident des Oranje-Freistaats (* 1823) 18. Juli: Wilhelm Bücher, deutsch-österreichischer Architekt (* 1824) 20. Juli: Paul Langerhans, deutscher Pathologe (* 1847) 20. Juli: Thomas L. Young, US-amerikanischer Politiker (* 1832) 30. Juli: Moses Petschek, Begründer der deutschböhmischen Unternehmerdynastie Petschek (* 1822) 9. August: Charles Cros, französischer Dichter und Erfinder (* 1842) 10. August: Georg Weber, deutscher Philologe und Historiker (* 1808) 11. August: Arend Berkholz, Bürgermeister von Riga (* 1808) 16. August: John Pemberton, US-amerikanischer Drogist und Coca-Cola-Erfinder (* 1831) 22. August: Charles W. Cathcart, US-amerikanischer Politiker (* 1809) 24. August: Rudolf Clausius, deutscher Physiker (* 1822) 24. August: Jakob Eisendle, Südtiroler Bauer und Erfinder (* 1811) 25. August: Karl Heine, deutscher Rechtsanwalt, Unternehmer und Industriepionier (* 1819) 28. August: Georg Beseler, deutscher Jurist und Politiker (* 1809) 30. August: Johann Peter Grieß, deutscher Chemiker (* 1829) 31. August: Mary Ann Nichols, erstes Opfer der Whitechapel-Morde des Serienmörders Jack the Ripper (* 1845) 7. September: Tito Ricordi, italienischer Musikverleger (* 1811) 8. September: Annie Chapman, zweites Opfer der Whitechapel-Morde des Serienmörders Jack the Ripper (* 1841) 11. September: Domingo Faustino Sarmiento, argentinischer Präsident (* 1811) 17. September: John Cummins Edwards, US-amerikanischer Politiker (* 1806) 23. September: François-Achille Bazaine, Marschall von Frankreich (* 1811) 26. September: Emil Baehrens, deutscher Altphilologe (* 1848) 28. September: Carl Giesecke, deutscher Orgelbauer (* 1812) 30. September: Elizabeth Stride, drittes Opfer der Whitechapel-Morde des Serienmörders Jack the Ripper (* 1843) 30. September: Catherine Eddowes, viertes Opfer der Whitechapel-Morde des Serienmörders Jack the Ripper (* 1842) Viertes Quartal 2. Oktober: John Ella, englischer Geiger, Musikschriftsteller und Konzertveranstalter (* 1802) 8. Oktober: Moritz Schmidt, deutscher Altphilologe (* 1823) 18. Oktober: Alessandro Antonelli, italienischer Architekt (* 1798) 18. Oktober: Albert Zimmermann, deutscher Maler (* 1809) 23. Oktober: Robert Justus Kleberg, deutsch-US-amerikanischer Farmer, Soldat und Beamter (* 1803) 26. Oktober: William Thomas Hamilton, US-amerikanischer Politiker (* 1820) 27. Oktober: Emil Carl Friedrich Wilhelm Annecke, deutscher Revolutionär und US-amerikanischer Journalist und Jurist (* 1823) 29. Oktober: Hans Speckter, deutscher Illustrator, Zeichner und Autor (* 1848) 1. November: Nikolai Prschewalski, russischer Forschungsreisender (* 1839) 5. November: Kanō Hōgai, japanischer Maler (* 1828) 7. November: Ludwig Müller-Uri, deutscher Glaskünstler (* 1811) 9. November: Mary Jane Kelly, fünftes Opfer der Whitechapel-Morde des Serienmörders Jack the Ripper (* 1863) 10. November: George Bingham, 3. Earl of Lucan, britischer Feldmarschall (* 1800) 15. November: Herzog Max in Bayern, bayerischer Herzog (* 1808) 18. November: Nikolaus Delius, deutscher Anglist und Shakespeare-Forscher (* 1813) 19. November; Hermann Christian Arndts, preußischer Beamter, Syndikus, Verwalter und Landtagsabgeordneter (* 1831) 21. November: Elias Erkko, finnischer Schriftsteller (* 1863) 25. November: Wilhelm Mohr, deutscher Journalist (* 1838) 27. November: Wilhelm Hertenstein, Schweizer Politiker (* 1825) 1. Dezember: Anthim I., bulgarischer Prälat, Politiker, Exarch und Oberhaupt der bulgarisch-orthodoxen Kirche (* 1816) 3. Dezember: Carl Zeiss, deutscher Mechaniker und Unternehmer (* 1816) 6. Dezember: Samuel Earnshaw, englischer Geistlicher, Physiker und Mathematiker (* 1805) 9. Dezember: Maria Brignole Sale De Ferrari, italienische Aristokratin, Salonière und Mäzenin (* 1811) 10. Dezember: Auguste Placet, französischer Violinist und Dirigent (* 1816) 15. Dezember: Alexander von Hessen-Darmstadt, Begründer des neuzeitlichen Hauses Battenberg (* 1823) 24. Dezember: Michail Loris-Melikow, General der russischen Armee, Innenminister und Chef der Geheimpolizei (* 1824) Genaues Todesdatum unbekannt Nataniel Aguirre, bolivianischer Dichter, Dramaturg, Rechtsanwalt, Politiker und Diplomat (* 1843) Anne Childes Seguin, US-amerikanische Opernsängerin (* 1809) Francesco Corradini, italienischer Philologe (* 1820) Trivia Das Jahr 1888 wurde wegen der Form der letzten drei Ziffern humorvoll Dreibrezeljahr genannt. Weblinks Einzelnachweise
Q7829
904.569807
2572
https://de.wikipedia.org/wiki/Jordanien
Jordanien
Jordanien (), amtlich Haschemitisches Königreich Jordanien (), ist ein arabischer Staat in Vorderasien. Es grenzt an Israel, den im Westjordanland gelegenen Teil der Palästinensischen Autonomiegebiete, wobei die Grenze unter israelischer Kontrolle steht, Syrien, Irak, Saudi-Arabien und an das Rote Meer am Golf von Akaba, an dem es eine Seegrenze zu Ägypten hat. Jordanien zählt zu den so genannten Maschrek-Staaten. Geographie Lage und Überblick Jordanien, im Nordwesten der Arabischen Halbinsel gelegen, ist ein Land mit hohem Wüstenanteil und lässt sich von West nach Ost in drei Großlandschaften gliedern: Der von Norden nach Süden verlaufende Jordangraben erreicht am Toten Meer den tiefsten trockenen Punkt der Erdoberfläche (). Der Große Afrikanische Grabenbruch setzt sich südlich über den Golf von Akaba ins Rote Meer fort. Hier besitzt das Land über einen schmalen Küstenstreifen um Akaba einen Zugang zum Weltmeer. Das ostjordanische Bergland steigt in einer schroffen, zerklüfteten Steilwand über dem Jordangraben auf. Dieses Faltengebirge erreicht im Dschabal Ram 1754 Meter (zweithöchster Berg des Landes nach dem Dschabal Umm ad-Dami bei Akaba) und gliedert sich durch mehrere Hochebenen. Den nördlichen Teil bildet das Gilead-Gebirge, auf dessen Hochflächen die Städte Amman, Zarqa und Irbid liegen. Die im Osten an das Bergland anschließenden Wüstentafelländer nehmen etwa zwei Drittel Jordaniens ein. Klima Im Nordwesten des Landes herrscht Mittelmeerklima mit heißen trockenen Sommern und kühlen feuchten Wintern sowie einer jährlichen Niederschlagsmenge von bis zu 800 mm. Im Osten und Süden gibt es weniger Niederschläge (100 mm und weniger). Im weitaus größten Teil Jordaniens herrscht kontinentales Wüstenklima. Die mittleren Temperaturen in Amman liegen im Sommer bei 31 bis 38 °C und im Winter bei 13 bis 19 °C. Die FAO klassifiziert ein Land als wasserarm, wenn pro Einwohner pro Jahr weniger als 1000 Kubikmeter zur Verfügung stehen. In Jordanien verfügte nach einer Schätzung von 2014 jeder Einwohner über 120 Kubikmeter pro Jahr. Prognosen zufolge könnte diese Menge bis 2025 weiter auf nur noch 90 Kubikmeter pro Jahr absinken. Der Jordan als die wesentliche Wasserversorgung des Landes führte 2006 nur noch rund zehn Prozent der Wassermenge der 1960er Jahre. Das Wasser des Jordan wird hauptsächlich von Israel abgeleitet und zur Trinkwasserversorgung verwendet. Aufgrund der politischen Spannungen und militärischen Konflikte gibt es keine Absprachen über die Verwendung des Jordanwassers zwischen den Anrainerländern. Einst war der Jordan der Hauptzufluss des Toten Meeres, heute erreicht er es als Rinnsal. Deshalb wird mit einer weiteren Austrocknung des Toten Meeres bis zu einem Teich innerhalb der nächsten Jahrzehnte gerechnet. Schwindende Wasserressourcen und eine rasant wachsende Bevölkerung werden den Pro-Kopf-Wasserverbrauch aufgrund sinkender Angebote und steigender Preise in Jordanien bis zum Ende des Jahrhunderts halbieren. Ohne umfassende Reformen werden nur wenige Haushalte Zugang zu mindestens 40 Litern Leitungswasser pro Kopf und Tag haben. Diese Entwicklung betrifft einkommensschwache Landesteile am stärksten. Dort werden über 90 Prozent der Haushalte die Marke von 40 Litern pro Kopf und Tag in elf Monaten pro Jahr unterschreiten. Das sind einige der Prognosen, die ein internationales Wissenschaftler-Team im März 2021 veröffentlicht hat. Flora und Fauna Aufgrund der unterschiedlichen Klimaverhältnisse variiert auch die Vegetation. Die großen Trockengebiete und das Bergland sind allenfalls spärlich mit Dornstrauchvegetation wie Tamarisken und Schirmakazien bewachsen. In den Steppen finden sich auch größere Grasflächen, die von Beduinen genutzt werden. Ursprünglich war der Westen des Landes stark bewaldet; nördlich von Amman zeigt die Aufforstung erste Erfolge, es gibt größere und kleinere Waldflächen mit Zypressen, Eichen, Akazien und überwiegend Kiefern. Die heimische Tierwelt ist trotz der kargen Vegetation recht vielfältig: Geier, Hamster und Steinadler finden sich ebenso wie Hyänen, Falbkatzen, Enten, Wölfe, Gazellen, Steinböcke und Wildziegen. Es gibt verschiedene Eidechsenarten, Schmetterlinge und Skorpione. In Jordanien kommen 24 Fledermaus-Arten vor. Der Strauß wurde in Jordanien erst im 20. Jahrhundert ausgerottet. Städte Im Jahr 2021 lebten 92 Prozent der Einwohner Jordaniens in Städten. Die größten Städte waren 2005: Amman mit 1,22 Millionen Einwohnern, Zarqa mit 890.000 Einwohnern, Irbid mit 751.000 Einwohnern, Ar-Rusaifa mit 262.000 Einwohnern, Wadi as-Sir mit 194.000 Einwohnern, Akaba mit 102.000 Einwohnern, Madaba mit 82.000 Einwohnern Al-Baqa mit 80.000 Einwohnern. Seit 2013 gilt das Flüchtlingslager Zaatari als fünftgrößte „Stadt“ des Landes. Amman wiederum ist in den letzten Jahren rasant gewachsen und zählte 2017 schätzungsweise 4 Millionen Einwohner. Bevölkerung Demografie Jordanien hatte 2020 10,2 Millionen Einwohner. Das jährliche Bevölkerungswachstum betrug + 1,0 %. Zum Bevölkerungswachstum trug ein Geburtenüberschuss (Geburtenziffer: 22,3 pro 1000 Einwohner vs. Sterbeziffer: 3,5 pro 1000 Einwohner) bei. Die Anzahl der Geburten pro Frau lag 2020 statistisch bei 2,9, die der Region Naher Osten und Nordafrika betrug 2,7. Die Lebenserwartung der Einwohner Jordaniens ab der Geburt lag 2020 bei 75,2 Jahren (Frauen: 77,8, Männer: 73). Der Median des Alters der Bevölkerung lag im Jahr 2020 bei 23,8 Jahren. Im Jahr 2020 waren 33,1 Prozent der Bevölkerung unter 15 Jahre, während der Anteil der über 64-Jährigen 3,6 Prozent der Bevölkerung betrug. Aufgrund der hohen Geburtenrate und der millionenfachen Anzahl an Nachfahren von Palästinaflüchtlingen und Flüchtlingen aus Syrien im Land ist die Bevölkerungszahl heute knapp 20-mal so hoch wie noch 1950. Im Jahre 2017 waren 33,3 % der Bevölkerung im Ausland geboren. Bevölkerungsstruktur Die Mehrheit der Bevölkerung bestand nach den Ergebnissen aus dem Jahr 2011 zu 98 Prozent aus Arabern, einschließlich der 1.835.704 registrierten arabischen Palästinenser ohne jordanisches Bürgerrecht und der etwa 700.000 Flüchtlinge aus dem benachbarten Irak. Gezählt wurden daneben 102.000 Tscherkessen, 18.000 Drusen, 6300 Roma, 6300 Turkmenen, 5400 Aserbaidschaner, 5000 Tschetschenen, 5600 Philippiner, 4700 Kurden, 1300 Griechen sowie kleinere ethnische Gruppen. Inzwischen sind zahlreiche syrische Bürgerkriegsflüchtlinge hinzugekommen, bei denen es sich überwiegend ebenfalls um Araber handelt. Über 50 Prozent der arabischen Bevölkerung stammen von den etwa 800.000 zugewanderten Palästinensern ab, die nach dem Palästinakrieg und dem Sechstagekrieg nach Jordanien geflohen waren und später das Bürgerrecht erhielten. Die meisten von diesen leben im Großraum Amman: Die beiden größten Städte Jordaniens, Amman und Zarqa, haben palästinensische Bevölkerungsmehrheiten von 90 bis 99 Prozent. Etwa 337.000 oder 17 Prozent der 1,9 Millionen im Land registrierten Flüchtlinge, denen Jordanien als einziges arabisches Land die Staatsbürgerschaft gewährt hat, leben nach wie vor in zehn Flüchtlingslagern. In der Folge des Irak-Konflikts und der Vertreibung der Palästinenser aus Kuwait 1991 nahm Jordanien erneut Flüchtlinge aus beiden Ländern auf. Der andauernde Bürgerkrieg in Syrien führte seit 2011 ebenfalls zu einem Flüchtlingsstrom nach Jordanien. Sprachen Die Amtssprache ist Arabisch. Ferner werden regional verschiedene Beduinendialekte sowie die jeweiligen Sprachen von ethnischen Minderheiten gesprochen. Religion 93 Prozent der Jordanier bekennen sich zum sunnitischen Islam. Der Islam ist in Jordanien Staatsreligion. Mitglieder verschiedener christlicher Religionsgemeinschaften stellen zusammen gut fünf Prozent der Bevölkerung. Die jordanische Regierung verfolgt eine demonstrativ tolerante Politik gegenüber Christen und Juden im Land, gestattet den Bau von Kirchen und Synagogen und veranstaltet regelmäßig Religionsgespräche. Dennoch ist auch in Jordanien Islamismus ein wachsendes Problem. Zwei Prozent entfallen auf sonstige Glaubensgemeinschaften. Bildung und Soziales Schulpflicht besteht für 6- bis 15-Jährige; die Analphabetenquote beträgt bei Frauen 14 Prozent und bei Männern 4 Prozent. Jordanien hat damit eine der höchsten Alphabetisierungsraten in der arabischen Welt. Englisch wird als Fremdsprache ab der ersten Klasse verpflichtend unterrichtet; in der Praxis allerdings können sich Jordanier insbesondere abseits der Hauptstadt zumeist nur auf Arabisch verständigen. Im Land existieren acht staatliche und zwölf private Universitäten. Insbesondere die jordanische Medizinerausbildung genießt in der arabischen Welt einen guten Ruf. In Jordanien stieg die mittlere Schulbesuchsdauer der über 25-jährigen von 5,1 Jahren im Jahr 1990 auf 10,1 Jahre im Jahr 2015 an. 1983 trat ein noch lückenhaftes Sozialversicherungsgesetz in Kraft. Die Arbeitslosigkeit liegt bei 18,5 Prozent; die Inflation bei 3,3 Prozent. Das Gesundheitswesen ist in den Städten vergleichsweise gut ausgebaut, auf dem Land aber noch unzureichend. Gesundheit Die Gesundheitsausgaben des Landes betrugen im Jahr 2019 7,6 % des Bruttoinlandsprodukts. Im Jahr 2019 praktizierten in Jordanien 26,6 Ärztinnen und Ärzte je 10.000 Einwohner. Die Sterblichkeit bei unter 5-jährigen betrug 2021 14,6 pro 1000 Lebendgeburten. Geschichte Das heute zwischen Israel und den Palästinensern umstrittene Westjordanland war einst der Kernraum des biblischen Israel mit Bethlehem, Hebron und Jerusalem. Doch auch das Ostjordanland spielt eine wichtige Rolle in der Bibel. Die etwa 1200 v. Chr. ins Land gekommenen Ammoniter gehörten der biblischen Überlieferung zufolge später dem Großreich Israel unter König David und Salomo um 1000 bis 926 v. Chr. an, doch ist die Historizität dieser Angabe umstritten. Seit etwa dem 4. Jahrhundert v. Chr. siedelten beiderseits des Jordan die von der Arabischen Halbinsel stammenden Nabatäer, deren Hauptstadt Petra war. Unter Kaiser Trajan gliederten die Römer das Gebiet 106 n. Chr. ihrem Imperium als Provinz Arabia an. Städte wie Gerasa und Gadara erlebten nun eine Blüte, von der noch heute eindrucksvolle Ruinen zeugen. In der Spätantike diente das heutige Westjordanien dem Römischen Reich als eine Art überwachter Militärgrenze gegen die Beduinen. Zudem wurden zahlreiche Kirchen errichtet. Mit dem Sieg der Muslime über das Oströmische Reich in der Schlacht am Jarmuk 636 geriet das Gebiet des heutigen Jordanien unter fast ununterbrochene islamische Herrschaft, mit Ausnahme der Jahre 1115 bis 1187, als der Westteil in das Königreich Jerusalem, einen der Kreuzfahrerstaaten, eingegliedert war, wovon Festungsruinen wie Montreal zeugen. Von 1250 bis 1516 gehörte das Gebiet als Teil der Provinz Syrien zum Reich der Mamluken, anschließend bis 1918 zum Osmanischen Reich. Im Ersten Weltkrieg beteiligten sich jordanische Beduinenstämme zwischen 1916 und 1918 maßgeblich am Araberaufstand gegen die Osmanen und schlossen sich nach Kriegsende dem in Damaskus unter Emir Faisal aus dem Hause der Haschimiten gegründeten Königreich Syrien an; die Haschimiten beanspruchen eine Blutsverwandtschaft mit dem Propheten Mohammed. Großbritannien setzte auf der Konferenz von San Remo 1920 die Angliederung Jordaniens an das britische Mandatsgebiet Palästina durch. 1923 entstand dann durch Abtrennung der Gebiete östlich des Jordans das unter britischer Oberhoheit stehende Emirat Transjordanien mit Abdallah ibn Husain als Staatsoberhaupt. Ihm zur Seite stand der britische General John Bagot Glubb (Glubb Pascha), der 1939 die Arabische Legion als Schutzgarde des Königshauses aufbaute. Während des Zweiten Weltkriegs kämpften arabisch-jordanische Kontingente in der Arabischen Legion an der Seite der Briten gegen die Wehrmacht. Am 25. Mai 1946, dem heutigen Nationalfeiertag, erlosch das britische Mandat und Transjordanien erhielt seine volle Unabhängigkeit. Abdallah I. nahm den Königstitel an. Nach Ausrufung des souveränen Staates Israel besetzte die Arabische Legion im ersten israelisch-arabischen Krieg die östlichen Teile Palästinas und die Altstadt von Jerusalem. Das Waffenstillstandsabkommen von 1949 mit Israel empfanden die Jordanier als Niederlage, zumal es für Jordanien einen ungünstigeren Grenzverlauf festlegte, als im UN-Teilungsplan von 1947 bei wirtschaftlicher Einheit und Internationalisierung Jerusalems vorgesehen war. 1950 wurde der Staat in Haschemitisches Königreich Jordanien umbenannt. Die dabei erfolgte offizielle Eingliederung der palästinensischen Gebiete lehnten andere arabische Staaten aber ab. König Abdallah I. fiel am 20. Juli 1951 in Jerusalem dem Attentat eines palästinensischen Nationalisten zum Opfer. Nachdem sein Sohn und Nachfolger Talal wegen Krankheit 1952 abtreten musste, wurde 1953 dessen Sohn Hussein als Hussein I. König von Jordanien, der wiederum 1957 die Reformregierung Sulaimān an-Nābulusī zum Rücktritt zwang. Ein am 10. August 1965 unterzeichneter bilateraler Vertrag regelte die Grenze mit dem benachbarten Saudi-Arabien, die bis dahin umstritten war. Jordanien, das nur über einen schmalen Landstreifen Zugang zum Meer hatte, ging es dabei hauptsächlich um zusätzliche Küstenlinie am Golf von Akaba. Durch den Vertrag gewann es etwa 12 Kilometer zusätzliche Küstenlinie zu einer Gesamtküstenlänge von etwa 19 Kilometern sowie 6000 Quadratkilometer Territorium und trat im Gegenzug etwa 7000 Quadratkilometer seines Territoriums an Saudi-Arabien ab. Bei den ausgetauschten Gebieten handelte es sich größtenteils um Wüstengebiete. In den 1950er und 1960er Jahren kam es zum Konflikt um das Jordanwasser. Im Sechstagekrieg zwischen Israel und den arabischen Staaten 1967 verlor Jordanien seine gesamten Gebiete westlich des Jordans an Israel. Weitere 400.000 Menschen, vor allem aus dem Westjordanland, kamen zusätzlich ins Land, nachdem Jordanien bereits 1949 400.000 Flüchtlinge hatte aufnehmen müssen. Die Herausforderung durch die Palästinensische Befreiungsorganisation, die in den Flüchtlingslagern eine Art „Staat im Staate“ bildete und die Monarchie bedrohte, führte 1970/71 zum offenen Bürgerkrieg, in dem König Hussein im „Schwarzen September“ die militärischen Einheiten der von Syrien unterstützten PLO gewaltsam zerschlug. Aus dem israelisch-arabischen Jom-Kippur-Krieg 1973 hielt sich Jordanien weitgehend heraus. Lediglich eine jordanische Freiwilligenbrigade wurde nach Syrien geschickt, um auf syrischem Gebiet gegen israelische Truppen zu kämpfen. Nach ersten Signalen 1974 gab König Hussein 1988 endgültig alle Ansprüche auf das Westjordanland zugunsten der PLO auf. Die eindeutige Parteinahme Jordaniens für den Irak im Vorfeld des Zweiten Golfkriegs 1991 führte zu Spannungen mit Syrien, den USA und den arabischen Golfstaaten. Dennoch gelang König Hussein 1994 der Abschluss des Friedensvertrages mit Israel, wobei Jordanien nochmals auf alle Gebiete westlich des Jordan verzichtete. Heute ist Jordanien der engste Verbündete Israels in der arabischen Welt. Als Hussein 1999 nach langer schwerer Krankheit starb, trat sein Sohn als Abdullah II. die Nachfolge an. Dieser schloss 2001 ein Freihandelsabkommen mit den Vereinigten Staaten, 2002 ein Assoziierungsabkommen mit der Europäischen Union und verfolgte insgesamt eine klar prowestliche Außenpolitik. Am 10. November 2005 wurden bei einem Terroranschlag auf Hotels in Amman 56 Menschen getötet. Im Irak kam es zu antijordanischen Protesten, da Jordanien von schiitischer Seite nachhaltige Unterstützung für die Sunniten vorgeworfen wird. Vor der Regierungsumbildung am 7. April 2005 hatten die USA innenpolitische Reformen im Königreich angemahnt. Während des Arabischen Frühlings 2011 kam es dann auch in Jordanien zu Protesten und Unruhen, die aber anders als in Syrien zu keiner dauerhaften Destabilisierung des Landes führten. Die anschließend durchgeführten Reformen schränkten die Rechte des Königs nur unwesentlich ein. In der Folgezeit nahm Jordanien zahlreiche syrische Bürgerkriegsflüchtlinge auf. Im Frühjahr 2016 gingen jordanische Sicherheitskräfte in Irbid gegen eine mit dem Islamischen Staat verbundene Terrorgruppe vor, die sich in der Stadt verschanzt hatte; in einem Feuergefecht wurden sieben Islamisten getötet und 13 verhaftet. Am 18. Dezember 2016 töteten dann vier islamistische Terroristen in Qatraneh und in der Kreuzfahrerburg Karak sieben jordanische Polizisten und drei Zivilisten, darunter eine Touristin aus Kanada. Spezialeinsatzkräfte stürmten die Burg, wobei alle Angreifer getötet wurden. Politik Politisches System Nach der Verfassung von 1952 ist Jordanien eine konstitutionelle Monarchie der haschemitischen Dynastie, die eine Abstammung vom Propheten Mohammed beansprucht. Der König ist Staatsoberhaupt, Oberbefehlshaber der Streitkräfte und ernennt den Ministerpräsidenten sowie den Ministerrat. Das Parlament besteht aus zwei Kammern: dem Abgeordnetenhaus mit 110 für vier Jahre vom Volk gewählten Mitgliedern, davon sind 9 Sitze für Christen, 3 für Tscherkessen und 6 für Frauen reserviert, und dem Senat mit 40 Mitgliedern, die für acht Jahre vom König ernannt werden. Der König besitzt ein umfassendes Veto- und Vorschlagsrecht. Frauen und Männer haben ab 18 Jahren ein Wahlrecht. Erst 1974 erhielten Frauen das aktive und passive Wahlrecht auf nationaler Ebene. Auf lokaler Ebene erhielten Frauen das Wahlrecht 1982. Die erste Wahl einer Frau ins Unterhaus des nationalen Parlaments, Toujan Faisal, fand am 29. November 1993 statt. 1989 saß zwar bereits eine Frau im jordanischen Parlament, sie war aber ernannt worden. Bei den Wahlen zum Abgeordnetenhaus vom 17. Juni 2003 erreichte der jordanische Zweig der Muslimbruderschaft, die Islamische Aktionsfront, 10,3 Prozent der Stimmen. Die Wahlen brachten königstreuen Stammesführern 62 der 110 Sitze. Bei den Wahlen 2010, die von Muslimbrüdern wegen angeblicher Benachteiligung durch eine Reform des Wahlrechts boykottiert wurden, errangen königstreue Kandidaten aus den ländlichen Regionen die Mehrheit. Zugleich wurden nur 34 Abgeordnete des alten Parlaments in das neue gewählt. Nach der Verfassung ist der Islam Staatsreligion, weitere Religionsgemeinschaften können sich anerkennen lassen und werden in der Regel nicht behindert. Im Rechtswesen, das nach britischem Vorbild aufgebaut ist, gibt es neben den Zivilgerichten auch Schariagerichte, die bei privatrechtlichen Auseinandersetzungen unter Muslimen angerufen werden können und das islamische Recht anwenden. Politische Indizes Außen- und Sicherheitspolitik Jordanien ist Mitglied der Vereinten Nationen, der Organisation der Islamischen Konferenz (OIC) und der Arabischen Liga. Jordaniens Außenpolitik ist seit Jahrzehnten zum Westen orientiert. Das Königreich ist eng mit den Vereinigten Staaten verbündet und gehört zu deren offizieller Kategorie der Wichtigsten Verbündeten außerhalb der NATO. Jordanien verfügt außerdem über ein Assoziierungsabkommen mit der EU. Insbesondere der jordanische Auslandsgeheimdienst genießt einen ausgezeichneten Ruf. Er geriet allerdings in die Kritik, als 2014 bekannt wurde, dass seit 2001 im Auftrag der CIA in Jordanien Terrorverdächtige brutalen Verhörmethoden unterzogen worden waren, die in den USA verboten gewesen wären. Die Beziehung zu den USA nahm nur vorübergehend Schaden, als Jordanien seine Neutralität im Zweiten Golfkrieg von 1991 bewahrte und sogar mit dem Irak sympathisierte. Der im Jahre 1994 unterzeichnete Friedensvertrag zwischen Jordanien und seinem Nachbarn Israel gilt als Meilenstein im Nahostkonflikt und schuf die Voraussetzungen für eine noch engere politische, wirtschaftliche und militärische Kooperation mit dem Westen. Seit 2017 sind auch Einheiten der deutschen Bundeswehr in Jordanien stationiert. Jordanien steht im Konflikt mit den beiden vorherrschenden Palästinenserorganisationen. Die PLO wurde 1971 im Schwarzen September aus Jordanien vertrieben, die von Syrien und dem Iran unterstützte Hamas wurde in Jordanien 1999 verboten, wird jedoch seit 2011 wieder geduldet. Die Regierung bezeichnete das Verbot rückblickend als Fehler. Mit der Europäischen Union (EU) kooperiert Jordanien im Rahmen der Europäischen Nachbarschaftspolitik (ENP). Am 1. Mai 2002 trat das Assoziierungsabkommen zwischen der EU und Jordanien in Kraft. Im Juni 2005 vereinbarte Jordanien mit der EU einen Aktionsplan für Reformen in den Bereichen Politik, Menschenrechte, Gewaltenteilung, Wirtschaft und Justiz. Im Dezember 2011 gab der Rat der Europäischen Kommission grünes Licht für die Aufnahme von Handelsverhandlungen mit Jordanien. 2016 war die EU der größte Handelspartner Jordaniens. Menschenrechte, Todesstrafe Der UN-Sonderberichterstatter über Folter dokumentierte 2006 den Einsatz von Folter durch den jordanischen Nachrichtendienst GID, Polizei und Justiz. Auch Menschenrechtsorganisationen wie Human Rights Watch berichten immer wieder von schweren Missachtungen der Menschenrechte in Jordanien. Die Todesstrafe gibt es in Jordanien per Gesetz und wird sowohl verhängt als auch durchgeführt. Militär Die Streitkräfte Jordaniens (englisch Jordanian Armed Forces; arabisch القوّات المسلّحة الاردنيّة, DMG al-quwwāt al-musallaḥa al-urdunniyya) sind seit ihrer Gründung 1921 mit der Rolle der Herrschaftssicherung nach innen betraut. Darüber hinaus kämpften sie in mehreren Kriegen und Gefechten sowohl gegen israelische als auch arabische Truppen. Bis 1956 war ein hoher Anteil der Offiziere Briten. Die Streitkräfte wurden nach britischem Vorbild als Berufsarmee aufgebaut. Aktive Soldaten sind es ca. 110.700 (Schätzung für 2013). Das Heer ist in vier Regionalkommandos (Nord, Ost, Süd und Zentrum), gegliedert, zusätzlich besteht die Königliche Panzerdivision als zentrale Reserve und ein Spezialeinsatzkommando. Insgesamt verfügt die jordanische Armee über 90.000 Soldaten und 60.000 Reservisten. Die 1955 gegründete Königlich Jordanische Luftwaffe verfügt unter anderem über 40 Flugzeuge des Typs Northrop F-5 Tiger II und 60 des Typs General Dynamics F-16 Fighting Falcon. Die kleine Königlich Jordanische Marine hat 500 Angehörige und operiert von dem Hafen von Akaba aus. Verwaltungsgliederung Jordanien gliedert sich in zwölf Gouvernements (arabisch ). Diese sind: Die darunter liegenden Ebenen der Lokalverwaltung sind der Distrikt (arabisch ) und der Subdistrikt (arabisch ). Staatshaushalt Der Staatshaushalt umfasste 2017 Ausgaben von umgerechnet 11,51 Milliarden US-Dollar, dem standen Einnahmen von umgerechnet 9,462 Milliarden US-Dollar gegenüber. Daraus ergibt sich ein Haushaltsdefizit in Höhe von 5,1 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Die Staatsverschuldung betrug 2016 36,18 Milliarden US-Dollar oder 93,4 Prozent des BIP. 2006 betrug der Anteil der Staatsausgaben in Prozent des BIP folgender Bereiche: Gesundheit: 7,5 Prozent (2014) Bildung: 3,6 Prozent (2017) Militär: 4,8 Prozent (2017) Wirtschaft Allgemein Die ohnehin seit Jahren in einer schweren Krise befindliche jordanische Wirtschaft mit chronisch defizitärer Handelsbilanz, steigender Arbeitslosigkeit und fortschreitender Konkurswelle leidet besonders unter den politischen Krisen in der Region. Mitte der 1990er Jahre befanden sich etwa 80 Prozent der jordanischen Volkswirtschaft in den Händen von Palästinensern. Der Handelssektor war schwer von den UN-Sanktionen über den Irak getroffen, da der Irak vor dem Golfkrieg 40 Prozent der gesamten Handelsübersicht Jordaniens ausmachte. Im Jahre 1997 unterzeichneten Jordanien und die Europäische Union eine Teilhaberschaftsvereinbarung, die den Weg für eine Freihandelszone bis zum Jahr 2010 ermöglichte. Dieses Abkommen, das Anfang 1999 in Kraft trat, soll auch die Vermittlungen für den Beitritt Jordaniens zur Welthandelsorganisation beschleunigen. Im Jahre 1996 schlossen Jordanien und Ägypten eine Teilhaberschaftsvereinbarung, welche die bilateralen ökonomischen Mitarbeitsverträge regelte und beabsichtigte, den Handel zu liberalisieren, indem sie eine Freihandelszone etablierten. Zahlreiche Geschäftsprotokolle und Vereinbarungen sind mit dem Libanon, Syrien, dem Irak, dem Jemen, Saudi-Arabien, Bahrain, Tunesien, Ägypten, Marokko, Libyen und dem Sudan zustande gekommen. Im Global Competitiveness Index, der die Wettbewerbsfähigkeit eines Landes misst, belegte Jordanien Platz 63 von 138 Ländern (Stand 2016–17). Im Index für wirtschaftliche Freiheit belegte das Land 2022 Platz 87 von 177 Ländern. Kennzahlen Alle BIP-Werte sind in Internationalen Dollar (Kaufkraftparität) angegeben. Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) für 2021 wird auf 45,2 Milliarden US-Dollar geschätzt. In Kaufkraftparität beträgt das BIP 112 Milliarden US-Dollar oder ca. 11.000 US-Dollar je Einwohner. Beim BIP pro Kopf liegt das Land damit im weltweiten Mittelfeld. Das reale Wachstum betrug 2,2 %. In der folgenden Tabelle kennzeichnen die Farben: Wirtschaftssektoren Überblick Nur knapp 5 Prozent der Fläche Jordaniens sind landwirtschaftlich nutzbar, vor allem in der Provinz Irbid. Der Anbau von Getreide, Obst und Gemüse ist dabei stark bewässerungsabhängig. Die Landwirtschaft macht 2 Prozent des Bruttoinlandsproduktes aus, in ihr sind 3,9 Prozent der Beschäftigten tätig. Der weit überwiegende Teil der Nahrungsmittel muss daher importiert werden. Wichtigster Wirtschaftszweig ist der Phosphatabbau mit anschließender Verarbeitung zu Düngemitteln. Es gibt zwei große Düngemittelfabriken im Land, eine jordanisch-indische sowie eine jordanisch-japanische. Auch Kupfererze, Ölschiefer und Kalisalze werden gefördert. Neben einer Erdölraffinerie, die aus Saudi-Arabien importiertes Rohöl verarbeitet, gibt es eine Zement- und Chemieindustrie. Die jordanische Wirtschaft ist weit überwiegend von Klein- und Mittelbetrieben geprägt. 26 Prozent des BIP entfällt auf die Industrie, in der 21,5 Prozent der Beschäftigten arbeiten. Jordanien importiert vor allem Nahrungsmittel, Maschinen, Transportausrüstungen und Erdöl, zu 11 Prozent aus Saudi-Arabien, 8 Prozent Deutschland, 8 Prozent Volksrepublik China, 7 Prozent USA, 7 Prozent Irak, 4 Prozent Italien und zu 4 Prozent aus Japan. Es exportiert vor allem Textilien, chemische Erzeugnisse und Rohstoffe wie Phosphat und Pottasche, zu 22 Prozent in die USA, 18 Prozent Irak, 7 Prozent Indien, 7 Prozent Schweiz und 5 Prozent Saudi-Arabien. Die Stromerzeugung setzte sich 2007 zusammen aus 66 Prozent Erdöl, 28 Prozent Erdgas und 1 Prozent erneuerbare Energien. 5 Prozent des Strombedarfs wird durch Importe gedeckt. Da es keine nennenswerten Ölvorkommen gibt, muss auch dieses importiert werden. Nuklearwirtschaft Jordanien verfügt über ca. 3 Prozent der Uranvorräte in der Welt, welche im Zuge des Atomeinstieges abgebaut werden sollen. Die Jordan Atomic Energy Commission (JAEC) und die Jordan Energy Resources Inc. schlossen sich mit Areva zu den Unternehmen Nabatean Energy beziehungsweise der Jordan French Uranium Mining Company (JFUMC) zusammen. Der Abbau in der Zentralregion bei Swaqa, Chan Azzabib, Wadi Maghar und Attarat soll ab 2013 beginnen. Areva sicherte sich dazu die exklusiven Uranabbaurechte für die nächsten 25 Jahre. Die JAEC unterzeichnete im Dezember 2009 einen Vertrag mit dem Korean Atomic Energy Research Institute (KAERI) und Daewoo, um bis 2015 einen 5-Megawatt-Forschungsreaktor an der Jordanischen Universität für Forschung und Technologie zu errichten. Seit 2009 befand sich das erste Kernkraftwerk des Landes in der Ausschreibung: Im Rennen waren der Atmea-1 von Areva-MHI, der Enhanced Candu-6 von Atomic Energy of Canada Limited sowie das AES-92 von Atomstroiexport. Nachdem die russische Rosatom-Tochter Atomstroiexport 2013 die Ausschreibung gewonnen hatte, schloss Jordanien am 25. März 2015 einen Vertrag mit Rosatom ab. Am Standort Qasr Amra sollen zwei Einheiten vom Typ WWER-1000/V-392 errichtet werden, deren Inbetriebnahme für die Jahre 2024/2025 geplant ist. Vier weitere Kernkraftwerke befinden sich in der Planungsphase, um den Atomstromanteil auf 30 Prozent ansteigen zu lassen. Tourismus Der Tourismus macht etwa ein Zehntel des BIP aus (Dienstleistungen insgesamt 72 Prozent, darin erwerbstätig sind 74,7 Prozent) und ist die zweitwichtigste Devisenquelle. Obwohl in Jordanien selbst seit über 30 Jahren Frieden herrscht, reagieren die Touristenströme sehr empfindlich auf die politischen Entwicklungen im Nahen Osten. So blieb die von der jordanischen Regierung nach dem Friedensschluss mit Israel erhoffte „Friedensdividende“ aus dem Tourismus bisher weitgehend aus. Das Land hat viele zum Teil einzigartige Sehenswürdigkeiten zu bieten, allerdings nur wenige allgemein bekannte touristische Attraktionen: Antike Stätten und archäologische Ausgrabungen, vor allem die Felsenstadt Petra, das antike Gerasa (Jerash) die Zitadelle von Amman die Mosaiken von Madaba die Ruinen von Umm er-Rasas die Wüstenschlösser Landschaften und Naturdenkmäler die Wüstenlandschaft von Wadi Rum das Tote Meer, dessen Ufer den tiefsten Festlandpunkt der Erde markiert das Taucherparadies bei Akaba am Roten Meer Infrastruktur Schienenverkehr Es gibt ein Eisenbahnnetz von 618 Kilometern, das ausschließlich für Gütertransport und touristischen Verkehr genutzt wird, seit dem Krieg in Syrien ein reines Binnennetz mit Inselbetrieb. Es besteht aus einem Abschnitt der ehemaligen Hedschasbahn und der davon abzweigenden Aqababahn, beides in Schmalspur von 1050 mm. Nach einer Erklärung des jordanischen Verkehrsministers, Khalid Saif, plant Jordanien seine Eisenbahn grundsätzlich zu modernisieren: In vier Schritten soll das Land ein Eisenbahnnetz in Normalspur erhalten, das an die Nachbarländer anschließen soll. Ausgangspunkt aller Überlegungen ist der Container-Umschlagplatz Maddouneh in Amman. Die vier Schritte sind: Eine Bahnstrecke von Aqaba nach Maddouneh in Amman, ausschließlich für den Güterverkehr. Dafür liegen Machbarkeitsstudien vor, die konkrete Planung und die Vorbereitung der Ausschreibung für den Bau sollen in der zweiten Hälfte 2020 abgeschlossen werden, das Gelände der Trasse stehe weitgehend bereits zur Verfügung. Die zweite Verbindung soll von Maddouneh über Saudi-Arabien in den Oman führen, die dritte von Maddouneh in den Irak und die vierte von Maddouneh nach Syrien und auch den Verkehr Richtung Europa ermöglichen. Straßenverkehr, Schifffahrt und Luftverkehr Das Straßennetz hat eine Länge von 5200 Kilometern. Der einzige Seehafen des Landes ist der Hafen Aqaba. In Jordanien gibt es drei Flughäfen, wovon zwei im internationalen Verkehr angeflogen werden. Der kleinere von beiden internationalen Flughäfen ist der Aqaba King Hussein International Airport (AQJ), der Verbindungen hauptsächlich in die Hauptstadt Amman anbietet, jedoch auch Flugverbindungen nach Europa und Ägypten. Dieser Flughafen liegt in unmittelbarer Nähe des Flughafens Eilat Ramon (ETM) in Israel, sowie dem Taba International Airport (TCP) in Ägypten. Der größte Flughafen des Landes ist der Queen Alia International Airport. 2014 zählte der Flughafen mehr als sieben Millionen Passagiere. Die nationale Fluggesellschaft Jordaniens ist Royal Jordanian, die vom Queen Alia International Airport aus agiert. Telekommunikation Im Jahr 2018 nutzten 66 Prozent der Einwohner Jordaniens das Internet. Feuerwehr In der Feuerwehr in Jordanien waren im Jahr 2019 landesweit 4.509 Berufs- und zehn freiwillige Feuerwehrleute organisiert, die in 445 Feuerwachen und Feuerwehrhäusern, in denen 207 Löschfahrzeuge und 21 Drehleitern bzw. Teleskopmasten bereitstehen, tätig sind. Die jordanischen Feuerwehren wurden im selben Jahr zu 769.780 Einsätzen alarmiert, dabei waren 36.650 Brände zu löschen. Hierbei wurden 52 Tote von den Feuerwehren bei Bränden geborgen und 10.902 Verletzte gerettet. Die nationale Feuerwehrorganisation Jordan Civil Defense (JCD) im Innenministerium für repräsentiert die jordanischen Feuerwehren. Kultur Wiederkehrende Ereignisse Der Nationalfeiertag ist der 25. Mai, der Jahrestag der Unabhängigkeit und Annahme des Königstitels durch Abdullah I. 1946. Über Jordanien hinaus bekannt ist das jeden Sommer stattfindende Jerash Festival, bei dem Musiker aus vielen arabischen Staaten auftreten. Sport Special Olympics Jordanien wurde 1986 gegründet und nahm mehrmals an Special Olympics Weltspielen teil. Der Verband hat seine Teilnahme an den Special Olympics World Summer Games 2023 in Berlin angekündigt. Die Delegation wird vor den Spielen im Rahmen des Host Town Programs von Velbert betreut. Literatur Weblinks Länderinformationen des deutschen Auswärtigen Amtes zu Jordanien Informationen zu Geografie, Klima und Flora und Fauna Deutsch-Jordanische Gesellschaft (DJG) Länderinformationsportal Jordanien von Inwent Statistisches Jahrbuch von Jordanien 2017 (englisch und arabisch) Einzelnachweise Königreich Mitgliedstaat der Vereinten Nationen Staat in Asien
Q810
2,852.330949
2778009
https://de.wikipedia.org/wiki/Cercozoa
Cercozoa
Die Cercozoa ("Cercus" von griech. kerkos „Schwanz“ und "zoa" von griech. "Tier") sind einzellige Eukaryoten, also Lebewesen mit Zellkernen. Nach der Systematik der Eukaryoten von Adl u. a. 2005 werden sie zu den Rhizaria gezählt. Merkmale Diese Gruppe beinhaltet mehrere Kladen, die keine hervorstechenden morphologischen oder verhaltensbiologische Merkmale haben. Sie besitzen zwei Cilien und/oder sind amöboid, meist mit Filopodien. Die Cristae der Mitochondrien sind meist Tubuli. Zysten sind häufig. Das Kinetosom ist über das Zytoskelett mit dem Zellkern verbunden. Gewöhnlich besitzen sie Microbodies und Extrusomen. Drei Gruppen haben unabhängig voneinander Schalen entwickelt. Im Allgemeinen ernähren sich die Cercozoa heterotroph, lediglich die Chlorarachniophyta sind durch die sekundäre Endosymbiose mit Grünalgen zur Photosynthese befähigt. Paulinella chromatophora besitzt primäre Plastiden von Cyanobakterien-Ursprung, und möglicherweise besitzt auch Auranticordis quadriverberis Endosymbionten. Es gibt einige kleine Gruppen von Endoparasiten, die meisten Arten sind jedoch freilebende Zooflagellaten. Vorkommen Die Cercozoa leben weltweit in Süß- und Salzwasser, sowie in Böden. Zu ihnen zählen etliche der häufigsten Protozoen. Systematik Nach Adl u. a. (2005) umfassen die Cercozoa folgende Gruppen ohne Rangstufe: Cercomonadida Cercomonadidae Heteromitidae Silicofilosea Thaumatomonadida Euglyphida Chlorarachniophyta Phytomyxea Phaeodarea Nucleohelea Clathrulinidae Gymnosphaerida incertae sedis innerhalb der Cercozoa: Cryothecomonas Gymnophrys Lecythium Massisteria Metopion Proleptomonas Pseudodifflugia Dieselbe Arbeitsgruppe passte die Systematik jedoch 2012 deutlich an: Cercozoa Cavalier-Smith 1998, emend. Adl et al. 2005 (R) Cercomonadidae Kent 1880, emend. Mylnikov & Karpov 2004 [= Cercomonadida Poche 1913, emend. Vickerman 1983, emend. Mylnikov 1986, emend. Karpov et al. 2006; Cercobodonidae Hollande 1942] Pansomonadida Vickerman 2005 Glissomonadida Howe & Cavalier-Smith 2009 [Heteromitidae Kent 1880, emend. Mylnikov 1990, emend. Mylnikov & Karpov 2004; Bodomorphidae Hollande 1952] Viridiraptoridae Hess & Melkonian 2013 mit Viridiraptor und Orciraptor (nachträglich von diesen Autoren hinzugefügt) Tremula Howe et al. 2011 (M) Metromonadea Cavalier-Smith 2007, emend. Cavalier-Smith 2011 Granofilosea Cavalier-Smith & Bass 2009 Clathrulinidae Claus 1874 [Desmothoracida Hertwig & Lesser 1874] Incertae sedis Clathrulinidae: Servetia Thecofilosea Cavalier-Smith 2003, emend. Cavalier-Smith 2011 Phaeodarea Haeckel 1879 [Tripylea Hertwig 1879] Phaeoconchia Haeckel 1879 Phaeocystina Haeckel 1879 Phaeogromia Haeckel 1879 Phaeosphaeria Haeckel 1879 Cryomonadida Cavalier-Smith 1993 (R) Rhizaspididae Skuja 1948 Protaspidae Cavalier-Smith 1993 (R) Ventricleftida Cavalier-Smith 2011 Ebriacea Lemmermann 1901 [Ebriidae Poche 1913] Incertae sedis Thecofilosea: Chlamydophryidae de Saedeleer 1934, emend. Meisterfeld 2002 Incertae sedis Chlamydophryidae de Saedeleer 1934: Capsellina, Chlamydophrys, Clypeolina, Diaphoropodon, Lecythium, Leptochlamydophrys, Penardeugenia Incertae sedis Thecofilosea: Botuliforma, Mataza, Pseudodifflugia Imbricatea Cavalier-Smith 2011 [Cavalier-Smith 2003] Spongomonadida Hibberd 1983 [Spongomonadidae Karpov 1990] Nudifila Cavalier-Smith & Howe 2009 (M) Marimonadida Cavalier-Smith & Bass 2011 Silicofilosea Adl et al. 2005, emend. Adl et al. 2012 Thaumatomonadida Shirkina 1987 [Thaumatomastigidae Patterson & Zölfell 1991] Thaumatomonadidae Hollande 1952 Peregriniidae Cavalier-Smith 2011 Euglyphida Copeland 1956, emend. Cavalier-Smith 1997 Euglyphidae Wallich 1864, emend Lara et al. 2007 Assulinidae Lara et al. 2007 Trinematidae Hoogenraad & De Groot 1940, emend Adl et al. 2012 Cyphoderiidae de Saedeleer 1934 Paulinellidae de Saedeller 1934, emend. Adl et al. 2012 Incertae sedis Euglyphida: Ampullataria, Deharvengia, Euglyphidion, Heteroglypha, Matsakision, Pareuglypha, Pileolus, Sphenoderia, Tracheleuglypha, Trachelocorythion. Incertae sedis Imbricatea: Clautriavia, Discomonas. Chlorarachniophyta Hibberd & Norris 1984 Vampyrellida West 1901, emend. Hess et al. 2012 Vampyrellidae Zopf, 1885 Phytomyxea Engler & Prantl 1897 Filoreta Bass & Cavalier-Smith 2009 Gromia Dujardin 1835 Ascetosporea Sprague 1979, emend. Cavalier-Smith 2009 Haplosporida Caullery & Mesnil 1899 Paramyxida Chatton 1911 Claustrosporidium Larsson 1987 Paradiniidae Schiller 1935 Incertae sedis Cercozoa: Psammonobiotidae Golemansky 1974, emend Meisterfeld 2002 Incertae sedis Cercozoa: Volutellidae Sudzuki 1979 Nachweise Weblinks Tree of Life Web Project - Cercozoa
Q500497
171.777979
40505
https://de.wikipedia.org/wiki/Zygote
Zygote
Eine Zygote ist eine eukaryotische diploide Zelle, die bei der geschlechtlichen Fortpflanzung durch Verschmelzung zweier haploider Geschlechtszellen (Gameten) entsteht – meistens aus einer Eizelle (weiblich) und einem Spermium (männlich). Diese Vereinigung der Geschlechtszellen, bei der auch die beiden Zellkerne miteinander verschmelzen (Karyogamie), bezeichnet man als Befruchtung. Aus der Zygote geht bei den meisten Lebewesen durch vielfache mitotische Zellteilungen ein diploider Organismus hervor. Im weiteren Verlauf – früher oder später – erfolgt in manchen Zellen durch Meiose der Übergang vom diploiden zum haploiden Zustand, in dem schließlich wieder Gameten gebildet werden. Entdeckung Die Bildung einer Zygote beobachtete erstmals Christian Gottfried Ehrenberg 1820 bei einem Schimmelpilz. Mensch und Tiere Die Zygote entsteht beim Menschen und bei den Säugetieren durch die Befruchtung im Eileiter. In der Zygote vereinigen sich die Zellkerne von Eizelle und Spermium, so dass die nukleäre DNA (Kern-DNA) beider Eltern zusammengeführt wird. Das Mittelstück des Spermiums dringt meist nicht in die Eizelle ein, deshalb wird die darin befindliche väterliche mitochondriale DNA (mtDNA) nicht an den Nachkommen vererbt, wohl aber die in der Eizelle befindliche mütterliche mtDNA. Aus der Zygote entstehen die ersten Embryonalstadien, also das Zwei- und Vierzellstadium, daraus dann die Morula und die Blastula (Blastogenese), welche während ihrer Entwicklung durch den Eileiter in Richtung Gebärmutter wandern. Die Blastozyste nistet sich dann in der Gebärmutter ein. Auch bei den Vögeln, den Reptilien und den meisten Schwanzlurchen findet die Befruchtung nach einer Begattung im Mutterleib statt; die Zygote wird dann aber als Ei ausgeschieden. Froschlurche und die meisten Fische geben dagegen schon die unbefruchteten Eizellen als Laich ins Wasser ab, und die Zygote entsteht dann dort durch eine äußere Befruchtung. Ebenso gibt es bei wirbellosen Tieren solche mit innerer (Insekten und Krebstiere) und solche mit äußerer Befruchtung (z. B. Hohltiere). Pflanzen Bei Samenpflanzen befindet sich die Zygote in der Samenanlage. Sie entsteht, indem das haploide Pollenkorn nach der Bestäubung den Pollenschlauch bildet, dieser in die Samenanlage hineinwächst und dort die Eizelle befruchtet. Aus der Zygote entwickelt sich dann der Embryo als Teil des Samens. Bei den Farnen entsteht die Zygote in einem Archegonium (weibliches Geschlechtsorgan), das von dem kleinen haploiden Prothallium gebildet wird und eine Eizelle enthält, die durch spermienartige Spermatozoide befruchtet wird, welche aus dem Antheridium (männliches Geschlechtsorgan) freigesetzt werden und Wasser benötigen, durch das sie zum Archegonium schwimmen können. Aus der Zygote geht dann die eigentliche Farnpflanze hervor. Bei den Moosen ist die eigentliche Pflanze haploid, und auf ihr sitzen die Geschlechtsorgane (Gametangien), die wie bei den Farnen Eizellen enthalten oder Spermatozoide freisetzen. Aus der Zygote entsteht dann ein relativ kleiner diploider Sporophyt, der (wie die diploide Farnpflanze) nach einer Meiose haploide Sporen bildet, welche der Vermehrung dienen. Pilze Eine große Vielfalt der Verhältnisse und teils erhebliche Abweichungen von den übrigen Organismen zeigen die Pilze. So bilden die Ständerpilze, zu denen die meisten Speisepilze gehören, keine Geschlechtsorgane und keine Gameten. Bei ihnen verschmelzen gewöhnliche Zellen der fadenförmigen haploiden Myzelien zu zweikernigen Tochterzellen, ohne dass es zunächst zu einer Verschmelzung der Zellkerne (Karyogamie) kommt. Das daran anschließende zweikernige (dikaryotische) Stadium kann über Jahre andauern, in denen das Myzel weiter wächst, bis es schließlich Fruchtkörper ausbildet. Erst in diesen findet dann die Karyogamie und damit die Bildung von Zygoten statt. Anschließend erfolgt gleich die Meiose und die Bildung haploider Sporen. Bei den Jochpilzen, die keine Fruchtkörper bilden, sondern nur als coenocytische Myzelien mit vielen Kernen, aber ohne trennende Zellwände existieren, verschmelzen vielkernige Auswüchse zu einer ebenfalls vielkernigen Coenozygote, in der eine paarweise Karyogamie erfolgt und die dann unter Ausbildung einer dicken Wand zur vielkernigen Zygospore wird. Einzeller und Fadenalgen Die meisten Einzeller pflanzen sich nur ungeschlechtlich fort und bilden daher keine Zygoten. Ausnahmen sind etwa viele Flagellaten. Bei einfach organisierten, fadenförmigen Algen differenzieren sich einzelne Zellen des Fadens zu Geschlechtsorganen aus, und die Zygote ist dann entsprechend eine Zelle des Algenfadens. Literatur Lexikon der Biologie: Zygote Weblinks Einzelnachweise Fortpflanzung Embryologie Zelltyp Reproduktionsmedizin
Q170145
286.983713
3984
https://de.wikipedia.org/wiki/Pest
Pest
Die Pest ( „Seuche, Epidemie, Beulenpest, Pestplage“; ; ), veraltet auch Pestilenz genannt (mittelhochdeutsch pestilencie entlehnt von lateinisch ), ist eine hochgradig ansteckende Infektionskrankheit, die insbesondere durch das Bakterium Yersinia pestis hervorgerufen wird. Diese Erkrankung kann in verschiedenen Formen auftreten, unter anderem als Beulenpest (Bubonenpest) und als Lungenpest. Während im Lateinischen und im Altgriechischen die genannten Wörter für jede als Seuche auftretende ansteckende Krankheit verwendet wurden, bezeichnet Pest im engen Sinn heute eine bestimmte Infektionskrankheit, deren Erreger erst 1894 entdeckt wurde und seit 1944 Yersinia pestis heißt. Ursprünglich ist diese Erkrankung eine Zoonose, also eine von Tieren auf Menschen und umgekehrt übertragbare Krankheit, und geht von Nagetieren wie Murmeltieren, Ratten, Eichhörnchen aus, in deren Populationen sie enzootisch sein kann. Der Übertragungsweg zum Menschen ist indirekt, klassischerweise über den Biss eines infizierten Flohs, der als Vektor dient; es ist aber auch eine direkte Mensch-zu-Mensch-Ansteckung über Tröpfcheninfektion möglich. Eine Impfung gegen den Erreger mit dem derzeitigen Pestimpfstoff wird von der WHO nur für Risikogruppen empfohlen. Für die Behandlung einer Infektion stehen verschiedene Antibiotika zur Verfügung, doch werden zunehmend Resistenzen beobachtet. In Deutschland, Österreich und der Schweiz ist die Pest eine meldepflichtige Erkrankung. Die Pest führte als sogenannter Schwarzer Tod im 14. Jahrhundert zu einer der verheerendsten Pandemien der Menschheitsgeschichte und bereits im 6. Jahrhundert als Justinianische Pest zu großen Epidemien im Mittelmeerraum. Ein historischer Überblick über die Krankheit und weitere, ebenfalls als Pest bezeichnete Seuchen, die viele Menschenleben forderten, ist unter Geschichte der Pest nachzulesen. Erreger Die Pest wird bei Mensch und Tier durch das Bakterium Yersinia pestis (früher unterteilt in Yersinia pestis orientalis, Yersinia pestis antiqua und Yersinia pestis medievalis) ausgelöst. Dieses Bakterium, eine Mutation des für den Menschen relativ ungefährlichen Bakteriums Yersinia pseudotuberculosis, ist sehr anpassungsfähig, und es werden sehr viele verschiedene Varianten beschrieben. Die krankmachenden Eigenschaften von Yersinia pestis entstehen durch Ektotoxin-, Endotoxin- und Bakterienkapselbildung. Übertragungsweg Infektionskette Die Pest kann auf verschiedene Weise übertragen werden: zum einen durch den Biss von mit Krankheitserregern verseuchten Insekten, vorwiegend Flöhen, zum anderen durch Tröpfcheninfektion. Letztere Übertragungsart führt zur primären Lungenpest. Verkürzt dargestellt verläuft der typische Infektionsweg bei der Beulenpest „von Ratte – Rattenfloh – Mensch, Mensch – Menschenfloh – Mensch […] und weiter bei der Lungenpest durch Tröpfcheninfektion von Mensch zu Mensch“. Flöhe Das Zwischenglied bei der Übertragung von der Ratte auf den Menschen ist der Floh. Als erster entdeckte diesen Zusammenhang 1898 Paul-Louis Simond. An erster Stelle steht die tropische Flohart Xenopsylla cheopis (Rattenfloh). Über die Bedingungen und Mechanismen der Verbreitung der Pest durch diesen Floh siehe dort. Diese Flohart kommt in Europa wegen der für diese Art zu kühlen Witterungsbedingungen nicht vor. A. W. Bacot vermutete, dass der Menschenfloh (Pulex irritans), der in Europa verbreitet ist und sich durch eine große Variationsbreite in Bezug auf Wirtstiere auszeichnet, für die Übertragung verantwortlich sei. Die Forscher Hariette Chick und C. J. Martin schlugen Nosopsyllus fasciatus (= Ceratopsyllus fasciatus) als Überträger vor. Diese Flohart macht die Hälfte der Flöhe in England aus. Diese beiden Arten kommen mit tieferen Temperaturen weit besser zurecht als Xenopsylla cheopis. Hinzu kommt, dass dessen Eier bei 13 °C absterben, so dass Bacot meinte, dass mindestens 15,5 °C vorliegen müssten, um dessen Flohpopulation am Leben zu erhalten. Demgegenüber überlebte ein Teil der Eier von Pulex irritans noch bei 8 °C, und die Hälfte der Eier von Nosopsyllus fasciatus überstand sogar Temperaturen von 5 °C. Heute geht man von einem Temperaturfenster von 0 bis 40 °C für diesen Floh aus. Nosopsyllus fasciatus und Pulex irritans finden sich weit verbreitet in England, Wales, Schottland, den Shetlands, den Orkneys sowie in Irland. Diese Floharten unterscheiden sich in ihrer Vektor-Effektivität. Damit bezeichnet man die Effektivität, mit der eine Flohart zur Krankheitsübertragung in der Lage ist. C. M. Wheeler und J. R. Douglas betrachteten die Vektoreffektivität als von drei Potentialen abhängig, deren jedes ein Maß für die jeweils nachgenannte Frage ist: Das Infektionspotential: Wie viele Individuen einer Flohpopulation saugen Blut mit Pestbakterien? Das infektiöse Potential: Wie viele dieser Flöhe können selbst eine Pest hervorrufen, weil ihr Verdauungstrakt blockiert ist? Das Übertragungspotential: Wie oft kann ein einzelner Floh die Infektion übertragen, bevor er selbst stirbt oder die Blockade aufgelöst wird? Man führte dann den Vektor-Index ein, um die verschiedenen Floharten miteinander in diesem Punkte vergleichen zu können. Die Xenopsylla-Arten wurden zum Maßstab genommen. Nosopsyllus fasciatus kommt diesen am nächsten. Dagegen zeigt Pulex irritans geringe Vektoreffektivität, ähnlich wie Katzen- und Hundeflöhe, weil bei ihnen die erforderliche Blockade durch Bakterienklumpen selten vorkommt. Bei Laborversuchen kam Nosopsyllus fasciatus auf den 2. Platz hinter Xenopsylla cheopis. Bei Pulex irritans kam es nur bei einem von 57 Exemplaren zur Blockade, und dieses Exemplar starb, bevor es seine Infektion weitergeben konnte. Georges Blanc und Marcel Baltazard gingen einen anderen Weg: In der Pest von 1940 in Marokko fingen sie Pulex irritans in Häusern Pestverstorbener in Marrakesch, zerdrückten sie und spritzten ihre Lösung in Meerschweinchen, die alsbald an Pest verstarben. Damit lenkten sie den Blick auf die Möglichkeit, dass die Pest ohne Ratte vom Menschenfloh unmittelbar übertragen werden konnte, worauf sie in einer weiteren Veröffentlichung hinwiesen. Die marokkanischen Häuser waren voll von Menschenflöhen. Von gut 3500 eingesammelten Flöhen waren 3000 Pulex irritans, während nur knapp 600 Exemplare Xenopsylla cheopis gefunden wurden. Dagegen wandte Georges Girard ein, dass die Pestepidemien in Indien, Senegal und Madagaskar starke Unterschiede zu der marokkanischen aufwiesen, obgleich auch dort Pulex irritans in Mengen aufgetreten waren. Er bestritt im Übrigen aus seiner Erfahrung die Effektivität als Übertragungsvektor von Pulex irritans. Aber er hielt es für möglich, dass die Menge der Flöhe in Marokko den Mangel an Effektivität ausgeglichen habe. Andere Untersuchungen von Pest in Nordafrika, besonders in Ägypten, zeigten, dass der Menschenfloh an der Verbreitung der Pest nicht beteiligt war, obgleich er in hohem Grad von der Pest infiziert war. Atilio Macchiavello stellte andererseits das vollständige Fehlen von Xenopsylla cheopis bei einem Pestausbruch in Peru 1946 in 600–700 m Höhe fest. Robert Pollitzer und Karl F. Meyer bestimmten dann die Pestübertragung durch Flöhe näher als massenhaften Befall von Flöhen, deren Saugwerkzeuge von vorherigem Befall von Nagern infiziert waren (mechanische Übertragung), oder als Bisse von im Verdauungssystem blockierten Flöhen (biologische Übertragung). In Nordamerika ist der Hauptüberträger der Pest von Tier auf Mensch der Floh Oropsylla montana, obwohl bei diesem keine Blockade eintritt. Ein wesentlicher Faktor bei der Übertragung der Pest durch den Floh ist die Zahl der Bakterien, die er bei einem Biss injiziert. Ole Jørgen Benedictow ging von 25.000 Bakterien pro Biss eines blockierten Flohs aus. Allerdings waren die Zahlen vor Einführung der PCR-Technik sehr ungenau. Mit dieser Methode hat man um die 100.000 Bakterien von Yersinia pestis in den infizierten Exemplaren gefunden. Auch wurde bei Untersuchungen von Flöhen in New Mexico und Colorado ein Zusammenhang zwischen Bakterienkonzentration und Mikromilieu der Flöhe festgestellt: Flöhe, die sich vom Wirtstier gelöst und in die Erde vergraben hatten, hatten höhere Konzentrationen als solche im Pelz des Wirtstieres. Die vom Boden aufgesammelten Flöhe waren nicht alle infiziert, aber die, die es waren, hatten eine ausreichende Konzentration für die Blockierung, während bei den Flöhen im Pelz eines Wirtstieres dies nur bei einem von 50 Flöhen der Fall war. Dafür war die Infektionsrate bei den Letzteren höher. Der Aufenthalt der Flöhe außerhalb von Wirtstieren in Nestern und im Boden ist jedoch keine besondere Verhaltensweise bestimmter Floharten, so dass die Unterscheidung zwischen Pelzfloh und Nestfloh nicht weiterführt. Pollitzer und Meyer stellten fest, dass es zwischen Nestflöhen und Pelzflöhen keine Trennungslinie gibt. Das unterschiedliche Verhalten in diesem Zusammenhang zwischen Xenopsylla cheopis und Nosopsyllus fasciatus beruht auf ihren Fressgewohnheiten: cheopis beißt oft und verlässt daher selten und nur kurz das Wirtstier, während fasciatus seltener beißt und daher längere Zeit auch ohne Wirtstier lebt. Nach Pollitzer und Meyer hängt dies aber nicht mit der Art, sondern mit dem Klima zusammen, in welchem die Flöhe leben: cheopis in tropischen Breiten, fasciatus in kühleren Gegenden. Von diesen Erkenntnissen ausgehend ist fasciatus nicht unbedingt ein schlechterer Pestvektor als cheopis. Warmblütige Wirtstiere Es hat sich gezeigt, dass die Pest über 200 Säugetierarten befallen kann, also nicht auf Ratten beschränkt ist. Sie wurde auch bei Hunden und Katzen festgestellt. Neben der braunen bis schwarzen Hausratte (Rattus rattus) und der grau-braunen Wanderratte (Rattus norvegicus) wurde auch der Hausmaus (Mus musculus) die Auslösung von Epidemien zugeschrieben, so die in Südost-Russland in den 20er Jahren, in Brasilien 1936–1945 und in Saigon 1943. Gleichwohl spielt die Hausmaus in diesem Zusammenhang nur eine untergeordnete Rolle, da sie nicht die hohe Bakterienkonzentration im Blut entwickelt, die erforderlich ist (Pollitzer 1954 S. 299–300). Außerdem ist deren Floh Leptopsylla segnis ein schlechter Überträger. Er nimmt nur wenig Pestbakterien auf. Auch ist der Floh in hohem Grade auf die Maus fixiert. Die Ratten standen daher immer im Vordergrund. Das beruhte auf der Beobachtung bei der Pest 1905 in Bombay, dass es zu dieser Zeit dort eine Überfülle von Ratten beider Arten gab. Die Kommission beobachtete, dass die Seuche zuerst die Wanderratte ergriff, etwa 10 Tage danach die Hausratte, und der Höhepunkt der Sterblichkeitsrate bei den Menschen knapp 1 Monat später auftrat. 1910 starben einige Kilometer entfernt von Ipswich einige Personen an einer bakteriologisch identifizierten Pest. Daraufhin machte man Jagd auf Ratten, und von den 568 gefangenen Exemplaren wiesen 17 Pestbakterien auf. Alle in dieser ländlichen Gegend waren Wanderratten. Aber man geht davon aus, dass die Schwarze Ratte der wichtigste Vermittler der Pestepidemie von Indien 1898 bis Madagaskar 1998 gewesen ist. Der Floh bleibt nur bei lebenden Tieren. Sobald das befallene Lebewesen erkaltet, verlässt der Floh den Wirt. Da in Südamerika häufig Meerschweinchen gegessen werden, kommt es auch in neuerer Zeit immer wieder zu Ansteckungen. Krankheitsentstehung Wenn bei der Infektion ausreichend viele Bakterien in die Blutbahn gelangt sind, sodass die körpereigene Abwehr ihrer nicht mehr Herr wird, kommt es nach kurzer Zeit zu einer hohen Bakterienkonzentration im Blut, die dann zu einer Sepsis führt. Die blutvergiftende Wirkung wird ausgelöst, wenn die Bakterien ihren normalen Lebenszyklus vollenden und absterben. Dabei werden große Mengen toxischen Sekrets direkt in den Blutkreislauf abgegeben; Nieren und Leber können nekrotisch werden, wenn sie versuchen, den Organismus von Toxinen zu reinigen. Am Ende erliegt das Opfer einem toxischen Schock. Klinische Erscheinungen Man unterscheidet vier Erscheinungsformen der Pest: Beulenpest, auch Bubonenpest genannt (von griechisch βουβών „Drüse in der Schamgegend, Geschwulst“), Pestsepsis, Lungenpest sowie die abortive Pest. Bei Pandemien treten alle Formen der Erkrankung auf, am häufigsten jedoch die Beulenpest und die Lungenpest. Aus einer Beulenpest entwickelt sich ohne Behandlung oftmals eine Pestsepsis, die zu einer Lungenpest führt. Selten tritt auch die Pestmeningitis auf, wenn die hämatogene Streuung der Pesterreger (Yersinia pestis) nach Beulenpesterkrankung die Hirnhäute befällt. Als Hautpest bezeichnet man die (sekundär) in Folge der Beulenpest auftretenden Hauterscheinungen. Seltener ist die primäre Hautpest mit Roseolen, Karbunkeln und oft ausgedehnten Haut- und Schleimhautblutungen, die zur Bezeichnung der Pest als Schwarzer Tod beigetragen haben. Beulenpest Bei der Beulenpest oder Bubonenpest erfolgt die Ansteckung gewöhnlich durch den Biss eines Rattenflohs, der den Erreger als Zwischenwirt in sich trägt. Durch den Wirtswechsel wird das Bakterium von einem infizierten auf ein bislang gesundes Nahrungsopfer übertragen, nachdem es sich im Floh vermehrt hat. Neben der Übertragung von Ratte über Rattenfloh zum Mensch besteht auch ein Übertragungsweg über den Menschenfloh von Mensch zu Mensch. Die Inkubationszeit liegt bei wenigen Stunden bis sieben Tagen. Die Symptome sind Fieber, Kopf- und Gliederschmerzen, starkes Krankheitsgefühl und Benommenheit. Später kommt es zu Bewusstseinsstörungen. Der Name Beulenpest stammt von den stark geschwollenen, sehr schmerzhaften Beulen (Bubonen oder Pestbeulen, die ein Paket geschwollener Lymphknoten des Sekundärkomplexes bilden können) am Hals, in den Achselhöhlen und in den Leisten (axilläre und inguinale Bubonen), die durch die Infektion der Lymphknoten und Lymphgefäße im Bereich des Flohbisses entstehen. Diese Beulen bzw. „Drüsenschwellungen“ können einen Durchmesser von bis zu zehn Zentimetern erreichen und sind aufgrund innerer Blutungen in den Lymphknoten blau-schwarz gefärbt. Die Geschwülste zerfallen, nachdem sie eitrig eingeschmolzen sind. Pestsepsis Die (primäre) Pestsepsis entsteht durch Eintritt der Bakterien von ihrem Vermehrungsort in die Blutbahn. Dies kann durch Infektion von außen, zum Beispiel über offene Wunden, geschehen, aber auch als Komplikation aus den beiden anderen schweren Verlaufsformen, zum Beispiel durch Platzen der Pestbeulen nach innen. Die Erreger im Blut verteilen sich mit dem Blutstrom im gesamten Körper. Die Infektion bewirkt hohes Fieber, Schüttelfrost, Kopfschmerzen, Schwindelerscheinungen und ein allgemeines Unwohlsein, später Schock, großflächige Haut- und Organblutungen (daher der Name „Schwarzer Tod“). Pestsepsis ist unbehandelt praktisch immer tödlich, in der Regel spätestens nach 36 Stunden. Heute kann durch die Behandlung mit Antibiotika die Sterblichkeit deutlich gesenkt werden. Lungenpest Die durch Tröpfcheninfektion übertragene und höchstinfektiöse Lungenpest kommt heute relativ selten vor. Sie ist die einzige Pestform mit spezifischem Ansteckungsweg und Ausbreitungsmuster. Sie dürfte der Influenza ähneln, wenn auch die Ausbreitungskraft wesentlich schwächer ist. Die Ausbreitung ist so spezifisch, dass sie nur unter besonders begünstigenden Umständen zur Epidemie werden kann. Zunächst sind die Ansteckungsquellen selten. Nur ein kleiner Teil der pestinfizierten Bevölkerung bekommt Lungenpest, etwa bei bestehender Beulenpest und Resistenzschwäche. Man kann zwar durch Säugetiere angesteckt werden, aber dabei handelt es sich in aller Regel um Schoßtiere. So hatten sich im 21. Jahrhundert die meisten Patienten mit Lungenpest in Amerika bei infizierten Katzen angesteckt. Die physische Nähe zur Pestquelle ist eine weitere Voraussetzung. Der kritische Abstand zum Gesicht eines Lungenpestkranken für eine Ansteckung liegt bei 30 cm und darunter. Im Gegensatz zu den Influenza-Viren sterben die Pestbakterien in der Luft rasch ab. Ein weiteres Moment, das die Ausbreitung vermindert, ist, dass die Infizierten sehr schnell sterben und damit nur eine geringe Zeitspanne verbleibt, in der die Lungenpest weitergegeben werden kann. Die Inkubationszeit wird mit 1 bis 3 Tagen angegeben, die Sterblichkeitsrate liegt bei 95 %, und der ansteckungsgefährliche Bluthusten tritt erst im fortgeschrittenen Stadium der Krankheit auf. Gleichwohl sind im 20. Jahrhundert Lungenpestepidemien dokumentiert, die von pestinfizierten Reisenden ausgelöst wurden. Die beiden größten Lungenpestepidemien traten Anfang des 20. Jahrhunderts in der chinesischen Grenzregion Mandschurei auf. Das Auftreten war vor allem an ein kaltes Klima geknüpft. Die Epidemie in der Mandschurei 1910–1911 fand im Winter (September bis April) statt und war an die Hauptverkehrswege geknüpft. Die Pest wurde über 2.700 km innerhalb von 7 Monaten transportiert. Es starben mindestens 60.000 Menschen an der Pest. Wu Lien-Teh beobachtete, dass die Lungenpest in der Mandschurei an die Jagd auf die Tabarganer oder auch Sibirischen Murmeltiere (Marmota sibirica) gekoppelt und auf den wertvollen Pelz zurückzuführen war. Der Preis für die Felle war vor 1910 um das Vierfache gestiegen. Heutige Erfahrungen haben gezeigt, dass die Lungenpest regelmäßig mit der Erkrankung von Nagetierpopulationen auftritt. Der Zusammenhang zwischen der Lungenpest und einer vorangegangenen Nagererkrankung mit epidemischer Beulenpest ist gut dokumentiert. Wenn die Erreger bei einer Beulenpest über die Blutbahn im Verlaufe einer Pestsepsis in die Lunge geraten, spricht man von sekundärer Lungenpest. Wird sie aber durch eine Tröpfcheninfektion von Mensch zu Mensch übertragen, spricht man von primärer Lungenpest. Die Lungenpest verläuft heftiger als die Beulenpest, weil die Abwehrbarrieren der Lymphknoten durch direkte Infektion der Lunge umgangen werden. Sie beginnt mit Atemnot, Husten, Blaufärbung der Lippen und schwarz-blutigem Auswurf, der extrem schmerzhaft abgehustet wird. Daraus entwickelt sich ein Lungenödem mit Kreislaufversagen, welches unbehandelt nach zwei bis fünf Tagen zum Tod führt. Abortive Pest Die abortive Pest ist die harmlose Variante der Pest. Sie äußert sich meist nur in leichtem Fieber und leichter Schwellung der Lymphknoten. Nach überstandener Infektion werden Antikörper gebildet, die eine langanhaltende Immunität gegen alle Formen der Krankheit gewährleisten. Untersuchungsmethoden Die Diagnose erfolgt über den Nachweis der Erreger im Blut, im Sekret der Beulen oder bei der Lungenpest im Auswurf. Das französisch-madagassische Forschungsteam um Suzanne Chanteau vom Institut Pasteur de Madagascar (IPM) hat sowohl für die Lungen- als auch die Beulenpest 2003 einen Schnelltest entwickelt, mit dem sich Antikörper schon innerhalb von 15 Minuten nachweisen lassen. Davor ließen beide Erkrankungen sich erst nach einer 14-tägigen Auswertungsdauer nachweisen. Bei den immerhin noch jährlich 4000 weltweit auftretenden Pestfällen ist eine rasche Diagnose innerhalb von 24 Stunden entscheidender Bestandteil einer erfolgreichen Behandlung. In 20 Ländern, vor allem in Afrika, tritt die Pest nach wie vor auf. Die zunächst vieldeutigen und oft nur schwachen Symptome erforderten bislang in der Regel bakteriologische Untersuchungen, manchmal sogar über die DNA für eine eindeutige Zuordnung. Dabei sind Verwechslungen mit Blinddarmentzündung, Hirnhautentzündung und Streptokokkeninfektionen in den USA dokumentiert. Der mikrobielle Nachweis wird aus Sputum, Blut oder Bubonenaspirat (Eiter) erhoben. Differenzialdiagnose Im Frühstadium muss, wenn kein Labor zur Verfügung steht, differenzialdiagnostisch an eine „Tularämie [(‚Hasenpest‘)], Lymphknotentuberkulose, Yersiniose, Brucellose, Toxoplasmose, Katzenkratzkrankheit, Listeriose, HIV-Infektion und Lymphogranulomatose“ gedacht werden. „Wegen des hohen Fiebers kommen auch Typhus, Denguefieber, Malaria und Sepsis in Betracht. Eine Lungenpest ist gegen andere Pneumonien abzugrenzen.“ „Eine pustulöse Pest [aufgrund einer Septikämie] erfordert den Ausschluss von Variola bzw. Varizellen.“ Epidemiologie Die Verbreitung der Pest hängt von der Verbreitung der Zwischenwirte ab. Wo sie festgestellt werden, sind immer auch Pestfälle möglich. Ob diese zu Epidemien auswachsen können, hängt von mehreren Faktoren ab, wie beispielsweise Resistenz der Bakterien gegen Medikamente, den vorherrschenden hygienischen Verhältnissen und der Bekämpfung der lokalen Zwischenwirte. Die Pestausbreitung in den Epidemien von 1910 und 1921 ist auch auf die Entwicklung der Transportmittel zurückzuführen. 1921 traten die Pestfälle vor allem an den Eisenbahnstationen von Harbin bis Wladiwostok auf. Harbin war der Knotenpunkt zwischen der Transsibirischen und der Ostchinesischen Eisenbahn und besonders betroffen. Aber auch die Reise zu Pferd verbreitete die Pest über weite Strecken, wie die Pestausbrüche in den Jahren 1878–1925 in Astrachan und dem südlichen Ural beweisen, wo es keine Eisenbahnverbindungen gab. Es starben über 5000 Menschen, davon 70 % an Lungenpest. Schuld am Ausbruch waren dort die unhygienischen Wohnverhältnisse: dunkel, schmutzig und überbelegt. 10–15 Menschen wohnten auf ca. 10 m². Die Menschen wuschen sich selten oder nie und wechselten auch die Kleider nicht. Die Pestkranken wurden von vielen Menschen besucht, und die Gäste wischten den Auswurf mit Händen oder Kleidern ab. Dies galt auch für die Pestepidemie von 1910, wo sich als erste die Tarbagan-Jäger bei der Jagd nach Murmeltieren zur Gewinnung der Murmelfelle an den verseuchten Tieren ansteckten. Sie schliefen in besonders kleinen Hütten, bis zu 40 Mann in Kojen, was die Weiterverbreitung begünstigte. Ein weiteres Indiz waren die Verhältnisse an den Bitumen-Gruben am See Dalai Nur. Während der Pestepidemie von 1921 arbeiteten dort 4.000 Chinesen und 2.000 Russen. Von den insgesamt 1.027 Toten waren nur 4 Russen. Die Chinesen lebten zusammengepfercht in kleinen Hütten, halb in die Erde eingegraben, die Russen lebten in oberirdischen Häusern. Die Übertragung der Lungenpest per Tröpfcheninfektion kam also am Anfang des 20. Jahrhunderts durchaus vor. Verlauf einer Epidemie Der endemische Verlauf der Pest folgt einem für diese Seuche typischen Muster, das so bei keiner anderen Seuche festzustellen ist: Der Tod setzt bei Ratten nach Befall einer Kolonie mit der Zeit immer schneller ein. Während anfangs mit ca. 7 Flöhen pro Ratte diese einen normalen Krankheitsverlauf zeigen, wird der Befall mit der Dezimierung der Kolonie bei den verbleibenden Ratten immer stärker, so dass 50 bis 100 Flöhe pro Ratte vorkommen, was zu einer wesentlich höheren Verseuchung führt. Nach 10 bis 14 Tagen ist die Rattenkolonie so stark reduziert, dass die Flöhe kaum noch Wirte finden. Diese Dauer von 10 bis 14 Tagen ist die erste wichtige Phase der Verbreitung. Danach nehmen die Flöhe ungefähr 3 Tage lang kein Blut auf, bis ihr Drang so groß ist, dass sie, da sie keine Ratten finden, nunmehr den Menschen anfallen. Es folgt die Inkubationsperiode von 3 bis 5 Tagen. Ihr folgt die Krankheitsperiode von 3 bis 5 Tagen, die bei der Mehrzahl der Befallenen zum Tode führt. Von der Ansteckung bis zum Tode vergehen durchschnittlich 8 Tage. Von der Erstinfizierung einer Rattenkolonie bis zum ersten Todesfall vergehen also 20 bis 28 Tage, gewöhnlich sind es 24 Tage. Der Kontakt zwischen verseuchten und frischen Rattenkolonien führt zu einer langsamen Ausbreitung. Wichtiger ist der Ausbreitungsprozess über die Besuchspersonen. Sie nehmen die verseuchten Flöhe nach Hause mit und stecken so die eigene Rattenkolonie an. Das bedeutet, dass diese Form der Ausbreitung sich erst auswirkt, wenn die Pest bei einem Menschen sichtbar ausgebrochen ist, so dass im Spätmittelalter diese Form der Ausbreitung mit Krankenwache, Totenwache, Begräbnisfeier und Erbteilung einsetzte. Dieser Zeitpunkt ist etwa 3 bis 4 Wochen nach dem Einschleppen der Pest an einen Ort erreicht. Eine Woche später hat sich die Pest auf die Heimathöfe der Besucher verteilt, und die epidemische Phase beginnt. Bis dahin sind also ungefähr 40 Tage oder 5½ Wochen vergangen. Ein weiteres typisches Kennzeichen der Pestepidemie ist der Zusammenbruch im Winter. Es ist keine Epidemie der Beulenpest in einem Winter bekannt. Das hängt damit zusammen, dass bei Kälte die septische Bakteriendichte in den Ratten geringer ist, so dass die Flöhe weniger Bakterien aufnehmen, und damit, dass sich die Flöhe bei Kälte nicht vermehren. Das Ende von Pestepidemien, die durch Flöhe verbreitet werden, fällt regelmäßig auf die Wintermonate. Wurde die Pest erst im Spätherbst eingeschleppt, brach sie erst im nächsten Frühjahr aus. Wilde Nagetierpopulationen als Rückzugsgebiet des Pestbakteriums Die Pestbakterien kommen auch heute noch in wild lebenden Nagetierpopulationen vor – wie beispielsweise bei den Präriehunden, Erdhörnchen und Murmeltieren. Diese Populationen sind die natürlichen Reservoire des Pestbakteriums, von denen aus gelegentlich häusliche Nager wie beispielsweise Ratten infiziert werden. Während in Europa und Australien keine infizierten Tierpopulationen bekannt sind, kommen solche im Kaukasus, in Russland, in Südostasien, der Volksrepublik China, der Mongolei, Süd- und Ostafrika, Mittel- und Südamerika sowie im Südwesten der USA vor. Nach Nordamerika gelangte der Erreger dabei über ein Handelsschiff während einer Pestepidemie, die ab 1894 in Südostasien grassierte. Obwohl nur sehr wenige Menschen in Nordamerika an der Pest erkrankten, infizierte der Erreger die amerikanische Eichhörnchenpopulation. Gelegentlich kommt es daher auch heute noch in Nordamerika zu Übertragungen von Tier zu Mensch. Meist sind es Jäger, die sich bei einem Nagetier anstecken. Norman F. Cantor verweist jedoch auch auf einen nordamerikanischen Fall aus den 1980er Jahren, bei dem eine Frau ein Grauhörnchen mit einem Rasenmäher überfuhr und sich dabei mit der Pest infizierte. Weltweit registriert die Weltgesundheitsorganisation (WHO) etwa eintausend bis dreitausend Pestfälle pro Jahr, meistens in Form kleinerer, örtlich begrenzter Epidemien. In Europa gab es den letzten dokumentierten Pestausbruch im Zweiten Weltkrieg. Man nimmt an, dass die Pest in Europa nicht mehr existiert. Behandlung Behandelt wird die Pest heutzutage mit Antibiotika über 10 Tage. Bei frühzeitiger Diagnose bestehen gute Chancen auf Heilung. Eingesetzte Wirkstoffe sind beispielsweise Streptomycin oder Gentamicin und Chloramphenicol sowie Kombinationen aus Tetracyclinen und Sulfonamiden. Chloramphenicol ist zwar hochwirksam, gilt aber wegen seiner Nebenwirkungen nur als Reservemedikament. Prophylaktisch und über sieben Tage verabreicht kommen gegebenenfalls die auch zur Behandlung eingesetzten Antibiotika Doxycyclin und Ciprofloxacin in Betracht. Die Letalität steigt exponentiell zum Fortschreiten der Erkrankung. Vorbeugung und Meldepflicht Es stehen Schutzimpfungen zur Verfügung, die aber eine Immunität lediglich für drei bis sechs Monate gewähren, und dies auch nur bei der Beulenpest, nicht aber bei der Lungenpest. Die Autoren Eberhard-Metzger und Ries weisen jedoch auf die schlechte Verträglichkeit dieser Schutzimpfungen hin. Die Weltgesundheitsorganisation empfiehlt die Impfung daher nur Risikogruppen, zu denen beispielsweise Bauern, Landarbeiter und Jäger in Regionen zählen, in denen infizierte Nagetierpopulationen verbreitet sind. Weitere Maßnahmen, um eine Pestepidemie einzudämmen, sind verbesserte Hygiene, Bekämpfung der Ratten und die Verhinderung des Transports von Ratten auf Schiffen. Da nach dem Tod der Ratten die Flöhe ihren Wirt wechseln, müssen die Menschen mit Insektiziden vor den Flöhen geschützt werden. Länderübergreifende Quarantäneregelungen für Schiff-, Luft-, Zug- oder Kraftfahrzeugverkehr sind in den Internationalen Gesundheitsvorschriften von 1971 festgehalten. In Deutschland gehört die Pest bzw. das Pestfieber neben den hämorrhagischen Fiebern (Ebola, Lassa und anderen) zu den zwei Quarantäne-Krankheiten nach Infektionsschutzgesetz. Derart erkrankte Patienten müssen in speziellen Infektionsabteilungen abgeschirmt werden. Ein Hinweis auf die Pest, die Erkrankung an oder der Tod durch Pest müssen in Deutschland nach dem Infektionsschutzgesetz auch bei Verdacht namentlich gemeldet werden ( des Infektionsschutzgesetzes). Die Meldungen werden von den Gesundheitsämtern an die Landesgesundheitsbehörde und das Robert Koch-Institut weitergeleitet. Das Robert Koch-Institut meldet sie gemäß internationalen Vereinbarungen an die Weltgesundheitsorganisation. In Österreich ist die Pest eine anzeigepflichtige Krankheit gemäß Abs. 1 Epidemiegesetz 1950. Anzeigepflichtig sind Verdachts-, Erkrankungs- und Todesfälle. In der Schweiz ist Pest ebenfalls eine meldepflichtige Krankheit und zwar nach dem Epidemiengesetz (EpG) in Verbindung mit der Epidemienverordnung und der Verordnung des EDI über die Meldung von Beobachtungen übertragbarer Krankheiten des Menschen. Es bestehen die Pflichten zur Meldung eines klinischen Verdachts, zur Rücksprache mit Fachärztin oder Facharzt für Infektiologie und zur Veranlassung einer erregerspezifischen Labordiagnostik. Geschichte Erstes Auftreten Genetische Untersuchungen eines 3800 Jahre alten Grabes in der russischen Region Samara im Jahr 2018 konnten zwei Yersinia-pestis-Genome rekonstruieren, die gleichzeitig zirkulierten. Eines davon weist die Gene auf, die für die Beulenpest als charakteristisch gelten, und ist Vorfahre der heutigen Stämme. Das Alter dieser Abstammungslinie wurde auf 4000 Jahre berechnet. Bei einer 2020 am Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig durchgeführte Analyse der Zähne der sterblichen Überreste eines Mannes, die in Großstorkwitz (Sachsen) durch das Landesamt für Archäologie Sachsen ausgegraben worden waren, konnten Spuren der DNA von Yersinia pestis im Inneren des ersten unteren rechten Backenzahns nachgewiesen werden. Das Alter des Mannes betrug etwa 35 bis 45 Jahre als er zwischen 2848 und 2572 v. Chr. starb; ob er auch tatsächlich an der Pest gestorben ist, konnte nicht festgestellt werden. Des Weiteren konnte Yersinia pestis bei einem Leichenfund in Vliněves (Tschechien) nachgewiesen werden. Auch hier handelt es sich um einen 40 bis ­60 Jahre alten Mann, der zwischen 2885 und 2663 v. Chr. bestattet wurde. Beide Fälle reihen sich sowohl zeitlich, geografisch als auch phylogenetisch in eine Anzahl weiterer ähnlich alter Pestfälle ein, die aus Südosteuropa aus der nordkaukasischen Steppe, aus Südsibirien und vom Baikalsee bekannt sind. Zwar liegen auch aus Mitteleuropa weitere Nachweise für das Auftreten des Pesterregers im 3. Jt. v. Chr. vor, doch handelte es sich dabei nur Einzelfälle, so dass es nicht abzuschätzen ist, wie schwerwiegend das Auftreten der Pest für frühe Gemeinschaften war. Da aus Skandinavien und dem Baltikum noch ältere Nachweise der Pest vom Ende des 4. Jt. v. Chr. vorliegen, ist es wenig wahrscheinlich, dass die im 3. Jt. v. Chr. aus den eurasischen Steppenzonen eingewanderten Personen die Pest mit nach Mitteleuropa brachten. Sehr lange war umstritten, ob bereits die spätantike Justinianische Pest, die ab 541 n. Chr. Europa und Vorderasien schwer traf und um 770 n. Chr. wieder verschwand, durch einen Erreger vom Stamm Yersinia pestis verursacht wurde. Schließlich zeigte Anfang 2013 eine an verschiedenen Laboratorien parallel durchgeführte internationale Studie unter der Leitung von Michaela Harbeck und Holger C. Scholz anhand von DNA-Material aus Gräbern aus Aschheim, die eindeutig in das spätere 6. Jahrhundert datiert werden können, dass für diese erste historisch belegbare Pestpandemie im engeren Sinne tatsächlich ein heute ausgestorbener Strang des Erregers Yersinia pestis verantwortlich war. Zudem gelang eine phylogenetische Einordnung des betreffenden Erregers zwischen den frühen Stammbaum-Abzweigungen N03 und N05. Mithin kann es nach aktuellem Forschungsstand als nahezu gesichert gelten, dass ein Erreger vom Stamm Yersinia pestis an der Justinianischen Pest zumindest prominent beteiligt war und es sich bei der Seuche somit tatsächlich um die Pest gehandelt hat. Als erster Ausbruch der Krankheit hatte bis 2013 vielen Forschern der Schwarze Tod von 1347 bis 1351 gegolten. Wieso die Pest um 770 n. Chr. für mehrere Jahrhunderte wieder aus Europa verschwunden zu sein scheint, ist bislang ungeklärt. Forschungsgeschichte ab dem 19. Jahrhundert Mit der Pestpandemie von 1890 in Indochina begann die moderne Beschreibung der Krankheit. Alexandre Yersin, der zur gleichen Zeit wie der Japaner Kitasato (Erforscher der Pest in Hongkong) forschte, hatte den später nach ihm benannten, bis 1944 Pasteurella pestis genannten Bazillus Yersinia pestis am 20. Juni 1894 entdeckt, isoliert und der Pest zugeordnet. Gleichzeitig wurde in Indien von dem Franzosen Paul-Louis Simond die Übertragung von der Schwarzen Ratte (Rattus rattus) über den orientalischen Rattenfloh auf den Menschen entdeckt. Das führte zu einer Beschreibung der Pest als eine einheitliche Krankheit. Die Entdeckung der Ausbreitung der Pest in Indien hatte eine beherrschende Bedeutung in der Anschauung der Pest in ihrer heutigen Bedeutung als moderne Krankheit. Sie führte zunächst zu der Auffassung, dass es nur diese eine Art der Ausbreitung der Krankheit gebe. Inzwischen haben sich die Forschungen auf eine große Zahl von Nagern und eine große Zahl von Floharten ausgeweitet. Die hohe Sterblichkeit in den Kolonien führte zu erhöhten Forschungsanstrengungen mit einer Kartografie der epidemischen Züge. Dass es sich immer um die Pest handele, war nicht hinterfragter Ausgangspunkt. So wurde die Krankheit mit dem historischen Begriff Pest belegt und auch die Bakterien danach benannt. Die Identität der mittelalterlichen Pest mit der in Indien erforschten Seuche wurde vorausgesetzt. Bei der Erforschung der Pest und ihrer Ausbreitung waren die Vorgaben der englischen Pestforschungskommission maßgeblich, die 1905 nach Indien entsandt worden war. Viele Forschergruppen reisten nach Indien, darunter auch eine deutsche mit Wissenschaftlern aus der Umgebung Robert Kochs. Diese stellten 1897 fest: „Aus vielen Orten ist berichtet, dass dem Ausbruch der Pest eine seuchenartige Krankheit und massenhaftes Sterben der Ratten voranging.“ Eine vom indischen Vizekönig eingesetzte englische Kommission verkündete 1910 definitiv, dass die Pestepidemie in Indien direkt von der Pest in der Rattenpopulation abhängig sei. Für andere Tiere als Wirtstier wurden keine Belege gefunden. Dabei unterschied die Kommission zwischen Beulenpest und anderen klinischen Formen. Alle Beobachtungen deuteten darauf hin, dass die Pestepidemien ausschließlich in Form der Beulenpest auftraten. Die Ansteckung der Ratten untereinander geschah nachweislich durch die Flöhe. (Zum Nachweis wurden gesunde und kranke Ratten getrennt gehalten, wobei die Trennung für die Flöhe durchlässig war). Hinsichtlich der Pest bei den Menschen zog die Kommission eine Reihe von Schlüssen: 1. Die Pest wird nicht von Mensch zu Mensch übertragen, denn die Pfleger in den Krankenhäusern steckten sich nicht an. 2. Die Epidemie war nach ihrer Meinung fest mit der Epidemie unter den Ratten verknüpft. 3. Die in Indien vorherrschende Flohart Pulex cheopis, heute Xenopsylla cheopis, hatte sich erwiesen als eine, die auch Menschen anfällt, insbesondere, wenn ihre natürlichen Wirtstiere fehlten. Wiederholte Versuche mit Meerschweinchen und Affen in pestverseuchten Häusern zeigten, dass sie erkrankten, wenn sie nicht gegen Flöhe geschützt wurden. Weder pestverseuchter Boden noch die Kleider oder das Bettzeug von Pestkranken waren im Stande, ohne Flöhe mit Pest anzustecken. Da die Kommission experimentell feststellte, dass die Pestbakterien nur wenige Tage außerhalb eines Wirtstiers überleben konnten, kam sie zu dem Schluss, dass die Pest in den Landstädten von außerhalb hereingetragen worden sein musste. Da in den Großstädten die Pest auch außerhalb der pestgefährlichen Monate auftrat, meinte sie, dass die Pest dort in kleinen Rattenpopulationen oder einzelnen Menschen als Reservoir zwischen den Pestsaisonen erhalten blieb. Bei einem Untersuchungsgebiet in der Größe Indiens stellte sich die Frage nach den Ausbreitungswegen. Da die Ratten kaum große Distanzen zurücklegen konnten, meinte die Kommission, dass die Verbreitung in bislang pestfreie Zonen über den Warenverkehr stattgefunden haben müsse. Diese Untersuchungen und Schlussfolgerungen bezogen sich ausschließlich auf die in Indien damals aufgetretene Beulenpest. Genomentschlüsselung 2011 wurde das Genom des Yersinia-pestis-Stammes beschrieben, der von 1348 bis 1350 während der Zeit des „Schwarzen Todes“ Menschen in England infiziert hatte. Mit den Ergebnissen kann die Evolution von Krankheitserregern besser nachvollzogen werden. Laut Studie veränderten sich die Pesterreger seit der Epidemie zwischen 1348 und 1353 kaum. Vermutungen, der Erreger sei in Ostasien im 13. oder 14. Jahrhundert entstanden, was bedeutete, dass frühere Pestepidemien wie die Justinianische Pest, die im 6. Jahrhundert weltweit zum Tod von mehr als 100 Millionen Menschen führte, von einem anderen, bisher nicht identifizierten Erreger verursacht worden wären, stellten sich Anfang 2013 als falsch heraus: Auch die Infektionen aus dem 6. Jahrhundert sind auf den Erreger Yersinia pestis zurückzuführen. Das Erbmaterial der jahrhundertealten Pesterreger gewannen die Forscher aus den Skeletten von Pestopfern, die im Mittelalter auf dem East-Smithfield-Friedhof in London begraben worden waren. Dieser Friedhof gilt als der am besten dokumentierte Pestfriedhof in ganz Europa; er wurde nur drei Jahre lang – von 1348 bis 1350 – benutzt. 2022 wurden die Untersuchungen zu den Yersinia-pestis-Genomen von Friedhöfen in der Nähe des Yssykköl-Sees im heutigen Kirgisistan veröffentlicht. Grabinschriften geben „Pest“ als Todesursache an und werden auf die Jahre 1338–1339 datiert. Die Synthese der Daten zeigt eine eindeutige Beteiligung des Pestbakteriums Yersinia pestis und wird als jüngster gemeinsamer Vorfahre der späteren großen Genom-Diversifizierung identifiziert, d. h. die Lokalisierung des Ausbruchs der zweiten bekannten Pestpandemie wird auf Zentralasien und auf die Zeit dieser Gräber eingegrenzt. Die Pest heute Die Pest gehört heute zu den „vergessenen“ Krankheiten, die gut behandelbar sind, aber bei zu später Entdeckung noch immer tödlich verlaufen. Neben den traditionellen Wirts- und Zwischenwirtsträgern wie Flöhen und Ratten, die sich u. a. mit Hygienemaßnahmen gut bekämpfen lassen, sind die Ausbrüche heute oft an Murmeltiere, Präriehunde, Erdhörnchen, aber auch an wild lebende Katzen, Hasen und Kaninchen gebunden. Ausbrüche kommen deshalb fast weltweit vor, sind aber selten und konnten mit Ausnahme von Madagaskar meist schnell eingegrenzt werden und erreichen nur niedrige Fallzahlen. Eine große Gefahr ist im Frühstadium der Erkrankung aufgrund erster Symptome die Verwechslung mit einer Erkältung, die am besten durch eine ärztliche Differenzialdiagnostik (Krankheitssymptome und Zugehörigkeit zu einer Risikogruppe) ausgeschlossen werden kann. Von 1978 bis 1992 meldete die Weltgesundheitsorganisation (WHO) 1451 Todesfälle in 21 Ländern. In den USA gab es beispielsweise 1992 dreizehn Infektionen und zwei Todesfälle. Für den Zeitraum 2010 bis 2015 verzeichnete die WHO 3248 Fälle weltweit, darunter 584 an der Pest Verstorbene. Regionale Pestereignisse in verschiedenen Ländern Eine größere Pestepidemie ereignete sich von August bis Oktober 1994 im indischen Surat. Die WHO zählte 6344 vermutete und 234 erwiesene Pestfälle mit 56 Toten. Der dort festgestellte Pesterreger wies dabei bislang noch nicht beobachtete Eigenschaften auf. Er zeichnete sich durch eine schwache Virulenz aus und gilt aufgrund einiger molekularbiologischer Besonderheiten als neuartiger Erregerstamm. Im Jahr 2003 kam es in Algerien nach 50 Jahren wieder zu einem Pestausbruch. Im Februar 2005 breitete sich die Lungenpest in Bas-Uele im Norden der Demokratischen Republik Kongo aus. Nach Berichten der WHO gab es 64 Tote. Durch das Eingreifen der Organisation Ärzte ohne Grenzen konnte eine weitere Verbreitung verhindert werden. Am 14. Juni 2006 wurden im Kongo 100 Pesttote gemeldet, wobei die am stärksten betroffene Region der Distrikt Ituri im Nordosten war mit bis zu 1000 Fällen pro Jahr, sowohl Lungenpest als auch Beulenpest. Im November 2008 wurde ein erneuter Ausbruch der Erkrankung in Uganda von den lokalen Zeitungen gemeldet. Betroffen waren insgesamt zwölf Menschen, von denen drei starben. In den südwestlichen US-amerikanischen Bundesstaaten treten immer wieder Pestfälle auf. Das silvatische (von lateinisch silva „Wald“) Erregerreservoir bilden hier Präriehunde. Werden erkrankte Präriehunde von Hauskatzen erbeutet, so erkranken diese in 10 % der Fälle an Lungenpest und scheiden große Mengen des Erregers aus. Sie sind dann eine Infektionsquelle für den Tierbesitzer und andere Kontaktpersonen. Insgesamt erkranken in den USA jährlich zehn bis zwanzig Menschen an der Pest, wobei die Zahlen rückläufig sind. Dies wird vom Osloer Biologen Nils Christian Stenseth auf den Klimawandel zurückgeführt. Anfang August 2009 wurde in Ziketan in der tibetisch geprägten Provinz Qinghai im Nordwesten Chinas bei elf Menschen die Infektion mit Lungenpest festgestellt. Ein Mensch starb. 2014 wurde eine chinesische Kleinstadt unter Quarantäne gestellt, nachdem ein Mann an der Pest gestorben war. Anfang Juni 2018 wurde laut dem Nachrichtenmagazin Stern im US-Bundesstaat Idaho bei einem Menschen die Beulenpest festgestellt. Der letzte Fall der Beulenpest in Idaho lag bis dahin 26 Jahre zurück. 2019 starb in der Mongolei ein Ehepaar nach Verzehr eines vermutlich infizierten Murmeltieres. Pestvorkommen in Madagaskar seit 2008 Anfang 2008 brach auch in Madagaskar die Pest aus, 18 Menschen fanden dabei den Tod. 2010 starben 18 Menschen. Von Jahresbeginn bis März 2011 waren 60 Menschen gestorben und 200 weitere erkrankt. Betroffen sind vor allem abgeschiedene Regionen wie der Bereich um das Städtchen Ambilobe im Nordwesten, weitere Fälle gab es im Osten und im Hochland. Ende 2013 starben im abgelegenen Norden der Tropeninsel Madagaskar im Distrikt Mandritsara 20 Menschen an der Lungenpest. Seit September 2013 sind in vier verschiedenen Distrikten auf Madagaskar 36 Menschen der Infektionskrankheit zum Opfer gefallen. Im Jahr 2014 starben in Madagaskar, in einem Mitte November noch grassierenden Pestausbruch, erneut mindestens 40 Menschen. Ende Oktober 2017 wurde gemeldet, dass die Zahl der Toten durch den jüngsten Pestausbruch auf Madagaskar auf 107 gestiegen ist. Mehr als 1100 Menschen haben sich mit der Krankheit infiziert, knapp 700 davon konnten bislang geheilt werden. Seit 2010 sind auf Madagaskar rund 600 Menschen an Pest gestorben. Die Pest in Kunst und Kultur Seit der Pestepidemie von 1348 entstanden Pestbilder, die den göttlichen Zorn, meist in Form von Pfeilen oder Lanzen malerisch dargestellt, als Erklärung für die Erkrankungen versinnbildlichen sollten. Oft ist auf diesen Bildern eine vor diesem Gotteszorn schützende Schutzmantelmadonna abgebildet oder es werden die Schutzheiligen Sebastian oder auch Rochus gezeigt. Zum Dank für das Erlöschen von Pestepidemien wurden vielerorts prachtvolle Pestsäulen aufgestellt. Die Oberammergauer Passionsspiele finden als Einlösung eines Versprechens nach der überstandenen Pest 1634 statt. Seit 1680 finden sie im zehnjährigen Rhythmus statt und zählen zu den weltweit bekanntesten Passionsspielen. In ähnlicher Weise wird in der Stadt Flörsheim am Main seit 1666 bis in die Gegenwart am letzten Montag im August der sogenannte „Verlobte Tag“ zum Dank für die Verschonung der Bevölkerung von der Pest als örtlicher Feiertag begangen. Am 5. März 1838 wurde die Oper Guido et Ginevra, ou La Peste de Florence von Fromental Halévy nach einem Libretto Eugène Scribes an der Pariser Oper uraufgeführt. Die Handlung spielt in der Toscana im Jahre 1552. 1881 veröffentlichte der dänische Schriftsteller Jens Peter Jacobsen die Novelle Pesten i Bergamo („Die Pest in Bergamo“). Arnold Böcklin schuf zu diesem Thema 1898 in Italien das Bild Die Pest oder auch Der Schwarze Tod, das heute im Kunstmuseum Basel ausgestellt ist. Böcklin personifiziert die Pest in seinem Bild als einen auf einem fliegenden Ungeheuer reitenden Sensenmann, vor dem es kein Entrinnen gibt. Die Sense und die skelettartige Gestalt greifen auf die mittelalterliche Todesallegorie zurück. Nach einem Drehbuch von Fritz Lang entstand 1919 als erster Film der Monumentalfilmreihe Decla-Weltklasse der Stummfilm Die Pest in Florenz, in dem die Pest das Florenz der Renaissance heimsucht. In der letzten Sequenz des Filmes zieht eine Personifikation der Pest tanzend und Geige spielend als eine Form des Totentanzes durch die Stadt. Die Darstellung der Pest dabei zeigt sehr deutliche Bezüge zu Arnold Böcklins Gemälde. 1921/1922 drehte Friedrich Wilhelm Murnau den Stummfilm Nosferatu – Eine Symphonie des Grauens, in dem ein Vampir symbolisch mit der Pest gleichgesetzt wird und deren bildhaft-körperliche Personifizierung darstellt. Noch deutlicher wird diese Metaphorik in Werner Herzogs Tonfilm-Adaption Nosferatu – Phantom der Nacht (1979) mit Klaus Kinski in der Titelrolle herausgearbeitet. Veit Harlan schildert in seinem 1938 gedrehten Seuchendrama Verwehte Spuren, einer Adaption des gleichnamigen Hörspiels von Hans Rothe, einen angeblich authentischen Pestfall während der ersten Pariser Weltausstellung im Jahr 1867. Ingmar Bergman drehte 1957 Das siebente Siegel (Det sjunde inseglet) mit Max von Sydow; der Film behandelt eine Pestepidemie im Schweden des 14. Jahrhunderts. Albert Camus schrieb den Roman Die Pest (französisch La Peste) über einen neuzeitlichen Pestausbruch in der algerischen Stadt Oran (publiziert 1947). Darin trifft ein Arzt trotz der Aussichtslosigkeit und Absurdität des Kampfes gegen die Pest auf Menschlichkeit und Solidarität. Die Pest wird hierbei oft als Symbol für den Nationalsozialismus interpretiert. Vier Jahre zuvor veröffentlichte Raoul Maria de Àngelis den Roman La peste a Urana („Die Pest in Urana“). Auch Marcel Pagnol schrieb eine Erzählung über die Pest. Sie hat die Verwüstung von Marseille 1720 zum Thema. Les Pestiférés erschien postum 1977 in Band IV der Souvenirs d’Enfance, Le Temps des Amours. 1973 entstand das 1975 in Spoleto aufgeführte Theaterstück Il sonno dei carnefici („Der Traum der Totengräber“) des Biologen und Schriftstellers Giorgio Celli, das sich mit der Pest in Sevilla befasst. Der Pesterreger als biologische Waffe Der Pesterreger wird von der Weltgesundheitsorganisation zu den zwölf gefährlichsten biologischen Kampfstoffen gezählt. Zu diesen sogenannten dreckigen Dutzend gehören auch die des Milzbrands und der Tularämie sowie Pocken-, Ebola- und Marburg-Viren. Es gibt die populäre Hypothese, dass die Pest als biologische Waffe bereits im 14. Jahrhundert zum Einsatz kam – als 1346 in der genuesischen Hafenstadt Kaffa auf der Krim der Tatarenführer Dschanibek Pestleichen über die Mauern der Stadt werfen ließ und die Belagerten vor der Pest nach Italien flüchteten. Nach einem Bericht von Gabriel des Mussis aus Piacenza sollen bei der Belagerung Kaffas beteiligt gewesene Genuesen und Venezianer die Seuche mit Galeeren nach Messina, Pisa, Genua und Venedig eingeschleppt haben, von wo aus sie sich dann über ganz Italien verbreitete. Dies wird jedoch kontrovers beurteilt und ist nicht eindeutig belegt. Während des zweiten Chinesisch-Japanischen Krieges stellte die Japanische Armee im Einheit 731 genannten Gefangenenlager bei Harbin in der Mandschurei biologische Waffen her, die aus mit dem Pesterreger infizierten Flöhen bestanden und deren Einsatz in der Republik China in den Jahren 1940 bis 1942 lokale Pestausbrüche verursachte. Bei der Zerstörung der Produktionsstätten durch die japanische Armee 1945 bei Kriegsende kamen mit Pest infizierte Ratten frei und lösten in den chinesischen Provinzen Heilongjiang und Jilin eine Epidemie mit über 20.000 Todesopfern aus. Während des Kalten Krieges beschäftigten sich sowjetische Wissenschaftler des Direktorium-15 im militärischen Forschungskomplex Biopreparat unter Leitung von Ken Alibek mit dem Einsatz von Pesterregern als biologische Waffe. In Deutschland beschäftigt sich das Robert Koch-Institut mit den Gefahren durch biologische Kampfführung. Dort wurde auch die Informationsstelle des Bundes für biologische Sicherheit (IBBS) eingerichtet. Wie groß die Gefahr eines Angriffs mit biologischen Kampfstoffen tatsächlich ist, ist umstritten. Die IBBS rät nicht zu einer Impfung gegen die Pest in Deutschland. Diese Empfehlung gilt sowohl für die Bevölkerung insgesamt als auch für Risikogruppen. Am 28. August 2014 berichtete die Zeitschrift Foreign Policy von einem in einem Versteck der Organisation „Islamischer Staat“ gefundenen Computer, der unter anderem Anleitungen zur Erstellung von Beulenpest-Waffen enthalten haben soll. Siehe auch Pestbrief Pestepidemien in Norwegen Pestkreuz und Pestsäule Pesttaler Schwarzer Tod Literatur Alan M. Barnes, Thomas J. Quan, Jack D. Poland: Plague in the United States. In: Morbidity and Mortality Weekly Report 1985, S. 9–14. Ole Jørgen Benedictow: Svarte Dauen og senere Pestepidemier i Norge, Oslo 2002. ISBN 82-7477-108-7 Ole Jørgen Benedictow: The Black Death: 1346–1353. The Complete History. Boydell Press: Woodbridge [u. a.] 2004; Reprint 2006. Klaus Bergdolt: Der Schwarze Tod in Europa. C.H. Beck, München 1994; 4. Auflage, mit dem Untertitel Die Große Pest und das Ende des Mittelalters, ebenda 2017, ISBN 978-3-406-70594-6. Klaus Bergdolt: Die Pest 1348 in Italien. Fünfzig zeitgenössische Quellen. Heidelberg 1989. Klaus Bergdolt: Pest. In: Werner E. Gerabek, Bernhard D. Haage, Gundolf Keil, Wolfgang Wegner (Hrsg.): Enzyklopädie Medizingeschichte. De Gruyter, Berlin / New York 2005, ISBN 3-11-015714-4, S. 1122–1127. Friedrich Hoffmann: Gründliche Untersuchung Von der Pest, Uhrsprung und Wesen: Nebst angehängten Bedencken, Wie man sich vor selbiger præserviren, und sie sicher curiren könne? Rüdiger, Berlin 1710 (Digitalisat). Stefan Leenen, Alexander Berner u. a.: Pest! Eine Spurensuche. (= Begleitband zur gleichnamigen Ausstellung im LWL-Museum für Archäologie, 20. September 2019 – 10. Mai 2020). wbg Theiss, Stuttgart 2019, ISBN 978-3-8062-3996-6. J. D. Marshall, R. J. T. Joy, N. V. Ai et al.: Plague in Vietnam 1965–1966. In: American Journal of Epidemiology 86 (1967), S. 603–616. William Hardy McNeill: Plagues and Peoples. Penguin 1979. Claudia Eberhard Metzger, Renate Ries: Verkannt und heimtückisch – Die ungebrochene Macht der Seuchen. Birkhäuser, Basel 1996, ISBN 3-7643-5399-6. Volker Reinhardt: Die Macht der Seuche. Wie die Große Pest die Welt veränderte. C. H. Beck, München 2021, ISBN 978-3-406-76729-6. Michael Schaper: Die Pest. Leben und Sterben im Mittelalter. (= GEO Epoche. Heft 75). Gruner + Jahr, Hamburg 2015, ISBN 978-3-652-00444-2. Franz Schnyder: Pest und Pestverordnungen im alten Luzern. Stans 1932 (zugleich Dissertation Basel). Klaus Schwarz: Die Pest in Bremen. Epidemien und freier Handel in einer Deutschen Hansestadt 1350–1710. Staatsarchiv, Bremen 1996, ISBN 3-925729-19-4. Manfred Vasold: Die Pest. Theiss, Stuttgart 2003, ISBN 3-8062-1779-3. Volker Zimmermann: Krankheit und Gesellschaft: Die Pest. In: Sudhoffs Archiv. 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(PDF; 328 kB) In: Bundesgesundheitsblatt, Band 46, Nr. 11, 2003, S. 949–955. Pest plagte Menschen schon vor 5000 Jahren Einzelnachweise Bakterielle Infektionskrankheit des Menschen Zoonose Meldepflichtige Krankheit Biologische Waffe
Q133780
264.845436
6601
https://de.wikipedia.org/wiki/1583
1583
Ereignisse Politik und Weltgeschehen Truchsessischer Krieg 2. Februar: In Bonn heiratet der zum evangelischen Glauben übergetretene Kurfürst und Kölner Erzbischof Gebhard I. von Waldburg die Gräfin Agnes von Mansfeld-Eisleben. Der Eheschluss löst den Truchsessischen Krieg aus und bewirkt umgehend die Exkommunikation des Erzbischofs. Bayerisch-spanische Truppen belagern im Truchsessischen Krieg die Godesburg bei Bonn. 17. Dezember: Im Truchsessischen Krieg erobern Söldner des neuen Kurfürsten Ernst von Bayern die Godesburg, die von einer Streitmacht seines Vorgängers Gebhard I. von Waldburg verteidigt wird. Ost- und Nordeuropa 10. August: Der Friede von Pljussa wird geschlossen. Der auf drei Jahre geschlossene Waffenstillstand beendet den Livländischen Krieg zwischen Russland und Schweden. Iwan IV. verzichtet auf Jam, Koporje und Iwangorod und erkennt Schweden den Besitz von Estland und Ingermanland zu. Mittel- und Westeuropa 7. Februar bis 23. April: Eindhoven wird im Achtzigjährigen Krieg von spanischen Truppen belagert, erobert und zerstört. 8. September: Im Merlauer Vertrag zwischen Landgraf Wilhelm IV. von Hessen-Kassel und dem neuen Mainzer Erzbischof Wolfgang von Dalberg einigen sich die beiden Seiten über schon lange schwelende Grenzkonflikte zwischen Kurmainz und der Landgrafschaft, wobei fast alle noch verbliebenen Mainzer Besitzungen in Nordhessen endgültig an die Landgrafschaft fallen, dafür jedoch Hessen-Kassel seine Ansprüche im Eichsfeld aufgibt. Alle während der Mainzer Stiftsfehde gemachten Pfandschaften kommen damit gegen eine weitere Zahlung von 40.000 Gulden endgültig an Hessen. Britische Inseln Francis Walsingham deckt in England die katholische Throckmorton-Verschwörung gegen Königin Elisabeth I. auf, die das Ziel hat, Maria Stuart auf den Thron zu bringen. Francis Throckmorton wird verhaftet. Die Verschwörung führt zur Schaffung des Bond of Association, ein von Francis Walsingham und William Cecil, 1. Baron Burghley entworfenes Dokument, das alle Unterzeichner dazu verpflichtete, jeden, der versucht den Thron an sich zu reißen oder ein Attentat auf die Königin versucht oder erfolgreich begeht, zu exekutieren. Ende der Desmond-Rebellionen in Irland Amerika 5. August: Das Königreich England erhält seine erste Kolonie. Die Inbesitznahme der gesamten Region für die englische Krone durch Sir Humphrey Gilbert macht das Gebiet um St. John’s in Neufundland für lange Zeit zur ältesten britischen Kolonie. Asien Mai: Durch den Sieg in der Schlacht von Shizugatake gelingt es Toyotomi Hideyoshi, seine Vormachtstellung in Japan zu festigen und seinen Kontrahenten Shibata Katsuie auszuschalten. Die Burg Ōsaka wird fertiggestellt. Wirtschaft In Frankreich wird die Spielkartensteuer eingeführt. Wissenschaft und Technik 26. Januar: In Florenz wird die Gelehrtengesellschaft Accademia della Crusca gegründet, die älteste Sprachgesellschaft. Galileo erfindet das Pendel. Der französische Rechtswissenschaftler Dionysius Gothofredus verwendet in seinem Werk Corpus Iuris Civilis erstmals diesen Begriff und setzt ihn in Gegensatz zum Corpus Iuris Canonici. Der österreichische Chronist Michael von Aitzing veröffentlicht in seinem Geschichtswerk De Leone Belgico den ersten Leo Belgicus, gestochen von Frans Hogenberg. Das Buch behandelt die niederländische Zeitgeschichte seit 1559 aus spanischer Sicht. Wie Aitzing im Vorwort ausführt, soll die Darstellung der Siebzehn Provinzen als Löwe die Macht und Stärke des um seine Unabhängigkeit ringenden Landes grafisch veranschaulichen. Der schottische König James VI. gründet die University of Edinburgh. Gesellschaft 27. September: Elisabeth Plainacher wird als einziges Opfer der Hexenverfolgung in Wien auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Religion Ernst von Bayern wird Erzbischof von Köln. Das im Auftrag Papst Gregors XIII. von Kardinal Guglielmo Sirleto unter Mitarbeit insbesondere von Cesare Baronio zusammengestellte Martyrologium Romanum, ein Verzeichnis aller Heiligen und Seligen der römisch-katholischen Kirche, wird fertiggestellt. Der Straßburger Kapitelstreit zwischen der katholischen und der protestantischen Partei um die Vorherrschaft im Domkapitel des Straßburger Münsters beginnt. Der Streit dauert bis ins Jahr 1604. Der Ausbund, das älteste Gesangbuch der Täuferbewegung, erscheint in einer zweiten, um 80 Lieder erweiterten Ausgabe. Geboren Geburtsdatum gesichert 9. Februar: Martin Röber, deutscher lutherischer Theologe († 1633) 19. Februar: Heinrich Vollers, deutscher Organist († 1656) 23. Februar: Jean-Baptiste Morin, französischer Mathematiker, Astronom und Astrologe († 1656) 21. März: Heinrich Wilhelm von Solms-Laubach, General im Dreißigjährigen Krieg († 1632) 10. April: Hugo Grotius, niederländischer Naturrechtsphilosoph († 1645) 23. April: Ernst von Brandenburg, Markgraf von Brandenburg († 1613) 23. April: Joachim von Brandenburg, Markgraf von Brandenburg († 1600) 16. Juni: Axel Oxenstierna, schwedischer Kanzler († 1654) 17. Juni: Wolfgang Siegel, kurfürstlich-sächsischer Bergamtverwalter († 1644) 20. Juni: Jakob De la Gardie, schwedischer Heerführer († 1652) 22. Juni: Joachim Ernst, Markgraf von Brandenburg-Ansbach († 1625) 27. Juni: Christoph von Dohna, Politiker und Gelehrter zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges († 1637) 25. Juli: Jakob Löffler, württembergischer Kanzler und schwedischer Vizekanzler († 1638) 21. August: Eleonore von Preußen, Kurfürstin von Brandenburg († 1607) 26. August: Adam von Schwarzenberg, Herrenmeister der Ballei Brandenburg des Johanniterordens († 1641) 15. September: Klas Horn, schwedischer Reichsrat und Generalgouverneur von Schwedisch-Pommern († 1632) 19. September: Heinrich Abermann, deutscher Historiker († 1621) 23. September: Christian II., Fürst aus dem Hause Wettin (albertinische Linie) († 1611) 23. September: Philipp Adolf von Ehrenberg, Fürstbischof von Würzburg, Gegenreformator und Hexenverfolger († 1631) September: Girolamo Frescobaldi, Komponist und Organist († 1643) 24. September: Albrecht Wenzel Eusebius von Waldstein, bekannt als Albrecht von Wallenstein, böhmischer Feldherr und Politiker, Herzog von Friedland und Sagan, Herzog zu Mecklenburg, Fürst zu Wenden, Graf von Schwerin, Herr von Rostock, Herr von Stargard und als Generalissimus zweimal Oberbefehlshaber der kaiserlichen Armee im Dreißigjährigen Krieg († 1634 ermordet) 29. September: Johann VIII., Graf von Nassau-Siegen († 1638) 1. Oktober: Sebastian Beck, Schweizer evangelischer Geistlicher und Hochschullehrer († 1654) 11. Oktober: Henri de Luxembourg, duc de Piney, französischer Adeliger († 1616) 22. Oktober: Laurens Reael, niederländischer Admiral und Generalgouverneur der niederländischen Ostindien-Kompanie (VOC) in Südostasien († 1637) 10. November: Anton Günther, Reichsgraf von Oldenburg und Delmenhorst († 1667) Genaues Geburtsdatum unbekannt Paolo Agostini, italienischer Musiker († 1629) Hans Georg von Arnim-Boitzenburg, Feldherr und Politiker im Dreißigjährigen Krieg († 1641) Giambattista Basile, italienischer Dichter und Märchenverfasser († 1632) Hans Ulrich Fisch, auch Hans Ulrich I Fisch, Schweizer Glasmaler und Buchillustrator († 1647) Astolfo Petrazzi, italienischer Maler aus Siena († 1665) Jakub Kryštof Rybnický, böhmischer Komponist († 1639) Gestorben Erstes Halbjahr 15. Januar: Matthias Stoius, deutscher Mathematiker und Mediziner (* 1526) 22. Januar: Antoinette de Bourbon, erste Herzogin von Guise (* 1494) 25. Januar: Johannes Pistorius der Ältere (Niddanus), hessischer Reformator und Superintendent (* 1504) 14. Februar: Giovanni Pietro Albuzio, italienischer Mediziner und Hochschullehrer (* 1507) 14. Februar: Hans von Bartensleben, deutscher Adeliger, Glaubensschlichter, Gründer einer Armenstiftung (* 1512) 6. März: Nikolaus Cisnerus, deutscher Jurist und Humanist (* 1529) 6. März: Zacharias Ursinus, reformierter Theologe (* 1534) 9. März: Martín Enríquez de Almansa, spanischer Offizier und Vizekönig von Neuspanien und Peru (* um 1510) 18. März: Abelke Bleken, Opfer der Hexenprozesse in Hamburg 18. März: Magnus von Dänemark, Bischof von Ösel-Wiek, Kurland und Reval (* 1540) 25. März: Nikolaus Jagenteufel, deutscher lutherischer Theologe und Pädagoge (* 1526) 23. Mai: Günther XLI. von Schwarzburg-Arnstadt, deutscher Adliger (* 1529) 26. Mai: Esmé Stewart, 1. Duke of Lennox, schottischer Adeliger (* um 1542) 28. Mai: Lazarus von Schwendi, deutscher Diplomat, Staatsmann und General (* 1522) 1. Juni: George Carew, englischer Geistlicher (* 1497/98) 8. Juni: Mathijs Bril, niederländischer Maler (* 1547/50) 14. Juni: Shibata Katsuie, japanischer General (* 1522) 19. Juni: Lorenzo Suárez de Mendoza, spanischer Kolonialverwalter und Vizekönig von Neuspanien (* 1518) Zweites Halbjahr 6. Juli: Edmund Grindal, Erzbischof von Canterbury und York (* 1519) 8. Juli: Hermann Raphael Rodensteen, niederländischer Orgelbauer (* um 1525) 17. Juli: Mette Fliß, Opfer der Hexenverfolgung in Wernigerode 18. Juli: Johannes Thal, deutscher Arzt und Botaniker (* 1542) 19. Juli: Paul Dumerich, deutscher Pädagoge und Professor (* 1527) 25. Juli: Rodolfo Acquaviva, italienischer Jesuit und Missionar (* 1550) 25. Juli: Johannes Schildberger, Bürgermeister der bayerischen Stadt Dinkelsbühl 24. August: Hans Seeck, deutscher Bildhauer 16. September: Katharina Jagiellonica, polnisch-litauische Prinzessin, Königin von Schweden (* 1526) 27. September: Elisabeth Plainacher, Opfer der Wiener Hexenverfolgung (* um 1513) 29. September: Lorenzo Costa il Giovane, italienischer Maler (* 1537) September: Stoldo Lorenzi, italienischer Bildhauer (* 1533/34) 22. Oktober: Ludwig VI., Pfalzgraf von Simmern und Kurfürst von der Pfalz (* 1539) 30. Oktober: Pirro Ligorio, italienischer Maler, Antiquar, Architekt und Gartenarchitekt (* 1514) 20. November: Philipp II., Landgraf von Hessen-Rheinfels (* 1541) November: Johannes Selner, Kreuzkantor in Dresden (* um 1525) 11. Dezember: Fadrique Álvarez de Toledo, 4. Herzog von Alba, spanischer Adeliger (* 1537) 27. Dezember: Georg Ernst von Henneberg, Graf von Henneberg-Schleusingen (* 1511) 29. Dezember: Zaccaria Dolfin, Kardinal und Apostolischer Nuntius am Kaiserhof in Wien (* 1527) 31. Dezember: Thomas Erastus, Schweizer reformierter Theologe (* 1524) Genaues Todesdatum unbekannt Noe Meurer, deutscher Rechtsgelehrter (* zwischen 1525 und 1528) Fernão Mendes Pinto, portugiesischer Entdecker und Schriftsteller (* 1509, 1510 oder 1514) Weblinks
Q6726
147.501066
29649
https://de.wikipedia.org/wiki/Vietnamesen
Vietnamesen
Die Vietnamesen (auch Kinh, vietn. người Việt oder người Kinh) sind eine Ethnie in Südostasien. Als Stammvölker gelten die Âu Việt aus Südchina und die Lạc Việt aus dem heutigen nördlichen Vietnam, die besonders mit der Dong-Son-Kultur in Verbindung gebracht werden. Obwohl die Vietnamesen überwiegend in Südostasien leben, sind sie als eine ehemalige Provinz von China (Beginn der Östliche Han-Dynastie bis hin zur Zeit der Fünf Dynastien und Zehn Reiche) Ostasien und vor allem den Südchinesen kulturell näher als den Südostasiaten. Laut Volkszählung von 1999 sind 86 Prozent der Bevölkerung Vietnams Kinh-Vietnamesen. In der Volksrepublik China werden sie Gin () genannt. Da das Zeichen 京, Pinyin jīng, südchinesisch king (Vgl. dt. Nanking und Peking), normalerweise Hauptstadt bedeutet, ist es hier als phonetische Wiedergabe der vietnamesischen Eigenbezeichnung Kinh anzusehen. Verbreitung Ausgehend von Nordvietnam und Südchina eroberten die Vietnamesen große Teile des ehemaligen Champa-Königreiches und des Khmer-Reiches im heutigen Südvietnam. Sie sind die größte Bevölkerungsgruppe in den meisten Provinzen Vietnams und machen einen nennenswerten Anteil der Bevölkerung Kambodschas aus. Unter den Roten Khmer wurden 2 Millionen Kambodschaner ermordet. Viele Überlebende flohen nach Vietnam. Im 16. Jahrhundert wanderten einige Vietnamesen nach China aus. Sie sprechen immer noch Vietnamesisch, sind aber stärker sinisiert als die Einwohner Vietnams. Sie bewohnen vor allem das Autonome Gebiet Guangxi der Zhuang und dessen Umgebung. Spätestens seit dem Ende des Ersten Weltkrieges gab es Vietnamesen, die in Frankreich lebten und studierten. Als die Franzosen sich 1954 aus Vietnam zurückzogen, emigrierten einige Vietnamesen nach Frankreich. Nach dem Ende des Vietnamkrieges gab es durch die Boatpeople, die vor dem Kommunismus geflohen sind, erneut Auswanderungswellen. Viele Vietnamesen fanden in Nordamerika, Westeuropa (vor allem in der ehemaligen Kolonialmacht Frankreich) und Australien ein neues Zuhause. Allerdings haben auch einige Vietnamesen als Vertragsarbeiter in den ehemaligen RGW-Staaten gearbeitet (vor allem in der damaligen Sowjetunion, Polen, Tschechoslowakei und in der DDR) und leben auch heute noch dort bzw. in den jeweiligen Nachfolgestaaten. Siehe auch Völker Vietnams Geschichte Vietnams Vietnamesen in Deutschland Weblinks Die Jing-Nationalität in Südchina Ethnie in Guangxi Ethnie in Guizhou Ethnie in Yunnan Ethnie in Guangdong Ethnie in Jiangxi Ethnie in Hainan
Q216151
116.577722
2887805
https://de.wikipedia.org/wiki/Wikispecies
Wikispecies
Wikispecies (Aussprache: []) ist ein im September 2004 begonnenes Internetprojekt, das von der Wikimedia Foundation auf Basis eines Wikis betrieben wird. Es hat zum Ziel, ein Artenverzeichnis mit Angaben zu Taxonomie und Nomenklatur aller Lebensformen – Tieren, Pflanzen, Pilzen, verschiedenen Algengruppen, eukaryotischen Einzellern, Bakterien und Archaeen – sowie Viren aufzubauen. Ebenso wie die Wikimedia Commons ist Wikispecies ein sprachübergreifendes Projekt. Die Inhalte stehen unter der GNU-Lizenz für freie Dokumentation und der Creative-Commons-Lizenz CC BY-SA 3.0 zur Verfügung. Geschichte Wikispecies wurde am 3. August 2004 von Benedikt Mandl vorgeschlagen und am 5. September desselben Jahres vom Board der Wikimedia Foundation als offizielles Projekt bestätigt. Projektfortschritt: Mai 2007: 100.000 Artikel Oktober 2011: 300.000 Artikel Juni 2014: 400.000 Artikel Januar 2017: 500.000 Artikel Oktober 2018: 600.000 Artikel Dezember 2019: 700.000 Artikel April 2022: 800.000 Artikel Juli 2023: 840.000 Artikel Im April 2022 umfasste das Projekt über 800.000 Seiten für Arten und höhere Taxa, und insgesamt etwa 1,67 Millionen Seiten, unter anderem für Taxon-Autoren, taxonomisch relevante Veröffentlichungen, Institute mit Typusmaterial, sowie für Synonyme. Projektauftrag Wikispecies richtet sich sowohl an interessierte Nutzer als auch an wissenschaftliche Leser. Im Wissenschaftler-Netzwerk Researchgate werden Experten über das Projekt informiert und zur Mitarbeit als Autoren eingeladen. Die Taxon-Artikel sollen mindestens den wissenschaftlichen Namen, die aktuelle Klassifikation und möglichst Daten zum Typus enthalten und mit Quellennachweisen belegt sein. Weitere taxonomisch relevante Informationen, wie Links zum Text der Erstbeschreibung, Institut oder Foto des Typusmaterials, Lektotypifizierungen, Synonyme und gegebenenfalls abweichende taxonomische Konzepte sind erwünscht. Kritik In der deutschsprachigen Wikipedia wurde 2005 aus mehreren Gründen entschieden, Wikispecies und die Einbindung des Projektes nicht weiter zu verfolgen. So wurde bemängelt, dass Wikispecies keine wissenschaftlichen Ansprüche erfülle und aufgrund der Eingleisigkeit den wissenschaftlichen Diskurs nicht widerspiegele. Zudem sei in der Wikipedia die Darstellung aller Lebewesen ebenso und besser möglich, die dort ohnehin als relevant betrachtet werden. Inzwischen wird der Link aber wieder auf der Hauptseite geführt. Resonanz Das Projekt kooperiert mit der Wissensdatenbank Wikidata. Die Bearbeitung bei Wikispecies führt zunehmend zu neuen wissenschaftlichen Veröffentlichungen zur Taxonomie. Wikispecies erhält monatlich etwa 13 Millionen Aufrufe, die meisten aus den USA, Deutschland, dem Vereinigten Königreich und Indien (Stand April 2022). Einzelnachweise Weblinks Wikispecies bei www.wikimedia.at Bildungswebsite Wiki Wikimedia Wikiprojekt Werk unter einer Creative-Commons-Lizenz Biodiversitätsdatenbank
Q13679
14,776.513617
24149
https://de.wikipedia.org/wiki/Attentat
Attentat
Ein Attentat ist eine Gewalttat, die auf die Tötung oder Verletzung einer Person oder einer Gruppe abzielt. In den meisten Fällen ist das Attentat politisch, ideologisch oder religiös motiviert, in manchen Fällen stehen auch wirtschaftliche Interessen oder eine psychische Störung hinter einem solchen Anschlag. Oft ist das Attentat verbunden mit öffentlichkeitswirksamen Begleitumständen (öffentlicher Tatort, herausragende Persönlichkeit, Geständnis), die dem Anliegen des Attentäters Nachdruck und öffentliche Bekanntheit verleihen sollen. Bis auf wenige Ausnahmen, die wie der Tyrannenmord ethisch und juristisch gerechtfertigt sein können, gelten Attentate mit Todesfolge als Mord und deren Durchführung als Mordanschlag. Insbesondere politisch motivierte Attentate auf prominente Opfer können weitreichende Folgen haben. Die Ermordung Julius Cäsars hatte einen Bürgerkrieg zur Folge, das Attentat von Sarajevo löste den Ersten Weltkrieg aus. Das tödliche Attentat auf den israelischen Premierminister Jitzchak Rabin brachte 1995 den Nahost-Friedensprozess zum Erliegen. Attentate können darüber hinaus traumatisierend auf Gesellschaften wirken, etwa die Morde an Abraham Lincoln, John F. Kennedy, Robert F. Kennedy und Martin Luther King in den USA sowie an Gandhi in Indien und Olof Palme in Schweden. Auch Attentate, die ihr Ziel nicht erreichen wie das Attentat vom 20. Juli 1944 auf Adolf Hitler samt versuchtem Staatsstreich können bedeutende Folgen haben. Begriff Die ursprüngliche Bedeutung von Attentat, im Deutschen seit dem 16. Jahrhundert bezeugt, war „versuchtes Verbrechen“ (von lat. „das Versuchte“). Im 19. Jahrhundert wurde der Begriff unter dem Einfluss von frz. attentat „Anschlag“ inhaltlich eingeengt. Attentäter für die Person, die das Attentat ausübt, ist eine nach dem Anschlag auf König Friedrich Wilhelm IV. von Preußen 1844 in einem Drehorgellied als Reimwort zu Hochverräter gebildete Ableitung mit scherzhafter Anlehnung an Täter, die seit dem zweiten Attentat auf Kaiser Wilhelm I. 1878 allgemein üblich geworden ist. Ziel des Attentats ist meist, eine hochrangige Person oder mehrere Menschen zu töten oder zu verletzen. Neben konventionellen Waffen gebrauchen Attentäter eine Reihe alternativer Angriffsmittel (etwa Gift, Briefbomben, Autobomben). Die Aktion erfolgt durch einen Einzelnen oder eine kleine Gruppe und wendet sich meist demonstrativ gegen eine einflussreiche Macht. Attentate können auch Werkzeuge des Terrorismus sein. Der Urheber oder Planer der Tat und der ausführende Attentäter müssen nicht notwendigerweise dieselbe Person sein. So sind politisch motivierte Attentate bekannt, die durch Auftragsmörder bzw. Geheimdienstmitarbeiter verübt wurden, etwa die Morde durch Mitglieder des jugoslawischen Geheimdienstes UDBA von Regimegegnern oder das tödliche Attentat des bulgarischen Geheimdienstes auf einen Dissidenten 1978 in London (siehe Regenschirmattentat). Bekannt sind unter anderem auch einige gescheiterte Attentate des amerikanischen Auslandsgeheimdiensts CIA auf den kubanischen Staatschef Fidel Castro (siehe Operation Mongoose). Begeht eine Tätergruppe ein Attentat, so wird von einem Gruppenattentat gesprochen, ansonsten liegt ein Einzelattentat vor. Der Kriminologe Hans Langemann entwickelte die weitere Unterscheidung zwischen einem Finalattentat, mit dem ein Anschlag sein Ende findet, und dem Initialattentat, mit dem eine Folge weiterer Ereignisse begonnen werden oder das sie auslösen soll, zum Beispiel einen Staatsstreich oder eine Revolution. Mit derselben Bedeutung wie Attentat wird auch das Wort Anschlag gebraucht, das aber einen größeren Bedeutungsumfang hat. Es kann auch eine Beschädigung oder Zerstörung von Objekten und Abläufen bezeichnen (etwa Sabotageakte) oder auch die Beschädigung von Werten (z. B. „ein Anschlag auf die Pressefreiheit“). Ein Attentat richtet sich dagegen immer gegen Menschen und hat meist die Tötung zum Ziel. Allerdings bilden die sogenannten Säureattentate eine Ausnahme: Bei einem typischen Säureattentat ist nicht die Tötung des Opfers, sondern eine Körperverletzung das Ziel. Außerdem spricht man auch bei der mutwilligen Zerstörung von Gemälden oder anderen Kunstwerken durch Säuren von einem „Säureattentat“, obwohl es sich dabei um eine Sachbeschädigung handelt. Abgrenzung Es ist zwischen der Hinrichtung von politischen Gegnern und Attentaten zu unterscheiden: Die Hinrichtung von politischen Gegnern kann als politischer Mord angesehen werden. Wenn sie aber durch staatliche Organe veranlasst wird (Anordnung der Todesstrafe), verleiht dies dem Vorgang zumindest eine vordergründige oder Scheinlegalität. Ein Attentat wird dagegen grundsätzlich als illegale Tat angesehen. Einzige Ausnahme bildet hier das Widerstandsrecht, das in einzelnen Verfassungen den Bürgern im Kampf gegen diktatorische Herrschaft das Recht auf auch gewalttätigen Widerstand einräumt. Das im Grundgesetz verankerte Widerstandsrecht ( Abs. 4 GG) schließt den Tyrannenmord als letztes Widerstandsmittel gegen einen Diktator nicht aus. In diesem Fall fiele die Tötung einer politischen Führungspersönlichkeit nicht unter den Straftatbestand des Mordes, sondern wäre gesetzlich legalisiert. Zielpersönlichkeiten Das Ziel eines Anschlages ist bei einem Attentat ein Entscheidungsträger oder ein Repräsentant, meist eine Persönlichkeit von hohem politischen, religiösen oder gesellschaftlichen Rang, nicht eine Privatperson. Der Kreis der prominenten öffentlichen Persönlichkeiten umfasst zum Beispiel Staatsoberhäupter, Regierungsmitglieder, Richter, hochrangige Militärs, aber auch Journalisten oder Wirtschaftsführer, wenn sie eine besondere Rolle in der Politik spielen. Auch örtliche Beamte wie Oberbürgermeister oder Polizeichefs zählen zu den prominenten Personen. Darüber hinaus zählen Führer politischer Parteien, großer Gewerkschaften, sozialer und religiöser Organisationen, Führer von Minderheiten, Schriftsteller und andere prominente Mitglieder wichtiger sozialer Institutionen zu den öffentlichen und somit gefährdeten Personen. Bekannte Attentate (Auswahl) Attentat auf den Schriftsteller und russischen Generalkonsul August von Kotzebue am 23. März 1819 durch Karl Ludwig Sand. Attentat auf Abraham Lincoln: Der 16. Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika wurde am 14. April 1865 von einem Südstaaten-Sympathisanten während eines Theaterbesuchs erschossen. Attentat von Sarajevo: Am 28. Juni 1914 wurden der Thronfolger Österreich-Ungarns, Erzherzog Franz Ferdinand und seine Gemahlin Sophie Chotek, Herzogin von Hohenberg, von einem serbischen Nationalisten erschossen. Das Attentat gilt als Auslöser für den Ersten Weltkrieg. Huanggutun-Zwischenfall: Am 4. Juni 1928 wurde Zhang Zuolin, zu dieser Zeit einer der mächtigsten Politiker der Republik China, durch eine von Daisaku Komoto, Oberst der japanischen Kwantung-Armee, die damit in die chinesischen Machtkämpfe eingreifen wollte, an einer Eisenbahnstrecke platzierten Bombe getötet. Das Attentat gilt als mitentscheidend für die darauf folgende Beendigung der Warlord-Ära und Wiedervereinigung Chinas. Aus taktischen Gründen wurde die Nachricht vom Tod Zhangs später veröffentlicht, sodass alternativ die Daten 21. oder 28. Juni 1928 zu finden sind. Georg Elser unternahm 1939 als Einzelgänger in München ein Attentat auf Adolf Hitler, das fehlschlug, weil dieser den Ort zu früh verlassen hatte. Attentat vom 20. Juli 1944 auf Hitler: Eine Gruppe hoher Wehrmachtsoffiziere verschwor sich zur Beendigung des militärisch verlorenen Krieges und deponierte eine Bombe im Führerhauptquartier. Durch die Explosion wurden vier Personen getötet und alle anderen 20 verletzt. Hitler selbst erlitt jedoch nur leichte Verletzungen. Der Staatsstreich scheiterte. Vier Verschwörer, darunter Stauffenberg, wurden noch in der gleichen Nacht auf Befehl des Mitverschwörers Generaloberst Friedrich Fromm, der eine eigene Verstrickung in den gescheiterten Putschversuch vertuschen wollte, erschossen. Attentate auf Mohammad Reza Schah Pahlavi: Auf Mohammad Reza Schah Pahlavi wurden mehrere Attentate verübt. 1949 wurde er während eines Besuches der Universität Teheran angeschossen. Das Attentat von 1965 vor dem Eingang des Marmorpalastes in Teheran überlebte er nur durch das beherzte Eingreifen der Wachmannschaft. Attentat auf John F. Kennedy: Der 35. Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika wurde in seinem Auto während einer Parade am 22. November 1963 in Dallas erschossen. Kurz nach diesem Attentat wurde Lee Harvey Oswald als Verdächtiger verhaftet; zwei Tage später wurde er in Polizeigewahrsam vor laufender Kamera von Jack Ruby erschossen. Attentat auf Martin Luther King: Einer der wichtigsten Vertreter im Kampf gegen die Unterdrückung der Afroamerikaner und Schwarzafrikaner und für soziale Gerechtigkeit wurde am 4. April 1968 auf dem Balkon des Lorraine Motels in Memphis erschossen. Attentat auf Ronald Reagan: Der 40. Präsident der Vereinigten Staaten wurde am 30. März 1981 in Washington, D.C. vor dem Hilton Hotel angeschossen. Attentat auf Johannes Paul II.: Der Papst wurde am 13. Mai 1981 während einer Generalaudienz auf dem Petersplatz durch mehrere Schüsse des türkischen Rechtsextremisten Mehmet Ali Ağca lebensgefährlich verletzt. 12. März 2003: Zoran Đinđić, Serbiens Ministerpräsident, wurde in Belgrad von Heckenschützen ermordet. 16. August 2005: Frère Roger, Gründer der Communauté de Taizé, wurde durch eine wahrscheinlich psychisch kranke Frau mit Messerstichen verletzt und starb an den Folgen. Siehe auch Selbstmordattentat Meuchelmord Dynamitarde Liste von Anschlägen im Schienenverkehr Liste von Sprengstoffanschlägen Propaganda der Tat Attentatsmarkt Literatur Manfred Schneider: Das Attentat. Kritik der paranoischen Vernunft. Matthes & Seitz Berlin, Berlin 2010, ISBN 978-3-88221-537-3. Dirk Lange: Die politisch motivierte Tötung. Frankfurt am Main 2007, ISBN 3-631-56656-5. Sven Felix Kellerhoff: Attentäter – Mit einer Kugel die Welt verändern. Böhlau, Köln 2003, ISBN 3-412-03003-1. Jörg von Uthmann: Attentat – Mord mit gutem Gewissen. Siedler, Berlin 2001, ISBN 3-572-01263-5. Alexander Demandt (Hrsg.): Das Attentat in der Geschichte. Bechtermünz, Augsburg 2000, ISBN 3-8289-0339-8. Wolfgang Plat: Attentate. Eine Sozialgeschichte des politischen Mordes. Econ, Düsseldorf und Wien 1982, ISBN 3-430-17495-3. Will Berthold: Die 42 Attentate auf Adolf Hitler. Wilhelm Goldmann, München 1981. Hans Langemann: Das Attentat. Eine kriminalwissenschaftliche Studie zum politischen Kapitalverbrechen. Kriminalistik-Verlag, Hamburg 1957. Weblinks Peter Koblank: Was versteht man unter einem „Attentat“? Online-Edition Mythos Elser 2006 – Erörterung mit Bezug zum Attentat von Georg Elser Das Attentat – politisches Kampfmittel mit unliebsamen Folgen In: Zeitblende von Schweizer Radio und Fernsehen vom 2. November 2013 (Audio) Einzelnachweise Terrorismus Guerilla Asymmetrische Kriegführung
Q3882219
131.396105
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https://de.wikipedia.org/wiki/Trigonometrie
Trigonometrie
Die Trigonometrie ( ‚Dreieck‘ und ‚Maß‘) ist ein Teilgebiet der Geometrie und somit der Mathematik. Soweit Fragestellungen der ebenen Geometrie (Planimetrie) trigonometrisch behandelt werden, spricht man von ebener Trigonometrie; daneben gibt es die sphärische Trigonometrie, die sich mit Kugeldreiecken (sphärischen Dreiecken) befasst, und die hyperbolische Trigonometrie. Die folgenden Ausführungen beziehen sich im Wesentlichen auf das Gebiet der ebenen Trigonometrie. In der Trigonometrie werden die Beziehungen zwischen Seiten und Winkeln von Dreiecken untersucht. Durch die Kenntnis und Anwendung dieser Beziehungen (Formeln) können dann mit gegebenen Größen eines Dreiecks (Seitenlängen, Winkelgrößen, Längen von Dreieckstransversalen usw.) andere fehlende Größen des Dreiecks berechnet werden. Als Hilfsmittel werden die trigonometrischen Funktionen (Winkelfunktionen, Kreisfunktionen, goniometrischen Funktionen) Sinus (sin), Kosinus (cos), Tangens (tan), Kotangens (cot), Sekans (sec) und Kosekans (csc) verwendet. Trigonometrische Berechnungen können sich aber auch auf kompliziertere geometrische Objekte beziehen, beispielsweise auf Polygone (Vielecke), auf Probleme der Stereometrie (Raumgeometrie) und auf Fragen vieler anderer Gebiete (siehe unten). Trigonometrie im rechtwinkligen Dreieck Besonders einfach ist die Trigonometrie des rechtwinkligen Dreiecks. Da die Winkelsumme eines Dreiecks 180° beträgt, ist der rechte Winkel eines solchen Dreiecks der größte Innenwinkel. Ihm liegt die längste Seite (als Hypotenuse bezeichnet) gegenüber. Die beiden kürzeren Seiten des Dreiecks nennt man Katheten. Wenn man sich auf einen der beiden kleineren Winkel bezieht, ist es sinnvoll, zwischen der Gegenkathete (dem gegebenen Winkel gegenüber) und der Ankathete (benachbart zum gegebenen Winkel) zu unterscheiden. Man definiert nun: Diese Definitionen sind sinnvoll, da verschiedene rechtwinklige Dreiecke mit dem gegebenen Winkel untereinander ähnlich sind, sodass sie in ihren Seitenverhältnissen übereinstimmen. Beispielsweise könnte ein Dreieck doppelt so lange Seiten haben wie ein anderes. Die Brüche der genannten Definitionsgleichungen hätten in diesem Fall die gleichen Werte. Diese Werte hängen also nur vom gegebenen Winkel ab. Aus diesem Grund ist es sinnvoll, von Funktionen der Winkel zu sprechen. Beispiel: Berechnung einer Seitenlänge Die folgenden Zahlenwerte sind abgerundet. In einem Dreieck ABC sind folgende Größen gegeben: Aus diesen Angaben soll die Seitenlänge c ermittelt werden. Da die Ankathete von bekannt und die Hypotenuse gesucht ist, wird die Kosinus-Funktion verwendet. Beispiel: Berechnung einer Winkelgröße Von einem Dreieck ABC ist bekannt: Gesucht ist der Winkel . Die beiden gegebenen Seiten und sind die Ankathete und die Gegenkathete von . Daher ist es sinnvoll, die Tangens-Funktion einzusetzen. Während im letzten Beispiel für einen bekannten Winkel der Kosinuswert zu berechnen war, ist hier die Situation umgekehrt. Aus einem bekannten Tangenswert soll der zugehörige Winkel bestimmt werden. Man benötigt hierfür die Umkehrfunktion der Tangens-Funktion, die so genannte Arcustangens-Funktion (arctan), oder ein Tabellenwerk, aus dem Winkel und zugehöriger Tangenswert abgelesen werden können. Damit erhält man: Definition der trigonometrischen Funktionen am Einheitskreis Die bisher verwendeten Definitionen sind nur für Winkel unter 90° brauchbar. Für viele Zwecke ist man jedoch an trigonometrischen Werten größerer Winkel interessiert. Der Einheitskreis, das ist ein Kreis mit Radius 1, erlaubt eine solche Erweiterung der bisherigen Definition. Zum gegebenen Winkel wird der entsprechende Punkt auf dem Einheitskreis bestimmt. Die x-Koordinate dieses Punkts ist der Kosinuswert des gegebenen Winkels, die y-Koordinate der Sinuswert. Die oben gegebene Definition von Sinus- und Kosinuswert durch x- und y-Koordinate lässt sich problemlos auf Winkel über 90° ausdehnen. Man erkennt dabei, dass für Winkel zwischen 90° und 270° die x-Koordinate und damit auch der Kosinus negativ ist, entsprechend für Winkel zwischen 180° und 360° die y-Koordinate und somit auch der Sinus. Auch auf Winkel, die größer als 360° sind, sowie auf negative Winkel lässt sich die Definition ohne Weiteres übertragen. Man beachte, dass in der modernen Herangehensweise die Beziehung zwischen Winkel und Sinus bzw. Kosinus dazu benutzt wird, um den Winkel zu definieren. Die Sinus- und Kosinusfunktion selbst werden über ihre Reihendarstellung eingeführt. Die weiteren vier trigonometrischen Funktionen sind definiert durch: Trigonometrie im allgemeinen Dreieck Auch für allgemeine Dreiecke wurden etliche Formeln entwickelt, die es gestatten, unbekannte Seitenlängen oder Winkelgrößen zu bestimmen. Zu nennen wären hier insbesondere der Sinussatz und der Kosinussatz. Die Verwendung des Sinussatzes ist nützlich, wenn von einem Dreieck entweder zwei Seiten und einer der beiden gegenüber liegenden Winkel oder eine Seite und zwei Winkel bekannt sind. Der Kosinussatz ermöglicht es, entweder aus drei gegebenen Seiten die Winkel auszurechnen oder aus zwei Seiten und ihrem Zwischenwinkel die gegenüber liegende Seite. Weitere Formeln, die für beliebige Dreiecke gelten, sind der Tangenssatz, der Halbwinkelsatz (Kotangenssatz) und die mollweideschen Formeln. Eigenschaften und Formeln Die Artikel über die sechs trigonometrischen Funktionen (Sinus, Kosinus, Tangens, Kotangens, Secans, Kosecans) und die Formelsammlung Trigonometrie enthalten zahlreiche Eigenschaften dieser Funktionen und Formeln zum Rechnen mit diesen. Besonders häufig gebraucht werden die Komplementärformeln für Sinus und Kosinus sowie der „trigonometrische Pythagoras“ . Wichtig sind auch die Additionstheoreme der trigonometrischen Funktionen und die Folgerungen daraus. Es geht dabei um trigonometrische Werte von Summen oder Differenzen von Winkeln. So gilt beispielsweise für alle und : Geometrische Herleitungen zu diesen vier Additionstheoremen sind in Figur 1 und Figur 2 veranschaulicht. Zu Figur 1: Zu Figur 2: Weitere Additionstheoreme: Weitere Identitäten finden sich in der Formelsammlung Trigonometrie. Anwendungsgebiete Trigonometrie spielt in vielen Bereichen eine entscheidende Rolle: In der Geodäsie (Vermessung) spricht man von Triangulation, wenn man von Punkten bekannter Position aus andere Punkte anpeilt (Winkelmessung) und daraus trigonometrisch die Positionen der neuen Punkte bestimmt. In der Astronomie lassen sich auf entsprechende Weise die Entfernungen von Planeten, Monden und nahe gelegenen Fixsternen ermitteln. Ähnlich groß ist die Bedeutung der Trigonometrie für die Navigation von Flugzeugen und Schiffen und für die sphärische Astronomie, insbesondere für die Berechnung von Stern- und Planetenpositionen. In der Physik dienen Sinus- und Kosinus-Funktion dazu, Schwingungen und Wellen mathematisch zu beschreiben. Entsprechendes gilt für den zeitlichen Verlauf von elektrischer Spannung und elektrischer Stromstärke in der Wechselstromtechnik. Geschichte Vorläufer der Trigonometrie gab es bereits während der Antike in der griechischen Mathematik. Aristarchos von Samos nutzte die Eigenschaften rechtwinkliger Dreiecke zur Berechnung der Entfernungsverhältnisse zwischen Erde und Sonne bzw. Mond. Von den Astronomen Hipparch und Ptolemäus ist bekannt, dass sie mit Sehnentafeln arbeiteten, also mit Tabellen für die Umrechnung von Mittelpunktswinkeln (Zentriwinkeln) in Sehnenlängen und umgekehrt. Die Werte solcher Tabellen hängen unmittelbar mit der Sinus-Funktion zusammen: Die Länge einer Kreissehne ergibt sich aus dem Kreisradius und dem Mittelpunktswinkel gemäß Ähnliche Tabellen wurden auch in der indischen Mathematik verwendet. Arabische Wissenschaftler übernahmen die Ergebnisse von Griechen und Indern und bauten die Trigonometrie, insbesondere die sphärische Trigonometrie weiter aus. Im mittelalterlichen Europa wurden die Erkenntnisse der arabischen Trigonometrie erst spät bekannt. Die erste systematische Darstellung des Gebiets erfolgte im 15. Jahrhundert. Im Zeitalter der Renaissance erforderten die zunehmenden Problemstellungen der Ballistik und der Hochseeschifffahrt eine Verbesserung der Trigonometrie und des trigonometrischen Tafelwerks. Der deutsche Astronom und Mathematiker Regiomontanus (Johann Müller) fasste Lehrsätze und Methoden der ebenen und sphärischen Trigonometrie in dem fünfbändigen Werk De triangulis omnimodis zusammen. Aufgrund dieser Anwendung waren außer Sinus und Kosinus auch andere Winkelfunktionen gebräuchlich, wie etwa der Sinus versus = 1 − cos. Der Begriff Trigonometrie wurde durch Bartholomäus Pitiscus in seinem Trigonometria: sive de solutione triangulorum tractatus brevis et perspicuus von 1595 eingeführt. Die heute verwendeten Schreibweisen und die analytische Darstellung der trigonometrischen Funktionen stammen zum größten Teil von Leonhard Euler. Literatur Theophil Lambacher, Wilhelm Schweizer (Hrsg.): Ebene Trigonometrie, Mathematisches Unterrichtswerk für höhere Schulen. Ernst Klett Verlag, Stuttgart, 1958. Weblinks Hilfen zur Trigonometrie Dynamische Dokumente zum Verständnis der trigonometrischen Funktionen Zusammenfassung Trigonometrie für Gymnasium. Landesbildungsserver Baden-Württemberg Einfache trigonometrische Gleichungen, Musteraufgaben mit Lösungstipps. Landesbildungsserver Baden-Württemberg Trigonometrische Java applets Trigonometrie für Schüler im Online-Mathematikbuch Zur Geschichte der Trigonometrie Trigonometrische Funktionen Trigonometry Web App Trigonometrische Berechnungen in Echtzeit Einzelnachweise Teilgebiet der Mathematik
Q8084
189.564192
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https://de.wikipedia.org/wiki/GeoRSS
GeoRSS
GeoRSS ist ein Standard, um mittels Web-Feeds eine Georeferenzierung zu übertragen. GeoRSS kann dabei durch Erweiterung von RSS 1.0, RSS 2.0 oder Atom benutzt werden. Geschichte und Hintergrund GeoRSS-Simple ist ein leichtgewichtiges Format, das nur Basisgeometrien (point, line, box, polygon) unterstützt und die typischen Anwendungsfälle für georeferenzierte Daten abdeckt. GeoRSS-GML geht auf das GML-Format des Open Geospatial Consortiums (OGC) zurück und unterstützt eine breitere Palette von Geometrieobjekten als GeoRSS-Simple, insbesondere andere Koordinatensysteme als WGS84. Es gibt auch eine Kodierung, die vom W3C eingebracht wurde, das zwar teilweise veraltet, aber sehr weit verbreitet ist. GeoRSS dient auch informell als Erweiterung des W3C-Geo(punkt)-Vokabulars, indem es wichtige zusätzliche Arten von Positionen (Punkte, Linien und Grenzen) sowie andere Erweiterungsmöglichkeiten hinzufügt. Im März 2007 wurde GeoRSS, zusammen mit KML, in die Google Maps API aufgenommen. Damit wolle man sicherstellen, dass es Benutzern ermöglicht wird, Daten in jedem Format zu erstellen und auf Google Maps hochzuladen. Basierend auf RSS, gibt es folgende Standards: GeoRSS-Simple GeoRSS-GML Geometrie Die geometrischen Formen, die zur Darstellung der Position in GeoRSS verwendet werden können, sind Punkt, Linie und Grenze. Ein Punkt enthält ein einzelnes Koordinatenpaar. Das Koordinatenpaar enthält einen Breitenwert und einen Längenwert in dieser Reihenfolge. Die bevorzugte Serialisierung dieser Methode verwendet ein Leerzeichen, um die beiden Werte zu trennen. Linie Eine Linie enthält zwei oder mehr Koordinatenpaare. Jedes Paar enthält einen Breitenwert und einen Längenwert in dieser Reihenfolge. Die bevorzugte Serialisierung dieser Methode verwendet ein Leerzeichen, um die beiden Werte zu trennen. Paare sind durch ein Leerzeichen voneinander getrennt. Viereck Ein Viereck enthält genau zwei Koordinatenpaare. Jedes Paar enthält einen Breitenwert und einen Längenwert in dieser Reihenfolge. Die bevorzugte Serialisierung dieser Methode verwendet ein Leerzeichen, um die beiden Werte zu trennen. Paare sind durch ein Leerzeichen voneinander getrennt. Das erste Koordinatenpaar (untere Ecke) muss ein Punkt weiter westlich und südlich des zweiten Koordinatenpaares (obere Ecke) sein, und der Kasten wird immer so interpretiert, dass er die 180 (oder −180) Grad Längengrad-Linie nicht enthält, die nicht an seiner Grenze liegt, und den Nord- oder Südpol nicht enthält, außer an seiner Grenze. Ein Kasten wird in der Regel verwendet, um einen Bereich, in dem sich andere Daten befinden, grob abzugrenzen. Polygon Ein Polygon enthält mindestens vier Koordinatenpaare. Jedes Paar enthält einen Breitenwert und einen Längenwert in dieser Reihenfolge. Die bevorzugte Serialisierung dieser Methode verwendet ein Leerzeichen, um die beiden Werte zu trennen. Paare sind durch ein Leerzeichen voneinander getrennt. Das letzte Koordinatenpaar muss mit dem ersten identisch sein. Codierung Codiert werden die einzelnen Komponenten wie folgt. GML: Punkt <gml:Punkt> Punkt> Linie <gml:LineString>Zeichenkette Polygon <gml:Polygon> Polygon> Viereck <gml:Kuvert > GeoRSS Simple: Punkt <georss:point> point> Linie <georss:line> Polygon <georss:polygon>> Viereck <georss:box> Vorteile Die Vorteile von GeoRSS-Feeds liegen in den Möglichkeiten der geografischen Suche und Aggregation. Mit GeoRSS ist es möglich, nach allen geografischen Kriterien zu suchen, beispielsweise alle erdbebenrelevanten Gebiete innerhalb von 200 Kilometer rund um einen gewissen Standort. Beispiele GeoRSS-Simple mittels Atom: <?xml version="1.0" encoding="utf-8"?> <feed xmlns="http://www.w3.org/2005/Atom" xmlns:georss="http://www.georss.org/georss"> <title>Earthquakes</title> <subtitle>International earthquake observation labs</subtitle> <link href="http://example.org/"/> <updated>2005-12-13T18:30:02Z</updated> <author> <name>Dr. Thaddeus Remor</name> <email>[email protected]</email> </author> <id>urn:uuid:60a76c80-d399-11d9-b93C-0003939e0af6</id> <entry> <title>M 3.2, Mona Passage</title> <link href="http://example.org/2005/09/09/atom01"/> <id>urn:uuid:1225c695-cfb8-4ebb-aaaa-80da344efa6a</id> <updated>2005-08-17T07:02:32Z</updated> <summary>We just had a big one.</summary> <georss:point>45.256 -71.92</georss:point> </entry> </feed> GeoRSS-GML mittels RSS 2.0: <?xml version="1.0" encoding="UTF-8"?> <rss version="2.0" xmlns:georss="http://www.georss.org/georss" xmlns:gml="http://www.opengis.net/gml"> <channel> <link>http://maps.google.com/</link> <title>Cambridge Neighborhoods</title> <description>One guy's view of Cambridge, MA</description> <item> <guid isPermaLink="false">00000111c36421c1321d3</guid> <pubDate>Thu, 05 Apr 2007 20:16:31 +0000</pubDate> <title>Central Square</title> <description>The heart and soul of the "old" Cambridge. Depending on where you stand, you can feel like you're in the 1970s or 2020.</description> <author>rajrsingh</author> <gml:Polygon> <gml:exterior> <gml:LinearRing> <gml:posList> -71.106216 42.366661 -71.105576 42.367104 -71.104378 42.367134 -71.103729 42.366249 -71.098793 42.363331 -71.101028 42.362541 -71.106865 42.366123 -71.106216 42.366661 </gml:posList> </gml:LinearRing> </gml:exterior> </gml:Polygon> </item> </channel> </rss> GeoRSS-Simple mittels RSS 2.0 nach W3C: <?xml version="1.0"?> <?xml-stylesheet href="/eqcenter/catalogs/rssxsl.php?feed=eqs7day-M5.xml" type="text/xsl" media="screen"?> <rss version="2.0" xmlns:geo="http://www.w3.org/2003/01/geo/wgs84_pos#" xmlns:dc="http://purl.org/dc/elements/1.1/"> <channel> <title>USGS M5+ Earthquakes</title> <description>Real-time, worldwide earthquake list for the past 7 days</description> <link>http://earthquake.usgs.gov/eqcenter/</link> <dc:publisher>U.S. Geological Survey</dc:publisher> <pubDate>Thu, 27 Dec 2007 23:56:15 PST</pubDate> <item> <pubDate>Fri, 28 Dec 2007 05:24:17 GMT</pubDate> <title>M 5.3, northern Sumatra, Indonesia</title> <description>December 28, 2007 05:24:17 GMT</description> <link>http://earthquake.usgs.gov/eqcenter/recenteqsww/Quakes/us2007llai.php</link> <geo:lat>5.5319</geo:lat> <geo:long>95.8972</geo:long> </item> </channel> </rss> Beispiele von GeoRSS-Implementierungen Example feeds GeoNetwork opensource: Simple and GML-feeds. Verwendung und Implementierung WordPress and MovableType plugins zum Hinzufügen von GeoRSS in einem Blog. MapQuest Embeddable Map using GeoRSS Feed Open source projects Worldkit GeoRSS Simple und GeoRSS GML werden unterstützt. GeoServer Produkte (PDF; 162 kB) GeoRSS built into Cadcorp SIS. CubeWerx WFS (PDF; 242 kB) The new release of the CubeWerx OGC Web Feature Service product supports GeoRSS GML. The use of GeoRSS in Ionic redSpider products Bay of Islands – Contains GeoRSS information about local accommodation MarkLogic Provides support for geospatial queries using GeoRSS/Simple markup. Weblinks georss.org – Webseite für GeoRSS Spezifikationen (Beschreibt alle 3 Kodierungen) OGC Whitepaper (PDF) Open Geospatial Consortium: An Introduction to GeoRSS. Last Accidents in the World on GeoRSS – Beispiele zu GeoRSS. Einzelnachweise Open Geospatial Consortium Web-Feed Digitale Medien XML-basierte Sprache
Q1502792
8,101.903805
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https://de.wikipedia.org/wiki/Silber
Silber
Silber (in der Pharmazie auch lateinisch Argentum) ist ein chemisches Element mit dem Elementsymbol Ag und der Ordnungszahl 47. Es zählt zu den Übergangsmetallen. Im Periodensystem steht es in der 5. Periode und der 1. Nebengruppe (Gruppe 11) oder Kupfergruppe. Das Elementsymbol Ag leitet sich vom lateinischen Wort argentum für „Silber“ ab. Silber gehört zu den Edelmetallen. Es ist ein weiches, gut verformbares (duktiles) Schwermetall mit der höchsten elektrischen Leitfähigkeit aller Elemente im unmodifizierten Zustand (Kohlenstoff in der Form von Graphen besitzt nochmals eine höhere Leitfähigkeit) und der höchsten thermischen Leitfähigkeit aller Metalle. Lediglich Supraflüssigkeiten und ungestörte kristalline Ausprägungen des Kohlenstoffs (Diamant, Graphen und graphennaher Graphit, Kohlenstoffnanoröhren) und des Bornitrids weisen eine bessere thermische Leitfähigkeit auf. Etymologie Das Wort „Silber“ ( und ähnliche Formen) leitet sich aus der gemeingermanischen Wurzel *silubra- ab, ebenso wie die Bezeichnungen in anderen germanischen Sprachen (so Englisch ). Das Baskische hat das germanische Wort übernommen: . Verwandte Bezeichnungen gibt es in den baltischen Sprachen () und den slawischen Sprachen (). Die Philologie des 19. Jahrhunderts brachte eine Vielzahl von Theorien über den Wortursprung hervor. Der 1870 von Victor Hehn hergestellte Zusammenhang mit dem in Homers Ilias beschriebenen sagenhaften Land Alybē () muss Spekulation bleiben. Das Wort könnte aus einer orientalischen Sprache stammen, abgeleitet von der semitischen Wurzel ṢRP (vgl. , ‚legieren‘). In anderen indogermanischen Sprachen geht das Wort für Silber auf die Wurzel *arg zurück, so und . Argentinien wurde nach dem Silber benannt, das Europäer dort zu finden hofften; es ist das einzige nach einem chemischen Element benannte Land. Häufiger ist die Namensgebung eines Elementes nach einem Land, z. B. Francium, Germanium und Polonium. Geschichte Silber wird von Menschen etwa seit dem 5. Jahrtausend v. Chr. verarbeitet. Es wurde zum Beispiel von den Assyrern, den Goten, den Griechen, den Römern, den Ägyptern und den Germanen benutzt. Zeitweise galt es als wertvoller als Gold. Das Silber stammte meistens aus den Minen in Laurion, die etwa 50 Kilometer südlich von Athen lagen. Bei den alten Ägyptern war Silber als Mondmetall bekannt. Auch in der Alchemie steht der Mond (lateinisch Luna) für Silber. Spätmittelalterliche und frühneuzeitliche Autoren, insbesondere auf dem Gebiet der Alchemie, nahmen eine Entstehung des Silbers durch Vermischung von Schwefel und Quecksilber (lateinisch Argentum vivum) an. Im Mittelalter und der Frühen Neuzeit wurden in Zentraleuropa Silbererzvorkommen im Harz (Goslar), in Waldeck-Frankenberg (Frankenberg, Goddelsheim, Dorfitter, Thalitter), am Donnersberg (Imsbach), im Thüringer Wald (Ohrdruf), in Sachsen (Freiberg und im übrigen Erzgebirge, besonders Jáchymov), im Südschwarzwald (Schauinsland, Belchen, Münstertal, Feldberg), Böhmen (Kutná Hora) und der Slowakei entdeckt. Ergiebige Silbervorkommen sind darüber hinaus aus Kongsberg (Norwegen) bekannt. Größter Silberproduzent im Mittelalter war Schwaz. Ein großer Teil des damaligen Silbers kam aus den Stollen der Schwazer Knappen. Später brachten die Spanier große Mengen von Silber aus Lateinamerika, unter anderem aus der sagenumwobenen Mine von Potosí, nach Europa. Auch Japan war im 16. Jahrhundert Silberexporteur. Durch das gestiegene Angebot sank der Silberwert in der Alten Welt. Da nach 1870 vorwiegend Gold als Währungsmetall verwendet wurde, verlor das Silber seine wirtschaftliche Bedeutung immer mehr. Das Wertverhältnis sank von 1:14 einige Zeit lang auf 1:100, später stieg es wieder etwas an. Im März 2018 lag es bei ungefähr 1:81. Das Angebot an Silber ist von der Verbrauchs- und Produktionsentwicklung anderer Metalle abhängig. Mitte des 19. Jahrhunderts wurde rostfreier Stahl entwickelt, der dann aufgrund seiner Gebrauchsfreundlichkeit und des attraktiven Preises nach dem Ersten Weltkrieg in die Einsatzbereiche des Silbers vordrang, etwa Servierplatten, Bestecke, Leuchter und Küchengerät. Gegenläufig dazu hat sich der Bereich Fotografie und Fotochemie unter Verwendung der Silbersalze während des ganzen 20. Jahrhunderts breit entwickelt, verlor aber seit Ende der 1990er Jahre im Zuge der Umstellung auf die digitale Abbildungstechnik erheblich an Bedeutung. Als die größte Silberspekulation wird die Spekulationsblase im Silbermarkt Mitte der 1970er Jahre bis zum Jahr 1980 betrachtet, die insbesondere mit den Brüdern Nelson Bunker Hunt und William Herbert Hunt in Verbindung gebracht wird, die Silberspekulation der Brüder Hunt. Silber als Mineral und Varietäten Silber hat in der Erdkruste einen Anteil von etwa 0,079 ppm. Es ist damit etwa 20 mal häufiger als Gold und rund 700 mal seltener als Kupfer. In der Natur tritt es gediegen auf, das heißt elementar; meist in Form von Körnern, seltener von größeren Nuggets, dünnen Plättchen und Blechen oder als drahtig verästeltes Geflecht (Dendrit) bzw. als dünne Silberdrähte in hydrothermal gebildeten Erzgängen sowie im Bereich der Zementationszone. Natürliche Vorkommen an gediegen Silber waren bereits vor der Gründung der International Mineralogical Association (IMA) bekannt. Silber ist daher als sogenanntes grandfathered Mineral als eigenständige Mineralart anerkannt. Gemäß der Systematik der Minerale nach Strunz (9. Auflage) wird Silber unter der System-Nr. „1.AA.05“ (Elemente – Metalle und intermetallische Verbindungen – Kupfer-Cupalit-Familie – Kupfergruppe) beziehungsweise in der veralteten 8. Auflage unter I/A.01 (Kupfer-Reihe) eingeordnet. Die vorwiegend im englischsprachigen Raum verwendete Systematik der Minerale nach Dana führt das Element-Mineral unter der System-Nr. „01.01.01.02“ (Goldgruppe). Neben gediegen Silber, von dem bisher (Stand: 2018) über 5500 Fundorte dokumentiert sind, findet man es vor allem in sulfidischen Mineralen. Zu den wichtigsten sulfidischen Silbererzen zählen unter anderem Akanthit (Silberglanz) Ag2S mit einem Silbergehalt von etwa 87 % und Stromeyerit (Kupfersilberglanz) CuAgS mit etwa 53 % Silberanteil. Das Mineral mit dem höchsten Silberanteil von maximal 99 % ist allerdings das selten vorkommende Allargentum. Ebenfalls selten vorkommende Silberminerale sind unter anderem der Chlorargyrit (veraltet Hornerz bzw. Silberhornerz) AgCl und der Miargyrit (Silberantimonglanz) AgSbS2. Insgesamt sind einschließlich gediegen Silber bisher (Stand: 2018) 167 Silberminerale bekannt. Neben diesen Silbererzen findet man noch sogenannte silberhaltige Erze, die meist nur geringe Mengen Silber (0,01–1 %) enthalten. Dies sind häufig Galenit (PbS) und Chalkopyrit (CuFeS2). Aus diesem Grund wird Silber häufig als Nebenprodukt bei der Blei- oder Kupferherstellung gewonnen. Ein als Kongsbergit bezeichnetes Silberamalgam mit einem Quecksilbergehalt von etwa 5 % wird als Varietät dem Silber zugerechnet. Bekannt ist Kongsbergit bisher von etwas mehr als 30 Fundorten. Als Arquerit wird eine Silbervarietät (Silberamalgam) mit einem Quecksilbergehalt von 10 bis 15 % bezeichnet. Chilenit ist eine bismuthaltige Silbervarietät. Eine Silbervarietät mit einem Gehalt zwischen 10 und 30 % Gold ist unter der Bezeichnung Küstelit bekannt und konnte bisher (Stand: 2011) an rund 60 Fundorten nachgewiesen werden. Seit dem 18. Jahrhundert ist bekannt, dass durch Erhitzen von Akanthit bzw. bei Verhüttungsprozessen von Silbererzen künstlich (anthropogen) erzeugte Silberdrähte, meist in Form von Silberlocken entstehen können. Besonders in den letzten Jahrzehnten wurde wiederholt über die künstliche Erzeugung von Silberlocken auf Akanthitstufen in der Fachliteratur berichtet. Vorkommen und Förderung Die wichtigsten Silbervorkommen befinden sich in Nordamerika (Mexiko, den USA und Kanada) und in Südamerika (Peru, Bolivien). Mit knapp 20 % der globalen Förderung war Peru von 2003 bis 2009 der weltweit größte Silberproduzent und wurde 2010 von Mexiko überholt. Im Jahr 2020 förderte Mexiko mit 5540 t weltweit das meiste Silber, gefolgt von China mit 3380 t und Peru mit 2770 t. Die weltweit bekannten Silberreserven wurden 2022 auf 530.000 t geschätzt. Ca. 2/3 des Silbers wurden 2020 als Nebenprodukt in Blei/Zink-, Kupfer- oder Goldminen gefördert, wo sie als Sulfide oder Oxide vorkommen. Wichtige Fundorte von Silber in gediegener Form waren: Freiberg im Erzgebirge; Schwaz (Tirol); Kongsberg/Norwegen (dort auch große Kristalle); Sankt Andreasberg im Harz; Keweenaw-Halbinsel/USA (dort mit ebenfalls gediegen vorkommendem Kupfer als „halfbreed“); Batopilas/Mexiko; Mansfelder Kupferschiefer-Revier (Eisleben, Sangerhausen; meist Silberbleche; auch als Versteinerungsmaterial von Fossilien). Zwischen dem Beginn des 20. Jahrhunderts und dem Ende des Zweiten Weltkrieges hat die jährlich geförderte Silbermenge zwar fluktuiert, ist aber im Mittel konstant geblieben. Vom Kriegsende bis heute hat sie sich mehr als verdoppelt. Das polnische Unternehmen KGHM ist mit durchschnittlich 1.200 Tonnen Jahresförderung das bedeutendste Silberunternehmen der EU und das drittgrößte weltweit. Laut einer Studie des Rheinisch-Westfälischen Instituts für Wirtschaftsforschung, des Fraunhofer-Instituts für System- und Innovationsforschung sowie der Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe beträgt die weltweite Reichweite der Silberressourcen nur noch 29 Jahre. Somit ist mit einer Verknappung von Silber in den nächsten Jahrzehnten zu rechnen. Allerdings wird auch immer mehr Silber recycelt, wodurch die bekannten Vorkommen geschont werden. Ausgehend von den Daten des U.S. Geological Survey vom Jahr 2022 ergibt sich für Silber eine statische Reichweite von 23 Jahren. Wie bei den anderen Edelmetallen spielt die Wiederaufarbeitung silberhaltiger Materialien im Rahmen des Recyclings, beispielsweise von Fotopapieren, Röntgenfilmen, Entwickler- und Fixierbädern, Elektronikschrott und Batterien eine wichtige Rolle. Gewinnung und Darstellung Gewinnung aus Silbererzen 20 % des Silbers wird aus Silbererzen gewonnen. Aus diesen wird das Silber meist durch Cyanidlaugung mit Hilfe einer 0,1%igen Natriumcyanid-Lösung herausgelöst. Dazu wird das Erz zunächst fein zu einem Schlamm zerkleinert. Anschließend wird die Natriumcyanid-Lösung dazugegeben. Dabei ist eine gute Belüftung wichtig, da für das Verfahren Sauerstoff benötigt wird. Bei der Zugabe von Natriumcyanid gehen sowohl elementares Silber als auch Silbererze (Ag2S, AgCl) als Dicyanoargentat(I) [Ag(CN)2]− in Lösung: , , . Da die Reaktion von Natriumcyanid mit Silbersulfid in einem Gleichgewicht steht, muss das Natriumsulfid entweder durch Oxidation mit Sauerstoff oder durch Fällung (z. B. als Bleisulfid) entfernt werden. Anschließend fällt man das edlere Silber – ähnlich wie bei der Goldgewinnung – mit Zink aus: . Das ausgefallene Rohsilber (Werksilber) wird abgefiltert und weiter gereinigt (siehe Raffination). Gewinnung aus Bleierzen Bei der Gewinnung von Bleierzen, z. B. aus Bleiglanz, entsteht nach dem Rösten und Reduzieren das sogenannte Rohblei oder Werkblei (genauere Informationen zur Bleigewinnung im Artikel Blei). Dieses enthält meist noch einen Anteil Silber (zwischen 0,01 und 1 %). Im nächsten Schritt wird nun das Edelmetall entfernt und so dieses wertvolle Nebenprodukt gewonnen. Zur Gewinnung muss zunächst das Silber vom größten Teil des Bleis getrennt werden. Dies geschieht durch das Verfahren des Parkesierens (nach Alexander Parkes, der dieses Verfahren 1842 erfand). Das Verfahren beruht auf der unterschiedlichen Löslichkeit von Silber und Blei in Zink. Bei Temperaturen bis 400 °C sind Blei (flüssig) und Zink (fest) praktisch nicht mischbar. Zunächst wird bei Temperaturen >400 °C zum geschmolzenen Blei Zink gegeben. Danach wird die Mischung abgekühlt. Da Silber im geschmolzenen Zink leicht löslich ist, geht es in die Zinkphase über. Anschließend erstarrt die Zinkschmelze als so genannter Zinkschaum (Zink-Silber-Mischkristalle). Dadurch kann das Silber vom größten Teil des Bleis getrennt werden. Dieser Zinkschaum wird auch als Armblei bezeichnet. Er wird anschließend bis zum Schmelzpunkt des Bleis (327 °C) erhitzt, so dass ein Teil des Bleis schmilzt und entfernt werden kann. Danach wird die verbliebene Zink-Blei-Silber-Schmelze bis zum Siedepunkt des Zinks (908 °C) erhitzt und das Zink abdestilliert. Das so gewonnene Produkt wird Reichblei genannt und enthält etwa 8–12 % Silber. Um das Silber anzureichern, wird nun die sogenannte Treibarbeit (Läuterung) durchgeführt. Dazu wird das Reichblei in einem Treibofen geschmolzen. Dann wird ein Luftstrom durch die Schmelze geleitet. Dabei oxidiert das Blei zu Bleioxid, das edle Silber bleibt hingegen unverändert. Das Bleioxid wird laufend abgeleitet und so nach und nach das Blei entfernt. Ist der Bleigehalt des Raffinats so weit gesunken, dass sich auf der Oberfläche der Metallschmelze keine matte Bleioxidschicht mehr bildet, das letzte Oxidhäutchen aufreißt und mithin das darunterliegende glänzende Silber sichtbar werden lässt, spricht man vom Silberblick. Die dann vorliegende Legierung wird Blicksilber genannt und besteht zu über 95 % aus Silber. Gewinnung aus Kupfererzen Silber ist auch in Kupfererzen enthalten. Bei der Kupferherstellung fällt das Silber – neben anderen Edelmetallen – im sogenannten Anodenschlamm an. Dieser wird zunächst mit Schwefelsäure und Luft vom Großteil des noch vorhandenen Kupfers befreit. Anschließend wird er im Ofen oxidierend geschmolzen, wobei enthaltene unedle Metalle in die Schlacke gehen und entfernt werden können. Raffination Rohsilber wird auf elektrolytischem Weg im Moebius-Verfahren gereinigt. Dazu wird das Rohsilber als Anode in eine Elektrolysezelle geschaltet. Als Kathode dient ein Feinsilberblech, als Elektrolyt salpetersaure Silbernitratlösung. Das Verfahren entspricht der elektrolytischen Reinigung des Kupfers. Während der Elektrolyse werden Silber und alle unedleren Bestandteile des Rohsilbers (beispielsweise Kupfer oder Blei) oxidiert und gehen in Lösung. Edlere Anteile wie Gold und Platin können nicht oxidiert werden und fallen unter die Elektrode. Dort bilden sie den Anodenschlamm, der eine wichtige Quelle für Gold und andere Edelmetalle ist. An der Kathode wird nun ausschließlich Silber abgeschieden. Dieses sehr reine Silber bezeichnet man als Elektrolyt- oder Feinsilber. Eigenschaften Physikalische Eigenschaften Silber ist ein weißglänzendes Edelmetall. Das Metall kristallisiert im kubischen-flächenzentrierten Kristallsystem. Unter Normaldruck betragen die Schmelztemperatur 961 °C und die Siedetemperatur 2212 °C. Silber hat aber bereits oberhalb von 700 °C, also noch im festen Zustand, einen deutlichen Dampfdruck. Es siedet unter Bildung eines einatomigen, blauen Dampfes. Das Edelmetall besitzt eine Dichte von 10,49 g/cm³ (bei 20 °C) und gehört daher wie alle Edelmetalle zu den Schwermetallen. Silber hat einen metallischen Glanz. Frische, unkorrodierte (Schnitt)flächen von Silber zeigen die höchsten Licht-Reflexionseigenschaften aller Metalle, frisch abgeschiedenes Silber reflektiert über 99,5 % des sichtbaren Lichtes. Als „weißestes“ aller Gebrauchsmetalle wird es daher auch zur Herstellung von Spiegeln benutzt. Strichfarbe ist ein gräuliches Weiß. Mit abnehmender Korngröße wird die Farbe immer dunkler und ist bei fotografisch fein verteilten Silberkristallen schwarz. Das Reflexionsspektrum zeigt im nahen UV eine ausgeprägte Plasmakante. Silber leitet von allen Metallen Wärme und Elektrizität am besten. Wegen seiner Dehnbarkeit und Weichheit (Mohshärte von 2,5–4) lässt es sich zu feinsten, blaugrün durchschimmernden Folien (Blattsilber) von einer Dicke von nur 0,002 bis 0,003 mm aushämmern oder zu dünnen, bei 2 km Länge nur 0,1 bis 1 g wiegenden Drähten (Filigrandraht) ausziehen. Im geschmolzenen Zustand löst reines Silber leicht aus der Luft das 20-fache Volumen an Sauerstoff, der beim Erstarren der Schmelze unter Aufplatzen der bereits erstarrten Oberfläche (Spratzen) wieder entweicht. Bereits gering legiertes Silber zeigt diese Eigenschaft nicht. Chemische Eigenschaften Silber ist ein Edelmetall mit einem Normalpotential von +0,7991 V. Aus diesem Grund ist es relativ reaktionsträge. Es reagiert auch bei höherer Temperatur nicht mit dem Sauerstoff der Luft. Da in der Luft spurenweise Schwefelwasserstoff H2S enthalten ist, laufen Silberoberflächen allerdings mit der Zeit schwarz an, da elementares Silber mit Schwefelwasserstoff in Anwesenheit von Luftsauerstoff Silbersulfid (Ag2S) bildet: . Silber löst sich nur in oxidierenden Säuren, wie beispielsweise Salpetersäure. In nichtoxidierenden Säuren ist es nicht löslich. Auch in Cyanid-Lösungen löst es sich bei Anwesenheit von Sauerstoff durch die Bildung eines sehr stabilen Silbercyanid-Komplexes, wodurch das elektrochemische Potential stark verschoben ist. In konzentrierter Schwefel- und Salpetersäure löst sich Silber nur bei erhöhten Temperaturen, da es durch Silbernitrat und -sulfat passiviert ist. Silber ist stabil gegen geschmolzene Alkalihydroxide wie Natriumhydroxid. Im Labor verwendet man darum für diese Schmelzen auch Silber- anstatt Porzellan- oder Platintiegel. Biologisch-medizinische Eigenschaften Silber wirkt in feinstverteilter Form bakterizid, also schwach toxisch, was aufgrund der großen reaktiven Oberfläche auf die hinreichende Entstehung von löslichen Silberionen zurückzuführen ist. Im lebenden Organismus werden Silberionen jedoch in der Regel schnell an Schwefel gebunden und scheiden aus dem Stoffkreislauf als dunkles, schwer lösliches Silbersulfid aus. Die Wirkung ist oberflächenabhängig. Dies wird in der Medizin genutzt für Wundauflagen wie für invasive Geräte (z. B. endotracheale Tuben). In der Regel wird Silber für bakterizide Zwecke daher in Medizinprodukten als Beschichtung oder in kolloidaler Form eingesetzt, zunehmend auch Nanosilber. Silberionen finden als Desinfektionsmittel und als Therapeutikum in der Wundtherapie Verwendung. Sie können silberempfindliche Erreger nach relativ langer Einwirkzeit reversibel inhibieren, können darüber hinaus bakteriostatisch oder sogar bakterizid (also abtötend) wirken. Man spricht hier vom oligodynamischen Effekt. In manchen Fällen werden Chlorverbindungen zugesetzt, um die geringe Wirksamkeit des Silbers zu erhöhen. Dabei kommen verschiedene Wirkmechanismen zum Einsatz: Blockierung von Enzymen und Unterbindung deren lebensnotwendiger Transportfunktionen in der Zelle, Beeinträchtigung der Zellstrukturfestigkeit, Schädigung der Membranstruktur. Die beschriebenen Effekte können zum Zelltod führen. Neben der Argyrie, einer irreversiblen schiefergrauen Verfärbung von Haut und Schleimhäuten, kann es bei erhöhter Silberakkumulation im Körper außerdem zu Geschmacksstörungen und Riechstörungen sowie zerebralen Krampfanfällen kommen. Silber reichert sich in der Haut, der Leber, den Nieren, der Hornhaut der Augen, im Zahnfleisch, in Schleimhäuten, Nägeln und der Milz an. Umstritten ist die therapeutische Einnahme von kolloidalem Silber, das seit einigen Jahren wieder verstärkt ins Blickfeld der Öffentlichkeit rückt und über Internet und andere Kanäle vermarktet wird. Es wird vor allem als Universalantibiotikum angepriesen und soll noch andere Leiden kurieren können. Wissenschaftliche Studien über die Wirksamkeit gibt es nicht. Bereits die mit einem gängigen Antibiotikum vergleichbare Wirkung ist bei peroraler Verabreichung stark anzuzweifeln. Sehr geringe oral aufgenommene Mengen bis 5 Mikrogramm Silber pro Kilogramm Körpergewicht und Tag sollen nach Ansicht der amerikanischen Umweltschutzbehörde EPA zu keiner Vergiftung führen. Silber wurde 2014 von der EU gemäß der Verordnung (EG) Nr. 1907/2006 (REACH) im Rahmen der Stoffbewertung in den fortlaufenden Aktionsplan der Gemeinschaft (CoRAP) aufgenommen. Hierbei werden die Auswirkungen des Stoffs auf die menschliche Gesundheit bzw. die Umwelt neu bewertet und ggf. Folgemaßnahmen eingeleitet. Ursächlich für die Aufnahme von Silber waren die Besorgnisse bezüglich hoher (aggregierter) Tonnage, anderer gefahrenbezogener Bedenken und weit verbreiteter Verwendung. Die Neubewertung fand ab 2014 statt und wurde von den Niederlanden durchgeführt. Anschließend wurde ein Abschlussbericht veröffentlicht. Mythologische Eigenschaften Silber gilt in vielen Märchen und Sagen als das einzige Metall, das in der Lage ist, Werwölfe und andere mythologische Wesen zu töten, was auch in modernen Fantasy-Romanen und Filmen häufig aufgegriffen wird. Verwendung Silberpreis Der Preis des Silbers wird auf dem offenen Markt bestimmt. Das geschieht seit dem 17. Jahrhundert am London Bullion Market. Die Einführung des Silberfixings 1897 in London markiert den Beginn der Marktstruktur. 1987 wurde die London Bullion Market Association (LBMA) gegründet. Drei LBMA-Mitglieder nehmen am Silberfixing an jedem Arbeitstag unter Vorsitz der ScotiaMocatta teil. Weitere Mitglieder des Silberfixings sind die Deutsche Bank AG London und HSBC Bank USA NA London Branch. In den 1970er Jahren führte die Silberspekulation der Brüder Hunt zu einem Rekordstand beim Silberpreis. Diese kauften im Zusammenspiel mit vermögenden Geschäftsleuten aus Saudi-Arabien riesige Mengen an Silber sowie Silberkontrakten an den Warenterminbörsen und versuchten, den Silbermarkt zu beherrschen. Am 18. Januar 1980 wurde beim Silberfixing am London Bullion Market ein Rekordstand von 49,45 US-Dollar pro Feinunze ermittelt. Den nächsten Rekord erreichte der Silberpreis erst über 31 Jahre später, am 25. April 2011, als die Feinunze Silber in Hong Kong mit 49,80 US-Dollar gehandelt wurde. Dem Inflationsrechner des United States Department of Labor zufolge entsprechen 49,45 US-Dollar von 1980 im Jahr 2011 einer Summe von 134,99 US-Dollar. Daher dürfte es noch lange dauern, bis der Preis von 1980 unter Berücksichtigung der Inflation überschritten wird. Für den standardisierten Silberhandel an Rohstoffbörsen wurde „XAG“ als eigenes Währungskürzel nach ISO 4217 vergeben. Es bezeichnet den Preis einer Feinunze Silber (31,1 Gramm). Währung und Wertanlage Die früher wichtigste Verwendung war die Herstellung von Silbermünzen als Zahlungsmittel. Für Münzen wurde in der Antike und im Mittelalter nur Silber, Gold und Kupfer bzw. Bronze verwendet. Der Münzwert entsprach weitgehend dem Metallwert (Kurantmünze). In Deutschland waren bis 1871 Silbermünzen (Taler) vorherrschend, die Währung war durch Silber gedeckt (Silberstandard). Nach 1871 wurde der Silber- durch den Goldstandard abgelöst. Der Grund für die Verwendung dieser Edelmetalle waren die hohe Wertspeicherung (Seltenheit) und Wertbeständigkeit von Silber und Gold. Erst in moderner Zeit werden Münzen auch aus anderen Metallen, wie Eisen, Nickel oder Zink hergestellt, deren Metallwert aber geringer ist und nicht dem aufgeprägten Wert entspricht (Scheidemünze). Silber wird als Münzmetall heute meist nur noch für Anlage-, Gedenk- und Sondermünzen verwendet. Besonders in Zeiten von Wirtschaftskrisen – wie z. B. ab 2007 – hat sich neben Gold auch das Edelmetall Silber durch seine Kurs- und Wertstabilität als eine der wichtigsten Anlageform in verschiedensten Ausprägungen wie z. B. Silberbarren, Silberschmuck oder Silbermünzen erwiesen. Im Umfeld von Währungskrisen gab es seit der Antike mehrmals in der Geschichte ein Silberverbot (s. Goldverbot). Kunst, Wirtschaft und Sport Als Material zur Herstellung von Metallkunst ist Silber seit langer Zeit bekannt. Silber ist neben Gold und Edelsteinen (z. B. Diamanten) ein wichtiges Material für die Herstellung von Schmuck und wird seit Jahrhunderten für erlesenes und wertbeständiges Essbesteck (Tafelsilber) und Sakrales Gerät verwendet. Silberstempel (Meistermarke, Stadtmarke, Steuermarke u. a. Punzen) geben Auskunft über die Herkunft des Gegenstandes. Bei Schmuck, Gerät und Barren kann der Silbergehalt, sofern angegeben, anhand des Feingehaltstempels abgelesen werden. Silbermedaillen werden bei vielen Sportwettkämpfen, z. B. bei den Olympischen Spielen, als Zeichen für das Erreichen des zweiten Platzes verliehen. Die olympische Goldmedaille besteht ebenfalls zu 92,5 % aus Silber und ist lediglich mit 6 g reinem Gold vergoldet. Auch in anderen Bereichen werden Auszeichnungen häufig als „silbern“ bezeichnet. Beispiele sind Silberner Bär, Silberner Griffel, Silberner Schuh und Silbernes Lorbeerblatt. Sehr begehrt ist es auch bei Musikinstrumenten, da es aufgrund seiner Dichte einen schönen, warmen Ton von sich gibt, leicht zu verarbeiten ist und z. B. bei der Querflöte das empfindliche Holz ersetzt. Silber besitzt die höchste elektrische Leitfähigkeit aller Metalle, eine hohe Wärmeleitfähigkeit und eine ausgeprägte optische Reflexionsfähigkeit. Dadurch ist es für Anwendungen in Elektrik, Elektronik und Optik prädestiniert. Die Reflexionsfähigkeit von Glasspiegeln beruht auf der chemischen Versilberung von Glasscheiben. Dieses Prinzip wird auch bei der Fertigung von Christbaumschmuck, Optiken und Licht- oder Wärmereflektoren verwendet. Eine Suspension von Silberpulver in Klebstoffen macht sie zu elektrisch (und thermisch) leitfähigen Klebern. Die Schwärzung der Silberhalogenide infolge ihres Zerfalls durch Licht und Entwicklung wird beim Fotopapier genutzt. Es bildete von etwa 1850 bis zur Verbreitung der Digitaltechnik die Grundlage der Fotografie. Silberlegierungen (mit Kupfer, Zink, Zinn, Nickel, Indium usw.) werden in der Elektrotechnik und Löttechnik als Lotlegierungen (sogenanntes Hartlöten), Kontaktmaterialien (z. B. in Relais) und Leitmaterial (z. B. als Kondensatorbeläge) verwendet. Silberlegierungen werden aber auch in der Dentaltechnik und im dekorativen Bereich verwendet. Silbergeschirre und -geräte geben beim Gebrauch immer etwas Silber an die Speisen und Getränke ab, was sich besonders bei manchen Getränken (Wein) in einem unangenehmen Metallgeschmack bemerkbar machen kann. Um dies zu vermeiden, werden silberne Trinkgefäße oft innen vergoldet. Durch Silbersulfid angelaufenes Silber wird entweder poliert oder chemisch reduziert (siehe Silberpflege). Silber in medizinischen und medizinnahen Anwendungen Werkstoffe oder Beschichtungsverfahren nutzen die antibakterielle Wirkung von Silber in Medizinprodukten und anderen Anwendungen in Form von Silberbeschichtungen, als kolloidales Silber, Nanosilber oder in Form von Silberfäden. Beispiele in Medizinprodukten: Wundauflagen mit kolloidalem Silber oder Nanosilber Silberbeschichtungen endoskopischer Tuben Silberbeschichtung von Endoprothesen Kunststoffe mit Silberdotierung zur Anwendung in der Medizintechnik Silberhaltige Cremes als Arzneimittel und Kosmetika, z. B. bei Schuppen mit Hautpilzverdacht oder bei Neurodermitis Silberplatte als Knochenersatz, typischerweise Schädelknochen, etwa bei Lex Barker nach schwerer Kopfverletzung 1944. In Münchhausens Reise nach Rußland und St. Petersburg (ab 1739) wird 1786 über einen trinkfesten General fabuliert, der „zugleich mit seinem Hute eine an demselben befestigte silberne Platte aufhob, die ihm statt des Hirnschädels diente.“ Beispiele für Hygiene- und andere Anwendungen Silberfäden oder Silberionen hemmen in der antimikrobiellen Ausrüstung von Textilien das Wachstum von Bakterien auf der Haut und verhindern damit unangenehme Gerüche. Beschichtung von Oberflächen, z. B. in Kühlschränken, auf Küchenmöbeln, Lichtschaltern und anderen Gegenständen Antibakterielle Emaillierungen und Keramiken Silberbeschichtete Wasserfilterkartuschen Beläge von keramischen Kondensatoren für die Elektrotechnik/Elektronik In Bezug auf die nichtmedizinische Anwendung von Silber empfiehlt das Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR) vorerst generell auf den Einsatz von nanoskaligem Silber oder nanoskaligen Silberverbindungen in verbrauchernahen Produkten zu verzichten. Silber in der Katalyse Silberkatalysatoren finden industrielle Anwendung in der Partialoxidation von Ethen zu Ethylenoxid bzw. von Methanol zu Formaldehyd. Durch die Bedeutung des Silbers für die Oxidationskatalyse sind zahlreiche Untersuchungen zur Wechselwirkung von Silberoberflächen mit Sauerstoff durchgeführt worden. Verschiedene Sauerstoffspezies sind an der Silberoberfläche, im oberflächennahen Bereich und im Silbervolumen lokalisiert. Neben Spezies, die auf das Substrat übertragen werden und mehr oder weniger selektiv zur Oxidation eines Moleküls führen, sind auch Zentren vorhanden, die eine katalytische Dehydrierung ermöglichen. Dies ist interessant im Zusammenhang mit der Tatsache, dass die Partialoxidation von Methanol zu Formaldehyd unterstöchiometrische Mengen an Sauerstoff erfordert. Die Bildung der Sauerstoffspezies ist abhängig von der Temperatur, aber auch von der Art der Reaktionsatmosphäre. Bestimmte O-Spezies sind ex situ nicht nachweisbar und stellen hohe Anforderungen an die eingesetzten Charakterisierungsmethoden. Silber katalysiert anderseits auch die Reduktion organischer Substrate durch Wasserstoff, z. B. die Hydrierung von α,β-ungesättigten Carbonylverbindungen. Die Wechselwirkung von H2 mit Silberkatalysatoren ist – verglichen mit klassischen Hydrierkatalysatoren wie Platin – nur schwach ausgeprägt. Ag-Katalysatoren sind deshalb in der Lage, Doppelbindungen von bi-/multifunktionellen Molekülen selektiv zu hydrieren (z. B. Hydrierung von Acrolein zu Allylalkohol). Nichtmetallische und nicht bakterizide Silberanwendungen Silber wird als Lebensmittelfarbstoff auch im Speisenbereich verwendet, zum Beispiel für Überzüge von Süßwaren wie etwa Pralinen und in Likören. Silbersalze färben Glas und Emaille gelb. Silberlegierungen Silber ist mit vielen Metallen legierbar. Gut legieren lässt es sich mit Gold, mit Kupfer oder mit Palladium (ein Palladiumgehalt von 20 bis 30 Prozent macht das Silber anlaufbeständig). In begrenztem Maße lässt sich Silber mit Chrom, Mangan oder Nickel legieren. Legieren erhöht zumeist die Härte des Silbers. Mit Cobalt oder Eisen lässt es sich nicht legieren. Die wichtigsten Silberlegierungen sind heute Kupfer-Silber-Legierungen. Sie werden meist nach ihrem Feingehalt an Silber, angegeben in Tausendstel, bezeichnet. Die gebräuchlichsten Silberlegierungen haben einen Feingehalt von 800, 835, 925 und 935 Tausendstel Teile Silber. 925er Silber wird nach der britischen Währung Pfund Sterling als Sterlingsilber bezeichnet. Es gilt als die wichtigste Silberlegierung und wird u. a. zur Herstellung von Münzen, Schmuck und Besteck verwendet. Im Hinblick auf den Export werden heute Korpuswaren vorwiegend aus einer Silberlegierung mit einem Feingehalt von 935/1000 hergestellt, da die Waren mit Silberloten gelötet werden, deren Feingehalt niedriger ist, um letztendlich dem gesetzlich geforderten Gesamtfeingehalt von beispielsweise 925/1000 zu genügen. Auch bei stark beanspruchten Bestecken geht seit Jahren der Trend zum Sterlingsilber. Silberwaren werden in der Regel abschließend feinversilbert, Bestecke und Verschleißartikel hartversilbert. Durch die reine Silberbeschichtung werden die verkaufsfördernde, strahlendweiße Silberfarbe und ein stark vermindertes Anlaufen der Waren erreicht. Eine im Mittelalter für die Verzierung von Kunstwerken verwendete Silberlegierung ist das Tulasilber, eine Legierung von Silber, Kupfer, Blei und Schwefel. Silber wird häufig auch vergoldet; man nennt es mit einem aus dem Französischen beziehungsweise Lateinischen stammenden Wort dann „Vermeil“. Verbindungen Silber kommt in chemischen Verbindungen hauptsächlich in der Oxidationsstufe +I vor, die Oxidationsstufen +II, +III und +IV sind selten und meist nur in Komplexen stabil. Oxide Silber(I)-oxid Ag2O ist ein dunkelbrauner Feststoff, der aus silberhaltigen Lösungen mit Basen, z. B. Natronlauge, ausfällt. Bei höheren Temperaturen zerfällt Ag2O in die Elemente. Die Silberoxide mit Silber in Oxidationsstufen größer +I können nur auf elektrochemischem Wege dargestellt werden. Dies sind die Verbindungen Silber(I,III)-oxid AgO, Silber(II,III)-oxid Ag3O4 und Silber(III)-oxid Ag2O3. Halogenide Zu den wichtigsten Silberverbindungen zählen die Silberhalogenide. Sie zersetzen sich im Licht und werden deshalb in der Analogfotografie gebraucht. Silberhalogenide sind außer dem Fluorid schwer in Wasser löslich und dienen zum Nachweis von Halogenid-Ionen. Silber(I)-fluorid AgF ist farblos und als einziges Silberhalogenid gut wasserlöslich. Es ist im Gegensatz zu den anderen Silberhalogeniden nicht lichtempfindlich. Silber(I)-chlorid AgCl ist ein weißes, kristallines wasserunlösliches Pulver. Es dient als Nachweis für Chloridionen. Außerdem wird es in Referenzelektroden und in der Analogfotografie verwendet. Silber(I)-bromid ist hellgelb und ebenfalls wasserunlöslich. Da es lichtempfindlicher als Silberchlorid ist, dient es sehr häufig als lichtempfindliche Schicht in der Analogfotografie. Silber(I)-iodid ist wie Silberbromid gelb und wasserunlöslich. Es wird selten auch in der Analogfotografie verwendet. Manchmal wird Silberiodid von Flugzeugen als Kondensationskeim zur Regenbildung versprüht. Silber(II)-fluorid AgF2 ist eines der wenigen nicht komplexen zweiwertigen Silbersalze. Es wird als Fluorierungsmittel an Stelle von elementarem Fluor verwendet. Weitere Verbindungen Silber(I)-sulfid Ag2S ist von allen Silbersalzen am schwersten wasserlöslich. Es ist schwarz und entsteht direkt aus den Elementen oder durch Versetzen silberhaltigen Lösungen mit Schwefelwasserstoff. Wenn Silberbesteck anläuft, besteht der dunkle Überzug ebenfalls aus Silbersulfid. Silbernitrat AgNO3 ist die wichtigste Silberverbindung und Ausgangsstoff für die Herstellung der meisten anderen Silberverbindungen. Es ist leicht wasserlöslich und wird durch Auflösen von Silber in Salpetersäure hergestellt. Silbersulfat Ag2SO4 entsteht beim Auflösen von Silber in konzentrierter Schwefelsäure. Silberazid AgN3 und Silberacetylid Ag2C2 sind hochexplosiv. Ersteres kann als Initialzünder von Sprengstoffen dienen. Das ebenfalls sehr explosive Silberfulminat AgCNO wird auch als Knallsilber bezeichnet. Silbercyanid AgCN ist ein hochgiftiges farbloses Pulver, das beim Versetzen von Silbersalzlösungen mit Cyanidionen ausfällt. Silber in höheren Oxidationsstufen tritt beispielsweise im Tetrapyridinosilber(II)-persulfat – [Ag(C5H5N)4]S2O8, im Kaliumtetrafluoroargentat(III) K[AgF4] oder Caesiumhexafluoroargentat(IV) Cs2[AgF6] auf. Die giftigen Silbercyanide werden u. a. in galvanischen Bädern zur Versilberung und Farbvergoldung (hellgelb-grünlichgelb) eingesetzt. Bei Silber(I) ist die Neigung zur Bildung von Komplexionen ausgeprägt, meist mit der Koordinationszahl 2. Diese Komplexionen sind mit Ausnahme des erst in stark salzsaurer Lösung entstehenden [AgCl2]− nur in alkalischer oder neutraler Lösung beständig. Nachweis Beim Zutropfen von Halogenid-Lösung in die zu prüfende Flüssigkeit bilden sich beim Vorhandensein von Silber-Kationen Niederschläge, z. B.: Ag+(aq) + Cl−(aq) → AgCl (s) Als Nachweisreaktion für Silbersalze erfolgt daher die Zugabe von Salzsäure oder Natriumchloridlösung. Es bildet sich ein weißer Niederschlag von Silberchlorid, der löslich in verdünntem Ammoniakwasser ist, wobei der Silberdiamminkomplex [Ag(NH3)2]+ entsteht. Bei hohen Konzentrationen an Chlorid löst sich das Silberchlorid teilweise wieder auf, da sich komplexe Dichloroargentate(I) bilden: AgCl + Cl− → [AgCl2]− Der Niederschlag ist bei Iodid-Ionen (AgI) gelb-grünlich und in Ammoniakwasser unlöslich, bei Chlorid- und Bromid-Ionen (AgCl, AgBr) weißlich. Heraldik In der Heraldik wird Silber, wie auch Gold, als Metall bezeichnet, das zu den heraldischen Tinkturen zählt. Es wird häufig durch weiße Farbe wiedergegeben. Siehe auch Silber/Tabellen und Grafiken Silberelektrolyte Galvanisierung Literatur Günter Ludwig, Günter Wermusch: Silber. Aus der Geschichte eines Edelmetalls. Verlag Die Wirtschaft, Berlin 1986, ISBN 3-349-00101-7. Weblinks Mineralienatlas – Silber (Bilder, Vorkommen, technische Fakten), Mineralienportrait Silber Einzelnachweise Grandfathered Mineral Kubisches Kristallsystem Elemente (Mineralklasse) Elektrotechnischer Werkstoff Zahlungsmittel Lebensmittelzusatzstoff (EU)
Q1090
1,297.301764
700932
https://de.wikipedia.org/wiki/Exkretion
Exkretion
Als Exkretion ( „ausscheiden“) wird die Abgabe von überflüssigen Stoffwechselprodukten aus dem Körper an die Umwelt bezeichnet. Der Vorgang wird oft auch einfach Ausscheidung genannt, doch werden darunter auch Sekretionsleistungen und alle andere Abgaben des Körpers verstanden. Exkretion umfasst die Abgabe gelöster Bestandteile, die Defäkation festerer Bestandteile und die Abgabe gasförmiger Bestandteile, die der Körper nicht mehr benötigt. Defäkation ist die Abgabe unverdaulicher Bestandteile der Nahrung, die im Inneren des Darms verbleiben und nicht in den Körper aufgenommen wurden (z. B. unverdauliche Ballaststoffe), sowie unerwünschte bzw. überflüssige Stoffe des Stoffwechsels, die an den Darm zur Exkretion abgegeben werden können. Bei vielen Tieren werden sie durch eine Kloake abgegeben. Außerdem an der Exkretion beteiligt sind bei Wirbeltieren Atmung, Harnorgan und Haut. Die Abgabe von Atemgasen (Kohlenstoffdioxid) und Wasserdampf wird meist zur Atmung und nicht zur Exkretion gerechnet. Das rektal ausgeschiedene Gasvolumen (Meteorismus, Flatulenz) wird der Exkretion zugeordnet. Bei Organismen, die feste und gelöste Bestandteile getrennt (über Darmausgang und Harnorgan) abgeben (viele Säugetiere einschließlich Mensch), kann Exkretion auch nur auf die Abgabe in wässriger Form über die Harnröhre (Urethra) bezogen werden. Die Sammelbezeichnung für Produkte der Exkretion in gelöster Form und der Defäkation ist Exkremente. Auch bei Pflanzen kann als Exkretion bezeichnet werden, wenn für den Organismus schädliche Stoffwechselprodukte ausgeschieden werden. Oft geschieht das über spezielle Exkretions- oder Absonderungsgewebe. Ausgeschiedene Substanzen Die Exkretion beinhaltet Abbauprodukte des Stoffwechsels, Salze bzw. deren Ionen und unverdaute Bestandteile, meist als Feststoffe wahrgenommen. Außerdem ist eine mehr oder minder große Menge Wasser enthalten. Begleitstoffe Wasser Wasser ist in aller Regel kein Stoff, der abgegeben werden müsste. Im Gegenteil, Wasser benötigen alle Organismen, um Lebensfunktionen ausführen zu können. Wasser ist aber in den Exkretionen weitgehend unverzichtbar, um wasserlösliche Stoffe (in der Medizin wird auch von „harnpflichtigen Substanzen“ gesprochen) aus dem Körper zu leiten. Aber auch Verdauungsrückstände können noch beträchtliche Wassermengen binden, im menschlichen Kot sind etwa 40 % des ausgeschiedenen Wasservolumens enthalten. Wasser kann sogar den größten Anteil an den Ausscheidungen einnehmen. Gerade der verfügbare Wasseranteil ist charakteristisch für die verschiedenen in der Evolution entwickelten Exkretionssysteme. Bei wasserlebenden Organismen ist er kaum begrenzt. Trotzdem unterscheiden sich die Lösungswege der Wasserorganismen teilweise beträchtlich, sie bauen auf Lösungsansätzen ihrer Vorfahren auf, die teilweise keine Wasserorganismen waren. Bei terrestrisch lebenden Organismen steht nicht beliebig Wasser zur Verfügung, daher sind zum einen Mechanismen gefordert, die geringer Wassermengen bedürfen, zum anderen erlangt die Wasserrückgewinnung (Wasserresorption) Bedeutung. So wird der Primärharn im Röhrchensystem (Tubuli) des Nephrons in den Nieren der Säugetiere konzentriert, das heißt, Wasser wird zurückgewonnen. Bei fliegenden Organismen wird die zur Verfügung stehende Wassermenge noch kritischer, denn zu Exkretionszwecken erforderliche Wassermengen tragen zur Masse des Organismus bei. Effektive Gewichtsreduzierung bedeutet daher auch, dass der Exkretionsmechanismus möglichst wenig Wasser benötigt. Anders ist die Situation nur für Organismen, die mit ihrer Nahrung größere Wassermengen aufnehmen. Dazu gehören nicht die großen Planktonfresser (Riesenhai, Walhai, Blauwal), die das Wasser gar nicht schlucken, sondern über Filter (Kiemenspalten bzw. Barten) abgeben oder auspressen. Organismen, die regelmäßig große Wassermengen mit der Nahrung aufnehmen, sind hauptsächlich blutfressende Ektoparasiten. Insbesondere für fliegende stellt der Wasserballast eine Herausforderung dar, denn die Blutaufnahme kann ihr eigentliches Körpergewicht übertreffen und ihre Flugfähigkeit sehr beeinträchtigen. Das betrifft nicht nur blutsaugende Insekten, auch beispielsweise Vampirfledermäuse sind genauso davon betroffen. Nach der Blutmahlzeit wird daher die Diurese hormonell stark angeregt, um einen Großteil der Wassermenge sehr rasch auszuscheiden. Gleitstoffe Zur erleichterten Darmpassage und Ausscheidung sind neben der Hauptkomponente Wasser oft schleimige Gleitstoffe aus Darmschleimhaut oder Drüsen in den Exkreten, Fäzes und Exkrementen mit enthalten. Abbauprodukte Abbauprodukte des Stoffwechsels, die nicht mehr benötigt werden, müssen an die Umwelt abgegeben werden. Manchmal sind diese Metaboliten für andere Organismen wie auch für den abgebenden Organismus giftig. Dies betrifft alle Organismen aller Reiche. Ein Ausfall des Harnorgans kann beispielsweise zu einer Harnvergiftung führen. Stickstoffverbindungen Eine zentrale Aufgabe der Exkretion der Tiere besteht darin, überschüssige Stickstoffverbindungen aus dem Körper zu schaffen. Alle Tiere ernähren sich von anderen Organismen oder deren Überbleibseln und nutzen die in deren Bestandteilen gespeicherte chemische Energie oder wandeln die aufgenommenen Substanzen zu körpereigenen Stoffen um (Stoffwechsel). Für die stickstoffhaltigen Komponenten (hauptsächlich aus Protein- und Nukleinsäureabbau) besteht jedoch weniger Bedarf. Der Überfluss muss ausgeschieden werden. Da dieser nicht in die Form gasförmigen Stickstoffs umgewandelt werden kann, werden andere Wege gegangen. Die Wahl des Stickstoffträgers und die Ausgestaltung des Exkretionssystems hängen von den Umgebungsbedingungen ab, insbesondere vom Wasserangebot. Wasserorganismen geben bevorzugt Ammonium als Stickstoffträger ab, während landlebende Tiere meist Harnstoff oder Harnsäure exzernieren. Ammonium, Harnstoff und Harnsäure werden über verschiedene Mechanismen durch Zellmembranen transportiert, entsprechend ihrem chemischen Verhalten in Lösung. Wasserbedarf bei Ausscheidung von 1 g Stickstoff: Ammoniak-Lösung: 500 ml Wasser Harnstoff: 50 ml Wasser Harnsäure: 1 ml Wasser Die Problematik der Stickstoffanreicherung besteht für Pflanzen weniger, sie haben in der Regel einen Mangel an organischen Stickstoffverbindungen. Ammoniak Ammoniak stellt eine mögliche und einfach zu realisierende Stickstoffverbindung dar und besitzt zudem den Vorteil, kaum noch chemische Energie zu enthalten. Der Stoff ist aber für Organismen schon in geringen Mengen giftig, z. B. für Menschen stechend riechend. Er ist ein Gas, in Wasser gut löslich, bedarf aber gelöst einer recht hohen Verdünnung, um auch während der Exkretion nicht giftig zu wirken. Somit eignet er sich besonders für die Abgabe mittels Kiemen. Bei den meisten Knochenfischen und den Larven vieler Amphibien erfolgt die Exkretion von Stickstoffverbindungen zum größten Teil als Ammoniak direkt aus dem Blut durch die Kiemen, eine Niere erübrigt sich dabei. Ammonium Ähnlich wie Ammoniak kann auch Ammonium durch die Kiemen vieler Fische direkt vom Blut an das Umgebungswasser abgegeben werden. Eine andere Möglichkeit haben besonders kleine Vögel wie Kolibris entwickelt, sie scheiden Stickstoff überwiegend als Ammonium in wasserarmer Form (als Paste) aus. Aber auch Säugetiere und der Mensch geben Ammonium mit ihrem Urin ab. Harnstoff Wasserlöslicher Harnstoff und dessen Exkretion als Urin ist vorteilhaft, denn er enthält nur noch wenig chemisch gebundene Energie, hat allerdings den Nachteil, dass er nur in Wasser gelöst ausgeschieden werden kann. Der Stickstoffträger Harnstoff wird von den meisten Säugetieren primär in ihrem Urin ausgeschieden, etwa 20 % mit dem Kot. Für Flugtiere wie Fledermäuse kommt die Harnstoffausscheidung wegen der Wasserbindung weniger in Betracht. Beim Abbau des abgegebenen Harnstoffs kann sich daraus durch Hydrolyse Ammoniak entwickeln. Auch Knochenfische können dazu befähigt sein, Harnstoff abzugeben und je nach Bedingungen zwischen verschiedenen Stickstoffträgern wählen. Dazu gehören Kletterfische (Anabas Scandens), Schildfische (Sicyases sanguineus), Schlangenkopffische (Asiatischer kleiner Schlangenkopf Channa Gachua), Schleimfische (Blennius pholis), Stachelwelse (Mystus vittatus) und andere, die sich amphibisch in der Gezeitenzone aufhalten. Solange sie von ausreichend Wasser umgeben sind, geben sie Stickstoff wie die meisten Fische hauptsächlich über ihre Kiemen in Form von Ammoniak ab. Sind sie nicht mehr im Wasser, geben sie meist über ihre Schleimhäute Harnstoff ab. Dieser Harnstoff trägt seinerseits zu Feuchthaltung bei, indem er Luftfeuchtigkeit bindet. Die Abgabe von Ammoniak über die Kiemen ist an Luft nicht möglich, die Abgabe von Ammoniak über die Schleimhäute wäre wegen der Anhaftung des Giftes nicht opportun. Guanin Die Ausscheidung von Guanin als Stickstoffträger ist nachteilig, da er energiereicher ist als Harnstoff, hat aber für Flugtiere den großen Vorteil, dass dessen Exkretion kaum Wasser benötigt, also auch weniger Ballast bedingt (die Energiebilanz ist positiv). Guaninausscheidung ist wenig verbreitet, aber die meisten Vögel und Fledermäuse scheiden Guanin (vermischt mit Harnsäure) als pastöse Exkrete aus, das gilt auch für flugunfähige Vögel wie Pinguine, aber nicht Strauße. Daraus bildet sich durch Verwitterung Guano bzw. Fledermausguano. Harnsäure Harnsäure wird von vielen Insekten, Reptilien und Vögeln ausgeschieden. Auch viele Säugetiere und der Mensch geben Harnsäure ab, zu etwa 65 % mit dem Urin und etwa 35 % mit dem Kot. Kreatinin/Kreatin Ebenfalls als Stickstoffträger, oft aber nur als körpereigenes Protein-Abbauprodukt gesehen, wird Kreatinin bzw. Kreatin ausgeschieden. Es rührt überwiegend aus dem Muskelabbau her. Viele Säugetiere und der Mensch scheiden das harnpflichtige Stoffwechselprodukt Kreatinin im Urin aus. Zur Nierenfunktionsbeurteilung wird oft die Kreatinin-Clearance betrachtet, da dieser Vorgang die Nierenleistung besonders gut charakterisiert. Vögel scheiden stattdessen überwiegend Kreatin in ihren pastösen Exkreten aus. Ketokörper Gesunde Menschen können gelegentlich, Erkrankte (Diabetes mellitus, Ketonämie) charakteristisch Ketokörper (Acetessigsäure und Betahydroxybuttersäure) oder Aceton ausscheiden, hauptsächlich im Urin (als Ketonurie bezeichnet), teilweise auch in den Atemgasen. Ketokörper sind Abbauprodukte. Verdauungsgase Mit der Verdauung entstehen bei vielen Tieren und beim Menschen auch gasförmige Bestandteile, die rektal abgegeben werden (0,5–1,5 Liter täglich), als Flatulenz bezeichnet. Fünf verschiedene Gase in sehr variabler Menge machen beim Menschen 99 % der intestinalen Gasproduktion aus: Große Unterschiede rühren von unterschiedlicher Ernährung oder Erkrankungen (wie Reizdarmsyndrom). Viele dieser Gaskomponenten entstehen primär als Atemgase der Endosymbionten, bei Cellulose verdauenden Tieren wie Wiederkäuern, die selber keine Cellulasen produzieren können, oft in erheblichem Ausmaß. Auch kann sich das Verhältnis der Gase zueinander ändern. Außerdem können Kot und Exkremente viele volatile Stoffe enthalten wie Indol, Skatol, Alkanthiole und Schwefelwasserstoff, welche viele Tiere mit ihrem Geruchssinn wahrnehmen können, entweder um sie zu vermeiden, oder um sie als Nahrung zu nutzen. Salze Zur Osmoregulation und andere physiologische Vorgänge ist es erforderlich, Salzkonzentrationen im Körper durch selektive Ausscheidung zu steuern. Diese Notwendigkeit betrifft auch Pflanzen. Eine Möglichkeit, Salze bzw. dessen Ionen (besonders Natriumionen und Chloridionen als die in der Regel am meisten vorkommenden) zur Osmoregulation auszuscheiden, bietet das Harnorgan. Dieser Exkretionsvorgang erfordert einen hohen Wasserumsatz, nicht im Wasser lebende Organismen können daher keine großen Salzmengen ausscheiden. Der Funktion des Harnorgans entsprechend kann die Exkretion von Salzen bei vielen Wirbellosen über Nephridien erfolgen. Weitere Möglichkeiten bietet die Ausscheidung über die Haut (beispielsweise als Schweiß), bei sehr vielen Tieren bestehen allerdings Mengenbeschränkungen, insbesondere bei fliegenden. Auch ein Exoskelett (bei Gliederfüßern) steht diesem Weg entgegen. Viele Landtiere sind zur Exkretion von Schweiß daher nicht befähigt. Nahezu problemlos erfolgt die Salzabgabe über Kiemen. Die Osmoregulation und Salzausscheidung mariner Säugetiere scheint sich prinzipiell nicht deutlich von der landlebender zu unterscheiden. Vermutlich nehmen sie kaum Meerwasser auf, sondern decken ihren Wasserbedarf aus ihrer Nahrung, die nur ca. die Hälfte der Salzkonzentration des Meerwassers enthält. Bei der Abgabe über das Harnorgan ist die Beteiligung einer Niere für die Salzabgabe erforderlich. Unverdautes Unverdaute und unverdauliche Bestandteile der Nahrung passieren meist den Darm zur Defäkation. Dazu gehören auch die hellen kalkreichen festen Ausscheidungen von Hyänen oder anderen Raubtieren, welche aus Resten der aufgenommenen Knochen bestehen. Manche Feststoffe werden regelmäßig über den Aufnahmeweg wieder abgegeben oder ausgewürgt, so generell bei Nesseltieren (Cnidaria) oder vielen Vögeln (Nashornvogel), aber (zumindest gelegentlich) bei allen Tieren mit Mund (Erbrechen, Gewölle). Dieser Vorgang wird jedoch nur selten der Exkretion zugerechnet. Ausscheidungsformen Es gibt viele Ausscheidungsformen, neben denen die Abgabe über Kiemen und fester kalkreicher Kot mancher Raubtiere die beiden extremen Gegensätze darstellen. Dazwischen liegen flüssige und pastöse Ausscheidungen. Vielfach sind Ausscheidungen auch inhomogene Mischformen, Zusammensetzungen verschiedener Konsistenzen mit abgrenzbaren stofflich unterschiedlichen Bereichen. Urin Bei vielen Tieren werden wasserlösliche Substanzen durch die Nieren aus dem Blut gefiltert und über den Urin abgegeben (renale Exkretion), insbesondere Harnstoff und Harnsäure, gelöst in Wasser, z. B. bei Affen und Menschen. Bei Reptilien ist der Harnsäureanteil größer, bei ihnen enthält er auch die Stickstoffanteile aus dem Aminosäureabbau. Auch Insekten scheiden in ihrem Urin Harnstoff aus. Kot Einen Teil der Abbauprodukte gibt die Leber über die Galle in den Darm ab (biliäre Exkretion). Dort werden sie, zusammen mit den darmeigenen Ausscheidungen, zu einem Teil des Kotes. Guanin Der Kot der meisten Vögel, Reptilien und der Fledermäuse enthält das pastöse Guanin als Ausscheidungsform des Stickstoffes. Kloakentiere Tiere mit Kloake scheiden Harnsäure beziehungsweise die Produkte der Niere und den Darmkot gemeinsam über die Kloakenöffnung aus. Schweiß Schwitzen dient beim Menschen und vielen Säugetieren primär der Temperaturregulation und der innerartlichen Chemokommunikation. Soweit nur diese Vorgänge betrachtet werden, wird die Schweißproduktion üblicherweise nicht der Exkretion zugeordnet. Soweit aber die Osmoregulation betroffen ist und beispielsweise Natrium-, Kalium-, Kalzium- oder Magnesiumionen spezifisch durch den Schweiß aus dem Körper geschleust werden, zählt der Schweiß als Exkretion. Als Exkretionsleistung gilt auch, dass die Harnstoffkonzentration im menschlichen Schweiß die im menschlichen Urin übersteigt. Auch als Eliminationsweg für komplexere Stoffe des Stoffwechsels und leberbelastende Arzneistoffe dient der Schweiß. Organsysteme Zentrales Stoffwechselorgan Ein zentrales Stoffwechselorgan wie die Leber bei vielen Wirbeltieren ist oftmals verantwortlich für die Umwandlung von Substanzen in eine Form, die eine Ausscheidung ermöglicht. Deren Abgabe kann dann enterohepatisch und über den Darm erfolgen. Körperoberfläche Über die Haut können alle gelösten Stoffe abgegeben werden, soweit genügend Wasser und durchlässige Körperoberfläche vorhanden sind. Die Hautausscheidung ist daher besonders unproblematisch für Wassertiere mit weicher Oberfläche. Bei Kleinorganismen ohne Haut (Einzeller) erfolgt die Exkretion noch einfacher über die Zellmembran als Exozytose oder durch Expulsion eines Zellbestandteiles (wie beim Ausstoßen von Organellen und Zellkern bei der Reifung der Erythroblasten zu Erythrozyten). Bei der Hautexkretion und der Exkretion über die Zellmembranen sind die Funktionen Exkretion, Sekretion und Atmung kaum abgrenzbar. Atmung Über das Atmungssystem werden neben Kohlenstoffdioxid, dessen Abgabe eher der Atmung als der Exkretion zugeordnet wird, besonders Ammoniak oder Ammonium über die Kiemen vieler Wassertiere, so der marinen Knochenfische abgegeben. Viele marine Echte Knochenfische steuern ihre Osmoregulation und Salzabgabe ebenfalls über ihre Kiemen. Harnausscheidung Harnbildung dient der Exkretion wasserlöslicher Stoffe, das sind Harnsäure, Harnstoff und viele Abbauprodukte. Bei vielen Wirbellosen übernehmen verschiedene Formen der Nephridien die Exkretion; Protonephridien bei Plattwürmern (Plathelminthes) und vielen Larven der Spiralia und Metanephridien bei Ringelwürmern (Annelida) und weiteren Tieren mit einem Coelom. Das Harnorgan besteht aus Nieren, Harnleiter, Harnblase und Harnröhre. Dieses Organsystem ist bei vielen Säugetieren voll ausgebildet, bei vielen anderen Wirbeltieren nur partiell, bei Vögeln fehlen Blase und eine äußere Ureteröffnung (außer bei Straußen). Ein Harnorgan muss auch bei Arten nicht bestehen, wenn deren Exkretion über andere Organe abläuft, beispielsweise bei Endoparasiten über deren Haut. Die Hauptaufgabe der Niere besteht darin, Wasser aus dem Primärurin zurückzugewinnen. In diesen Prozess fließt der Großteil der Energie, die die Nierenarbeit benötigt. Rektale Ausscheidung Bei Insekten werden die Abfallstoffe des Stoffwechsels mittels eines Systems Malpighischer Gefäße ausgeschieden. Die auszuscheidenden Substanzen diffundieren oder werden aktiv in die Gefäße transportiert und von diesen in den Enddarm geleitet. Dort erfolgt dann der Entzug von Wasser und Ionen. Die restlichen Exkrete werden dann zusammen mit den Fäkalien ausgeschieden. Bei Säugetieren und anderen Wirbeltieren werden in der Leber erzeugte Abbauprodukte über die Galle (enterohepatisch) und über den Darm rektal ausgeschieden. Gasförmige Substanzen können den Verdauungstrakt rektal wie oral verlassen. Oft wird dieser Exkretionsform keine Bedeutung zugemessen, die Abgabe von Methan durch Wiederkäuer stellt jedoch einen ernstzunehmenden Faktor in der Berechnung der Treibhausgase dar. Flatulenz ist nicht der Atmung zuzurechnen (außer der der Archaeen im Wiederkäuermagen). Kloake Die meisten landlebenden Wirbeltiere besitzen eine einzige Körperöffnung (Kloake) zur Exkretion. Auch wenn hier getrennte Ausführgänge für feste und flüssige Bestandteile münden, können in der Kloake nochmals Wasser und Salze resorbiert werden und somit für die Gesamtexkretion einen geringeren Salz- und Wasserverlust erreichen. Vögel geben ihre pastösen Exkrete über ihre Kloake ab. Spezielle Drüsen Einige Krebstiere exzernieren über Antennendrüsen, einige Spinnentiere über Coxaldrüsen. Knorpelfische, viele Meeresreptilien (wie Meeresschildkröten und Seeschlangen) und Seevögel besitzen Salzdrüsen zur Osmoregulation. Auch Pflanzen besitzen Salzausscheidungsorgane. Sekundärfunktionen Ausscheidungsprodukte werden gelegentlich zusätzlich für weitere Funktionen genutzt. Zusatznutzen Osmoregulation und Säure-Basen-Regulation Exkretionen von Ionen bedeuten meist gleichzeitig auch eine Osmoregulation und oft auch eine Regulation des Säure-Basen-Gleichgewichtes. Dies betrifft die Salzexkretion, die Exkretion einiger Stickstoffträger und die Exkretion anderer geladener Metabolite. Unter den Stickstoffträgern liegen nicht alle in geladener Form vor, aber sowohl bei Wirbellosen wie bei Wirbeltieren dienen verschiedene Stickstoffträger der zellulären Osmoregulation. Ammoniumausscheidung der Wirbeltiere über Nieren und der Ammoniumstoffwechsel sind verknüpft mit der renalen Säure-Basen-Regulation. Auftriebshilfe Die Exkretion von Gasen, darunter auch Stickstoffträger, dient bei einigen wasserlebenden Tieren gleichzeitig dazu, für Auftrieb zu sorgen. Nicht alle Stickstoffträger sind dazu geeignet, sondern bevorzugt Ammonium. Gleichfalls gasförmiges Ammoniak ist wegen seiner toxischen Eigenschaften ungeeignet, einen Auftriebskörper zu füllen. Die Abgabe über Kiemen steht ebenfalls einer Nutzung als Auftriebshilfe entgegen. Hauptsächlich wasserlebende Wirbellose können gasförmiges Ammonium als Auftriebshilfe nutzen. Thermoregulation Die Schweißsekretion hat als Hauptfunktion eine temperatursenkende Thermoregulation bei einigen dazu befähigten Säugetieren und beim Menschen zum Ziel. Zur Optimierung enthält der Schweiß besonders hohe Harnstoffkonzentrationen, die dafür sorgen, zusätzlich Luftfeuchtigkeit an der Haut zu binden und so die Leistung der Verdunstungskühlung deutlich zu verlängern. Kommunikation Exkrete, Fäzes und Exkremente dienen bei Territorien bildenden Tieren oft der Revierabgrenzung und können dann zusätzliche Markierungsstoffe aus Analdrüsen enthalten. Exkrete partnersuchender Tiere enthalten manchmal Lockstoffe, um mögliche Partner auf sich aufmerksam zu machen. Einige weibliche Tiere scheiden mit ihren Exkreten Stoffe aus, die ihren männlichen Artgenossen eine Paarungsbereitschaft anzeigen. Einige männliche Tiere nutzen die Individualität ihrer Geruchsstoffe in ihren Exkreten, um rivalisierende Männchen fernzuhalten. Einige Tiere nutzen die Geruchsstoffzusammensetzung ihrer Exkrete (aber auch Sekrete spezieller Drüsen), um einander individuell oder als Zugehörige einer Gemeinschaft zu identifizieren, besonders in weit verzweigten Bauen lebende. Oft ist es dazu erforderlich, dass sie sich mit ihren Exkreten einmassieren. In den Sekreten des Schweißes sind oft Pheromone enthalten, die die Attraktivität bei der Partnerwahl mitbestimmen, aber auch Faktoren, die eine individuelle Identifizierung von Rudelmitgliedern erlauben. Allerdings teilen nicht alle Säugetiere diese anatomische Möglichkeit mit dem Menschen. Abwehrmittel Manche Tiere sind befähigt, ihre Exkrete oder Exkremente zur Abwehr von Beutegreifern gezielt zu verspritzen, oft handelt es sich dabei allerdings um ein spezielles Sekret aus Stinkdrüsen, welches nicht als Exkret gilt. Nutzen für andere Organismen Nahrungsquelle Ausscheidungsprodukte enthalten meist noch vielfältige Stoffe, in welchen chemische Energie gebunden ist und deren Abbau sich für darauf spezialisierte Organismen lohnt: Kotfresser (wie Heiliger Pillendreher) und viele der in toter organischer Substanz lebenden Organismen (Saprobionten und Saprophagen wie viele Schmeißfliegen bzw. deren Maden). Auch Honigbienen nehmen gelegentlich den von Rindenläusen ausgeschiedenen Honigtau von Fichten auf. Deren Verarbeitungsprodukt wird schließlich auch von Menschen im Waldhonig willig genossen. Der darin vorkommende Dreifachzucker Melezitose bezeugt seinen Ursprung aus dem Baumsaft. Einige Nagetiere (Meerschweinchen), Hasenartige und einige Pferdeverwandte, nehmen öfters ihre Ausscheidungen wieder auf, um sie in einer zweiten Darmpassage besser zu verwerten, analog zu Wiederkäuern, die zu einer intensiven Nutzung ihrer Futterstoffe befähigt sind, ohne ihre Ausscheidungen aufnehmen zu müssen. Der Vorgang des Fressens der eigenen Exkremente heißt Autokoprophagie. Einige Tiere haben sich darauf spezialisiert, symbiotisch zusammenzuleben, wobei die Ausscheidungen der einen Art Nahrung der anderen darstellt. Bekannt dafür sind Blattläuse und Schildläuse, die von Ameisen gepflegt werden, um deren abgeschiedenen Honigtau aufzunehmen. Ausbreitung Viele Endoparasiten nutzen den Exkretionsweg zu einem Wirtswechsel oder zu einer Ausbreitung. Exkrete sind generell mit harmlosen und auch pathogenen Viren, Bakterien, Pilzsporen und Parasiten befrachtet. Dieser Infektionsweg stellt ein ernstes Hygieneproblem dar. Pflanzen nutzen die Verschleppung im Verdauungssystem von Tieren und Exkretion ihrer Samen als Ausbreitungsstrategie. Um dies zu gewährleisten, investieren sie häufig in die Attraktivität von Früchten. Dieser Vorgang heißt allgemein Endochorie, bezogen auf Vögel Ornithochorie. Orientierung Es wurde vermutet, dass Nagetiere die Geruchswahrnehmung von Exkrementen besonders bedrohlicher Raubtiere nutzen können, um solche Gebiete zu meiden. Diese Vermutung wurde in einem Beispiel widerlegt. Umgekehrt präferieren aber manche Beutegreifer aufgrund der Geruchswahrnehmung von Exkrementen ihrer Beutetiere bestimmte Jagdgebiete. Vandelliinae wie Vandellia cirrhosa (aus der Familie Schmerlenwelse im Amazonasbecken) schwimmen in die Kiemenöffnungen größerer Fische, dringen zur Kiemenaorta vor, perforieren sie mit ihren spitzen Zähnen und nehmen das austretende Blut ohne Saugakt auf. Um das Opfer auszumachen, nutzen Vandelliinae die Wahrnehmung dessen Exkretion und nehmen die Verfolgung auf, der Konzentration folgend. Aus Verwechslung dringen sie gelegentlich auch in die menschliche Harnröhre ein (was eine operative Entfernung erfordert), weshalb sie auch als Harnröhrenwelse oder Penisfische bezeichnet werden. Nachahmung Visuell Um sich vor Beutegreifern zu tarnen, ahmen einige Insektenlarven Vogelexkremente nach. Diese Strategie der Nachahmung toter Objekte wird Allomimese genannt. Geruchlich Einige Organismen produzieren Geruchsstoffe, welche die in Ausscheidungen oft vorkommenden imitieren, um Koprophagen und Saprophagen olfaktorisch anzulocken. Dies ist bei einigen Pilzen und wenigen Pflanzen der Fall, die hauptsächlich Fliegen und Mücken (Zweiflügler) anlocken. Das geschieht zu verschiedenen Zwecken: So locken Stinkmorcheln damit, um die Verbreitung ihrer Sporen zu begünstigen, manche Aronstabgewächse locken, um ihre Befruchtung zu erreichen (beides Beispiele von Zoochorie) und manche fleischfressende Pflanzen, um Bestandteile von Zweiflüglern für ihren Stoffwechsel zu nutzen. Begriffsabgrenzungen Gegenüber Exkretion bezeichnet die Sekretion die Abgabe von Biomolekülen und Flüssigkeiten aus dem Körper, die eine biologische Funktion erfüllen (z. B. Schleim, Schweiß, Pheromone) und in einer Drüse gebildet wurden. Erstmals unterschieden zwischen Sekretion und Exkretion hatte 1830 der deutsche Anatom und Physiologe Johannes Müller. Der Begriff der exokrinen Sekretion klingt noch verwirrender, aber eine exokrine Drüse bedeutet eine Drüse, die ihre Sekrete mittels eines Ausführungsgangs in einen Körperhohlraum abgibt, z. B. Magen, Darm oder an die Hautoberfläche über die Brustdrüsen oder die Schweißdrüsen. Drüsen, die ihr Sekret an das Blut abgeben, nennt man endokrine Drüsen. Ebenfalls verwirrend klingt der Begriff der ekkrinen Sekretion, welcher die Abgabe des Produkts aus kleinen Bläschen (Sekretvesikel), die mit der Membran verschmelzen (Exozytose) umfasst. In Zusammenhang mit der Exkretion, aber meist anatomisch abtrennbar, steht die Abgabe von Sekreten der Analdrüsen. Die Begriffsabtrennung zwischen Exkretion und Sekretion fällt allerdings bei vielen Organismen (beispielsweise Insekten, Einzellern, Pflanzen) schwer oder ist unmöglich. Der Übergang zu Sekreten, also Verbindungen, die außerhalb des Organismus noch bestimmte Funktionen erfüllen (z. B. Anlockung von Bestäubern oder antibiotische Verbindungen), ist bei Pflanzen beispielsweise häufig fließend. Siehe auch Einzelnachweise Stoffwechsel Biologischer Prozess
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https://de.wikipedia.org/wiki/Unternehmen
Unternehmen
Ein Unternehmen ist eine wirtschaftlich selbständige Organisationseinheit, die mit Hilfe von Planungs- und Entscheidungsinstrumenten Markt- und Kapitalrisiken eingeht und sich zur Verfolgung des Unternehmenszweckes und der Unternehmensziele eines oder mehrerer Betriebe bedient. Privatrechtlich organisierte Unternehmen werden in ihrer Gesamtheit auch als Privatwirtschaft bezeichnet. Dagegen gehören zum Aggregat des öffentlichen Sektors öffentliche Unternehmen, Körperschaften des Privatrechts und Anstalten des öffentlichen Rechts (Kommunalunternehmen); sie stellen eine Mischform dar und unterliegen – wie auch Vereine – meist dem Kostendeckungsprinzip. In Deutschland gibt es rund drei Millionen umsatzsteuerpflichtige Unternehmen, etwa zwei Drittel davon sind Einzelunternehmen. Begriff allgemein Im alltäglichen Sprachgebrauch sind die Begriffe Unternehmen, Gesellschaft, Firma und Betrieb dem Duden zufolge Synonyme. In den rechts- und wirtschaftsbezogenen Fachsprachen werden die Begriffe jedoch unterschieden; danach kann z. B. ein Betrieb eine systemunabhängige Wirtschaftseinheit zur Fremdbedarfsdeckung sein, während ein Unternehmen einen oder mehrere Betriebe besitzen kann und eine Gesellschaft lediglich eine Rechtsform oder eine Organisationsform ist. Mit Firma wiederum ist fachsprachlich der Name eines Unternehmens gemeint. In den verschiedenen Rechtsgebieten wird der Begriff Unternehmen unterschiedlich verstanden. Im Arbeitsrecht wird ein Unternehmen als organisatorische Einheit verstanden, mit welcher der Unternehmer seine wirtschaftlichen oder ideellen Zwecke verfolgt. Ein Unternehmen kann aus einem oder mehreren Betrieben bestehen. Im ersten Fall bezeichnet Unternehmen dann die wirtschaftliche Komponente, während der Betrieb für den arbeitstechnischen Ablauf steht. Im Umsatzsteuerrecht ist Unternehmer, wer eine gewerbliche oder berufliche Tätigkeit selbständig ausübt. Die umsatzsteuerliche Unternehmensdefinition ist daher wesentlich weiter gefasst als im Arbeitsrecht. Spezielle Unternehmensbegriffe Betriebswirtschaftslehre Das Unternehmen ist das Erkenntnisobjekt der Betriebswirtschaftslehre, die jedoch keine einheitliche Definition bereithält. Fritz Schmidt stellte 1924 den wirtschaftenden Betrieb in den Blickpunkt ihrer Beobachtung. „Die Betriebe, ob Haushalte oder Unternehmungen, sind die Wirkungszentren und Formungselemente der Wirtschaft.“ Martin Lohmann sieht den Betrieb als produktiven Teil eines Unternehmens, er ordnet ihn dem Unternehmen unter. Ein großer Teil weiterer Wissenschaftler ordnete jedoch den Unternehmensbegriff dem Betriebsbegriff unter, so etwa mit Einschränkungen Erich Gutenberg, der im Betrieb die Kombination von Produktionsfaktoren sah. Diese Unterordnung wird uneingeschränkt übernommen von Heinrich Nicklisch, Eugen Schmalenbach oder Konrad Mellerowicz. Zwischen Gutenberg und Mellerowicz entbrannte ein Methodenstreit, als Gutenberg ab April 1955 Betrieb und Unternehmung gleichsetzte. Im Kern ging es um die Frage, ob der Betrieb oder die Unternehmung Forschungs- und Erkenntnisobjekt sei. Für Gutenberg besitzt ein Unternehmen drei konstitutive Merkmale: das Prinzip des Privateigentums, die Selbstbestimmung des Wirtschaftsplans (Autonomieprinzip) und das Streben nach Gewinn (erwerbswirtschaftliches Prinzip). Gutenberg und Erich Kosiol sehen den Unternehmensbegriff als mit der Marktwirtschaft begriffsnotwendig verbunden an. Gemeinhin wird als „Unternehmen“ eine aus Sachen (Maschinen, Warenlager), Rechten (Forderungen, Patente) und sonstigen Beziehungen (z. B. Goodwill, Organisation und Verbindlichkeiten) bestehende Organisationseinheit bezeichnet, deren Träger eine natürliche oder juristische Person bzw. eine Personenvereinigung ist. Damit wird einem Betrieb die technisch-leistungsorientierte Sphäre, einem Unternehmen die finanziell-rechtliche Sphäre zugeordnet. Im weiteren Sinne können Betriebe auch dann als Unternehmen gelten, wenn sie nicht nach Gewinn streben. Derartige Unternehmen werden als Non-Profit-Unternehmen bezeichnet. Man unterscheidet wirtschaftliche Non-Profit-Unternehmen, soziokulturelle Non-Profit-Unternehmen, politische Non-Profit-Unternehmen und karitative Non-Profit-Unternehmen. Da die Abkehr vom erwerbswirtschaftlichen Prinzip nicht mit den meisten traditionellen Unternehmensbegriffen vereinbar ist, spricht man in diesem Kontext häufig von Organisationen statt Unternehmen („Non-Profit-Organisationen“). Unternehmensbegriff im Recht Im Rechtswesen gibt es keinen einheitlichen Unternehmensbegriff, denn entscheidend ist der jeweilige Normzweck eines Gesetzes. Es hängt mithin vom jeweiligen Regelungsziel eines Gesetzes ab, welcher Inhalt dem Unternehmensbegriff zukommt. Der Unternehmensbegriff spielt insbesondere im Aktien- und GmbH-Recht eine große Rolle etwa im Konzernrecht der „verbundenen Unternehmen“. Allerdings bieten die Gesetze keine Legaldefinition an, sondern setzen den Unternehmensbegriff als bekannt voraus. Dem Gesetzgeber erschien eine Definition in den § AktG ff. AktG zu kompliziert und war zudem mit großen praktischen Schwierigkeiten verbunden. Die Rechtsprechung sieht aber den Unternehmensbegriff nicht als auf juristische Personen institutionalisiert an, sondern dehnt ihn auf natürliche Personen aus, wenn diese eine beherrschende Stellung in einer abhängigen Gesellschaft wahrnehmen und die Besorgnis vorliegt, der „Aktionär könnte um ihretwillen seinen Einfluss zum Nachteil der Gesellschaft geltend machen.“ Man unterscheidet in der Rechtswissenschaft den funktionellen, institutionellen und teleologischen Unternehmensbegriff. funktioneller Unternehmensbegriff: ein Unternehmen liegt dann vor, wenn eine juristische oder natürliche Person sich unternehmerisch planend und entscheidend betätigt; beim institutionellen Unternehmensbegriff werden hingegen eine gewerbliche Betätigung im Wirtschaftsleben und ein Mindestmaß an institutioneller Einrichtung verlangt. Bei der teleologischen Auslegung ist das entscheidende Kriterium die Gefährdung, die sich für den Minderheitsgesellschafter und die Gläubiger ergeben kann, die so genannte konzerntypische Gefährdungslage. Auch bei anderen Rechtsformen wie etwa der GmbH kann eine Einzelperson Unternehmenseigenschaften übernehmen, wenn sie maßgeblichen Einfluss in einem anderen Unternehmen hat. Außerdem wird zwischen dem wirtschaftsrechtlichen und handelsrechtlichen Unternehmensbegriff unterschieden. Während dem wirtschaftsrechtlichen ein institutioneller Gehalt zukommt, ist der zivil- und handelsrechtliche Unternehmensbegriff als Gebilde mit gegenständlicher Qualität gekennzeichnet. Der konzernrechtliche und der in § 1 GWB enthaltene gehen von einem subjektiven Unternehmensbegriff aus, der Rechtssubjekte mit unternehmerischer Betätigung erfasst. Im Juni 2000 wurden die Begriffe Verbraucher und Unternehmer ins BGB eingefügt. Seither versteht Abs. 1 BGB unter dem Unternehmer eine natürliche oder juristische Person oder eine rechtsfähige Personengesellschaft, die bei Abschluss eines Rechtsgeschäfts in Ausübung ihrer gewerblichen oder selbständigen beruflichen Tätigkeit handelt. Aus Sicht des BGB kommt es mithin darauf an, dass die gewerbliche oder selbständige Tätigkeit bei Rechtsgeschäften im Vordergrund steht. Bei seiner Definition hat sich hierbei der Gesetzgeber vom Unternehmerbegriff des § 2 Abs. 1 Umsatzsteuergesetz leiten lassen, wonach Unternehmer ist, wer eine gewerbliche oder berufliche Tätigkeit selbständig ausübt. Nach dieser Bestimmung umfasst das Unternehmen die gesamte gewerbliche oder berufliche Tätigkeit des Unternehmers. Gewerblich oder beruflich ist umsatzsteuerrechtlich jede nachhaltige Tätigkeit zur Erzielung von Einnahmen, auch wenn die Absicht, Gewinn zu erzielen, fehlt. Dadurch werden auch öffentlich-rechtliche Unternehmen wie Anstalten des öffentlichen Rechts erfasst, die keine Gewinnerzielungsabsicht verfolgen. Damit steht die rechtliche Einordnung der Non-Profit-Unternehmen im Einklang mit der betriebswirtschaftlichen Sichtweise. Für die Zwecke des Unternehmenskaufs wird das Unternehmen definiert als Gesamtheit von materiellen und immateriellen Rechtsgütern, in der Menschen mit dem Ziel zusammenwirken, planmäßig und dauerhaft wirtschaftliche Aktivitäten zu entfalten. Typisierung Unternehmen lassen sich international nach folgenden Kriterien unterscheiden: Nach Rechtsformen Die Rechtsform eines Unternehmens umfasst alle gesetzlichen Regelungen, durch die es zur rechtlich fassbaren Einheit wird. Rechtsformen lassen sich anhand einiger zentraler Merkmale unterscheiden. Dazu zählt unter anderem das gesetzlich vorgeschriebene Haftungskapital bei Unternehmensgründung, die Haftungsregelung oder auch die steuerliche Behandlung. Die Rechtsform bestimmt auch, ob ein Unternehmen eine eigene Rechtspersönlichkeit besitzt oder ob ihre Teilhaber als natürliche Personen handeln. Wechselt ein Unternehmen die Rechtsform, spricht man von einer Umwandlung. Dabei sind beispielsweise Auflagen der Kreditgeber, Änderungen der Zahl der Gesellschafter, Änderungen der Steuergesetze oder Änderungen der Unternehmensgröße (durch Wachstum oder Schrumpfung) bedeutende Einflussfaktoren. Man unterscheidet grundsätzlich privatrechtliche und öffentlich-rechtliche Rechtsformen, die alle gesetzlich festgelegt sind (einige privatrechtliche Mischformen ausgenommen). Privatrechtliche Rechtsformen Einzelunternehmen Genossenschaften Kapitalgesellschaften (Aktiengesellschaft, Gesellschaft mit beschränkter Haftung, Unternehmergesellschaft (haftungsbeschränkt)) Personengesellschaften (Gesellschaft des bürgerlichen Rechts, Offene Handelsgesellschaft, Kommanditgesellschaft, Stille Gesellschaft) Mischformen (Kommanditgesellschaft auf Aktien, AG & Co. KG, GmbH & Co. KG) Körperschaften des Privatrechts (Vereine) Versicherungsvereine auf Gegenseitigkeit Öffentlich-rechtliche Rechtsformen Unternehmen ohne Rechtspersönlichkeit (Regiebetrieb, Eigenbetrieb, Sondervermögen) Unternehmen mit eigener Rechtspersönlichkeit (Körperschaft des öffentlichen Rechts, Anstalt, Stiftung) Nach Unternehmensphasen Man unterscheidet die Phasen eines Unternehmens nach Gründungsphase (Pionierphase), Umsatzphase (Markterschließung, Diversifikation, Akquisition, Kooperation und Restrukturierung) sowie Auflösungsphase. Günter Wöhe und Ulrich Döring sprechen im Rahmen der genetischen Gliederung der Betriebswirtschaftslehre von der Gründungs-, Betriebs- und Liquidationsphase. Außerdem kann zwischen der Gründungs-, Entwicklungs- und Krisenphase unterschieden werden. Sofern ein Unternehmen seine Zahlungsverpflichtungen gegenüber Gläubigern nicht mehr erfüllen kann, kommt es meist zur Insolvenz. Unternehmen können auch in die Auflösungsphase übergehen, ohne die Umsatzphase jemals erreicht zu haben. Ein Unternehmen hat grundsätzlich keinen definierten Endzeitpunkt. Es ist kein einmaliges, sondern ein ständiges Vorhaben mit zunächst unbegrenzten Ressourcen. Dadurch unterscheidet es sich von einem Projekt, das jedoch Bestandteil eines Unternehmens sein kann. Ein Großunternehmen erreicht im Durchschnitt ein Alter von 75 Jahren. Dennoch gibt es zahlreiche Unternehmen, die mehrere hundert Jahre alt sind. Einige der weltweit ältesten Familienunternehmen schlossen sich in der Association les Hénokiens zusammen. Das älteste deutsche Unternehmen ist die Glasmanufaktur von Poschinger, gegründet im Jahr 1568. Der im Jahr 578 gegründete japanische Tempel- und Burgbauer Kongō Gumi galt bis zu seiner Liquidation im Januar 2006 als ältestes noch bestehendes Familienunternehmen der Welt. Nach einer Untersuchung der Bank of Korea von 2008 gab es 5586 Unternehmen in 41 Ländern die älter als 200 Jahre waren, davon 3146 in Japan, 837 in Deutschland, 222 in den Niederlanden und 196 in Frankreich. Nach Wirtschaftszweig In einer groben Gliederung nach dem Wirtschaftszweig (auch Branchengliederung) ist zwischen Sachleistungsunternehmen und Dienstleistungsunternehmen zu differenzieren. Sachleistungsunternehmen sind insbesondere Industrie- und Handwerksunternehmen. Bei solchen Unternehmen wird nach der Erzeugungsstufe weiter unterschieden: Gewinnungsunternehmen sind Unternehmen, die sogenannte Urprodukte hervorbringen. Dazu zählen mineralische, pflanzliche oder tierische Naturvorkommen sowie die Naturkräfte. Urprodukte stellen den Ausgangspunkt des Wirtschaftsprozesses dar. In derartigen Bereichen tätige Unternehmen werden unter dem Sammelbegriff Primärsektor zusammengefasst. Veredelungs- oder Aufbereitungsunternehmen (sekundärer Sektor) produzieren aus den gewonnenen Urprodukten schließlich Zwischenprodukte, die wiederum von Verarbeitungsunternehmen (ebenfalls sekundärer Sektor) in Endprodukte transformiert werden. Dienstleistungsunternehmen zählen zum Tertiärsektor und produzieren keine physischen Güter, sondern erbringen immaterielle Dienste. Eine solche Dienstleistung ist nicht lagerbar, kaum übertragbar und benötigt einen externen Faktor (Integration des externen Faktors „Kunde“). Ihre Erzeugung und der Verbrauch fallen meist zeitlich zusammen. Man spricht vom Uno-actu-Prinzip. Überblick der Unternehmen in Deutschland nach Zuordnung zum Wirtschaftszweig im Jahr 2012: Nach Unternehmensgrößen Es gibt keinen weltweit anerkannten einheitlichen Bewertungsmaßstab für die Größe eines Unternehmens. Das deutsche Handelsgesetzbuch (HGB) unterscheidet in HGB nach kleinen Kapitalgesellschaften, mittelgroßen Kapitalgesellschaften und großen Kapitalgesellschaften. Dabei sind Bilanzsumme, Umsatzerlöse und Beschäftigtenzahl die entscheidenden Maßstäbe. Nach Umsatz war im Geschäftsjahr 2011 der Ölkonzern Royal Dutch Shell das weltweit größte Unternehmen, nach Marktkapitalisierung am 30. Juni 2012 der Hardware- und Softwarehersteller Apple. Listen der größten Unternehmen werden unter anderem von den US-amerikanischen Wirtschaftsmagazinen Forbes und Fortune sowie der britischen Wirtschaftszeitung Financial Times aufgestellt. Dazu gehören vor allem Fortune Global 500, eine Rangliste der 500 umsatzstärksten Unternehmen der Welt, und Financial Times Global 500, eine Rangliste der 500 nach Marktkapitalisierung größten Unternehmen der Welt. Einen alternativen integrativen Ansatz, welcher die vier verschiedenen Indikatoren Umsatz, Gewinn, Aktiva und Marktkapitalisierung gleichzeitig berücksichtigt, bietet Forbes mit der Liste Forbes Global 2000, die aber ausschließlich börsennotierte Unternehmen berücksichtigt. Hier war im Geschäftsjahr 2011 der Ölkonzern ExxonMobil das größte Unternehmen der Welt. Liste der größten Unternehmen der Welt Liste der größten Unternehmen in Afrika Liste der größten Unternehmen in Asien Liste der größten Unternehmen in Australien Liste der größten Unternehmen in Europa Liste der größten Unternehmen in Lateinamerika Liste der größten Unternehmen in den Vereinigten Staaten In Deutschland erstellt die Monopolkommission eine Rangliste der größten Unternehmen in Deutschland in ihren alle zwei Jahre erscheinenden Hauptgutachten. Die gemessen an der Wertschöpfung zehn größten Unternehmen in Deutschland waren demnach 2006: Deutsche Telekom, Siemens, DaimlerChrysler, Volkswagen, Deutsche Bahn, Deutsche Post, Deutsche Bank, Robert Bosch GmbH, Bayerische Motoren Werke und BASF. Liste der größten Unternehmen in Deutschland Liste der Banken in Deutschland Liste der größten Versicherungen in Deutschland nach Beitragseinnahmen im Jahr 2009 Nach räumlicher Struktur Lokale Unternehmen sind Unternehmen, die nur einen Betrieb an einem Ort führen. Man spricht von regionalen Unternehmen, wenn innerhalb einer geografischen Region mehrere Betriebsstätten geführt werden. Ein sogenanntes nationales Unternehmen betreibt Stützpunkte innerhalb eines Landes. Handelt es sich um Unternehmen, die auch auf internationalen Märkten aktiv sind (Internationalisierung), spricht man nach Sumantra Ghoshal und Christopher Bartlett von internationalen Unternehmen, globalen Unternehmen und multinationalen Unternehmen. Multinationale Unternehmen zeichnen sich durch Produktionsstandorte in mehreren Staaten aus. Nationale Gesellschaften erledigen dabei das operative Geschäft und Teile der strategischen Aufgaben. Globale Unternehmen sind zentralisierte Unternehmen, bei denen die einzelnen nationalen Gesellschaften primär Distributionsaufgaben übernehmen. Strategische Entscheidungen und der größte Teil der operativen Entscheidungen werden jedoch im Mutterland beschlossen. Internationale Unternehmen organisieren bestimmte strategische Abteilungen zentral, andere werden dezentral organisiert. Hierbei handelt es sich um eine Mischform von multinationalen und globalen Unternehmen. Existenzbedingungen und Unternehmensziele Die Existenzbedingungen des Unternehmens sind Liquidität (Existenzbedingung „sine qua non“), Rentabilität und Wachstum. Liquidität muss jederzeit – auch kurzfristig – gesichert sein, um Zahlungsverpflichtungen nachkommen zu können. Rentabilität muss mittel- bis langfristig gesichert sein, da sonst die Liquiditätsbedingung nicht erfüllt werden kann. Wachstum wird an Größen wie Gewinn, Erlös oder Beschäftigtenzahl gemessen. Um Liquidität und Rentabilität zu sichern, muss ein Unternehmen mindestens mit dem Markt mitwachsen. Unternehmensziele lassen sich in drei Dimensionen darstellen. Dabei wird zwischen der ökonomischen, der sozialen und der ökologischen Dimension unterschieden. Eine vorrangige Stellung der ökonomischen Dimension ergibt sich aus den konstitutiven Merkmalen eines jeden Unternehmens. Innerhalb der ökonomischen Dimension unterscheidet man wiederum Leistungsziele, Finanzziele und Erfolgsziele. Internationalisierung Internationalisierung heißt die geografische Dezentralisierung der Unternehmenstätigkeit auf internationalen Märkten. Sie gewinnt durch eine zunehmende Globalisierung der gesamten Unternehmenstätigkeit immer mehr an Bedeutung. Motive für Internationalisierung sind die Sicherung des Absatzes durch größere Marktnähe, die Senkung der Lohn- und Lohnnebenkosten, Umgehen von Importrestriktionen, Realisierung von Transportkostenvorteilen, Investitionsfördermaßnahmen durch die ausländischen Staaten sowie Unabhängigkeit von der Entwicklung der Devisenkurse. In welcher konkreten Form Internationalisierung erfolgt, ist abhängig von der Situation des jeweiligen Unternehmens und seiner Strategie. Die Stufen der Internationalisierung in Abhängigkeit von Kapital- und Managementleistungen sind Export, Lizenzvergabe, Franchising, Joint Venture, Auslandsniederlassung und Tochterunternehmen. Bei der Internationalisierung von Dienstleistungsunternehmen gelten dagegen andere Schwerpunkte. Unternehmensverbindungen Unternehmen sind häufig Teil größerer Wirtschaftseinheiten. Dabei werden „Kooperation“ und „Konzentration“ unterschieden. Kooperation Kooperation ist die freiwillige Zusammenarbeit mehrerer rechtlich selbständiger Unternehmen. Dabei werden die drei Typen Kartell, Konsortium und Unternehmensverband unterschieden. Kartelle sind Kooperationen auf vertraglicher Basis, die sich wettbewerbsbeschränkend auswirken sollen. Die Mitglieder eines Kartells streben meist nach Monopolstellung, ohne dabei ihre Selbständigkeit aufzugeben. In Deutschland sind Kartelle im Rahmen des Wettbewerbsrechts verboten. Konsortien sind ähnliche Kooperationen auf vertraglicher Basis, allerdings ohne wettbewerbsrechtliche Relevanz. Häufig werden sie zur Durchführung von Großprojekten gegründet und anschließend wieder aufgegeben. Unternehmensverbände werden zur gemeinsamen Interessenvertretung gegenüber der Öffentlichkeit oder dem Staat gebildet. Bei Unternehmensverbänden ist wiederum nach Wirtschaftsfachverbänden, Kammern und Arbeitgeberverbänden zu differenzieren. Darüber hinaus zählt auch die gemeinsame Gründung eines neuen Unternehmens durch mehrere bestehende Unternehmen zu den Kooperationen. Ein derartiges Gemeinschaftsunternehmen basiert jedoch im Gegensatz zu den drei klassischen Typen der Kooperation nicht allein auf vertraglicher Basis. Stattdessen ist die Kooperation dabei durch Kapitalbeteiligungen der Gesellschaftsunternehmen gekennzeichnet. Konzentration Konzentration ist die freiwillige oder auch unfreiwillige Angliederung eines bereits bestehenden Unternehmens an ein anderes Unternehmen. Dabei wird die wirtschaftliche Selbständigkeit des Unternehmens zugunsten der übergeordneten Einheit eingeschränkt. In seltenen Fällen geht sie sogar komplett verloren. Dabei wird zwischen Fusionen und verbundenen, rechtlich selbständigen Unternehmen unterschieden. Eine Fusion ist die Verschmelzung mehrerer Unternehmen zu einer wirtschaftlichen Einheit. Sie wird entweder durch Übertragung des Unternehmensvermögens mit vorheriger Liquidation oder durch Übertragung des Unternehmensvermögens im Rahmen der Gesamtrechtsnachfolge (gilt nur für Kapitalgesellschaften) vollzogen. Demgegenüber sind verbundene Unternehmen durch kapitalmäßige Verflechtung oder vertragliche Vereinbarung miteinander verbunden. Dabei kann es sich um eine Minderheitsbeteiligung (bei Beteiligungsquoten bis zu 25 Prozent), eine Sperrminorität (bei Beteiligungsquoten bis zu 50 Prozent), eine Mehrheitsbeteiligung (bei Beteiligungsquoten bis zu 75 Prozent), eine Dreiviertelmehrheitsbeteiligung (bei Beteiligungsquoten bis zu 95 Prozent) oder eine Eingliederungsbeteiligung (bei Beteiligungsquoten im Bereich zwischen 95 und 100 Prozent) handeln. Unternehmensübertragung und -überlassung Übertragungen von Unternehmen führen dazu, dass die Inhaberschaft am Unternehmen wechselt. Zu Übertragungen kann es insbesondere bei Unternehmenskauf und Erbfall kommen. Daneben kommen etwa Übertragungen aufgrund von Schenkung bei sog. vorweggenommener Erbfolge in Betracht. Bei Überlassungen von Unternehmen wechselt (nur) die Person des Betreibers des Unternehmens, der Inhaber des Unternehmens bleibt in der Regel derselbe; Anwendungsfälle sind insbesondere die Unternehmenspacht und der Unternehmensnießbrauch. Zusammenarbeit von Unternehmen Als vorübergehende Formen der Zusammenarbeit von Unternehmen existieren etwa das Konsortium, die Arbeitsgemeinschaft oder die strategische Partnerschaft. Ökonomische Interpretation Die Frage, warum sich Individuen und Gruppen von Individuen zu Unternehmen zusammenschließen und dadurch Transaktionen außerhalb des Marktes durchführen, ist eine der Grundfragen der Industrieökonomik. Neben Effizienzgründen (technologische Gründe, Unternehmen als langfristige Beziehung, Unternehmen als Institution zum optimalen Umgang mit unvollständigen Verträgen) kann die Existenz von Unternehmen auch mit Rentenabschöpfung erklärt werden. Siehe auch Weblinks Statistisches Bundesamt: Daten zum Thema „Unternehmen, Handwerk“ auf destatis.de Beiträge zum Thema „Unternehmen, Gewerbeanzeigen, Insolvenzen“ auf destatis.de, aus der Monatszeitschrift Wirtschaft und Statistik des Statistischen Bundesamtes. Ralf Ahrens: Unternehmensgeschichte, Version: 2.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 23. September 2019 Einzelnachweise Betriebswirtschaftslehre Handelsrecht (Deutschland)
Q6881511
872.825714
68610
https://de.wikipedia.org/wiki/Rajon
Rajon
Rajon (Mehrzahl Rajons oder Rajone; , sonst ; , , , ) ist die Bezeichnung für eine Verwaltungseinheit in vielen Nachfolgestaaten der Sowjetunion wie Aserbaidschan, Georgien (bis 2006), Lettland (bis 2009), Litauen, Moldau, Kirgisistan, Russland, der Ukraine und Belarus sowie in anderen Ländern wie Bulgarien. Rajons entsprechen in etwa den deutschen Landkreisen bzw. den österreichischen Bezirken, in Städten den Stadtbezirken. Wortherkunft Der Begriff Rayon kommt aus dem Französischen und bezeichnet dort in der Geometrie den Radius eines Kreises. Der Ausdruck in der Geometrie wiederum wurde vom Begriff des Sonnenstrahls entlehnt. Speziell für den russischen Regierungskreis wird auf Französisch auch die Schreibweise raïon verwendet. Heutige Verwendungen Aserbaidschan Aserbaidschan gliedert sich neben einer Autonomen Republik und elf Städten in 59 Rayons (; Plural: ). Bulgarien Verwaltung In Bulgarien entspricht auf Verwaltungsebene ein Rajon (/; Plural: /) einem Stadtbezirk. So besteht beispielsweise die Stadt Sofia aus 24 Stadtbezirken. In der NUTS-Gliederung (NUTS:BG) bilden die sechs Rajoni sa planirane (‚Planungsregionen‘) die Ebene 2. Kultur In der bulgarischen Folklore werden die kulturell unterschiedlichen Regionen auch als Rajon bezeichnet: Nordbulgarien (von Widin bis Russe nördlich des Balkans) Dobrudscha: nordöstlich der Linie Warna-Russe Schop: Westbulgarien (westlich der Sredna Gora) und um Sofia Pirin: die Südwestecke Bulgariens (bulgarisches Mazedonien) Rhodopen: das Gebirge im Süden des Landes Thrakien: südlich des Balkans und östlich der Sredna Gora Strandscha: das dünn besiedelte Gebirge südlich von Burgas Kirgisistan Kirgisistan ist in sieben Oblaste und zwei Städte unterteilt, die wiederum (außer die Stadt Osch) in Rajone unterteilt sind. Moldau Seit 2003 ist die Republik Moldau in 32 Rajons () gegliedert. Sie lösten die deutlich größeren neun Kreise (, Plural: ) ab. Diese Rajons bilden mit den zwei autonomen Gebieten und den als Munizipien bezeichneten kreisfreien Städten die oberste Verwaltungsgliederungsebene der Republik Moldau. Alle vier Jahre wird der Präsident () des Kreistags () im Zuge der landesweit einheitlichen Kommunalwahlen gewählt. Russland In Russland sind die Rajons verwaltungshierarchisch unterhalb der „Subjektebene“, also der obersten, föderalen Verwaltungsebene aus Gebieten (Oblast), Regionen (Krai), Autonomen Kreisen und autonomen Republiken angesiedelt. Die Rajons stehen auf derselben Ebene wie Stadtkreise (gorodskoi okrug). In zwei Republiken Russlands werden die Rajons auch im Russischen offiziell mit den aus den jeweiligen Nationalsprachen übernommenen, leicht abgewandelten Begriffen bezeichnet, haben dabei aber den gleichen Status wie „normale“ Rajons: in der Republik Sacha (Jakutien): Ulus (russisch , Plural , , Plural ) in der Republik Tuwa: Koschuun (russisch und , Plural russisch , Plural tuwinisch ) Auch viele Großstädte werden in Rajons untergliedert, entsprechend Stadtbezirken, die oft jeweils mehrere historische Stadtteile oder -viertel umfassen. Teilweise werden diese städtischen Rajons übergreifend als „administrative“ oder „Verwaltungsrajons“ (administratiwny rajon in Tschita) oder „innerstädtische Rajons“ (wnutrigorodskoi rajon; in Kemerowo, Nischni Nowgorod, Nowokusnezk, Prokopjewsk, Tambow, Wladikawkas) bezeichnet. In Moskau bilden 125 Rajons die zweithöchste Verwaltungshierarchieebene in zehn der zwölf Verwaltungsbezirke (administratiwny okrug). In Sankt Petersburg stellen 18 Rajons dagegen wie in anderen Großstädten die oberste Verwaltungsebene dar, sind dort aber abweichend ihrerseits in 111 Verwaltungseinheiten einer weiteren Hierarchieebene unterteilt. Einige Großstädte sind nicht in Rajons, sondern in Okrugs (was ebenfalls „Kreis“ oder „Bezirk“ bedeutet) oder Varianten davon gegliedert, beispielsweise Archangelsk („Territorialbezirke“, territorialny okrug), Krasnodar (einfach okrug) oder Omsk („Verwaltungsbezirk“, administratiwny okrug, wie Moskau in der obersten Verwaltungsebene). Ukraine 2020 gab es 136 Rajone, die sich auf 24 Oblaste und die Autonome Republik Krim verteilten. Historische Verwendung In der Sowjetunion wurden Rajons schrittweise ab den 1920er Jahren eingeführt, wobei sie die früheren Ujesde (und Okrugs) des Russischen Reiches ablösten. Aus diesen Rajons sind größtenteils die heutigen, gleichnamigen Verwaltungseinheiten mehrerer oben genannter Nachfolgestaaten der Sowjetunion hervorgegangen. In Georgien blieben die territorialen Grenzen vieler früherer Rajons erhalten, diese werden aber nicht mehr als Rajons bezeichnet, sondern bilden Munizipalitäten. Siehe auch Föderale Gliederung Russlands Verwaltungsgliederung Aserbaidschans Verwaltungsgliederung der Ukraine Liste der Rajone der Ukraine Literatur B. Topornin: Juriditscheskaja enziklopedija. Jurist, 2001, ISBN 5-7975-0429-4, S. 929. Einzelnachweise Verwaltungsgliederung Russlands Verwaltungsgliederung Lettlands Verwaltungseinheit Verwaltungsgliederung Bulgariens Verwaltungsgliederung der Ukraine
Q7688
732.312121
20303
https://de.wikipedia.org/wiki/Romani
Romani
Das Romani, auch Romanes genannt, ist eine zur indoarischen Unterfamilie der indogermanischen Sprachfamilie gehörende, in unterschiedlichen Dialekten vorkommende Sprache, die mit Sanskrit und anderen indischen Sprachen verwandt ist. Es wird von den Sinti und Roma gesprochen. Die internationale Norm ISO 639 klassifiziert das Romani als sieben Einzelsprachen, die in einigen Verwendungszusammenhängen zu einer Makrosprache zusammengefasst werden können. Da die Fremdbezeichnung „Zigeuner“ besonders im öffentlichen Sprachgebrauch als diskriminierend gilt, gilt dies auch für die früher oft gebräuchliche Bezeichnung des Romani als „Zigeunersprache“. In mehreren europäischen Staaten sind Romani-Dialekte offiziell anerkannte Minderheitensprachen, darunter in Deutschland und Österreich (hier das Romanes der Burgenlandroma, das als UNESCO-Kulturerbe ausgewiesen ist). 2015 erklärte die UNESCO den 5. November zum jährlichen Welttag der Romani-Sprache. Das Wort Romani Die Bezeichnung Romani ist von romani čhib (wörtlich: „Roma-Sprache“) abgeleitet. Daneben ist die Bezeichnung Romanes gebräuchlich, die vom Adverb abgeleitet ist: Cane tu romanes? – „Sprichst du Romani?“ – (Zanes romanes? – „Verstehst du Romanes?“). Im Deutschen sagt man: „auf Romani“ (oder „auf Romanes“) für „in einer der Sprachen der Roma“. Ein eigenes Adjektiv, um die Zugehörigkeit zu diesen Sprachen oder den Roma selbst auszudrücken, ist im Deutschen „zigeunersprachlich“ oder „zigeunerisch“. Das in diesem Sinne manchmal gebrauchte Adjektiv „romanesisch“ ist eine Verlegenheitsbildung, während das in der älteren Sprachwissenschaft etablierte Adjektiv „zigeunersprachlich“ (ebenso wie „zigeunerisch“) heute als stigmatisierend und unpräzise angesehen wird, aber in fachsprachlichen historischen Zusammenhängen in Ermangelung einer etablierten Alternativbezeichnung zuweilen noch als tolerabel gilt. Dem Wortstamm nach besteht kein Zusammenhang zwischen Romani einerseits und Romanisch oder Rumänisch andererseits. Romanisch und Rumänisch kommen beide von dem vulgärlateinischen Wort romanicus, das im Frühen Mittelalter als Bezeichnung derjenigen Sprachen entstand, die sich aus dem gesprochenen Latein der Römer entwickelten und zu denen neben dem Französischen, Italienischen und anderen romanischen Sprachen auch das Rumänische gehört. Demgegenüber ist Romani abgeleitet aus der Selbstbezeichnung Řom („Mann“ oder „Ehemann“ für einen Angehörigen der Roma), die indischen Ursprungs ist, entstanden möglicherweise aus Ḍom (auch Ḍum oder Ḍōmba), dem Namen einer Kaste von Wanderarbeitern, die sich typischerweise als Musiker, Gaukler, Korbmacher, Metallhandwerker oder in ähnlichen innerhalb des indischen Kastensystems als niedrig eingestuften Gewerben betätigten. Ursprünge, Sprachen und Dialekte Romani ist eine in verschiedene Varietäten gegliederte Sprache, die zum indoiranischen Zweig der indoeuropäischen Sprachfamilie zählt, und direkter Nachfolger eines Dialekts, der eng verwandt, wenn auch nicht unbedingt identisch mit der volkssprachlichen Grundlage des Sanskrit gewesen sein dürfte. Es weist Gemeinsamkeiten sowohl mit zentralindischen wie auch mit nordwestindischen Sprachen auf. Der sprachliche Befund legt nahe, dass Romani zunächst an einer frühen Entwicklung der zentralindischen Sprachen teilhatte und sich dann über einen längeren Zeitraum der Entwicklung der nordwestindischen Sprachen wie Sindhi anschloss. Man nimmt deshalb an, dass die Sprecher des damaligen Romani aus Zentralindien kamen und ihre Siedlungsgebiete seit dem 3. Jahrhundert v. Chr. nach Nordwestindien verlegten. Über den Zeitpunkt der weiteren Migration nach Westen besteht keine Einigkeit, man kann ihn jedoch zwischen dem 5. und 10. Jahrhundert ansetzen und muss innerhalb dieser Zeit wahrscheinlich auch von mehreren Migrationsbewegungen ausgehen. Die Romani-Dialekte haben sich somit seit mehr als 800 Jahren unabhängig von anderen indischen Sprachen entwickelt, davon seit mindestens 700 Jahren in Europa. Romani unterlag nach der Ankunft seiner Sprecher in Europa in Wortschatz und Syntax besonders dem Einfluss der Balkansprachen, insbesondere des Mittelgriechischen der byzantinischen Periode. Ältere Klassifizierungen nahmen an, dass Romani sich noch vor der Ankunft in Europa in drei Hauptvarietäten geteilt habe: in das im 13. Jahrhundert nach Europa gekommene Romani, das Domari im Nahen Osten und Nordafrika sowie das Lomavren in Armenien. Heute nimmt die Forschung demgegenüber an, dass Romani und Lomavren lediglich entfernt miteinander verwandt seien und dass Domari eine selbstständige Sprache sei, die schon im 7. Jahrhundert aus Indien nach Westasien gelangte. Eine übliche Kategorisierung, die lange Bestand hatte, war die Einteilung in Vlax (vom Wort Walachen abgeleitet) und Non-Vlax-Dialekte. Vlax waren demnach diejenigen Roma, die viele Jahrhunderte auf dem Territorium Rumäniens (Walachei) in Sklaverei lebten. Das Hauptunterscheidungsmerkmal zwischen beiden Gruppen war der Grad der Beeinflussung des Wortschatzes durch das Rumänische. Vlax sprechende Gruppen bildeten die größere Sprecherzahl. Bernard Gilliath-Smith nahm diese Unterscheidung als Erster vor und prägte den Begriff Vlach 1915/16 in seinem Bericht Report on the Gypsy Tribes of North-East Bulgaria (deutsch: „Bericht über die Zigeunerstämme in Nordost-Bulgarien“). In den vergangenen Jahrzehnten haben einige Wissenschaftler auf der Basis der historischen Entwicklung und von Isoglossen eine neue linguistische Kategorisierung der Romani-Dialekte vorgenommen. Ein Großteil dieser Arbeit wurde vom Linguisten Norbert Boretzky an der Ruhr-Universität Bochum durchgeführt, der Pionierarbeit in der systematischen Darstellung von strukturellen Merkmalen von Romani-Dialekten auf geografischen Karten geleistet hat. Diese Arbeit mündete in einen Atlas der Romani-Dialekte, der 2005 erschienen ist und zahlreiche Isoglossen kartiert; Co-Autorin ist Birgit Igla. An der University of Manchester wurden vergleichbare Arbeiten durch den Linguisten und früheren Aktivisten für Romani-Rechte Yaron Matras und seine Kollegen durchgeführt. Gemeinsam mit Viktor Elšík (jetzt Karls-Universität Prag) baute Matras die Romani-Morphosyntax-Datenbank auf, die derzeit größte Zusammenstellung von Daten über Dialekte des Romani. Auf Teile dieser Datenbank kann online über die Webseite des Manchester Romani Project zugegriffen werden. Matras (2002, 2005) sprach sich für eine geografische Klassifikation der Romani-Dialekte aus, die auf der räumlichen Verteilung von Innovationen basiert. Gemäß dieser Theorie wurde das Frühromani (englisch: „“), das im Byzantinischen Reich gesprochen wurde, durch Bevölkerungswanderungen von Roma im 14./15. Jh. in die westlichen und andere Teile Europas gebracht. Diese Gruppen ließen sich während des 16. und 17. Jh. in verschiedenen europäischen Regionen nieder und erwarben Sprachkompetenz in einer Vielfalt von Kontaktsprachen. Dann setzten Veränderungen ein, die sich in wellenähnlichen Mustern über das Sprachgebiet verteilten und so die Unterschiede der Einzelsprachen, die man heute feststellen kann, bewirkten. Matras zufolge gab es zwei Hauptzentren für Innovationen: Einige Veränderungen tauchten in Westeuropa (Deutschland und Umgebung) auf und verbreiteten sich ostwärts; weitere Veränderungen traten im Gebiet der Walachen (Rumänien) auf und verbreiteten sich Richtung Westen und Süden. Darüber hinaus bildeten sich viele regionale und lokale Isoglossen und schufen eine komplexe Sprachgrenzenwelle (englisch: „“). Matras verweist auf die Prothese des j- in aro > jaro ‚Ei‘ und ov > jov ‚er‘ als typisches Beispiel für die West-nach-Ost-Diffusion und auf die Anfügung des prothetischen a- in bijav > abijav als eine typische Ost-nach-West-Verbreitung. Seine Folgerung ist, dass die Unterschiede sich in situ bildeten und nicht als Ergebnis von Wanderungswellen. Grobeinteilung nach Boretzky, genauere Klassifikation nach oben genannter Studie von Matras (KS = Haupt-Kontaktsprache): Nord-Romani-Dialekte in Nord-, West- und Südeuropa, dem größten Teil Polens, Russland und den baltischen Staaten: Westlicher Zweig: Piemonteser Sinti in Italien (Kontaktsprache Italienisch) Sinti-Romani (Sintitikes) in Deutschland (früher auch in Böhmen), Österreich, Niederlande, Belgien, Kontaktsprache Deutsch; nicht zu verwechseln mit Sinti-Manouche, das eine Para-Romani-Varietät ist Welsh-Romani mit Englisch und Walisisch als Hauptkontaktsprachen (ausgestorben seit Mitte des 20. Jahrhunderts) Zentraler Zweig: Bergitka-Romani in Polen (Kontaktsprache Polnisch) Čerhari-Romani in Rumänien (Kontaktsprache Rumänisch) Nordöstliche Dialekte (Balto-slawische Dialekte in den Baltischen Staaten) Čuxny-Romani in Estland (Kontaktsprachen Estnisch, Russisch) Finnisches Kalo (Fíntika Rómma) (Kontaktsprache Finnisch) Lettisches Romani (Lotfika) in Lettland und Russland Litauisches Romani in Litauen und dem baltischen Russland Nordrussisches Romani (Xaladitka) im baltischen Russland, gesprochen von den Ruska Roma Polnisches Romani in Polen (Kontaktsprache Polnisch) Nördliches Zentral-Romani: Westlicher Unterzweig: Böhmisches Romani Morawisches Romani Westslowakisches Romani (Kontaktsprache Slowakisch) Östlicher Unterzweig: Zentralslowakisches Romani Ostslowakisches Romani (Kontaktsprache Slowakisch) Ruthenisches Romani Südpolnisches Romani Südliche Zentrale Dialekte Romungro-Romani in Slowakei (Kontaktsprache Slowakisch) und Ungarn (Kontaktsprache Ungarisch) Vend-Romani Burgenland-Romani („Roman“) im österreichischen Burgenland Ungarisches Vend-Romani Prekmurski-Romani in Nordslowenien (Kontaktsprache Slowenisch) Südbalkan I (Nordzweig der Balkan-Dialekte, auch zis-Dialekte genannt): Bugurdži-Romani in Nordmazedonien und dem Kosovo Drindari-Romani Kalajdži-Romani in Bulgarien (Kontaktsprache Bulgarisch) Kovački-Romani in Nordmazedonien (Kontaktsprache Mazedonisch) Südbalkan II (Südzweig der Balkan-Dialekte) Arli-Romani in Süd-Serbien und Montenegro (Kontaktsprache Serbisch), Nordmazedonien (Kontaktsprache Mazedonisch) und Nordgriechenland (Kontaktsprache Griechisch) Cocomanya-Romani/(Tsotsomanya) in Bulgarien (Kontaktsprache Bulgarisch) Krim-Romani in Russland (Kontaktsprachen Russisch, Tatarisch) Džambazi-Romani in Nordmazedonien Xoraxane Romani in Bulgarien, Schumen, (Kontaktsprache Bulgarisch/Türkisch) Musikanti-Romani in Bulgarien, Sliven, (Kontaktsprache Bulgarisch, Türkisch) Erli-Romani in Bulgarien Sofia (Kontaktsprache Bulgarisch) Yerli-Romani in Bulgarien Velingrad (Kontaktsprache Bulgarisch) Futadžides-Romani in Bulgarien (Chaskowo) (Kontaktsprachen Bulgarisch, Türkisch) Gurvari-Romani in Ungarn Ajos Athanasios-Romani in Griechenland (Kontaktsprachen Griechisch, Türkisch, Mazedonisch) Romacilikanes in Griechenland (Kontaktsprache Griechisch) Rumelisches Romani in der Region Rumelien vor allem in Edirne, Türkei (Kontaktsprachen Türkisch, Griechisch) Sepečides-Romani in Volos (Griechenland) und Izmir (Türkei) (Kontaktsprachen Griechisch, Türkisch) Sofades-Romani in Griechenland (Kontaktsprache Griechisch), gesprochen von den Sofades-Romani Ursari-Romani in Rumänien (Kontaktsprache Rumänisch), gesprochen von den Ursari Iranischer Zweig (Zargari in Iran) (Kontaktsprache Persisch) Vlax-Romani: Nordzweig (auch Vlax I genannt): Čekeši-Romani in Russland (Kontaktsprachen Russisch, Moldauisch) Kalderash-Romani in Rumänien (Kontaktsprache Rumänisch), gesprochen von den Kalderash Lovari-Romani in Tschechien (Kontaktsprache Tschechisch), Ungarn (Kontaktsprache Ungarisch), gesprochen von den Lovara Mačvaja-Romani Nord-Ukrainisch in der Ukraine (Kontaktsprache Ukrainisch) Südzweig (auch Vlax II genannt): Agia-Varvara-Romani in Griechenland (Kontaktsprache Griechisch) Süd-Vlax Xoraxane-Romani in Griechenland (Kontaktsprachen Griechisch, Türkisch), gesprochen von den Xoraxane in Westthrakien (Griechenland), Komotini und Xanthi. Gurbet-Romani Serbien (Kontaktsprache Serbisch) Gurbet-Rabešte in Serbien und Montenegro (Kontaktsprache Serbisch) Kalburdžu-Romani in Bulgarien, Varna, (Kontaktsprachen Bulgarisch,Türkisch) Moldawisches Romani in Moldawien (Kontaktsprachen Moldauisch, Russisch) Sepedži-Romani in Bulgarien/Schumen (Kontaktsprachen Bulgarisch, Türkisch, Tatarisch) Prizren-Romani in Serbien (Kontaktsprachen Serbisch, Albanisch) Rakarengo-Romani in Moldawien (Kontaktsprache Moldauisch) Thrakisches Kalajdži-Romani (Vlaxurja) in Bulgarien (Kontaktsprache Bulgarisch) Wortschatz Der Wortschatz dieser Sprachen ist von der Migration ihrer Sprecher geprägt. Geht man von dem Wörterbuch Romani-Deutsch-Englisch für den südosteuropäischen Raum von Norbert Boretzky und Birgit Igla (1994) aus, haben sich nur noch rund 700 Lexeme indischen Ursprungs erhalten, ferner aus der Anfangszeit der Migration rund 70 aus dem Persischen – dort noch weitgehend ohne arabischen Einfluss –, 40 aus dem Armenischen und 230 aus dem Mittelgriechischen der byzantinischen Periode, dessen Lehngut noch vor der Turkisierung angeeignet wurde und damit einen Anhaltspunkt für die Datierung der weiteren Migrationsbewegung nach Westen bietet. Auch der Einfluss der europäischen Kontaktsprachen übersteigt in allen Romani-Dialekten jeweils den Anteil des ursprünglich indischen Wortgutes. Dieser Einfluss betrifft auch den Kernbestand des Wortschatzes, so u. a. die Zahlwörter. Der Zahlwortschatz umfasst einerseits indische Erbwörter (jek = 1, dui = 2, trin = 3, schtar = 4, pansch = 5, schov = 6, desch = 10, deschujek = 10+1, deschudui = 10+2 usw., bisch = 20, schel = 100), andererseits Entlehnungen aus dem Griechischen (efta = 7, ochto = 8, enja = 9, trianda = 30, saranda = 40, penda = 50), dem Türkischen (doxan = 90) und dem Ungarischen (seria, izero = 1000). Hinzu kommen im Falle einiger Zahlwörter alternative Entlehnungen aus anderen Sprachen, so aus dem Schwedischen (enslo statt jek = 1), Lettischen (letteri statt schtar = 4), Estnischen (kuus statt schob = 6, seize statt efta = 7), Rumänischen (mija = 1000), Tschechischen (tisitsos = 1000) oder Deutschen (tausento = 1000). Grammatik Generell hat die Grammatik dieser Sprachen folgende Merkmale: Numeri: Singular und Plural Genera: männlich und weiblich Kasus: je nach Quelle sechs bis zehn Fälle: Ablativ, Akkusativ, Dativ, Genitiv, Instrumental, Lokativ, Nominativ, Obliquus, Soziativ, Vokativ Forschungsgeschichte Über die Herkunft der Roma und ihrer Sprachen bestanden in Europa zunächst mehr oder minder phantastische Vorstellungen, die diese mit Juden, Ägyptern und anderen „exotischen“ Völkern in Zusammenhang brachten (siehe dazu Zigeuner). Eine unvoreingenommene wissenschaftliche Beschäftigung setzte erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ein, als der Sprachwissenschaftler Johann Christoph Christian Rüdiger (1751–1822) mit seiner Schrift Von der Sprache und Herkunft der Zigeuner aus Indien (1782) den Nachweis der Abstammung von Sanskrit und damit der Herkunft aus Indien führte, bald darauf gefolgt von dem Königsberger Philosophen Christian Jakob Kraus, der sein sprachliches Material durch systematische Befragung von Roma im Königsberger Gefängnis zusammenstellte. Kraus hat seine Erkenntnisse zwar nicht zusammenhängend publiziert, doch mit seiner Materialsammlung eine Grundlage geschaffen, auf die andere Gelehrte, insbesondere August Friedrich Pott in seiner grundlegenden Darstellung Die Zigeuner in Europa und Asien (Halle 1844–1845), zurückgreifen konnten. Die Erforschung der einzelnen Sprachen wurde initiiert durch den Slawisten Franc Miklošič, dessen Aufsätze zu diesem Thema seit 1872 erschienen. Grundlegend für die Einordnung dieser Sprachen in die interne Entwicklungsgeschichte der indischen Sprachen Ralph L. Turners Aufsatz The Position of Romani in Indo-Aryan von 1926. Standardisierung und Literatursprache Es handelte sich bis in die jüngere Zeit um überwiegend nur gesprochene und mündlich überlieferte Sprachen, aus denen seit dem 16. Jahrhundert Sprachproben meist nur von Sprechern anderer Sprachen aufgezeichnet wurden. Versuche, Romani als Schriftsprache zu standardisieren, begannen erst im 20. Jahrhundert. Federführend ist dabei heute die Sprachkommission der Internationalen Romani Union (Romano Internacionalno Jekhetani Union), die seit den 1980er Jahren eine sprachlich standardisierte Schriftsprache auf der Basis des Vlax-Romani und eine standardisierte Orthographie auf der Basis der lateinischen Schrift propagiert. Diese Anliegen waren vieldiskutierte Themen beim III. Internationalen Roma-Kongress vom 16. bis zum 20. Mai 1981 in Göttingen. Solange es jedoch keine erfolgreich standardisierten Sprachen gibt, müssen diese Sprachen weiterhin als Abstandsprachen angesehen werden. Die Sprachen werden mit mehreren Alphabeten geschrieben: lateinisch, kyrillisch, bisweilen auch griechisch und in Devanagari. Obwohl die Roma bedeutende literarische Werke und autobiographische Zeugnisse in anderen Sprachen hervorgebracht haben, wurde der Gebrauch dieser Sprachen als Literatursprachen lange Zeit durch die soziale und kulturelle Stigmatisierung dieser Sprachen verhindert. Eine der Ersten, die sich schreibend zu ihrer Herkunft und Sprache bekannten, war die in Serbien lebende Schriftstellerin Gina Ranjičić (1831–1890). In jüngerer Zeit haben Autoren wie Slobodan Berberski (1919–1989), Rajko Đurić, Leksa Manus, Nedjo Osman und Sejdo Jasarov der Romani-Literatur zunehmend Geltung verschafft. Sachfremdes Diese Sprachen haben ihrerseits auch ihre Kontaktsprachen beeinflusst, so in Deutschland besonders den Wortschatz des Rotwelschen. Romani-Experten erkennen auch einige Wörter, die ins Umgangsdeutsche eingegangen sind: Zaster („Geld“) von saster („Eisen, Metall“), Kaschemme („heruntergekommene, übel beleumundete Gastwirtschaft“) von kačima („Gastwirtschaft“), Bock („Lust, etwas zu tun“) von bokh („Hunger“), Schund („wertloses Zeug“) von skånt oder skunt („Kot, Schmutz“), Kaff („kleines, hinterwäldlerisches Dorf“) von gab („Dorf“). Nur teilweise wurden sie mit diesem Herkunftsverweis in Friedrich Kluges Etymologische Wörterbuch der deutschen Sprache aufgenommen, z. T. dort – im Gegensatz zum Duden – ohne Verweis auf Romani-Sprachformen mit abweichenden etymologischen Erklärungen versehen. Von diesen Sprachen zu unterscheiden sind die sogenannten Para-Romani-Sprachen wie das englische Angloromani, das skandinavische Skandoromani, das spanische Caló oder das baskische Erromintxela, in denen außer dem Wortschatz auch die Syntax und die Morphologie bereits von einer der Kontaktsprachen dominiert werden und die nicht alle als Varietäten der Kontaktsprache einzustufen sind. Siehe auch Liste romanisprachiger Schriftsteller Romaniphilologie Wörterbuch von der Zigeunersprache 1755 Literatur Norbert Boretzky, Birgit Igla: Kommentierter Dialektatlas des Romani. 2 Bände. Harrassowitz, Wiesbaden 2004, ISBN 3-447-05073-X. Norbert Boretzky: Die Verwandtschaftsbeziehungen zwischen den südbalkanischen Romani-Dialekten. Lang, Frankfurt am Main [u. a.] 1999, ISBN 3-631-35070-8. Norbert Boretzky, Birgit Igla: Wörterbuch Romani – Deutsch – Englisch für den südosteuropäischen Raum. Harrassowitz, Wiesbaden 1994, ISBN 3-447-03459-9. Rajko Đurić: Die Literatur der Sinti und Roma. Edition Parabolis, Berlin 2002, ISBN 3-88402-307-1. Dieter W. Halwachs: Burgenland-Romani. LINCOM Europa, München 2002, ISBN 3-89586-020-4. Daniel Holzinger: Das Rómanes. Grammatik und Diskursanalyse der Sprache der Sinte. Institut für Sprachwissenschaften der Universität, Innsbruck 1993, ISBN 3-85124-166-5 (Innsbrucker Beiträge zur Kulturwissenschaft. Sonderheft 85) Colin P. Masica: The Indo-Aryan Languages. Cambridge University Press, Cambridge [u. a.] 1991, ISBN 0-521-23420-4 (Cambridge language surveys). Yaron Matras: Untersuchungen zu Grammatik und Diskurs des Romanes: Dialekt der Kelderaša/Lovara, Wiesbaden 1995 Yaron Matras: Romani. A Linguistic Introduction. Cambridge University Press, Cambridge 2002, ISBN 0-521-63165-3. Siegmund A. Wolf: Großes Wörterbuch der Zigeunersprache. Wortschatz deutscher u. a. europäischer Zigeunerdialekte = (Romani tšiw). 2. durchgesehene Auflage, korrigierter Nachdruck der Ausgabe Mannheim, Bibliograph. Inst., 1960. Buske-Verlag, Hamburg 1987, ISBN 3-87118-777-1 (unveränderter Nachdruck, ebenda 1993) Weblinks Romani-Projekt der Universität Manchester Romani-Projekt der Karl-Franzens-Universität in Graz „dROMa“: Zeitschrift mit redaktionell betreutem Blog zu Roma-Themen (dROMa-Blog) auf Deutsch und Romanes (Österreich) GipsyRadio, unabhängiges Romani-Internet-Radio seit 2000 Online-Wörterbücher: RomLex (mit vielen Romani-Dialekten) Einzelnachweise
Q13201
350.803103
6761
https://de.wikipedia.org/wiki/1763
1763
Im Jahr 1763 endet mit dem Pariser Frieden und dem Frieden von Hubertusburg der Siebenjährige Krieg. Großer Verlierer dieses Krieges ist Frankreich, das beinahe alle seine bisherigen Kolonien, insbesondere Neufrankreich in Nordamerika, verliert. Für Friedrich den Großen wird der Friedensschluss hingegen zu einem Triumph, mit dem Preußen sich als neue Großmacht in Europa etabliert. Das Königreich Großbritannien, das ebenfalls zu den Gewinnern des Krieges zählt, bekommt allerdings schnell Probleme in den von Frankreich übernommenen nordamerikanischen Kolonien. Unter dem Häuptling Pontiac bricht dort ein Aufstand aus, der das neue Kolonialreich an den Rand einer Niederlage bringt. Der britische König George III. versucht zwar, mit einer Siedlungsbeschränkung den Frieden mit den Indianern wiederherzustellen, die Königliche Proklamation von 1763 wird von den englischen Siedlern aber weitgehend ignoriert. Im Osten Europas endet mit dem Tod von August III. die Personalunion Sachsen-Polen. Während in Polen-Litauen bis zur Wahl eines neuen Königs ein Interrex eingesetzt wird, folgt im Kurfürstentum Sachsen Augusts Sohn Friedrich Christian auf den Thron, der das von Thomas von Fritsch entwickelte Rétablissement des vom Krieg verwüsteten Staates vorantreibt. Ereignisse Politik und Weltgeschehen Siebenjähriger Krieg Großbritannien/Portugal und Frankreich/Spanien unterzeichnen am 10. Februar den Pariser Frieden und beenden ihre Kriegshandlungen während des Siebenjährigen Krieges. Der Friedensvertrag spricht Großbritannien das bis dahin spanische Florida zu, das in die Kolonien Ost- und Westflorida geteilt wird. Spanien erhält dafür die Herrschaft über das nach der Belagerung von Havanna britisch kontrollierte Kuba zurück und beginnt am 4. November dort auf Anweisung von König Carlos III. mit dem Bau der Festungsanlage San Carlos de La Cabaña. Dabei werden 4.000 von der Halbinsel Yucatán verschleppte mexikanische Sklaven als Bauarbeiter eingesetzt. Frankreich muss Kanada sowie die Gebiete östlich des Mississippi und um die Großen Seen an die britische Krone abtreten. Darüber hinaus muss es Spanien mit seinen westlich des Mississippi gelegenen Gebieten (Louisiana) für den Verlust Floridas entschädigen. Frankreich verliert außerdem sein afrikanische Kolonie Senegambia und seine indischen Besitzungen mit Ausnahme einiger Handelsstützpunkte, unter anderem Pondicherry und Karikal. Am 15. Februar unterzeichnen Preußen, Kursachsen und Österreich den Frieden von Hubertusburg, womit der Siebenjährige Krieg endgültig beendet ist. Der Friedensschluss besteht aus zwei Friedensverträgen: Im Vertrag zwischen Preußen und Österreich verzichtet Maria Theresia für sich und ihre Erben entschädigungslos auf alle Gebietsansprüche gegenüber Preußen für die nach dem Ersten Schlesischen Krieg abgetretenen Gebiete. Der Besitz Schlesiens und der Grafschaft Glatz wird Preußen damit endgültig bestätigt. Friedrich II. seinerseits verpflichtet sich, auf Entschädigungen für Verluste während des Krieges zu verzichten. Außerdem verpflichtet er sich in einem geheimen Zusatzabkommen, Maria Theresias Sohn Joseph seine brandenburgische Kurstimme für die bevorstehende Königswahl zu geben. Im zweiten Vertrag zwischen Preußen und Kursachsen wird der status quo vor dem Krieg wiederhergestellt. Großbritannien April: John Stuart, 3. Earl of Bute, tritt als Premierminister des Vereinigten Königreichs zurück. Sein Nachfolger wird George Grenville. 23. April: In einer Ausgabe des North Briton bezeichnet der Abgeordnete John Wilkes die Rede von König George III. anlässlich der Parlamentseröffnung als „Lüge“. Kurz darauf wird ein Blankohaftbefehl auf ihn und die Herausgeber der Zeitung ausgestellt. Die politische Affäre wird sich über viele Jahre hinausziehen. Sachsen / Polen Mit dem Tode des polnischen Königs August III., der als Friedrich August II. auch Kurfürst von Sachsen war, erlischt am 5. Oktober die Personalunion Sachsen-Polen. Für Polen-Litauen wird bis zur Wahl eines neuen Königs Primas Władysław Aleksander Łubieński als Interrex eingesetzt. Augusts Sohn Friedrich Christian wird Kurfürst von Sachsen. Zu seinen ersten Handlungen zählt die Entlassung des umstrittenen Premierministers Heinrich von Brühl. Die seit dem Vorjahr tagende Restaurierungskommission unter Thomas von Fritsch legt am 19. November ihren Abschlussbericht vor, mit einem Plan, wie die zerrütteten Staatsfinanzen Kursachsens neu geordnet und dem vom Krieg verwüsteten und geplünderten Land durch wirtschaftlichen Wiederaufbau neue Impulse gegeben werden sollen. Das so genannte Rétablissement wird in den nächsten Jahren konsequent und erfolgreich umgesetzt. Nach nur 74 Regierungstagen stirbt Friedrich Christian jedoch schon am 17. Dezember an den Pocken. Nachfolger als sächsischer Kurfürst wird sein minderjähriger Sohn Friedrich August III. unter der Vormundschaft seiner Mutter Maria Antonia von Bayern als Regentin und seines Onkels Franz Xaver als Kur-Administrator. Sie führen das Rétablissement seines Vorgängers fort. Russland 22. Juli: Russlands Kaiserin Katharina II. erlässt ein Einladungsmanifest für ausländische Siedler, mit dem diesen Religionsfreiheit, Befreiung vom Militärdienst, Selbstverwaltung auf lokaler Ebene mit Deutsch als Sprache, finanzielle Starthilfe und 30 Jahre Steuerfreiheit in Aussicht gestellt wird. Katharina II. von Russland lässt im Kaukasus die Festung Mosdok errichten, die erste Befestigungsanlage der späteren Kaukasischen Linie. Weitere Ereignisse in Europa 19. April: Nach dem Tod von Marco Foscarini am 31. März wird Alvise Mocenigo IV. im ersten Wahlgang einstimmig zum neuen Dogen von Venedig gewählt. Während seiner Regierungszeit setzt sich der rasante Niedergang der Republik, ihr Machtverlust innerhalb der europäischen Mächte und die Stagnation ihrer Wirtschaft fort. 5. Juli: Emmerich Joseph von Breidbach zu Bürresheim wird Erzbischof von Mainz und damit gleichzeitig Kurfürst. Er folgt dem am 4. Juni verstorbenen Johann Friedrich Karl von Ostein. Nachdem er mehrfach darum gebeten hat, erhält Ricardo Wall von König Karl III. die Entlassung als spanischer Staatsminister. Sein Nachfolger wird Jerónimo Grimaldi. Wegen angeblicher Unregelmäßigkeiten in seiner Amtsführung als Säckelmeister wird Jost Niklaus Joachim Schumacher auf Betreiben des Joseph Rudolf Valentin Meyer, der eine Privatfehde gegen die Familie Schumacherführt, seiner Ehren und Ämter für verlustig erklärt und muss Luzern verlassen. Sein Verwandter Franz Plazid Schumacher muss mit seiner Familie ebenfalls die Stadt verlassen. Als Josts Sohn Lorenz Plazid Schumacher, der sich in Wien aufhält, von der Verbannung seines Vaters erfährt, kehrt er entgegen dem Rat seines Vaters aufgebracht nach Luzern zurück. Asien Frühjahr: Unter dem Eindruck der Britischen Invasion auf den Philippinen und des darauf folgenden Palaris-Aufstands führt Diego Silang aus dem Volk der Ilokano eine weitere Revolte gegen die Spanischen Kolonialherren. Er wird allerdings am 28. Mai in seinem eigenen Haus von einem Freund erschossen. Seine Frau Gabriela Silang führt die Revolution fort, wird jedoch am 20. September bei einem Überfall auf ein spanisches Armeelager gefangen genommen und noch am gleichen Tag gehängt. 29. November: Hsinbyushin wird nach dem Tod seines Bruders Naungdawkyi Herrscher im birmanischen Königreich Ava. Der König aus der Konbaung-Dynastie residiert vorläufig noch in der Hauptstadt Sagaing. Britische Kolonien in Nordamerika 27. April: Pontiac, Kriegshäuptling der Ottawa, fordert mehrere Indianerstämme der Algonkin zum Kampf gegen die Briten auf, nachdem diese im Anschluss an den Siebenjährigen Krieg begonnen haben, systematisch Siedlungen und Befestigungen in ihrem Gebiet anzulegen. Die Indianer erhalten vage Unterstützungszusagen von französischen Jägern und Händlern. 7. Mai: Mit einem Angriff auf Fort Detroit beginnt der Pontiac-Aufstand, eine große Revolte der Indianer gegen die britische Kolonialherrschaft. Weder Fort Detroit noch Fort Pitt können erobert werden. Erfolg haben die Indianer hingegen unter anderem bei Fort Sandusky (Ohio) (erobert am 16. Mai), Fort St. Joseph (Michigan) (25. Mai), Fort Miami (heute Fort Wayne, Indiana) (27. Mai), Fort Michilimackinac (Michigan) (4. Juni), Fort Ouiatanon (nahe Lafayette, Indiana) (1. Juli), Fort Presque Isle (heute Erie, Pennsylvania) (16. Juni) und Fort Le Boeuf (heute Waterford, Pennsylvania), das am 19. Juni überrascht wird. Angehörige der Seneca, die als einzige aus dem Volk der Irokesen am Aufstand teilnehmen, erobern Fort Venango (Pennsylvania) und brennen es nieder. Mai/Juni: Auf Vorschlag von General Jeffrey Amherst verwenden die Briten mit Pockenerregern verseuchte Decken, um die Indianer durch eine Seuche zu dezimieren. Es handelt sich um einen der ersten dokumentierten Versuche biologischer Kriegführung, der allerdings ohne nennenswerten Erfolg bleibt. 7. Oktober: Die Königliche Proklamation von 1763 beschränkt das Siedlungsgebiet in den von Frankreich nach dem gewonnenen Franzosen- und Indianerkrieg übernommenen britischen Kolonien in Nordamerika. Die Proklamation wird von den britischen Siedlern weitgehend ignoriert. 12. Oktober: Potawatomi, Anishinabe und Wyandot schließen mit den Briten Frieden. 30. Oktober: Pontiac bricht die Belagerung von Fort Detroit ab. Südamerikanische Kolonien 27. Januar: Rio de Janeiro löst Salvador da Bahia als Hauptstadt des portugiesischen Vizekönigreichs Brasilien ab. 23. Februar: Unter der Führung von Cuffy beginnt in der zu Niederländisch-Guayana gehörenden und im Eigentum der Niederländischen Westindien-Kompanie befindlichen Kolonie Berbice (heute Teil von Guyana) ein Sklavenaufstand. 13. Mai: Nach einer Niederlage der Sklaven in einer Schlacht gegen die niederländischen Kolonialherren kommt es zu internen Kämpfen in der Sklavenarmee. Cuffy unterliegt dabei seinem bisherigen Stellvertreter Akara und begeht Selbstmord. Der Sklavenaufstand wird im Dezember von Gouverneur van Hogenheim niedergeschlagen. Wirtschaft 2. März: Das von Georg Christoph Mohr und Jakob Maximilian Stirn herausgegebene Intelligenz- und Zeitungsblatt von Hessen erscheint in Hersfeld erstmals. Am 25. Dezember stellt es sein Erscheinen wieder ein. 14. Mai: Deutsche Währungsgeschichte vor 1871: Kursachsen und die ernestinischen Fürstentümer führen den Konventionsmünzfuß für ihren Bereich ein. 25. Mai: Johann Anton Lucius erhält in Erfurt das Bürgerrecht als selbständiger Kaufmann. Im selben Jahr gründet er das Textilunternehmen Joh. Anton Lucius und beginnt den Handel mit Baumwollwaren. 13. Juli: Die Königliche Dänische Ackerakademie wird gegründet. 29. August: Im Berlepschen Haus wird die erste Messe Kassel eröffnet. 9. September: Carl Gottlob Beck gründet und in Nördlingen den späteren Verlag C. H. Beck und erweitert seine Druckerei um eine Buchhandlung. 19. September: Friedrich der Große gründet die Königliche Porzellan-Manufaktur Berlin. Das Handelshaus Löbbecke aus Iserlohn eröffnet eine Niederlassung in Braunschweig. Wissenschaft und Technik Mit Erlass vom 15. Oktober stiftet Kurfürst Karl Theodor von der Pfalz auf Anregung des elsässischen Gelehrten Johann Daniel Schöpflin die Kurpfälzische Akademie der Wissenschaften mit Sitz in Mannheim. Die Gründungssitzung findet am 20. Oktober statt und wird vom kurpfälzischen Obersthofmeister Karl Anton Hyacinth von Gallean in Vertretung des Kurfürsten eröffnet. Der österreichische Arzt und Naturforscher Giovanni Antonio Scopoli führt die Erstbeschreibung der Käferart Eremit durch. Der französische Astronom Nicolas Louis de Lacaille teilt das antike Sternbild Argo Navis in drei separate Konstellationen ein: das Achterdeck des Schiffs (Puppis), das Segel des Schiffs (Vela) und der Kiel des Schiffs (Carina). Der Astronom Charles Mason und der Geometer Jeremiah Dixon beginnen wegen Grenzstreitigkeiten mit der Vermessung der Grenze zwischen den Kolonien Pennsylvania und Maryland. Die Vermessung wird bis 1767 dauern, die Mason-Dixon-Linie ist noch heute die Grenze zwischen den beiden Staaten. Kultur 6. April: Das Palais Royal, Sitz der Pariser Oper, brennt vollständig aus. 9. Juni: Leopold Mozart unternimmt mit seinen Kindern Wolfgang und Nannerl eine neuerliche Konzertreise durch Europa. Die Erstfassung von Carlo Goldonis Prosakomödie Il Ventaglio (Der Fächer) wird in Paris uraufgeführt. Da sie aus verschiedenen Gründen nicht den erwarteten Erfolg in der fremden Umgebung hat, überarbeitete Goldoni sie in den nächsten zwei Jahren neu. Der Kupferstecher John Spilsbury aus England klebt Landkartendrucke auf dünne Mahagonibretter. Er zersägt sie anschließend und bietet sie als „Lehrmittel zur Erleichterung des Erdkundeunterrichts“ an. Sein Produkt ist die Vorstufe zum Puzzle. Gesellschaft 12. August: Das Königlich-Preußische-General-Landschul-Reglement legt die Dauer der Schulzeit in der Volksschule auf acht Jahre fest. Religion Der Trierer Weihbischof Johann Nikolaus von Hontheim fordert in dem unter dem Pseudonym „Justinus Febronius“ verfassten Buch De statu ecclesiae et legitima potestate Romani pontificis liber singularis eine katholische, deutsche Nationalkirche und begründet damit den Febronianismus. Das Werk, das er dem Papst selbst gewidmet hat, in dem er jedoch die Stellung des Papstes selbst kritisiert, wird im folgenden Jahr auf den Index Librorum Prohibitorum gesetzt und verbrannt. Das Salvatorianerkloster Gottesberg wird gegründet. Sport In den Fens von Cambridgeshire wird der erste bekannte Eislauf-Wettkampf durchgeführt. Teilnehmer sind zwei Läufer aus dem englischen Adel, der Sieger erhält ein Preisgeld von 10 Guineen. Die Laufstrecke ist laut Berichten rund 15 Meilen lang und der Gewinner benötigt dafür 46 Minuten. Später entwickeln sich daraus die Fen Skating Wettbewerbe, die bis etwa 1890 durchgeführt werden. Historische Karten und Ansichten Geboren Erstes Quartal 1. Januar: Leopold Wilhelm von Dobschütz, preußischer General der Kavallerie, Militärgouverneur der Rheinprovinzen und von Breslau († 1836) 3. Januar: Joseph Fesch, französischer Kardinal, Erzbischof von Lyon († 1839) 8. Januar: Jean-Baptiste Drouet, französischer Postmeister und Revolutionär († 1824) 8. Januar: Edmond-Charles Genêt, französischer Diplomat († 1834) 8. Januar: Gerhard Vieth, deutscher Turnpädagoge († 1836) 10. Januar: Joseph Lagrange, französischer General († 1836) 15. Januar: François-Joseph Talma, französischer Schauspieler († 1826) 16. Januar: Franz von Walsegg, österreichischer Adeliger und Hobbykomponist, Auftraggeber für Mozarts Requiem († 1827) 21. Januar: Augustin Robespierre, Politiker während der französischen Revolution († 1794) 22. Jänner: Johann Gabriel von Chasteler, österreichischer General († 1825) 24. Januar: Alexandre Andrault de Langeron, russischer General, Gouverneur der Krim und Generalgouverneur von Neurussland († 1831) 26. Januar: Jean-Baptiste Bernadotte, französischer General und als Karl XIV. Johann König von Schweden und Norwegen († 1844) 29. Januar: Johann Gottfried Seume, deutscher Schriftsteller und Dichter († 1810) 30. Januar: Meinrad Dreher, deutscher Orgelbauer († 1838) 1. Februar: José Cienfuegos, spanischer Offizier, Gouverneur von Kuba und Kriegsminister von Spanien († 1825) 9. Februar: Buckner Thruston, US-amerikanischer Politiker († 1845) 14. Februar: Jean-Victor Moreau, französischer General († 1813) 14. Februar: Johann Martin Usteri, Schweizer Dichter († 1827) 17. Februar: Aloys Joseph Adam, deutscher Jurist († 1825) 17. Februar: Christian Friedrich Möller, deutscher evangelischer Geistlicher, Schriftsteller und Historiker († 1825) 19. Februar: Adalbert Gyrowetz, österreichischer Komponist († 1850) 2. März: Joseph von Utzschneider, deutscher Techniker († 1840) 3. März: Georg Christian Benedikt Ackermann, deutscher Theologe, Pädagoge, Pfarrer und Hofprediger († 1833) 6. März: Jean-Xavier Lefèvre, Schweizer Komponist und Musikpädagoge († 1829) 9. März: William Cobbett, englischer Schriftsteller († 1835) 10. März: Johann Christoph Arnold, sächsischer Verleger, Buchhändler und Kommunalpolitiker († 1847) 12. März: Martin Chittenden, US-amerikanischer Politiker († 1840) 13. März: Guillaume-Marie-Anne Brune, Marschall von Frankreich († 1815) 15. März: Georg Ludwig Collins, deutscher evangelischer Geistlicher († 1814) 15. März: James Wilson, US-amerikanischer Farmer und Hersteller von Globen († 1855) 18. März: Friedrich Gottlob Hayne, deutscher Botaniker, Apotheker und Hochschullehrer († 1832) 20. März: Christian Karl André, deutscher Pädagoge und Landwirt († 1831) 21. März: Jean Paul, deutscher Schriftsteller († 1825) 22. März: Franz Ferdinand von Druffel, Medizinprofessor in Münster, Gutachter von Anna Katharina Emmerick († 1857) 23. März: Fjodor Wassiljewitsch Rostoptschin, russischer General und Minister († 1826) 28. März: Eberhard Ernst Gotthard von Vegesack, schwedischer General († 1818) Zweites Quartal 4. April: Ernst Christoph Friedrich von Auer, preußischer Kriegs- und Domänenrat († 1799) 7. April: Domenico Dragonetti, italienischer Kontrabassist und Komponist († 1846) 21. April: François Athanase de Charette de la Contrie, französischer Marineoffizier († 1796) 22. April: Magdalena Margaretha Tischbein, deutsche Blumenmalerin († 1846) 25. April: Isaac Wilbour, US-amerikanischer Politiker († 1837) 29. April: Friedrich, Herzog von Sachsen-Hildburghausen und Sachsen-Altenburg († 1834) 5. Mai: Johann Michael Petzinger, hessen-darmstädtischer Soldaten- und Hofmaler sowie Ingenieur († 1833) 6. Mai: Johan David Åkerblad, schwedischer Diplomat, Paläograf und Orientalist († 1819) 7. Mai: Józef Antoni Poniatowski, polnischer General, Marschall von Frankreich († 1813) 10. Mai: Johann Gottlieb Blümner, deutscher Beamter († 1837) 15. Mai: Franz Danzi, deutscher Komponist († 1826) 16. Mai: Louis-Nicolas Vauquelin, französischer Apotheker und Chemiker († 1829) 17. Mai: Pierre-Auguste Adet, französischer Arzt und Chemiker († 1834) 20. Mai: William Wellesley-Pole, irisch-britischer Marineoffizier, Politiker, Münzmeister und Generalpostmeister († 1845) 24. Mai: Robert Adair, englischer Diplomat († 1855) 24. Mai: Pierre-Gaspard Chaumette, französischer Revolutionär († 1794) 1. Juni: Antonio Dall’Occa, italienischer Kontrabassist († 1846) 13. Juni: José Bonifácio de Andrada e Silva, brasilianischer Mineraloge und Staatsmann († 1838) 14. Juni: Johann Simon Mayr, deutscher Komponist und Musiklehrer († 1845) 15. Juni: Kobayashi Issa, japanischer Haiku-Dichter († 1828) 19. Juni: Pedro Agar y Bustillo, spanischer Marineoffizier und Regent († 1822) 20. Juni: Gabriel Lory der Ältere, Schweizer Landschaftsmaler, Radierer und Aquarellist († 1840) 20. Juni: Theobald Wolfe Tone, irischer Rechtsanwalt, Anführer der irischen Unabhängigkeitsbewegung († 1798) 22. Juni: Étienne-Nicolas Méhul, französischer Komponist († 1817) 22. Juni: Johannes Lämmerer, deutscher Volksdichter († 1831) 23. Juni: Justus Arnemann, deutscher Medizinprofessor und Chirurg († 1806) 23. Juni: Joséphine de Beauharnais, Kaiserin der Franzosen, Ehefrau Napoleon Bonapartes († 1814) Drittes Quartal 2. Juli: Peter Ritter, deutscher Komponist, Kapellmeister und Cellist († 1846) 15. Juli: Roger Hale Sheaffe, britischer General († 1851) 17. Juli: Johann Jakob Astor, deutscher Emigrant, reichster Mann seiner Zeit in Amerika († 1848) 22. Juli: Johann Heinrich Ramberg, deutscher Maler und Zeichner († 1840) 8. August: Charles Bulfinch, US-amerikanischer Architekt († 1844) 15. August: Ernst Friedrich Ferdinand Robert, deutscher Maler und Hochschullehrer († 1843) 16. August: Frederick Augustus, Duke of York and Albany, britischer Feldmarschall, Fürstbischof von Osnabrück († 1827) 24. August: Johannes Amon, deutscher Komponist und Musikverleger († 1825) 31. August: Andreas Stanislaus von Hatten, Bischof von Ermland († 1841) 2. September: Caroline Schelling, deutsche Schriftstellerin („femme de lettres“) († 1809) 11. September: Ignác Gyulay, Feldmarschall, Präsident des österreichischen Hofkriegsrates und Feldzeugmeister († 1831) 12. September: Phaungkaza Maung Maung, König des birmanischen Königreichs Ava († 1782) 24. September: Christian Ludwig Bachmann, deutscher Mediziner und Musikschriftsteller († 1813) 24. September: Ezra Butler, US-amerikanischer Politiker († 1838) 28. September: Johannes Schulthess, Schweizer evangelischer Geistlicher und Hochschullehrer († 1836) 30. September: Joseph von Baader, bayrischer Ingenieur († 1835) Viertes Quartal 2. Oktober: Thaddäus Müller, Schweizer Theologe († 1826) 7. Oktober: Erhard Adolf Matthiessen, deutscher Jurist, Kaufmann und Ratsherr († 1831) 15. Oktober: Tani Bunchō, japanischer Maler und Dichter († 1841) 15. Oktober: Johann Georg Tralles, deutscher Mathematiker und Physiker († 1822) 19. Oktober: Franz Bernhard Meyer von Schauensee, Schweizer Staatsmann († 1848) 20. Oktober: Joachim Perinet, österreichischer Schauspieler und Schriftsteller († 1816) 27. Oktober: William Maclure, schottischer Geologe, Gelehrter und Philanthrop († 1840) 29. Oktober: Johann Jakob Meyer, Schweizer Offizier und Politiker († 1819) 30. Oktober: Heinrich Cotta, thüringischer Forstwissenschaftler († 1844) 30. Oktober: Georg Karl von Sutner, deutscher Beamter († 1837) 31. Oktober: Wilhelm Arnold Günther, deutscher Weihbischof († 1843) 1. November: Herbord Sigismund Ludwig von Bar, deutscher Jurist, Beamter und Abgeordneter († 1844) 7. November: Friedrich August von Staegemann, deutscher Politiker († 1840) 10. November: František Martin Pecháček, tschechischer Komponist († 1816) 14. November: Stanley Griswold, US-amerikanischer Politiker († 1815) 24. November: Charles Meynier, französischer Maler († 1832) 25. November: Germain-Jean Drouais, französischer Maler († 1788) 29. November: Andreas Florian Meilinger, deutscher Philosoph und Benediktinermönch († 1837) 2. Dezember: Claude-Antoine Prieur, französischer Politiker, Offizier und Wissenschaftler († 1832) 3. Dezember: Jean-Alexandre-Guillaume Leresche, Schweizer evangelischer Geistlicher, Hochschullehrer und Politiker († 1853) 6. Dezember: Diderich Hegermann, erster norwegischer Kriegsminister († 1835) 9. Dezember: Nikolaus von Flüe, Schweizer Offizier in französischen Diensten und Landeshauptmann († 1839) 13. Dezember: Georg Dubislav Ludwig von Pirch, preußischer Generalleutnant († 1838) 23. Dezember: Georg Joseph Beer, Begründer der wissenschaftlich fundierten Augenheilkunde († 1821) 31. Dezember: Pierre de Villeneuve, französischer Admiral († 1806) Genaues Geburtsdatum unbekannt Carl Alberti, deutscher Beamter († 1828) Marcos Coelho Neto, brasilianischer Komponist († 1823) George Walker, US-amerikanischer Politiker († 1819) Gestorben Januar bis April 2. Januar: John Carteret, 2. Earl Granville, englischer Staatsmann (* 1690) 2. Januar: Mattias Alexander von Ungern-Sternberg, schwedischer Feld- und Landmarschall (* 1689) 3. Januar: Josep Antoni Martí, spanischer Komponist (* 1719) 11. Januar: Caspar Abel, deutscher Historiker und Dichter (* 1676) 11. Januar: Giovanni Benedetto Platti, italienischer Oboist und Komponist (* um 1697) 13. Januar: Johann Michael Hartung, deutscher Orgelbauer (* 1708) 27. Januar: Anton Ulrich, Herzog von Sachsen-Meiningen (* 1687) 27. Januar: Johann Theodor von Bayern, Bischof von Regensburg, Freising und Lüttich (* 1703) 29. Januar: Johan Ludvig, dänischer Kanzler, Kunst- und Literatursammler (* 1694) 29. Januar: Louis Racine, französischer Dichter (* 1692) 2. Februar: Josias I., Graf von Waldeck-Bergheim (* 1696) 12. Februar: Pierre Carlet de Marivaux, französischer Schriftsteller (* 1688) 26. Februar: Friedrich, Markgraf von Brandenburg-Bayreuth (* 1711) 20. März: Maximilian Hellmann, österreichischer Cymbalist, Paukist und Komponist (* 1702) 23. März: Franz Guasco, österreichischer Feldzeugmeister (* 1711) 30. März: Ridolfino Venuti, italienischer Antiquar, Archäologe, Numismatiker und Kunsthistoriker (* 1705) 31. März: Marco Foscarini, 117. Doge von Venedig (* 1696) 2. April: Johann Georg Bschorer, deutscher Bildhauer (* 1692) 4. April: Richard Mudge, englischer Pfarrer und Komponist (* 1718) 7. April: Benedykt Chmielowski, polnischer Priester und Enzyklopädist (* 1700) vor 9. April: Georg Christoph Sturm, deutscher Architekt und erster Braunschweiger Hofbaumeister (* 1698) 13. April: Christian Zell, deutscher Cembalobauer (* um 1683) 16. April: Paul Wilhelm Schmid, deutscher Rechtswissenschaftler (* 1704) 18. April: Franz Anton Bustelli, Schweizer Bildhauer und Modellierer (* 1723) 24. April: Charles-Étienne Pesselier, französischer Autor, Poet, Fermier général und Enzyklopädist (* 1712) 27. April: Johann Georg Üblhör, deutscher Stuckateur und Bildhauer (* 1703) Mai bis August 3. Mai: George Psalmanazar, französischer Hochstapler (* 1679) 11. Mai: Natalja Fjodorowna Lopuchina, baltische Gouverneurstochter am russischen Hof (* 1699) 20. Mai: Georg Sebastian Urlaub, fränkischer Maler (* 1685) 24. Mai: Friedrich Karl von Hardenberg, hannoverscher Diplomat, Kriegspräsident und Gartenarchitekt (* 1696) 28. Mai: Jacob Hochbrucker, deutscher Harfenist, Zupfinstrumentenbauer, Geigenbauer und Lautenmacher (* um 1673) 28. Mai: Diego Silang, philippinischer Aufständischer (* 1730) 1. Juni: Johann Caspar Vogler, deutscher Organist und Komponist (* 1696) 2. Juni: Emanuel Christian Löber, deutscher Mediziner (* 1696) 4. Juni: Johann Friedrich Karl von Ostein, Erzbischof und Kurfürst von Mainz und Bischof von Worms (* 1689) 15. Juni: Joseph Maria von Thun und Hohenstein, Bischof von Gurk und Fürstbischof von Passau (* 1713) 22. Juni: Jean-Pierre de Bougainville, französischer Althistoriker (* 1722) 29. Juni: Hedvig Charlotta Nordenflycht, schwedische Dichterin (* 1718) 11. Juli: Peter Forsskål, schwedisch-/finnischer Naturkundler und Orientalist (* 1732) 16. Juli: Jacques-Martin Hotteterre, französischer Komponist und Flötist (* 1673) 9. August: Johann Daniel Hardt, deutscher Gambist und Komponist (* 1696) 12. August: Olof von Dalin, schwedischer Dichter, Schriftsteller, Satiriker und Historiker (* 1708) 12. August: Peter Gerwin von Franken-Siersdorf, Generalvikar im Erzbistum Köln (* 1702) 14. August: Giovanni Battista Somis, italienischer Violinist und Komponist (* 1686) 19. August: Karl August Friedrich, Fürst von Waldeck-Pyrmont (* 1704) 21. August: Richard Ward, Gouverneur der Colony of Rhode Islands and Providence Plantations (* 1689) 29. August: Georg Wilhelm Bauernfeind, deutscher Zeichner und Kupferstecher (* 1728) September bis Dezember 12. September: Johann Joseph Couven, deutscher Architekt und Baumeister des Barock (* 1701) 14. September: Johann Philipp Sack, deutscher Komponist und Tastenspieler (* 1722) 20. September: Gabriela Silang, philippinische Aufständische (* 1731) 26. September: John Byrom, englischer Schriftsteller (* 1692) 5. Oktober: August III., König von Polen und Großfürst von Litauen, als Friedrich August II. Kurfürst von Sachsen (* 1696) 11. Oktober: Maria Anna Victoria, Nichte und Haupterbin des Prinzen Eugen von Savoyen (* 1683) 22. Oktober: Frans van Mieris der Jüngere, niederländischer Genre- und Bildnismaler und Radierer (* 1689) 26. Oktober: Johann Moritz Gustav von Manderscheid-Blankenheim, Bischof im Bistum von Wiener Neustadt und im Erzbistum Prag (* 1676) 27. Oktober: Lorenz Natter, deutscher Edelsteinschleifer, Gemmenschneider und Medailleur (* 1705) 28. Oktober: Heinrich Graf von Brühl, sächsischer Premierminister (* 1700) 10. November: Joseph François Dupleix, französischer Generalgouverneur in Indien (* 1697) 23. November: Antoine-François Prévost, französischer Schriftsteller (* 1697) 23. November: Friedrich Heinrich von Seckendorff, kaiserlicher Feldmarschall und Diplomat (* 1673) 27. November: Isabella von Bourbon-Parma, Prinzessin von Bourbon-Parma und Erzherzogin von Österreich (* 1741) November: Giovanni Claudio Pasquini, italienischer Dichter und Librettist (* 1695) 9. Dezember: Ludwig von Aulack, preußischer Oberstleutnant (* 1706) 9. Dezember: Christian Gottlieb Buder, deutscher Jurist, Historiker und Bibliothekar (* 1693) 13. Dezember: Giuseppe Maria Buonaparte, korsischer Politiker und Großvater Napoleons I. (* 1713) 17. Dezember: Friedrich Christian, Kurfürst von Sachsen (* 1722) 17. Dezember: George Bogislaus Staël von Holstein, schwedischer Freiherr und Feldmarschall, Gouverneur von Malmöhus län und Kommandant von Malmö (* 1685) 25. Dezember: Suraj Mal, Maharaja von Bharatpur (* 1707) Weblinks
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https://de.wikipedia.org/wiki/Institution
Institution
Institution ( „Einrichtung“) ist ein in den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften uneinheitlich definierter Begriff. Im Allgemeinen wird darunter ein Ordnungs- und Regelsystem verstanden, das soziales Verhalten und Handeln von Individuen, Gruppen und Gemeinschaften in einer Weise formt, stabilisiert und lenkt, dass es im Ergebnis für andere Interaktions­teilnehmer erwartbar wird. Häufig werden darunter feste gesellschaftliche Einrichtungen wie Behörden, Gerichte, Universitäten und Schulen verstanden (analog zum englischen Sprachgebrauch). Soziologisch wären derartige Gebilde jedoch genauer als institutionalisierte soziale Organisationen zu bezeichnen. Die heute am häufigsten verwendete Definition von Institutionen stammt von Douglass North, der sie als die formellen wie informellen Spielregeln einer Gesellschaft beschreibt, die die Anreizstrukturen für das politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Zusammenspiel festlegen. Die Auswirkungen von Institutionen (Institution Building) bzw. deren Strukturen sind vielfältig und umfassend. Dazu wird beispielsweise in modernen Erklärungsmodellen zum Wachstum und Erfolg von Gemeinwesen und Staaten auf die Wichtigkeit von langandauernden kontinuierlichen institutionellen Rahmenbedingungen wie Rechtssicherheit (geringe Korruptionsrate, effektive Gerichte, Vertrags- und Registersicherheit) oder öffentliche Sicherheit hingewiesen. Zur Begriffsgeschichte Institutionen sind Gegenstand verschiedener sozialwissenschaftlicher Disziplinen. Die übergreifendste Definition des Begriffs besagt, dass eine Institution ein Regelsystem ist, das eine bestimmte soziale Ordnung hervorruft. Nach einem repräsentativen soziologischen Wörterbuch bezeichnet Institution „jegliche Form bewusst gestalteter oder ungeplant entstandener stabiler, dauerhafter Muster menschlicher Beziehungen, die in einer Gesellschaft erzwungen oder durch die allseits als legitim geltenden Ordnungsvorstellungen getragen und tatsächlich ‚gelebt‘ werden“. Die Betrachtung politischer Institutionen geht mindestens auf Jean-Jacques Rousseau zurück. Die frühen politischen Theorien sahen politische Institutionen jedoch lediglich als Arenen, in denen politische Handlungen stattfinden, die jedoch von fundamentaleren Kräften bestimmt wurden. In der vergleichenden Regierungslehre befasste man sich mit der institutionellen Grundlage der verfassungsmäßigen Ordnung, insbesondere der (heute) westlichen Welt. Es ging um formale Institutionen. In ihrem wissenssoziologischen Klassiker Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit (1966) legten Peter L. Berger und Thomas Luckmann eine einflussreiche, aber auch weiter gefasste Definition des Institutionsbegriffs vor, der Institutionen als Sedimentierungen dynamischer sozialer Prozesse erachtet: . Das schließt vorgegebene, typisierte Handlungssequenzen (wie Begrüßung und Vorstellung) ebenso ein wie zeremonielle Handlungsabläufe (wie Taufe und Beerdigung). Die philosophische Anthropologie Arnold Gehlens misst den Institutionen „eine geradezu fundamentale Bedeutung“ für das menschliche Handeln bei. Sie versteht Institutionen als Instinktersatz und Kompensation für die instinktreduzierte Ausstattung des Menschen; durch sie werden die „quasiautomatischen Gewohnheiten des Denkens, Fühlens, Wertens und Handelns“ habitualisiert und damit stabilisiert. Institutionen gehen nach Gehlen aus dem „Denken und Handeln“ der Menschen untereinander hervor und „verselbständigen sich ihnen zu einer Macht, die ihre eigenen Gesetze bis in ihr Herz hinein geltend macht“. Seit Mitte der 1970er Jahre entwickelte sich ein neuer Institutionalismus. Hierbei handelte es sich um eine Gegenbewegung zu herkömmlichen behaviouristischen Theorieansätzen und zur Theorie der rationalen Entscheidung, die als weitgehend „institutionenblind“ gelten. Im soziologischen wie im ökonomischen Neo-Institutionalismus werden, in Abgrenzung zum klassischen Institutionalismus, neben den formalen Institutionen auch nicht-formale betrachtet. Wie weit der Begriff „Institution“ zu fassen ist, bleibt strittig. Wirtschaftswissenschaftlich inspirierte Wissenschaftler definieren den Begriff enger als soziologisch inspirierte Wissenschaftler, die auch kognitive Regeln des menschlichen Handelns als Institution ansehen. Abgrenzung zum Organisationsbegriff Der Begriff wird in der Volkswirtschaftslehre, im Rahmen der Institutionenökonomik, für die Erklärung der Bildung von Unternehmen und Unternehmensgrenzen verwendet – oft wegen der Unzulänglichkeit des dort (und in der Betriebswirtschaftslehre) vielfach entfalteten Organisationsbegriffs. Organisationen sind Gruppen von Personen, die ein gemeinsames Ziel verfolgen. Das Merkmal „Organisation“ ist sodann die formell festgelegte Mitgliedschaft. Jedes Mitglied hat sich den spezifischen Regeln der Organisation zu unterwerfen – oder die stets vorhandene „exit-Option“ zu wählen. Institutionen sind hingegen Regeln, die für ganze Gesellschaften oder deren Teilsysteme gelten. Die Neue Institutionenökonomik als ein Paradigma der Volkswirtschaftslehre versteht unter Institutionen hingegen eine der Reduzierung von Unsicherheiten dienende Regel. Institutionelle Regeln beschränken einerseits die Möglichkeiten menschlichen Handelns und gestalten damit die Anreize im Austausch von Gütern, andererseits ermöglichen soziale Regeln bestimmte – zivilisierte (hier) Tauschgeschäfte – Verhaltensweisen, indem sie andere – zuerst gewalttätige, hier: Raub, Diebstahl – verbieten. Die Institution ist ein System miteinander verknüpfter, formgebundener (formaler, d. h. gesetzlich fixierter, also staatlich sanktionsbewehrter) und formungebundener (informeller, d. h. in der Gesellschaft faktisch akzeptierter) Regeln. Eine Institution hat die Funktion, individuelles – und damit soziales – Verhalten in eine bestimmte Richtung zu steuern. Einige glauben, dass damit die sogenannte Anreizstruktur einer Gesellschaft gesteuert werde, obwohl kein Steuermann auszumachen ist und obwohl Anreize individualinteressengeleitete Reaktionen suggerieren, die bei den meist kooperativen Regeln – Institutionen – nicht zu beobachten sind. Institutionen sind selbstorganisierende Regelsysteme. Institutionen bringen Ordnung in alltägliche Handlungen und vermindern damit die Unsicherheit von Individuen darüber, was andere Individuen wohl in bestimmten Situationen tun werden. Institutionen stecken damit die gesellschaftlichen Spielregeln für die strategischen Spiele der einzelnen Organisationen ab, die ihren privaten Interessen folgen. Allerdings fördern die institutionellen Spielregeln nicht notwendigerweise die Kooperation der Akteure. Es gibt auch Institutionen, die die Effizienz und Kreativität des menschlichen bzw. organisatorischen Zusammenwirkens entscheidend und mit gravierenden negativen Effekten für die wirtschaftliche Entwicklung einschränken. Man denke etwa an die für viele Institutionen typischen Exklusions­effekte, so etwa an das des indischen Kastenwesens. Als ebenso problematisch erwiesen sich jedoch Versuche, die Auswüchse dieses Institutionensystems durch affirmative Action, nämlich gezielte Inklusionspolitik des Staates gegenüber den unteren Kasten zu beschränken. Diese führte zur Ausschaltung eines Teils der Bildungselite der Brahmanen aus hochqualifizierten Tätigkeiten und damit zu neuen Effizienzverlusten in privaten Organisationen und Verwaltung. Der Brockhaus definiert die Institution als eine Diese Definition ist jedoch im modernen Sinn veraltet und entspricht insbesondere nicht der heutigen Unterscheidung von Institution und Organisation. Die jüngere Soziologie vermied es, komplexe Sachverhalte wie Familie oder Bundestag als „Institution“ zu bezeichnen, da sie sowohl Aspekte der Institution als auch der Organisation umfassen und organisationssoziologisch weniger Grundlagenprobleme aufzuwerfen scheinen. (Die Institution der Ehe ist derart genommen eine Organisation, deren Mitglieder die jeweilige Ehefrau und der jeweilige Ehemann sind.) Jedoch hat Michael Wildt 2003 den Begriff der Institution wieder „fruchtbar“ aufgenommen, um das Reichssicherheitshauptamt in der Zeit des Nationalsozialismus zu erklären. Beispiele Beispiele für Institutionen sind jegliche Regeln und Normen wie das Rechtssystem, DIN-/ISO Normen, Unternehmensleitsätze, die Landessprache, Benimmregeln sowie Sitten und Gebräuche. Auf die oft mit parallelen sozialen Prozessen befasste soziologische Debatte zum Ritual ist zu verweisen. Viele Sozialgebilde lassen sich sowohl als Organisation wie auch als Institution beschreiben. So ist die Universität eine Bildungsinstitution, aber die konkrete Universität, z. B. Freie Universität Berlin, ist eine Organisation. Die Kirche ist eine religiöse Institution, sie hat zugleich eine komplexe Organisation. Funktionen Institutionen leiten das Handeln von Menschen, beschränken die Willkür (den Kürwillen) des individuellen Handelns, definieren den gemeinsamen Handlungsrahmen und mit ihm verbundene Verpflichtungen. Zu diesem Regelsatz bilden sich zugehörige Legitimierungsstrategien und Sanktions­mechanismen heraus. Damit üben Institutionen eine entlastende Funktion aus, indem sie eine kollektiv organisierte Bedürfnisbefriedigung sicherstellen und den einzelnen von elementaren Vollzügen freisetzen. Andererseits schützen sie die Gesellschaft vor individuell willkürlichen Handlungen und überführen sie in gesellschaftlich wohlgeordnete Abläufe. Nach dem philosophischen Anthropologen Arnold Gehlen ersetzen Institutionen dem Menschen, was dem Tier als Instinkt verfügbar ist. Dieter Claessens hat dies biosoziologisch kritisiert und differenziert (Konzept der „Instinktstümpfe“). Sie sind nach Gehlen notwendigerweise undurchschaubar und entfremdet, bieten aber damit die Möglichkeit für eine höhere Freiheit des Handelns. Institutionen schaffen Klarheit für das Individuum in den fundamentalen Bereichen wie soziale Reproduktion, Familie (Verwandtschaft), Erziehung, Bildung und Ausbildung, Nahrungsbeschaffung, Warenproduktion und Verteilung (Wirtschaft) und die Aufrechterhaltung einer gesellschaftlichen Ordnung (Recht, Politik) sowie der Kultur (siehe Bernhard Schäfers 1995, S. 134–137). Sie sind „bewährte Problemlösungen“ für den Alltag, die man sich auch als Komplex von Handlungs- und Beziehungsmustern vorstellen kann. Institutionen können ihr Abbild in Organisationen finden, sind aber davon deutlich zu unterscheiden. Während Institutionen handlungsleitende Regeln zur Verfügung stellen, definieren Organisationen formell Ziele, Mitgliedschaft und Organisationsabläufe. Um ihre Wirkung zu entfalten, müssen Institutionen beachtet werden. Hierarchie Institutionen werden häufig in eine hierarchische Ordnung nach dem Grad der Einschränkung von Gestaltungsfreiräumen gebracht. Je weiter unten die Ebene, desto spezifischer ist die zugehörige Institution. Die erste Ebene stellt hierbei die soziale Verankerung dar. In dieser Ebene sind insbesondere informelle Institutionen wie Tradition, Weltanschauung und Kultur von Bedeutung. Die Institutionen dieser Ebene entwickeln sich nur sehr langsam über eine evolutionäre Veränderung. Die theoretische Basis wird durch die Soziologie gegeben. Die zweite Ebene wird durch grundsätzliche formelle Spielregeln dargestellt, etwa eine Verfassung und Regeln des Rechts. Die theoretische Basis wird durch die Theorie der Verfügungsrechte gegeben. Die dritte Ebene ist das Steuerungs- und Anreizsystem. Grundlage sind private Verträge. Die theoretische Basis wird durch die Transaktionskostenökonomik gegeben. Die vierte Ebene betrifft schließlich die Ressourcenallokation. Die theoretische Basis wird durch die Prinzipal-Agent-Theorie gegeben. Risiken und Chancen durch Institutionen Totale Institutionen wie Gefängnisse, Psychiatrische Anstalten, Schiffsbesatzungen, Klöster, Behindertenheime oder Internate kontrollieren alle Lebensäußerungen ihrer Mitglieder, können also den Freiraum des Individuums überaus stark einschränken, soziale Entwicklungen verhindern und damit die Menschenrechte der Insassen verletzen. Deshalb verfolgt die European Association of Service Providers for Persons with Disabilities (EASPD, deutsch: der Europäische Verband der Leistungserbringer für Menschen mit Behinderung) das Konzept einer Deinstitutionalisierung des Dienstleistungsangebots für Menschen mit Behinderungen in Europa. Auf der anderen Seite bergen Prozesse der „Deinstitutionalisierung“, wie solche in gesellschaftlichen Wandlungsphasen, Risiken des Rückfalls in riskantes, rücksichtsloses und nur auf Durchsetzung der Eigenwünsche bedachtes Verhalten. Das Institutionsvertrauen ist ein Gradmesser für die Stabilität eines politischen Systems. Wirkungsmechanismus Institutionen entfalten ihre Wirkung über Anreize, hierbei insbesondere inhaltliche Vorgaben und Sanktionen. Auf diese Weise lassen sich Erwartungen, Entscheidungen und Handlungen der Individuen beeinflussen. Letztlich hat dies Einfluss auf kollektive, also etwa gesamtwirtschaftliche, Ergebnisse. Siehe auch Institutiones, der Titel zweier juristischer Anfängerlehrbücher aus dem römischen Reich Überbau und Basis Helmut Schelsky#Theorie der Institutionen Literatur Peter L. Berger, Thomas Luckmann: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie, 21. Auflage: Juni 2007, Fischer Taschenbuch Verlag. Bibliographisches Institut GmbH (2021). Institutionalisierung. URL: https://www.duden.de/rechtschreibung/Institutionalisierung [Stand: 8. September 2021] Cornelius Castoriadis: Gesellschaft als imaginäre Institution. Entwurf einer politischen Philosophie. Suhrkampm Frankfurt am Main 1984. Mary Douglas: How Institutions Think. London 1987 (dt.: Wie Institutionen denken. Frankfurt am Main 1991). Hartmut Esser: Soziologie. Spezielle Grundlagen. Band 5: Institutionen. Campus, Frankfurt am Main/New York 2000. Arnold Gehlen: Der Mensch. UTB, Wiesbaden 1995. Arnold Gehlen: Über die Geburt der Freiheit aus der Entfremdung. Gesamtausgabe Bd. 4, Frankfurt am Main 1983. Erving Goffman: Asyle. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1972. (Zu totalen Institutionen) Friedrich Jonas: Die Institutionenlehre Arnold Gehlens. Mohr (Siebeck), Tübingen 1966. Birgit Jooss: Kunstinstitutionen. Zur Entstehung und Etablierung des modernen Kunstbetriebs. In: Geschichte der bildenden Kunst in Deutschland. Vom Biedermeier zum Impressionismus. Hgg. von Hubertus Kohle, München/Berlin/London/New York 2008, S. 188–211. Douglass C. North: Institutions, Institutional Change, and Economic Performance. Cambridge University Press, Cambridge u. a. 1990 Cambridge, ISBN 0-521-39416-3 (ins Deutsche übersetzt von Monika Streissler als: Institutionen, Institutioneller Wandel und Wirtschaftsleistung (= Die Einheit der Gesellschaftswissenschaften. Bd. 76). Mohr, Tübingen 1992, ISBN 3-16-146024-3). Stefan Nowotny / Gerald Raunig: Instituierende Praxen. Bruchlinien der Institutionskritik. Turia + Kant, Wien 2008, ISBN 978-3-85132-513-3. Birger P. Priddat: Strukturierter Individualismus. Institutionen als ökonomische Theorie. Metropolis, Marburg 2004. Bernhard Schäfers (Hrsg.): Grundbegriffe der Soziologie. 8., überarb. Auflage, Opladen 2003. Robert Seyfert: Das Leben der Institutionen: Zu einer Allgemeinen Theorie der Institutionalisierung. Velbrück, Weilerswist 2011, ISBN 978-3-942-39321-8. Stefan Voigt: Institutionenökonomik. 2. Auflage, Fink, München 2009, ISBN 978-3-8252-2339-7. Weblinks Einzelnachweise Soziologie Volkswirtschaftslehre Institution Politische Philosophie
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https://de.wikipedia.org/wiki/Abchasien
Abchasien
Abchasien [] (; ; ) ist eine an das Schwarze Meer grenzende Region im Süden des Kaukasus, die als autonome Republik völkerrechtlich zu Georgien gehört, sich seit 1994 jedoch als unabhängige „Republik Abchasien“ betrachtet. Das 8.600 km² große, laut offizieller Schätzung von 2011 242.862 Einwohner zählende Gebiet hat eigene staatliche Strukturen ausgebildet, die sich unter der Protektion Russlands der Souveränität Georgiens entziehen. Als bisher (Stand 2020) einzige allgemein anerkannte Staaten haben seit 2008 Russland, Nicaragua, Venezuela, Nauru und Syrien die Unabhängigkeit Abchasiens anerkannt. Die pazifischen Inselstaaten Tuvalu und Vanuatu zogen ihre 2011 ausgesprochene Anerkennung wenige Jahre später im Zuge der Aufnahme diplomatischer Beziehungen mit Georgien zurück. Nahezu alle anderen Staaten der Welt betrachten Abchasien als georgisches Gebiet und erkennen die in Georgiens Hauptstadt Tiflis amtierende Exilregierung der Autonomen Republik Abchasien als rechtmäßig an, auch wenn sie de facto keinen Einfluss in der Region besitzt. Abchasien bildet zusammen mit den anderen von Russland durch so genannte eingefrorene Konflikte geschaffenen De-facto-Regimen Arzach, Transnistrien und Südossetien die Gemeinschaft nicht-anerkannter Staaten, die sich wechselseitig in ihren Souveränitätsbestrebungen unterstützen. Das für sein mildes Klima sowie für seine Kurorte und Strände bekannte Abchasien war zu Zeiten der Sowjetunion eines der beliebtesten inländischen Touristenziele. Geographie Abchasien liegt südlich des Kaukasus an der Nordostküste des Schwarzen Meeres westlich des Flusses Enguri in Georgien. Das bis auf einen schmalen, landwirtschaftlich genutzten Küstenstreifen gebirgige Land erreicht im Dombai-Ulgen Höhen von über 4000 Metern. Im Arabika-Massiv liegen mit der Werjowkina-Höhle und der Woronja-Höhle die mit über 2000 Metern tiefsten bekannten Höhlen der Erde. Dank dem Schutz durch die Gebirgszüge weist der Küstenstreifen ein subtropisches Klima auf, weswegen sich Abchasien in der Sowjetzeit zu einem beliebten Feriengebiet entwickelte. Das warme Klima begünstigt auch den Anbau von Tabak, Tee, Wein und Obst, sodass die Landwirtschaft sowie die Nahrungs- und Genussmittelindustrie zu den wichtigsten Wirtschaftszweigen des Landes gehören. Verwaltungsgliederung Die de facto unabhängige Republik Abchasien besteht aus sieben Rajons und einer kreisfreien Stadt, der Hauptstadt Sochumi. Jeder Rajon verfügt über jeweils eine Bezirkshauptstadt. Städte In Abchasien gibt es (nach Definition der Regierung in Sochumi) neun Orte mit Stadtstatus, von denen sieben Rajonhauptstädte sind. Nach georgischem Recht sind zwei der Orte (gekennzeichnet mit *) keine Städte, sondern „Kleinstädte“ (daba, entsprechend den früheren Siedlungen städtischen Typs). Neben den unten gelisteten Städten gibt es noch mehrere andere Ortschaften, die teils höhere Einwohnerzahlen aufweisen, aber über keinen Stadtstatus verfügen, wie etwa Zandrypsch, Dranda, Bsybta oder Eschera. Bevölkerung Die Einwohnerzahl des Landes betrug im Jahr 2011 nach offizieller Schätzung etwa 241.000; der Anteil der namensgebenden Abchasen lag bei 50,8 %, jener der Georgier betrug 19,3 %, der der Armenier 17,4 % (siehe Armenier in Abchasien). Weitere bedeutende Minderheiten waren Russen (9,2 %), Ukrainer (0,7 %) sowie Griechen (0,6 %). Daneben leben in Abchasien noch einige Hundert Türken, Osseten, Abasinen und Esten. Im Vergleich zur Volkszählung von 2003 wuchs die Bevölkerungszahl bis 2011 um fast 12,5 %, sie liegt aber immer noch weit unter dem Wert von 1989. Die letzte sowjetische Volkszählung von 1989 hatte noch eine Einwohnerzahl von etwa 525.000 ermittelt, davon waren 45,7 % Georgier, 17,8 % Abchasen sowie 14,3 % Russen und 14,6 % Armenier. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts stellten die Abchasen die große Mehrheit der Bevölkerung des Fürstentums Abchasien, einem Vasallenstaat des Osmanischen Reiches, dessen Bevölkerung mehrheitlich bereits vom georgisch-orthodoxen Christentum zum sunnitischen Islam konvertiert war. Lediglich in der südöstlichen Region Samurzakan, dessen Zugehörigkeit mehrfach mit dem benachbarten Fürstentum Mingrelien wechselte, lebte eine gemischt mingrelisch-abchasische, zumeist christliche Bevölkerung, viele Bewohner der Region beherrschten beide Sprachen, weshalb sie für die russische Verwaltung später nur schwer „national“ zu kategorisieren waren. 1810 geriet das Fürstentum mit der russischen Einsetzung von Sefer Ali-Bey Scharwaschidse/Tschatschba (christlicher Name nach seiner Taufe Giorgi Scharwaschidse, Fürst 1810–21) zum Protektorat Russlands, 1864 wurde es von Russland mit Absetzung des Nachfolgers Micheil Scharwaschidse annektiert. Gegen den russischen Einfluss, die Annexion, aber auch gegen die unter russischem Einfluss verschärfte Leibeigenschaft kam es zu abchasischen Aufständen 1821–27, 1840–42, am Ende des Kaukasuskrieges bis 1864 gemeinsam mit benachbarten Tscherkessen, 1866/67, 1877/78, 1905–07 und 1918–21 (teilweise gegen Georgien, teilweise auch gegen Denikin und die Rote Armee). Nach Niederschlagung jedes dieser Aufstände flüchteten einige tausend bis einige zehntausend Abchasen als Muhadschire (Flüchtlinge) ins Osmanische Reich, fast immer Muslime. Die größten Fluchtwellen waren ca. 20.000 abchasische Flüchtlinge 1864–67 und nach dem größten Aufstand 1878 ca. 30–40.000. Nach den Forschungen des abchasischen Historikers Giorgi Dsidsarija in den 1970er/80er Jahren flüchteten 1810–1921 bis zu 135.000 Abchasen und sprachlich nahestehende, nördlich benachbarte Abasinen ins Osmanische Reich, allein im 19. Jahrhundert etwas unter 100.000 Abchasen. Nach 1864 durften sie wegen der Widerstände, wie die Tscherkessen, nicht mehr die Gebirgsgebiete, nach 1878 auch nicht mehr die Hauptstadt Sochumi/Suchum und den 25 km-Umkreis bewohnen. Besonders in der Hauptstadt und Umgebung wurden damals Mingrelier (keine anderen Georgier), Armenier, Russen, Ukrainer, Esten, Aseris, Kurden u. a. angesiedelt. Die Ansiedlungsbeschränkungen für Abchasen wurden erst 1907 wieder aufgehoben. Auch zu Beginn des 20. Jahrhunderts bildeten die Abchasen noch über die Hälfte der Bevölkerung von Abchasien (damals „Okrug Suchum“). Im Laufe des 20. Jahrhunderts stieg nun wiederum die Zahl der Georgier (nicht nur Mingrelier), bedingt durch Migration, allerdings so stark an, dass sie bereits 1926 die größte Bevölkerungsgruppe stellten. Während die Zahl der Georgier innerhalb von knapp 100 Jahren von knapp 4.200 (1886) auf fast 240.000 im Jahr 1989 und damit fast um das Sechzigfache anstieg, wuchs die Zahl der Abchasen im selben Zeitraum lediglich von etwa 59.000 auf etwa 93.000 an. Besonders Ende des 19. Jahrhunderts verließen zudem zahlreiche, meist muslimische Abchasen das Land in Richtung des Osmanischen Reichs. Bereits zur Zeit des Russischen Kaiserreichs begann eine georgische Migrationsbewegung in das damals dünn besiedelte Abchasien. Die georgische Einwanderung nach Abchasien wurde in der Anfangszeit der Sowjetunion unter Lawrenti Beria und Josef Stalin gefördert, sodass die Georgier bereits in den 1920er Jahren zur größten Bevölkerungsgruppe in Abchasien wurden, dabei jedoch nie die Marke von 50 % der Gesamtbevölkerung erreichten. Auch Russen, Armenier, Ukrainer, Aseris und andere Bevölkerungsgruppen wanderten in großer Zahl nach Abchasien ein. Ebenfalls bedeutend war die griechische Minderheit in Abchasien, die 1939 über 11 % der Gesamtbevölkerung ausmachte. Nach der Auflösung der Sowjetunion kam es im Verlauf des Sezessions­krieges zu ethnischen Säuberungen und Vertreibungen, die sich, besonders gegen Ende des Konflikts, hauptsächlich gegen Georgier richteten. 250.000 Bewohner Abchasiens, darunter zirka 200.000 Georgier, wurden vertrieben, mussten fliehen und kamen teilweise sogar bei Massakern ums Leben. Nur ein relativ kleiner Teil der georgischen Bevölkerungsgruppe kehrte seit dem Ende des Bürgerkriegs wieder zurück. Die Zahl der Georgier in Abchasien wächst seit einigen Jahren jedoch wieder kontinuierlich an. Die meisten ethnischen Georgier leben im Südteil des Landes, besonders im Rajon Gali, wo sie mit einem Anteil von 98,2 % an der Bevölkerung die klare Mehrheit darstellen, sowie im Rajon Tkuartschal (62,4 %). Ein signifikanter Teil der Georgier gehört der Subethnie der Mingrelier an. Die Rajons Gali und Tkuartschal liegen in östlicheren Teilen der historischen Region Samurzakan, in denen schon im 19. Jahrhundert mehrheitlich Mingrelisch (als Schriftsprache Georgisch) verwendet wurde. Einer Schätzung von Wissenschaftlern der University of Colorado Boulder zufolge machen Mingrelier fast die Hälfte der georgischen Gemeinschaft Abchasiens aus. Nach dem Krieg von 2008 kehren auch vermehrt Angehörige der abchasischen Diaspora aus der Türkei nach Abchasien zurück. Etwa 90 % der Einwohner haben Pässe der Russischen Föderation erhalten. Die Nachfrage nach georgischen Pässen in Abchasien ist relativ gering. Aufgrund der sehr begrenzten internationalen Anerkennung Abchasiens benötigen Bürger Abchasiens für die meisten Reisen ins Ausland eine weitere Staatsbürgerschaft. Sprachen In der de facto unabhängigen Republik Abchasien sind nur Abchasisch und Russisch Amtssprachen. Im öffentlichen Leben dominiert das Russische, auch unter ethnischen Abchasen. Russisch ist insbesondere auch die Sprache der Wirtschaft, Bildung und Medien und wird nahezu von der gesamten Bevölkerung beherrscht. Georgisch ist von der abchasischen Regierung nicht als Amtssprache anerkannt. Da Abchasien von der internationalen Gemeinschaft aber noch immer mehrheitlich als Teil Georgiens gesehen wird, ist Georgisch zumindest theoretisch ebenfalls Amtssprache. Anfragen bei Behörden auf Georgisch werden in der Regel jedoch konsequent ignoriert, offizielle Formulare nicht in dieser Sprache gedruckt oder bearbeitet. Abchasisch gehört zu den nordwestkaukasischen Sprachen, Russisch ist eine ostslawische Sprache. Beide Sprachen werden im kyrillischen Alphabet geschrieben, während Georgisch, ebenfalls eine kaukasische Sprache, mit der eigenen georgischen Schrift geschrieben wird. Unter dem Stalinismus wurde Abchasisch zwangsweise ebenfalls in georgischer Schrift geschrieben, die Rückkehr zum kyrillischen Alphabet erfolgte 1954. Abchasisch entwickelte sich erst Ende des 19. Jahrhunderts zu einer Schriftsprache, inzwischen gibt es aber eine eigene abchasische Literatur. Durch die über lange Zeit anhaltende Unterdrückung der Sprache beherrschen heute viele Abchasen nicht mehr die Sprache ihrer Vorfahren. Die UNESCO listet Abchasisch als „gefährdete“ Sprache. Seit der Zeit des Stalinismus war es in der Sowjetunion für Abchasen verpflichtend, sowohl Russisch als auch Georgisch zu lernen. Seit der Unabhängigkeit wird Georgisch in Abchasien als Fremdsprache so gut wie nicht mehr gelehrt und ist fast nur noch unter ethnischen Georgiern verbreitet. Im Süden des Landes, wo die Mehrheit der Bevölkerung georgischer Herkunft ist, existierten zahlreiche georgische Schulen, die jedoch stark unterfinanziert waren. 2021 schloss die abchasische Regierung die letzten georgischen Schulen, womit Georgisch seitdem nur noch als Fremdsprache unterrichtet wird. Viele Georgier in Abchasien besuchen daher entweder russische Schulen oder pendeln zum Schulbesuch über die Grenze nach Georgien. Ein großer Teil der in Abchasien lebenden Georgier sind Mingrelier, die als Subethnie der Georgier gelten. Ihre Sprache, das Mingrelische, ist daher ebenfalls in Abchasien verbreitet. Es unterscheidet sich teils deutlich vom Georgischen, dient in der Regel aber nicht als Schriftsprache. Mit der Zeitschrift Gal erscheint in Abchasien die nach eigenen Angaben weltweit einzige Zeitung in mingrelischer Sprache. Darüber hinaus werden in Abchasien zahlreiche Minderheitensprachen gesprochen, darunter insbesondere Armenisch. Für die armenische Minderheit gab es 2011 insgesamt 32 Schulen im Land. Weitere Minderheitensprachen sind Pontos-Griechisch, Estnisch, Rumänisch und Ukrainisch. Die estnische Minderheit siedelte sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Abchasien an. Religion Laut der letzten Volkszählung im Jahr 2003 sind 60 % der Bevölkerung Christen (Abchasisch-Orthodoxe Kirche, Russisch-Orthodoxe Kirche, Georgisch-Orthodoxe Kirche), 16 % Muslime, 8 % Atheisten, 8 % Anhänger traditioneller abchasischer Religionen oder Neopaganisten, 2 % Anhänger anderer Religionen. Aber nur ein relativ kleiner Teil der sich zu einer Religion bekennenden Personen übt diese Religion auch aktiv aus. In früheren Jahrhunderten war der Anteil der abchasischen Muslime deutlich höher, ein großer Teil von ihnen emigrierte im 19. Jahrhundert in das Osmanische Reich. Geschichte Antike Die frühesten archäologischen Funde lassen sich auf das 4. Jahrtausend v. Chr. datieren. Etwa seit dem 9. Jahrhundert v. Chr. gehörte die Region vielleicht zum Reich von Qulḫa, dessen Lokalisierung jedoch umstritten ist. Später gehörte sie zu Kolchis, das mit den Griechen intensiven Handel trieb. Im Rahmen der griechischen Kolonisation wurde dabei auch der Hafen von Dioskurias angelegt, das heutige Sochumi. Seit dem Jahr 63 v. Chr. gehörte Kolchis zum antiken georgischen Königreich Lasika, das im 1. Jahrhundert n. Chr. vom Römischen Reich und nach dessen Teilung von Ostrom bzw. Byzanz abhängig wurde. In der Zeit Kaiser Justinians I. im 6. Jahrhundert wurden die Abchasen zum Christentum bekehrt. Seit dem 7. Jahrhundert war das Land unabhängiges Fürstentum des Byzantinischen Reiches. Nach den Einfällen der Araber wurde es aber zeitweise auch diesen tributpflichtig. Königreich Egrisi-Abchasien Die Zugehörigkeit zu Byzanz behielt es bis ins 8. Jahrhundert. Um etwa 780 n. Chr. rief Leon II. das Königreich Abchasien aus, sagte sich von Byzanz los und erklärte sich selbst zum König Abchasiens. Zudem vertrieb er die letzten Araber aus dem Land. In den 780er Jahren konnte Leon II. seine Macht auf Egrisi ausdehnen und beide Königreiche vereinen. Lasika war zu dieser Zeit unbedeutend geworden und war bald Teil des Königreiches. Zu Egrisi-Abchasien gehörten Megrelien, Imeretien, Gurien, Adschara, Swanetien, Ratscha und Letschchumi (heute Teile der Provinz Ratscha-Letschchumi und Niederswanetien) sowie Argweti. Mitte des 9. Jahrhunderts war das Königreich stark genug, dem arabischen Kalifat keinen Tribut mehr zu zahlen. Egrisi-Abchasien versuchte daraufhin immer energischer, auch in Ostgeorgien Gebiete zu gewinnen. In den 860er Jahren konnte Innerkartlien besetzt werden, das man aber Ende des Jahrhunderts wieder verlor. Mitte des 10. Jahrhunderts hatte es sich das südgeorgische Dshawacheti einverleibt und im Norden wuchs der Einfluss auch auf die Osseten. Nun bedrohte es auch das noch junge Königreich Kachetien. Versuche unter König Leon Teile Heretiens zu erobern, waren aber erfolglos. Nach Thronstreitigkeiten um die Nachfolge Leons wurde als Kompromiss Bagrat III. aus der georgischen Bagratiden-Dynastie zum König Egrisi-Abchasiens und auch Tao-Klardschetiens, durch beider Vereinigung entstand das Königreich Georgien. Fürstentum Abchasien und mongolisch-türkische Herrschaft Nach dem Mongoleneinfall in Georgien 1235 blieb Abchasien von der mongolischen Herrschaft verschont. Jedoch wurde es mit dem Friedensvertrag von 1243 den Mongolen tributpflichtig. Nach einem Aufstand der Georgier gegen die Mongolen floh der georgische König Dawit Narin ins Exil nach Abchasien. Auch ein Aufstand im folgenden Jahr hatte keinen Erfolg und Dawit Ulu, der Anführer des zweiten Aufstandes, floh ebenfalls nach Abchasien. Er kehrte jedoch bald wieder zurück und wurde König von Georgien, als Vasall des Il-Chan-Reiches der Mongolen. Im 15. Jahrhundert entstand das Fürstentum Abchasien, das bis zur zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts eigenständig war. 1578 kam das Gebiet zwischen dem Hauptkamm des Kaukasus und dem Fluss Aras, das Aserbaidschan heißt, und Georgien sowie auch Abchasien, an das Osmanische Reich, das zwar 1639 Aserbaidschan und das östliche Georgien wieder verlor, das westliche Georgien und Abchasien aber weiterhin beherrschte. In der Folgezeit trat dann die Mehrheit der abchasischen Bevölkerung zum Islam über, auch wenn es nach wie vor größere Bevölkerungsteile gab, die am Christentum festhielten. Das Fürstentum Abchasien existierte jedoch auch innerhalb des Osmanischen Reichs weiter und konnte eine gewisse Autonomie bewahren. Zahlreiche mittelalterliche georgische Kirchen und Klöster, die nach der Vereinigung Abchasiens mit Georgien gebaut wurden, bezeugen die politische und vor allem kulturelle Verbundenheit der abchasischen Adelsschicht des Mittelalters zu Georgien. Abchasien im Russischen Reich Ab Ende des 18. Jahrhunderts stieß das russische Zarenreich Richtung Kaukasus vor. Das alte Königreich Georgien wurde 1801 russisch, die direkt westlich anschließenden Gebiete folgten in den Jahren darauf. Im Jahr 1810 fiel auch das Fürstentum Abchasien an das Russische Reich. Das teilautonome Fürstentum Abchasien existierte zunächst auch unter russischer Herrschaft weiter, wurde von Russland aber am Ende des Kaukasuskrieges 1864 endgültig beseitigt. Die Einwohner der eroberten Gebiete rebellierten mehrfach bewaffnet gegen die russischen Besatzer, so 1857 in Sugdidi und 1866 in Suchumi. Die Aufstände wurden jedoch niedergeschlagen. Die antimuslimische Politik der folgenden Jahre führte dazu, dass viele muslimische Abchasen in das Osmanische Reich auswanderten. Der genaue Ablauf der Migrationsbewegungen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ist bis heute nicht geklärt, aber zugleich ein Streitpunkt zwischen Georgiern und Abchasen und ihrer jeweiligen, von nationalen Interessen mitbestimmten Geschichtsschreibung. Die massive Auswanderung der Abchasen begann im Jahre 1867, als 20.000 Muslime ihre Heimat verließen. In einer zweiten Welle der Aussiedlung siedelten im Jahre 1877 31.964 Abchasen ins Osmanische Reich aus. Abchasien wurde dadurch teilweise entvölkert. In dieser Zeit wurde auf Veranlassung des Zaren die Liste der abchasischen Muhadschiren, darunter auch muslimische Georgier, in Russisch erstellt. Diese Liste betrug über 200 Seiten und ist ein einzigartiges historisches Dokument, das in russischen Archiven aufbewahrt wird. Im Jahre 1878 begann die russische Kolonisation Abchasiens, so wurden etwa in Pizunda zahlreiche russische Familien angesiedelt. Dazu kamen mehrere Familien russischer Soldaten in anderen Teilen Abchasiens. Außerdem ließen sich auch Kolonisatoren aus anderen Teilen des russischen Reichs in Abchasien nieder, darunter etwa mehrere hundert Esten und Ukrainer. Den Abchasen war zeitweise die Ansiedlung in Küstennähe untersagt. Enteignete Besitztümer wurden häufig russischen Funktionären und Siedlern übertragen. Infolgedessen nahm der Anteil der nicht-abchasischen Bevölkerung in der Region zu. Auch Georgier zogen nun in größeren Zahlen nach Abchasien. Noch in den Volkszählungen 1886 und 1897 stellten Abchasen aber noch immer die Mehrheit in der Region, wenn auch der genaue Anteil durch die getrennte Erhebung der abchasisch-mingrelischen „Samurzakanier“ 1886 nicht bestimmbar ist, 1897 lag er bei 55,3 %. Zur Volkszählung 1886 waren etwa 1,6 % der Einwohner Abchasiens Russen. Georgier und Mingrelier (ohne den mingrelischsprachigen Anteil der Samurzakanier) stellten zusammen 6,1 %. Daneben machte die griechische Minderheit etwa 3,1 % der Bevölkerung aus, andere Bevölkerungsgruppen stellten den Rest. Schon Ende des 19. Jahrhunderts begann sich Abchasien zudem zu einem Touristengebiet zu entwickeln, das damals hauptsächlich noch von russischen Adligen frequentiert wurde. Im Zuge des Ersten Weltkriegs und der Oktoberrevolution 1917 zerfiel das Russische Reich allerdings. Zwischenkriegszeit und Zugehörigkeit zur Sowjetunion Nach der russischen Oktoberrevolution gab es in Abchasien Versuche, sich in die kurzlebige Nordkaukasische Bergrepublik zu integrieren, was jedoch scheiterte. Am 9. Februar 1918 traf der abchasische Volkssowjet mit dem nationalen Rat der neugegründeten Demokratischen Republik Georgien eine Vereinbarung zur Regelung ihrer Beziehungen. Die Existenz eines „unteilbaren Abchasien in den Grenzen vom Fluss Ingur bis zum Fluss Msymta“ wurde dabei auch von Georgien anerkannt. Der neue georgische Staat schickte jedoch bereits im Juni 1918, mit Unterstützung des deutschen Kaiserreichs, Truppen nach Abchasien, die die Region besetzten. Abchasien wurde nun Teil des neuen georgischen Staats. In der abchasischen Geschichtsschreibung wird dies als gewaltsame Annexion Abchasiens durch Georgien aufgefasst. Georgische Historiker sprechen im Gegensatz dazu zumeist von der „Wiederherstellung der Einheit Georgiens“. Nach der georgischen Parlamentswahl 1919 kam es wegen wirtschaftlicher, interethnischer und sozialer Spannungen, vor allem aber wegen des Fehlens einer modernen Agrarreform, zu bewaffneten Bauernaufständen und ethnischen Konflikten in Abchasien und auch in Südossetien. Sie wurden von bolschewistischen Kräften zum Teil gezielt unterstützt. Die damalige georgische Regierung ging hart gegen bolschewistische und separatistische Bewegungen vor, die insbesondere in Abchasien Zustimmung fanden. Abchasien wurden im Jahr 1921 zwar noch gewisse Autonomierechte gewährt, doch schon im März 1921 besetzte die 9. Armee der Roten Armee die gesamte Demokratische Republik Georgien und damit auch Abchasien, das nun Teil der Sowjetunion wurde. Abchasische SSR Am 28. März 1921 wurde die Abchasische Sozialistische Sowjetrepublik (Abchasische SSR) auf einer gemeinsamen Sitzung des Kaukasischen Büros der KPdSU gegründet. Sie war nun eine eigenständige Sowjetrepublik, die unabhängig von der georgischen Sowjetrepublik und rechtlich mit allen anderen Sowjetrepubliken gleichgestellt war. Die erste Regierung des sowjetischen Abchasiens wurde von Nestor Lakoba angeführt. Abchasien wurde auch 1922 bei der Bildung der Transkaukasischen Föderativen Sowjetrepublik als mit den anderen Teilrepubliken gleichberechtigter Bestandteil der Union behandelt. In jener Zeit entstand erstmals in größerem Umfang eine abchasische Literatur, die Region entwickelte sich zudem zunehmend zu einer der populärsten Touristenregionen der Sowjetunion, teilweise wurde Abchasien als „rote Riviera“ bezeichnet. Bis 1926 stieg die Einwohnerzahl Abchasiens auf über 200.000 Einwohner. Abchasien als Teil der Georgischen SSR Auf Befehl Josef Stalins wurde 1931 die Abchasische SSR innerhalb der georgischen Unionsrepublik als Abchasische Autonome Sozialistische Sowjetrepublik eingegliedert. Offiziell wurde dies durch die mangelhaften Erfolge der abchasischen Führung bei der Kollektivierung der Landwirtschaft begründet. Wenige Wochen später, Mitte Februar 1931, kam es zu einem Aufstand der abchasischen Bevölkerungsteile, die gegen die zwangsweise Kollektivierung der Landwirtschaft und die Beschneidung der abchasischen Traditionen aufbegehrte. Die Führung der kommunistischen Partei Abchasiens unter dem Abchasen Nestor Lakoba nahm zunächst Verhandlungen auf und verhielt sich abwartend. Die Aufständischen versuchten auch, mehr oder weniger vergeblich, Bewohner anderer Ethnien, wie Armenier, Russen oder Georgier, auf ihre Seite zu ziehen. Lakoba versuchte auf der einen Seite, den Konflikt friedlich zu lösen und Konzessionen an die Aufständischen zu machen, auf der anderen Seite jedoch, gegenüber der Moskauer Parteiführung sein Gesicht zu wahren. Der Konflikt endete mit einer nächtlichen Verhaftung der Aufständischen. Nach dem Anschluss Abchasiens an die georgische Unionsrepublik wurden die kulturellen Rechte der Abchasen beschnitten und Bestrebungen nach Wahrung der nationalen Identität als konterrevolutionär bestraft. In der abchasischen Geschichtsschreibung wird vermutet, dass während des Stalinismus eine gezielte Bevorzugung der Georgier stattgefunden hat, da zahlreiche prominente sowjetische Politiker, darunter Stalin und Lawrenti Beria, georgischer Nationalität waren. Es wird von abchasischer Seite vermutet, dass bereits der Anschluss Abchasiens an die georgische Unionsrepublik in Zusammenhang mit der georgischen Herkunft Berias und Stalins stand, was jedoch umstritten ist. Auf Initiative Lawrenti Berias setzte eine repressive „Georgisierungspolitik“ ein, die Bevölkerungsverhältnisse änderten sich zugunsten der Georgier, bedingt durch systematische Ansiedlungen georgischer Siedler. Zum Schuljahr 1945/46 wurden alle abchasischsprachigen Schulen geschlossen, abchasische Schüler mussten georgischsprachige Schulen besuchen. Die abchasische Sprache, sofern sie überhaupt noch in der Öffentlichkeit verwendet werden durfte, wurde zwangsweise auf das georgische Alphabet umgestellt. Die meisten abchasischen Publikationen mussten ihre Veröffentlichung einstellen. Den stalinistischen Säuberungen fiel in Abchasien ein großer Teil der Intelligenzija zum Opfer. 1936 wurde der populäre abchasische Parteisekretär Nestor Lakoba auf Anweisung von Lawrenti Beria vergiftet. Lakoba hatte bis dahin als Fürsprecher der Abchasen einen gewissen Einfluss besessen. Jahrhunderte alte abchasische Dörfer wurden umbenannt und erhielten georgische Namen. Auch Familiennamen wurden georgisiert. Die Abchasen wurden zur Minderheit im eigenen Land. 1949 wurde auch die altansässige griechische Minderheit Abchasiens nach Zentralasien deportiert (1939 etwa 11 % der Bevölkerung) und dafür georgische Siedler ins Land geholt. 1952 waren 80 % der führenden Parteimitglieder in Abchasien ethnische Georgier. In der abchasischen Öffentlichkeit werden die Repressionen der Sowjetzeit heute insbesondere mit Georgien und der Führung der Georgischen SSR in Tiflis verbunden und weniger mit der sowjetischen Zentralmacht in Moskau. Nach Stalins Tod und Berias Hinrichtung im Jahr 1953 wurde im Zuge der Tauwetter-Periode ein großer Teil der repressiven Maßnahmen gegen Abchasen wieder aufgehoben, sie konnten wieder in größerem Umfang am politischen Leben teilnehmen. Abchasische Schulen wurden wiedereröffnet, Zeitungen konnten erneut erscheinen. Auch die griechische Minderheit durfte wieder zurückkehren. 1959 hatte Abchasien über 400.000 Einwohner, von denen nur noch 15,1 % Abchasen waren und denen etwa 39 % Georgier gegenüberstanden. Der Rest der Bevölkerung bestand insbesondere aus Russen (21 %) und Armeniern (16 %). Wirtschaftlich entwickelte sich die Region nach dem Zweiten Weltkrieg äußerst erfolgreich. Eine letzte sowjetische Volkszählung im 1989 ergab für Abchasien eine Bevölkerungsverteilung von 45 % Georgiern und 18 % Abchasen. Immer wieder kam es zu Spannungen in Abchasien. 1978 wurden unter der Anschuldigung des Nationalismus mehrere Abchasen verhaftet, die sich öffentlich gegen eine repressive Politik gegenüber dem abchasischen Volk ausgesprochen hatten. Unter dem Einfluss der Gorbatschowschen Reformpolitik (Glasnost und Perestroika) erstarkten nationalistische Kräfte überall in der gesamten Sowjetunion. Auch unter Georgiern und Abchasen war dies der Fall, der Konflikt zwischen beiden Volksgruppen verschärfte sich ab Ende der 1980er-Jahre. Die georgische Nationalbewegung versuchte immer offener ihr Ziel einer Loslösung von der Sowjetunion zu erreichen, während die Abchasen dem ablehnend gegenüberstanden. Im Gegenzug dazu forderten sie eine Trennung von der georgischen Sowjetrepublik und die Wiederherstellung des Status als eigenständige Unionsrepublik. 1989 demonstrierten im abchasischen Lychny rund 30.000 Menschen für eine Trennung Abchasiens und Georgiens, was Gegenproteste ethnischer Georgier nach sich zog. Kurz vor dem Zerfall der Sowjetunion hatte Abchasien etwa 525.000 Einwohner. Postsowjetische Zeit Die Georgische SSR war eine der ersten Unionsrepubliken, die sich von der Sowjetunion lossagte. Erster Staatspräsident wurde der Nationalist Swiad Gamsachurdia, der eine sehr minderheitenfeindliche Politik verfolgte. In mehrheitlich von Minderheiten bewohnten Regionen, insbesondere in Abchasien und Südossetien, war die Lage ohnehin bereits angespannt. Es begannen dort nun größere Unruhen und Massendemonstrationen. Unter Gamsachurdias Führung stürzte ganz Georgien schließlich in einen Bürgerkrieg und mehrere Gebietsabspaltungen, auch in der mehrheitlich von ethnischen Georgiern bewohnten Region Adscharien. Auch in Abchasien eskalierte die Situation, die Forderungen nach staatlicher Unabhängigkeit wurden dort immer lauter. Neben den Abchasen sahen auch große Teile der in Abchasien lebenden Armenier, Russen und Ukrainer ihre Rechte in einem neuen georgischen Nationalstaat als bedroht an. Aus Protest gegen die Politik Georgiens solidarisierten sich daher die meisten nicht-georgischen Bewohner Abchasiens mit den Abchasen. Sezessionskrieg Zuspitzung der Krise ab 1989 und Ausrufung der Unabhängigkeit Bevor sich Georgien im April 1991 von der Sowjetunion lossagte, kam es im Juli 1989 zu den schwersten Unruhen und interethnischen Konflikten in Abchasien seit den 1920er-Jahren. Anlass war die geplante Eröffnung einer Filiale der Staatlichen Universität Tiflis in der abchasischen Hauptstadt. Das Thema der Universität in Abchasien war damals ein äußerst sensibles Problem. Es gab in der Region keine einzige vollwertige Universität, das Pädagogische Institut Suchumi war jedoch eine universitätsähnliche Hochschule, an der dreisprachig (abchasisch, russisch, georgisch) unterrichtet wurde. Der georgische Teil des Instituts sollte herausgelöst werden und in eine neugegründete Filiale der Tiflisser Universität überführt werden. Georgien steuerte zu diesem Zeitpunkt bereits erkennbar auf einen Austritt aus der Sowjetunion zu. Diese Entwicklung wurde von Abchasen mehrheitlich mit Skepsis gesehen. Im multiethnischen Abchasien waren öffentliche Einrichtungen meist mehrsprachig. Schon Monate zuvor hatte auf Druck der immer stärker werdenden georgischen Nationalbewegung ein Trend begonnen, bei dem der georgische Teil bestehender öffentlicher Institutionen abgetrennt und in separate Einrichtungen mit spezifisch georgisch-nationalem Charakter überführt wurde. Mit diesen Maßnahmen bezweckte man eine Reduzierung des Einflusses der sowjetischen Zentralmacht. Im Laufe des Jahres 1989 wurden etwa das städtische Theater oder Sportvereine anhand ethnischer Trennlinien aufgeteilt. Die Tatsache, dass die wichtigste und einzige höhere Bildungseinrichtung Abchasiens nun ebenfalls geteilt werden sollte und nur der georgische Teil künftig den prestigeträchtigen Titel „Universität“ führen sollte, löste unter Abchasen und anderen Nicht-Georgiern eine Welle der Empörung aus. Nach Beschwerdebriefen an den Obersten Sowjet der UdSSR wurde die Teilung von oberster sowjetischer Stelle untersagt. Die lokale georgische Führung ignorierte jedoch die Anweisungen aus Moskau. 30.000 national gesinnte Georgier aus allen Teilen des Landes traten unter der Führung von Merab Kostawa einen „Marsch nach Suchumi“ an, um die Aufteilung der Universität zu unterstützen, während in Suchumi andererseits antigeorgische Demonstrationen mit Tausenden von Teilnehmern stattfanden. Weil die Lage bereits so angespannt war und ein Gewaltausbruch befürchtet wurde, versuchte man in Abchasien die Waffen privater Waffenbesitzer einzuziehen. Nichtsdestoweniger begann am 12. Juli mit der Erstürmung einer georgischen Zeitung in Suchumi durch abchasische Demonstranten eine Gewaltspirale, die über eine Woche anhielt, bis schließlich sowjetische Truppen die Ordnung wiederherstellen konnten. Es kam zu Straßenschlachten zwischen georgischen Nationalisten auf der einen Seite und abchasischen Nationalisten, teilweise unterstützt von lokal ansässigen Armeniern und Russen, auf der anderen Seite. Bis Ende Juli kamen 18 Menschen ums Leben, 448 wurden verletzt. Die Juli-Ereignisse ließen bereits einen bald bevorstehenden Krieg in Abchasien erahnen. Die Bestrebungen nach einer Sezession von Georgien wurden in Abchasien spätestens 1991 zum bestimmenden Thema der dortigen Politik. Der georgische Präsident Swiad Gamsachurdia wurde zwar im Januar 1992 durch einen Militärputsch gestürzt, doch dessen Anhänger waren weiterhin in ganz Georgien aktiv und sorgten insbesondere auch in Abchasien für immer stärkere Unruhe. Viele Abchasen befürchteten in einem unabhängigen Georgien kulturelle Unterdrückung wie zur Zeit des Stalinismus. Fast alle nicht-georgischen Bewohner Abchasiens, darunter insbesondere auch Russen, Armenier, Ukrainer und Griechen, unterstützten bis zuletzt einen Verbleib bei der Sowjetunion. Die Sowjetunion löste sich jedoch mit der Erklärung von Alma-Ata im Dezember 1991 endgültig auf. Nachdem zuvor Georgien alle Verträge, die in der Sowjetzeit (1921–1991) unterzeichnet worden waren, für nichtig erklärt hatte, rief der Vorsitzende des Obersten Sowjets Abchasiens, Wladislaw Ardsinba, am 23. Juli 1992 die Unabhängigkeit Abchasiens von Georgien aus. Er versuchte gleichzeitig, Unterstützung aus Russland zu mobilisieren und stellte Kontakte zu zahlreichen russischen Militärs und Politikern her, darunter etwa Ruslan Chasbulatow und Alexander Ruzkoi. In Abchasien wurden nun eigene Milizen gebildet, Georgien verlor innerhalb kurzer Zeit die Kontrolle über den Großteil Abchasiens. Offener Krieg Georgien wollte dies jedoch nicht hinnehmen und versuchte Abchasien unter Einsatz militärischer Gewalt wieder in seinen Staatsverband einzugliedern. Am 14. August 1992 rückten georgische Einheiten unter dem Befehl des damaligen Verteidigungsministers Tengis Kitowani über die abchasisch-georgische Grenze vor. Die Abchasen leisteten Widerstand, gleichzeitig sprach Wladislaw Ardsinba im öffentlichen Fernsehen über eine Aggression Georgiens gegen den „unabhängigen abchasischen Staat“ und rief die Abchasen auf, die Georgier mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln zu bekämpfen. Die abchasischen Truppen waren anfangs schlecht ausgerüstet und organisiert, weshalb die georgischen Truppen die Hauptstadt Sochumi schon am 18. August vollständig einnehmen und die Abchasen stark zurückdrängen konnten. Unter der Führung von Schiuli Schartawa versuchte man in Abchasien eine Georgien gegenüber loyal eingestellte Regierung zu installieren. Bis September 1992 konnte Georgien über Gagra bis zur russischen Grenze bei Sotschi vorstoßen und das von Abchasen kontrollierte Gebiet in zwei Teile zerschlagen: Ein größeres Gebiet um die Stadt Gudauta und eine kleinere Enklave um Tqwartscheli, eine Hochburg der Abchasen. Tkwartscheli, eine Stadt mit hohem russischen Bevölkerungsanteil, wurde belagert, woraufhin in der Stadt eine humanitäre Krise ausbrach. Russland versorgte die Stadt daraufhin über eine Luftbrücke und flog Zivilisten aus. Nachdem die georgische Armee große Teile Abchasiens unter ihre Kontrolle gebracht hatte, kam es dort zu Plünderungen, Zerstörungen abchasischer Kulturdenkmäler und schweren Ausschreitungen gegen nicht-georgische Zivilisten. Laut Human Rights Watch sollen georgische Truppen in dieser Phase des Krieges aktiv an ethnischen Säuberungen gegen Abchasen beteiligt gewesen sein. Besonders paramilitärische Einheiten wie die Sakartwelos Mchedrioni waren in Verbrechen verwickelt. Viele in Abchasien lebende Russen, Armenier und Angehörige anderer Minderheiten, die bereits vorher mit den Abchasen sympathisierten, ergriffen nun aktiv Partei gegen Georgien und schlossen sich den abchasischen Truppen an. Besonders Armenier kämpften in großer Zahl auf abchasischer Seite und bildeten eigene Bataillone. Unterstützung bekamen die Abchasen auch von Kosaken und der Konföderation der Kaukasusvölker. Freiwillige aus dem Nordkaukasus und aus anderen Teilen Russlands reisten nach Abchasien, um dort den Unabhängigkeitskampf der Abchasen zu unterstützen. Zu den Freiwilligen in Abchasien sollen auch tschetschenische Guerillas unter dem Kommando des späteren Topterroristen Schamil Bassajew gehört haben, der in dieser Zeit sogar kurzzeitig zum stellvertretenden Verteidigungsminister Abchasiens aufstieg. Die abchasische Armee war von der georgischen Offensive im Sommer überrascht worden und hatte sich bislang eher zurückgezogen, als sich größeren Kämpfen zu stellen. Im Oktober 1992, inzwischen unterstützt von zahlreichen Freiwilligen, gingen die Abchasen erstmals selbst in die Offensive. Unter hohen Verlusten nahmen sie die Stadt Gagra ein und vertrieben georgische Einheiten aus dem gesamten Norden Abchasiens. Hier begingen nun Abchasen ebenfalls schwere Kriegsverbrechen und es kam zu ethnischen Säuberungen. Tausende Georgier flohen über die russische Grenze, von wo aus sie nach Georgien weitertransportiert wurden. Im Laufe des Jahres 1993 erlitt Georgien schwere Niederlagen in Abchasien. Schon im Frühjahr 1993 begannen die Abchasen mit der Vorbereitung einer Offensive, um Suchumi einzunehmen. Bis zum Sommer war Suchumi von zwei Seiten eingekreist worden. Am 27. Juli wurde jedoch unter russischer Vermittlung ein Waffenstillstandsabkommen zwischen den beiden Kriegsparteien ausgehandelt, das zunächst hielt. Im August 1993 brach in Westgeorgien ein bewaffneter Aufstand der Anhänger von Ex-Präsident Swiad Gamsachurdia aus, der am 24. September aus dem Exil zurückkehrte. Ausgehend von Sugdidi konnten die Gamsachurdia-Rebellen innerhalb weniger Wochen bedeutende Städte wie Poti und Senaki einnehmen, bis kurz vor Kutaissi vordringen und in den noch von Georgien kontrollierten Teil Abchasiens einrücken, wo sie unter anderem die wichtige Stadt Gali eroberten. Die regulären georgischen Einheiten in Suchumi waren nun vom Nachschub auf dem Landweg abgeschnitten, konnten nur via Seeweg versorgt werden und waren nun eingekreist: auf der einen Seite von Abchasen, auf der anderen Seite von Gamsachurdia-Anhängern. Georgien vertraute auf den Waffenstillstand mit den Abchasen und zog schwere Waffen aus Suchumi ab, teils um den Bedingungen des Waffenstillstands Folge zu leisten, teils um auf der anderen Seite der Front gegen Gamsachurdias Truppen vorzugehen. Georgien versank nun im Chaos. Neben Abchasien führte es noch immer einen weiteren Krieg gegen bewaffnete Separatisten in Südossetien und nun auch gegen die Gamsachurdia-Anhänger, zudem hatte sich der muslimisch geprägte Landesteil Adscharien ebenfalls faktisch abgespalten. Die Abchasen hielten sich anfangs an das Abkommen. Mit der schweren Krise Georgiens sahen sie aber im September 1993 eine völlig unverhoffte Chance, ihr vorher nicht mehr realistisches Kriegsziel der vollständigen Eroberung Abchasiens doch noch zu erreichen. Am 16. September 1993 brachen die Abchasen den Waffenstillstand und begannen mit einer Großoffensive auf Suchumi, das sie nach elf Tagen intensiver Kämpfe einnehmen konnten. Mit dem Fall Suchumis brach die georgische Front in Abchasien zusammen. Aus Angst vor Rache floh ein Großteil der ethnischen Georgier aus Abchasien. Zurückbleibende Georgier wurden auch teils Opfer weiterer schwerer Übergriffe. So kam es nach der Niederlage in Suchumi zu einem brutalen Massaker an der georgischen Zivilbevölkerung. Bis zum 30. September rückten die Abchasen bis an die Grenze des ehemals sowjetischen Abchasiens am Fluss Egry / Enguri vor, lediglich im dünn besiedelten Kodori-Tal konnte Georgien, gestützt auf lokale Warlords, eine Präsenz erhalten. Damit endeten die offenen Kampfhandlungen. Der Krieg dauerte etwas über ein Jahr und führte zu schwersten Kriegsverbrechen auf beiden Seiten. Human Rights Watch geht von 4000 Toten auf der Seite der Abchasen sowie weiteren 4000 toten Georgiern aus. Insgesamt mussten durch den Konflikt rund 250.000 Menschen fliehen. Der Großteil der Flüchtlinge, etwa 200.000, war dabei georgischer Herkunft. Die meisten georgischen Flüchtlinge strandeten in Tiflis, viele von ihnen konnten später aber wieder nach Abchasien zurückkehren. Heute leben dort wieder mehr als 46.000 Georgier, bevorzugt in der Provinz Gali, wo sie die Mehrheit der Bevölkerung bilden. Am 14. Mai 1994 wurde nach drei vergeblichen Anläufen unter Vermittlung der Vereinten Nationen ein Waffenstillstand vereinbart. Er sah vor, dass Abchasien eine eigene Flagge, ein Wappen und eine eigene Verfassung haben darf. Fortan sorgten 1500 russische Soldaten als Friedenstruppe der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) für die Einhaltung des 1994 geschlossenen Waffenstillstandes zwischen Georgiern und Abchasen. Die Einhaltung des Abkommens wurde durch eine 121-köpfige United Nations Observer Mission in Georgia (UNOMIG) überwacht. Deutschland stellte mit elf Soldaten ebenfalls ein Kontingent der Mission. Obschon Russland offiziell nicht involviert war, starben 46 russische Soldaten, und mehrere Flugzeuge und Hubschrauber mit russischen Piloten wurden abgeschossen. Friedensverhandlungen Wiederholt wurde vergeblich unter der Schirmherrschaft der Vereinten Nationen über eine Beendigung des Konflikts verhandelt. Dabei ging es um eine Rückführung der Flüchtlinge und eine politische Lösung auf der Basis der territorialen Integrität Georgiens. Das scheiterte jedoch an der De-facto-Regierung Abchasiens, die stets auf einer völligen Unabhängigkeit beharrte. Im Oktober 2001 entbrannte der bewaffnete Konflikt zwischen georgischen Partisanen und abchasischen Sicherheitskräften in der georgisch-abchasischen Grenzregion erneut. Die im Juli 2002 vom UN-Sicherheitsrat verabschiedete Abchasien-Resolution, die einen Verbleib als autonome Republik im Staat Georgien vorsah, gründet auf Vorschlägen des deutschen Diplomaten Dieter Boden, der von 1999 bis 2002 UNOMIG leitete. Obgleich regelmäßige Verhandlungen zur Beilegung des Konfliktes zwischen Abchasien und Georgien stattfanden, brachten sie keinen Durchbruch. Kofi Annan, ehemals Generalsekretär der Vereinten Nationen, rief Abchasien auf, die georgische Rosenrevolution für einen neuen Verhandlungsstart zu nutzen. Die EU zeigte sich in der Erklärung des Vorsitzes des Rates der Europäischen Union vom 24. Juli 2006 sehr besorgt über die damalige Entwicklung in Abchasien, begrüßte die möglichst baldige Entsendung einer UN-Polizeitruppe und erklärte sich bereit, aktiv zum Friedensprozess beizutragen. Im Süden Abchasiens, der nach wie vor mehrheitlich von Georgiern bewohnt ist, kam und kommt es immer wieder zu Sabotageakten, die teils von Georgien aus finanziert oder unterstützt wurden. Anfang Mai 2008 wurden von russischer Seite die Truppen auf 2500 Mann aufgestockt. Damit näherte sich das russische Kontingent der Höchstgrenze von 3000 Mann. Georgien kritisierte den Schritt als gegen seine Souveränität gerichtet und äußerte den Wunsch, aus dem gemischten Kontrollgremium, bestehend aus Russland, Georgien und Nord- und Südossetien, auszutreten. Diesen Wunsch lehnten die anderen Mitglieder des Gremiums 2008 ab. Kaukasuskrieg Im März und April 2008 kam es erneut zu Spannungen, und am 20. April wurde ein georgisches unbemanntes Flugzeug („Drohne“) über abchasischem Gebiet abgeschossen. Die Drohne wurde von einem russischen Kampfjet abgeschossen, was zunächst vom russischen Außenministerium bestritten wurde, das den Flug der Drohne als „militärischen Akt“ und Verstoß gegen das Waffenstillstandsabkommen bezeichnete. Untersucher der UNOMIG bestätigten drei weitere Abschüsse von georgischen Drohnen vom Typ Elbit Hermes 450 der israelischen Firma Elbit Systems im März 2008. Der UN-Sicherheitsrat, der den Abschuss ebenso bestätigte, betonte, sowohl der Abschuss der Drohne durch ein russisches Kampfflugzeug als auch der Einsatz von Drohnen durch die georgische Seite verstießen gegen das Moskauer Abkommen von 1994, das nur die Präsenz von Friedenstruppen der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten in Abchasien erlaubte. Der georgische Botschafter bei den Vereinten Nationen, Irakli Alassania, erklärte, dass Georgien durch die Untätigkeit der UNOMIG-Friedenstruppe in dieser Hinsicht zu solchen Aufklärungsflügen gezwungen gewesen sei, um abchasische und russische Truppenbewegungen auf abchasischem Gebiet im Interesse der eigenen nationalen Sicherheit im Auge zu behalten, diese aber in Zukunft einstellen wolle. Alassania warf der Friedenstruppe vor, ihre Aufgabe nicht hinreichend zu erfüllen, so dass seit 1994 bereits mehr als 2000 georgische Zivilisten ums Leben gekommen und 8000 georgische Haushalte in Abchasien zerstört worden seien. Unter dem Deckmantel der Friedenstruppen stationiere Russland immer mehr Truppen in Georgien, obwohl diese keine Friedensmission wahrnähmen. Die Zahl der in Abchasien lebenden Georgier nahm in den letzten Jahren nicht ab, sondern stieg sogar. Die abchasische Regierung bemühte sich in den letzten Jahren auch, georgischstämmige Bewohner des Landes mit abchasischen Pässen auszustatten, damit sie an der abchasischen Politik teilhaben können – jedoch unter der Bedingung, dass sie ihre georgische Staatsbürgerschaft ablegen. Im Jahr 2008 kam es in der ebenfalls von Georgien abtrünnigen Region Südossetien zu einem bewaffneten Konflikt, als Georgien mit militärischen Mitteln versuchte, die Region unter seine Kontrolle zu bringen. Russland griff dabei auf Seite Südossetiens in den Konflikt ein. Am 8. August 2008 brachen bis zum 10. August auch Kämpfe an der abchasisch-georgischen Grenze in der Kodori-Schlucht aus, die zu diesem Zeitpunkt von Georgien gehalten wurde. Die abchasischen Behörden verfügten eine Mobilmachung der Armee, und die russischen Truppen im Gebiet wurden verstärkt. In diesem Zusammenhang verlegte Russland mehr als 9000 zusätzliche Soldaten nach Abchasien, obwohl das Abkommen von 1994 nur russische Truppen bis zu einer Stärke von 3000 Mann zulässt. Am 12. August gab der russische Präsident Medwedew den Abschluss der Militäraktionen bekannt. Georgien verlor in dem Konflikt jegliche Kontrolle über Abchasien und Südossetien. Im Jahr 2014 standen im Gebiet mindestens 5000 russische Soldaten und kontrollieren de facto das Gebiet. Im selben Jahr unterzeichnete Russland ein umfassendes Kooperationsabkommen mit Abchasien, das unter anderem Finanzhilfen aus Moskau und die Einrichtung gemeinsamer Streitkräfte beinhaltet. Eine weitere Vereinbarung aus dem Jahr 2016 ermöglichte die Errichtung einer russischen Militärbasis in Abchasien. Demnach erhielt das russische Verteidigungsministerium auch das Recht, in Kriegszeiten die Befehlsgewalt über die Armee zu übernehmen. Internationale Anerkennung Am 26. August 2008 ratifizierte der russische Präsident Medwedew den an den vorherigen Tagen einstimmig gefassten Beschluss der beiden Kammern des russischen Parlaments, Abchasien gleichzeitig mit Südossetien als selbständigen Staat anzuerkennen. Er bezeichnete diesen Schritt als direkte Folge des vorangegangenen militärischen Konflikts, der es Südosseten und Abchasen unmöglich gemacht habe, mit den Georgiern weiterhin in einem Staat zusammenzuleben. Der Präzedenzfall des Kosovo wurde von Seiten hoher russischer Staatsbeamter ebenfalls erwähnt. Zugleich rief Medwedew weitere Staaten dazu auf, diesem Beispiel zu folgen. Als zweites Land nach Russland erkannte Nicaragua am 3. September die Unabhängigkeit Abchasiens und Südossetiens an. Staatspräsident Daniel Ortega erklärte dies auf einer offiziellen Veranstaltung vor der Armeeführung seines Landes. Am 10. September 2009 erklärte der venezolanische Präsident Hugo Chávez bei einem Besuch in Moskau, sein Land erkenne Abchasien und Südossetien ab sofort als unabhängige Staaten an. Mit dem Ende des UNOMIG-Mandates im Juni 2009, nach russischem Veto zu einer erneuten Verlängerung, verließen die letzten Militärbeobachter im Oktober 2009 das Land. Am 15. Dezember 2009 erfolgte die Anerkennung Abchasiens durch den Pazifikstaat Nauru, kurz nachdem Präsident Bagapsch bei der Präsidentschaftswahl am 12. Dezember 2009 im Amt bestätigt worden war. Nauru erhielt zeitgleich russische Finanzhilfen für soziale und ökonomische Projekte im Umfang von 50 Millionen Dollar zugesprochen. Vanuatu erkannte unter Premierminister Sato Kilman im Frühjahr 2011 die Unabhängigkeit Abchasiens zunächst an. Nachdem der Oberste Gerichtshof des Landes Satos Wahl jedoch für ungültig erklärt hatte, nahm sein Vorgänger und Nachfolger Edward Natapei die Anerkennung Abchasiens am 19. Juni 2011 wieder zurück. Ende 2011 bestätigte jedoch die Regierung Vanuatus erneut, dass sie Abchasien anerkannt habe. Im Mai 2013 wurde die Anerkennung unter Moana Carcasses Kalosil ein zweites Mal zurückgezogen. Am 29. Mai 2018 erkannte die Regierung Syriens unter Baschar al-Assad die Unabhängigkeit Abchasiens an. Damit erkennen nur fünf UN-Mitgliedsstaaten die Unabhängigkeit Abchasiens an. Mit den international ebenfalls nicht bzw. nur von wenigen Staaten anerkannten postsowjetischen Republiken Transnistrien, Arzach und Südossetien unterhält Abchasien ebenfalls diplomatische Beziehungen. Jüngste Entwicklung Russland zahlt an Abchasien jährliche hohe Beträge an Entwicklungshilfe, die Einwohnerzahl steigt inzwischen wieder kontinuierlich an. Die Präsidentschaftswahl 2011 wurde von Wahlbeobachtern trotz der schwierigen Rahmenbedingungen (geringe internationale Anerkennung, geltende Handelsembargos) als frei und demokratischen Grundsätzen entsprechend gewertet. Vor der Wahl wurden eigens 9000 abchasische Pässe an georgischstämmige Bewohner der Region Gali verteilt, damit diese ebenfalls zur Wahl gehen konnten. Während der Tourismus in Abchasien ein starkes Wachstum erlebt hatte, stagnierte die wirtschaftliche Entwicklung, sowohl aufgrund der politischen Isolation als auch aufgrund von Misswirtschaft und Korruption. Die Region ist auf Importe aus dem benachbarten Russland angewiesen, ein Großteil des Staatshaushalts wird ebenfalls von Russland finanziert. Ende Mai 2014 kam es in Abchasien zu Massenprotesten gegen die damalige Regierung von Präsident Alexander Ankwab. Demonstranten stürmten schließlich dessen Sitz und forderten seinen Rücktritt. Die Opposition erklärte den Präsidenten für abgesetzt, woraufhin ein Machtkampf zwischen den politischen Kräften drohte. Am 1. Juni gab schließlich Ankwab seinen Rücktritt bekannt. Als sein interimistischer Nachfolger wurde Parlamentspräsident Waleri Bganba eingesetzt, für den 24. August 2014 wurden Präsidentschaftswahlen angekündigt. Bei der anschließenden Wahl setzte sich schließlich Raul Chadschimba mit 50,5 % der Wählerstimmen als neuer Präsident durch. Einige Politiker in Russland möchten Abchasien langfristig in die Eurasische Union aufnehmen. Dazu wäre es allerdings nötig, dass alle ihrer Mitgliedsstaaten, darunter auch Belarus, Kasachstan und Armenien, die Unabhängigkeit des Landes ebenfalls anerkennen. Dies brächte diese Länder in eine offene Konfrontation mit Georgien. Vorerst beschränkt sich Russland daher auf eine verstärkte Kooperation mit Abchasien, etwa im militärischen Bereich. Georgien lehnt dies weiter ab, da dies die Trennung der Region von Georgien weiter zementieren würde. Im November 2014 wurde ein „Abkommen über Bündnis und strategische Partnerschaft“ in Sotschi unterzeichnet. Das Abkommen sieht auch die Bildung gemeinsamer Armeekräfte unter russischem Oberbefehlshaber im Bedarfsfall vor. Politik Das abchasische Parlament, die „Volksversammlung“, besteht aus 35 Abgeordneten. Die politische Landschaft setzt sich aus zahlreichen Parteien und mehreren größeren „soziopolitischen Bewegungen“ zusammen. Die Volksversammlung hat in den Jahren 2002, 2003 und 2004 immer wieder erfolglos an die russische Legislative appelliert, assoziierte Beziehungen zu Abchasien herzustellen, die Republik vertraglich in das russische Zoll- und Währungssystem einzubeziehen sowie militärischen Schutz zu gewähren. Im Zuge des Kaukasuskriegs 2008 erkannte Russland schließlich die Unabhängigkeit Abchasiens im August 2008 an. Die US-amerikanische Nichtregierungsorganisation Freedom House stufte Abchasien 2022 mit einem Gesamtscore von 40 als „teilweise freien“ Staat ein. Auch Georgien erhielt in dieser Studie mit 58 Punkten die Einstufung als teilweise frei; Südossetien wurde mit 11 Punkten als „nicht frei“ eingestuft. Wahlen Erster Präsident Abchasiens war von 1994 bis 2005 der Historiker Wladislaw Ardsinba. Am 12. Februar 2005 wurde er durch Sergei Bagapsch abgelöst, der bei der Wahl vom 12. Januar 2005 einen Stimmanteil von 91,54 % erreichte. Sein Gegenkandidat Jakob Lakoba kam auf 4,5 %. Dem Wahlgang war eine verfälschte Wahl am 3. Oktober 2004 vorangegangen, bei der der frühere Premierminister Raul Chadschimba zum Sieger erklärt worden war. Nach langwierigen Auseinandersetzungen ordnete der Oberste Gerichtshof eine Wiederholung der Wahl im Januar an. Bei der zweiten Wahl kandidierte Raul Chadschimba nicht. Vollständig ordnungsgemäß war auch die Januarwahl nicht. In der ostabchasischen Provinz Gali lebende ethnische Georgier wurden teilweise an der Stimmabgabe gehindert, besaßen häufig aber auch nicht die abchasische Staatsbürgerschaft, weshalb sie nach abchasischem Recht nicht wahlberechtigt seien. Chadschimba trat auch bei der Präsidentschaftswahl in Abchasien 2011 an, unterlag dort wieder deutlich Alexander Ankwab, bevor er dann in der Präsidentschaftswahl in Abchasien 2014 zum Präsidenten gewählt und im Herbst 2019 vorerst wieder gewählt worden war. Am 13. Januar 2020 unterzeichnete Chadschimba ein Rücktrittsschreiben, da die Kassationsbehörde des Obersten Gerichtshofs die Wahlergebnisse vom Herbst 2019 annulliert hatte. Die Wahlkommission setzte Neuwahlen auf den 22. März 2020 fest. Diese gewann dann Aslan Bschania, der seit April 2020 Präsident des Landes ist. Status Abchasien gehört völkerrechtlich zu Georgien. Die Vereinten Nationen haben das seit 1993 immer wieder bekräftigt. Der UN-Sicherheitsrat . Einige Völkerrechtler halten Abchasien für ein stabilisiertes De-facto-Regime. Russland erkannte Abchasien am 26. August 2008 als unabhängigen Staat an, Nicaragua am 3. September 2008, Venezuela am 10. September 2009, Nauru am 15. Dezember 2009, Ende Mai 2018 erweiterte Syrien die kurze Liste der anerkennenden Staaten auf fünf. Außenbeziehungen Abchasien unterhält diplomatische Kontakte mit den Ländern, die seine Unabhängigkeit anerkannt haben, und mit anderen Staaten. Botschaften im Ausland unterhält Abchasien bislang nur in Russland, Venezuela und Südossetien, betreibt aber auch mehrere Repräsentationsbüros in anderen Staaten, hat viele Honorarkonsuln und kooperiert mit nicht-staatlichen Organisationen, vor allem im Umfeld der tscherkessischen Diaspora. Um einer zu einseitigen Abhängigkeit von Russland zu entgehen, verfolgten verschiedene abchasische Regierungen in der Vergangenheit und in die aktuelle in der Gegenwart einen Ansatz der multi-vektoralen Außenpolitik (Mnogovektornost). Abchasische Papiere, aber auch die in Abchasien ausgestellten russischen Pässe, werden praktisch nur von Russland akzeptiert. Am Jahrestag des Beginns des Kaukasuskrieges, dem 8. August 2017, besuchte der russische Präsident Wladimir Putin Abchasien und unterstrich, Moskau werde die Unabhängigkeit und Sicherheit der Provinz weiterhin entschieden unterstützen. Das Treffen mit dem abchasischen Regierungschef Raul Chadschimba fand erst eine Woche nach dem Besuch des US-Vizepräsidenten Mike Pence in Georgien statt, was von westlichen Beobachtern als gezielte Provokation gegen Tiflis interpretiert wurde. Beziehungen zu Georgien Diplomatische Beziehungen zwischen abchasischen und georgischen Regierungsstellen existieren nicht. Die 2012 gewählte georgische Regierung unter Bidsina Iwanischwili signalisierte Mitte 2013 erstmals Gesprächsbereitschaft und gestand auch teilweise Fehlverhalten im Kaukasuskrieg 2008 ein. Die georgische Regierung unter Micheil Saakaschwili beabsichtigte, Abchasien nach dem Modell des Machtwechsels in Adscharien wieder in Georgien einzugliedern. Saakaschwili hatte am 22. September 2004 vor der UN-Generalversammlung einen Drei-Stufen-Plan zur Beilegung der Konflikte in Abchasien und Südossetien vorgelegt. Eine erste Stufe sah vertrauensbildende Maßnahmen zwischen regierungsunabhängigen Organisationen, Studenten, Journalisten, Ärzten, Sportlern und Müttern vor. Auf der zweiten Stufe sollten die Konfliktzonen unter internationaler Aufsicht demilitarisiert werden. Auf der dritten schließlich wollte Georgien Abchasien und Südossetien eine größtmögliche Autonomie gewähren. Unterstützer des abchasischen Friedensprozesses sind Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Russland und die USA. Die Regierung von Abchasien hatte den georgischen Plan zurückgewiesen. Auch Russland lehnte eine Wiedervereinigung Abchasiens mit Georgien ab und wollte gemäß dem mit Georgien abgeschlossenen Abkommen von Moskau aus dem Jahr 1995 seine Friedenstruppe nicht abziehen, um nach eigenen Angaben kein neues Blutvergießen an seinen Grenzen zuzulassen. Im Juli 2006 entsandte die georgische Regierung Spezialeinheiten des Innenministeriums in Abchasiens obere Kodori-Schlucht, wo Emsar Kwitsiani eine Autonomie über das Gebiet ausgerufen hatte. Sie bezwangen innerhalb weniger Tage die von Russland unterstützten Freischärler. Am 27. September 2006 verfügte Präsident Saakaschwili die Umbenennung der oberen Kodori-Schlucht in Ober-Abchasien. Zugleich nahm dort die abchasische Exilregierung unter Malchas Akischbaia ihren Sitz in der Ortschaft Tschchalta. In Tiflis akkreditierte Diplomaten, die Sochumi besuchen wollten, mussten fortan zunächst der Exilregierung in Tschchalta einen Besuch abstatten. Abchasiens Präsident Bagapsch zeigte sich verärgert. Wer die Exilregierung in Tschchalta besuche, werde in Sochumi nicht empfangen, erklärte er. Am 12. August 2008 wurde die georgische Armee von abchasischen und russischen Truppen aus ihren letzten Stellungen in der oberen Kodori-Schlucht vertrieben. Somit hat Georgien nach der Niederlage in Südossetien auch vollständig die Kontrolle über Abchasien verloren. Das zentrale Verwaltungsgebäude der georgischen Regierung in der Provinzhauptstadt Tschchalta wurde vollständig zerstört. Innere Probleme und Einstellungen zur Unabhängigkeit Während das Zusammenleben von Abchasen, Russen und Armeniern meist reibungslos verläuft, gibt es Probleme mit der Integration georgischstämmiger Bewohner des Landes, die häufig als fünfte Kolonne Georgiens verdächtigt werden. Nur rund jeder zweite Georgier in Abchasien gab an, noch nie wegen seiner Herkunft diskriminiert worden zu sein. Seit das Land seine De-facto-Unabhängigkeit erreichte, kam und kommt es in den südlichen Regionen, die mehrheitlich von Georgiern bewohnt sind, immer wieder zu Sabotageakten und vereinzelt sogar Anschlägen gegen Institutionen des abchasischen Staats. Das Verhältnis Abchasiens und dessen georgischer Minderheit ist daher von Misstrauen geprägt. Insbesondere betroffen ist der Rajon Gali. Die abchasische Polizei besitzt dort nur wenig Einfluss, was zu einer signifikant höheren Kriminalität führt. Laut einer Studie der University of Colorado Boulder haben sich die meisten Georgier inzwischen aber mit der Situation arrangiert. Fast 50 % der georgischen Minderheit unterstützen den Fortbestand des Landes als eigener Staat, weniger als 20 % halten eine Rückkehr zu Georgien für notwendig. Eine Rückkehr zu Georgien wird von allen anderen Bevölkerungsgruppen fast geschlossen abgelehnt. Nur 1 % der ethnischen Abchasen und 2 % der Armenier und Russen unterstützten dies explizit. Während unter Russen (38 %) und Armeniern (51 %) größere Bevölkerungsteile einen Anschluss an Russland befürworten würden, ist dies unter Abchasen nur ein kleinerer Teil (19 %). Fast 80 % von ihnen sind für eine dauerhafte Unabhängigkeit des Landes. Wirtschaft Im Krieg in Abchasien 1992–1993 floh die Hälfte der Bevölkerung aus Abchasien. Nach dem Ende des Krieges verhängte die Gemeinschaft unabhängiger Staaten dann auch noch Sanktionen gegen Abchasien. Aufgrund dieser beider Entwicklungen kam es zu Bevölkerungsverschiebungen von Menschen in Abchasien. Darüber hinaus kam es zu einer „Verländlichung“ der Städte. In vielen Städten fingen Menschen an, Subsistenzlandwirtschaft zu betreiben. Außerdem begann der Übergang Abchasiens von der Planwirtschaft zur Marktwirtschaft erst ab 1998. 2011 wurde das abchasische Bruttoinlandsprodukt auf rund 15,5 Milliarden Rubel geschätzt, umgerechnet etwa 500 Millionen Dollar. Der Haushalt des Gebiets wird zu drei Vierteln von Russland alimentiert. Mit Abstand wichtigster Wirtschaftspartner des Landes ist Russland. Georgien versucht bis heute ein Handelsembargo gegen Abchasien durchzusetzen, was die wirtschaftliche Erholung der Region behindert. Dennoch kam es insbesondere seit 2008, als Russland die Unabhängigkeit Abchasiens anerkannte, zu vermehrten Investitionen aus dem Ausland. Neben dem Handel mit Russland nahmen auch die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Abchasien und der Türkei zu, die Türkei ist mit ihrer abchasischen Diaspora von 500.000 Personen mit Stand von 2011 der zweitwichtigste Handelspartner des Landes. Beinahe alle Lebensmittel werden aus Russland importiert. Einer der wichtigsten Wirtschaftszweige Abchasiens ist der Tourismus, der bereits vor dem Bürgerkrieg große Bedeutung hatte. Die mit Abstand meisten Touristen stammen dabei aus Russland. Seit der Anerkennung der Unabhängigkeit Abchasiens durch Russland nahm der Tourismus nach Abchasien wieder zu. Nach Angaben der abchasischen Regierung verzeichnete das Land im Jahr 2009 etwa 300.000 Besucher, was einem Anstieg von fast 20 % gegenüber dem Vorjahr entspricht. Wichtige Exportgüter Abchasiens sind insbesondere Obst und landwirtschaftliche Erzeugnisse, Fischprodukte, Kies sowie Metallerzeugnisse. Auch der Weinbau spielt traditionell eine große Rolle in Abchasien, Wein entwickelt sich zunehmend zu einem bedeutenden Exportgut. In den 2010er Jahren entwickelte sich Abchasien zu einem Hotspot für Bitcoin-Farmen, da Strom im Land wegen des Enguri-Staudamms sehr billig ist. Im Jahr 2018 wurden die Crypto-Farmen offiziell verboten, aber bis ins Jahr 2020 hinein wurde Equipment für diese Farmen in großem Umfang importiert. Die offizielle und allgemein übliche Währung des Landes ist der russische Rubel. Daneben gibt es seit 2008 noch die eigens ausgegebene Währung Apsar, die jedoch im Alltag kaum im Umlauf ist. Das Land verfügt über eine eigenständige Zentralbank, die Nationalbank der Republik Abchasien. Im Land gibt es auch eine eigene Medien- und Presselandschaft, mit zahlreichen Zeitungen und Magazinen, darunter die seit 1919 erscheinende Tageszeitung Apsny, die erste abchasischsprachige Zeitung. Ebenfalls bedeutend sind die russischsprachigen Publikationen Tschegemskaja Prawda und die staatliche Respublika Abchasija. Im Süden des Landes erscheint die dreisprachige Zeitung Gal. Historisch bedeutend war die in den 1990er Jahren eingestellte Sabtschota Apchaseti, die ehemals wichtigste georgische Zeitung der Region, sowie Kokinos kapnas, eine griechischsprachige Publikation. Daneben gibt es mehrere Radiosender sowie zwei eigene Fernsehsender, das Staatliche Abchasische Fernsehen und den privaten Sender Abasa TV. Darüber hinaus sind die meisten russischen Medien erhältlich. Telefonie und Mobilfunk werden in Abchasien durch die beiden Anbieter Aquafon und A-Mobile abgedeckt. Verkehr Im Jahr 2000 wurde eine eigene Eisenbahngesellschaft für Abchasien gegründet: Die Aphsny Aihaamua (Abchasische Eisenbahn). Das Netz besteht praktisch nur aus der rund 200 km langen Strecke vom russischen Adler nach Senaki in Georgien und einem rund 20 km langen Abzweig nach Akarmara. Personenverkehr findet nur zwischen Sochumi und Adler statt. Seit dem 10. September 2004 wurde der Eisenbahnverkehr zwischen Sochumi und Moskau wieder aufgenommen. Bildung, Kultur und Sport Die Abchasische Staatliche Universität ist die einzige Universität des Landes und hat etwa 3000 Studenten. Bis heute existiert nahe der abchasischen Hauptstadt das Institut der Physik und Technologie, das nach dem Zweiten Weltkrieg zeitweise zu den wichtigsten Standorten der Kernforschung weltweit zählte. Infolge des abchasischen Bürgerkriegs hat sich das Institut jedoch in verschiedene Nachfolgeinstitutionen aufgespalten und seine wissenschaftliche Bedeutung nahezu vollständig verloren. Zu den bekanntesten abchasischen Kulturschaffenden gehörte der bis zu seinem Tod in Moskau lebende Fasil Iskander sowie Samson Tschanba, Dmitri Gulia, Georgi Gulia, Gennadi Alamija oder Bagrat Schinkuba. Im Sport ist in Abchasien insbesondere die Abchasische Fußballmeisterschaft zu nennen. Der heute erfolgreichste Verein des Landes ist Nart Suchum, in der Vergangenheit war der FK Dinamo Suchum die wichtigste Mannschaft der Region. Dinamo Suchum verbrachte unter anderem einige Spielzeiten in der zweiten sowjetischen Liga und brachte einige bekannte Spieler hervor. Da der Fußballverband Abchasiens jedoch nicht Mitglied der FIFA ist, bleiben abchasischen Mannschaften Teilnahmen an internationalen Wettbewerben bis heute verwehrt. Galerie Siehe auch Verwaltungsgliederung Georgiens Geschichte Georgiens Gemeinschaft nicht anerkannter Staaten Organisation der nicht-repräsentierten Nationen und Völker Literatur Henrik Bischof: Georgien – Gefahren für die Staatlichkeit (Studie zur Außenpolitik. Band 68). Electronic ed., Bonn 1995, ISBN 3-86077-417-4. Bruno Coppieters: Westliche Sicherheitspolitik und der Konflikt zwischen Georgien und Abchasien. In: Berichte des Bundesinstitut für Ostwissenschaftliche und Internationale Studien. Köln 1999, . George Hewitt (Hrsg.): The Abkhazians. A Handbook. Curzon Press, London 1998, ISBN 0-7007-0643-7. Tamar Janelidze: Historische Hintergründe und politische Motive des abchasischen Separatismus in Georgien. Magisterarbeit. Universität Augsburg, 2005. Alexander Kokeev: Der Kampf um das Goldene Vlies. Zum Konflikt zwischen Georgien und Abchasien. Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung, Frankfurt am Main 1993, ISBN 3-928965-31-X. Thomas Kunze, Thomas Vogel: Das Ende des Imperiums. Was aus den früheren Sowjetrepubliken wurde. Links, Berlin 2015. ISBN 978-3-86153-644-4 (2016 in Lizenz bei der Bundeszentrale für politische Bildung erschienen, ISBN 978-3-8389-0676-8). Alexandr Kokejew, Georgi Otyrba: Der Weg in den Abchasien-Krieg. (Untersuchungen des FKKS, Band 13). Mannheim 1997. Mariam Lortkipanidse: Georgien und seine Autonomien. Kurzer Abriß der Geschichte Abchasiens, Atscharas und Südossetiens. In: Georgica. Aachen 15.1992, , S. 34–37. Tim Potier: Conflict in Nagorno-Karabakh, Abkhazia and South Ossetia, a legal appraisal. Kluwer Law International, Den Haag 2001, ISBN 90-411-1477-7. Lewan Toidse, Awtandil Menteschaschwili: Die Bildung der Autonomien in Georgien – 1: Abchasien. In: Georgica. Aachen 15.1992, , S. 38–49. Weblinks Seite des Auswärtigen Amtes von Abchasien (abchasisch, englisch, russisch, türkisch) Abkhazia profile. In: bbc.com. (englisch). Neal Ascherson: Ein Staat für sich allein. Abchasien braucht keinen großen Bruder, sondern Nachbarn. In: www.monde-diplomatique.de. 16. Januar 2009. Englischsprachige und russischsprachige Kurznachrichten von Kawkasski Usel aus Abchasien Einzelnachweise Nicht allgemein anerkannter Staat Region im Kaukasus
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https://de.wikipedia.org/wiki/Geburtstag
Geburtstag
Als Geburtstag (gehoben: Wiegenfest) wird sowohl der Tag der Geburt einer Person als auch der Jahrestag dieses Ereignisses bezeichnet. Die Jahrestage werden mit der Zahl der Jahre seit der Geburt benannt, an der ersten Wiederkehr des Tages der Geburt (1. Geburtstag) ist ein Kind also 1 Jahr alt. Am Folgetag bereits betritt es im Alter von 1 Jahr und 1 Tag das 2. Lebensjahr, das es mit dem 2. Geburtstag nach 12 Monaten abschließt usw. Ein weit verbreiteter Brauch ist es, seinen Geburtstag mit Freunden und Verwandten zu feiern. Bei Kindern sind zusätzlich zu der Feier mit Verwandten Kindergeburtstage üblich. In vielen Ländern ist es außerdem verbreitet, die Person zu beschenken. Genauso gibt es auch den Brauch, dass eine Person an ihrem Geburtstag anderen etwas schenkt. Ein weiterer stark verbreiteter Geburtstagsbrauch ist, einen Geburtstagskuchen oder eine Geburtstagstorte mit genau der dem Geburtstag entsprechenden Anzahl an Kerzen zu verzieren. Es ist üblich, einer Person zum Geburtstag zu gratulieren oder ein Geburtstagslied zu singen. In vielen Teilen der Welt ist das englische Lied Happy Birthday verbreitet. Sollte es nicht möglich sein, persönlich zu gratulieren, ist es als Geste der Aufmerksamkeit üblich, per Post, Telefonat, E-Mail oder SMS-Nachricht einen Geburtstagsgruß zu übermitteln. Während es in Deutschland angeblich Unglück bringt, vor dem Geburtstag zu gratulieren, sind in manchen Regionen Österreichs der Glückwunsch und die Feier am Vorabend üblich. Besondere Geburtstage sind die Volljährigkeit oder runde Geburtstage (z. B. 30., 50., 75., …), zu denen es unter Umständen regional weitere, spezielle Bräuche gibt. Dazu gehören beispielsweise der Schachtelkranz bzw. Sockenkranz zum 25. oder das Domtreppenfegen zum 30. Geburtstag. Der Begriff Geburtstag wird auch im übertragenen Sinne für (Gründungs-)Jubiläum (einer Firma, einer Institution, eines Bauwerkes usw.), z. B. „Hafengeburtstag“, verwendet; die Gründung, Errichtung oder Eröffnung wird in diesem Fall als „Geburt“ aufgefasst. Herkunft Kulturhistorisch geht der moderne Brauch der Geburtstagsfeier auf die frühe Hochkultur des Alten Ägypten sowie die Kultur der Antike (Griechen und Römer) zurück. Bei den Ägyptern wurde die Geburtstagsfeier zu Ehren des Königs (Pharao), Sohn der Himmelsgottheiten, abgehalten. Bei den Griechen und Römern hingegen diente die Geburtstagsfeier zur Anrufung von Schutzgeistern, um die gefeierte Person vor Schlechtem zu bewahren. Geburtstagsgeschenke stellten dabei ein Opfer an den Schutzgeist dar. Auch das Ahnengedenken spielte eine Rolle. Ursprünglich waren monatliche Feiern, meist von Gemeinschaften am selben Tag geborener Menschen, üblich. Ein Bezug zu angeblich am selben Tag geborenen Göttern war das Verbindende. Einladungen, Segenswünsche, Geschenke, Reden und Gedichte waren üblich. Nach Herodot (5. Jahrhundert v. Chr.) ist der Geburtstag von allen Tagen im Jahr derjenige, den die Perser am meisten feiern. Es sei üblich, die Tafel an diesem Tag mit einer stärkeren Versorgung als gewöhnlich auszustatten: Die reicheren Leute essen vollständig gebackene Kuh, Pferd, Kamel oder Esel, während die ärmeren Klassen stattdessen kleinere Rinder verwenden. In der römischen Kaiserzeit wurde der Geburtstag des Herrschers sowie der Mitglieder seiner Familie mit Dankfesten feierlich begangen. Nicht zuletzt wegen seiner Bedeutung in der Astrologie konnten der Geburtstag und an ihm vorkommende besondere Ereignisse mit zahlreichen mystisch-magischen Vorstellungen über deren Vorbedeutung für das Schicksal des Betroffenen mit entsprechendem apotropäischen (‚abwehrenden‘) Brauchtum bzw. Ritualen verbunden sein. Das Geburtstagsbrauchtum wurde im heidenchristlichen kirchlichen ‚Hochfest der Geburt des Herrn‘ (lat. Sollemnitas in nativitate Domini, „Weihnachten“) integriert. Bis in die internationale Gegenwartskultur hinein hat sich verschiedenes Geburtstagsbrauchtum erhalten und weiterentwickelt (symbolische Geburtstagsgaben, Geburtstagskerzen, Geburtstagskuchen usw.). Im christlichen Mittelalter feierten gewöhnliche Leute dann den Tag ihres Heiligen (den Heiligen, nach dem sie benannt wurden), aber im Adel feierte man den Jahrestag der Geburt. Die „Squire's Tale“, eine von Chaucers Canterbury Tales, beginnt damit, dass König Cambuskan ein Fest verkündet, um seinen Geburtstag zu feiern. Das Judentum stand und steht den heidnischen Geburtstagskulturen ablehnend gegenüber. Im Christentum Die Christliche Bibel erwähnt Geburtstagsfeiern an lediglich drei Stellen explizit, eine davon in dem zu den Spätschriften des Alten Testaments gehörenden 2. Buch der Makkabäer, jeweils begangen von gottfeindlichen Herrschern: der Geburtstag des Pharao, an dem dieser den Mundschenk begnadigt und den Bäcker aufhängen lässt (), der Geburtstag des Antiochos IV. Epiphanes, bei dem die Juden mit roher Gewalt zum Opferschmaus getrieben wurden (), der Geburtstag des Herodes Antipas, der zur Enthauptung des Täufers Johannes führte ( sowie ). Nach manchen christlichen Auslegern gebe es auch eine positive Erwähnung von Geburtstagsfeiern in der Bibel: die „Tage“ der Söhne des Ijob, nach denen Ijob – der kein Jude war – zur Heiligung seiner Söhne jedes Mal Opfer bringt, für den Fall, dass diese sich während des veranstalteten Festmahls versündigt haben (). Im entstehenden Christentum wurde der Geburtstag Christi schon früh gefeiert. Er ist heute als Weihnachten bekannt. In der afrikanischen, ägyptischen und altpalästinensischen Kirche wurde die Geburt Christi im 3. und 4. Jahrhundert unterschiedlich gefeiert, nämlich im Januar, April oder Mai. Clemens von Alexandria, Augustinus und Gregor von Nazianz berichten von verschiedenen Daten. Aus Zypern, Armenien und Mesopotamien im 4. Jahrhundert ist der 6. Januar als kirchliches Geburtstagsfest Christi belegt. Die armenische Kirche hält bis heute am Festtermin vom 6. Januar fest. Im christlichen Raum kamen Geburtstagsfeiern dann allmählich seit dem 4./5. Jahrhundert auf, zunächst für die teils vergöttlichten (divus) Kaiser sowie für Personen des christlichen Kultus wie Maria und Johannes den Täufer. Wichtiger für die kultische Praxis war aufgrund der Tradition der Verehrung von todesbereiten Glaubenszeugen, der sogenannten Märtyrer, der Todestag, der – als Eintritt in das wahre, ewige Leben interpretiert – oft als Geburtstag (dies natalis) bezeichnet wurde. Bis ins 19. Jahrhundert bleiben private Geburtstagsfeiern vereinzelt und begegnen uns allenfalls in höheren Gesellschaftsschichten. Die Feier des Geburtstags verbreitete sich zunächst eher in protestantischen Gebieten, während im katholischen Raum bevorzugt der Namenstag gefeiert wurde. Erst in jüngerer Zeit hat sich auch unter Katholiken die Feier des Geburtstages durchgesetzt. Das Weihnachtsfest kann als Geburtstagsfest gesehen werden: Nach der Tradition vieler christlichen Kirchen wird am 25. Dezember bzw. am 6. Januar das ‚Hochfest der Geburt des Herrn‘ gefeiert. Außerdem wird in verschiedenen christlichen Kirchen an Pfingsten traditionell der „Geburtstag der Kirche“ gefeiert. Die christliche Religionsgemeinschaft der Zeugen Jehovas lehnt unter Berufung auf die Praxis der frühen Christen das Feiern von Geburtstagen einschließlich des Weihnachtsfestes in jeglicher Form ab. Im Judentum Die einzige Erwähnung einer Feier zum Gedenken an den Tag der Geburt () in der Jüdischen Bibel betrifft den Geburtstag des ägyptischen Pharao . Dementsprechend negativ und kritisch wurden Geburtstagsfeiern von den Rabbinern behandelt. Die Bar Mizwa 13-jähriger jüdischer Jungen oder Bat Mizwa für 12-jährige jüdische Mädchen ist vielleicht die einzige jüdische Feier, die oft im Zusammenhang mit einem kalendarischen Geburtstag stattfindet. Bar und Bat Mitzwa bezeichnet sowohl den Status als auch den Tag und die Feier, an dem die religiöse Mündigkeit, d. h. die Erlangung religiöser Reife nach jüdischem Recht, eintritt. Trotz moderner Feiern, bei denen ein säkulares „Geburtstag“-Element den religiösen Ritus überschatten kann, ist das Wesen einer Bar-Mizwa- oder Bat-Mizwa-Feier religiösen Ursprungs. Am 13. oder 12. Geburtstag wird das jüdische Kind ein Bar Mizwa (‚Sohn des Gebots‘) oder eine Bat Mizwa (‚Tochter des Gebots‘), und eine mögliche Feier kann an diesem Kalendertag oder an jedem Datum danach stattfinden. Im Islam In manchen konservativen Strömungen des Islam gilt das Feiern von Geburtstagen als christlicher oder vermeintlich jüdischer Brauch, der für Muslime verboten sei. Lediglich das Feiern des Geburtstags des Religionsgründers Mohammed ist weit verbreitet, indem seine Geburtsgeschichte erzählt wird, Essen verteilt wird und Kinder beschenkt werden (siehe Maulid an-Nabī). Aber das wird von einigen Muslimen als unislamisch und daher verboten angesehen, da der Prophet selber seinen Geburtstag nicht gefeiert habe und die Muslime sich nach seinem Vorbild (der sogenannten Sunnah) richten müssten. Jedoch soll der Prophet Muhammad gesagt haben, dass es erlaubt sei, etwas Neues in den Islam einzuführen, wenn es einen Nutzen hat (überliefert von Imâm Muslim, im Sahih Muslim;). Der Großteil der muslimischen Gemeinde sieht den Nutzen darin, dass die Muslime an die Geburtsgeschichte des Propheten erinnert werden und ihren Glauben dementsprechend stärken. In anderen Strömungen des Islam wird diese Einstellung nicht geteilt. So wird im schiitischen Iran der Geburtstag der Tochter Mohammeds, Fatima bint Muhammad, als Muttertag zelebriert. Dessen Datum nach dem Bürgerlichen Kalender ändert sich von Jahr zu Jahr: Geburtstage von Staatsoberhäuptern Viele Länder haben den Geburtstag ihres Monarchen zum allgemeinen Feiertag erklärt. Wenn der Geburtstag in eine Jahreszeit fällt, in der die Regenwahrscheinlichkeit hoch und die Temperaturen niedrig sind, wird der Feiertag oft in eine angenehmere Zeit des Jahres gelegt. Bis zum Abdanken von Königin Beatrix der Niederlande beging man beispielsweise den Koninginnedag, ihren offiziellen Geburtstag, am 30. April, dem Geburtstag ihrer Mutter Juliana, obwohl sie selbst am 31. Januar geboren wurde. Ihr Sohn und Nachfolger Willem-Alexander ist am 27. April geboren, so dass der Koningsdag nun um drei Tage vorverlegt wird und somit der wahre Geburtstag und das Datum des amtlichen Feiertags wieder übereinstimmen. Im Commonwealth of Nations wird der Geburtstag des Monarchen in jedem Mitgliedsstaat unterschiedlich begangen, je nach Klima und der Lage anderer Feiertage im Kalender. Die Militärparade Trooping the Colour zu Ehren des königlichen Geburtstages wird seit jeher im Juni (i. d. R. am zweiten Samstag des Monats) abgehalten. Auch die Diktaturen des 20. Jahrhunderts verzichteten selten auf die öffentliche Feier des Geburtstages des jeweils herrschenden Machthabers als identitätsstiftendes Ritual. So wurde in Deutschland unter dem NS-Regime der Geburtstag Adolf Hitlers als Führers Geburtstag begangen, in Nordkorea wird der Geburtstag des Diktators Kim Jong-un regelmäßig mit großem Aufwand zelebriert, und bis heute spielt der Geburtstag Mao Tsedongs in China sowie für kommunistische Gruppen in aller Welt eine bedeutende Rolle. Siehe auch Abrahamstag Geburtstagsparadoxon Genethliakon (Geburtstagsgedicht) Lebensalter Namenstag Weblinks Einzelnachweise Literatur Klaus Beitl: Geburtstag. In: Lexikon für Theologie und Kirche. 3. Auflage. Bd. 4 (2009), Sp. 335. Claudia Englhofer: Geburtstag. In: Der Neue Pauly. Bd. 4 (1998), Sp. 843–845. Stefan Heidenreich: Geburtstag. Wie es kommt, dass wir uns selbst feiern. Hanser, München 2018, ISBN 978-3-446-25841-9 (Rezension). Kummer: Geburtstag. In: Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens. Bd. 3 (1930/1931), Sp. 422–424. Jörg Rüpke: Dies natalis, dies depositionis: Antike Elemente in der europäischen Gedächtniskultur. In: Rudolf Helmstetter, Holt Meyer, Daniel Müller Nielaba (Hg.): Schiller: Gedenken – Vergessen – Lesen. Fink, München 2010, S. 201–213. Alfred Stuiber: Geburtstag. In: Reallexikon für Antike und Christentum. Bd. 9 (1976), Sp. 217–243. Tagesbegriff Familienfest Zeitpunkt
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https://de.wikipedia.org/wiki/Siegel
Siegel
Das Siegel (von ) ist ein Insigne und damit eine Form der Beglaubigung von Urkunden. Ähnlich wie eine Unterschrift verleiht es dem Dokument seine Rechtskraft. Als Verschluss kann es auch dazu dienen, die Unversehrtheit von Behältnissen, auch Briefumschlägen, zu sichern. Erzeugt wird das Siegel mit einem Siegelstempel (Typars), der in eine weiche, erhärtende Masse gedrückt wird (Siegelklumpen aus Siegellack, Siegelwachs, früher Ton etc.). Oft wird zwischen Siegel als Abdruck und Siegelstempel als Prägewerkzeug begrifflich nicht unterschieden. Mit der [rechtlichen] Funktion und Bedeutung von Siegeln befasst sich die Siegelkunde (Sphragistik). Etymologie Das Wort Siegel stammt von mittelhochdeutsch sigel ab. Dieses ist entlehnt aus lateinisch sigillum ‚Siegelabdruck‘, einem Diminutiv von signum ‚Zeichen, Kennzeichen, Bild im Petschaft‘. Geschichte Die frühesten Stempelsiegel sind im Vorderen Orient nicht vor der Tell-Halaf-Zeit nachzuweisen. Rollsiegel sind erstmals in Sumer zwischen 3200 und 3100 v. Chr. in der Uruk-IV-Schicht belegt. Dies sind kleine Steinzylinder (Siegelsteine) aus Onyx, Lapislazuli, Achat oder anderen Stoffen, in die Figuren und Inschriften eingraviert (Siegelgravur) wurden. Die Größe schwankt zwischen 0,15 und 10 Zentimetern. Durch das Abrollen des Zylinders in eine weiche Masse (zum Beispiel Ton) entsteht der charakteristische Siegelabdruck. Etwa zeitgleich tauchten zwischen 1600 v. Chr. und 1500 v. Chr. im Alten Ägypten, in Ugarit sowie bei den Hethitern die Siegelringe auf, wobei der Siegelring in Mesopotamien nicht in Gebrauch war. Die asiatischen Siegel sind in Hartholz, Knochen, Elfenbein, Marmor, Speckstein oder Jade geschnitten. Ton-Siegelabdrücke sind bei den Sumerern, Assyrern und Babyloniern (Rollsiegel), später bei Griechen und Römern zu finden, welche die Herrscher des Frühmittelalters übernahmen. Im Gegensatz zu den zylindrischen Rollsiegeln der Babylonier verwendeten Kreter und Hethiter das Petschaft mit Rundsiegel. Noch mehr als im Orient (und später Europa), wo das Siegel immer den Charakter einer Beglaubigung behalten hat, ist in Ostasien das Siegel der eindeutige Identitätsnachweis, dort vertritt das Siegel bis heute die Rolle der eigenhändigen Signatur respektive der Unterschrift im westlichen Kulturraum. Die Bedeutung des Siegel ist so hoch, dass sich eine eigene altertümliche Schrift dafür erhalten hat, die Siegelschrift (Zhuanshu). Siegel, seit der Antike oft Symbole königlicher oder adeliger Macht, führten zunächst Einzelpersönlichkeiten, dann Körperschaften. Kaisersiegel gab es in China ab dem ersten vorchristlichen Jahrtausend. In Byzanz gab es sie seit dem 6. Jahrhundert, Papstsiegel seit dem 9. Jahrhundert. Im frühen Mittelalter siegelten in Europa nur weltliche Herrscher und Päpste, im hohen Mittelalter Kaiser, Könige, Angehörige des Adels sowie die Hohe Geistlichkeit. In erzählenden Quellen finden sich kaum Hinweise auf die Besiegelung von Herrscherurkunden. Nur der Chronist Ratpert aus dem Kloster St. Gallen berichtet von einer Besiegelung mit Ring durch König Ludwig den Deutschen. Anderen Bevölkerungsgruppen stand für die Beglaubigung einer Rechtshandlung nur die Möglichkeit offen, genügend Zeugen bei der Beurkundung zu versammeln. Etwa seit dem 13. Jahrhundert machten auch Bürger von Siegeln Gebrauch. Siegel geistlicher Korporationen sind schon seit dem 11. Jahrhundert, Städtesiegel seit dem Anfang des 12. Jahrhunderts (Trier 1113, Köln 1149) zu finden. Metallsiegel, die Bullen, waren aus Gold, Blei oder (seltener) aus Silber. Sie waren im Heiligen Römischen Reich hauptsächlich den Päpsten (siehe Goldene Bulle Karls IV.) oder den byzantinischen Kaisern für Dokumente besonderer politischer und verfassungsrechtlicher Bedeutung vorbehalten. Bleibullen waren zumeist massiv, Goldbullen hingegen fast nie. Es handelte sich vielmehr um zusammengefügte Goldplättchen, welche mit verschiedenen Materialien (Wachs, Sägemehl u. a.) gefüllt waren. Massive Goldbullen sind lediglich aus dem byzantinischen Raum und dem normannischen Königreich Sizilien bekannt. Wachssiegel trugen im Mittelalter die meisten Urkunden und Rechtsgeschäfte aller Art. Dabei wird das Siegelwachs durch einen Kreuzschnitt im Pergament gedrückt und der Stempel vom Ring oder einer antiken Gemme hineingedrückt. Wurde die Urkunde nicht gerollt, sondern gefaltet, so wurde die Schutzfunktion des Siegels durch mehrere Lagen von Pergament deutlich verbessert. Die Päpste sowie römisch-deutsche Kaiser und untergeordnete Siegelführer unterschieden sich durch farbige Wachssiegel mit folgender Rangkennzeichnung: rotes Wachs: Kaiser, Könige, die das Recht auch anderen Fürsten verleihen konnten, grundsätzlich nur bei (staatsrechtlichen) „Souveränen“; grünes Wachs: Stifte und Klöster; weißes Wachs: freie Reichsstädte; schwarzes Wachs: der Patriarch von Jerusalem und die Großmeister der geistlichen Ritterorden; heute noch gelegentlich bei Trauerbriefen. Seit dem 16. Jahrhundert wurde auch Siegellack verwendet, der hitzebeständiger und härter als Wachs ist. Bereits seit dem 11. Jahrhundert wurden bildliche Darstellungen (z. B. Wappen) in Siegeln verwendet. Später verwendete man anstelle des Wachses sogenannte Oblaten (runde weiße Papierflächen), welche auf das Papier aufgeklebt und dann unter hohem Druck mit Hilfe von Hitze (wie beim Gaufrieren) zu einem Relief, dem Abdruck, verformt wurde. Der Siegelmissbrauch wurde durch die Aufbewahrung bei eigens für diesen Zweck eingesetzten hohen Beamten verhindert, den Siegelbewahrern. Aus dieser Aufgabe wurde später ein Amt und ein Titel (siehe Lordsiegelbewahrer in England). Siegelkapseln sind meist aus Holz oder Metall gefertigte Schutzhüllen für Siegel. Insbesondere in der römischen Zeit wurden sie verwendet, um die Siegel an Dokumenten wie etwa an Wachstafeln zu schützen. Siegeltöpfe sind Näpfchen (meist aus Metall), die an einem Behältnis (z. B. einem Tresor) angebracht sind, um Siegelschnüre und Siegel (meist Abdrücke in Plastilin) aufzunehmen. Sie dienen der Identifikation von Personen, die das Behältnis geöffnet und wieder verschlossen haben Formen von Siegeln Mit einem Griff versehen, wird ein Siegelstempel auch Petschaft genannt; älter sind Siegelringe und Compartimentsiegel (Metallsiegel mit Griff). Das Siegel selbst kann auf die Urkunde gedrückt oder durch einen Schnitt im Pergament durchgedrückt sein. Angehängte Siegel sind an Schnüren aus Hanf, Seide, anderen Stoffen oder Pergamentstreifen befestigt. Diese Pergamentstreifen, Pressel genannt, wurden, wie auch die Schnüre, häufig durch einen Pergamentumbug, der Plica, gezogen, um den Halt im Pergament zu erhöhen und ein Ausreißen zu verhindern. Die in Europa häufigste Form ist das Rundsiegel, während beispielsweise die chinesischen Yinjian rechteckig sind; die japanischen Hanko sind ebenfalls rund. Andere Ausführungsformen mit Siegelfunktion sind Aufkleber wie das Pfandsiegel (umgangssprachlich auch Kuckuck genannt), die an Kfz-Kennzeichenschildern angebrachte Zulassungsplakette, Plomben an Verschlüssen und Geräten, Sicherungsstempel an Messgeräten, Siegelmarken und Siegelbänder. Notare verwenden zum Verbinden von mehrseitigen Urkunden eine Siegelschnur, deren Enden mit einem Prägesiegel aus Papier und einer Oblate gesichert sind. Spezielle Siegel und weitere Fachbegriffe Rollsiegel – erstmals in Sumer verwendet Siegelring – im Fingerring untergebrachter Siegelstempel Reitersiegel – stellt den Siegelführer oder die Siegelführerin (Damenreitersiegel) zu Pferd dar, männliche Siegelführer i. d. R. geharnischt und in Waffen Gemmensiegel – Siegel mit dem charakteristischen Abdruck einer Gemme (häufig in Verbindung mit einem Siegelring), die entweder antiken oder zeitgenössischen Ursprungs sein kann; so verwendeten z. B. die frühen karolingischen Könige antike Gemmen zur Besiegelung ihrer Urkunden. Gerichtssiegel Großes Siegel – das Hauptsiegel einer Körperschaft, das für die Besiegelung wichtigster Urkunden verwendet wurde Kleines Siegel – zur Beurkundung kleiner, alltäglicher Rechtsgeschäfte; aus dem Sekretsiegel hervorgegangen, siehe auch Rücksiegel Dienstsiegel – Amtliche Siegel zur rechtsverbindlichen Kennzeichnung von Dokumenten oder zum Verschluss von Behältnissen oder Räumlichkeiten Sekretsiegel, auch Geheimsiegel, wurde im Mittelalter als zweites Siegel zur Kontrolle und als nochmalige Echtheitsbestätigung auf die Rückseite des Hauptsiegels oder auch „Großen Siegels“ geprägt. Ursprünglich waren nur mit einem Sekretsiegel versehene Urkunden nicht rechtswirksam. Im Spätmittelalter fanden die Sekretsiegel dann aber akzeptierte Verwendung bei Beurkundungen alltäglicher und relativ unwichtiger Amtsgeschäfte und gingen somit im „Kleinen Siegel“ auf. Rücksiegel, auch Gegensiegel (lateinisch Contrasigillum) – wurde als Kleines Siegel (siehe Sekretsiegel) auf die Rückseite des Großen Siegels (Hauptsiegel) geprägt, nicht zu verwechseln mit den ebenfalls beidseitig gestempelten Bullen (Siegel aus Metall) Doppelsiegel – Bezeichnung für Siegel, die an ihrer Vorder- und Rückseite Siegel tragen (Einheit aus Großem und Kleinem Siegel bzw. zwei gleich großen Siegeln, siehe Münzsiegel) Münzsiegel – Bezeichnung für Doppelsiegel bei gleich großen Abdrücken auf Vorder- und Rückseite Wappensiegel – häufig schildförmiges Siegel mit dem Wappenbild des Siegelführers, stellenweise als Kleines Siegel oder Rücksiegel verwendet Rombildsiegel – Siegel mit einer bildlichen Darstellung der Stadt Rom, in der Regel Teil der Bullen von Königen und Kaisern des mittelalterlichen deutschen Reiches Gemeinschaftssiegel – gemeinsames Siegel einer rechtlich verbundenen Körperschaft oder auch mehrerer Angehöriger eines Herrschaftshauses Rundsiegel in Österreich (entspricht dem Rundstempel in Deutschland) – Behörden, Ziviltechniker, Architekten und gerichtliche Sachverständige dürfen ein Rundsiegel führen und damit Dokumente, Pläne, Gutachten etc. siegeln. Signet – privates Siegel, meist als Ring ausgeführt Siegel im ostasiatischen Kulturkreis: Die chinesische Bezeichnung für Siegel lautet yín (印) oder túzhāng (图章). Die japanische Bezeichnung für Siegel ist inshō (印章) oder hanko (判子). Die koreanische Bezeichnung für Siegel ist dojang (도장). Diese Siegel werden geschäftlich und privat eingesetzt und sind oft wichtiger als die eigenhändige Unterschrift. In manchen Fällen wird gar nur das Siegel als Beglaubigung akzeptiert. Spezielle Siegel: Fischerring – der päpstliche Siegelring In weiterem Sinne: Elektronisches Siegel – mit kryptischen Verfahren signierte digitale Informationen (Datei) Beispiele unterschiedlicher Siegel Auf dem Siegelbild ist meist, umgeben von einer Umschrift, ein Porträt des Sieglers zu sehen. Das Siegelbild Karls des Großen stellt einen römischen Kaiser dar. Siegel im privaten/bürgerlichen Bereich Siegelstempel und Typare für den Gebrauch mit Siegellack (Petschafte, Siegelringe etc.) werden im privaten/bürgerlichen Bereich nur noch von verschiedenen Postdienststellen für den Versand von Wertsendungen (Wertbriefen oder Wertpaketen) zum Verschluss der Sendung gefordert (in Deutschland bis 2010). Eine Vorschrift für die Gestaltung der Typare besteht meist nicht, wobei Abdrücke von Münzen und Knöpfen regelmäßig unzulässig sind. Ansonsten dienen Siegel meist nur noch zur stilvollen Ausgestaltung von Ehrenurkunden und privater Korrespondenz. Ein privates Verschlusssiegel (auch eine Plombe (Siegel) oder Siegelmarke) an einem Behältnis oder an einer „geschuppten“ Urkunde, auch mit Ösen, Faden und Siegel verbundenen Urkunde, lässt erkennen, dass der Aussteller eine Manipulation des Schriftstückes nicht wünscht und es in der vorliegenden Form einmalig geschaffen wurde. Rechtliches Rechtlich ist jedes dienstliche „Siegel“ einzigartig, gegenüber beliebig herstellbaren „Stempeln“ – es verhält sich hier ähnlich wie bei dem Unterschied zwischen Fahne (einzigartig) und Flagge (ersetzbar). Wer es führen darf, ist eigens geregelt. Der Siegelbruch, das unberechtigte Zerstören eines Siegels, das durch eine Behörde, einen Amtsträger oder sonst dienstlich angebracht wurde, ist in Deutschland strafbar ( Abs. 2 StGB). Ebenso ist es nicht erlaubt einen Stempel zu verwenden, der mit dem Siegel eines Amtsträgers oder einer Behörde verwechselt werden kann. Ein unbrauchbar gewordener Siegelstempel einer Behörde darf nur unter Hinzuziehung eines Zeugen und mit einem entsprechenden Protokoll vernichtet werden. Die Ausmusterung von Siegelstempeln wird in den jeweiligen Amtsblättern veröffentlicht. Zu diesem Zweck haben Siegelstempel eine einzigartige Nummer. Siehe auch Buch mit sieben Siegeln – die Symbole in der Bibel Historische Hilfswissenschaften manu propria – die eigenhändige Unterschrift eines Herrschers Sphragis – verschlüsselte Hinweise auf den Autor in einem literarischen Werk Tibetische Siegel Urkunden des Mittelalters und der Frühen Neuzeit Siegel Mohammeds Plica (Pergament) Schuppen von Dokumenten Gütesiegel Literatur Handbücher: Theodor Ilgen: Sphragistik. In: Aloys Meister (Hrsg.): Grundriß der Geschichtswissenschaft. Band I, Abt. 4, Leipzig 1912. Franz Kalde: Das Gerichtssiegel als Beglaubigungsmittel, mit Siegelbeispielen aus der österreichischen Gerichtsbarkeit. In: Haering, Stephan; Kandler, Josef; Sagmeister, Raimund (Hrsg.): Gnade und Recht: Beiträge aus Ethik, Moraltheologie und Kirchenrecht. Festschrift für Gerhard Holotik zur Vollendung des 60. Lebensjahres. Lang, Frankfurt/M.; etc. 1999, S. 345–360. Das Siegel. Gebrauch und Bedeutung. Hrsg. von Gabriela Signori. Darmstadt 2007, ISBN 978-3-534-20682-7 Tafelwerke: Band 1: 751–1347. Von Pippin bis Ludwig den Bayern. Band 2: 1347–1493. Von Karl IV, bis Friedrich III. Mittelalterliche Fälschulgen. Landfriedenssiegel. Band 3: 1493–1711. Von Maximilian I, bis Josef I. Band 4: 1711–1806, 1871–1913. Von Karl VI bis Franz II, Wilhelm I bis Wilhelm II. Reichsvikariat, Reichskammergericht. Kurfürstenkollegium, Nachträge. Band 5: Das Siegelwesen der deutschen Kaiser und Könige, von 751 bis 1913. (Textband) Hilfsmittel und Bibliografie: Sonstige: S. Baghestani: Metallene Compartimentsiegel aus Ost-Iran, Zentralasien und Nord-China (= Archäologie in Iran und Turan. Band 1). Rahden/Westf. 1997. Dominique Collon (Hrsg.): 7000 Years of Seals. London 1997. M. I. Marcus: Emblems of Identity and Prestige: The Seals and Sealings from Hasanlu, Iran. Commentary and Catalog (= University Museum Monograph 84: Hasanlu Special Studies III). Philadelphia 1996. Weblinks Sektion Siegelkunde/Sphragistik Virtual Library Geschichtliche Hilfswissenschaften Open-Access-Bilddatenbank der Siegelseparataufnahmen im Lichtbildarchivs älterer Originalurkunden, via Prometheus Bildarchiv mit fast 5.000 Siegelabbildungen Wolfgang Krauth: Siegel. In: Südwestdeutsche Archivalienkunde. Einzelnachweise Insigne Glyptik
Q162919
173.746753
50890
https://de.wikipedia.org/wiki/Boxen
Boxen
Boxen ist eine Kampfsportart, bei der sich zwei Kontrahenten unter festgelegten Regeln nur mit den Fäusten bekämpfen. Ziel ist es, möglichst viele Treffer beim Gegner zu erzielen oder diesen durch einen Knockout außer Gefecht zu setzen. Die Kämpfer sind für gewöhnlich mit gepolsterten Handschuhen ausgestattet und müssen derselben Gewichtsklasse angehören. Ein Boxkampf wird unter der Aufsicht eines Ringrichters über mehrere, ein bis drei Minuten dauernde Runden ausgetragen. Er ist entschieden, wenn ein Gegner vom Ringrichter als unfähig erachtet wird, den Kampf fortzuführen, eine schwerwiegende Regelverletzung vorliegt, eine Aufgabe signalisiert wird oder der Ablauf der regulären Rundenzahl zu einer Punktentscheidung führt. Es wird grundsätzlich zwischen Amateur- und Profiboxen unterschieden. Amateurboxen ist bei den Olympischen Spielen und den Commonwealth Games vertreten und besitzt eine eigene Weltmeisterschaft. Profiboxkämpfe werden von kommerziellen Boxverbänden organisiert. Profiboxer dürfen seit 2016 ebenfalls bei den Olympischen Spielen antreten. Während es Wettkämpfe Mann gegen Mann vermutlich bereits seit Anbeginn der Menschheitsgeschichte gibt, können die Anfänge des Faustkampfes als organisierte Sportart bis zu den Olympischen Spielen der Griechen im Jahr 688 v. Chr. zurückverfolgt werden. Das moderne Boxen entwickelte sich aus regelmäßig veranstalteten Preiskämpfen im England des 17. und 18. Jahrhunderts. Mitte des 19. Jahrhunderts wurden die Basisregeln des modernen Boxsportes, die sogenannten Queensberry-Regeln, festgelegt. Wortherkunft Ab dem 16. Jahrhundert wird das Verb „to box“ im Englischen nach und nach mit der Bedeutung „mit Fäusten schlagen“ und „jemanden schlagen“ verwendet, die weitere Herkunft ist ungeklärt. Ab dem 18. Jahrhundert taucht „boxen“ dann auch im Deutschen auf. Im heutigen Sprachgebrauch gilt „Faustkampf“ als Synonym bzw. als gehoben für „das Boxen, der Boxkampf“. Geschichte Antiker Faustkampf Die ersten nachgewiesenen Faustkämpfe zum Zwecke der Unterhaltung fanden bereits 3000 v. Chr. in Ägypten statt. In den darauffolgenden zwei Jahrtausenden breitete sich die Kampfform im ägäischen Raum aus. Der Faustkampf wurde erstmals im Jahre 688 v. Chr. in Griechenland bei den 23. Olympischen Spielen der Antike ausgetragen. Im antiken Rom wurde er vor allem bei Gladiatorenkämpfen mit dem Caestus (Lederriemen mit Metalldornen) durchgeführt. Die hellenistische Bronzestatue des Faustkämpfers vom Quirinal ist hierfür ein eindrucksvolles archäologisches Beispiel. Wie alt der Faustkampf tatsächlich ist, lässt sich nicht genau feststellen. Die ältesten Darstellungen ähnlicher Kämpfe reichen bis zu 7000 Jahre zurück. Belege zeigen, dass er auch im alten Indien, China, Korea und Russland sowie unter den Ureinwohnern Amerikas und Afrikas Bestandteil von Kulten und Zeremonien war. Mit Boxen im modernen Sinne hatten diese Kämpfe jedoch nichts zu tun, bspw. gab es so gut wie keine Regeln. Von Figg zu Queensberry Die Ursprünge des modernen Boxens liegen im England des 17. und 18. Jahrhunderts. Im Jahre 1681 organisierte der Herzog von Albemarle den ersten schriftlich belegten Kampf. Seit 1698 wurden im Londoner King’s Theatre regelmäßige Boxveranstaltungen durchgeführt. Dabei wurden die Hände in der Regel nicht bandagiert, sondern die Fingerknöchel lagen frei, was als Bare-knuckle-Boxen bezeichnet wird. Die ersten (minimalen) Regeln der Neuzeit wurden durch den Fechtmeister James Figg aufgestellt. 1719 gewann Figg das erste offizielle Boxturnier seit der Antike und wurde Meister von England. 1743 wurde das erste größere Regelwerk (Broughton Rules) veröffentlicht, das zuweilen auch schon als erste Fassung der London Prize Ring Rules (im weiteren Sinn) gilt. Man durfte keinen Gegner mehr schlagen, der kampfunfähig am Boden liegt, Tiefschläge waren ebenfalls verboten. 1838 wurden diese Regeln durch die London Prize Ring Rules (im engeren Sinne) abgelöst. Wichtigste Neuerungen: Die Einführung eines Boxrings, den es vorher nicht gab und das Bandagieren der Hände, um Verletzungen zu vermindern. Am 17. April 1860 kam es bei Farnborough, Hampshire, zu einem Aufsehen erregenden illegalen Boxkampf zwischen dem 33-jährigen inoffiziellen englischen Schwergewichtsmeister Thomas Sayers (seit 1857, gegen William Perry) und dem sieben Jahre jüngeren, dazu größeren und schwereren Amerikaner John Carmel Heenan, genannt . Nach insgesamt 37 Runden in ca. 140 Minuten stürmten Zuschauer den Ring; der Kampf wurde als unentschieden gewertet – beide erhielten einen Gürtel, aber nur Heenan nannte sich Boxweltmeister bzw. englischer Meister im Schwergewicht. Die Verabschiedung des von 1861 im Gefolge des illegalen Meisterschaftskampfes beendete praktisch diese Veranstaltungen, sehr zum Bedauern auch höherer englischer Gesellschaftsschichten. 1867–1889 Übergangsphase: Bare-knuckle-Boxen und modernes Boxen existieren nebeneinander 1867, etwa 100 Jahre nach Einführung der ersten Regeln, wurden die London Prize Ring Rules von einem Bekannten des Marquess of Queensberry so verändert, dass daraus die ersten Boxregeln für das Boxen mit Handschuhen, die sog. Queensberry-Regeln, hervorgingen. Der erste offizielle Boxweltmeister nach den Regeln des Marquess of Queensberry wurde am 7. September 1882 John L. Sullivan. Er kämpfte aber auch noch teilweise bare-knuckle, letztmals 1889 gegen Jack Kilraine. Ab 1892 – nur noch Queensberry-Boxen Erst ab Sullivans Nachfolger Jim Corbett 1892 boxte man nur noch nach Queensberry-Art. Am 6. April 1893 fand der längste Boxkampf der Geschichte statt. Andy Bowen und Jack Burke kämpften über 110 Runden (sieben Stunden). Der Kampf endete unentschieden. Zu der Zeit gab es aber einige wichtige Regeln noch nicht. Unter anderem wurde erst ab den 1920er Jahren der Boxer, der einen Niederschlag erzielt hat, in die neutrale Ecke geschickt; vorher konnte er den aufstehenden Boxer sofort wieder zu Boden schlagen. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg setzte sich die Idee durch, dass ein zu Boden geschlagener Boxer immer bis acht angezählt wird (Mandatory-Eight-Count), vorher wurde der Kampf wieder aufgenommen, wenn der Boxer wieder aufgestanden ist. Heutzutage wird auch mit anderen Handschuhen (acht oder zehn Unzen) geboxt als Ende des 19. Jahrhunderts (vier bis sechs Unzen). Solche Regeländerungen werden aber nicht als neues Regelwerk aufgefasst. Daher sagt man, dass noch immer nach den Queensberry-Regeln gekämpft wird, selbst wenn der Kampfablauf heute ein anderer ist. Bei den Olympischen Spielen 1904 in St. Louis feierte der Boxsport seine Premiere als olympische Sportart. 1906 wurde in Köln der SC Colonia 06 gegründet und ist damit der älteste aktive Amateur-Boxclub Deutschlands. Am 5. Dezember 1920 schlossen sich in Berlin unter dem Namen „Deutscher Reichsverband für Amateurboxen“ die deutschen Amateurboxer zusammen. Am 6. Dezember 1920 wurden die ersten Deutschen Meisterschaften durchgeführt. Die Sieger wurden ab diesem Zeitpunkt in einer Bestenliste registriert. Boxsportarten Englisches Boxen (heutiger, bekanntester Boxsport) Kickboxen Thaiboxen (Muay Thai; bekannt aus dem asiatischen Raum) Französisches Boxen (Savate) San Shou (Chinesisches Kickboxen) Regeln Grundregeln Bei einem Boxkampf sind nur Schläge erlaubt, die mit der geschlossenen Faust ausgeführt werden. Jegliche Benutzung eines anderen Körperteils (beispielsweise des Fußes, der Innenhand etc.) wird nicht als Zähler anerkannt und muss vom Ringrichter als Foul gewertet werden und zur Ermahnung, zu Punktabzügen oder im schlimmsten Fall zur Disqualifikation führen. Ein regulärer Schlag ist dann ausgeführt, wenn der Treffer auf der Vorderseite des Kopfes, des Halses, des gesamten Korpus bis zur imaginären Gürtellinie am Bauchnabel oder auf den Armen landet. Schläge unter die Gürtellinie sind verboten, sie gelten als Foul und führen zum Punktabzug. Außerdem werden Treffer auf die Arme oder auf den Handschuh von den Punktrichtern nicht als Zähler gewertet, da ein derartiger Schlag als blockiert gilt. Häufig sieht man, dass sich Boxer ineinander verklammern. Dies kann verschiedene Gründe haben. Zum Beispiel muss ein Boxer, der sich in einer für ihn ungünstigen Entfernung zum Gegner befindet, klammern, damit der Ringrichter die Kontrahenten trennt und sie auffordert, einen Schritt zurückzutreten, so dass wieder Distanz geschaffen wird. Meistens jedoch verschaffen sich erschöpfte oder angeschlagene Boxer auf diese Weise eine Pause. Klammern stellt einen Regelverstoß dar, der aber aufgrund der Häufigkeit von den Ringrichtern manchmal geduldet wird. Allerdings muss ein Ringrichter, um einen flüssigen Kampfablauf zu gewährleisten, ab einem gewissen Grad Verwarnungen und damit Punktabzüge aussprechen. Boxring Der Boxring ist quadratisch und hat eine Kantenlänge von 16 bis 24 Fuß (488 bis 732 cm). Die Kantenlänge eines Standard-Boxrings beträgt 20 Fuß (610 cm). Der Kampfbereich wird von drei oder vier Seilen umspannt, die jeweils drei bis fünf Zentimeter stark sind und in den Höhen 40 – 80 – 130 Zentimeter (bei drei Seilen) oder 40 – 75 – 105 – 135 Zentimeter (bei vier Seilen) hängen. Der Bodenbereich außerhalb der Seile muss mindestens 50 Zentimeter breit sein. Der Ringboden ist elastisch und mit einer Zeltplane bespannt. In den Ringecken befinden sich Eckpolster, von denen eines rot, eines blau und zwei weiß sind. Das Wort „Ring“ in Boxring kommt von dem Ring/Kreis, den die Schaulustigen um die Kämpfer bilden, und existiert in dieser Bedeutung im Englischen seit dem 14. Jahrhundert. Amateurboxen Es gibt grundlegende Unterschiede zwischen Amateur- und Profiboxsport. Die Regeln für den Amateurboxsport werden von der AIBA, dem Weltverband des Amateurboxsports festgelegt. Diese Regeln sind zugleich die Grundlage für das Boxen als olympische Disziplin. Amateur- und Profiboxsport haben unterschiedliche Regeln und sind von Technik, Ausführung und Taktik her nur begrenzt vergleichbar. Darüber hinaus gibt es im Profibereich kleinere Unterschiede zwischen den einzelnen Verbänden. Ein Kampf wird normalerweise in drei Runden von je drei Minuten Länge ausgetragen, zwischen den Runden jeweils eine Minute Pause. Es entscheidet die Anzahl der Treffer. Ein Treffer wird anerkannt, wenn mindestens drei der fünf Punktrichter einen Schlag innerhalb einer Sekunde als Treffer anerkennen. Dies geschieht durch Eingabe in einen Computer. Dieser wertet die Eingaben aus und zeigt die Treffer an. Dieses System soll die Urteile nachvollziehbarer machen und Manipulationen einschränken. Das Tragen eines Mundschutzes, Tiefschutzes (Männer), Brustschutzes (Frauen), Kopfschutzes (Frauen und Minderjährige, bis 2013 auch Männer) und eines ärmellosen Oberteils ist bei Amateurboxkämpfen Pflicht. Das Oberteil muss sich von der Hose farblich deutlich unterscheiden, damit die Gürtellinie klar erkennbar ist. Bei Boxhandschuhen im Amateursport ist die erlaubte Trefferfläche weiß markiert, um dem Kampfgericht das Erkennen regelwidriger Treffer zu erleichtern. Altersklassen Neben der Einteilung in Gewichtsklassen werden die Athleten im Amateurboxen nach dem Alter unterschieden (dies ist eine Grobeinteilung, es wird nach Stichtagen und Jahren in die Klassen eingeteilt): Schüler männlich/weiblich 10 bis 12 Jahre Kadetten männlich/weiblich 13 und 14 Jahre Junioren männlich/weiblich 15 und 16 Jahre Jugend männlich/weiblich 17 und 18 Jahre Elite männlich/weiblich 19 bis 40 Jahre Der Altersunterschied bei Vergleichskämpfen darf höchstens zwei Jahre betragen. Das Höchstalter, um an Olympischen Spielen sowie Welt- und Kontinentalmeisterschaften teilnehmen zu können, ist 34 Jahre. National beträgt die Altersgrenze 40 Jahre. Kampfentscheidung Entscheidungen beim Amateurboxen können auf neun verschiedenen Arten herbeigeführt werden. {| class="wikitable" |- class="hintergrundfarbe6" !Wertung !Erklärung |- | style="width:130px" | K. o. |Sieg durch Niederschlag |- |TKO-A |Sieg durch Aufgabe des Kampfes |- |TKO |Sieg durch Abbruch des Kampfes wegen Kampf- oder Verteidigungsunfähigkeit |- |TKO-I |Sieg durch Verletzung des Boxers |- |n. P. |Sieg durch Punktewertung |- |Unentschieden |Gleiche Punktzahl für beide Boxer |- |Disq. |Sieg durch Disqualifikation des Gegners |- |WO |Sieg durch Nichtantreten des Gegners |- |NC |Abbruch ohne Entscheidung |} Profiboxen Im Profiboxen kann die Zahl der Runden (à drei Minuten) frei festgelegt werden, bewegt sich aber üblicherweise zwischen vier und zwölf. Drei Kampfrichter bewerten unabhängig voneinander nach jeder einzelnen Runde, welcher Boxer in der Runde stärker gekämpft hat. Es ist auch möglich, dass nur der Ringrichter den Kampf bewertet, z. B. wenn einer von den zwei Boxern K. o. geschlagen wurde. Geht der Kampf über die volle Rundenzahl, wird durch Addition der Rundenwertungen und der Hilfspunkte der Sieger bestimmt. Punktabzüge sind infolge von Tiefschlägen und Verwarnungen möglich. Punkturteil Ten-Point-Must-System Das „Ten-Point-Must-System“ ist die heute übliche Art der Notation einer Punktentscheidung im Profiboxen. Dabei bekommt der Sieger der Runde zehn Punkte, der Verlierer in der Regel neun, bei einem erlittenen Niederschlag in aller Regel acht, bei zwei erlittenen Niederschlägen sieben. Falls eine Runde unentschieden gewertet wird, erhalten beide Boxer zehn Punkte. Verwarnungen werden erst nach Ende des Kampfes vom Punktekonto abgezogen. Gewinnt beispielsweise ein Boxer bei einem Zehnrunder alle Runden und gibt es keinen Niederschlag und keine Verwarnung, lautet das Urteil 100-90. Wofür bekommt ein Boxer eine Runde? Der Wertungsrichter Tom Kaczmarek erläutert im „International Boxing Digest“ vom Januar 1999 das Bewerten und verweist auf die Faktoren: Klare Treffer – bei weitem der wichtigste Maßstab. Das Problem hierbei ist, dass es nicht nur um die Anzahl der Treffer geht, sondern auch um die Qualität: hinterlässt ein Treffer eindeutig Schlagwirkung, bringt dies dem schlagenden Boxer fast immer die Runde. Effektive Aggressivität – dazu gehört auch Aktivität. Wenn beide Boxer keine klaren Treffer landen, gewinnt der aktivere Boxer die Runde. Ring Generalship – schwer übersetzbarer amerikanischer Ausdruck, „Überlegenheit im Ring/Ringbeherrschung“ (boxerische Fähigkeiten, Cleverness, Ringstrategie) Verteidigung Extrapunkte Extrapunkte (bzw. strenggenommen Punktabzüge des Gegners nach Ten-Point-Must-System, s. o.) gibt es bei fast allen Niederschlägen: Erkennt der Ringrichter auf regulären Niederschlag und zählt den betreffenden Boxer an, erhält der schlagende Boxer nicht nur die Runde (10 zu 9), sondern einen Extrapunkt (10 zu 8), – außer der niedergeschlagene Boxer hätte die Runde klar gewonnen, so dass man nur auf 10 zu 9 für den niederschlagenden Boxer wertet. Dieser gewinnt die Runde also in jedem Fall, es fragt sich nur, ob mit einem oder zwei Punkten. Weitere Niederschläge sorgen für weitere Punkte. Verwarnungen: Begeht ein Boxer wiederholt ein kleineres Foul (Tiefschlag, Klammern, unerlaubter Kopfeinsatz) oder ein schwereres Foul, das aber noch nicht zur sofortigen Disqualifikation führt (Ermessen des Ringrichters), können ihm ein oder zwei Punkte abgezogen werden. Dies entscheidet der Ringrichter, der das eindeutig den Punktrichtern anzeigen muss. Varianten der Punktwertung {| class="wikitable" |- class="hintergrundfarbe6" !Wertung !Erklärung |- | style="width:160px" |Unanimous Decision (UD) |Einstimmige Entscheidung: Ein Boxer wird von allen drei Wertungsrichtern nach Addition der Punktzahlen vorne gesehen. |- |Split Decision (SD) |Geteilte Entscheidung: Ein Boxer wird von zwei Wertungsrichtern nach Addition der Punktzahlen vorne gesehen, sein Gegner hat jedoch vom dritten Juror die Mehrzahl der Punkte erhalten. |- |Majority Decision (MD) |Mehrheitsentscheidung: Ein Boxer wird von zwei Wertungsrichtern nach Addition der Punktzahlen vorne gesehen, der dritte Punktrichter wertet den Kampf unentschieden. |- |Draw (D) / Split Draw / Majority Draw |Unentschieden: Mindestens zwei Punktrichter haben für beide Boxer die jeweils gleiche Punktzahl notiert. Es ist auch ein Unentschieden, falls nur ein Punktrichter unentschieden gewertet hat und gleichzeitig die beiden anderen Richter den jeweils anderen Boxer als Sieger gesehen haben (Split Draw). Wenn zwei Punktrichter für unentschieden stimmen, der dritte Punktrichter allerdings zugunsten eines Boxers entscheidet, nennt es sich Majority Draw. |} Konsequenz dieser Regelungen zur Punktvergabe ist, dass die dritte Wertung irrelevant wird, falls zwei Punktrichter mit dem gleichen Ergebnis werten. Kampfabbruch Wenn einer der beiden Boxer nach einem Niederschlag in einem vorbestimmten Zeitraum (10 Sekunden) nicht aufzustehen vermag, ist der Kampf durch Knockout (K. o.) entschieden. Ein K. o. ist nicht nur nach einem starken Kopftreffer, sondern auch bei einem starken Lebertreffer möglich. Wenn der Kampf abgebrochen wird oder einer der Kampfteilnehmer aufgibt, ist der Kampf durch technischen Knockout (TKO) entschieden. Eine Disqualifikation (s. u.) gilt nicht als TKO. Wird der Kampf nicht vorzeitig entschieden, wird nach Ende des Kampfes die Punktwertung der drei Punktrichter ausgewertet. Disqualifiziert wird bei als „absichtlich“ angesehenem Kopfstoß, grober Unsportlichkeit, zum Beispiel Beißen, Treten, Schubsen, exzessivem Klammern, Umwerfen des Gegners, Herunterdrücken des Gegners, Aufstützen auf den Gegner, Schlagen mit dem Ellenbogen, Drücken mit dem Ellenbogen, Schlagen auf den Hinterkopf, Schlagen auf das Genick, Einklemmen des gegnerischen Armes, Festhalten des gegnerischen Kopfes, Schlagen und den Gegner dabei in den Schlag hineinreißen, vollständig passiver Kampfhaltung z. B. mit Doppeldeckung, Schleudern des Gegners in der Umklammerung, Nachschlagen, das als eindeutig absichtlich eingeschätzt wird und Schlagwirkung hinterlässt, wiederholten Tiefschlägen. Bei erstmaligem Tiefschlag wurde nur vor Anwendung des Tiefschutzes disqualifiziert, wiederholtem Ausspucken des Mundschutzes, Betreten des Rings durch einen Sekundanten vor Rundenende, auch versehentlich. Regelunterschiede im Profiboxen Die Regeln sind international nahezu identisch, nur in Kleinigkeiten wird unterschieden. So gibt es in den USA nicht überall das Anzählen im Stehen (Standing Eight Count), das in Europa üblich ist. Es gibt in der Regel in Titelkämpfen keine „Three Knockdown Rule“, nach der ein Boxer, der während einer Runde dreimal am Boden ist, automatisch durch K. o. verloren hat. Andere strittige Punkte: Kann nur der Ringrichter den Kampf stoppen oder auch der Ringarzt? Kann ein Rundengong das Anzählen eines Boxers verhindern? Wird bei einer nicht durch einen Schlag entstandenen Verletzung in den ersten vier Runden der Kampf als „Technisches Unentschieden“, gar nicht gewertet oder werden die Punktzettel ausgezählt? Notation von Profibilanzen Bei den Profis werden Bilanzen (Kampfrekord ist eine Fehlübersetzung des englischen Ausdrucks fight record) mit Siege-Niederlagen-Unentschieden verbucht: 13–4–2(11KO) bedeutet 13 Siege, davon 11 vorzeitige, 4 Niederlagen, 2 Unentschieden. Endet ein Kampf ohne Wertung („No Contest“), zum Beispiel nach positiven Dopingproben, wird dies extra erwähnt, also 13-4-2-1(11KO). In Klammern stehen dahinter die Siege durch Knockout im weitesten Sinn. In englischsprachigen Übertragungen werden die K.-o.-Siege oft mit dem Verweis “Inside” kenntlich gemacht; K.-o.-Niederlagen werden nicht extra in der Bilanz aufgelistet. Kampfstile Defensiv Lässt der Boxer den Gegner kommen, nennt man diese Vorgehensweise kontern. Ein Boxer, der in der Regel so kämpft, ist ein so genannter Konterboxer. Dabei wird unterschieden: a) Stick-and-Move: Der Konterboxer weicht vor dem angreifenden Boxer eher tänzelnd zurück (wie Gene Tunney, Billy Conn, Muhammad Ali, Larry Holmes, Virgil Hill) oder eher flach auf dem Boden stehend (wie Henry Maske), was den Schlägen etwas mehr Kraft verleiht. Dabei ist die steif geschlagene Führhand der entscheidende Schlag, mit ihr wird der Gegner hauptsächlich auf Distanz gehalten. Wird die Schlaghand als Gerade nachgezogen, nennt man das Eins-Zwei-Kombination. Im englischen Sprachraum nennt man solche Kämpfer missverständlicherweise oft einfach „Boxer“, im deutschen Sprachraum ebenfalls missverständlich „Stilist“ oder „Techniker“, ganz so als ob Angriffsboxen keine Technik erforderte. Die Entfernung zum Gegner etwa auf Führhandlänge (ausgestreckter vorderer Arm), außerhalb der Hakenreichweite, nennt man „Distanz“. b) Kontern aus reiner Oberkörperbewegung (Rollen – den Oberkörper nach hinten und zur Seite bewegen; Abducken – den Oberkörper nach vorn absenken) ohne zurückzugehen; in den USA nennt man solche Kampfweise To give angles („Winkel geben“): Der Boxer bleibt vor dem Gegner stehen und bewegt nur den Oberkörper. Das ergibt ein ganz anderes Kampfbild als Stick and move und hat für den konternden Boxer den großen Vorteil, dass er aus der Halbdistanz schlagen kann. Dies ist besonders die Kampfweise von James Toney, früher auch Ezzard Charles und Michael Spinks, in Europa hat der englische Trainer Brandon Ingle ein besonderes Faible dafür, so dass Herol Graham, Johnny Nelson und vom Versuch her zumindest auch Naseem Hamed so boxten. Hameds Versuch, die Hände an den Hüften zu lassen, ist nicht schulmäßig und macht ihn anfällig für die Schlaghand des Gegners. c) In-and-Out (deutsch „Rein-und-Raus“). In Deutschland vor allem von Sven Ottke bekannt, aber auch der reifere Evander Holyfield, vor allem im zweiten Kampf gegen Bowe und im ersten Duell gegen Tyson, sowie Roy Jones Jr. kämpften so. Der Boxer vertraut auf bewegliche Beine, schlägt selten mit der Führhand, sondern wartet auf eine Gelegenheit zum Gegenangriff, bei dem überfallartig in der Halbdistanz eine Kombination angesetzt wird, bevor er wieder in die Langdistanz zurückweicht. Der Stil ist in der Regel am geeignetsten, wenn der Gegner sowohl größer als auch physisch stärker ist. Angriffsboxen Wenn ein Boxer angreift, hat das unterschiedliche Gründe. In der Regel muss der kleinere Mann den Kampf gestalten, Ausnahmen sind die oben angesprochenen „Rein-und-Raus“-Boxer: Ein kleinerer Mann kann aber mangels Reichweite mit der Führhand nur selten einen größeren Gegner auf Distanz halten. Werden die eigenen körperlichen Möglichkeiten (Schlagkraft, Nehmerfähigkeiten etc.) im Vergleich zum Gegner überlegen eingeschätzt, bietet sich ein offener Schlagabtausch mit Siegchancen an. Angriffsboxer sind somit oft gute Nehmer (Rocky Marciano, Joe Frazier, Mike Tyson, Roberto Durán, Marvin Hagler, Jake LaMotta, Julio César Chávez, Emile Griffith, Harry Greb oder Mickey Walker). Ist dies nicht der Fall, werden sie vielleicht gelegentlich einen großen Kampf gewinnen (z. B. Clifford Etiennes Sieg gegen Lamon Brewster), aber gegen gute Gegner meist durch K. o. verlieren, denn ein schwaches Kinn verlangt eine Defensivstrategie. Wenn ein Boxer ungewöhnlich viel schlägt, nennt man das Pressure-Fighter (wörtlich „Druckkämpfer“), das sind oder waren zum Beispiel Henry Armstrong, Harry Greb, Tony Canzoneri, Mickey Walker, Jake LaMotta, Marcel Cerdan, Emile Griffith, Roberto Durán, Julio César Chávez, Joe Frazier, Leon Spinks, am Anfang seiner Karriere auch Evander Holyfield und heute vor allem Ricky Hatton. One-Punch-Knockouter, die offensiv boxen, werden in der Regel nicht als Pressure-Fighter bezeichnet, sondern einfach nur als Puncher (Jack Dempsey, Rocky Marciano, Sonny Liston, (vor allem der späte) Mike Tyson, George Foreman etc.), ihr Stil ist aber fast identisch. Im Vergleich zu reinen (offensiven) „Punchern“ haben „Pressure-Fighter“ den Vorteil, Konterboxer über die zahlreicheren Treffer auspunkten zu können, während Punchern dies in der Regel höchstens über das gesamte Kampfbild (Vorwärtsgang, Aggressivität, Schlagwirkung etc.) gelingt. So gewann Frazier gegen Ali nach Punkten, während bessere „Puncher“ wie George Foreman auf den K. o. angewiesen waren. Wie Joe Louis und Dariusz Michalczewski zeigten, kann auch die Führhand eine effektive Offensivwaffe sein; mit der Führhand (und Pendelbewegung) in den Gegner zu gehen, ist aber eher unüblich, klassisches Angriffsboxen baut auf Oberkörperbewegung (Pendeln, Abducken) wie bei Frazier, Tyson und Durán auf, diese „überspringen“ die Führhand einfach und gehen gleich mit Abducken in die Halbdistanz. Offensive Kämpfer, die in der Halbdistanz den Schlagabtausch suchen, werden im englischen Sprachraum vor allem in den unteren Gewichtsklassen oft auch einfach nur „Fighter“ genannt, im Gegensatz zum konternden „Boxer“. Der Begriff wird nahezu synonym mit „Pressure-Fighter“ verwendet, letzteres betont mehr die besonders hohe Zahl von Schlägen. Schläge Eine besondere Bedeutung hat hierbei der Nahkampf, da Kämpfe immer häufiger auf kürzester Distanz entschieden werden. Verbände (Profiboxen) Im Gegensatz zu vielen anderen Sportarten und auch dem Amateurboxen (AIBA) gibt es beim Profiboxen keine zentrale Organisation, die weltweit alle wichtigen Landesverbände umfasst und somit auch das alleinige Recht hat, den Titel „Weltmeister“ zu vergeben. Stattdessen gibt es eine große Anzahl von Verbänden, die etwas missverständlich „Weltboxverbände“ genannt werden. Es handelt sich dabei allerdings eher um gewinnorientierte Unternehmen, so dass ein Vergleich mit anderen Sportverbänden nur schwer gezogen werden kann. Vielmehr geht es im Boxen sehr stark um das Geld, das bei der Veranstaltung eines Boxkampfes fließt. Man versucht, zwei vermarktbare Kontrahenten für einen Kampf zu engagieren, um die Einnahmen so weit wie möglich zu erhöhen, da die Gebühr der Verbände in der Regel drei Prozent der Kampfbörsen beträgt. Vor den 1960er-Jahren Vor den 1960er-Jahren war praktisch nur der Disput zwischen der „National Boxing Association“ (Vorläuferin der „World Boxing Association“ WBA, damals noch in den USA ansässig) und der „New York State Athletic Commission“ (NYSAC) von Bedeutung, die gelegentlich, aber nicht dauerhaft Gegenweltmeister aufstellte. Das war von Bedeutung, weil viele wichtige Box-Arenen, wie der Madison Square Garden, das Yankee-Stadium und das Baseballstadion Polo Grounds in New York standen. Die europäische Gegenorganisation „International Boxing Union“ (die nichts mit dem 1996 gegründeten, völlig unbedeutenden IBU-Verband zu tun hat) war weniger einflussreich, da zu dieser Zeit nur wenige Europäer (Ted Lewis, Jimmy Wilde, Benny Lynch, Randy Turpin, Georges Carpentier, Marcel Cerdan, Max Schmeling, Ingemar Johansson) sich mit den US-Amerikanern messen konnten. Auf der anderen Seite boxten auch nur selten Ausländer wie Panama Al Brown und Jack Johnson in Europa. Die IBU galt als Vorläuferin der Europäischen Box Union und hatte eher kontinentale Bedeutung. Teilweise stellte auch das Britische Empire einen „British Empire World Champion“. Ab den 1960er Jahren Ab den 60er Jahren ließ die relative Macht der NYSAC stetig nach, Joe Frazier war der letzte bedeutende Weltmeister, der von ihr gegen die WBA anerkannt wurde und auch den WBA-Champ Jimmy Ellis in einem Vereinigungskampf schlug. In den 60ern und 70ern etablierte sich schließlich eine Konkurrenzsituation zwischen der WBA und dem teils auf der NYSAC aufbauenden „World Boxing Council“, aus der in den 1980er Jahren durch die Gründung der „International Boxing Federation“ und der „World Boxing Organization“ ein Vierkampf wurde. Diese vier Verbände sind heute besonders einflussreich: WBA: 1920 in den USA als National Boxing Association gegründet, 1962 in den aktuellen Namen umbenannt, Sitz in Venezuela WBC: 1963 als Konkurrenz zur WBA gegründet, jetzt in Mexiko IBF: 1983 wegen Meinungsverschiedenheiten mit der WBA gegründet mit Sitz in den USA WBO: 1988 gegründeter Verband mit Sitz in Puerto Rico Ihr Einfluss liegt darin, dass sie bekannte Boxer und Promoter davon überzeugen können, um ihre Titel zu boxen und ihnen einen Anteil ihrer Kampfbörse für ihren „Titel“ zu überlassen. Um große Gelder geht es nur bei diesen vier Verbänden, weil Titelhalter bei den auflagenstarken Fachzeitschriften wie dem Ring Magazine (oder in Deutschland z. B. dem Boxsport) hoch eingestuft werden. Es lohnt sich für einen guten Boxer nicht, um Titel abseits dieser Verbände zu boxen. In der Regel wird er, wenn er den Titel einer Konkurrenzorganisation hält, auch aus den Ranglisten der alten Verbände entfernt. Die dabei vergebenen „Weltmeister“-Titel sind allerdings immer mit einem Hinweis versehen, bei welchem Verband dieser erworben wurde. In der öffentlichen Wahrnehmung gibt es also immer vier Weltmeister-Titel. Allerdings gibt es für die Boxer die Möglichkeit, mehrere der Titel zu vereinigen. Im Schwergewicht kommt dies recht häufig vor, weil die Fans hier intoleranter gegenüber aufgeteilten Titeln sind. Allerdings hängt es von der Zustimmung des Verbandes ab – dass diese verweigert wird, ist in der Vergangenheit schon häufig passiert. So war es in der Regel früher nicht möglich, die Titel von WBC und WBO dauerhaft miteinander zu vereinigen. Es kam zwar zu Kämpfen, aber hinterher musste der Sieger sich für den Verband seiner Wahl entscheiden. Bis 2002 waren auch WBO und WBA so verfeindet, dass es nicht einmal zu Vereinigungen kam. So musste beispielsweise Dariusz Michalczewski seinen WBO-Titel im Kampf gegen Virgil Hill ruhen lassen und war auf dem Papier titelloser Herausforderer. Nach dem Sieg wurde ihm der gewonnene WBA-Titel jedoch aberkannt, da er sich entschied, seinen WBO-Titel zu behalten. Die erste akzeptierte Vereinigung der WBO- und WBA-Titel fand 2002 zwischen Acelino Freitas und Joel Casamayor statt. Das Prestige der einzelnen Verbände unterscheidet sich leicht. Allerdings ist es schwer, einen zu benennen, der unumstritten ist. Jeder der Verbände hatte in seiner Geschichte zweifelhafte Ereignisse. So gab es häufig Diskussionen über fragwürdige Kampfentscheidungen. Aber auch finanziell gab es schon Turbulenzen. So stand der WBC schon nach Querelen um Graciano Rocchigiani, siehe dort, kurz vor der Pleite. Zwei weitere Verbände sind noch am Rande erwähnenswert: IBO (International Boxing Organization) ist deswegen relativ bekannt, weil sie die unabhängige Computerrangliste IWBR gekauft hat. Allerdings hat sie es nie geschafft, daraus Kapital zu schlagen. Sie hatte jedoch schon mehrere Boxer als Titelträger, die in den unabhängigen Ranglisten als Nummer Eins gewertet wurden, obwohl sie zu dem Zeitpunkt keinen Titel der anderen Weltverbände hielten. Ein prominentes Beispiel war Antonio Tarver, der nach seinem Sieg über Roy Jones jr. linearer Weltmeister wurde und als „richtiger Halbschwergewichtsweltmeister“ galt, bis er gegen Hopkins verlor. WBU (World Boxing Union) ist ein Verband, der praktisch nur in Südafrika und vor allem in Großbritannien von Frank Warren unterstützt wird. Dessen früherer WBU-Halbweltertitelträger Ricky Hatton schlug den linearen Weltmeister Kostya Tszyu und wurde damit anerkannter, unumstrittener Weltmeister der Klasse, gab aber den WBU-Titel ab. Weitere, praktisch einflusslose Verbände sind unter anderem: Global Boxing Association (GBA), Global Boxing Council (GBC), Global Boxing Federation (GBF), Global Boxing Organisation (GBO), Global Boxing Union (GBU), International Boxing Association (IBA), International Boxing Council (IBC), International Boxing Union (IBU), Professional Boxing Union (PBU), World Athletic Association (WAA), World Boxing Board (WBB), World Boxing Federation (WBF), World Boxing Foundation (WBF), World Professional Boxing Federation (WPBF) Vergabe weiterer Titel Vergabe der „regionalen“ Titel Die Weltverbände vergeben, abgesehen von den Weltmeisterschaftstiteln, auch einige regionale Meistertitel. Der Hauptgrund dafür ist, dass die Verbände sich durch so genannte Sanktionsgebühren, die sie vom Veranstalter verlangen bzw. auf die Kampfbörsen der Boxer erheben, zusätzliche Einnahmen sichern können. Daher haben auch Boxer, die von ihrer Staatsbürgerschaft her eigentlich gar nicht in diese Regionen gehören, um diese Titel gekämpft. Die Boxer können sich mit diesen Titeln Ansehen verschaffen, aber der wichtigste Vorteil besteht darin, dass sie sich bei der Aufstellung der Ranglisten Vorteile erhoffen können. Die wichtigsten Titel sind die Interkontinental-Titel, die sich auf keine spezielle Region beschränken und bei mehrfacher Verteidigung (in der Regel drei) zur Nominierung als Pflichtherausforderer des Weltmeisters führen können. Außerdem vergibt jeder der großen vier Verbände einen US-Meistertitel. Diese Titel werden im Allgemeinen von regionalen, dem Verband untergeordneten Boxkommissionen vergeben. Beispiele hierfür sind: WBA-NABA: Diese Unterorganisation vergibt den Nordamerika-Titel der WBA. Bekannte (ehemalige) Titelträger sind unter anderem Nikolai Valuev – bei dem sich das oben genannte Kuriosum zeigt, denn theoretisch könnte ein Russe ja kein Nordamerikameister sein –, John Ruiz und Edison Miranda WBC-Mediterranean-Titel: Diese Titel werden seit 2007 vergeben und werden als relativ unbedeutend angesehen. Sie umfassen die Länder des Mittelmeerraums. Der bekannteste Titelträger ist der türkische Schwergewichtsboxer Sinan Şamil Sam, der sich den Titel am 19. Oktober 2007 gegen den Kroaten Ivica Percovic durch eine einstimmige Punktentscheidung gesichert hat. Weitere Beispiele sind der WBO-Asia-Pacific-Titel, der WBA-Fedelatin-Titel und der IBF-Pan-Pacific-Titel. Hinzu kommen Titel wie der des Europameisters oder des Meisters der Europäischen Union, der nicht direkt von den großen Weltverbänden vergeben wird, sondern von kleineren Regionalverbänden, die mit den Weltverbänden assoziiert sind. Der Europameistertitel wird von der EBU vergeben, die mit dem WBC assoziiert ist. Juniorenweltmeisterschaften Ein weiterer Titel, der von den Weltverbänden vergeben wird, sind die Profi-Juniorenweltmeistertitel. Diese werden in der Regel an Boxer unter 25 Jahren in Kämpfen über zehn Runden (nicht zwölf, wie bei „normalen“ Weltmeisterschaften) vergeben. Boxen als olympische Sportart In das moderne olympische Programm wurde Boxen erstmals 1904 in St. Louis aufgenommen. Hier nahmen allerdings nur Amerikaner teil, insgesamt 44 in sieben Gewichtsklassen (Fliegen, Bantam, Feder, Leicht, Welter, Mittel und Schwer). 1908 traten dann 42 Boxer aus vier Ländern (32 Briten, sieben Franzosen, zwei Dänen und ein Australier) in fünf Gewichtsklassen an (Bantam, Feder, Leicht, Mittel und Schwer), wobei als einziger Nicht-Brite der Australier Baker einen Spitzenplatz (Zweiter im Mittelgewicht) errang. Im Jahr 1912 gab es kein olympisches Boxturnier, weil damals in Schweden Boxen verboten war. Von 1920 bis 1948 wurde dann in acht, von 1952 bis 1964 in zehn und von 1968 bis 1984 in elf Gewichtsklassen gekämpft. Hinzu kamen bis heute Halbschwer (1920), Halbwelter und Halbmittel (1952) sowie Halbfliegen (1968). 1984 wurde das Schwergewicht unterteilt in die Klassen bis 91 Kilogramm Körpergewicht (Schwer) und über 91 Kilogramm (Superschwer). Seit 1936 wird der technisch beste Boxer der Spiele mit dem Val-Barker-Pokal ausgezeichnet. 2012 durften erstmals Frauen starten (in 3 Gewichtsklassen mit insgesamt 36 Starterinnen). Das Exekutivkomitee des Internationalen Olympischen Komitees (IOC) hatte es noch abgelehnt, Frauenboxen als Demonstrationssportart ins Programm der Sommerspiele 2008 in Peking aufzunehmen. Modus Die Kampfzeit bei den Olympischen Spielen beträgt 3 mal 3 Minuten (effektiv), mit 2 Pausen zu je einer Minute (bei den Frauen 4 mal 2 min mit 3 Pausen zu je einer Minute). Ein Ringrichter leitet den Kampf, fünf Punktrichter bewerten ihn nach einem festgelegten Punktsystem. Seit den Spielen 1996 werden die besten Boxer nach der Weltrangliste (ähnlich wie im Tennis) gesetzt. Boxen war lange die einzige olympische Sportart, bei der nur Amateure zugelassen waren. Der Box-Weltverband AIBA entschied jedoch, ab den Olympischen Spielen 2016 auch professionelle Kämpfer zuzulassen. Organisation in Deutschland Die deutschen Amateurboxer, die sich dem olympischen Boxen verpflichtet fühlen, sind in teilweise traditionsreichen Amateurboxvereinen organisiert, deren Geschichte in das 19. Jahrhundert zurückreicht. Im Gegensatz zum professionellen „Boxstall“, der eine berufsmäßige Bindung des Boxers an einen bestimmten Boxunternehmer darstellt, unterliegen die Amateurboxvereine dem deutschen Vereinsrecht und sollen nicht kommerziellen Interessen, sondern dem Allgemeinwohl dienen. Frauenboxen in Deutschland Bereits 1911 empfahl Paul Maschke (als Joe Edwards bekannt) Frauen im ersten deutschen Boxlehrbuch „Boxen. Ein Fechten mit Naturwaffen“ das Boxen zur Bewahrung von „jugendliche[r] Grazie, geschmeidigen[n] Bewegungen und […] Gesundheit.“ 1921 wurde das Frauenboxen durch den Deutschen Reichsverband für Amateurboxen und 1925 durch den Verband Deutscher Faustkämpfer auch im professionellen Bereich verboten. 1976 wurde ein als „Europameisterschaft“ angekündigter Kampf zwischen Brigitte Meereis und Ursula Döring veranstaltet. 1986 kam es zu einem in der ARD übertragenen Schaukampf zwischen Birgit Nuako und Mario Adorf. Ein Jahr später, 1987 fand ein Profi-Boxkampf zwischen Rosi Bernstein und Helfrich statt. Beide Kämpferinnen erhielten 200 Mark Honorar, mussten jedoch 2000 Mark Strafe zahlen, da Frauenboxen damals noch nicht legal war. Erst 1994 fand der erste offiziell durch die Women's International Boxing Federation lizenzierte Frauenprofiboxkampf in Deutschland zwischen Regina Halmich und der Niederländerin Fienie Klee statt. Zeitlich parallel dazu setzte sich die damalige Theologiestudentin Ulrike Heitmüller für offizielle Frauenboxwettkämpfe im Deutschen Amateur-Box-Verband (DABV) ein. Sie gab Interviews, schrieb Leserbriefe, hielt einen Vortrag beim DABV-Hauptausschuss und kämpfte in einem auch im Fernsehen übertragenen Boxschaukampf gegen die Fitnesstrainerin Marion Einsiedel. Im Mai 1995 stimmte der DABV schließlich mit 337 Ja- zu 269 Nein-Stimmen in Duisburg für die Teilnahme von Frauen an offiziellen Wettkämpfen des DABV. Popularität Als eine der ältesten Wettkampfarten des Menschen hat Boxen eine lange Tradition und ist beispielsweise Teil der modernen Olympischen Spiele, die 1896 in Athen erstmals stattfanden. Große Beliebtheit erlangte das Boxen in den 1920er Jahren. Prominente Künstler wie Ernst Oppler, George Grosz und Renée Sintenis hielten Szenen im Berliner Sportpalast fest. Weitere Zuschauer der Kämpfe im Sportpalast waren unter anderen Enrico Caruso, Richard Tauber, Hans Albers, Fritz Kortner sowie Bertolt Brecht. Bis heute gilt Max Schmeling, dessen aktive Zeit über 60 Jahre zurückliegt, als einer der populärsten Sportler. Gleiches gilt im Weltmaßstab für Muhammad Ali, der in den 1960er- und 1970er-Jahren weit über den Boxsport hinaus bekannt wurde. In den 1990er-Jahren erreichte der Sender RTL in Deutschland mit Boxübertragungen Marktanteile von über 70 Prozent. Bis zu 18 Millionen TV-Zuschauer verfolgten WM-Kämpfe von Axel Schulz und Henry Maske vor den Bildschirmen. Die Musiktitel Conquest of Paradise und Time to Say Goodbye verkauften sich insgesamt fast fünf Millionen Mal, wobei Time to Say Goodbye Maske gewidmet wurde, als dieser zu seinem vorerst letzten Kampf antrat. Henry Maske gewann zehn Jahre nach seiner knappen Punktniederlage gegen Virgil Hill den Revanche-Kampf gegen den US-Amerikaner. Heutzutage sind Schwergewichtskämpfe um die Weltmeisterschaft die bestdotierten Sportwettbewerbe überhaupt. Boxen ist heute hinsichtlich passiver Teilnahme eine der populärsten Sportarten weltweit – in Deutschland rangierte es im Jahr 2012 auf Platz 2 der beliebtesten, im Fernsehen angeschauten Sportarten. Es liegt jedoch nicht unter den ersten 12 der am meisten ausgeübten Sportarten. Allerdings ist das Boxen aufgrund der offen zur Schau gestellten Gewaltausübung, der Gefahr für die Gesundheit der Sportler und seiner Anziehungskraft für das Halbweltmilieu umstritten. Verletzungsrisiko Sowohl beim Amateur- als auch Profiboxen besteht ein akutes Verletzungsrisiko an den getroffenen als auch an den schlagausführenden Körperteilen. Dagegen lässt sich bisher kein sicherer, methodisch einwandfreier Kausalzusammenhang zwischen mittel- und langfristigen Gesundheitsrisiken, insbesondere mit neurologischen Folgeerscheinungen und dem Boxsport herstellen. Dies ist darauf zurückzuführen, dass trotz der langen Tradition des Boxens nur eine geringe Zahl von systematischen Studien über die neuropsychiatrischen Folgen zur Verfügung steht und Kontrollgruppen nur schwer zu definieren sind. Insgesamt wird das Risiko von Verletzungen kontrovers diskutiert. Auf der einen Seite fordert die BMA (Gewerkschaft der britischen Ärzte) ein generelles Boxverbot aufgrund des gesundheitlichen Risikos. Auf der anderen Seite wird argumentiert, dass die Boxer unter Aufsicht des Trainers sowie des Ringrichters, der Punktrichter und des Ringarztes stehen. Diese können einen Kampf abbrechen, wenn die Gesundheit des Boxers schwerwiegend gefährdet ist (technischer K. o.), wenngleich dies im Profiboxen dem Schiedsrichter vorbehalten ist. Die pathologischen Konsequenzen betrachtet, gilt es grundsätzlich zwischen dem Profi- und dem Amateurboxen zu unterscheiden, da Amateurboxer in der Regel einmal jährlich und vor den Kämpfen medizinisch untersucht werden (inklusive EKG, Augen- und Laboruntersuchungen). Profiboxkämpfe werden ohne diese weitgehenden Schutzmaßnahmen ausgetragen. So ist bei akuten Komplikationen, neuropsychologischen und neurodegenerativen Risiken ein deutlicher Unterschied zwischen Profi- und Amateurboxen auszumachen, wenngleich der bessere Schutz von Amateuren die erheblichen Gefahren des Boxens nicht grundsätzlich vermeiden kann. Im Deutschen Ärzteblatt wurde hierzu eine Übersichtsarbeit vorgelegt, in der selektiv die Inhalte der wesentlichen Original- und Übersichtsarbeiten aus den Jahren 2000 bis 2010 zu den akuten, subakuten und chronischen neuropsychiatrischen Folgen des Boxens ausgewertet wurden. Diese weist auf die Besonderheit des Boxens hin, da es im Unterschied zu anderen gesundheitsgefährdenden Sportarten beim Boxen entscheidend für Sieg oder Niederlage ist, ob es gelingt, dem Gegner mit einer Aufprallgeschwindigkeit der Faust von bis zu zehn Metern pro Sekunde ein möglichst akut wirksames Schädel-Hirn-Trauma zuzufügen, bei dem der Kopf unter Umständen mit der mehr als 50-fachen Erdbeschleunigung in Bewegung versetzt wird. Zusammengefasst besteht neben der regelkonformen Läsion des Gegners, etwa durch eine Commotio cerebri (K. o.), beim wettkampforientierten Boxen ein erhebliches Risiko für akute Verletzungen an Kopf, Herz und Knochen. Postakut überdauern die neuropsychologischen Defizite die meisten subjektiv wahrgenommenen Folgen stumpfer Schädel-Hirn-Traumata. Die repetitiven Hirntraumata einer lang dauernden Karriere können zu einer Boxerdemenz mit neurobiologischer Ähnlichkeit zur Alzheimer-Krankheit führen. Eine neue Studie zweifelt jedoch an, ob häufige Schläge und Stöße auf den Kopf wirklich eine chronisch traumatische Hirnschädigung verursachen können. Diese chronisch traumatische Enzephalopathie gehe mit Ablagerungen von Tau-Protein im Gehirn und kognitiven und motorischen Einschränkungen einher. Rückblickend betrachtet waren die häufigsten Ursachen, die zum Tode im Boxring führten, kardiale Komplikationen, Risse von Leber oder Milz sowie Kopf- und Nackenverletzungen wie Zerreißungen oder Thrombosen größerer Hirngefäße, Epiduralblutungen, Subduralhämatome und andere Verletzungen. Todesfälle im Boxsport Laut der Manuel Velazquez Boxing Fatality Collection starben im Ring oder an den Folgen eines Boxkampfs seit dem Engländer John Lambert 1724 über 2000 Boxer. Prominente Todesfälle Pedro Alcázar (1975–2002), Weltmeister der WBO im Superfliegengewicht Sonny Banks (1940–1965), erster Profi der Muhammad Ali zu Boden schlug Andy Bowen (1864–1894), bestritt gegen Jack Burke den bisher längsten Boxkampf Frankie Campbell (1904–1930), US-amerikanischer Schwergewichtler Randie Carver (1974–1999), Golden Gloves Champion und NABF-Titelträger Kim Duk-koo (1959–1982), WM-Herausforderer der WBA im Leichtgewicht Angelo Jacopucci (1948–1978), Europameister im Mittelgewicht Leavander Johnson (1969–2005), Weltmeister der IBF im Leichtgewicht Davey Moore (1933–1963), Weltmeister im Federgewicht Johnny Owen (1956–1980), Europameister im Bantamgewicht Greg Page (1958–2009), Weltmeister der WBA im Schwergewicht Benny Paret (1937–1962), Weltmeister im Weltergewicht Choi Yo-sam (1972–2008), Weltmeister der WBC im Halbfliegengewicht Ed Sanders (1930–1954), Olympiasieger im Schwergewicht Ernie Schaaf (1908–1933), US-amerikanischer Schwergewichtler Roman Simakov (1984–2011), Asienmeister der WBC im Halbschwergewicht Lito Sisnorio (1982–2007), Juniorenweltmeister der WBC im Fliegengewicht Robert Wangila (1967–1994), Olympiasieger im Weltergewicht Amateurboxen Die strengen Schutzvorschriften, die Sperren nach K. o. und das wesentlich frühere Anzählen, die 10-Unzen-Handschuhe (im Schwergewicht 12 Unzen) sowie die Beschränkung des Wettkampfes auf drei Runden senken das Gesundheitsrisiko. Trotzdem lassen sich auch beim Amateurboxen Todesfälle und schwere Verletzungen nicht immer verhindern. Im Jahr 2013 wurde allerdings der Kopfschutz bei den Erwachsenen („Elite“)-Boxern wieder abgeschafft, nachdem große Studien aus den USA und Kanada gezeigt hatten, dass der Kopfschutz bei Profis in der Eishockey- und Football-Liga eher kontraproduktiv war: Erstens kam es bei Querbeschleunigung durch das große Gewicht des Kopfes inklusive Kopfschutzgewicht zu vermehrten Schäden des Gehirns, zweitens zeigte sich, dass mit Kopfschutz wesentlich aggressiver und risikobereiter agiert wurde. Es wurden erschreckende Zahlen unter 40-jähriger dementer Eishockey- und Footballspieler dokumentiert. Gesetzliche Verbote In Kuba, dem Iran, Island und Nordkorea ist professionelles Boxen verboten, Kämpfe finden lediglich auf Amateurstatus statt. In Schweden wurde 2006 das seit 37 Jahren bestehende Verbot teilweise aufgehoben. In Norwegen wurde 2014 das seit 1982 bestehende Verbot aufgehoben. In Deutschland bestand bis 1918 ein polizeiliches Boxverbot, jedoch wurde bereits 1906 der erste deutsche Boxverein (SC Colonia 06, Köln) gegründet. Berühmte Boxkämpfe Am 19. Juni 1936 traf der deutsche Boxer Max Schmeling auf den unbesiegten „Braunen Bomber“ Joe Louis, der als bis dahin bester Boxer der Geschichte bezeichnet wurde und als unbesiegbar galt. Kaum jemand räumte Schmeling eine Chance ein, Louis zu schlagen – insbesondere auch Louis selbst nicht, der seinem Gegner wenig Wichtigkeit zumaß. Schmeling, der nach dem Vorbild seines Vorgänger-Weltmeisters Gene Tunney Filme von Kämpfen seines Gegners studierte, hatte jedoch eine Schwachstelle in Louis Boxstil erkannt. Er ließ seine Linke, nachdem er mit ihr geschlagen hatte, zu tief sinken und bot so die linke Gesichtshälfte, insbesondere die Schläfe ungedeckt an. So musste Louis während des Kampfes härteste Treffer durch Schmelings Rechte schlucken und in der 12. Runde schließlich K. o. gehen. Gezeichnet von seiner ersten Niederlage gegen Max Schmeling strebte Joe Louis einen Revanchekampf gegen den Mann an, der ihn besiegt hatte. Schmeling, der um den schon angesetzten Titelkampf gegen Jim Braddock geprellt wurde, bekam so die Chance, wieder um einen Weltmeisterschaftstitel zu boxen, da Louis als Verlierer des Ausscheidungskampfes den Titelkampf bekommen hatte und durch einen Sieg über Braddock Weltmeister geworden war. Diesmal war der Druck, der auf den beiden Boxern lastete, besonders hoch. Der Kampf wurde zur symbolischen Auseinandersetzung der Systeme stilisiert, Schmeling zum Vertreter des rassistischen NS-Regimes erklärt. Ironischerweise wurde der schwarze Joe Louis zum Vorkämpfer für das damalige weiße Amerika, das gegenüber seinen schwarzen Mitbürgern selbst rassistisch eingestellt war. Am 22. Juni 1938 trafen die beiden wieder aufeinander. Diesmal wusste Louis genau, was ihn erwarten würde. Er gewann bereits in der 1. Runde durch ein technisches K. o. 25. Februar 1964. Der junge aufstrebende Cassius Clay bekam die Chance zum Weltmeisterschaftskampf gegen Sonny Liston. Der Kampf sowie der Rückkampf, bekamen den Namen Muhammad Ali vs. Sonny Liston. Wieder einmal konnte ein zuvor krasser Außenseiter nach dem Kampf zum Sieger gekürt werden. Liston gab zu Beginn der 7. Runde auf, da er den leichtfüßigen Clay nicht traf, dafür selbst permanent getroffen wurde. Ein Jahr später, am 25. Mai 1965 kam es zum Revanchekampf zwischen Sonny Liston und Cassius Clay, der sich von nun an Muhammad Ali nannte. Bereits in der ersten Runde lag Liston auf dem Boden und verlor den Kampf durch K. o. Viele Zuschauer witterten einen Betrug, da sie keinen klaren Schlag gesehen haben, der Liston traf. Doch in der Zeitlupe sah man, dass Liston schwer von Ali getroffen wurde. Dieser blitzschnelle Schlag ging als „Phantom Punch“ oder „Anchor Punch“ in die Geschichte ein. Da Muhammad Ali den Kriegsdienst verweigerte (es war zu Zeiten des Vietnamkriegs) setzten die von US-amerikanischen Interessen dominierten Boxsportverbände die Aberkennung seines sportlichen Titels durch. Er durfte erst Anfang der 70er Jahre wieder boxen. Nach 2 Aufbaukämpfen stellte er sich dem neuen Weltmeister „Smokin’ Joe“ Frazier. Dieser Fight of the Century (Deutsch: „Kampf des Jahrhunderts“) führte am 8. März 1971 zwei Boxer zusammen, die bis dahin noch unbesiegt waren. Er ging als einer der spektakulärsten und besten Titelkämpfe in die Geschichte des Schwergewichtsboxens ein. Frazier brachte Ali die erste Niederlage bei. In der 15. Runde hatte er Ali mit einem mächtigen linken Haken auf die Bretter geschickt und gewann nach Punkten. Alis vor dem Kampf praktizierte PR-Methoden, wobei er Frazier zum Teil schwerstens persönlich beleidigte, ließen die beiden Kontrahenten zu Erzfeinden werden. Joe Frazier wurde von George Foreman entthront. Muhammad Ali hatte unterdessen alle relevanten Gegner der Weltrangliste bekämpft und besiegt, um sich selbst als einzig relevanten Gegner anzubieten. So bekam er eine erneute Chance, um einen Weltmeisterschaftstitel zu boxen. Ali galt aber wie schon vor 10 Jahren gegen Liston als Außenseiter. Foreman galt als brutaler Puncher, der alle seine Gegner bis dahin in wenigen Runden K. o. geschlagen hatte. Don King organisierte den Kampf, der am 30. Oktober 1974 in Kinshasa Zaire (heute: Demokratische Republik Kongo) ausgetragen wurde und als „Rumble in the Jungle“ bekannt wurde. Ali begriff, dass er körperlich keine Chance gegen Foreman hatte und sah die einzige Siegeschance in seiner Rope-a-Dope genannten Taktik. Nachdem er in der ersten Runde wie einst gegen Liston seine überlegene Schnelligkeit demonstrierte, damit dem erwarteten Sturmangriff Foremans die Basis nahm, ließ er sich ab der zweiten Runde von Foreman gegen die Seile treiben, lehnte sich mit dem Kopf weit zurück und schützte mit den Händen seinen Oberkörper, sodass Foremans Fäuste keinen Schaden anrichten konnten. Währenddessen rief er Foreman oft Provokationen entgegen, wie „Ist das alles, was du zu bieten hast?“ oder „Meine Großmutter schlägt härter!“ Der dadurch immer blindwütiger werdende Foreman schlug sich in der tropischen Hitze müde. Mit fortlaufender Rundenzahl kam Ali zum Ende jeder Runde aus seiner Deckung und deckte Foreman mit schnellen Kopftreffern ein. In einem günstigen Moment in der 8. Runde schlug Ali den erschöpften Foreman mit neun aufeinanderfolgenden Kopftreffern zu Boden und gewann den Kampf schließlich durch K. o. Joe Frazier wollte wieder Weltmeister werden und trat erneut gegen „den Größten“, Muhammad Ali, an. Don King organisierte wieder den Fight. Diesmal sollte er in Manila auf den Philippinen stattfinden. Deshalb auch sein berühmter Name „Thrilla in Manila“. Es war der letzte von drei Kämpfen, die Ali und Frazier gegeneinander bestritten. Frazier wollte Ali unbedingt besiegen, da er ihn nicht leiden konnte – wurde er doch immer von ihm provoziert und beleidigt. Am 30. September 1975 trafen die beiden aufeinander. Es war ein sehr hart geführter Kampf. Beide gingen ein hohes Tempo. Ali dominierte zu Beginn den Kampf, schien einem leichten Sieg entgegenzusteuern. Doch der als Spätstarter bekannte Frazier kam immer stärker auf, bearbeitete seinen Kontrahenten mit zahlreichen effektiven Körpertreffern und konnte immer häufiger seinen gefürchteten linken Haken ins Ziel bringen. In der Mitte des Kampfes schien es, als werde er Ali überrollen. Dieser fing sich jedoch, holte alles aus sich heraus und steigerte sich zu seiner höchsten Leistungskraft. So konnte er den Kampf, der in einer 40 °C heißen Halle ausgetragen wurde, drehen und am Ende wieder dominieren. Der zunehmend erschöpftere Frazier hatte völlig verschwollene Augen und war quasi blind, musste dadurch schlimmste Kopftreffer einstecken, doch „Smokin’ Joe“ gab nicht auf. Nach der 14. Runde brach Fraziers Betreuer Eddie Futch den Kampf ab, da er die Gesundheit seines Schützlings für gefährdet hielt. Der siegreiche Ali brach unmittelbar danach im Ring zusammen. Beide Boxer landeten im Krankenhaus. Ein ehrgeiziger junger Boxer mit einem besonderen Kampfstil boxte sich Mitte der 1980er Jahre in den Ranglisten hoch und bekam die Chance Weltmeister zu werden: Mike Tyson. Er hatte den Beinamen „Kid Dynamite“, da er erst 20 Jahre alt war und einen Kampfrekord von 27 Siegen und 0 Niederlagen zu verbuchen hatte. Fast alle Kämpfe wurden in den ersten Runden durch K. o. oder TKO entschieden. So auch sein erster Weltmeisterschaftskampf gegen Trevor Berbick am 22. November 1986. Bereits in der 2. Runde wirkte Berbick erschöpft und nach einem weiteren Niederschlag war der Kampf beendet. Dieser K. o. wurde weltberühmt, da Berbick immer wieder aufzustehen versuchte, aber andauernd hinfiel – ein Treffer auf das Ohr hatte den Gleichgewichtssinn gestört. Mike Tyson wurde damit bis dahin jüngster Weltmeister, und wenig später vereinte er die Weltmeistertitel der Verbände WBA, WBC und IBF. Drei Jahre lang verteidigte der unumstrittene Weltmeister aller Klassen Mike Tyson seine Titel und niemand konnte ihn stoppen. Irgendwann glaubte auch er, er sei unbesiegbar. Dies und die Tatsache, dass Tyson enorme private Probleme hatte, führten schließlich zu seiner sensationellen Niederlage gegen James „Buster“ Douglas. Am 11. Februar 1990 kam es zum Alptraum für Tyson. Er war boxerisch klar unterlegen, konnte Douglas jedoch am Ende der 8. Runde zu Boden schlagen, doch der Gong rettete diesen. In der 10. Runde verpasste Douglas „Iron Mike“ einen Aufwärtshaken und setzte sofort mit Kombinationen nach. Tyson ging zu Boden und versuchte nun seinen herausgefallenen Mundschutz wieder aufzuheben und in den Mund zu stecken. Diese Bilder des einstmals unbesiegbaren Tyson gingen um die Welt und waren eine Sensation für die Boxwelt. James „Buster“ Douglas verlor allerdings bereits seine erste Titelverteidigung gegen Evander Holyfield. Am 9. November 1996 freute sich die Boxwelt auf den langersehnten Kampf „Tyson vs. Holyfield“. Tyson, der wieder Weltmeister wurde, verteidigte hier seinen Titel. Doch der Zahn der Zeit nagte auch an Tysons boxerischem Talent. Holyfield gewann den Kampf durch TKO in der 11. Runde. Zum Skandalum wurde der Revanchekampf. Am 28. Juni 1997 boxten die beiden wieder um den Weltmeisterschaftstitel. In der dritten Runde biss Tyson ein Stück vom rechten Ohr seines Kontrahenten Holyfield ab. So etwas hatte es nie zuvor gegeben. Tyson wurden darauf vom Ringrichter zwei Punkte abgezogen. Als Tyson in der gleichen Runde ein zweites Mal in Holyfields Ohr biss, wurde er nach dieser Runde wegen dieser groben Unsportlichkeit disqualifiziert und für ein Jahr gesperrt. Die Schmerzensgeldsumme betrug drei Millionen US-Dollar. Als Grund für die Beißattacke gab Tyson an, er habe mehrere Kopfstöße von Holyfield erhalten. Als sein designierter Herausforderer Jarrell Miller wegen eines positiven Drogentests nicht mehr infrage kam, musste sich der britische Schwergewichtsweltmeister Anthony Joshua, der zuvor Wladimir Klitschko besiegt hatte, nach Ersatz umsehen. Den Zuschlag erhielt schließlich der etwas korpulente mexikanisch-amerikanische Boxer Andrés „Andy“ Ruiz Jr., gegen den Joshua am 1. Juni 2019 antrat. Nachdem der als „Notlösung“ angesehene 15-1-Außenseiter Ruiz in 3. Runde zu Boden musste, schickte er den amtierenden Schwergewichtsweltmeister Joshua in Runde 4 gleich zweimal auf die Bretter, wobei vor allem der zweite Niederschlag bei Joshua Eindruck hinterließ. Nachdem dieser in der 7. Runde erneut zwei Mal von Ruiz zu Boden geschickt wurde, brach der Ringrichter den Kampf nach dem insgesamt vierten Niederschlag ab, da Joshua auf seine Fragen nicht ausreichend Antwort gab und nicht voll bei Bewusstsein wirkte. Dieser TKO-Sieg des krassen Außenseiters Andy Ruiz Jr. wurde sofort zu einer der größten Sensationen der jüngeren Sportgeschichte erklärt und wird seitdem oftmals mit dem Sieg von James „Buster“ Douglas gegen Mike Tyson verglichen. Siehe auch Liste amtierender Boxweltmeister Liste der Boxweltmeister im Schwergewicht Liste der Kämpfe um Boxweltmeistertitel im Schwergewicht Boxstall BoxRec (Informationen über Boxkämpfe und Boxer mit Ranglisten) K-1 Schachboxen Literatur Sachbücher Siegfried Ellwanger, Ulf Ellwanger: Boxen basics: Training – Technik – Taktik. Pietsch Verlag, Stuttgart 2008, ISBN 978-3-613-50559-9. Knud Kohr, Martin Krauß: Kampftage. Die Geschichte des deutschen Berufsboxens. Verlag Die Werkstatt, Göttingen 2000, ISBN 3-89533-309-3. Manfred Luckas: So lange du stehen kannst, wirst du kämpfen: Die Mythen des Boxens und ihre literarische Inszenierung. dissertation.de, Berlin 2002, ISBN 3-89825-354-6. Loïc Wacquant: Leben für den Ring: Boxen im amerikanischen Ghetto. UVK, Konstanz 2003, ISBN 3-89669-788-9. Belletristik Joyce Carol Oates: Über Boxen. Manesse-Verlag, Zürich 1988, ISBN 3-7175-8120-1. Weblinks Boxregeln im Amateur- und Profiboxen Verbotene Handlungen beim Boxsport Aspekte zur Entstehung des Boxsports in der Welt Einzelnachweise Kampfsportart Olympische Sportart Kampfkunst (Europa)
Q32112
709.199809
49791
https://de.wikipedia.org/wiki/Meeresfr%C3%BCchte
Meeresfrüchte
Als Meeresfrüchte bezeichnet man in der Regel alle essbaren Meerestiere, die keine Wirbeltiere sind. Typische Meeresfrüchte sind Muscheln und Wasserschnecken, Tintenfische und Kalmare, Garnelen, Krabben, Langusten und Hummer. Meeresfrüchte können Fang- oder Zuchtprodukte sein. Aus dieser Bezeichnung spricht ein deutlich agrarisch geprägtes Verständnis der Nutzung des Meeres, wie es sich idealerweise im Mittelmeerraum, speziell in Italien, ausprägen konnte. Insbesondere die Römer verstanden diese Nahrung als Segen der Meere und ihrer Götter, was z. B. im mehrmaligen Auftreten der Muschel in der antiken Mythologie belegt wird. In der christlichen Heiligenverehrung wurde die Muschel gleichermaßen übernommen (siehe Jakobsmuschel). Selbst in der Architektur des Barock und des Rokoko wurde die Muschel als vollkommenes Produkt der Natur neben anderen pflanzlichen Motiven zu einem der herausragenden Ornamente erkoren (siehe Rocaille). Nach den traditionellen jüdischen Speisegesetzen gelten Meeresfrüchte, da sie keine Schuppen haben, in der Regel als rituell unrein (tame) und kommen daher im koscheren Speiseplan nicht vor. Der Begriff Meeresfrüchte ist enger gefasst als das englische Seafood: Zum Seafood zählen alle essbaren Tiere und Pflanzen aus dem Meer, also auch Fische, Meeressäuger und Algen. Literatur Malden C. Nesheim, Ann L. Yaktine: Seafood Choices: balancing benefits and risks, National Academies Press, 738 Seiten, 2007, ISBN 978-0-309-10218-6. Weblinks
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https://de.wikipedia.org/wiki/1550
1550
Ereignisse Politik und Weltgeschehen Heiliges Römisches Reich 7. März: Herzog Wilhelm IV. von Bayern stirbt. Nachfolger wird sein Sohn Albrecht V. Der katholisch erzogene Fürst beruft den Protestanten Pankraz von Freyberg zu Hohenaschau an seinen Hof. 4. Oktober: Kurfürst Moritz von Sachsen beginnt mit der Belagerung der in die Reichsacht erklärten Stadt Magdeburg, welche die Annahme des Augsburger Interims verweigert. 6. November: Nach dem Tod von Ulrich, dem ersten protestantischen württembergischen Herzog, wird sein Sohn Christoph Herzog von Württemberg. Der Kaiser Karl V. beruft einen Reichstag zu Augsburg ein, welcher sich bis ins Jahr 1551 hinein erstrecken wird. Skandinavien 12. Juni: Der schwedische König Gustav I. Wasa gründet an der Mündung des Flusses Helsinge å die Stadt Helsingfors, die lange Zeit eine unbedeutende Kleinstadt im schwedisch beherrschten Finnland bleibt. Asien Der mongolische Fürst Altan Khan führt einen Feldzug gegen die Ming-Dynastie in China und belagert Peking. Nachdem König Tabinshwehti von Hofangehörigen der Mon in Pegu ermordet worden ist, kämpft sein Nachfolger Bayinnaung um die Wiedererrichtung des Zweiten Birmanischen Reichs. Amerika 6. Januar: Die Stadt Valledupar im heutigen Kolumbien wird von Hernando Santana und Juan de Castellanos gegründet. Wissenschaft und Technik Die Historia ecclesiastica gentis Anglorum (Kirchengeschichte des englischen Volkes) des Beda Venerabilis aus dem 8. Jahrhundert erscheint erstmals komplett in Druck. Der Kunsthistoriker Giorgio Vasari veröffentlicht die erste Auflage seiner Lebensbeschreibungen herausragender Künstler Le Vite de' più eccellenti pittori scultori ed architettori. Der französische Grammatiker Louis Meigret veröffentlicht die Trętté de la grammęre françoęze, eine französische Grammatik komplett in von ihm selbst reformierter Orthographie. Das Werk löst massive Auseinandersetzungen und Polemiken aus. Auf Basis der neuen Landesordnung aus dem Jahr 1543 des sächsischen Herzogs Moritz wird die dritte sächsische Landesschule gegründet, das heutige Gymnasium St. Augustin zu Grimma. Die Wahl ist auf diesen Standort gefallen, weil der Bischof von Merseburg die Schulgründung in seiner Stadt jahrelang hartnäckig verweigert hat. Kultur Der französische Apotheker Nostradamus beginnt mit der Veröffentlichung von jährlichen Almanachen, in denen die ersten Prophezeiungen für das jeweilige Jahr abgedruckt werden. Das erste Buch in slowenischer Sprache wird in Tübingen gedruckt. Herzog Cosimo I. de’ Medici lässt die Villa Medici La Topaia auf Basis eines älteren Gebäudes errichten. Giorgio Vasari veröffentlicht die erste Ausgabe seiner Künstlerbiographien Le Vite de’ più eccellenti architetti, pittori, et scultori italiani, da Cimabue infino a’ tempi nostri: descritte in lingua toscana da Giorgio Vasari, pittore arentino – Con una sua utile et necessaria introduzione a le arti loro. ab 1550: Die Mode der Pluderhose wird in Europa zur Kniebundhose verkürzt. um 1550: In Japan beginnt unter dem Einfluss von portugiesischen christlichen Missionaren die Zeit der Namban-Kunst. um 1550: Im Schachspiel entwickelt sich in Europa aus dem Königssprung die Rochade. Religion Nach 71-tägigem Konklave wird am 7. Februar Giovanni Maria Ciocchi del Monte als Kompromisskandidat zum Nachfolger des im Vorjahr verstorbenen Paul III. gewählt. Der neue Papst nimmt den Namen Julius III. an. Sein Pontifikat steht stark im Zeichen des Nepotismus. So erhebt er in seinem ersten Konsistorium vom 30. März seinen Adoptivneffen Innocenzo Ciocchi del Monte zum Kardinal. In Valladolid findet der Gelehrtenstreit, die sogenannte Disputation von Valladolid zwischen dem spanischen Hofchronisten Juan Ginés de Sepúlveda und dem Dominikaner Bartolomé de Las Casas über die Frage statt, ob die indigenen Völker der Neuen Welt eine Seele haben. Historische Karten und Ansichten Geboren Erstes Halbjahr 30. Januar: Giorgio Basta, kaiserlicher Generalfeldmarschall und Hofrat († 1607) 1. Februar: John Napier, schottischer Denker und Mathematiker († 1617) 17. Februar: Philipp, Graf zu Hohenlohe-Neuenstein, General der Aufständischen im Achtzigjährigen Krieg († 1606) 22. Februar: Karl, Graf von Arenberg († 1616) 25. Februar: Daniel Sudermann, deutscher Theologe und Kirchenlieddichter 2. April: Wilhelm Zepper, reformierter Theologe († 1607) 12. April: Edward de Vere, 17. Earl of Oxford, englischer Adeliger, Lord Great Chamberlain am Hofe Elisabeths I., möglicher Urheber von Shakespeares Werken († 1604) 8. Mai: Johann I., Pfalzgraf und Herzog von Pfalz-Zweibrücken († 1604) 25. Mai: Kamillus von Lellis, italienischer Ordensgründer und Heiliger († 1614) 26. Mai: Fabian I. von Dohna, Feldobrist und Söldnerführer, Hofmarschall und Abgesandter († 1621) 16. Juni: Marie Eleonore von Jülich-Kleve-Berg, Herzogin von Preußen († 1608) 27. Juni: Karl IX., König von Frankreich († 1574) Zweites Halbjahr 16. Juli: Matthia Ferrabosco, italienischer Komponist († 1616) 31. Juli: Jacobus Gallus, Komponist und Sänger († 1591) 5. September: Anton, Graf von Ortenburg († 1573) 8. September: Anton II., Graf von Delmenhorst († 1619) 10. September: Alonso Pérez de Guzmán, Herzog von Medina-Sidonia, Befehlshaber der Spanischen Armada († 1615) 29. September: Joachim Friedrich, Herzog von Brieg, Wohlau, Ohlau und Liegnitz († 1602) 30. September: Michael Maestlin, deutscher Mathematiker und Astronom († 1631) 2. Oktober: Rodolfo Acquaviva, italienischer Jesuit und Missionar († 1583) 4. Oktober: Karl IX., Reichsverweser, später König von Schweden († 1611) 15. Oktober: Heinrich von Nassau-Dillenburg, Bruder von Wilhelm I. von Oranien († 1574) 23. Oktober: Maria Andreae, deutsche Apothekerin, Armen- und Krankenpflegerin, Hofapothekerin in Stuttgart († 1632) 28. Oktober: Stanislaus Kostka, Heiliger der katholischen Kirche († 1568) Oktober: John Davis, englischer Entdecker († 1605) 21. Dezember: Ägidius Hunnius der Ältere, deutscher lutherischer Theologe († 1603) 31. Dezember: Henri de Guise, französischer Heerführer († 1588) Genaues Geburtsdatum unbekannt François d’Amboise, französischer Schriftsteller († 1619) Emilio de’ Cavalieri, italienischer Komponist, Organist, Diplomat, Choreograf und Tänzer († 1602) Safiye, Frau des osmanischen Sultans Murat III., Regentin im Zuge der sogenannten Weiberherrschaft († 1618) Geboren um 1550 Willem Barents, niederländischer Seefahrer († 1597) Henry Barrowe, englischer Puritaner († 1593) Giovanni Battista Bovicelli, italienischer Franziskaner, Komponist, Sänger, Musiktheoretiker († um 1594) Henning Brabandt, deutscher Jurist, Bürgerhauptmann und herzoglicher Hofprokurator († 1604) Robert Browne, Gründer der englischen puritanischen Separatisten († 1633) Levin Buchius, deutscher Rechtsgelehrter († 1613) Gestorben Todesdatum gesichert 12. Januar: Andrea Alciato, italienischer Jurist und Humanist (* 1492) 15. Januar: Philipp Schenk zu Schweinsberg, Fürstabt von Fulda (* vor 1497) 19. Januar: Johann Lersner, deutscher Rechtswissenschaftler, Richter und Hochschullehrer (* 1512) 28. Januar: Magnus III., Herzog zu Mecklenburg und Administrator des Bistums Schwerin (* 1509) 2. Februar: Francis Bryan, englischer Adeliger, Diplomat und Günstling von Heinrich VIII. von England (* um 1490) 13. Februar: Eleonora Gonzaga della Rovere, Herzogin von Urbino (* 1493) 17. Februar: Marcantonio Flaminio, italienischer Philosoph, Dichter und Schriftsteller (* 1498) 20. Februar: Thomas Burgh, 1. Baron Burgh, englischer Adeliger und Politiker (* um 1488) 21. Februar: Francesco III. Gonzaga, ältester Sohn des Herzogs Federico II. (* 1533) 7. März: Wilhelm IV., Herzog von Bayern (* 1493) 22. März: Stephan Wild, deutscher Mediziner (* 1495) 31. März: Barbara von Rottal, mährische Adelige, möglicherweise außereheliche Tochter von Kaiser Maximilian I. (* 1500/01) 12. April: Claude de Lorraine, erster Herzog von Guise (* 1496) 17. Mai: Johann Albrecht von Brandenburg-Ansbach-Kulmbach, Erzbischof von Magdeburg und Bischof von Halberstadt (* 1499) 18. Mai: Jean de Lorraine, Erzbischof von Reims, Lyon und Narbonne (* 1498) 20. Mai: Ashikaga Yoshiharu, japanischer Shōgun (* 1511) 13. Juni: Veronica Gambara, italienische Dichterin (* 1485) 13. Juni: Johann Spangenberg, deutscher evangelischer Theologe und Reformator (* 1484) 18. Juli: Johannes Blasius, Schweizer evangelischer Pfarrer und Reformator (* 1490) 30. Juli: Thomas Wriothesley, 1. Earl of Southampton, englischer Adeliger (* 1505) 4. August: Pedro Machuca, spanischer Maler und Architekt (* um 1490) 7. September: Niccolò Tribolo, italienischer Bildhauer, Architekt und Gartengestalter (* um 1500) 8. September: Hans Vischer, deutscher Bildhauer und Erzgießer (* um 1489) 15. September: Jodok Mörlin, deutscher Reformator und Professor für Philosophie (* um 1490) 23. September: Innocenzo Cibo, italienischer Kardinal (* 1491) 25. September: Georg von Blumenthal, Bischof von Lebus und Ratzeburg (* 1490) 11. Oktober: Georg Pencz, deutscher Maler, Zeichner und Kupferstecher (* 1500/1502) 23. Oktober: Tiedemann Giese, Bischof von Kulm und Bischof von Ermland (* 1480) 26. Oktober: Ferdinand, Herzog von Kalabrien (* 1488) 6. November: Ulrich, Herzog von Württemberg (* 1487) 5. Dezember: Lorenz Fries, Würzburger fürstbischöflicher Rat, Historiker und Chronist (* 1489) 6. Dezember: Pieter Coecke van Aelst, flämischer Maler (* 1502) 20. Dezember: Matthias Greitter, Kantor und Komponist (* um 1495) Genaues Todesdatum unbekannt Diana di Cordona, italienische Kurtisane und Mätresse des polnischen Königs Sigismund II. August (* 1499) Ixtlilxochitl II., Herrscher der mesoamerikanischen Stadt Texcoco (* 1500) Weblinks
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https://de.wikipedia.org/wiki/Habsburgermonarchie
Habsburgermonarchie
Als Habsburgermonarchie oder Habsburgerreich (auch Habsburger, Habsburgische oder österreichische Monarchie oder Donaumonarchie) bezeichnet die Geschichtswissenschaft die Herrschaftsgebiete, die das Haus Habsburg (seit 1736 Habsburg-Lothringen) vom ausgehenden Mittelalter bis 1918 großenteils in Personalunion regierte. Der Länderkomplex war eine so genannte composite monarchy, eine zusammengesetzte Monarchie. Im Gegensatz zum modernen, zentral gelenkten Nationalstaat bestand sie aus unterschiedlichen, prinzipiell voneinander unabhängigen Territorien, die nur durch das gemeinsame monarchische Oberhaupt miteinander verbunden waren. Ein einheitliches Staatswesen im modernen Sinn wurde durch die Oktroyierte Märzverfassung von 1849 begründet, aber bereits 1867 im Österreichisch-Ungarischen Ausgleich wieder aufgelöst. Die Herausbildung der Habsburgermonarchie begann Ende des 13. Jahrhunderts, nachdem 1273 Rudolf I. als erster Vertreter seiner Dynastie zum Römisch deutschen König gewählt wurde und er 1278 mit dem Herzogtum Österreich eine bedeutende Hausmacht gewinnen konnte. Das Herrschaftsgebiet, das seine Nachkommen in den kommenden Jahrhunderten, sowohl durch Erbschaft als auch durch Eroberungen zusammenbrachten, bestand im Kern aus den habsburgischen Erblanden, den Ländern der böhmischen und der ungarischen Krone, einem Großteil der ehemals burgundischen Niederlande und Teilen Italiens wie den Herzogtümern Mailand und Toskana. Im 16. und 17. Jahrhundert, seit der Herrschaft Karls V., waren auch das Königreich Spanien mitsamt seinem Kolonialreich und dem Königreich Neapel sowie zeitweilig auch Portugal und seine Überseebesitzungen Bestandteile des Habsburgerreichs. Diese wurden jedoch nach Karls Abdankung und der Aufspaltung der Dynastie in eine österreichische und eine spanische Linie allein von letzterer regiert. Man spricht für diese Zeit von der österreichischen und der spanischen Habsburgermonarchie. Nicht zum Habsburgerreich zählen die reichsunmittelbaren Territorien des Heiligen Römischen Reichs, über welche die Habsburger in ihrer Funktion als Kaiser nur eine indirekte Oberherrschaft ausübten. Wie das spanische, war auch das im östlichen Mitteleuropa gelegene habsburgische Länderkonglomerat im Wesentlichen durch eine geglückte Heiratspolitik entstanden, wurde aber seit dem ausgehenden 17. Jahrhundert durch Eroberungen auf Kosten des Osmanischen Reichs wesentlich erweitert. Seit Ferdinand I., einem Bruder Karls V., wurde es von der österreichischen und seit Ferdinand II. von der innerösterreichischen Linie der Dynastie regiert. Diese trägt seit der Heirat Maria Theresias, der Tochter des letzten männlichen Thronerben, mit dem Herzog von Lothringen und späteren Kaiser Franz Stephan den Namen Habsburg-Lothringen. Der letzte römisch-deutsche Kaiser, Franz II., schuf 1804, als die Krönung Napoleon Bonapartes zum Kaiser der Franzosen und das Ende des Heiligen Römischen Reiches absehbar waren, aus eigener Machtvollkommenheit die österreichische Kaiserwürde. Das daraus entstandene Kaisertum Österreich regierte er fortan als Franz I., während er das Reich am 6. August 1806 für aufgelöst erklärte. Aus dem Kaisertum Österreich entstand nach dem so genannten Ausgleich von 1867 in Form einer Doppelmonarchie die österreichisch-ungarische Monarchie. Franz Joseph I. regierte den aus dem österreichischen und dem nunmehr gleichberechtigten ungarischen Reichsteil bestehenden Vielvölkerstaat in Realunion als Kaiser und König. Daher leitet sich für diese Zeit auch die Bezeichnung k. u. k. Monarchie ab. Nach der Niederlage Österreich-Ungarns und der mit ihm verbündeten Mittelmächte im Ersten Weltkrieg löste Franz Josephs Nachfolger, Kaiser Karl I. am 31. Oktober 1918 die Realunion auf. Die meisten nichtdeutschen und nichtmagyarischen Völker nutzten die absehbare Niederlage der k.u.k. Armee dazu, neue, unabhängige Staaten zu bilden. Kaiser Karl verzichtete am 11. November 1918 auf die Teilhabe. Am Folgetag, dem 12. November 1918 wurde in Deutschösterreich die Republik ausgerufen. Damit fand die über 640-jährige Herrschaft des Hauses Habsburg ihr Ende. Karl unternahm 1921 zwei vergebliche Versuche, die Herrschaft im nominell wiederhergestellten Königreich Ungarn zurückzuerlangen. Auf Drängen der Siegermächte und der Kleinen Entente verabschiedete das Parlament in Budapest daraufhin im November 1921 das Dethronisationsgesetz, das dem Haus Habsburg-Lothringen auch die ungarische Krone endgültig entzog. Übersicht Die Wurzeln der Habsburgermonarchie datieren in die Jahre 1276–1278, als Rudolf IV. Graf von Habsburg, der 1273 als Rudolf I. römisch-deutscher König geworden war, sein Haus mit den Herzogtümern Kärnten und Krain und dann auch mit den Herzogtümern Österreich und Steiermark belehnte und damit nach dem Intermezzo mit Ottokar II. Přemysl von Böhmen das Erbe der Babenberger antrat. Seit diesem Datum regierten die Habsburger mit nur kurzen kriegerischen Unterbrechungen ihre Hausmacht in Zentraleuropa. Seit Rudolf I. (als Graf der VI., als König I.) 1307 waren Habsburger (mit Unterbrechungen) Könige in Böhmen, seit Albrecht (als Graf der V., als Römischer König II.) 1437 Könige in Ungarn. Ununterbrochen regierten sie diese Länder seit Ferdinand I. 1526/27. Seit dieser Zeit gehörte die habsburgische Monarchie – deren Westen Teil des Heiligen Römischen Reiches war, während der Osten außerhalb des Reiches lag – zu den Großmächten Europas. Mit Maximilian I., dem letzten Ritter, bildete sich mit seiner Hochzeit und seinem Amtsantritt als Herzog von Burgund 1477 das Haus Österreich-Burgund, ab dieser Zeit etwa spricht man von der Habsburgermonarchie im eigentlichen Sinne. Auf dem Höhepunkt der Ausdehnung ihrer dynastischen Besitzungen und Regentschaften teilte sich die habsburgische Universalmonarchie 1556 mit der Abdankung Karls V., der als deutscher Kaiser und König in Spanien ein Weltreich beherrscht hatte, in dem die Sonne nicht untergeht, in eine österreichische und eine spanische Linie. Letztere wird auch „Haus Österreich“ oder Casa de Austria genannt, ihr Weltreich, die spanische Habsburgermonarchie, ist aber nicht Gegenstand dieses Artikels. Ein „Geburtsdatum“ der (österreichischen) Habsburgermonarchie kann auch mit dem Wormser Teilungsvertrag vom 28. April 1521 bzw. dem folgenden Brüsseler Vertrag vom 7. Februar 1522 gegeben werden, in dem die Übergabe der österreichischen Lande von Karl V. an seinen Bruder Ferdinand I. geregelt wurde. Allerdings gab es noch 1550 den am Widerstand der deutschen Kurfürsten und an der hinhaltenden Politik seines Bruders gescheiterten Versuch Karls V., seinen Sohn Philipp, den späteren spanischen König, zum König von Deutschland wählen zu lassen und das Universalreich auf diese Weise beisammenzuhalten. Die getrennte Erbfolge der spanischen und österreichischen Linie (Hausordnung vom 25. Februar 1554) kann man daher als das entscheidende Datum der Trennung der beiden Linien betrachten, wobei die gegenseitigen vorrangigen Erbansprüche im Falle des Erlöschens einer Linie dennoch erhalten blieben. Die spanische Linie starb im November 1700 aus. Frankreich, der große Widersacher der Habsburger dieser Ära (siehe habsburgisch-französischer Gegensatz), konnte im Spanischen Erbfolgekrieg eine neuerliche habsburgische „Einkreisung“ verhindern, und die Bourbonen übernahmen die spanische Krone. Die Habsburger konnten nur außerspanische Gebiete des Erbes ihrer spanischen Verwandten, vor allem die Österreichischen Niederlande und das Königreich Neapel, für die österreichische Linie erhalten. 1740 starben die österreichischen Habsburger im Mannesstamm aus. Auf Grund der zuvor in jeweils allen habsburgischen Territorien und Ländern erlassenen Pragmatischen Sanktion übernahm Maria Theresia jeweils als Königin, Erzherzogin usw. die sonst nur Männern vorbehaltenen Herrscherrechte und gründete mit ihrem Gatten das nachfolgende Herrscherhaus Habsburg-Lothringen. Der Kaiser des Heiligen Römischen Reichs indes wurde von den Kurfürsten gewählt und sein (nicht erbliches) Amt konnte aufgrund Reichsrechts nur von einem Mann ausgeübt werden, weshalb sich Maria Theresia nicht als geeignete Kandidatin qualifizierte. Die Pragmatische Sanktion wurde zwar im Österreichischen Erbfolgekrieg angefochten, die Monarchie ging aus dem Krieg aber nunmehr international anerkannt, wenngleich territorial geschmälert hervor. Maria Theresias Sohn, der Reformer Joseph II., strebte danach, die Habsburgermonarchie zu einem einheitlichen Staat mit deutscher Amtssprache zu entwickeln, scheiterte damit aber vor allem in Ungarn. Dennoch war laut Ernst Trost „Deutsch das Esperanto der Donauländer“. Durch die 1804 während der Koalitionskriege erfolgte Konstituierung der dem Haus Habsburg-Lothringen unmittelbar untertanen Länder als Kaisertum Österreich – eine Reaktion auf die Selbstkrönung Napoleons I. wenige Monate zuvor – wurde die Habsburgermonarchie, schon seit Maria Theresia zentral von Wien aus verwaltet, auch offiziell zum selbstständigen Staat. Das Heilige Römische Reich wurde 1806 für nicht mehr bestehend erklärt. Das Kaisertum Österreich blieb bis zum Ausgleich zwischen Österreich und Ungarn von 1867, der Österreich-Ungarn als Doppelmonarchie, als Realunion der zwei Staaten definierte, ein einheitlicher Staat. Einheitlich blieben in der Folge bis 1918 obligatorisch der Monarch, die Außenpolitik, Heer und Kriegsmarine sowie fakultativ vereinbarte Wirtschaftsstandards wie die gemeinsame Gulden-, dann Kronenwährung. Aufgrund ihrer Größe, ihrer Bevölkerungszahl und des Geltungsanspruchs ihrer Dynastie war die Habsburgermonarchie einer der wichtigsten Staaten Europas (der Pentarchie). In wechselnden Allianzen kämpfte sie in den meisten europäischen Kriegen mit. Als sich im 19. Jahrhundert der Nationalismus als mächtige Staatsidee in Europa etablierte, verlor Österreich-Ungarn als Gesamtstaat sukzessive Einfluss und hatte auf Grund seiner Multinationalität als Vielvölkerstaat immer größere Probleme in der Innenpolitik beider Teilstaaten. Sie führten am Ende des verlorenen Ersten Weltkriegs zur Auflösung der Habsburgermonarchie. Besonderheiten Die Habsburgermonarchie unterschied sich grundlegend von anderen Herrschaftsgebieten und Gesellschaften Europas. Westeuropäische Historiker stuften die Monarchie als politische Anomalie ein, deren strukturelle Schwäche dazu führte, dass sie sich ständig in einem Zustand der Krise und des drohenden Verfalls befand. Der Verlauf der Geschichte der Habsburgermonarchie wurde im Wesentlichen durch fünf Merkmale bestimmt: Einflüsse der Geopolitik und die Diplomatie des Gleichgewichts der Kräfte; die Unterschiedlichkeit und Individualität der habsburgischen Länder; die Identifikation der Habsburger-Dynastie mit dem Heiligen Römischen Reich; die Abhängigkeit, Konsens zwischen ihrer inländischen Elite und ausländischen assoziierten Mächten erreichen zu müssen; die Rolle der Monarchen selbst, Kontinuität und Sicherheit ihrer Herrschaftsgebiete zu gewährleisten. Monarchien wie Großbritannien, Frankreich oder Spanien konnten ihre Länder (zumindest vorübergehend) zu Nationalstaaten entwickeln, die auf eine gewisse Kontinuität als geografische Einheit zurückgeführt werden konnten; eine Einheit, die einen grundlegenden Grad an ökonomischer, kultureller und sprachlicher Homogenität förderte. Die separatistischen Bewegungen seit dem 19. Jahrhundert in Belgien (1830 Abspaltung von den Vereinigten Niederlanden), Norwegen (1905 Trennung von Schweden), Irland (Abspaltung des Großteils von Großbritannien), Schottland (Unabhängigkeitsreferendum 2014 gescheitert), im Baskenland und in Katalonien (Unabhängigkeitsreferendum angekündigt) zeigen, dass solche Entwicklungen nicht endgültig sein müssen. Im Kontrast dazu verfolgten die Habsburger eine auf Erweiterung angelegte Heirats- und Erbschaftspolitik, um unter ihrer Herrschaft auch völlig unterschiedliche Länder zu versammeln. Die Monarchie war bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts in hohem Maße dezentral organisiert. Jedes einzelne Königreich, Herzogtum, Fürstentum, jede Grafschaft, die unter Habsburgs Herrschaft gelangte, behielt die eigene Landesregierung, die fast unabhängig von Wien operierte. Die Stände des Landes hatten die Macht und das Recht, über die Forderungen des Landesfürsten zu verhandeln. Die Interessen der Stände und der Adeligen erhielten oft Vorrang vor denen des Landesfürsten; andernfalls musste er die für ihn positive Entscheidung oft mit Kompromissen, Privilegien oder anderen Zugeständnissen erkaufen. Im Gegensatz zu vielen anderen Monarchien im frühneuzeitlichen Europa versuchten die habsburgischen Herrscher zumeist, mit Adel und Klerus Konsens herzustellen, oft zu Lasten der Bürger in den Städten und der Untertanen der ländlichen Grundherrschaften, die beinahe völlig aus der Landespolitik ausgeschlossen waren. Gesamtstaatliche Institutionen Ferdinand I. richtete während seiner Regierung (1521–1564) verschiedene Staatsorgane ein, um die Leitung der Monarchie zu verbessern: Der Geheime Rat beriet den Monarchen in seiner Politik für das Heilige Römische Reich und für die (teilweise außerhalb des Reiches gelegenen) habsburgischen Länder. Für Ungarn und Böhmen bestanden eigene Hofräte sowie die ungarische und die böhmische Hofkanzlei Die Hofkammer war in der Habsburgermonarchie Vorläuferin des Finanzministeriums. Der Hofkriegsrat war finanziell und organisatorisch für die militärischen Angelegenheiten der Monarchie zuständig. Unter Ferdinands Nachfolgern wurden diese Behörden kaum modernisiert: Ferdinand II. gliederte 1620 die österreichische Hofkanzlei aus der Reichshofkanzlei aus. Neben der Verwaltung Nieder-, Ober- und Innerösterreichs war sie auch ausführendes Organ des Geheimen Rates. Seit Leopold I. tagte der Geheime Rat fast nur noch in Kommissionen (Konferenzen), nachdem dieser durch kaiserliche Patronage zu viele Mitglieder bekommen hatte: Die Geheime Konferenz wurde 1669 als engerer Ausschuss des Geheimen Rats errichtet, nachdem dieser durch kaiserliche Patronage zu viele Mitglieder bekommen hatte. Es dauerte allerdings nicht lange, bis auch die Geheime Konferenz mit den gleichen Problemen zu tun hatte wie vorher der Geheime Rat. Die deputatio in mensi, bestehend aus den Leitern der österreichischen und der böhmischen Hofkanzlei, der Hofkammer und des Hofkriegsrats, war seit 1698 zuständig für die Beratung der Finanzierung der Kaiserlichen Armee. Weitere Kommissionen befassten sich mit Reichsangelegenheiten und auswärtigen Beziehungen. Die Finanzkonferenz wurde 1717 von Karl VI. zur Aufsicht über die Finanzen eingerichtet. Der 1711 aus den spanischen Consejos gebildete Consejo de España wurde von Karl VI. gegründet, um ihn bei der (letztlich vergeblichen) Durchsetzung seiner spanischen Herrschaftsansprüche zu beraten. 1736 wurde er aufgeteilt: Italienischer Rat (Neapel, Sizilien, Mailand mit Mantua) Niederländischer Rat (österreichische Niederlande) Unter Karls Erbin Maria Theresia und ihren Nachfolgern wurde das Behördenwesen gründlich reformiert. Die meisten Reformen blieben aber auf die österreichischen Erblande einschließlich der Länder der Böhmischen Krone beschränkt und umfassten Ungarn nicht: Die Staatskanzlei wurde 1742 errichtet, um die ausländische Politik der Habsburgermonarchie festzulegen. Der Geheime Rat und die Konferenzen wurden abgeschafft. Das Generalkriegskommissariat, 1746 errichtet, erhielt die Kontrolle über die militärische Nachschubversorgung und hatte in der Praxis mehr Autorität über Kriegsangelegenheiten als der Hofkriegsrat jemals gehabt hatte. Das directorium in publicis et cameralibus (1749 errichtet) war ein übergreifendes Organ der Erblande. Entstanden aus der Zusammenlegung von böhmischer und österreichischer Hofkanzlei, bildete es mit Ausnahme der ungarischen Länder unter verschiedenen Namen und öfter wechselnden Kompetenzen bis 1848 die oberste Zentralstelle der politischen Verwaltung. Zu den Agenden gehörten unter anderen auch Angelegenheiten der Landwirtschaft, des Sanitätswesens, des Handels und Gewerbes, des Steuer- und Abgabenwesens, der Justizbehörden, der Gesetzgebung, des Bürgermilitärs und Ähnliches. Die Oberste Justizstelle fungierte im Erzherzogtum und Böhmen, später auch in den anderen Erblanden (außer Ungarn) als oberster Gerichtshof. Der Niederländische und der Italienische Rat wurden 1757 als Département de Pays-Bas bzw. Dipartimento d´Italia der Staatskanzlei eingegliedert . Der Staatsrat, 1760 errichtet, war oberstes Beratungsorgan der Monarchin, die bei Bedarf selbst den Vorsitz führte. Die Studienkommission, 1760 errichtet, bekam die Befugnis, den obligatorischen Schulunterricht innerhalb der Erblande zu verbreiten. Habsburgische Länder Stammlande der Habsburger Die eigentlichen Stammlande der Habsburger, wie sie seit dem mutmaßlichen Gründer der Habsburg, Radbot Graf im Klettgau, im 11. Jahrhundert historisch fassbar sind, sind Besitzungen in der heutigen Schweiz und im Elsass. Schon Rudolf von Habsburg, der erste habsburgische deutsche König, herrschte über Gebiete zwischen Vogesen, Schwarzwald und Vierwaldstättersee. Zu diesen Besitzungen kam, als die Habsburger die Babenberger beerbten, der heute österreichische Raum. Wesentlichen Anteil hatten die Habsburger bei den frühen Stadtgründungen und am Aufbau von Baden, Bremgarten, Brugg, Königsfelden, Laufenburg, Sursee sowie Waldshut. Diese Städte führen zum Teil noch heute das Habsburger Löwenwappen. Um 1385 gehörten zu den wichtigsten Besitzungen der Stammlande die Landgrafschaften, Herrschaften und Vogteien Sundgau, Breisgau, Rheinfelden, Kyburg, Thurgau, Nellenburg, Baden, Lenzburg, Willisau, Rothenburg, Wolhusen, Rapperswil, Gaster, Glarus, Feldkirch, und Freiburg im Üechtland. In dieser Zeit gingen die Stammlande an die Alte Eidgenossenschaft verlustig, die Reste werden unter dem Territorium Vorderösterreich zusammengefasst. Von den Stammlanden hielten sich nur Laufenburg und Rheinfelden bis 1802, Tarasp bis 1807, und in Reminiszenz die Titel Gefürsteter Graf von Habsburg und Kyburg im Großen Titel des Kaisers bis 1918. Später, als diese Besitzungen im Westen weitgehend verloren waren und der Begriff Erblande sich auf die ungarischen Länder und böhmischen Kronländer ausgedehnt hatte, fasste man unter Stammlande die noch aus der Babenbergerzeit übernommenen und in den frühen Jahren der Dynastie erworbenen Herrschaften, das „alte“ Erzherzogtum Österreich (als Titel) und seine herzoglichen, gräflichen und sonstigen Nebenländer, zusammen. Habsburgische Erblande Mit dem Begriff Habsburgische Erblande werden die von den Habsburgern beherrschten Territorien bezeichnet, in denen das Haus Österreich den erblichen Fürsten stellte und die schon längere Zeit im Besitz der Dynastie waren. Der Inhalt dieses Begriffs hat sich mit der Zeit gewandelt. Er diente auch als Abgrenzung für die familiäre Hausmacht innerhalb des Heiligen Römischen Reiches, als dessen König oder Kaiser ab 1273 mehrmals und ab 1438 in fast durchgehender Folge Habsburger Fürsten gewählt wurden. Die Habsburgischen Erblande umfassten damals bereits große Gebiete des deutschen Sprachraumes, teilweise auf Gebieten der heutigen Schweiz, Deutschlands, Frankreichs und Österreichs sowie im heutigen Ungarn, Italien, Slowenien und Kroatien. Nach Aufhebung der ständischen Verfassung im Königreich Böhmen (Verneuerte Landesordnung 1627) wurde dieses wie seine Nebenländer Mähren und Schlesien ebenso als erblich erklärt, wie dies nach der Pragmatischen Sanktion von 1713 auch mit dem Königreich Ungarn geschah, womit sich die Habsburgermonarchie in einem frühen staatlichen Sinne als Einheit ausbildete. Obwohl die Bevölkerung der ursprünglichen Erblande großteils aus Deutschen bestand und die Habsburger diese Gebiete für Jahrhunderte regierten, entstand neben der deutschen Identität ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts innerhalb eines gemeinsamen Deutschlands sukzessive auch ein verstärktes, dynastisch orientiertes Österreichbewusstsein. Die Landtage hatten ein großes Maß an Autonomie gegenüber den habsburgischen Herrschern, die sich zuallererst als deutschösterreichische Fürsten sahen. Das Bestreben, auch das Königreich Ungarn (also die ungarische Krone und ihre Nebenländer) als Erblande anzusehen – immerhin hatten die Habsburger den Großteil des Landes von den Osmanen (zurück-)erobert – wurde mit dem Ausgleich von 1867 hinfällig (dass Franz Joseph und Elisabeth nochmals formell in Budapest zum ungarischen Königspaar gekrönt wurden, war eine Demonstration des Abgangs von dieser Staatstheorie). Die von Maximilian I. durch Heirat mit der Herzogin Maria von Burgund und deren Tod 1482 zum Haus Habsburg gekommenen burgundischen Territorien (Besitzungen im Rheingebiet, vor allem die Niederlande) wurden indes nie zu den Habsburgischen Erblanden gerechnet und kamen an die spanischen Habsburger. Auch nach 1715, als aus den Spanischen Niederlanden nach dem Übergang an den österreichischen Zweig des Hauses Habsburg die Österreichischen Niederlande wurden, wurden sie nie zu den Habsburgischen Erblanden gerechnet. Für die später in die Monarchie eingegliederten Territorien, z. B. Galizien, Bukowina und Dalmatien, wurde der Begriff ebenfalls nicht verwendet. Erzherzogtum Österreich und seine Nebenländer und Gebiete Im 15. Jahrhundert gehörten Niederösterreich (heutiges Niederösterreich, Oberösterreich), Innerösterreich (heutiges Steiermark und Kärnten, historisches Krain, um 1500 zählte man auch die Grafschaft Görz zu den Erblanden), Oberösterreich (historisches Tirol und heutiges Vorarlberg) sowie Vorderösterreich (ehem. Vorlande, verbliebene Stammlande und neuerworbene Besitzungen in der heutigen Schweiz, Bayern, Baden) dazu. Spalte Anmerkung sortiert nach dem Zeitpunkt der Erwerbung Länder der Böhmischen Krone Die Länder der Böhmischen Krone (tschechisch: Země koruny české) umfassten Böhmen, Mähren, die Grafschaft Glatz und Schlesien (ab 1742 nur Österreichisch-Schlesien) sowie die beiden Lausitzen (zwei 1635 mit allen landesherrlichen Rechten an Sachsen abgetretene Markgrafschaften) und andere Nebenländer. Die böhmischen Länder waren formal in einer Personalunion verbunden, der König von Böhmen war zugleich Herzog von Schlesien und Markgraf von Mähren. Die anderen Länder waren in Böhmen inkorporiert und Titularansprüche. An Habsburg kam die Böhmische Krone, vorher beim Haus Jagiełło, nach der Schlacht bei Mohács (1526) gegen die Osmanen, als die Stände Ferdinand I., den Bruder Kaiser Karls V., zum böhmischen König erkoren. 1627 wurde durch Ferdinand II. die Verneuerte Landesordnung erlassen, worin die Böhmische Krone als erblich erklärt wurde. Dadurch wurden die böhmischen Länder zu den habsburgischen Erblanden gezählt, sowohl von den Habsburgern selbst als auch vom böhmischen Adel, und ein langsamer Prozess der Integration mit den österreichischen Erblanden wurde in Gang gesetzt. Vom Ausgleich 1867 an wurde für die im Kaisertum verbliebenen Länder der Begriff Die im Reichsrat vertretenen Königreiche und Länder verwendet (Cisleithanien). Schon seit 1848 hatten sich, speziell in Böhmen, tschechische Abspaltungstendenzen gezeigt; ein österreichisch-tschechischer Ausgleich ähnlich dem Ausgleich mit Ungarn kam aber nicht zustande, da die große deutsche Minderheit in den böhmischen Ländern es ablehnte, unter tschechische Herrschaft zu geraten, und lieber von Wien aus regiert werden wollte. In Mähren kam es 1905 zu einem ausgewogenen Mährischen Ausgleich; in Böhmen herrschte aber statt Kooperation der Nationalitäten Konfrontation: Nach deren Eskalation wurde der böhmische Landtag 1913 aufgelöst. Im Ersten Weltkrieg sah die k.k. Regierung 1915 die Chance, den Ausdruck Österreichische Länder für ganz Cisleithanien einzuführen; parlamentarische Opposition der Tschechen war nicht zu befürchten, da der Reichsrat seit 1914 vertagt war. Länder der ungarischen Krone Die Länder der Heiligen Ungarischen Stephanskrone (Ungarisch: Szent István Koronájának Országai, Kroatisch: Zemlje krune Svetog Stjepana, Slowakisch: Krajiny Svätoštefanskej koruny) lagen in den heutigen Ländern Ungarn, Slowakei, Ukraine, Rumänien, Serbien, Kroatien, Slowenien und Österreich. Im Gegensatz zu den anderen Teilen der Habsburgermonarchie lagen diese Länder bzw. Landesteile außerhalb des Heiligen Römischen Reichs. Der ungarische Landtag bestand größtenteils aus magyarischen Adeligen und hatte das Recht, den König zu wählen. Auch ein vereinigter Landtag des Königreichs Slawoniens und des Königreichs Kroatien hatte dieses Recht, unabhängig von der Auswahl Ungarns. 1687, während des Großen Türkischen Kriegs, erklärte der ungarische Landtag die Heilige Ungarische Stephanskrone für erblich. Als Gegenleistung mussten die Habsburger dem ungarischen Adel erhebliche Konzessionen zugestehen: Der Landtag musste regelmäßig einberufen werden, Ungarn durfte sich teilweise selbst regieren und die Adeligen wurden von der Steuerpflicht befreit. Dadurch erhielt Ungarn einen besonderen Rang innerhalb der Habsburgermonarchie, den es bis 1867 zumeist bewahren konnte. 1867 fand der österreichisch-ungarische Ausgleich statt, mit dem Ungarn von 1867 bis 1918 zur vollen inneren Selbstständigkeit gelangte. Seit damals spricht man von Transleithanien. Weitere Länder Neben den Gebieten, die die Habsburger nach dem Tod von Ludwig II. erbten, wurden zwischen 1526 und 1804 auch andere Gebiete der österreichischen Habsburgermonarchie angeschlossen. Einige wurden vom Osmanischen Reich erobert, andere wurden nach dem Aussterben der spanischen Habsburger erlangt. Galizien kam durch die Polnischen Teilungen an das Haus Österreich. Das Großherzogtum Toskana, das Herzogtum Parma und das Herzogtum Modena wurden zeitweise von Habsburgern (als Sekundogenituren) regiert, bildeten aber keinen Teil ihrer zumeist von Wien aus regierten Monarchie. Spalte Anmerkung sortiert nach dem Zeitpunkt der Erwerbung Siehe auch Österreichische Kolonien Österreichisch-Ungarische Landesaufnahmen Literatur Pieter M. Judson: Habsburg. Geschichte eines Imperiums. Beck, München 2017, ISBN 978-3-406-70653-0. Géza Pálffy: A Magyar Királyság és a Habsburg Monarchia a 16. században. (dt. Das Königreich Ungarn und die Habsburgermonarchie im 16. Jahrhundert.) História, Budapest 2010, ISBN 978-963-9627-31-4. Charles W. Ingrao: The Habsburg Monarchy – 1618–1815. Cambridge University Press, Cambridge 2000. Constantin von Wurzbach: Biographisches Lexikon des Kaiserthums Oesterreich. 60 Bände, Wien 1856–1891. Weblinks Geschichte der Organisation des Wiener Hofes in der Frühen Neuzeit Einzelnachweise Osterreich Osterreich Habsburg Habsburg-Lothringen Tschechische Geschichte Kroatische Geschichte Polen-Litauen Rumänische Geschichte Slowakische Geschichte Geschichte Sloweniens Historisches Territorium (Italien) Ukrainische Geschichte Königreich Ungarn Polnische Geschichte (19. Jahrhundert) Polnische Geschichte (20. Jahrhundert)
Q153136
335.536502
31818
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Toronto
Toronto (englische Aussprache []; regional auch oder []) ist mit 2,96 Millionen Einwohnern die größte Stadt Kanadas und die Hauptstadt der Provinz Ontario. Sie liegt im Golden Horseshoe (Goldenes Hufeisen), einer Region mit über 8,1 Millionen Einwohnern, die sich halbkreisförmig um das westliche Ende des Ontariosees bis zu den Niagarafällen erstreckt. Rund ein Drittel der Bevölkerungszunahme des ganzen Landes lebte in den letzten Jahren in diesem Großraum. Die Einwohnerzahl der Metropolregion (Census Metropolitan Area) stieg von 4,1 Millionen im Jahr 1992 auf 5,6 Millionen im Jahr 2011. Die Greater Toronto Area hatte 2010 über 6,2 Millionen Einwohner. Die Stadt liegt am nordwestlichen Ufer des Ontariosees, dem mit 18.960 km² Fläche kleinsten der fünf Großen Seen. Durch die Eingemeindung einer Reihe von Vorstädten, die bereits mit Toronto verschmolzen waren (Etobicoke, Scarborough, York, East York und North York), wurde Toronto Ende der 1990er Jahre mehrfach vergrößert. Das Zentrum mit dem Einkaufs- und Bankendistrikt befindet sich in der Nähe des Sees. Die Haupteinkaufsstraße ist die Yonge Street. Toronto ist seit ungefähr den 1970er Jahren, nachdem Montreal über Jahrzehnte hinweg diese Rolle zugefallen war, Kanadas Wirtschaftszentrum und weltweit einer der führenden Finanzplätze. Geographie Lage Toronto liegt am Nordwestufer des Ontariosees und ist Teil des Québec-Windsor-Korridors, des am dichtesten besiedelten Gebiets Kanadas. In seiner unmittelbaren Nachbarschaft liegen westlich die Orte Mississauga und Brampton, die zur Regional Municipality of Peel gezählt werden. Etwas weiter im Osten befindet sich die Regional Municipality of Halton mit ihrem Hauptsitz in Milton. Im Norden liegen Vaughan und Markham (Regional Municipality of York). Im Osten liegt die Stadt Pickering, die zur Regional Municipality of Durham gehört. Zur Metropolregion Greater Toronto Area (GTA) gehören außer dem Stadtgebiet diese vier Regionalverwaltungen (Regional Municipality). Das Stadtgebiet umfasst eine Fläche von 630,18 km² und erstreckt sich in Nord-Süd-Richtung auf 21 und in Ost-West-Richtung auf 43 Kilometern. Die Fläche ist etwas kleiner als die von Hamburg (755 km²). Die Stadtgrenze bildet im Süden der Ontariosee, im Westen der Etobicoke Creek und der Highway 427, im Norden die Steeles Avenue und im Osten der Rouge River. Das Hafengebiet am Ufer des Sees bildet eine Küstenlinie von insgesamt 46 Kilometern Länge. Nördlich des Stadtgebiets erstreckt sich von der Niagara-Schichtstufe bis etwa nach Peterborough das rund 1900 km² umfassende Gebiet der Oak Ridges-Moräne, ein ökologisch bedeutsamer Grünzug. Topographie Toronto wird vom Humber River am westlichen Rand, vom Don River östlich der Downtown auf der gegenüberliegenden Seite des Hafens und von zahlreichen Nebenflüssen durchflossen. Der Naturhafen hat sich durch Sedimentation herausgebildet, die auch die Toronto Islands entstehen ließ. Die Vielzahl von Bächen und Flüssen, die von Norden her durch das Gebiet fließen und in den Ontariosee münden, haben zahlreiche bewaldete Schluchten geschaffen. Diese Schluchten beeinflussen die Stadtplanung derart, dass manche Verkehrsstraßen wie die Finch Avenue, die Leslie Street, die Lawrence Avenue und die St. Clair Avenue auf der einen Seite der Schlucht enden und sich auf der anderen fortsetzen. Der fast 500 Meter lange Prince Edward Viaduct überspannt die vom Don River gebildete 40 Meter tiefe Schlucht. Während der letzten Eiszeit lag der niedrigere Teil des Stadtgebietes unter dem Glacial Lake Iroquois, einem Eisstausee. Geländeabbrüche, die auf diese Zeit zurückgehen, sind von der östlich der Stadtmitte verlaufenden Victoria Park Avenue an der Mündung des Highland Creek zu erkennen. Die Scarborough Bluffs sind schroffe Felsklippen bis zu einer Höhe von 65 Metern auf einer Länge von 14 Kilometern entlang der Uferlinie des Ontariosees. Toronto hat keine nennenswerten Erhebungen. Der niedrigste Punkt liegt am Ufer des Ontariosees auf 75 Metern über dem Meeresspiegel, der höchste auf 270 Metern nahe der York University im Norden der Stadt. Wasserversorgung Die Wasserwirtschaft Torontos basiert, ebenso wie die der Region York, auf dem Ontariosee. Von 1843 bis 1873 stellte ein privates Unternehmen die Wasserversorgung sicher, seit 1873 übernimmt die städtische Verwaltung diese Aufgabe. Sie lässt heute durchschnittlich 2,9 Millionen Kubikmeter Wasser pro Tag durch das Versorgungsnetz pumpen. Seit 1949 haben die Stahlrohre mindestens einen Durchmesser von 750 mm und sind mit Zement und Beton eingeschlossen. Da der See genügend Wasser führt, kommt Toronto mit wenigen Reservoiren aus. Der Großteil des Wassers wird im Leitungssystem selbst gelagert. Toronto hat mit dem DLWC-Projekt ein neues Verfahren für die Klimatisierung von Bürogebäuden entwickelt. Da die Wassertemperatur am Grund des sehr tiefen Ontariosees das ganze Jahr über konstant bei vier Grad Celsius liegt, lässt es sich zur Kühlung der Innenstadt verwenden. Klima Aufgrund seiner Lage im äußersten Süden Kanadas herrscht in Toronto ein für das Land sehr moderates Klima (effektive Klimaklassifikation: Dfa). Die vier Jahreszeiten sind sehr ausgeprägt mit beträchtlichen Temperaturunterschieden, besonders in den kalten Monaten. Aufgrund der Nähe zum Wasser schwanken die Temperaturen besonders in dicht bebauten und ufernahen Gebieten tagsüber wenig. In bestimmten Zeiten des Jahres kann das mäßigende Klima des Sees in extreme lokale und regionale Wettersituationen umschwenken, wie beispielsweise den sogenannten Lake effect snow, der den Frühlingsbeginn hinauszögert und für herbstliche Bedingungen sorgt. Die Winter in Toronto sind kalt, mit kurzen Phasen, die extreme Temperaturen von unter −10 °C mit sich bringen, die durch den Wind als noch kälter empfunden werden. Die tiefste Temperatur wurde am 10. Januar 1859 mit −32,8 °C gemessen. Mit Schnee muss in Toronto von November bis Mitte April gerechnet werden. Neben Schneestürmen und Eisregen sind milde Abschnitte mit Temperaturen zwischen 5 und 14 °C möglich. Die Sommer sind durch lange Phasen feuchten Klimas charakterisiert. Die durchschnittliche Tagestemperatur variiert zwischen 20 und 29 °C. Sie kann jedoch auch bis 35 °C ansteigen. Die höchste gemessene Temperatur betrug am 8. Juli 1936 40,6 °C. Herbst und Frühling überbrücken die Hauptjahreszeiten mit milden bzw. kühlen Temperaturen und wechselnden Trocken- und Feuchtperioden. Die Niederschläge verteilen sich auf das ganze Jahr. Der Schwerpunkt liegt für gewöhnlich im Sommer, der feuchtesten Jahreszeit; der Großteil des Niederschlags fällt in Gewittern. Durchschnittlich beträgt die jährliche Gesamt-Schneehöhe 133 Zentimeter. Die größte Schneemenge wurde am 11. Dezember 1944 mit 48,3 Zentimeter Höhe gemessen. Die jährliche Sonnenscheindauer beträgt im Durchschnitt 2038 Stunden. Stadtgliederung Siehe auch: Liste der Ortsteile von Toronto Aufgrund der Diversität und in vielen Fällen auch recht ausgeprägten Identität von Torontos zahlreichen Stadtteilen wird die Stadt mitunter als City of Neighbourhoods („Stadt der Stadtteile“) bezeichnet. Bis zu 240 Teile hatte das Alte Toronto (englisch: Old City of Toronto) oder Downtown bis 1997, als es in Metropolitan Toronto eingegliedert wurde. Die Old City ist der am dichtesten besiedelte davon; in ihr befindet sich auch das Geschäfts- und Verwaltungszentrum. Seit dem 1. Januar 1998 besteht die Metropole aus den sechs Stadtbezirken (Gemeinden) Old Toronto (untergliedert in Downtown Core (Central), North End, East End, West End), North York, Scarborough, Etobicoke, York und East York, die wiederum in insgesamt 140 Stadtteile (englisch: neighbourhoods, hier: „Viertel“ oder „Wohngegenden“) untergliedert sind. Die 140 Stadtteile werden in insgesamt 44 Verwaltungsbezirke (englisch ward) zusammengefasst, denen ein Ratsherr (englisch councillor) vorsteht. Für Sitzungen werden die 44 Wards in die vier Gemeinderäte Etobicoke York Council, North York Community Council, Toronto and East York Community Council und Scarborough Community Council gegliedert. Die Community Councils wurden 1997 im Rahmen der Neugliederung geschaffen und bilden ein Gremium des City Council. Die Aufgabe der Gemeinderäte besteht darin, dem Stadtrat Vorschläge zu unterbreiten, sofern diese ihre Stadtteile betreffen. Geschichte Voreuropäische Besiedlung Die ältesten Spuren menschlicher Besiedlung im Raum der heutigen Stadt Toronto sind 11.000 Jahre alt. Prä-indianische Völker zogen nach der letzten Eiszeit von Süden an das Nordufer des Ontariosees. Die Wyandot nannten den Ort Tarantua, abgeleitet von tkaronto aus der Sprache der Mohawk, die zu den Irokesen gehören. Es bedeutet Ort, an dem Bäume am Wasser stehen und später Ort der Zusammenkünfte oder Treffpunkt. Die Bezeichnung geht auf den Lake Simcoe, an dem die Wyandot Bäume pflanzten und fischten und auf eine viel genutzte Portageroute vom Lake Simcoe zum Lake Huron (Toronto Carrying-Place Trail) zurück. Das heutige Stadtgebiet war die Heimat einer Reihe von First Nations, die am Ufer des Ontariosees lebten. Zu Beginn der europäischen Besiedlung lebten in der Nähe von Toronto die Neutralen, die die Franzosen so nannten, weil sie sich zu dieser Zeit aus den Kriegen heraushielten. Sie wurden Mitte des 17. Jahrhunderts von den Irokesen vernichtet. Daher lebten im Großraum Toronto Seneca, Mohawk, Oneida und Cayuga, die zu den Irokesen zählten. Unmittelbare Nachbarn waren die Senecadörfer Teiaiagon und Ganatsekwyagon. Europäische Entdeckung und Besiedlung Französische Handelskaufleute gründeten an der Stelle des heutigen Exhibition Place 1750 Fort Rouillé, das bereits 1759 wieder abgerissen wurde. Während des Amerikanischen Unabhängigkeitskrieges strömten britische Siedler in die Region. 1787 kam der sogenannte Toronto Purchase zu Stande, eine Vereinbarung zwischen der britischen Monarchie und der Mississaugas of the New Credit First Nation. Dabei tauschte die Mississaugas of New Credit 101.528 Hektar Land im Gebiet des heutigen Toronto gegen 140 Barrel an Gütern und 1700 britische Pfund. Dieser Handel wurde jedoch 1805 wieder rückgängig gemacht. Im 18. Jahrhundert nutzten die Pelzjäger den Treffpunkt recht erfolgreich für ihre Geschäfte, bis der britische Gouverneur Simcoe den wirtschaftlichen Umschlagplatz in ein Fort umbauen ließ und damit 1793 York gründete. Die Siedlung entwickelte sich nur langsam; der damalige Regierungssitz von Oberkanada war noch in Niagara-on-the-Lake. (→ Geschichte Ontarios) Erst 1797 wurde York Hauptstadt Oberkanadas. Während des Britisch-Amerikanischen Krieges kam es am 27. April 1813 zur Schlacht von York zwischen dem Vereinigten Königreich und den Vereinigten Staaten. Rund 1700 Amerikaner fielen in York ein. Der sechsstündige Kampf endete, nachdem die britische Seite ihr Munitionslager in die Luft gesprengt und sich nach Kingston zurückgezogen hatte. Nach der für beide Seiten verlustreichen Schlacht besetzten die Amerikaner sechs Tage lang York. Dass sie sich nicht dauerhaft behaupten konnten, wird als ein Grund dafür gesehen, dass sich die Briten in Kanada halten konnten. In der Folge kam es zu weiteren kriegerischen Auseinandersetzungen, die erst 1815 endeten. (→ Krieg und Einfluss mit den USA) Nach der Umbenennung von York in Toronto König Georg IV. gründete am 15. März 1827 das heute als University of Toronto bekannte King’s College, mit dem die Stadt weiter an Bedeutung gewann, nachdem bereits 1819 eine Bank geöffnet hatte, die Bank of Upper Canada, die bis 1866 bestand. Im Jahr 1832 wechselte der Regierungssitz Oberkanadas von Kingston nach York. Am 6. März 1834 wurde York zur besseren Unterscheidung von New York in Toronto umbenannt. Erster Bürgermeister wurde im selben Jahr William Lyon Mackenzie. Er war ein radikaler Reformer in Oberkanada. Dies gipfelte am 5. Dezember 1837 darin, dass er Rebellen gegen die Provinzregierung führte. Doch zwei Tage später musste er sich mit seinen Gefolgsleuten ergeben. Am 10. Februar 1841 entstand aus den britischen Kolonien Niederkanada und Oberkanada die Provinz Kanada, deren Hauptstadt 1849 bis 1852 und 1856 bis 1858 Toronto war. Mit der Gründung der kanadischen Konföderation am 1. Juli 1867 bildete sich die Provinz Ontario, deren Hauptstadt von Beginn an Toronto war. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entwickelte sich in der Stadt die Industrialisierung. So wurde am 19. Dezember 1846 von Toronto aus auch Kanadas erste telegrafische Nachricht verschickt, Ziel war das rund 60 Kilometer entfernte Hamilton. Zehn Jahre später, am 27. Oktober 1856, wurde die Eisenbahnverbindung zwischen Toronto und Montreal eröffnet. 1861 verkehrten die ersten Straßenbahnen entlang der Yonge Street, der King Street und der Queen Street. Um den wachsenden Bedarf zu decken, verkehrten vor der Elektrifizierung der öffentlichen Nahverkehrsmittel über 200 Straßenbahnwagen, die von rund 1000 Pferden gezogen wurden. Aufgrund der guten Verkehrsanbindung wurde die überregionale Landwirtschaftsmesse Canadian National Exhibition seit 1879 jährlich in Toronto abgehalten. In den 1850er Jahren stammten die Einwohner dieser britischen Kolonie überwiegend aus dem Vereinigten Königreich und mit rund 73 % waren die Einwohner damals mehrheitlich protestantisch. Die britische Dominanz hielt noch etwa ein weiteres halbes Jahrhundert an. Der Protestantismus war keine homogene Glaubensgemeinschaft, sondern teilte sich unter anderem in Anhänger der evangelischen Baptisten und der anglikanischen Gemeinschaft auf. Die religiösen Unterschiede führten zu heftigen Spannungen, die sich in den Jahren von 1867 bis 1892 in mehreren Unruhen niederschlugen. An den Auseinandersetzungen waren vor allem die Katholiken und die aus Irland stammenden Protestanten beteiligt. Aus der Volkszählung 1901 ging hervor, dass acht Prozent der Bevölkerung Torontos nicht aus dem Vereinigten Königreich stammten. Die größte Gruppe davon kam mit 6866 Einwanderern aus Deutschland, gefolgt von 3015 aus Frankreich; 3090 Personen hatten jüdische Vorfahren, 1054 kamen aus Italien, 737 aus den Niederlanden, 253 aus Skandinavien, 219 aus Asien und 142 aus Russland. Die Stadt hatte inzwischen gut 208.000 Einwohner. Die multikulturelle Gesellschaft Torontos war zur Wende ins 20. Jahrhundert bereits im Ansatz vorhanden. Wirtschaftlich hatte Toronto Quebec bereits in den 1870er Jahren überholt und war nach Montreal die zweitgrößte Kraft im Dominion Kanada. Am 19. April 1904 zerstörte der Großbrand von Toronto über 100 Gebäude in der Innenstadt. 1906 begann mit der Stromgewinnung an den Niagarafällen die Elektrifizierung der Stadt. Innerhalb von 20 Jahren stieg die Bevölkerung auf mehr als das Doppelte an und erreichte 1921 über 522.000 Einwohner. Danach schwächte sich die Wachstumsrate etwas ab. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts entstand eine Reihe wichtiger Bauwerke und Einrichtungen. So wurde im Juni 1913 das Toronto General Hospital an der College Street eröffnet und zwei Jahre später, am 19. März 1914, das 1912 gegründete Royal Ontario Museum. Allerdings bereitete die Integration der Rückkehrer vom europäischen Kriegsschauplatz ab 1918 enorme Probleme; allein etwa 100.000 von ihnen stammten aus dem Großraum Toronto. Mit dem Vorwand des späten Kriegseintritts Griechenlands entlud sich die Wut auf die Griechen. Diese waren mit 3000 Personen eine kleine Gruppe, waren jedoch im Stadtbild mit Betrieben und Restaurants sehr präsent. Am 2. August kam es zu den Griechenfeindlichen Ausschreitungen in Toronto 1918. Mehrere 10.000 Torontoer stürmten das griechische Viertel in der Yonge Street und zerstörten allein 20 Restaurants. Etwa 50.000 Menschen waren an den Straßenkämpfen beteiligt, die erst nach drei Tagen endeten. Bis in die 1920er Jahre gab es zum Teil konkurrierende Gesellschaften für die öffentlichen Nahverkehrssysteme. Diese wurden 1921 von der Stadt unter der Toronto Transportation Commission zusammengefasst, der späteren Toronto Transit Commission. Gleichzeitig stieg auch der Individualverkehr stark an. 1910 gab es rund 10.000 Automobile – diese Zahl erhöhte sich bis 1928 auf das Achtfache. Im Juni 1929 wurde das Royal York Hotel eröffnet, dessen Gebäude mit 28 Stockwerken und 124 Metern damals das höchste Bauwerk der Stadt war. Von den 1930er Jahren an veränderte sich die Skyline durch eine Vielzahl von Hochhäusern erheblich. Während der Weltwirtschaftskrise stieg bis 1933 die Arbeitslosenquote auf bis zu 30 % an, Kapital und persönliche Vermögen wurden vernichtet. Gleichzeitig sanken die durchschnittlichen Monatslöhne um über 40 %. Die Zahl der Eheschließungen und die Geburtenrate sank ebenfalls um 40 %. Selbst 1939 erreichte die Wirtschaftskraft noch nicht wieder den Stand von vor 1929. 1934 feierte die Stadt, die damals 629.285 Einwohner zählte, dennoch ihren 100. Geburtstag. Ähnlich wie im Ersten Weltkrieg war Kanada auch im Zweiten Weltkrieg Gegner des Deutschen Reiches, vor allem als Lieferant von Kriegsmaterial. Entbehrungen in Form von Lebensmittelrationierungen und Sperrzeiten für Strom und Wasser kennzeichneten die Kriegswirtschaft, die zahlreiche Arbeitsplätze in der Produktion von Kriegsmaterialien hervorbrachte. Nach 1945 musste die Wirtschaft wieder auf zivile Produkte umgestellt werden. Am 17. September 1949 kam es im Hafen von Toronto zu einer Katastrophe, als der Passagierdampfer Noronic, der während einer Große-Seen-Kreuzfahrt über Nacht an Pier 9 ankerte, in Flammen aufging und innerhalb kurzer Zeit ausbrannte. 122 Passagiere kamen ums Leben. Entwicklung zur Millionenstadt Bereits in den 1950er Jahren erreichte Torontos Bevölkerung die Millionengrenze. Die Zuwanderung aus dem europäischen und asiatischen Raum ist vor allem auf die dortigen Zerstörungen im Zweiten Weltkrieg zurückzuführen. Mit dieser Entwicklung verlagerten sich Wohn- und Arbeitsräume deutlich außerhalb der Stadtgrenzen: Bis 1946 befanden sich 90 % der Industriebetriebe von York County in der Stadt. 1954 waren es noch 77 %. Diesem Trend folgten die immer besser werdenden Verkehrs- und Transportwege und verstärkten ihn noch. Allerdings stand die Stadt in Kanada sowohl hinsichtlich der Bevölkerungszahl als auch der Wirtschaftskraft nach wie vor nur an zweiter Stelle hinter Montreal. Am 1. Januar 1954 wurde die Metropolregion Municipality of Metropolitan Toronto geschaffen. Das Gebilde bestand aus der Innenstadt, den Bezirken New Toronto, Mimico, Weston, Leaside, Long Branch, Swansea und Forest Hill sowie den Stadtgemeinden Etobicoke, York, North York, East York und Scarborough. Die neu gegründeten Verkehrsbetriebe Toronto Transportation Commission trieben den Ausbau des Torontoer U-Bahn-Netzes voran und eröffneten eine Reihe neuer Buslinien. Meilensteine in der Stadtentwicklung waren die Fertigstellung des letzten Abschnittes des Highway 401 und die Eröffnung des Gardiner Expressway. Bereits 1965 hatten in Toronto mehr nationale Behörden ihren Hauptsitz als in Montreal. Zudem förderte der Separatismus in Québec die Abwanderung von Wirtschaftsunternehmen nach Toronto. Die Einwohnerzahl der Metropolregion Toronto überflügelte 1976 nach den Ergebnissen der Volkszählung erstmals die von Montreal. Mit dem Eintritt Kanadas in die Gruppe der Acht (damals G7) im selben Jahr rückte die Stadt auch international auf die politische Bühne. 1988 war Toronto Austragungsort der 14. Konferenz der G7. Am 1. Januar 1998 wurden die Stadtbezirke tiefgreifend reformiert, wobei autonome Stadtgemeinden mit der Stadt Toronto verschmolzen wurden. Seitdem ist Toronto Kanadas bevölkerungsreichste und wirtschaftlich stärkste Stadt. Sir Peter Ustinov bemerkte einmal, Toronto sei sauber und sicher wie ein von Schweizern geführtes New York. Toronto gilt als die sicherste Stadt Kanadas. (→ Kriminalität) Am 10. August 2008 ereignete sich im Stadtbezirk North York auf dem Gelände der Propangasanlage von Sunrise Propane Industrial Gases eine schwere Explosion. Rund 100 Häuser blieben in der Folge unbewohnbar. (siehe Explosion von Toronto 2008) Vom 26. bis zum 27. Juni 2010 fand der vierte G20-Gipfel in Toronto statt. Einen Tag zuvor wurde der 36. G8-Gipfel in Huntsville abgehalten, der ursprünglich auch das G20-Treffen hätte beherbergen sollen. Politik Politische Strukturen Torontos Stadtverwaltung ist einstufig, das Regierungssystem besteht aus Bürgermeister und Stadtverordneten. Diese Verwaltungsstruktur ist im City of Toronto Act festgeschrieben. Erst seit der Umbenennung von York in Toronto hat die Stadt offiziell einen Bürgermeister. Davor stand der Chairman of the General Quarter Session of Peace dem Ort vor. Der Bürgermeister wird durch die Stadtbevölkerung direkt gewählt und ist Vorsitzender der Stadtregierung. Der Toronto City Council ist eine aus einer Kammer bestehende Legislative mit 44 Stadträten, welche die Stadtbezirke repräsentieren. Der Bürgermeister und die Stadträte werden seit der Wahl im Jahr 2006 für eine vierjährige Legislaturperiode gewählt, vorher war sie dreijährig. Rob Ford war von 2010 bis 2014 der 64. Bürgermeister. Im November 2013 wurde Ford durch die Stadtverordneten der meisten seiner Amtsbefugnisse enthoben. Vorher waren seit Jahren Vorwürfe von Vetternwirtschaft erhoben worden, im Jahr 2013 wurde zudem bekannt, dass er Crack-Kokain konsumierte und im Kontakt zu bekannten Kriminellen stand. Ford blieb formal im Amt und konnte repräsentativen Aufgaben nachgehen, hat aber keine politischen Funktionen mehr. Von 2014 bis zum 17. Februar 2023 war John Tory der 65. Bürgermeister. Er wurde mit 40,27 % der Stimmen als Nachfolger von Rob Ford gewählt. Infolge einer außerehelichen Affäre trat er vorzeitig zurück. Am 26. Juni 2023 finden in Toronto Nachwahlen zum Stadtoberhaupt statt. Die Amtsgeschäfte bis zur Neuwahl führt einstweilen, allerdings mit eingeschränkten Befugnissen, die stellvertretende Bürgermeisterin Jennifer McKelvie. Olivia Chow gewann die Nachwahl, und am 12. Juli 2023 trat sie das Amt als Bürgermeisterin an. Seit Beginn der Legislaturperiode im Jahr 2007 besteht die Stadtregierung aus sieben Kommissionen mit je einem Vorsitzenden, einem Stellvertreter und vier Stadträten, die alle vom Bürgermeister benannt werden. Ein Exekutivkomitee besteht aus den Kommissionsvorsitzenden, dem Bürgermeister, seinem Stellvertreter und vier anderen Stadträten. Die Räte überwachen auch die Verkehrsbetriebe der Stadt Toronto (Toronto Transit Commission) und den Polizeidienst der Stadt (Toronto Police Services Board). Die Stadtregierung hat ihren Sitz im Neuen Rathaus am Nathan Phillips Square. Es gibt rund 40 Unterkommissionen, Beratungsstäbe und Runde Tische, die ebenfalls der Stadtregierung angehören. Diese Institutionen werden von Stadträten und von freiwilligen Bürgern gebildet. Dazu kommen vier weitere Gemeinderäte, die den Stadträten Empfehlungen geben, allerdings keine eigenständigen Entscheidungsvollmachten haben. Jedem Stadtrat ist ein Mitglied aus dem Gemeinderat unterstellt. Toronto verfügte 2006 über einen Haushalt in Höhe von 7,6 Milliarden Dollar. Die Stadt wird von der Provinzregierung Ontario durch Steuern und Abgaben finanziert. Die Ausgaben der Stadt verteilen sich wie folgt: 36 % fließen in Programme der Provinz, 53 % dienen städtischen Aufgaben wie beispielsweise der öffentlichen Bücherei (Toronto Public Library) und dem Zoo von Toronto, elf Prozent werden für Fremdfinanzierungen und nicht zweckgebundene Aufwendungen verwendet. Wappen und Flagge Die Flagge der Stadt Toronto wurde vom damals 21-jährigen Studenten Rene De Santis entworfen. Dieser Entwurf gewann einen Designwettbewerb im Jahr 1974. Die Flagge zeigt stilisiert die beiden Türme der City Hall auf blauem Grund mit dem kanadischen Nationalsymbol, dem roten Ahornblatt, an seiner Basis. Nach der Gebietsreform 1997 hielt die Stadtregierung vergeblich nach einem neuen Design Ausschau. Daraufhin wurde der Vorschlag umgesetzt, kleinere Veränderungen an dem Entwurf von 1974 vorzunehmen, die im Oktober 1999 zur nun gültigen Flagge führten. Der Freiraum oberhalb und zwischen den Türmen stellt den Buchstaben „T“ dar, die Initiale der Stadt Toronto. Das Wappen der Stadt Toronto wurde von Robert Watt geschaffen und im Zuge der Gebietsreform 1998 eingeführt. Es zeigt auf der linken Seite einen Biber und auf der rechten einen Bären, die sich gegenüberstehen und den Stadtschild halten. Beide Tiere stehen auf einem begrünten Hügel mit einem blauen T für Toronto auf goldenem Grund. Auf dem Wappen befinden sich außerdem eine Krone und ein Adler. Unterhalb des Wappens symbolisieren drei blaue senkrechte Wellenlinien die Flüsse Humber, Don und Rouge. Darunter ist eine waagerechte Wellenlinie für den Ontariosee dargestellt, in den die drei Flüsse münden. Unter dem Stadtwappen befindet sich ein Band mit dem Motto „Diversity Our Strength“ (deutsch: „Vielfalt ist unsere Stärke“), von zwei kanadischen, roten Ahornblättern umrahmt. Das Motto wurde anlässlich der Gebietsreform 1998 eingeführt. Neben dem Wappen und der Flagge wird die Silhouette des Rathauses auch für das Stadtsignet verwendet. Partnerstädte Städtepartnerschaften bestehen mit: Chongqing, China. Chongqing und Toronto haben im Mai 2006 drei Handelsverträge im Wert von 50 Millionen US-Dollar geschlossen. Die Partnerschaft besteht seit dem 27. März 1986. Chicago, Illinois, Vereinigte Staaten. Der frühere Bürgermeister Art Eggleton und der Chicagoer Bürgermeister Richard M. Daley unterzeichneten in der Börse von Chicago 1991 den Partnerschaftsvertrag. Frankfurt am Main, Deutschland. Mit Frankfurt am Main werden seit Anbeginn der Partnerschaft regelmäßige Austauschprogramme betrieben, für die der Vertrag am 26. September 1989 vom damaligen Frankfurter Oberbürgermeister Volker Hauff und dem Torontoer Bürgermeister Art Eggleton im Frankfurter Rathaus Römer unterschrieben wurde. Im Mai 1991 spielte beispielsweise das Toronto Symphony Orchestra in der Jahrhunderthalle. Neben dem kulturellen Austausch gibt es auch auf wissenschaftlicher Ebene Kooperationen durch Studienaufenthalte von Professoren und Studenten und gemeinsame Seminare. Die Universität von Toronto und die Goethe-Universität in Frankfurt am Main haben 2012 einen formalen Kooperationsvertrag abgeschlossen, um ihre Zusammenarbeit in Forschung, Lehre und Verwaltung zu intensivieren. Mailand, Italien, seit dem 30. Juni 2003 Nicht mehr bestehende Städtepartnerschaften hatte Toronto mit den Städten Amsterdam, Wuxi und Indianapolis. Freundschaftlich verbunden ist Toronto mit Ho-Chi-Minh-Stadt (Vietnam), Kiew (Ukraine), Rostow am Don (Russland), Quito (Ecuador), Sagamihara (Japan) und Warschau (Polen). Bevölkerung Bevölkerungsentwicklung 1820 hatte Toronto 1.250 Einwohner, viele Indianerdörfer waren erheblich größer. Doch gelang es Toronto zum einen, die starke Stellung Montreals im Bankenwesen zu brechen, zum anderen förderte die Stadt früh die Industrialisierung. 1833 wurden in Toronto mit 80 Beschäftigten erstmals Dampfmaschinen hergestellt, ab 1857 wurden Lokomotiven produziert und ein breites Spektrum an zuliefernden Betrieben entstand. Zugleich förderte die Regierung die Einwanderung, sodass die Bevölkerungszahl steil anstieg. Größter Gewinner war dabei Toronto, das um 1850 mit 31.000 Einwohnern bereits die größte Stadt im Westen war und in den folgenden zehn Jahren seine Einwohnerzahl mehr als verdoppelte. Es konnte seine Waren unter Umgehung Kingstons nach Montreal bringen, und dabei den Weg über den Ontariosee nutzen. Gleichzeitig war es mit New York verbunden, wohin bereits 1847 eine Telegrafenverbindung bestand. Das Kapital zum Bau der Eisenbahnen, die Kanadas Metropolen zwischen Halifax und Vancouver verbanden, stammte überwiegend aus Großbritannien, woher auch die meisten Einwanderer stammten. Damit stemmten sich London und später Ottawa erfolgreich gegen den politischen Anschluss Kanadas an die USA. Toronto profitierte dennoch von den dortigen Absatzmöglichkeiten. Zugleich veranlasste der zunehmende Separatismus der frankophonen Kanadier viele Unternehmen, nach Toronto zu gehen. Als Montreal Zentrum der Eisenbahnindustrie wurde, begann die Hauptstadt Ontarios in den Jahrzehnten um die Jahrhundertwende auf Elektroindustrie und Autobau, später Flugzeugbau zu setzen. Damit war Toronto einer der Nutznießer der Kriegswirtschaft im Zweiten Weltkrieg. Versandhäuser wie Eaton’s versorgten einen wachsenden, bald auch internationalen Markt, der Ausbau der Infrastruktur erforderte neue Arbeitskräfte. Nach dem Krieg sprengte die Zuwanderung die Stadtgrenzen und größere organisatorische Einheiten, wie die Metropolregion, entstanden. Die Kernstadt hatte von 1901 bis 1951 ihre Einwohnerzahl verfünffacht. Schließlich stieg der Anteil der Beschäftigten in den Dienstleistungsgewerben stark an, die bald zu den mit Abstand größten Arbeitgebern wurden. Da viele dieser Gewerbe ohne ausgebildetes Personal auskamen, zudem ausländisches Kapital in die Stadt floss, kamen zunehmend Einwanderer aus wirtschaftlich aufstrebenden Ländern mit starkem Bevölkerungswachstum. Zwischen 1951 und 2001 vervierfachte sich die Zahl der Bewohner der Metropolregion. Ergebnisse der Volkszählung 2001 und Bevölkerungsentwicklung bis 2006 Bei der Volkszählung aus dem Jahr 2001 wurden 2.481.494 Einwohner ermittelt, 2006 wurde die Einwohnerzahl auf gut 2,6 Millionen geschätzt. Im Großraum Toronto lebten etwa 5,5 Millionen Menschen. Mit 2,5 Millionen lebt knapp die Hälfte in der Kernstadt, der Rest verteilt sich auf 24 Gemeinden mit einer Gesamtfläche von 7.125 Quadratkilometern. In den Jahren 1996 bis 2006 wuchs die Stadt jährlich um 1,8 % und gehört damit zu den am schnellsten wachsenden Ballungsräumen in Kanada. Absolut entspricht dies einem Zuzug von fast 100.000 Bewohnern jährlich. Wegen der hohen Dichte im Stadtkern wachsen vor allem die Gemeinden des Umlands. Brampton, Vaughan, Richmond Hill, Markham, Ajax, Whitby verzeichneten von 2001 bis 2006 insgesamt eine Zunahme von 20 %. Das starke Wachstum beruht vor allem auf der internationalen Zuwanderung. In den Jahren 2001 bis 2006 wanderten 447.900 Menschen aus dem Ausland in die Stadtregion ein. Der Anteil der im Ausland geborenen Einwohner machte 45,7 % bzw. 2,32 Millionen (2006) aus; die Stadt ist damit das bedeutendste kanadische Zuwanderungsziel. Die größten Einwanderungsgruppen stammen aus Indien mit 77.800 und China mit 63.900 Menschen. Die hohe Zuwanderungsrate wirkt sich verteuernd auf den Wohnungsmarkt aus, weshalb Immigranten sich heute verstärkt in den umliegenden Städten niederlassen. Die höchsten Anteile an nicht in Kanada geborenen Bürgern haben die benachbarten Städte Markham mit 56,5 % und Mississauga mit 51,6 %. Laut einer Erhebung im Jahr 2001 stammen 43,7 % der Stadtbevölkerung nicht aus Kanada; dieser Anteil stieg in den letzten Jahren stetig – 1991 betrug der Anteil noch 38 %. Die Vielzahl der Bevölkerungsgruppen spiegelt sich in den vielen von einer Gruppe geprägten Stadtvierteln wie z. B. Chinatown, Little Italy, Greektown oder Koreatown wider. Dabei bilden die Einwohner, die aus Südasien stammen mit 12,0 % den größten Anteil; gefolgt von Chinesischstämmigen mit 11,4 % und Afroamerikanern mit 8,4 %. Volkszählungsergebnis 2011 Beim Zensus 2011 gaben 14,1 % der Stadtbevölkerung an, von englischen Einwanderern abzustammen. 13,2 % gaben als das Herkunftsland ihrer Familie Kanada an. Weitere bedeutende Abstammungsgruppen waren die Chinesisch- (10,8 %), Indisch- (10,3 %), Schottisch- (9,9 %), Irisch- (9,8 %) und Italienischstämmigen (8,6 %) sowie die Deutschstämmigen (4,8 %). Laut Zensus 2011 gehörten 42,9 % der Bevölkerung Torontos „visible minority groups“ (sichtbare Minderheit, d. h. alle Nicht-Weiße mit Ausnahme von First Nations, Inuit und Métis) an: 15,1 % der Gesamtbevölkerung waren südasiatischer Herkunft, 9,6 % chinesischer Herkunft, 7,2 % Schwarze und 4,2 % Filipinos. Sprachen Die vorherrschende Sprache in der Stadt ist Englisch. Kanadas zweite Amtssprache, Französisch, ist hingegen die Muttersprache von nur etwa 1,4 % der Bevölkerung. Weitere Sprachen mit einer bedeutenden Zahl von Sprechern in Toronto sind vor allem Chinesisch, Portugiesisch und Italienisch. Lediglich eine Minderheit von 2,1 % beherrscht die Zweisprachigkeit von Englisch und Französisch. Jüdische Immigranten und Flüchtlinge Juden lassen sich in Toronto seit den 1830er Jahren nachweisen, in den 1850er Jahren lebten 18 Familien in der Stadt. 1856 entstand die erste Synagoge. Pogrome veranlassten osteuropäische Juden, nach Kanada auszuwandern. Entsprechend den Herkunftsländern entstanden (ausschließlich orthodoxe) Kongregationen, Yiddish Theatres, Nachmittagsschulen und eine Zeitung. Dabei lebten die aus Großbritannien Eingewanderten östlich der Yonge Street, die Osteuropäer im wenig angesehenen Quartier St. John’s Ward. Bis in die 1950er Jahre blieb das Gebiet um Spadina Avenue/Kensington Market das Kerngebiet der zersplitterten jüdischen Gemeinde, viele zogen danach weiter nordwärts. Dennoch bleibt die jüdische Gemeinde in Downtown verankert, wo auch das Miles Nadal Jewish Community Centre entstand. Es besteht zudem ein eigenes Downtown Jewish Community Council. Mit der Weltwirtschaftskrise schränkte die konservative Regierung unter Richard Bedford Bennett Anfang der 1930er Jahre die Immigration, die vorher gefördert worden war, drastisch ein. Damit ging ein selektives Prinzip einher, nach dem Immigranten aus Nord- und Westeuropa sowie Bürger aus den USA bevorzugt wurden. 1931 waren von den 631.207 Bewohnern 45.305 Juden. Die allgemeine Beschränkung und ein latenter Antisemitismus in Kanada führten dazu, dass zwischen 1930 und 1940 nur rund 12.600 jüdische Immigranten in Kanada aufgenommen wurden; 4000 davon kamen aus Deutschland. In Toronto waren die Juden die größte ethnische Gruppe, die vor allem während der Krisenzeiten als Sündenbock diente. Ihnen wurde teilweise der Zugang zu Restaurants oder Veranstaltungen untersagt, es kam sogar zum Boykott jüdischer Geschäfte. Keine Universität war bereit, ihr Kursangebot auf Internierte auszuweiten, lediglich die Queen’s University in Kingston nahm eine kleine Gruppe auf, die vor allem an Ingenieurkursen interessiert war. Die Ablehnung hielt auch während des Krieges an. Noch im Oktober 1945 war der Status der Flüchtlinge und Internierten nicht abschließend geklärt. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte Kanada rund 3500 Flüchtlinge einschließlich 966 Internierter aufgenommen. Religion Entsprechend der multikulturellen Einwohnerstruktur gibt es in der Stadt eine Vielzahl von unterschiedlichen Religionszugehörigkeiten. Die christlichen Konfessionen bilden dabei die größte Gruppe mit gut 50 %. Die römisch-katholische Kirche gehört zum Erzbistum Toronto. Der Anteil der Konfessionslosen beträgt 18,7 %. Die Religionszugehörigkeit verteilt sich nach Erhebungen des Jahres 2011 wie folgt: Katholische Kirche: 30,4 % Alle anderen christlichen Glaubensrichtungen: 9,1 % Islam: 7,7 % Hinduismus: 5,9 % Judentum: 3,0 % Buddhismus: 2,2 % Sikhismus: 2,9 % Keiner Religion angehörig: 21,1 % Siehe auch: Kirche Hl. Sava (Toronto), serbisch-orthodox Soziale Probleme In Toronto gab es 2003 rund 552.300 Haushalte unterhalb der Armutsgrenze. Mehr als 250.000 Familien mussten über 30 % ihres Einkommens für die Miete ausgeben, 20 % zahlten mehr als 50 % ihres Einkommens. Diese Entwicklung ist auf die stark steigenden Mietpreise zurückzuführen, die sich allein zwischen 1997 und 2001 um 31 % erhöhten. Rund 71.000 Haushalte warteten auf die Errichtung von staatlich geförderten Wohnungen. Im Gegensatz zu den 1980er und frühen 1990er Jahren stagnierte trotz der steigenden Bevölkerung das Angebot an Mietwohnungen. Allein im Jahr 2002 waren 31.985 Menschen mindestens einmal in einem Obdachlosenasyl gemeldet. Seit den 1990er Jahren hat sich diese Zahl um 21 % erhöht und seit 1988 sogar um 40 %. 1988 waren dabei 91,3 % von ihnen Einzelpersonen, doch sank diese Zahl bis 1999 auf 81,3 %. Gleichzeitig stieg die Zahl der Familien von 1,7 % (1988) auf 9,6 % (1999). Die Provinzregierung und die Stadt versuchen durch Investitionen in den Wohnungsbau den Problemen entgegenzuwirken. Dazu wurde unter anderem das Wohnungsbauprojekt Let’s Build ins Leben gerufen, in das bis zum Jahr 2001 rund 10,6 Millionen Dollar flossen. Infolgedessen entstanden 384 erschwingliche Wohnungen für rund 660 Mieter mit geringem Einkommen. Nach Beendigung des Projekts setzte die Stadt Let’s Build mit rund 11,8 Millionen Dollar fort. Darüber hinaus gab es weitere Maßnahmen, welche die Bekämpfung von Armut und die flächendeckende medizinische Versorgung von Obdachlosen vorsahen. Kriminalität Eine niedrige Kriminalitätsrate hat der Stadt den Ruf als einer der sichersten Großstädte Nordamerikas eingebracht. 1999 lag die Rate der Tötungsdelikte bei 1,9 pro 100.000 Menschen. Zum Vergleich lag diese Rate im selben Jahr bei 34,5 in Atlanta, 5,5 in Boston, 7,3 in New York, 2,8 in Vancouver und 45,5 in Washington D. C. Das bisherige Maximum an Tötungsdelikten verzeichnete Toronto 1991 mit 3,9 pro 100.000 Einwohnern. Auch bei den Raubdelikten liegt die Stadt, verglichen mit anderen nordamerikanischen Großstädten, sehr niedrig mit 115,1 Überfällen pro 100.000 Einwohner. Dallas hatte im Vergleich 583,7 Delikte pro 100.000 Einwohner, 397,9 waren es in Los Angeles, 193,9 in Montreal. Die generelle Kriminalitätsrate lag bei 48 Delikten auf 100.000 Einwohner. Auch diese Vergleichsgröße liegt deutlich niedriger als in anderen Großstädten, wie beispielsweise Cincinnati mit 326, Los Angeles mit 283, New York mit 195 und Vancouver mit 239. Wirtschaft und Infrastruktur Finanz- und Wirtschaftshauptstadt Kanadas Bereits im 19. Jahrhundert war Toronto ein wichtiger Wirtschafts- und Handelsplatz. Die Stiefbrüder James Worts und William Gooderham gründeten 1830 am Hafen die Brennerei Gooderham and Worts, die neben Spirituosen auch Frostschutzmittel herstellte. Sie entwickelte sich zur größten Brennerei Kanadas und stieg in den 1860er Jahren zur weltweit größten Whiskeybrennerei auf. 1862 produzierte das Unternehmen zum ersten Mal das ganze Jahr und stellte rund 700.000 Imp.gal. her, was einem Viertel der damaligen Gesamtproduktion an Spirituosen in Kanada entsprach. In den Folgejahren wuchs die Produktion auf zwei Millionen Imp.gal., was das Unternehmen zum bekanntesten des Landes und zum größten im Britischen Empire werden ließ. 1987 wurde die Firma an einen britischen Konzern verkauft, 1990 die Brennerei geschlossen und das 52.000 Quadratmeter große Areal in die Fußgängerzone Distillery District verwandelt. Das historische Industriequartier, bestehend aus über 40 Backsteingebäuden und zehn Straßen, wurde restauriert und dient als Entertainment-Zentrum mit Lokalen, Musikkneipen und Galerien. Toronto ist Kanadas wichtigstes Handels- und Finanzzentrum und gehört auch weltweit zu den bedeutendsten. In der Stadt sind viele Banken und Investmentfirmen im Finanzdistrikt an der Bay Street konzentriert. Die Toronto Stock Exchange ist nach ihrer Marktkapitalisierung die achtgrößte Börse der Welt und in Nordamerika auf Platz drei. (→ Geschichte der Börse von Toronto) Die fünf größten Banken des Landes haben hier ihren Hauptsitz. Darüber hinaus betreiben über 40 ausländische Banken Niederlassungen in der Stadt. Im Bereich Medien, Verlagswesen, Telekommunikation (z. B. Telus Tower), Informationstechnologie und Filmindustrie hat die Stadt ebenfalls eine führende Rolle eingenommen. Eine eigene Behörde (Toronto’s Film and Television Office) hat die Aufgabe, die Film- und Fernsehproduktion zu fördern und zu unterstützen. Zu den bekanntesten Firmen gehören Thomson Corporation, CTVglobemedia, Rogers Communications, Alliance Films, Celestica, sowie die Hotelkette Four Seasons Hotels und Manulife Financial. Insgesamt haben über 80.000 Unternehmen ihren Sitz in der Stadt. Das Handelsunternehmen Hudson’s Bay Company ist das älteste eingetragene Unternehmen in Kanada und zählt auch weltweit zu den ältesten Unternehmen. Es verlegte 1957 seinen Hauptsitz von York Factory nach Toronto. Unter anderen haben folgende Unternehmen ihren Hauptsitz in Toronto: Hudson’s Bay Company, RioCan Investment Trust, Canadian Imperial Bank of Commerce, Manulife Financial, TD Canada Trust, Royal Bank of Canada, Scotiabank, Bank of Montreal, Celestica, Four Seasons Hotels and Resorts, Nortel, Citibank Canada, Fairmont Hotels and Resorts, Oxford Properties Group und Rogers Communications. Die meisten Industrien und Fertigungsbetriebe befinden sich zwar außerhalb der Stadtgrenzen, allerdings haben die meisten Großhändler und Distributoren dieser Wirtschaftszweige ihren Sitz in der Stadt. Die strategische Bedeutung der Stadt im Québec-Windsor-Korridor begünstigt die nahegelegenen Produktionsstandorte von Motorfahrzeugen, Eisen, Stahl, Lebensmitteln, Maschinen, Chemie und Papier. In Ergänzung dazu ist Toronto seit 1959 durch den Sankt-Lorenz-Strom vom Atlantischen Ozean aus erreichbar. Mit rund 8000 Fabriken ist die Stadt nicht nur führend im Dienstleistungsbereich, sondern auch im produzierenden Sektor. Die fünf größten privaten Arbeitgeber sind nach der Anzahl ihrer Beschäftigten (Zahlen aus dem Jahr 2001): Toronto-Dominion Bank (14.000), Canadian Imperial Bank of Commerce (12.000), Rogers Communications (11.600), Royal Bank of Canada (11.000) und Bank of Montreal (8400). Der veranschlagte Bruttobetriebsaufwand der Stadt belief sich im Jahr 2008 auf 8,17 Milliarden Dollar. Die Haushaltseinnahmen kamen überwiegend aus der Grundsteuer, mit 3,322 Milliarden Dollar. Die Arbeitslosenquote lag 2007 bei 7,87 % und war damit höher als der Durchschnitt in der Provinz Ontario, der bei 6,38 % lag. 2008 ist die Arbeitslosenquote auf 7,52 % leicht gesunken. Ein durchschnittlicher Haushalt hatte ein Jahreseinkommen von 68.120 Dollar. Bildungseinrichtungen In Toronto gibt es eine Reihe von Universitäten: Die auf verschiedene Zweigstellen im Stadtgebiet verteilte University of Toronto, die York University, die Ryerson University, das Ontario College of Art & Design sowie die University of Guelph-Humber. Die 1827 gegründete University of Toronto ist die größte Ontarios und zählt weltweit nach der Harvard University und Yale University zu den renommiertesten auf dem Gebiet der biomedizinischen Forschung. Außerdem beherbergt die Universität das drittgrößte Bibliothekensystem Nordamerikas, zu der auch die Robarts Library gehört. Die York University befindet sich in North York, im Norden Torontos. Sie verfügt über die größte Rechtsbibliothek im Commonwealth. Daneben hat Toronto eine Reihe weiterer Hochschulen, wie das Seneca College, das Humber College, das Centennial College und das George Brown College. In der Stadt unterhält auch das frankophone Collège Boréal eine Zweigstelle. In der Nähe von Oshawa, das zum Großraum Torontos gehört, ist das Durham College und das University of Ontario Institute of Technology beheimatet. Die Faculty of Music und das Royal Conservatory in Downtown bieten Konzert- und Opernprogramme an. Der Filmemacher Norman Jewison gründete 1988 das Kanadische Filmzentrum Canadian Film Centre, Kanadas größtes Institut für professionelle Ausbildung im Bereich Film, Fernsehen und Neue Medien. Das Tyndale University College and Seminary ist ein überkonfessionelles Institut und Kanadas größtes Predigerseminar. Die Schulbehörde Toronto District School Board (TDSB) unterhält insgesamt 558 öffentliche Schulen, davon 451 Grundschulen und 102 Schulen der Sekundarstufe. Damit ist die TDSB die größte Schulbehörde Kanadas. Die Schulbehörde erhielt 2008 für die Bemühungen um die Chancengleichheit und Integration den Carl-Bertelsmann-Preis verliehen. Konfessionell an die katholische Kirche gebundene Schulen werden von einer eigenen Behörde, dem Toronto Catholic District School Board, verwaltet. Darüber hinaus verfügt Toronto über mehrere private Schulen, wie beispielsweise Greenwood College School, Upper Canada College, Crescent School, Toronto French School, University of Toronto Schools, Havergal College, Bishop Strachan School, Branksome Hall oder St. Michael’s College School. Die Stadtbibliothek von Toronto ist die größte Bücherei im Land mit 99 Zweigstellen und über elf Millionen Medien. Tourismus Der Fremdenverkehr spielt eine wichtige Rolle für die Wirtschaft von Toronto. Mit knapp 4,5 Millionen ausländischen Besuchern stand Toronto 2016 auf Platz 29 der meistbesuchten Städte weltweit. Touristen brachten im selben Jahr Einnahmen von 2,2 Milliarden US-Dollar. Die meisten ausländischen Besucher kamen aus den USA und Asien. Medien Toronto ist Sitz einer Vielzahl von Printmedien. Der Toronto Star hat seinen Sitz in der Yonge Street 1 und ist mit rund 400.000 Exemplaren Kanadas auflagenstärkste Zeitung. Die Druckausgabe wird vornehmlich in Ontario gelesen. Weitere wichtige Zeitungen in Toronto sind die 1844 gegründete Tageszeitung The Globe and Mail, die konservative Zeitung National Post sowie die Toronto Sun. Darüber hinaus gibt es Zeitungen in chinesischer und hebräischer Sprache und eine Vielzahl von Magazinen und Zeitschriften. Neben dem lokalen Fernsehsender CITY-TV sind auch die landesweit ausstrahlenden Sender wie u. a. CFMT-TV, CFTO-TV, CTV Television Network und CBC Television in der Stadt ansässig. Weitere Fernsehsender sind der Nachrichtensender CP 24 – Toronto’s Breaking News, der Wirtschaftssender Business News Network (BNN) und der Musiksender MuchMusic. Zu den mehr als 30 Radiosendern, wie u. a. CHUM-FM, CKIS-FM gehören auch solche für den chinesischen Bevölkerungsanteil mit einem Programm in kantonesischer Sprache. Der englischsprachige Teil der staatlichen Rundfunkanstalt Canadian Broadcasting Corporation hat seinen Sitz in der Downtown von Toronto. Weitere größere Medienunternehmen sind Entertainment One sowie Rogers Media. Verkehr Flugverkehr Toronto verfügt mit dem Toronto Pearson International Airport über den größten Flughafen des Landes, auf dem ein Drittel des kanadischen Luftverkehrs abgewickelt wird. Ursprünglich weit außerhalb der Stadt, befindet er sich heute unmittelbar am nordwestlichen Stadtrand, rund 20 Kilometer vom Zentrum entfernt, überwiegend auf dem Gebiet der benachbarten Stadt Mississauga. Ein kleiner Flughafen, der Flughafen Toronto-City, liegt auf den der Stadt vorgelagerten Toronto Islands. Der Toronto/Downsview Airport, ein früherer Luftwaffenstützpunkt, wird seit 1994 überwiegend als Testflughafen von Bombardier Aerospace benutzt. Insgesamt liegen auf der Greater Toronto Area neun Flughäfen und zehn Heliports. Öffentliches Nahverkehrssystem Toronto besitzt nach New York City und Mexiko-Stadt das drittgrößte öffentliche Nahverkehrssystem Nordamerikas. Die Toronto Transit Commission (TTC) betreibt im Stadtgebiet drei U-Bahn-Linien (Subway), eine Stadtbahnlinie (Scarborough-Linie), elf Straßenbahnlinien (Toronto Streetcar) und ca. 140 Buslinien. Die Straßenbahn- und Buslinien sind überwiegend rasterförmig angeordnet. Die unmittelbar an das Stadtgebiet angrenzenden Vorstädte werden von Buslinien anderer Unternehmen bedient, die an das Netz der TTC anschließen. Ausgehend vom Hauptbahnhof Union Station gibt es ein aus sieben Linien bestehendes Schnellbahnsystem von GO Transit, ergänzt durch eigene Buslinien. Mit den doppelstöckigen Zügen erreicht man Entfernungen von rund 60 Kilometern im Umkreis der Downtown. Seit dem 6. Juni 2015 verbindet der Union Pearson Express (UP Express) den internationalen Flughafen Toronto Lester B. Pearson mit der Innenstadt. Die Dieseltriebzüge dieser Linie fahren im 15-Minuten-Takt mit einer Fahrzeit von 25 Minuten vom Terminal 1 über die Bahnstationen Bloor und Weston zum Hauptbahnhof der Stadt, der Union Station. Schiffs- und Fährverkehr Neben der Pendelfähre zum Flughafen Toronto-City existieren Fährverbindungen zu den Toronto Islands. Vom Queen’s Quay an der Bay Street steuern die Fähren die Stationen Hanlan’s Point, Centre Island und Ward’s Island an. Am 24. Juni 2004 wurde die Linie Toronto–Rochester (USA) eingeweiht. Das Boot Spirit of Ontario I absolvierte die 152 km lange Strecke in einer Geschwindigkeit von 83 km/h. Mangels Auslastung wurde diese Fährverbindung allerdings im Januar 2006 wieder eingestellt. Zugverkehr Toronto ist Ausgangspunkt des transkontinentalen Fernverkehrszuges The Canadian. Eisenbahn-Fernverkehrszüge der VIA Rail Canada verkehren ausgehend vom Hauptbahnhof Union Station in Richtung Montreal–Quebec, Ottawa, Windsor, Sarnia, Niagara Falls–New York (zusammen mit Amtrak betrieben) und Greater Sudbury–Winnipeg–Edmonton–Vancouver. Die Ontario Northland Railway setzt Fernzüge in Richtung Cochrane–Moosonee ein, Amtrak einen Zug nach New York. Individualverkehr Für den Individualverkehr existieren mehrere Autobahnen in Ost-West- und in Nord-Süd-Richtung. Die Hauptverkehrsader bildet der etwas nördlich des Stadtzentrums gelegene Highway 401, der in bestimmten Abschnitten die höchste Verkehrsdichte in Nordamerika aufweist. Am Ufer des Ontariosees verbindet die Stadtautobahn Gardiner Expressway die westlichen Vororte mit der Innenstadt. Am Ostende verbindet der Don Valley Parkway den Gardiner Expressway mit dem Highway 401. Parallel zum Highway 401 verläuft der mautpflichtige Highway 407 ETR. Die 108 km lange Autobahn verbindet die Städte Burlington mit Pickering; die Maut wird mit Hilfe von automatischer Nummernschilderkennung und Funksendern erhoben. 401 und 407 werden von den nordwärts verlaufenden Highways 400 und 404 gekreuzt. Ebenfalls in Nord-Süd-Richtung verläuft der 21 km lange Highway 427. Er leitet vom Gardiner Expressway nordwärts am Toronto Pearson International Airport vorbei bis nach Vaughan. Eine weitere Verzweigung des 427 an dessen Südende mündet in den Queen Elizabeth Way (QEW), der am Ostufer des Ontariosees nach Niagara Falls führt. Entlang der Yonge Street tragen zur besseren Orientierung in der Innenstadt die in Ost-West-Richtung verlaufenden Straßen den Zusatz East bzw. West. Öffentliche Einrichtungen Von den über 20 Krankenhäusern gehört seit 1999 rund die Hälfte zum Netzwerk des Universitätsklinikums. Das 1812 gegründete Toronto General Hospital ist das Hauptkrankenhaus der Unikliniken. Die Feuerwehr in Toronto, die Toronto Fire Services, wurde im Jahr 1874 eingerichtet. Vor dieser Zeit führten Freiwillige die Brandbekämpfung durch. Mit der Gebietsreform 1998 bilden die Feuerwehren der Stadtteile eine Organisationseinheit. Die Feuerwehr Torontos ist mit rund 3100 Einsatzkräften, 81 Stationen und weit über 100 Fahrzeugen die größte Kanadas und nach New York City, Chicago und Los Angeles die viertgrößte Nordamerikas. Torontos Polizei besteht seit 1834. Der Toronto Police Service ist in 17 Einheiten mit 5710 Polizisten gegliedert. Die Legislativversammlung von Ontario hat ihren Sitz im Parlamentsgebäude am Queen’s Park. Die 107 Mitglieder werden mit Mehrheitswahl in den einzelnen Wahlkreisen Ontarios bestimmt. Die Stadt hat drei Gerichte, die für Verstöße gegen das Provinzrecht von Ontario zuständig sind. Kultur und Sehenswürdigkeiten Toronto gilt als eines der drei größten Kulturzentren Kanadas. Stadtbild und Architektur Torontos Architekturtradition setzte Mitte des 19. Jahrhunderts ein. Viele der führenden Architekten haben in Toronto Bauwerke gestaltet, wie beispielsweise der aus Toronto stammende Frank Gehry, Daniel Libeskind, Norman Foster, Will Alsop, Ieoh Ming Pei, Ludwig Mies van der Rohe und Santiago Calatrava. Einige architektonische Stile wurden in Toronto entwickelt, wie der sogenannte Bay-and-Gable-Stil. Dabei handelt es sich um sehr schmale, teilweise nur sechs Meter breite, halb freistehende Reihenhäuser aus rotem Backstein. Der Begriff bay-and-gable beschreibt zwei Charakteristika: Die Häuser besitzen einen Erker (englisch: bay window) und einen spitzen Giebel (englisch: gable). Die Häuser im viktorianischen Stil enthalten manchmal auch neogotische Elemente. Die meisten Bay-and-Gable-Häuser findet man in den Vierteln The Annex, Cabbagetown und Little Italy. Das Straßensystem ist größtenteils schachbrettförmig angelegt. Eine der wichtigsten Straßen ist die Yonge Street. Gedacht war sie als militärische Nachschublinie; heutzutage spielt sich das wirtschaftliche und kulturelle Leben hauptsächlich entlang dieser Straße ab. Sie beginnt in einer Entfernung von mehr als 1800 Kilometern im Hinterland, endet am Ontariosee und ist damit eine der längsten Straßen Nordamerikas. Das Stadtzentrum (Central Business District) dehnt sich im Norden bis zur Bloor Street, im Süden bis zum Viertel Harbourfront, im Westen bis zur Spadina Avenue und im Osten bis zur Parliament Street aus. Zwischen dem Hauptbahnhof Union Station und der Harbourfront verläuft die mehrspurige Stadtautobahn Gardiner Expressway. Im Bereich der Downtown verläuft die Stadtautobahn aus Platzgründen meist auf einer Brückenkonstruktion. Außerhalb des Stadtkerns prägen kleine Häuser das Stadtbild. Der Stadtkern besteht vor allem aus hohen Bauwerken. Im Metropolraum Greater Toronto Area gibt es nahezu 2000 Gebäude, die 30 Meter übersteigen; damit besitzt Toronto nach New York City die zweithöchste Anzahl an Hochhäusern auf dem nordamerikanischen Kontinent. Allein in Downtown Toronto gibt es über 100 Wolkenkratzer, die höher sind als 100 Meter. Der höchste Wolkenkratzer Torontos ist mit 298 Metern der First Canadian Place an der Ecke King Street und Bay Street. Anfang des Jahres 2009 stieg die Zahl der Wolkenkratzer deutlich an, außerdem befanden sich mehrere hundert Hochhäuser in der Planungs- oder Bauphase. Südlich der Innenstadt befinden sich die Toronto Islands, vier künstlich erweiterte Inseln im Ontariosee und schirmen den Hafen vom See ab. Auf der westlichsten Insel liegt ein kleiner Flughafen (Flughafen Toronto-City), der über eine Fährverbindung von der Innenstadt aus zu erreichen ist. Die übrigen Inseln sind als Park mit kleineren Seen, Wasserläufen, Seebrücke, Strand und Vergnügungseinrichtungen gestaltet. Die Inseln sind für den motorisierten Individualverkehr gesperrt und vom Queen’s Quay Terminal mit Personenfähren in etwa zehn Minuten erreichbar. CN Tower Höchstes freistehendes Bauwerk des amerikanischen Doppelkontinents, städtebauliche Dominante und Wahrzeichen ist der 1976 fertiggestellte Canadian National Tower, kurz CN Tower. Von seiner Fertigstellung bis zum Richtfest des Canton Tower im Mai 2009 war er mit 553 Metern der höchste Fernsehturm der Welt. Der Turm zählt mit jährlich rund zwei Millionen Besuchern zu den meistbesuchten Gebäuden Kanadas, wobei er ursprünglich nur für die Funkübertragung geplant worden war. Bis zum 12. September 2007 war der CN Tower auch das höchste freistehende Bauwerk der Erde. Diesen Rang nimmt mittlerweile der Burj Khalifa in Dubai mit 828 Metern ein. Neben einem Drehrestaurant und einer Aussichtsplattform auf 342 und 346 Meter Höhe hat der Turm eine zweite Aussichtsplattform (Sky Pod) unterhalb des Antennenmastes auf einer Höhe von 447 Metern, bis 2008 die höchste Aussichtskanzel der Welt. Sportstätten und Veranstaltungshallen Benachbart zum CN Tower ist das 1989 eröffnete und am 2. Februar 2005 in Rogers Centre umbenannte frühere SkyDome. Die 54.000 Plätze fassende Arena ist die Heimat der BlueJays (Baseball) und der Argonauts (Canadian Football) und verfügte bei seiner Eröffnung als erste Sportarena der Welt über ein komplett zurückfahrbares Dach und über die größte Videotafel der Welt. In dem Gebäude befinden sich das Renaissance Toronto Hotel Downtown (früher: SkyDome Hotel), das 70 zweigeschossige Suiten mit Sicht aufs Spielfeld anbietet und ein Restaurant (bis 2009 Hard Rock Cafe), gleichfalls mit Ausblick auf das Spielfeld. Östlich des Rogers Centre steht auf der Südseite der Bahnlinien die Mehrzweckhalle Scotiabank Arena, die neben Konzerten und Theatervorführungen auch als Heimspielarena der Basketballmannschaft Toronto Raptors, der Eishockeymannschaft Toronto Maple Leafs, der Lacrossemannschaft Toronto Rock und der Footballmannschaft Toronto Phantoms dient. Je nach Veranstaltung bietet die Halle bis zu 19.800 Zuschauern Platz. Westlich der Downtown befindet sich das im April 2007 fertiggestellte, größte reine Fußballstadion Kanadas, das BMO Field, für rund 20.000 Zuschauer. Downtown Gegenüber der Union Station an der Front Street befindet sich das Luxushotel Fairmont Royal York. Das 1929 fertiggestellte Gebäude ist 124 Meter hoch, hat 28 Stockwerke und unterschiedlich hoch abgestufte Gebäudeteile. Es war bis 1931 das höchste Gebäude der Stadt. Unter dem Stadtteil befindet sich das über 28 Kilometer lange Tunnelnetz PATH, das unterirdisch Bürokomplexe und über 1200 Geschäfte und Ämter miteinander verbindet. Die Nord-Süd-Achse dieses Netzes reicht vom Royal York Hotel und der Union Station bis weit über die Queen Street West hinaus. In der Ost-West-Achse bilden die U-Bahn-Stationen der gelben Linie St. Andrew und King die äußersten Punkte dieser weltgrößten Untergrundstadt. Ebenfalls ans PATH angeschlossen ist der Brookfield Place (ehemals BCE Place), ein Büro- und Gewerbekomplex, der aus den zwei Wolkenkratzern Bay Wellington Tower (207 Meter) und TD Canada Trust Tower (261 Meter) besteht. Geplant wurde dieser Komplex von dem Torontoer Architekturbüro Bregman + Hamann Architects unter Mitwirkung von Santiago Calatrava, der die sechsstöckige Allen Lambert Galleria entwarf. Diese Galerie, einschließlich eines großen, lichtdurchfluteten Atriums, das von einer bogenartigen Strebenkonstruktion abgeschlossen wird, verbindet beide Wolkenkratzer. Östlich des Brookfield Place steht das 1892 errichtete Gooderham Building, ein markantes Bügeleisengebäude. Das Toronto-Dominion Centre ist ein von Ludwig Mies van der Rohe zwischen 1967 und 1969 erbauter Gebäudekomplex aus sechs Hochhäusern. Die markantesten Bauwerke sind zwei schwarze Wolkenkratzer, der höchste von ihnen ist mit 222 Metern der Toronto-Dominion Bank Tower. In der Nähe des IBM Tower befindet sich die Börse von Toronto. Das in den 1970er Jahren eröffnete Eaton Centre ist ein sechsstöckiges Einkaufszentrum mit über 300 Geschäften, 17 Kinos, Diskotheken und einem Luxushotel, das wöchentlich von bis zu einer Million Menschen frequentiert wird. Es wurde nach dem irischen Einwanderer Timothy Eaton benannt, der 1869 an dieser Stelle einen Gemischtwarenladen eröffnete. Aus diesem entstand ein in ganz Kanada bekanntes Versandhaus. Der südliche Eingang befindet sich an der Ecke Queen Street West und Yonge Street; das Einkaufszentrum zieht sich nördlich bis zum Dundas Square hin und ist unterhalb der Oberfläche auch mit dem PATH verbunden. Das Eaton Centre wurde unter Mitwirkung des deutschen Architekten Erhard Zeidler zusammen mit Bregman + Hamann Architects entworfen. Östlich vom Südeingang des Eaton Centre, an der Ecke von Queen Street West und Bay Street, befindet sich der von dem finnischen Architekten Viljo Revell Anfang der 1960er Jahre errichtete avantgardistische Gebäudekomplex des Neuen Rathauses von Toronto. Die beiden Gebäude sind 20- bzw. 27-geschossige Hochhäuser mit gebogenem Grundriss. Über einem unteren muschelförmigen Plenarsaal sind die zwei Hochhäuser miteinander verbunden. Das Gebäude dient seit 1965 als Rathaus und befindet sich gegenüber dem Alten Rathaus. Westlich des Rathauses schließt sich die Osgoode Hall an. Das ehemalige Gerichtsgebäude wurde zwischen 1835 und 1855 errichtet und ist nach dem ersten Oberrichter William Osgoode von Oberkanada benannt. Die St.-James-Kathedrale ist mit knapp 93 Metern höchster Kirchenbau Torontos und nach dem St.-Josephs-Oratorium in Montreal der zweithöchste Kanadas. Die 1844 fertiggestellte anglikanische Kirche gehört zur ältesten Kirchengemeinde der Stadt und steht etwas abseits der Innenstadt an der Church Street, an der sich viele weitere Kirchen Torontos befinden. Südlich des St.-James-Parks befindet sich der St. Lawrence Market mit einem Süd- und einem Nordbau. Das südliche Gebäude diente der Stadt zwischen 1845 und 1904 als Rathaus; heute informieren wechselnde Ausstellungen über die Stadtgeschichte. Der erste Stock war früher eine Polizeistation. Heute bieten vor allem in der nördlichen Markthalle über 120 Händler ihre Erzeugnisse an. Außerhalb Downtown Nördlich des Stadtzentrums befindet sich Casa Loma, ein Schloss in „europäischem“ Stil, das Sir Henry Pellatt Anfang 1900 baute. Es ist heute ein Museum mit 98 Zimmern, Geheimgängen, einem alten Schwimmbad und einem botanischen Wintergarten. Die Chinatown von Toronto gehört zu den größten in Nordamerika. Wie auch die anderen zeichnet sie sich durch zweisprachige Straßenschilder und zahlreiche chinesische Geschäfte und Restaurants aus. Sie befindet sich im Bereich der Dundas Street West und der Spadina Avenue unmittelbar westlich der Yonge Street. Das Viertel geht bis in das Jahr 1878 zurück. Damals halfen hunderte eingewanderte Chinesen den Canadian Pacific Railway zu bauen. Den größten Zuwachs an chinesischen Einwanderern verzeichnete Toronto in den Jahren 1947 bis 1960. Als 1961 der Bau des neuen Rathauses am Nathan Phillips Square begann, verlagerte sich das Chinesenviertel von der Kreuzung zwischen Queens Street und Bay Street in westliche Richtung. Östlich des Don Valley Parkway liegt Greektown (Toronto), ein Stadtviertel an der Danforth Avenue gelegen, in dem vornehmlich griechische Einwanderer leben. In den 1970er und 1980er Jahren galt das Viertel als das größte Griechenviertel Nordamerikas. In dem Viertel entlang der Danforth Avenue Ecke Pape befinden sich zweisprachige Straßenschilder auf Englisch und Griechisch. Mit rund 125.000 Griechen ist Greektown heute die zweitgrößte griechische Gemeinschaft außerhalb Griechenlands. An der mit griechischen und kanadischen Flaggen gesäumten Danforth Avenue sind zahlreiche Restaurants und Cafés mit griechischer Küche und Musik zu finden. Auf drei künstlichen Inseln im Ontariosee befindet sich der etwa 566.000 Quadratmeter große, am 22. Mai 1971 eröffnete Freizeitpark Ontario Place. Er liegt rund vier Kilometer westlich der Downtown. Neben verschiedenen Wildwasserbahnen und Wasserrutschen gehört ein großes IMAX-Kino zu den Attraktionen. Park- und Gartenanlagen Im Stadtgebiet befinden sich weit über 200 Parkanlagen und Gärten mit über 90 Kilometer Spazierwegen. Der mit 161 Hektar größte Park ist der High Park im Westen nördlich der Humber Bay. Er erstreckt sich südlich der Bloor Street West und westlich des Parkside Drive, östlich der Ellis Park Road. Er ist eine Mischung aus Naherholungsgebiet und Naturpark mit einem Zoo. Allan Gardens ist ein botanischer Garten, den der frühere Bürgermeister George William Allan stiftete. Sechs Gewächshäuser zeigen beispielsweise seltene tropische Pflanzen und Palmen. Die Universität verlegte 1931 ihr Gewächshaus in die Allan Gardens. Der rund 15 Hektar große Trinity Bellwoods Park zwischen dem Gebiet nördlich der Queen Street West und der Dundas Street enthält Spielflächen für diverse Sportarten wie Tennis, Fußball oder Volleyball. Der HTO Park in der Harbourfront südlich des Rogers Centre ist ein 2007 am Ufer des Ontariosees eröffneter Stadtstrand. Im Nordosten der Stadt befindet sich der 287 Hektar große Zoologische Garten, der Toronto Zoo. Der Neubau wurde 1970 aufgrund einer Bürgerinitiative begonnen und am 15. August 1974 eröffnet. Er ist flächenmäßig der drittgrößte Zoo der Welt mit über zehn Kilometer Fußwegen und beherbergt rund 5000 Tiere und 460 Arten. Sein Vorgänger, der Riverdale Zoo, wurde 1888 eröffnet. Jährlich verzeichnet der Zoo rund 1,2 Millionen Besucher. In unmittelbarer Nähe des Zoos befindet sich der Rouge National Urban Park, ein Nationalpark. Die mit Fähren erreichbaren vorgelagerten Toronto Islands bieten auf 230 Hektar weitläufige Spazierwege, Strände und Sportanlagen. Über 1,2 Millionen Besucher nutzen jährlich die Möglichkeiten des Toronto Island Parks. Musik und Theater Die Stadt besitzt eine Konzerthalle namens Roy Thomson Hall für das Toronto Symphony Orchestra, die Massey Hall (Vorgängerin der Roy Thomson Hall), weitere Konzertsäle sowie eine Anzahl von Gebäuden für Oper, Ballett, Operette und Schauspiel. Nach London und New York hat Toronto die drittgrößte Theaterszene im englischsprachigen Raum. Besondere Bekanntheit erlangte das 1907 eröffnete Royal Alexandra Theatre. In Anlehnung an den Hollywood Walk of Fame wurde 1998 in 13 Straßenzügen rund um das Royal Alexandra Theatre Canada’s Walk of Fame eröffnet. Dort werden derzeit 131 berühmte kanadische Sportler, Sänger und Stars aus der Medienwelt mit einem Gedenkstein im Bürgersteig gewürdigt. Am 14. Juni 2006 wurde das Four Seasons Centre eröffnet, ein über 2000 Sitze fassendes Opernhaus südlich des neuen Rathauses. Der für 181 Millionen Dollar errichtete Bau ersetzte das große Opernhaus aus dem Jahr 1874. Dort tritt das kanadische Nationalballett und die Canadian Opera Company auf. Toronto ist der Heimatort des renommierten Barockorchesters Tafelmusik. Neben einer weitgefächerten Musikindustrie ballt sich hier die englischsprachige Literaturszene. Viele Literaten studierten an der University of Toronto, wie Stephen Leacock, Margaret Atwood und Michael Ondaatje (Der englische Patient). Kunst und Museen Die Stadt besitzt mehrere bedeutende Museen. Die Art Gallery of Ontario (AGO) mit den Sammlungsschwerpunkten Kanadische Malerei, Europäische Malerei und Skulpturen von Henry Moore ist eines der größten Kunstmuseen Nordamerikas. Das meist nur ROM genannte Royal Ontario Museum ist das größte Museum Kanadas. Es verfügt über Sammlungen zur Naturwissenschaft, Archäologie, Kunst- und Kulturgeschichte sowie zu den First Nations. Durch seine Kunstsammlung aus Fernost wurde es weltbekannt. Seit Juni 2007 wartet das ROM mit zehn erweiterten Galerien auf. Der Neubau und der Altbau wurden dabei ineinander verschachtelt. Die neue Außenfassade The Crystal hat eine dem Dekonstruktivismus zuzuordnende, zerklüftete, kristallähnliche Form, die zu 25 % aus Glas und zu 75 % aus Aluminium besteht. In der zur Bloor Street West zeigenden Fassade befindet sich der Haupteingang des Museums. Der von dem Architektenbüro Bregman + Hamann und Daniel Libeskind entworfene Neubau kostete 270 Millionen Dollar. Das Museum of Contemporary Canadian Art präsentiert zeitgenössische Kunst. Im 2012 eröffneten Ryerson Image Centre (RIC) werden Ausstellungen zu Fotografie, Neuen Medien, Installationskunst und Film gezeigt. Die internationale Hockey Hall of Fame (HHOF) ist eine Institution, die die besten Eishockeyspieler in einem Eishockeymuseum ehrt. An der Bloor Street West befindet sich das Bata Shoe Museum, ein Schuhmuseum, das zum Bata-Konzern gehört. Das 1979 gegründete Museum zeigt über 12.000 Schuhe, die ältesten Exponate stammen aus der Zeit von etwa 2500 v. Chr. Insgesamt zehn verschiedene Häuser, Schulen, Industriegebäude und sonstige Bauten sind zu historischen Stätten erklärt worden. Eine der bedeutendsten ist die Fort York National Historic Site. Sie befindet sich an dem Ort, an dem Toronto 1793 gegründet wurde und an dem am 27. April 1813 der Höhepunkt des Britisch-Amerikanischen-Krieges als Schlacht von York stattfand. Etwa elf Kilometer nordöstlich der Downtown befindet sich das Ontario Science Centre, ein 1969 eröffnetes Wissenschaftsmuseum. Es zeigt naturwissenschaftliche Zusammenhänge anhand von Experimenten, die von den Besuchern selbst durchgeführt werden können. Es verzeichnet jährlich rund 1,5 Millionen Besucher. Sport Toronto ist mit Ausnahme der National Football League (NFL) in allen großen nordamerikanischen Profisportligen mit jeweils einer Mannschaft vertreten. In der Eishockeyliga National Hockey League (NHL) zählen die Toronto Maple Leafs mit 13 Gesamtsiegen und 21 Finalteilnahmen beim Stanley Cup zu den erfolgreichsten Eishockeymannschaften Nordamerikas. Als Farmteam für die Toronto Maple Leafs fungieren die Toronto Marlies in der Eishockeyliga American Hockey League (AHL). In der Basketballliga der National Basketball Association (NBA) spielen die Toronto Raptors als einzige Basketballmannschaft außerhalb der Vereinigten Staaten. Wie auch die Toronto Maple Leafs, tragen die Toronto Raptors ihre Spiele in der Scotiabank Arena aus. Die Baseballmannschaft der Toronto Blue Jays, ebenfalls die einzige Mannschaft der Baseballliga Major League Baseball (MLB) außerhalb der Vereinigten Staaten, und die im Canadian Football aktiven Toronto Argonauts spielen im weithin sichtbaren und mitten im Stadtzentrum befindlichen Rogers Centre. Die Meisterschaft der Canadian Football League (CFL), der Grey Cup, fand bereits 48 Mal in Toronto statt. Aufgrund dieser Sonderstellung in den wichtigsten Profisportligen der Vereinigten Staaten gilt Toronto als die – sportlich gesehen – amerikanisierteste Stadt Kanadas. Weitere erwähnenswerte Mannschaften der Stadt sind die Toronto Rock, die in der National Lacrosse League (NLL) das in Kanada äußerst beliebte Lacrosse spielen, sowie der Toronto FC, der neben den ebenfalls aus Kanada stammenden Vancouver Whitecaps in der Fußballliga Major League Soccer (MLS) spielt. Darüber hinaus ist Toronto eine Hochburg des Rugby in Kanada. Im gesamten Ballungsraum existieren über 70 traditionsreiche Rugbyclubs. Überregionale Bedeutung besitzen die Ontario Blues, die im heimischen Canadian Rugby Championship (CRC) sowie dem internationalen Americas Rugby Championship (ARC) gegen Mannschaften aus Nord- und Südamerika antreten und mit den Toronto Arrows ein eigenes Franchiseteam innerhalb der Rugbyliga Major League Rugby (MLR) stellen. Mit insgesamt sieben Traditionsvereinen und weiteren akademischen Riegen ist Toronto überdies ein Zentrum des kanadischen Rudersports, der an der sogenannten Hanlanbucht im Ontariosee seinen Ursprung hat. Toronto war Austragungsort zahlreicher internationaler Sportveranstaltungen. Nachdem die Olympischen Sommerspiele 1976 nach Montreal vergeben worden waren, war die Stadt Ausrichter der Paralympischen Sommerspiele 1976. Für die Olympischen Sommerspiele 1996 und 2008 bewarb sich die Stadt, unterlag allerdings gegen Atlanta bzw. Peking. Das Kanadische Olympische Komitee (COC) mit Sitz in Toronto erwog daraufhin, sich ein drittes Mal zu bewerben. Die Stadt richtete 1997 zusammen mit Collingwood die 6. Special Olympics World Winter Games aus. Die 6. Special Olympics World Winter Games fanden vom 1. bis 8. Februar 1997 in Toronto und Collingwood statt. Dies war das erste und bislang einzige Mal, dass Kanada Gastgeber für Special-Olympics-Weltspiele war. Bis dahin hatten alle Spiele mit Ausnahme der Special Olympics World Winter Games 1993 in den USA stattgefunden. Fast 2.000 Athleten aus 73 Ländern und mehr als 5.000 Freiwillige waren an den Spielen beteiligt. Bei der Veranstaltung waren fünf Wettkampfsportarten und eine Demonstrationssportart vertreten: Eiskunstlauf: Toronto, Hallenhockey: Toronto, Ski Alpin: Blue Mountain Resort, Collingwood, Skilanglauf: Highlands Nordic, Collingwood, Eisschnelllauf: Toronto. Als Demonstrationssportart war Schneeschuhlaufen dabei. Auch Eisstockschießen wurde laut einer anderen Quelle angeboten. Seit 1990 findet im jährlichen Wechsel mit Montreal das Rogers Masters in Toronto statt, das zu den Turnieren der ATP Masters Series zählt. 1993 fanden dort die 4. Leichtathletik-Hallenweltmeisterschaften statt. Ein Jahr später war Toronto neben Hamilton Austragungsort der Basketball-Weltmeisterschaft. 2000 wurden die Du Maurier Open 2000 in Toronto abgehalten. Ebenfalls seit 2000 findet im Herbst jährlich der Toronto Waterfront Marathon im Stadtzentrum statt. Toronto war ferner gemeinsam mit der Region des Golden Horseshoe Austragungsort für die Panamerikanischen Spiele 2015. Regelmäßige Veranstaltungen Das Toronto International Film Festival Anfang September ist eines der größten Filmfestivals Nordamerikas. Es findet seit 1976 mit der Verleihung der Genie Awards (seit 1980) und der Gemini Awards (seit 1986) statt. Das an unterschiedlichen Orten stattfindende internationale Filmfestival IFCT Festival fand 2002 in Toronto statt. Im Februar findet seit 1974 jährlich die Canadian International AutoShow im Metro Toronto Convention Centre und im Rogers Centre statt. Sie ist mit 79.000 Quadratmetern Ausstellungsfläche die größte Automobilausstellung Kanadas. Die seit 1981 im März (ab 2014: im Mai) stattfindende viertägige Canadian Music Week ist ein Musikfestival und eine Musikkonferenz. Seit 1968 findet Anfang Juni in Toronto das ethnisch-kulturelle Volksfest International Caravan statt. Es besteht aus musikalischen und folkloristischen Veranstaltungen in Form von Konzerten und Theateraufführungen in mehr als 30 Pavillons im Stadtgebiet. Die Pride Week Ende Juni jeden Jahres gehört zu den größten Gay-Pride-Festivals weltweit. Höhepunkte sind der Dyke March und die Pride Parade, an der bis zu über eine Million Menschen teilnehmen. Seit 1989 findet jährlich im Sommer viertägige Beaches International Jazz Festival als Freiluft-Veranstaltung im Viertel The Beaches von Old Toronto statt, der Hauptact jeweils auf einer Bühne im Kew Garden. Parallel dazu spielen Bands auf einer Strecke von zwei Kilometern entlang der Queen Street East. Außerdem gibt es seit 1987 das Toronto Jazz Festival im Juni/Juli. Im Juni gibt es seit 1995 das Musik- und Kulturfestival North by Northeast (NXNE). Seit 1994 findet in der Greektown jährlich im August das Festival Taste of the Danforth statt. Einst nur ein lokales Straßenfest mit griechischen Spezialitäten, zieht es heute weit über 1,5 Mio. Besucher an. Das Canadian National Exhibition ist eine Mischung aus Jahrmarkt und Landwirtschaftsmesse. Die Veranstaltung findet seit 1879 von Mitte August bis zum Labour Day auf dem Exhibition Place, einem Platz westlich der Downtown statt. Sie ist mit jährlich etwa 1,3 Millionen Besuchern Nordamerikas fünftgrößte Messe. Neben den Ausstellungen gibt es auch Sport- und Musikveranstaltungen sowie eine Flugschau. Die Toronto Santa Claus Parade ist eine seit 1905 stattfindende Weihnachtsparade Mitte November. Mehr als eine halbe Million Menschen schauen jeweils der Parade auf sechs Kilometer der Innenstadt Torontos zu. Sie wird seit 1952 landesweit im Fernsehen übertragen. Toronto in den Medien Wegen seiner wichtigen Stellung im Bereich Medien und Film wird Toronto auch als das „Hollywood des Nordens“ bezeichnet. So ist die Stadt häufig Dreh- oder Handlungsort von internationalen Filmen. Im Jahr 2007 gaben Filmproduktionsgesellschaften insgesamt 791 Millionen Dollar für Dreharbeiten in Toronto aus. Die für Film und Fernsehen zuständige städtische Behörde Toronto Film and Television Office berichtet von etwa 200 Produktionen im Jahr 2005, darunter 39 Spielfilme, 44 Fernsehfilme und 84 Fernsehserien. Besonders das aus den 1960er Jahren stammende, futuristisch anmutende Rathaus (Toronto City Hall) diente schon vielen Filmen als Kulisse. In dem amerikanischen Thriller The Sentinel – Wem kannst du trauen? ist das Rathaus Schauplatz eines G8-Gipfels, daneben spielt der Film u. a. am Nathan Phillips Square, wo das Finale stattfindet. In dem Horrorfilm Resident Evil: Apocalypse (2004) dient die Toronto City Hall als Rathaus der fiktiven Stadt Raccoon City, das Exhibition Place wird in dem Film als National Trade Centre bezeichnet. In der Episode All Our Yesterdays (1969) aus der Science-Fiction-Fernsehserie Raumschiff Enterprise ist das Rathaus ein Portal der Außerirdischen. Und in der Actionkomödie The Tuxedo – Gefahr im Anzug dient es als Hauptquartier eines Nachrichtendienstes. Die Filmdramen M. Butterfly (1993) von Regisseur David Cronenberg und Das süße Jenseits (1997) unter der Regie von Atom Egoyan spielten teilweise in Toronto ebenso wie Take This Waltz von Sarah Polley (2011). M. Butterfly hatte beim Toronto Film Festival seine Weltpremiere. Die Kinokomödienreihe Police Academy wurde teilweise in Toronto gedreht, der dritte Teil fast vollständig. Der Film soll zwar offenbar in einer US-amerikanischen Großstadt spielen, man sieht aber mehrfach die markante Skyline Torontos. Der Titel des Films Am Highpoint flippt die Meute aus bezieht sich auf den Turmkorb des CN Tower, wo der Showdown stattfindet. Um den Absturz des Antagonisten darzustellen, sprang der Stuntman Dar Robinson mit einem Fallschirm vom Turm. Die aus Toronto stammenden Cowboy Junkies haben den Stil des Alternative Country maßgeblich geprägt. Am 27. November 1987 nahmen sie das Album The Trinity Session in der Torontoer Kirche der Heiligen Dreifaltigkeit (Church of the Holy Trinity) auf. Die erfolgreiche Alternative-Rock-Band Barenaked Ladies wurde 1988 in Scarborough gegründet und nahm auch ihre Alben in Toronto auf. Der Rapper Snow beschreibt in seinem bekanntesten Song Informer Anfang der 1990er Jahre seine Herkunft aus Toronto. Der Film Rot spielt in Toronto. Persönlichkeiten Toronto ist Geburtsort zahlreicher prominenter Persönlichkeiten, zu denen der für die Gründung Kanadas wichtige Politiker Robert Baldwin (1804–1858) zählt. Als kanadische Hauptstadt für Film, Musik und Medien sind besonders viele Persönlichkeiten aus diesem Bereich vertreten. In Toronto sind folgende Filmschaffende geboren: Raymond Massey, Michael Ironside, Mike Myers, Harland Williams, Will Arnett, die Schauspielerin Jessica Steen und der Regisseur David Cronenberg, der vor allem für seine Horrorfilme bekannt geworden ist. Weltweit bekannt ist vor allem der gebürtige Torontoer Rockmusiker Neil Young. Nicht aufgewachsen in Toronto ist der Komiker und Schauspieler Jim Carrey. Er trat bereits mit 15 Jahren auf verschiedenen Bühnen von Clubs in Toronto auf. Zum Teil in Toronto aufgewachsen ist die portugiesisch-kanadische Sängerin Nelly Furtado. Aus Toronto stammt die Rockband Rush und ihr Sänger und Bassist Geddy Lee. Der bedeutende Pianist und Musikautor Glenn Gould wurde in Toronto geboren und starb dort mit 50 Jahren nach einem Schlaganfall. Der weltweit als Architekt und Designer tätige Frank Gehry wurde 1929 ebenfalls in Toronto geboren. Der Pritzker-Preis-Träger erhielt 1998 von der University of Toronto die Ehrendoktorwürde. Die Universität benannte sogar einen eigenen Lehrstuhl für jährlich wechselnde Gastprofessoren nach ihm. Das einzige Werk Gehrys in Toronto ist die Neugestaltung des Art Gallery of Ontario im Jahr 2008. Der frühere Premierminister Lester Pearson wurde 1897 in dem heutigen Torontoer Bezirk Newtonbrook geboren und wuchs in Toronto auf. Er studierte am Victoria College und an der University of Toronto. 1957 erhielt er als Initiator der Beendigung der Sueskrise den Friedensnobelpreis. Der von 2006 bis 2015 amtierende kanadische Premierminister Stephen Harper wurde in Toronto geboren und ist in der Stadt aufgewachsen. Ebenfalls aus Toronto stammt Newcomer Shawn Mendes. Dieser lebt mit seinen Eltern und seiner Schwester in einem Vorort Torontos. In Toronto wirkte auch eine Reihe berühmt gewordener Wissenschaftler. Der Arzt Frederick Banting studierte und arbeitete dort. Für die Entdeckung des Insulins erhielt er 1923 zusammen mit dem ebenfalls in Toronto forschenden John James Richard Macleod den Nobelpreis für Medizin. Arthur L. Schawlow, der 1941 sein Studium der Mathematik und Physik an der University of Toronto abschloss, erhielt 1981 wegen seiner Mitwirkung an der Entwicklung des Lasers den Nobelpreis für Physik. Ebenfalls den Physik-Nobelpreis erhielt Bertram Brockhouse, der an der Universität in Toronto diplomierte. John C. Polanyi ist Hochschullehrer in Toronto und erhielt 1986 den Nobelpreis für Chemie. Der Physiker Walter Kohn wurde 1946 Master in Angewandter Mathematik an der University of Toronto und erhielt 1998 den Nobelpreis für Chemie. Der Schriftsteller und Literaturnobelpreisträger Ernest Hemingway wohnte Anfang der 1920er Jahre in Toronto und begann seine Karriere als Journalist beim Toronto Star. Die in Montreal geborene Journalistin und Ikone der Globalisierungskritik Naomi Klein lebt mit Familie in Toronto. Literatur Englischsprachige Literatur A. Rodney Bobiwash: The History of Native People in the Toronto Area. An Overview, in: Frances Henderson, Heather Howard-Bobiwash (Hrsg.): The Meeting Place. Aboriginal Life in Toronto, Native Canadian Centre of Toronto, Toronto 1997, S. 5–24 ISBN 978-0-9682546-0-8. G.P. deT. Glazebrook: Story of Toronto. University of Toronto Press, Toronto 1971, ISBN 0-8020-1791-6. Derek Hayes: Historical Atlas of Toronto, Douglas & McIntyre 2008, ISBN 978-1-55365-290-8. Key Porter Books Limited (Hrsg.): Toronto: A City Becoming, Key Porter Books 2008, ISBN 978-1-55263-949-8. Sean Stanwick, Jennifer Flores: Design City Toronto, Academy Press 2007, ISBN 978-0-470-03316-6. E. R. A. Architects: Concrete Toronto, Univ. of Chicago Press 2007, ISBN 978-1-55245-193-9. Ronald F. Williamson: Toronto: A Short Illustrated History of Its First 12,000 Years, James Lorimer & Company Ltd., 2008, ISBN 978-1-55277-007-8. Julie-Anne Boudreau, Roger Keil, Douglas Young: Changing Toronto Governing Urban Neoliberalism, University of Toronto Press 2009, ISBN 978-1-4426-0133-8. Deutschsprachige Literatur Heike Schiewer: Stadtplanung in einer multikulturellen Gesellschaft: Planerisches Rollenverständnis und Planungsprozesse in Toronto/Kanada, Informationskreis f. Raumplanung 1999, ISBN 978-3-88211-108-8. Julia Czerniak: Downsview Park Toronto, Prestel 2002, ISBN 978-3-7913-2536-1. Genevieve Susemihl: '… and it became my home.'. 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Toronto Info Center (englisch) – Toronto Informationszentrale Toronto Reiseinformationen (englisch) Toronto – Fototour (englisch) NZZ Online (13. September 2008): Toronto: Baukünstlerische Neuerfindung Einzelnachweise Ort in Ontario Ort mit Seehafen Millionenstadt Kanadische Provinzhauptstadt Ehemalige Hauptstadt (Kanada) Hochschul- oder Universitätsstadt in Kanada
Q172
987.800444
950806
https://de.wikipedia.org/wiki/Spindelbaumartige
Spindelbaumartige
Spindelbaumartige oder Baumwürgerartige (Celastrales) bilden eine Ordnung der Eurosiden I. Beschreibung Es sind verholzende oder krautige Pflanzen. Die einfachen Laubblätter sind gegenständig, gelegentlich auch wechselständig, ihre Ränder sind oft gezähnt. Kleine Nebenblätter sind je nach Familie vorhanden oder fehlen. Die radiärsymmetrisch Blüten sind meist unscheinbar, zwittrig und fünf-, seltener vierzähligen. Die Blüten weisen ein doppeltes Perianth auf mit freien Blütenhüllblättern, doch fehlen oft die Kronblätter. In der Regel gibt es einen fertilen und einen sterilen Staubblattkreis. Oft ist ein Diskus vorhanden. Der synkarpe Fruchtknoten ist ober- bis mittelständig. Die Pflanze enthält verschiedene Glykoside und ist in allen Teilen, auch im Aryllus, giftig. Systematik Zur Ordnung der Spindelbaumartige (Celastrales) gehören zwei Familien: Spindelbaumgewächse (Celastraceae) Lepidobotryaceae Die Spindelbaumartigen sind das Schwestertaxon zur Klade aus Malpighienartigen und Sauerkleeartigen. Nachweise Die Ordnung bei der APWebsite. (Abschnitt Systematik) Steckbrief beim Botanischen Garten Tübingen. (deutsch) Einzelnachweise Die Informationen dieses Artikels entstammen zum größten Teil den unter Nachweise angegebenen Quellen, darüber hinaus werden folgende Quellen zitiert: Weblinks
Q21870
88.589175
34410
https://de.wikipedia.org/wiki/Synthesizer
Synthesizer
Ein Synthesizer (; englische Aussprache ) ist seit dem Ende der 1960er Jahre ein zu den Elektrophonen gezähltes Musikinstrument, welches auf elektronischem Wege per Klangsynthese Töne erzeugt. Er ist eines der zentralen Werkzeuge in der Produktion elektronischer Musik. Man unterscheidet analoge und digitale Synthesizer. Ebenso wie in vielen Bereichen der Technik haben digitale Geräte die reine Analogtechnik teilweise verdrängt. Analoge Geräte werden jedoch wegen ihrer charakteristischen Eigenschaften immer noch eingesetzt. Viele ältere Geräte haben teilweise Kultstatus unter Musikern erreicht. Der charakteristische Klang bestimmter verbreiteter Geräte und die kreative Nutzung von deren Eigenarten hat vielfach die Entwicklung ganzer Musikrichtungen beeinflusst, etwa bei Acid House, Techno und Drum and Bass. Elektrophone Elektrische Orgeln basieren auf dem Prinzip der additiven Synthese, bei der mehrere Schwingungen zusammengemischt werden. In der Hammond-Orgel von 1935 wurden Sinusschwingungen über wellengetriebene Zahnräder erzeugt, welche in Tonabnehmern elektrische Schwingungen induzierten; für jede harmonische Schwingung gab es jeweils ein Rad. In späteren Geräten wurden die Schwingungen durch elektronische Schaltungen erzeugt. Die von elektronischen Orgeln erzeugten Klänge waren weit weniger modulierbar als die der heutigen Synthesizer, hatten aber den Vorteil, polyphon spielbar zu sein. Das ebenfalls von der Firma Hammond entwickelte und zwischen 1939 und 1942 in 1069 Exemplaren gebaute Novachord kann als erster echter polyphoner Synthesizer mit Hüllkurvengenerator und Filtern gelten. Er funktionierte mit Röhren. Mangels kommerziellen Erfolges wurde die Produktion allerdings nach Ende des Zweiten Weltkrieges nicht wieder aufgenommen. Hugh Le Caine, John Hanert, Raymond Scott, Percy Grainger (mit Burnett Cross) und andere bauten in den späten 1940er und 1950er Jahren verschiedene elektronische Musikinstrumente. Besonders erwähnenswert sind die Orchestermaschine sowie der Klangeffektgenerator Karloff von Raymond Scott. 1950 produzierte RCA experimentelle Geräte zum Erzeugen von Sprache und Musik. Im New Yorker Versuchslabor der Radio Corporation of America konstruierten die Ingenieure Harry Ferdinand Olson und Herbert Belar ein lochstreifengesteuertes Gerät, den RCA-Synthesizer Mark I. Hier wurden Töne durch Stimmgabeloszillatoren erzeugt; die sinusförmigen Schwingungen wurden elektromagnetisch abgenommen und in obertonreiche Sägezahnschwingungen umgewandelt. Vor allem der Komponist Milton Babbitt beschäftigte sich mit dieser Apparatur und war auch ein Berater für das Nachfolgemodell Mark II, welches im Columbia-Princeton Electronic Music Center gefertigt wurde. Dieser Mark II von 1958 konnte aber ein Musikstück erst nach vorheriger Programmierung mit einem Notenrollensystem wiedergeben und musste für das nächste neu programmiert werden. Gesteuert wurde er über Lochstreifen. 1958 entwickelte Daphne Oram beim BBC Radiophonic Workshop einen neuartigen Synthesizer, der die sogenannte „Oramics“-Technik verwendete. Gesteuert wurde der Synthesizer über 35-mm-Film. Er wurde einige Jahre bei der BBC verwendet. Ab den 1960er Jahren war die Entwicklung der Elektronik soweit vorangeschritten, dass Klänge und Töne in Echtzeit erzeugt werden konnten, doch waren diese Geräte aufgrund ihrer Größe auf den Studiobetrieb beschränkt. Diese Geräte waren meistens modular aufgebaut, und die einzelnen Komponenten konnten manuell miteinander verkabelt werden. Viele dieser ersten Geräte waren experimentelle Einzelstücke. Donald Buchla, Hugh Le Caine, Raymond Scott und Paul Ketoff waren die Pioniere in den 1960er Jahren, wobei nur Buchla ein kommerzielles Gerät anbot. Analoge Synthesizer Monophon Den ersten spiel- und konfigurierbaren Synthesizer präsentierte Robert Moog 1964 auf der „Audio Engineering Society convention“. Bereits während der Entwicklung konnte er die Musikerin Wendy Carlos für den modularen Synthesizer begeistern. Der neue Klang, wie auf dem „meistverkauften Album klassischer Musik“, Carlos’ Switched-On Bach von 1968, galt als sensationell. Praktisch zeitgleich entwickelte Don Buchla seinen ersten Synthesizer. In den späten 1960er Jahren erschien eine Vielzahl von Aufnahmen, die den neuen Moog-Synthesizer-Sound verwendeten. Zur Berühmtheit wurde das Stück Popcorn, das zum weltweiten Tophit wurde, welches im Wesentlichen mit dem Moog-Synthesizer erstellt wurde. Auch die Beatles verwendeten auf ihrem Album Abbey Road dezent einen Moog, um zum Beispiel dem Schluss-Refrain von Here Comes the Sun einen luftig „pfiffigen“ Klang zu verpassen. Moog setzte zugleich auch die Standards, die das Verknüpfen verschiedener Synthesizer erlaubte, wie z. B. eine Schnittstelle zur externen Ansteuerung über eine logarithmische 1-Volt/Oktave-Tonhöhensteuerung. Die Ansteuerung der Synthesizer erfolgte normalerweise über eine normale Klaviatur oder über einen Sequenzer, bei dem man Tonhöhenfolgen zeitlich programmieren konnte und der über die genannte Schnittstelle den Synthesizer ansteuerte. Da das Moog Modular System jedoch für den Bühnen- und Live-Einsatz zu groß und zu umständlich zu bedienen war, integrierte Moog die wichtigsten Komponenten seines Synthesizers in ein kompaktes Gehäuse, das den Namen Minimoog erhielt und 1970 auf den Markt kam. Der Minimoog wurde in den Folgejahren ein von vielen Musikern verwendetes und weit verbreitetes Musikinstrument. Im Laufe der 1970er Jahre kamen verschiedene weitere Unternehmen mit Synthesizern auf den Markt, u. a. ARP Instruments (von Alan Robert Pearlman), Oberheim (von Tom Oberheim), EMS Synthi 100 (von Peter Zinovieff) und Sequential Circuits. Alle Synthesizer hatten jedoch zwei entscheidende Nachteile: Zum einen waren sie nur monophon spielbar, und zum anderen waren sie nicht dauerhaft zu programmieren, man konnte also keine Einstellungen speichern. Dennoch spezialisierten sich Gruppen und Musiker wie Pink Floyd, Human League, Emerson, Lake and Palmer, Kraftwerk, Jean Michel Jarre, Tangerine Dream, Ed Starink, Klaus Schulze, Larry Fast oder Vangelis auf Synthesizer. Die Rockband The Who bediente sich in ihrem Song Won’t Get Fooled Again (1971) eines von einem Sequenzer gesteuerten Synthesizers. Polyphon Die meisten frühen Synthesizer waren monophon. Nur wenige waren in der Lage, zwei Töne zur gleichen Zeit zu erzeugen, wie der Moog Sonic Six, der ARP Odyssey und der EML 101. Echte Polyphonie war zur damaligen Zeit nur über das Prinzip der elektrischen Orgel (Oktavteiler-Prinzip) zu realisieren. Der ARP Omni, der Moog Polymoog und der Opus 3 verbanden daher beide Elemente. Erst Mitte der 1970er Jahre kamen mit der Yamaha GX-1, der Yamaha CS-80 und der Oberheim Four-Voice die ersten echten polyphonen Synthesizer auf den Markt. Der GX-1 gilt mithin als der erste polyphone Synthesizer. Diese waren aber komplex, schwer und teuer. Der erste erschwingliche polyphone und zudem mikroprozessorgesteuerte und damit programmierbare Synthesizer war 1978 der Prophet-5 von Sequential Circuits. Zum ersten Mal konnten Musiker damit ihre Einstellungen speichern und per Knopfdruck wieder abrufen. Daneben war er – verglichen mit den Modulsystemen – kompakt und leicht. Die DDR zog erst 1987 mit dem Tiracon 6V nach. Analoge Klangerzeugung Analoge Synthesizer der 1970er Jahre sind oft als Modularsystem aufgebaut. Die einzelnen Komponenten (Signalgeneratoren, Filter, Modulatoren) sind in einem Rack montiert und werden nach Bedarf durch Klinkensteckerkabel (oder über ein Steckfeld) miteinander verbunden. Ein Ton setzt sich in der Regel zusammen aus einem Grundton, der die Tonhöhe festlegt, und Obertönen – auch Teiltöne oder harmonische Töne genannt –, die die Klangfarbe bestimmen. Verschiedenartige Klänge entstehen also durch verschiedenartigen Aufbau der Obertonreihen. Die einzelnen Obertöne differieren dabei in Frequenz, Amplitude und in zeitlichem Auf- und Abbau. Bei der Klangerzeugung im analogen Synthesizer ging man in Anlehnung an mechanische Instrumente zunächst von wenigen Grundwellenformen aus: der Kippschwingung (streicherähnlich), der Rechteckschwingung (holzbläserähnlich) und der Dreieckschwingung (flötenähnlich). Siehe: Signalgenerator Voltage Controlled Oscillator (VCO) Der VCO ist ein spannungsgesteuerter Oszillator und stellt den wichtigsten Baustein bei analogen Synthesizern dar. Über eine Steuerspannung kann die Frequenz und somit die Tonhöhe verändert werden. Durch simultane Verwendung mehrerer Oszillatoren erhöht sich die Zahl der klanglichen Gestaltungsmöglichkeiten. Häufig werden dabei die Oszillatoren leicht gegeneinander verstimmt, was den Klangeindruck voller macht (Unisono bzw. Schwebung, ähnlich einem Chorus-Effekt). Bei digitalen Synthesizern kommen DCOs (Digitally Controlled Oscillator) zum Einsatz. Im Unterschied zum VCO wird die Frequenz hier nicht durch eine elektrische Spannung, sondern durch einen Zahlenwert bestimmt, der von einem Mikroprozessor vorgegeben wird. Noise Generator (NG) Der Rauschgenerator erzeugt Rauschsignale unterschiedlicher Spektralcharakteristik. In Analogie zur spektralen Energieverteilung bei weißem Licht spricht man von weißem Rauschen, wenn alle Frequenzen in gleichen Anteilen auftreten. Weicht die Frequenzverteilung von der Gleichverteilung ab, d. h. bestimmte Frequenzbereiche dominieren, handelt es sich um farbiges Rauschen. Einige Synthesizer besitzen die Möglichkeit, 1/f-Rauschen (rosa Rauschen) zu erzeugen, bei dem die tiefen Frequenzen überwiegen. Neben der Verwendung als Audiosignal kann Rauschen auch als Modulationsquelle dienen. Auf diese Weise entstehen ungewöhnliche und interessante Klänge. Voltage Controlled Filter (VCF) Die eigentliche Klangformung findet im spannungsgesteuerten Filter (VCF) statt. Das gebräuchlichste Filter ist das Tiefpass-Filter, das tiefe Frequenzen passieren lässt und hohe Frequenzen dämpft. Das Hochpass-Filter arbeitet genau umgekehrt. Durch die Reihenschaltung von Tief- und Hochpassfiltern entsteht ein Bandpass; eine Bandsperre entsteht bei Parallelschaltung. Hier wird ein spezielles Frequenzband gedämpft, während die übrigen Frequenzanteile ungehindert passieren. Die Flankensteilheit des Filters legt fest, wie sanft oder abrupt der Übergang zwischen Durchlass- und Sperrbereich erfolgt. Bei Synthesizern sind Werte von 12 dB (weich) und 24 dB (hart) üblich. Voltage Controlled Amplifier (VCA) Der Spannungsgesteuerte Verstärker beeinflusst den Lautstärkeverlauf bzw. die Dynamik des Klangs. Es gibt VCAs mit linearer oder exponentieller Abhängigkeit von der Spannung. Als Synthesizermodul wird der VCA hauptsächlich vom Hüllkurvengenerator gesteuert. Bei fast allen Herstellern arbeitet der VCA jedoch nicht als echter Verstärker, sondern lediglich als Abschwächer und wird daher auch als Voltage Controlled Attenuator (spannungsgesteuerter Abschwächer) bezeichnet. Lediglich bei Moog-Modularsystemen findet man beides – Amplifier- und Attenuator-Module. Der Hüllkurvengenerator Hüllkurvengeneratoren produzieren programmierbare Spannungsabläufe, die über den VCA zur Dynamikregelung eines Klanges, oder über einen VCF zur dynamischen Änderung der Klangfarbe verwendet werden. Hüllkurvengeneratoren sind häufig als ADSR-Generatoren ausgeführt, die über vier unterschiedliche Parameter verfügen: Anschwellzeit (Attack-Time), Abklingzeit (Decay-Time), Dauerpegel (Sustain-Level) und Ausklingzeit (Release-Time). Der Name ADSR leitet sich aus den Anfangsbuchstaben der Parameterbezeichnungen her (Attack, Decay, Sustain, Release). Meist wird der Hüllkurvengenerator über ein Triggersignal gestartet, das durch Anschlagen einer Taste ausgelöst wird. Die Modulation Das Synthesizermodul LFO (Low Frequency Oscillator) besteht aus einem regelbaren Oszillator mit einer im Vergleich zum VCO eher niedrigen Frequenz. Es dient dazu eine periodische Veränderung von Klangparametern automatisiert durchzuführen. Steuert der LFO z. B. die Frequenz eines VCO, entstehen Vibratoeffekte oder sirenenartige Klänge. Bei Modulation des VCA durch sinus- oder dreieckförmige LFO-Signale ergibt sich ein Tremolo. Ein Rechtecksignal des LFOs führt hingegen zu einem ständigen Wiederholen des Tones (Mandolineneffekt). Moduliert man den VCF mit den unterschiedlichen Wellenformen des LFO, lassen sich bei Kopplung zweier Filter zu Bandpass oder -sperre verschiedene Effektvarianten wie Wah-Wah oder Phaser erzeugen. Sample-and-Hold Aus einem Rauschsignal wird in regelmäßigen Abständen eine Probe (engl. sample) entnommen und als Spannungsniveau festgehalten. Steuert man mit diesem Signal einen VCO, ändert sich die Tonhöhe zufällig. Bei Steuerung eines VCF werden die Töne zufallsverteilt heller und dunkler (Spektralmodulation), was einen „blubbernden“ oder entfernt sprachähnlichen Eindruck erzeugen kann. Frequency Follower In diesem Modul wird die Tonhöhe eines Signals in eine entsprechende Steuerspannung umgewandelt. Damit arbeitet es genau nach dem umgekehrten Prinzip eines VCOs. Die Schwierigkeit hierbei liegt in der Minimierung der Zeit, die zum Erkennen der Tonhöhe benötigt wird. Da mehrere Wellenlängen einer Frequenz zu ihrer Identifikation notwendig sind, ergibt sich bei tiefen Frequenzen eine längere Erkennungszeit als bei höheren Tönen. Envelope Follower Diese Baugruppe wandelt den Lautstärkeverlauf oder eine Frequenz in einen entsprechenden Spannungsverlauf um. Ringmodulator Ein Ringmodulator multipliziert zwei Signale miteinander. Das resultierende Signal besteht aus den Summen- und Differenzfrequenzen der Harmonischen beider Eingangssignale. Wenn die Frequenzen der beiden Signale einfache Verhältnisse bilden, erhält man üblicherweise auch harmonische Klänge. Wählt man jedoch andere Frequenzverhältnisse, entstehen beispielsweise metallische oder auch glockenartige Klänge, die sich gut für die Erstellung von rhythmischen bzw. perkussiven Klängen verwenden lassen. Die Flexibilität bei der unmittelbaren elektronischen Umformung beliebiger Schallergebnisse hat die Ringmodulation zu einer bevorzugten Methode der Live-Elektronik werden lassen. Bei modernen Synthesizern, die die Ringmodulation auf rein mathematische Weise durchführen, kann man auch den Modulationstiefen-Verlauf einstellen und damit die Klangfarbe während des Tonverlaufes verändern. Resonanzfilter Dieses Modul dient der elektronischen Nachbildung von Formanten. In der Filterstufe von Synthesizern (das Hauptfilter ist meist der VCF) wird auch von resonanzfähigen Filtern gesprochen, wenn das Filter parametrisch in Resonanz („ringing“) getrieben werden kann: Ausgenutzt wird dabei meist das Überschwingverhalten von Filtern an oder kurz vor der Scheitelfrequenz. Wird dieses Überschwingen durch Rückkopplung innerhalb der Filterstufe hinreichend verstärkt, kann das Filter sogar in Eigenschwingung (ohne jedes Eingangssignal durch den VCO) versetzt werden. Die eingestellte Filterfrequenz bestimmt dann die Tonhöhe („Pfeifen“) der Eigenschwingung. Hörbar wird die Resonanz, sobald über die Tastatur die ADSR-Hüllkurve den VCA öffnet. Sowohl ohne als auch in Kombination mit der eigentlichen Tonerzeugungsstufe (VCO oder Rauschgeneratoren) erweitert ein eigenresonantes Filter den Spielraum der klanglichen Möglichkeiten eines Synthesizers deutlich. Analoge Sequenzer Analoge Sequenzer produzieren automatische Steuerspannungsabläufe und Triggersignale, die zur Kontrolle jedes beliebigen spannungsgesteuerten Synthesizermoduls verwendet werden können. Analoge Synthesizer lassen sich auch von digitalen Sequenzern steuern. Heute werden digitale Sequenzer wiederum von Mikroprozessoren gesteuert. Man unterscheidet Hardware- und Software-Sequenzer. Digitale Synthesizer Frequenzmodulation Eine wirkliche Revolution war das Aufkommen von Synthesizern mit digitaler Klangerzeugung, zunächst per FM-Synthese. Diese ist zwar prinzipiell auch mit analogen Oszillatoren möglich, indem ein Oszillator von einem zweiten Oszillator mit einer Frequenz im hörbaren Bereich moduliert wird, aber erst in den 1970er Jahren wurde die digitale Form entwickelt, die eine sehr komfortable Anwendung der FM-Synthese ermöglichte. Kurz gesagt erzeugen bei der FM-Synthese digitale Oszillatoren (sog. Operatoren) verschiedene Sinusschwingungen, die sich in Abhängigkeit von einem gewählten Algorithmus gegenseitig modulieren, so dass sich komplexe Schwingungsformen ergeben können. Ein Alleinstellungsmerkmal der FM-Synthese im Gegensatz zur damals gebräuchlichen subtraktiven Synthese war die Möglichkeit, besonders obertonreiche und perkussive Klänge zu erzeugen. Das Patent der FM-Synthese wurde vom japanischen Musikinstrumentenhersteller Yamaha lizenziert. Die ersten Synthesizer, der GS-1 und GS-2, waren schwere und teure Geräte und fanden keine weite Verbreitung. 1983 erschien dann mit dem DX7 der Synthesizer, der den gesamten Markt revolutionieren sollte und die analogen Synthesizer verdrängte. Er hatte die Größe und das Gewicht des Prophet-5 und war vergleichsweise kostengünstig. Er war „der“ Synthesizer der 1980er Jahre, und man findet kaum eine Pop-Musikaufnahme aus dieser Zeit, auf der kein DX7 zu hören ist. Nach dem Auslaufen des Patentschutzes fand die FM-Synthese weite Verbreitung, z. B. in einfachen 4-Operatoren-Synthesizern auf PC-Soundkarten. Sound-Sampling Eine zweite Revolution, die sich schon 1979 mit dem ersten Fairlight CMI ankündigte, war das Sampling. Beim Sampling werden natürliche Klänge digitalisiert. Diese digitalen Wellenformen bilden dann die Grundlage der Klangerzeugung. Mit dem Sampler war etwas möglich, was bisher nur dem mit Magnetbändern funktionierenden, analogen Mellotron vorbehalten blieb: Die reale Wiedergabe akustischer Instrumente. Die ersten Systeme, wie das Fairlight CMI, der E-mu Emulator oder später auch das Synclavier von New England Digital, waren extrem teure Geräte, die nur den „Großen“ der Branche vorbehalten waren. Außerdem waren die technischen Möglichkeiten der Wiedergabe wegen der geringen Auflösung und Speicherkapazität zunächst begrenzt. Peter Gabriel und Kate Bush veröffentlichten 1982 die ersten Aufnahmen, auf denen „gesampelte“ Klänge zu hören sind. 1985 kam mit dem Mirage von Ensoniq der erste für die breite Masse erschwingliche Sampler auf den Markt. Sampling prägte schon bald das Klangbild der Popmusik der 1980er Jahre. Heute können mit Computer und Soundkarte umfangreiche Sampling-Bibliotheken geladen und für computerbasierte Musikarrangements genutzt werden. Workstations 1987 brachte Roland mit dem D-50 einen Synthesizer auf den Markt, der aufgrund seiner Klangerzeugung mit LA-Synthese (Nachbildung akustischer Instrumentenklänge mittels einer Kombination aus Attacksamples und Grundwellenformen, mit integriertem Effektgerät) sehr populär wurde. 1988 führte KORG mit der M1 die Integration fort. Die M1 repräsentierte einen neuen Typus von Synthesizer, die „Workstation“. Hier waren zum ersten Mal Synthesizer, Effektgerät, Drumcomputer und Sequencer in einem Gerät integriert. Dieses erlaubte das Erstellen kompletter Musiksequenzen in einem Gerät ohne externe Hardware. Die Korg M1 ist nach dem Yamaha DX7 der bisher meistverkaufte Synthesizer. Synthesizer-Workstations gibt es mittlerweile auch als reine Software (z. B. Synthesizer Workstation Pro), die außer dem PC keine Hardware mehr benötigen. Sie werden über Arpeggiatoren oder MIDI-Files gespielt. Optional kann auch ein Keyboard angeschlossen werden. Physical-Modelling-Synthesizer Anfang der 1990er Jahre kamen die ersten Synthesizer mit einer neuartigen Synthesemethode, dem Physical Modelling, auf den Markt. Das klangliche Resultat eines Instruments wird hier nicht nachgeahmt, sondern ein physikalisches Modell (beispielsweise eine schwingende Saite) digital repräsentiert, d. h. das Modell mit all seinen Eigenschaften, Dimensionen, Elastizität, Spannung etc. „existiert“ in einem Rechner und ihm wird mit einem ebenfalls virtuellen Erreger (z. B. Plektrum) an einer beliebigen Stelle kinetische Energie zugeführt. Im Zentrum steht zunächst die physikalische Simulation, der Klang ist nur eine Möglichkeit, diese zu vermitteln (so könnte man den Körper der Saite auch visuell vermitteln). Gleichwohl führt PM-Synthese zu den realistischsten Klangergebnissen überhaupt, wo es gilt, natürliche Instrumente nachzuahmen, und dies umso eher, je detaillierter das physikalische Modell beschaffen ist. Das schon länger bekannte Prinzip konnte praktisch erst umgesetzt werden mit der Entwicklung des Karplus-Strong-Algorithmus und dessen Verfeinerung sowie der Verallgemeinerung des Algorithmus in eine digital waveguide synthesis durch Julius O. Smith III et al. Für eine Echtzeitberechnung waren leistungsfähige digitale Signalprozessoren (DSP: Digital Signal Processor) nötig, wie sie erst Ende der 1980er Jahre zur Verfügung standen. Wie bei der FM-Synthese sicherte sich Yamaha die Rechte und entwickelte ab 1989 zusammen mit der Stanford University dieses Syntheseverfahren; der erste so arbeitende Synthesizer in Serienfertigung war 1994 der Yamaha VL-1. Auf diesem Weg versuchte man auch bald, die alten analogen Synthesizer mit ihren klanglichen Unzulänglichkeiten als virtuell-analoge Synthesizer digital wieder auferstehen zu lassen. Dazu gehören der Clavia Nord Lead, der Access Virus und die Synthesizer des Unternehmens Waldorf. Nach den digitalen Synthesizerklängen der 1980er Jahre kam es in den 1990er Jahren zu einer Renaissance analoger Synthesizer bzw. ihrer Klänge, insbesondere durch das Aufkommen der Techno-Musik. Vormals fast wertlose Synthesizer wie Rolands TB-303 stiegen dadurch wieder erheblich im Wert. Hybrid-Synthesizer Heutige Synthesizer sind überwiegend digital aufgebaut und verwenden spezielle DSP-Bausteine zur Klangerzeugung, wobei teilweise unterschiedliche Formen der Klangsynthese parallel eingesetzt werden. Für Ein- und Ausgangsschaltungen, sowie teilweise bei den Einstellreglern (Potentiometern) werden noch analoge Schaltungsteile eingesetzt. Allerdings wurden auch einige sogenannte Hybridsynthesizer entwickelt, die DSPs mit analogen Bauteilen kombinieren, wobei sowohl ein zum Großteil digitaler Signalweg, wie z. B. beim Waldorf Q+ (analoge Filter, ansonsten DSP-basiert) als auch ein vorwiegend analog aufgebauter Signalweg (DSI Evolver, Alesis A6 Andromeda) vorkommen. Das Konzept der hybriden Synthesizer stammt ursprünglich aus den 1980er Jahren: Modelle wie der ESQ1 von Ensoniq kombinierten kurze Samples oder additiv erzeugte Wellenformen mit analogen Filtern. Ein vergleichbares Konzept findet sich im Sequential Circuits Prophet VS und dem Waldorf Wave, Microwave I wieder. Beide Synthesizer gehören wegen ihrer speziellen Klangästhetik auch aktuell zu gern genutzten Klangerzeugern. Digitale Wellenschnipsel werden in Wavetables (Microwave) organisiert, über die Oszillatoren ausgegeben und an die weiteren Synthesebausteine weitergereicht. Diese Synths sind deutlich vielseitiger als rein analoge Geräte, sind aber mit vergleichbaren Modulationsquellen und -zielen ausgestattet und sie profitieren von den als musikalisch empfundenen analogen Verstärker- und Filterbausteinen; als Stichworte fallen hier zumeist Attribute wie warm und druckvoll. Der Waldorf Q+ verwendet eine virtuell analoge Klangerzeugung, gibt diese aber über analoge Filter aus. Wegen seiner spartanischen Bedienoberfläche, welche in deutlichem Kontrast zur Vielzahl veränderbarer Parameter steht, wird für den Microwave I aktuell ein DIY-Controller der Firma Stereoping als MIDI-Controller für das Editieren der Sounds angeboten. Wenngleich der Waldorf Blofeld primär als „Virtuell Analoger (Wavetable) Synthesizer“ beworben wird, kann er wegen seiner 60 MB großen Sampling-Option als „Hybrider“ gesehen werden. Dies gilt umso mehr, als die mittels Tool (Spectre) einzuspeisenden Samples mit den weiteren Wellenformen und Synthesefunktionen des Blofeld interagieren. Auch die Tempest Drummachine, welche unter dem DSI-Label von den Synth-Pionieren Dave Smith und Roger Linn entwickelt wurde, ist ein Hybrid-Synthesizer im Groovebox-Format. Die Klangerzeugung beinhaltet 6 analoge Stimmen mit je 2 analogen und 2 digitalen Oszillatoren, die Eingabe erfolgt über beleuchtete Pads, ein Sequenzer gibt die Kompositionen wieder, die Klänge können u. a. über FX-Slider und Regler in Echtzeit verändert werden. Konzeptionell gehören dieser Linie auch die DSI-Instrumente-Evolver und der Prophet 12 und dessen kleiner Bruder Pro2 an. Der SY99 von Yamaha konnte dagegen geladene Samples in die FM-Synthese (s. o.) einspeisen und die daraus resultierenden Wellenformen nochmals subtraktiv bearbeiten (Filter) und kombinierte so Sampler und digitale FM-Synthese mit subtraktiver Klangerzeugung. Software-Synthesizer Ein neuer Trend sind sogenannte „native software synthesizer“. Aufgrund der Leistungsfähigkeit moderner PCs ist es möglich, digitale Klangerzeugung auf unspezialisierten Prozessoren durchzuführen. Mittlerweile gibt es für jede Syntheseform verschiedene Software-Synthesizer, die zum Teil Simulationen bekannter Hardware-Synthesizer sind. Auch werden bekannte alte Instrumente wie etwa Fender-Rhodes-Pianos oder die Hammond-B3-Orgel simuliert. Diese Software-Synthesizer werden oft durch ein Masterkeyboard, einen Pad-Controller oder einen Drehregler gesteuert. Meist arbeiten diese Synthesizer als VST-Plugins (Virtual Studio Technology), welche sich einfach in die meisten DAW-Programme (Digital Audio Workstation) integrieren lassen. Digitale Klangerzeugung Handy-Synthesizer Heutige Mobiltelefone besitzen derart viel Rechenleistung, dass sie Synthesizer-Apps als Anwendungsprogramme spielen können, die in ihren Klanggestaltungsmöglichkeiten den klassischen analogen und auch vielen digitalen Synthesizern immer näher kommen. Sie verfügen über mehrere Oszillatoren mit zahlreichen pulsweiten-modulierbaren Wellenformen, Frequenz- und Amplituden-Modulation, Detuning, Hüllkurvengeneratoren, Delay-, Exciter-, Chor- und Hall-Effekten sowie über dynamische Filter. Gespielt werden sie bevorzugt über MIDI-Files, da das Spielen auf einer kleinen Handytastatur etwas mühsam ist. Ein Beispiel dafür ist der Windows Phone Synthesizer (siehe Weblinks). Klangsynthese und Effektfilter Additive Synthese FM-Synthese Granularsynthese LA-Linear Arithmetic Synthese Physical Modelling Pulsweitenmodulation Sample and Hold Sound-Sampling Subtraktive Synthese VL-Virtual-Synthese Virtuell-Analog-Synthese Wavetable-Synthese Phase-Distortion-Synthese Technische verwandte Systeme Vocoder Technisch mit dem Synthesizer verwandt dient der Vocoder zur klanglichen Modulation von analogen Instrumentalklängen oder Geräuschen (Trägersignal), meistens mit Hilfe der menschlichen Stimme als Steuersignal. Die dynamischen und klangfarblichen Eigenschaften des steuernden Sprachsignals werden dabei mit Hilfe von Filtern und Steuerspannungen auf den Instrumentalklang übertragen, so dass dieser zu „sprechen“ oder zu „singen“ scheint. Filterbank Eine Filterbank ist ein analog, oder digital aufgebautes System, welches keine eigene Tonerzeugung besitzt, sondern eingespeiste Signale bearbeiten kann. In klassischen analogen Systemen bestehen diese meist aus RC-Filtern, in digitalen Systemen aus IIR- oder FIR-Filtern. In modernen Systemen werden die Signale auch mittels FFT zerlegt, im Frequenzbereich bearbeitet und dann resynthetisiert. MIDI Wichtig für die Verbreitung der Synthesizer war die Entwicklung von MIDI, einer einfachen digitalen seriellen Standardschnittstelle für Synthesizer. Entwickelt wurde sie 1982 von den Unternehmen Roland sowie Sequential Circuits und hat sich in kürzester Zeit als Standard-Schnittstelle für Musikgeräte etabliert. Sie erlaubt es, verschiedenste elektronische Geräte auf einfache Art und Weise miteinander zu verbinden. Bis heute ist sie in fast unveränderter Form in vielen Synthesizern zu finden. Soundmodul Ein Soundmodul ist ein klangerzeugendes Gerät oder Software-Modul ohne Klaviatur; es wird durch MIDI oder USB mit den entsprechenden Geräten verbunden. Sequenzer Ein Sequenzer steuert eine bestimmte Abfolge (Sequenz) von Tönen oder Klangereignissen, die von einem anderen Gerät oder Modul erzeugt werden. Sequenzer verbreiteten sich zusammen mit MIDI, das meist als Standard für Übertragung der Daten dient. Eine ähnliche Funktion bietet der Arpeggiator, der eine kürzere, zusammenhängende Tonfolge speichert, die dann etwa durch einen Tastendruck abgespielt werden kann. Präzisions-Oszillator In der Elektrotechnik beschreibt ein Synthesizer eine elektronische Vorrichtung zur Erzeugung monophoner, hochreiner Schwingungen, wie etwa einer Sägezahn-, Sinus-, Dreieck- und Rechteckschwingung oder Nadelimpulsfolgen. Entsprechende Geräte werden auch als Funktionsgenerator bezeichnet und dienen der Überprüfung elektronischer Schaltungen wie z. B. Verstärkern oder Filtern. Sie besitzen meist ein extrem niedriges Rauschen und einen an der Grenze der Messbarkeit liegenden Klirrfaktor. Da sie heute überwiegend mit digitalen Bauelementen realisiert werden, bezeichnet man sie oft auch als digitale Oszillatoren. Eine typische Methode ist die DDS. Synthesizerhersteller Im Folgenden eine Aufreihung bekannter Hersteller, die die Entwicklung von Synthesizern maßgeblich prägten. In Klammern angegeben sind Gebiete, auf die der jeweilige Hersteller Einfluss genommen hat. Alesis (analoge Synthesizer, Soundmodule) ARP Instruments (Modularsysteme) Arturia (analoge Synthesizer, digitale Synthesizer mit analogem Sound) Behringer (analoge Synthesizer, Nachbauten analoger Klassiker) Buchla (Modularsysteme, analoge Synthesizer) Clavia (Virtuell-analoge Synthesizer) Casio (PD-Synthesizer) Doepfer (Modulare und nichtmodulare analoge Synthesizer, Eurorack Modul-Format) Electronic Music Studios (Spannungsgesteuerte analoge Synthesizer, insbesondere durch den EMS VCS 3) Ensoniq (digitale Synthesizer, Workstations, Sampler) Fairlight (Sample-basierte Digitalsynthesizer) Korg (Halb-Modularsysteme, Analoge und digitale Synthesizer, Workstations) Kurzweil (Sample-basierte-, Physical-Modelling- und virtuell-analoge Digitalsynthesizer und Workstations/Performance Controller) Moog (Modularsysteme, analoge Synthesizer, Minimoog) New England Digital (FM-Synthese, Digitalsynthesizer) Oberheim (Multi-Timbrale Synthesizer, Analogsynthesizer, Expander) PPG (PPG 1020 erster Synthesizer mit digitalem Oszillator, Wavetable-Synthese) Roland Corporation (Analoge und digitale Synthesizer, Workstations, Grooveboxen) Sequential Circuits (Mikroprozessorgesteuerte Synthesizer) Waldorf (Analoge und virtuell-analoge Synthesizer) Yamaha (FM-Synthese, Physical-Modelling-Synthese, Sample-basierte Workstations) Quasimidi (Analogmodellierung, Technoboxen) Literatur Synthesizer Workstation Pro. Das Musiklabor für Ihren PC. Franzis, Poing bei München 2010, ISBN 978-3-645-70094-8. Weblinks Synthesizer-Info-Site (englisch) Synthesizer-Datenbank Random VSTi (englisch) Basics Synthesizer auf bonedo.de Learning4Synthesizer (Tutorial). Einzelnachweise !
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313.43284
6696
https://de.wikipedia.org/wiki/1685
1685
Ereignisse Politik und Weltgeschehen England / Schottland 6. Februar: Mit dem Tod von Karl II. ohne legitime Nachkommen wird sein Bruder Jakob II. König von England und – als Jakob VII. – von Schottland. Er wird am 23. April in der Westminster Abbey gekrönt. George Jeffreys, 1. Baron Jeffreys wird von Jakob II. zum Lordkanzler erhoben. 20. Juni: James Scott, 1. Duke of Monmouth erklärt sich als illegitimer Sohn des verstorbenen Herrschers Karl II. zum König von England, das indessen vom bereits gekrönten Königsbruder Jakob II. regiert wird. Die angestiftete Monmouth-Rebellion scheitert in der Schlacht von Sedgemoor am 6. Juli mit königstreuen Truppen. Der gefangene Herzog wird nach den Bloody Assizes am 15. Juli hingerichtet. Heiliges Römisches Reich 18. April: Landgraf Karl von Hessen-Kassel erlässt die Freiheits-Concession, nach welcher französische Glaubensflüchtlinge bestimmte Vorteile bei Ansiedlung in seinem Lande erhalten. 16. Mai: Nach dem Tod von Karl II. wird Philipp Wilhelm neuer Kurfürst der Pfalz. 16. August: Während des Großen Türkenkrieges gelingt den kaiserlichen Truppen in der Schlacht bei Gran ein Sieg über ein osmanisches Heer. 8. November: Im Edikt von Potsdam, datiert mit dem 29. Oktober (nach julianischem Kalender), gewährt der Große Kurfürst den französischen Hugenotten Privilegien und eine sichere Heimstatt in Brandenburg. Skandinavien 19. Mai: Nach 22-jähriger Haft im Blauen Turm kommt in Kopenhagen die politische Gefangene Leonora Christina Ulfeldt frei. Ihr war eine Beteiligung an politischen Intrigen ihres Mannes Corfitz Ulfeldt zur Last gelegt. Frankreich 18. Oktober: Ludwig XIV. hebt durch das Edikt von Fontainebleau das Toleranzedikt von Nantes auf. Mit dem neuen Edikt erklärt Ludwig das katholische Bekenntnis zur Staatsreligion und erlässt ein generelles Verbot des Protestantismus. Das Verbot trifft die Reformierte Kirche von Frankreich schwer, da es konsequent durchgesetzt wird. Viele französische Hugenotten fliehen in protestantische Länder, insbesondere die Niederlande, Schweiz und Preußen. Bald darauf beginnt der Aufstand der Kamisarden. Überseeische Kolonien 5. Oktober: Brandenburg erobert seine Kolonie Arguin im heutigen Mauretanien. Ludwig XIV. erlässt den Code Noir zum Umgang mit Sklaven in den Kolonien. Wirtschaft 17. Januar: Der Armenier Johannes Theodat erhält als erster ein kaiserliches Privileg für den öffentlichen Ausschank von Kaffee und eröffnet in der Folge in seinem Wohnhaus am Haarmarkt das erste Wiener Kaffeehaus. 29. Juni: Ein Edikt des Großen Kurfürsten Friedrich Wilhelm führt zur Gründung der Berliner Börse. Beginn der Lederwarenindustrie: Gerbereien zu Saarlouis-Roden von 1685 bis 1904. Dezember: Der französische König Ludwig XIV. erteilt dem Marquis Charles Henri Gaspard de Lénoncourt, der die Baronie Dillingen regiert, die Genehmigung, eine Eisenhütte mit Schmelzofen vor den Toren der Festung Saarlouis zu errichten. Die Dillinger Hütte wird gegründet. Wissenschaft und Technik Der Hallenser Gymnasialdirektor und spätere Geschichtsprofessor Christoph Cellarius (1638–1707) veröffentlicht das Lehrbuch Historia universalis, in antiquam, medii aevi novam divisa, darin wird erstmals die Dreiteilung der Weltgeschichte in Altertum, Mittelalter und Neuzeit in einem Lehrbuch festgehalten. Kultur und Gesellschaft In Wien wird die erste Feuerlöschordnung mit Feuerknechten erlassen und damit die älteste Berufsfeuerwehr der Welt gegründet. Bei Ansbach attackiert und tötet ein Wolf zahlreiche Menschen, was Anlass für eine Werwolflegende bietet. Religion In Waldsassen erfolgt die Grundsteinlegung der Stiftsbasilika. Geboren Erstes Halbjahr 19. Januar: Sebastián de Eslava y Lazaga, spanischer Offizier, Kolonialverwalter und Vizekönig von Neugranada († 1759) 2. Februar: Amand von Buseck, Fürstbischof in Fulda († 1756) 4. Februar: Wilhelmine von Grävenitz, Mätresse des württembergischen Herzoges Eberhard Ludwig († 1744) 9. Februar: Francesco Loredan, 116. Doge von Venedig († 1762) 11. Februar: Willibald Krieger, deutscher Jesuit, Theologe, Philosoph und Physiker († 1769) 12. Februar: George Hadley, englischer Physiker († 1768) 17. Februar: Johann Gottfried Gregorii alias Melissantes, deutscher Geograph und Universalgelehrter († 1770) 5. März: Georg Friedrich Händel, deutscher Komponist († 1759) 12. März: George Berkeley, irischer Theologe und Philosoph († 1753) 17. März: Jean-Marc Nattier, französischer Maler († 1766) 26. März: Johann Alexander Thiele, sächsischer Maler und Radierer († 1752) 31. März: Johann Sebastian Bach, deutscher Komponist († 1750) 18. April: Jacques-Pierre de Taffanel de La Jonquière, französischer Admiral und Generalgouverneur von Neufrankreich († 1752) 30. April: Hermann Friedrich Teichmeyer, Gerichtsmediziner († 1744) 9. Mai: Georg Sebastian Urlaub, fränkischer Maler († 1763) 6. Juni: Spencer Phips, britischer Kolonialpolitiker, Gouverneur der Province of Massachusetts Bay († 1757) 14. Juni: Charlotte Wilhelmine von Sachsen-Coburg-Saalfeld, Gräfin von Hanau-Münzenberg († 1767) 25. Juni: Johann Michael Hoppenhaupt, deutscher Bildhauer und Baumeister († 1751) 30. Juni: John Gay, englischer Schriftsteller († 1732) 30. Juni: Dominikus Zimmermann, kurbayerischer Stuckateur und Baumeister († 1766) Zweites Halbjahr 4. Juli: Christian Reichart, deutscher Begründer des Gartenbaus († 1775) 22. Juli: Pierre Roques, französisch-schweizerischer evangelischer Geistlicher († 1748) 1. August: Pietro Giuseppe Sandoni, italienischer Komponist († 1748) 15. August: Johann Heel, süddeutscher Maler († 1749) 15. August: Jacob Theodor Klein, deutscher Wissenschaftler, Mathematiker und Diplomat († 1759) 18. August: Brook Taylor, britischer Mathematiker († 1731) 31. August: Samuel Urlsperger, deutscher lutherischer Theologe († 1772) 2. September: Christiane Charlotte von Nassau-Ottweiler, Gräfin von Nassau-Saarbrücken und Landgräfin von Hessen-Homburg († 1761) 4. September: Johann Adolf II., Herzog von Sachsen-Weißenfels und Fürst von Sachsen-Querfurt († 1746) 16. September: Daniel Gottlieb Messerschmidt, deutscher Mediziner und Sibirienforscher († 1735) 1. Oktober: Karl VI., Kaiser des Heiligen Römischen Reichs († 1740) 8. Oktober: Carl Aigen, österreichischer Maler († 1762) 12. Oktober: Ishida Baigan, japanischer Gelehrter und Philosoph († 1744) 17. Oktober: Christian Schmidt, deutscher Orgelbauer († vor 1757) 24. Oktober: Charles Alston, schottischer Mediziner und Botaniker († 1760) 26. Oktober: Domenico Scarlatti, italienischer Komponist († 1757) 30. Oktober: Gottlob Adolph, deutscher Kirchenlieddichter († 1745) 3. November: Theophilus Grabener, deutscher Pädagoge († 1750) 15. November: Balthasar Denner, deutscher Maler († 1749) 6. Dezember: Maria Adelaide von Savoyen, Herzogin von Burgund und Dauphine von Frankreich, Mutter Ludwigs XV. († 1712) 8. Dezember: Johann Maria Farina, italienischer Chemiker, Erfinder des Eau de Cologne († 1766) 22. Dezember: Kaspar Achatius Beck, deutscher Jurist († 1733) Dezember: Filippo Argelati, italienischer Gelehrter († 1755) Genaues Geburtsdatum unbekannt Benedikt von Ahlefeldt, Geheimer Rat, Kanzleipräsident und Kammerherr des Herzogs Karl Friedrich von Schleswig-Holstein-Gottorf († 1739) Jean-Pierre Bergier, Schweizer evangelischer Geistlicher († 1743) Mary Cowper, englische Hofdame und Tagebuchschreiberin († 1724) Sai Setthathirath II., König des laotischen Königreichs Lan Chang († 1730) Dorothee Elisabeth Tretschlaff, brandenburgische Magd, vermutlich letztes Todesopfer der Hexenverfolgung in Brandenburg († 1701) Geboren um 1685 Mary Read, englische Piratin († 1721) Gestorben Todesdatum gesichert 5. Januar: Herman Saftleven, niederländischer Maler (* 1609) 26. Januar: Johann Michael Nicolai, deutscher Violonist und Komponist (* 1629) 28. Januar: David Mozart, Augsburger Maurer und Baumeister (* 1620/22) 6. Februar: Karl II., König von England, Schottland und Irland (* 1630) 20. Februar: Gottfried Olearius, deutscher evangelischer Theologe (* 1604) 20. Februar: Sophie Amalie von Braunschweig-Calenberg, Königin von Dänemark und Norwegen (* 1628) 24. Februar: Isabella Clara von Österreich, Herzogin von Mantua (* 1629) 9. März: Carpoforo Tencalla, italienisch-schweizerischer Maler (* 1623) 10. März: Werner Theodor Martini, deutscher Rechtsgelehrter (* 1626) 11. März: Marx Augustin, Bänkelsänger, Sackpfeifer und Stegreifdichter (* 1643) 20. März: Hans Heinrich von Elterlein, deutscher frühkapitalistischer Unternehmer (* 1624) 26. März: Go-Sai, 111. Kaiser von Japan (* 1638) 30. März: Friedrich Casimir von Hanau, Graf von Hanau-Münzenberg (* 1623) 8. April: Sassoferrato, italienischer Maler (* 1609) 23. April: Natale Monferrato, italienischer Organist, Kapellmeister und Komponist (* um 1603) 24. April: Georg Szelepcsényi, Erzbischof von Gran und Vertreter der Gegenreformation (* 1595) 29. April: Luc d’Achery, französischer Bibliothekar und Historiker (* 1609) 26. Mai: Karl II., Kurfürst der Pfalz (* 1651) 30. Juni: Christoph Arnold, deutscher Theologe, Kirchenlieddichter und Dichter (* 1627) 14. Juli: Johann Caspar Bauhin, Schweizer Arzt und Botaniker (* 1606) 15. Juli: James Scott, 1. Duke of Monmouth, unehelicher Sohn von Karl II. von England (* 1649) 25. August: Francisco de Herrera der Jüngere, spanischer Maler und Architekt (* 1622) 7. September: Johann Stephan Wydżga, Bischof von Ermland, Erzbischof von Gnesen und Primas von Polen-Litauen (* 1610) 18. September: Christoph Alois Lautner, Opfer der Hexenprozesse in Mähren (* 1622) 24. September: Gustaf Otto Stenbock, schwedischer Reichsadmiral (* 1614) 1. Oktober: Kanō Yasunobu, japanischer Maler (* 1614) 3. Oktober: Juan Carreño de Miranda, spanischer Maler (* 1614) 3. Oktober: Johann Heinrich Roos, deutscher Maler (* 1631) 12. Oktober: Christoph Ignaz Abele, österreichischer Rechtsgelehrter und Hofbeamter (* 1627) 30. Oktober: Michel Le Tellier, französischer Staatsmann (* 1603) 4. November: Albrecht Sigismund von Bayern, Fürstbischof von Freising (* 1623) 9. November: Louis Armand I. de Bourbon, Fürst von Conti (* 1661) 28. November: Nicolas de Neufville, duc de Villeroy, französischer General und Marschall von Frankreich (* 1598) Genaues Todesdatum unbekannt Francisco Rizi, spanischer Maler (* 1614) Richard Salwey, englischer Politiker (* 1615) Weblinks
Q7660
188.562654
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https://de.wikipedia.org/wiki/Kampfpanzer
Kampfpanzer
Der Kampfpanzer (in der öffentlichen Wahrnehmung auch meist nur Panzer) ist das Hauptwaffensystem der Panzertruppe. Kampfpanzer sind die am stärksten gepanzerte und am flexibelsten bewaffnete Panzergattung und bilden am Anfang des 21. Jahrhunderts noch immer das Rückgrat der Landstreitkräfte. Typischerweise sind Kampfpanzer gepanzerte Gleiskettenfahrzeuge mit einer Kanone als Hauptwaffe in einem rundum drehbaren Turm. Sie sollen einen möglichst guten Kompromiss aus Panzerung, Feuerkraft und Beweglichkeit darstellen. Ihre Aufgabe ist die Bekämpfung gegnerischer Panzer und befestigter Stellungen. Beim Kampf in urbanem Gebiet unterstützen sie auch häufig die Infanterie durch ihre Feuerkraft und ihren Panzerschutz. Bei modernen Panzern besteht die Besatzung in der Regel aus drei oder vier Mann. In der Wanne sitzt oder liegt im Allgemeinen der Fahrer. Im Turm befinden sich üblicherweise der Kommandant, der Richtschütze und – falls der Panzer keinen Ladeautomat für die Kanone hat – ein Ladeschütze. In der Wehrmacht wurde in der Regel die Bezeichnung Panzerkampfwagen (militärisch abgekürzt PzKpfw) verwendet. Definition der OSZE Die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) definiert den Begriff „Kampfpanzer“ im Vertrag über Konventionelle Streitkräfte in Europa (KSE-Vertrag) von November 1990 in Artikel II wie folgt: Geschichte Bis heute entwickelten sich die Panzer in einem Wettbewerb der drei Faktoren Panzerung, Bewaffnung und Mobilität; seit dem Zweiten Weltkrieg noch ergänzt um die Faktoren Führbarkeit und Verfügbarkeit. Mit der Entwicklung erster motorgetriebener Fahrzeuge entstanden auch an verschiedenen Orten Überlegungen für gepanzerte Gefechtsfahrzeuge. Diese waren aber überwiegend Radfahrzeuge und darum keine direkten Vorfahren moderner Kampfpanzer und keiner der Entwürfe konnte sich bis zum Ersten Weltkrieg durchsetzen. Unter den Bedingungen des Stellungskrieges wurden dann von britischer Seite die ersten Kampfpanzer auf Gleisketten entwickelt. Diese dienten nahezu ausschließlich der Infanterieunterstützung, die Bewaffnung war dementsprechend zur Bekämpfung von Infanterie, maximal noch von Feldbefestigungen, vorgesehen. Die Panzerung war auf einen Rundumschutz gegen Handwaffen ausgelegt und die Anforderungen an Mobilität lagen mehr im Bereich der Notwendigkeit, Gräben und Granattrichter überwinden zu müssen. Geschwindigkeit war nebensächlich. Die deutsche Seite beschränkte sich zunächst vor allem auf die Entwicklung infanteristischer Panzerabwehr, eigene Panzer kamen in diesem Krieg praktisch nicht mehr zum Einsatz. Die französischen Panzer waren zunächst wenig praxistauglich. Die leichten Panzer von Renault führten aber das bis heute gültige Konzept des rundum drehbaren Geschützturms ein. Eine Differenzierung der Panzertypen und die Entwicklung dazu passender Einsatzdoktrinen fand erst zwischen den Weltkriegen statt. Neben anderen Irrwegen setzten sich Multiturmpanzer nicht durch. Zu Beginn des Zweiten Weltkriegs hingen die Westalliierten einer an die Erfahrungen des Ersten Weltkrieges anknüpfenden Einsatzdoktrin für Panzer zur Unterstützung der Infanterie an. Die Sowjetunion hatte zwar zunächst wesentlich modernere Einsatztaktiken für Panzer entwickelt, die auch den Panzerbau entsprechend beeinflussten, diese aber im Zuge der stalinistischen Säuberungen wieder aufgegeben. Die Deutsche Wehrmacht war in der Entwicklung von Panzerfahrzeugen durch die Beschränkungen des Versailler Vertrages behindert. Bei Ausbruch des Zweiten Weltkrieges bestand ein Großteil der Panzer aus Fahrzeugen, die technisch unterlegen waren, trotzdem gelangen aufgrund entsprechender Taktiken in der ersten Hälfte des Zweiten Weltkrieges einige spektakuläre Feldzüge, oft auch als Blitzkrieg bezeichnet. Die im weiteren Verlauf des Krieges hauptsächlich eingesetzten mittleren Panzer wie der sowjetische T-34 oder der deutsche Panther waren richtungsweisende Entwürfe. Der T-34 hatte eine hervorragende Mobilität und durch günstige Neigung der Fahrzeugwände sehr gute Panzerwirkung bei einem relativ niedrigen Gewicht von etwa 30 Tonnen. Der Panther war ähnlich konzipiert, entsprach aber mit moderner Feuerleitung, Drehstabfederung, Drei-Mann-Turm usw. schon weitgehend den Nachkriegsmodellen. Die vor allem von der deutschen Wehrmacht auf dem Höhepunkt des Zweiten Weltkrieges verfolgte Taktik des Einsatzes schwerer Panzer wie des Tiger oder Tiger II wurde nach schlechten Erfahrungen mit deren stark eingeschränkter Mobilität nach 1945 nicht mehr lange fortgeführt. Die in den 1960er Jahren erfolgte Ausmusterung des erst zehn Jahre zuvor in Dienst gestellten britischen Conqueror bestätigte die Richtigkeit der Abkehr vom Konzept schwerer Panzer. Die im Koreakrieg sichtbar gewordene Überlegenheit mittelschwerer Panzer mit starker Feuerkraft im Bewegungskrieg führte zur Weiterentwicklung dieser Kampfpanzer. Hier zeichnete sich besonders der britische Centurion aus, der bis 1966 den Conqueror in der britischen Armee verdrängte. Er gilt als Prototyp des modernen Main Battle Tank. Dieser englische Begriff kam mit dem Erfolg dieses Typs auf. In dieser Zeit setzte sich das Konzept des „modernen Kampfpanzers“ durch, womit auch eine Reduzierung der Bandbreite an Kampfpanzermodellen einherging. Im Englischen schlug sich dies im Ausdruck Main Battle Tank, kurz MBT (wörtlich übersetzt: Hauptkampfpanzer), nieder. Der Begriff trägt dem Umstand Rechnung, dass die Trennung zwischen den Konzepten von leichten, mittleren und schweren Kampfpanzern zugunsten eines universellen Allzweckpanzers weitgehend entfällt. In den Auseinandersetzungen im Nahen Osten, etwa 1967 auf ägyptischer Seite im Sechstagekrieg gegen Israel, zeigten die schweren Panzer wie der sowjetische IS-3 im Kampfeinsatz ihre Unzulänglichkeiten, wobei diese Panzer freilich zu dieser Zeit schon technisch überholt waren. Ähnlich erging es dem letzten schweren sowjetischen Panzer, dem T-10. Dieser geriet ab Ende der 1960er Jahre gegenüber dem moderneren und leichteren T-64 sowohl technisch als auch in puncto Feuerkraft immer mehr ins Hintertreffen und wurde um 1973 aus dem aktiven Einsatzbestand genommen. Damit hatten sich die Main Battle Tanks in der Nachfolge der mittleren Panzer endgültig bei beiden Machtblöcken – NATO und Warschauer Pakt – etabliert. Den leichten Panzern blieb noch die Rolle der Aufklärung auf dem Gefechtsfeld. Sie wurden später jedoch durch Schützenpanzer, Panzerwagen oder Radpanzer ersetzt, die noch kostengünstiger waren. Diese besitzen heute eine Bewaffnung und Mobilität, die früheren leichten Panzern überlegen ist. Nach der Ausmusterung des US-amerikanischen M551 Sheridan ist der Stingray II einer der letzten noch im Dienst befindlichen leichten Kampfpanzer; sein einziger Nutzerstaat ist Thailand. In den letzten 25 Jahren ist das Gewicht der Kampfpanzer bedingt durch immer stärkere Panzerungen und größere Kanonen enorm gestiegen. Verschiedene aktuelle Typen wiegen um die 70 Tonnen, was in etwa der Gewichtsklasse der ursprünglichen schweren Panzer aus dem Zweiten Weltkrieg entspricht. Aus diesem Grund werden heute die modernen Kampfpanzer immer häufiger als schwere Kampfpanzer bezeichnet, obwohl sie entwicklungsgeschichtlich von den mittleren Panzern abstammen. Sie weisen dabei jedoch durch die entsprechend weiterentwickelte Antriebstechnologie und durch die mechanische Zuverlässigkeit nicht die Mängel der früheren schweren Panzer auf. Mit dem Ende des Kalten Krieges und der Wandlung des Schlachtfeldes von offenem, panzergünstigem Gelände zu Einsätzen in unwegsamem Gelände steht die Daseinsberechtigung immer mehr in Frage, und die Zahl der einsatzbereit gehaltenen Einheiten wurde wesentlich verringert. Setzen Staaten wie China, Indien oder Südkorea nach wie vor auf starke Panzerverbände, so ändern sich die Anforderungen der NATO-Staaten zu luftverladbaren, schnellen Einsatzverbänden mit entsprechenden Fahrzeugen. Aufgrund ihrer hohen Stoßkraft, Durchsetzungs-, Durchhalte- und Wirkfähigkeit sind sie jedoch noch immer ein fester Bestandteil jeder Landstreitmacht im weiter gültigen Konzept „Gefecht der verbundenen Waffen“. So sind Kampfpanzer bei Friedensmissionen (Peace Support Operation) ein Druck- und Ordnungsmittel im Rahmen der Show of Force, dem Zeigen der militärischen Stärke gegenüber den Konfliktparteien. Beim Kampf in bebautem Gelände und im Häuserkampf bieten Panzer durch ihre Panzerung und Bewaffnung Schutz und Feuerkraft für die primär kämpfende Infanterie und begleitende Unterstützungseinheiten, sind aber in hohem Maß durch die kurzen Kampfentfernungen und Panzerabwehrhandwaffen des Gegners gefährdet. Die meisten Verluste an amerikanischen Kampfpanzern während des letzten Golfkrieges entstanden beim Kampf in urbanen Gebieten. Technik Mobilität und Antrieb Bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs wurde zwar auf Geländegängigkeit grundsätzlich Wert gelegt, jedoch wurden auch Panzertypen mit extrem verstärkter Panzerung auf Kosten der Mobilität eingeführt. Zum Teil lag dies an konzeptuellen Vorgaben (Infanteriepanzer), oft aber auch schlicht daran, dass entsprechend leistungsstarke Motoren nicht verfügbar waren. Bis in die Gegenwart besitzen Kampfpanzer eine hohe Mobilität. Das Verhältnis von Motorleistung und Masse liegt bei modernen Panzern über 20 PS/t. Automatische Schalt-/Lenkgetriebe mit hydraulischer Wandlung sind heute Standard. Die Reichweite eines Kampfpanzers in leichtem Gelände liegt dabei heute meistens bei 400 bis 500 km, zur Zeit des Zweiten Weltkriegs waren es oft nur 150 km. In manchen Fällen, wie etwa beim deutschen Leopard 2, liegt die erreichbare Geschwindigkeit auf Straßen in Bereichen, die früher nur Radfahrzeuge erreichten (über 70 km/h). Die Fahrleistungen im Gelände erreichen dabei heute die Grenze der physischen Belastbarkeit der Besatzung bei Panzern mit Drehstabfederung. Die ersten Panzer wurden von Benzin- oder Petroleummotoren als Reihen-, V- oder auch Sternmotor angetrieben. Im Laufe des Zweiten Weltkriegs zeigte sich die Überlegenheit des Dieselmotors; bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges dominierten aber aus verschiedenen Gründen noch Benzinmotoren. Mit der Weiterentwicklung des Panzerbaus ist der Dieselmotor im 21. Jahrhundert der vorherrschende und am weitesten entwickelte Antriebstyp für Panzerfahrzeuge. Anfänglich in Bezug auf sein Gewicht noch leistungsschwach, hat er sich zum aufgeladenen Hochleistungsdiesel gewandelt. Oft ist er als Vielstoffmotor ausgelegt, um die Treibstoffversorgung zu vereinfachen. Ein weiterer Antriebstyp ist die Gasturbine, wie sie beim US-amerikanischen M1 Abrams, dem sowjetischen T-80 und als hybrider Mischantrieb (Diesel und zusätzliche Gasturbine) beim Stridsvagn 103 Verwendung findet. Im Gegensatz zum Dieselmotor ist diese Antriebsform bei gleicher Leistung leichter. Dabei entsteht allerdings ein wesentlich höherer Kraftstoffverbrauch, was die Reichweite des Fahrzeugs einschränkt und logistische Probleme in der Treibstoffnachführung verursacht. Die Nachteile des hohen Treibstoffverbrauchs der beiden Triebwerksarten im Leerlauf und die Tatsache, dass die benötigte Energie zum Aufrechterhalten der Systeme eines Kampfpanzers beim längeren Verweilen in Stellungen oder beim Beobachtungshalt von den Batterien nur über eine unzureichend kurze Zeit gedeckt werden kann, versucht man mit zusätzlichen Stromerzeugern zu lösen. Die Hilfsmotoren senken so neben dem Treibstoffverbrauch auch die Infrarotsignatur und reduzieren die Geräuschentwicklung. Das Triebwerk ist bei vielen Modellen im Heck untergebracht, was die klassische Form des Panzerbaus darstellt. Die Vorteile dieser Konstruktion sind eine günstige Infrarotsignatur der Front, kein Hitzeflimmern vor den Optiken, kürzere Kühl- und Abgasführung, freie Gestaltung der Wannenfront und geringe Belastung der Kette durch Reduzierung der dynamischen Zugkraft auf die letzte Laufrolle und das letzte Triebrad. Problematisch hingegen ist der Rohrüberstand bei einer längeren Hauptwaffe während der Geländefahrt. Nur wenige Kampfpanzer, wie der israelische Merkava, sind Fronttriebler. So dient das Triebwerk bei dieser Bauform als zusätzlicher Schutz für die Besatzung und ermöglicht eine Heckausstiegsluke wie bei einem Schützenpanzer. Nachteile dieser Konstruktion sind jedoch eine Einschränkung des Waffenrichtbereiches, höhere Kettenbelastung im gesamten oberen Kettentrum, mögliche Schäden des starr gelagerten Triebrades bei schneller Geländefahrt, die Notwendigkeit eines Seitenvorgeleges mit Achsversatz (Stirnradbauweise), eine erhöhte Infrarotsignatur der Front sowie ein erhöhter Aufwand bei Kühlung und Abgasführung. Trotz ihrer Komplexität können die Triebwerke zum Teil in kurzer Zeit gewechselt werden. Dabei sind oft Motor, Schalt-Lenkgetriebe und Kühlanlage zu einem Block gebündelt. Schutzeinrichtungen Ursprünglich wurden Panzer durch gewalzte Platten oder gegossene Elemente aus speziellem Panzerstahl geschützt. Die ersten Panzer im Ersten Weltkrieg hatten eine 6 bis 12 mm dicke Panzerung. Am Anfang des Zweiten Weltkriegs wurde eine Panzerung von 30 bis 40 mm für die Frontpanzerung mittlerer Kampfpanzer für ausreichend erachtet. Der schwere Tiger II hatte am Ende des Zweiten Weltkrieges eine Panzerung von bis zu 185 mm Dicke. Seit den 1970er Jahren verfügen Kampfpanzer normalerweise über Verbundpanzerung aus Metall und Keramiken, deren genaue Zusammensetzung geheim ist. Teilweise wird auf der Panzerung eine zusätzliche Reaktivpanzerung angebracht bzw. eingesetzt, um auch Schutz vor Hohlladungsgeschossen zu bieten. Neuere Modelle verfügen teilweise über zusätzliche Panzerelemente aus Hartmetall wie z. B. abgereichertem Uran (M1 HA), um die Widerstandsfähigkeit gegen Wuchtgeschosse zu erhöhen. Zunehmend Verbreitung findet eine modular aufmontierte Panzerung, die Reparaturen, Wartung und vor allem die spätere Anpassung des Schutzstandards durch Materialienaustausch oder Verstärkung erleichtert. Abstandsaktive Schutzmaßnahmen kommen zum Einsatz, um Bedrohungen schon früh zu eliminieren. Klassische Kampfpanzer sind vor allem am Bug und an der Turmfront stark gepanzert, während Boden, Dach und Heck relativ schwach gepanzert sind. Bei den Einsätzen in Tschetschenien, Libanon, Irak und Afghanistan hat sich aber gezeigt, dass ein ausreichender Rundumschutz unverzichtbar ist. Moderne Kampfpanzer verfügen über einen Schutz gegen die Explosion der eigenen Munition nach Treffern in den Munitionsbunker. Dazu ist der Munitionsbunker durch gepanzerte Türen zum Kampfraum hin abgeschottet, die entstehende Explosionsenergie wird durch Sollbruchstellen nach außen abgeleitet. Zudem wird vermehrt insensitive Munition verwendet, die bei einem Treffer nicht explodiert, sondern nur abbrennt. Automatische Brandunterdrückungsanlagen schützen die Besatzungen zusätzlich. Eine wichtige Komponente moderner Kampfpanzer ist auch der Schutz der Besatzung gegen die Wirkung von ABC-Waffen, für den der Besatzungsraum abgedichtet wird und unter Überdruck gesetzt wird. Die Versorgung mit komprimierter Frischluft erfolgt durch integrierte Filteranlagen im Panzer. Bewaffnung Hauptwaffe Die Hauptwaffen von Kampfpanzern sind Kanonen. Sie sind in der Regel anders als Kanonen von Artilleriepanzern nicht weit höhenrichtbar, da sie ihre Ziele normalerweise direkt – auf Sicht – beschießen. In der Zeit bis zum Zweiten Weltkrieg wurden Panzer zum Teil mit mehreren Türmen, beziehungsweise mit Kanonen ausgestattet. Einige Sondermodelle wurden auch mit Flammenwerfern ausgerüstet. Waren im Zweiten Weltkrieg Kanonen im Kaliber 37 mm bis 88 mm die Regel, stieg es mit der Zeit auf 105 mm und mehr. Am Anfang noch als Zugrohrkanonen ausgelegt, kommen im 21. Jahrhundert überwiegend Glattrohrkanonen mit Kalibern von 120 mm bis 125 mm zum Einsatz. Eine Ausnahme bildet hier der Challenger-2-Panzer aus Großbritannien, der noch mit einer Zugrohrkanone ausgerüstet ist. Bei diesen Panzern sollte ursprünglich eine Umrüstung erfolgen, welche jedoch aufgrund knapper Mittel im Verteidigungsetat gestrichen wurde. Trotz des schon großen Kalibers von 120 mm beziehungsweise 125 mm bei den Panzern des Ostblocks wurden Kanonen noch größeren Kalibers entwickelt. In den Vereinigten Staaten wurde Mitte der 1960er Jahre die Kombinationswaffe M81 im Kaliber 152 mm entwickelt und gebaut. Mit der Fähigkeit, neben herkömmlicher Panzermunition einen Lenkflugkörper zu verschießen, sollte die Waffe im Kampfpanzer 70 und M60 eingebaut werden. Mit den Glattrohrkanonen war die Technik der M81 jedoch veraltet. Mit dem Erscheinen neuer Panzerungen wurde in den 1970er Jahren die Entwicklung erneut vorangetrieben. In den NATO-Staaten setzte man auf das Kaliber 140 mm – die Munition wog jedoch 38 Kilogramm, was einen Ladeautomaten erforderte. Mit dem Wegfall der Ost-West-Bedrohung wurde 1993 die Entwicklung eingestellt und leistungsgesteigerte Glattrohrkanonen mit den Kalibern 105 mm bis 120 mm wurden entwickelt und eingeführt. Als Beispiel gilt hier die Rheinmetall 120-mm-Glattrohrkanone. Sekundärwaffen Als Zweitbewaffnung, meist als Sekundärwaffe bezeichnet, besitzen Kampfpanzer eine oder mehrere Waffen. Typischerweise sind dies Maschinengewehre (MG) in den Kalibern 7,62 mm und 12,7 mm. In den Weltkriegen noch meist im Bug der Wanne montiert und mit begrenztem Richtbereich, sind diese Waffen im späteren Panzerbau koaxial zur Kanone im Turm installiert und werden in Höhe und Seite der Hauptwaffe nachgeführt. Weitere Maschinengewehre sind auf dem Turmdach montiert und dienen meist der Fliegerabwehr. Lange Zeit noch extern vom Ladeschützen oder Kommandanten bedient, werden diese mit Beginn der asymmetrischen Kriegführung auf dem Gefechtsfeld aus dem Inneren ferngesteuert. Der Kampfpanzer Merkava, der für den Kampf in bebautem Gelände optimiert ist, verfügt darüber hinaus noch über einen 60-mm-Mörser. Zum Selbstschutz besitzen die Panzer eine Nebelmittelwurfanlage, mit der durch Nebelkörper Rauch erzeugt werden kann, um im Gefecht einem Gegner die Sicht zu nehmen. Darüber hinaus sind strukturverstärkte Anlagen auch in der Lage, Splittergranaten zu verschießen. Ein Beispiel im westlichen Raum wäre das französische GALIX. Zielerfassung In den ersten Panzern wurden Ziele noch rein optisch vom Schützen erfasst, die Entfernung wurde geschätzt. Aufgrund des extremen Lärms in den Panzern des Ersten Weltkrieges war eine Feuerleitung und Koordination der Waffen kaum möglich. Mit dem sich durchsetzenden Konzept des Turmpanzers etablierte sich auch die Zielvorgabe durch den Kommandanten und die Ausstattung mit verstärkenden Zieloptiken. Die Entfernungen wurden mit Hilfe der Strichformel über das Zielfernrohr oder mit der stadiametrischen Messskala im Sichtfeld des Zielfernrohres ermittelt. Eine genaue Zielerfassung war bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges nur bei ausreichender Beleuchtung möglich, nachfolgend bis in die 1980er Jahre benötigte man in der Nacht einen sogenannten Schießscheinwerfer zur Zielbeleuchtung. Mit der Panzerentwicklung der Nachkriegszeit stehen eine Vielzahl von Hilfsmitteln bis hin zur computergestützten Zielauswahl und Geschützausrichtung zur Verfügung. Kommandant und Richtschütze verfügen über unabhängige Optiken und Nachtsichtgeräte. Die zunehmende Ausstattung mit Sensoren und Computern ermöglicht ein von Fahrstörungen im Gelände unabhängiges Schießen aus der Bewegung auf stehende und bewegliche Ziele auf Entfernungen um die 3000 m bei Tag, Nacht und eingeschränkter Sicht. Dazu wird die Kanone geführt von der Zielvorrichtung mittels Kreiseln und schnellen Antrieben stabilisiert. In der Anfangszeit war der Richtschütze noch auf eine optische Entfernungsmessung angewiesen, was meist per Schnittbildmessung oder Mischbildmessung erfolgte. Die ebenfalls angewendete Raumbildentfernungsmessung erforderte die Fähigkeit zum räumlichen Sehen. Kampfpanzer wie der Leopard 1 verfügten über beide Systeme, russische Kampfpanzer wie der T-72 dagegen meist über Schnitt- oder Mischbildentfernungsmesser. Ein Großteil der Panzer benötigte noch einen Schießhalt, um das Ziel zu treffen. Mit Einführung der elektronischen Entfernungsmessung durch einen Laser nach dem LIDAR-Prinzip und Stabilisierung der Hauptwaffe und Sichtlinien in allen Achsen wurde dieses Manko erheblich vermindert. Die Ausstattung mit analogen und später digitalen Feuerleitrechnern ermöglichte es der Besatzung, aus der Bewegung ein Ziel zu treffen. Der Feuerleitrechner berücksichtigt dabei Luftdruck, Lufttemperatur, Ladungstemperatur, Entfernung zum Ziel, eigene Geschwindigkeit, Zielgeschwindigkeit sowie den gewählten Munitionstyp und führt danach den Vorhalt und Aufsatz für Waffe und Turm. Das Richten erfolgt mittels elektrohydraulischer oder elektromechanischer Richtantriebe. Munitionsarten Prinzipiell könnten Panzerkanonen jede Art von Artilleriemunition verschießen. Aufgrund ihres Einsatzprofiles werden viele Munitionsarten jedoch von Panzern kaum mitgeführt. Ursprünglich standen ihnen nur Wuchtgeschosse und Sprenggranaten zur Verfügung. Als spezielle Munition zur Panzerbekämpfung wurden außerdem Hohlladungsgeschosse und in den 1940er Jahren Quetschkopfgeschosse eingeführt; letztere benötigt jedoch zwingend eine Zugrohrkanone, um effektiv zu sein. Mit der Verwendung von Schott- und Verbundpanzerungen wurde die Quetschkopfmunition zunehmend wirkungslos. Panzermunition des 21. Jahrhunderts besteht daher aus Geschossen für Glattrohrkanonen. Großteils werden panzerbrechende, flügelstabilisierte Treibkäfiggeschosse (APFSDS) und flügelstabilisierte Mehrzweckmunition, meist als Hohlladung ausgelegt, eingesetzt. Durch den zunehmenden Kampf in bebautem Gelände verwenden die Streitkräfte der Welt auch Sprenggranaten, durch den Einsatz programmierbarer Zünder jedoch um vieles effektiver als in den Weltkriegen. So ist die Munition in der Lage, vor der Explosion ein Mauerwerk zu durchdringen, oder, wenn gewünscht, in der Luft mit festgelegtem Abstand zum Ziel zu detonieren (Abstandszünder). Zusätzlich gibt es Lenkflugkörper (Reichweite bis zu 8 km) und Anti-Personen-Munition, die sich aus Glattrohrkanonen verschießen lassen. Aktuelle Modelle Zurzeit weitgehend dem Stand der Technik entsprechende Kampfpanzer sind der deutsche Leopard 2 (ab Ausführung A5), der US-amerikanische M1 Abrams, der iranische Zulfiqar, der britische Challenger 2, der französische Leclerc, die südkoreanischen Modelle K1 und K2, der italienische Ariete, die russischen T-90 und T-14, sowie auch die verbesserten Versionen der älteren sowjetischen Typen T-72 und T-80, der ukrainische T-84, der pakistanische Al-Khalid, der israelische Merkava Mk4, die japanischen Typ 90 und Typ 10, sowie der chinesische Typ 99. Die weltweit noch immer am weitesten verbreiteten Kampfpanzer sind die älteren sowjetisch/russischen Typen, wie T-54, T-55 und T-62 bzw. deren chinesische Kopien Typ 59, Typ 62 und Typ 63. Diese Panzermodelle sind wegen ihrer nur aus Stahl bestehenden Panzerung trotz häufig vorgenommener Kampfwertsteigerungen gegen modernere Panzerfahrzeuge nicht mehr konkurrenzfähig. In Entwicklungsländern bzw. der sogenannten Dritten Welt stellen sie mangels besserer Fahrzeuge immer noch die wichtigsten Kampfpanzer im Einsatz dar. Die auf westlicher Seite noch vertretenen älteren Leopard 1 aus Deutschland sowie der französische AMX-30 sind mit ihren 45 t bzw. 36 t relativ leicht und entsprechen noch der Konstruktionsphilosophie der modernen Panzer, stellen aber aufgrund ihrer ebenfalls nicht mehr konkurrenzfähigen Panzerung und Feuerkraft nicht mehr den wichtigsten Panzer ihres Landes dar und sind zum Teil in ihren Ursprungsländern bereits komplett ausgemustert (Leopard 1 im Jahr 2003). Der argentinische TAM sowie der amerikanische Stingray sind der Versuch, einen leichteren Panzer für die Rolle des Kampfpanzers zu schaffen. Diese kommen den Leistungen älterer Versionen moderner Kampfpanzer nahe, können sich aber keinesfalls mit den größeren und stärkeren Modellen messen. Siehe auch Liste der Panzermodelle nach 1945 Panzer des Kalten Krieges Literatur Alan K. Russell: Moderne Kampfpanzer. Waffen und Gerät Band 3, Motorbuch Verlag, ISBN 3-613-01792-X. George Forty: Tanks of World War Two, Bloomsbury USA, 1995, ISBN 978-1-85532-532-6. Weblinks Einzelnachweise
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280.227037
238308
https://de.wikipedia.org/wiki/Grabkammer
Grabkammer
Eine Grabkammer ist eine Räumlichkeit zur Bestattung für einen oder mehrere Tote. Familiengrabkammern werden auch Gruft genannt. Grabkammern kommen in den meisten Kulturen in eher sozial höher stehenden Schichten vor. Sie sind typisch für Kulturen, die an ein Leben nach dem Tode glaubten und die den Toten reich mit Grabbeigaben ausstatteten. Vorgeschichte Als älteste Grabkammern sind die Felsengräber und megalithischen Kammern der Jungsteinzeit (Dolmen etc.) anzusehen, denen bronzezeitliche folgten. Formen der Grabkammer An Formen sind grob zu unterscheiden: eingetieft (z. B. Mastaba) ausgehöhlt (Domus de Janas, Felsengrab, Cuevas, Katakomben, Kuppelgrab) gebaut (z. B. Court Tomb, Dolmen, Galeriegrab, Ganggrab, Naveta, Passage Tomb, Portal Tomb, Wedge Tomb). Katakombe In Katakomben werden Grabkammern in Anlehnung an das meist sehr schlicht mit einer Liege ausgestattete Schlafzimmer eines altrömischen Hauses als Cubiculum bezeichnet. Katakomben wurden seit Beginn des 3. Jahrhunderts angelegt. Kulturkreise Altes Ägypten Seit der Naqada-Kultur (ca. 3500 v. Chr.) werden die Toten im Alten Ägypten nicht nur im Boden begraben, sondern bei hochstehenden Personen auch in Kammern beigesetzt. Diese waren meist Gruben in der Erde, die mit Lehm verputzt wurden. Das Dach bestand aus Holzbalken. Ab der 2. Dynastie werden Grabkammern in den Fels gehauen und sind über einen Schacht oder eine Treppe erreichbar. Grabkammern sind im Alten Ägypten noch selten dekoriert. Die Dekoration befand sich meist in den Kulträumen oberhalb der Grabkammern. Ausnahmen sind die Pyramiden am Ende des Alten Reiches, die mit Texten oder Grabsprüchen versehen sind und einige Grabkammern hoher Beamter dieser Zeit, die lange Listen von Opfergaben zeigen. Im Neuen Reich (ca. 1500–1100 v. Chr.) sind Grabkammern von Königinnen und Königen ausgemalt, diejenigen von Beamten bleiben mit wenigen Ausnahmen undekoriert. In einer Pyramide ist die Grabkammer der Ort, an dem die Toten bestattet wurden. Es fanden sich oft mehrere Kammern in einer Pyramide, die jedoch nicht alle belegt waren. In manchen Pyramiden gab es sogar drei Grabkammern, die jeweils in eine andere Himmelsrichtung ausgerichtet waren. Zentral stand in der Grabkammer der Sarkophag. Die Zugänge zu den Grabkammern verlaufen meist in einem steilen Winkel nach oben oder auch nach unten, auf ein Niveau unterhalb der Pyramide. Es gibt aber auch Gänge parallel zum Boden. Viele Grabstätten waren meist labyrinthartig angelegt und mit vielen Fallen versehen, um Grabräuber fernzuhalten oder abzuschrecken. Die Schätze oder auch Grabbeigaben wurden, um den Toten auf seinem Weg im Totenreich vorzubereiten, in einer Vorkammer aufbewahrt. Die Gänge zu den Grabkammern wurden meist durch schwere Granitblöcke gesichert. Weitaus mehr Grabkammern befinden sich aber im Tal der Könige und im Tal der Königinnen bei Theben-West am Nil. Die Zugänge, Nebenräume und Grabkammern selbst sind oft mit Ausschnitten aus dem ägyptischen Totenbuch verziert. Etrusker Von den antiken Völkern trieben die Etrusker den aufwendigsten Totenkult. Dementsprechend waren hier Bestattungen in Grabkammern weit verbreitet, wobei Mehrfachbestattungen anscheinend die Regel waren. Die Grabkammern waren also für eine gewisse Zeit zugänglich. Besonders aufwendige Grabkammern sind reich mit Malereien dekoriert worden, viele Gräber wie zum Beispiel das Tomba dei Leopardi fanden sich in den Nekropolen Monterozzi bei Tarquinia und Banditaccia bei Caere (Cerveteri). Mesopotamien In Mesopotamien wurde kein aufwendiger Totenkult betrieben. Erdbestattungen waren die Regel. Aus sumerischer Zeit gibt es die Königsgräber von Ur. Hier sind Könige und Königinnen in aus Ziegeln errichteten Grabkammern beigesetzt worden. In der Folgezeit scheinen Grabkammern fast ausschließlich bei Herrschern vorzukommen. Bei den Parthern (ca. 250 v. Chr. – 224 n. Chr.) sind Familiengrüfte bezeugt, die unterhalb der Fußböden, auf Kellerniveau in den Häuser errichtet wurden. Auch hier scheint diese Sitte auf ein sozial hohes Niveau beschränkt gewesen zu sein. Literatur Dieter Arnold: Lexikon der ägyptischen Baukunst. Artemis & Winkler, Zürich 1997, ISBN 3760810993. Der Brockhaus, Archäologie: Archäologie – Hochkulturen, Grabungsstätten, Funde. Brockhaus, Mannheim/ Leipzig 2009, ISBN 9783765333217. Elmar Edel: Die Felsgräbernekropole der Qubbet el Hawa bei Assuan. Abteilung 1. / aus dem Nachlass verfasst und herausgegeben von Karl-J. Seyfried und Gerd Vieler Band 1: Architektur, Darstellungen, Texte, archäologischer Befund und Funde der Gräber QH 24 – QH 34p. Schöningh, Paderborn 2008, ISBN 978-3-506-76343-3. Hans Kayser: Die Mastaba des Uhemka – Ein Grab in der Wüste. Fackelträger, Hannover 1964. Nicholas Reeves, Richard H. Wilkinson: Das Tal der Könige. Weltbild, Augsburg 2000, ISBN 3828907393. Alberto Siliotti: Tal der Könige: die berühmtesten Nekropolen der Welt. Müller, Köln 2004, ISBN 3-89893-560-4. Weblinks Einzelnachweise Archäologischer Fachbegriff Bestattungselement Typ von Innenräumen !
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https://de.wikipedia.org/wiki/Caligula
Caligula
Gaius Caesar Augustus Germanicus (* 31. August 12 in Antium als Gaius Iulius Caesar; † 24. Januar 41 in Rom), postum bekannt als Caligula, war von 37 bis 41 römischer Kaiser. Caligulas Jugend war von den Intrigen des ehrgeizigen Prätorianerpräfekten Seianus geprägt. Nach hoffnungsvollem Regierungsbeginn, der durch persönliche Schicksalsschläge getrübt wurde, übte der Kaiser seine Herrschaft zunehmend als autokratischer Monarch aus und ließ in Hochverratsprozessen zahlreiche Senatoren in willkürlicher Ausschöpfung seiner Amtsgewalt zum Tode verurteilen. Seine Gewaltherrschaft endete mit seiner Ermordung durch die Prätorianergarde und Einzelmaßnahmen zur Vernichtung des Andenkens an den Kaiser. Da die antiken Quellen Caligula praktisch einhellig als wahnsinnigen Gewaltherrscher beschreiben und sich zahlreiche Skandalgeschichten um die Person des Kaisers ranken, ist er wie kaum eine zweite Herrscherpersönlichkeit der Antike zum Gegenstand belletristischer und populärwissenschaftlicher Bearbeitungen geworden. Einige Beiträge der jüngeren Forschung diskutieren allerdings alternative Ansichten. Anfänge Herkunft Geboren als Sohn des Germanicus und Agrippina der Älteren mit dem Namen Gaius Iulius Caesar, war Caligula durch die Mutter Urenkel von Kaiser Augustus, durch den Vater Urenkel von Augustus’ Frau Livia (siehe Julisch-claudische Dynastie). Der Name Caligula (lateinisch: „Soldatenstiefelchen“, Diminutiv zu caliga) ist von den genagelten Soldatenstiefeln der Legionäre abgeleitet, den caligae, welche die Rheinlegionen für den mitreisenden Sohn ihres Oberbefehlshabers Germanicus anfertigen ließen, und war zu Lebzeiten ungebräuchlich. Sein vollständiger Titel zum Zeitpunkt seines Todes war Gaius Caesar Augustus Germanicus, Pontifex maximus, Tribunicia potestate IV, Consul IV, Imperator, Pater patriae. Jugend Schon als Kleinkind begleitete Caligula seine Eltern 14 bis 16 n. Chr. nach Germanien, wo er zum Liebling der Truppen wurde, und anschließend in den Orient. Als Caligula sieben Jahre alt war, verstarb sein Vater Germanicus im Jahr 19 während dieser Orientreise, wobei der Statthalter Syriens Gnaeus Calpurnius Piso beschuldigt wurde, ihn vergiftet zu haben. Caligulas Mutter kehrte mit ihm nach Rom zurück. Der Hof von Caligulas Großonkel Tiberius war zu dieser Zeit von der intriganten Politik des mächtigen Prätorianerpräfekten Seianus geprägt, der den Plan fasste, durch systematische Ausschaltung der natürlichen Erben des Tiberius seine eigene Nachfolge durchzusetzen. Diesem Plan kam der Tod des Drusus im Jahre 23, den Seianus’ Frau später als geplanten Giftmord ihres Gatten darstellte, sehr gelegen. Seianus denunzierte Caligulas Mutter, Agrippina die Ältere, bei Tiberius mit Verschwörungsvorwürfen, woraufhin Agrippina und Caligulas ältester Bruder Nero Caesar im Jahre 29 in die Verbannung gehen mussten, während derer beide in den Tod gedrängt wurden. Nur ein Jahr später wurde unter ähnlichen Umständen der zweitälteste Bruder, Drusus Caesar, in den Kerker geworfen, wo er durch Nahrungsentzug getötet wurde. Damit war Caligula der einzige überlebende Thronfolger. Das Sorgerecht für den jungen Caligula war bereits im Jahr 27 an Livia, die Mutter des Tiberius und Witwe des Augustus, übergegangen. Nach ihrem Tod wurde Caligula der Obhut seiner Großmutter Antonia übergeben. Wohl um ihn als einzig verbliebenen männlichen Erben des Tiberius vor Mordversuchen zu schützen, wuchs der jugendliche Caligula isoliert im Umfeld seiner drei Schwestern Agrippina, Drusilla und Iulia Livilla auf, unter denen er eine besondere Zuneigung zu Drusilla entwickelte. Dass Tiberius an seiner Regierungsfähigkeit zweifelte und ihn deshalb vom politischen Leben ausschloss, ist vermutlich eine spätere Konstruktion, da die Quellen sonst von der allgemeinen Beliebtheit des jungen Caligula berichten: Vorsicht und Intelligenz hätten den späteren Kaiser die Zeit bis zur Hinrichtung des Seianus im Jahre 31 überleben lassen, allerdings in späteren Jahren eine ständige Angst vor vermeintlichen oder realen Verschwörungen mitverursacht. Vermutlich von dem engen Umgang Caligulas mit seinen Schwestern motiviert, der später zur propagandistischen Erhöhung der Frauen führte, wird vom Inzest der Geschwister berichtet. Aus dynastischen Gründen – Kindszeugungen in engen Verwandtenverhältnissen waren in der Kaiserfamilie nicht ungewöhnlich – kann ein Inzest allerdings nicht ausgeschlossen werden. Tiberius rief Caligula noch im Jahr 31 an seinen Alterssitz auf Capri. Dort gelang es dem jungen Mann, das Vertrauen des amtierenden Kaisers zu gewinnen. Sueton berichtet, dass dieses Vertrauensverhältnis auf dem gemeinsamen Interesse an Folterungen und sexuellen Ausschweifungen beruhte. Es dürfte sich hierbei jedoch um einen zumindest tendenziösen Passus des anekdotenreichen Biographen handeln, der ähnliche Berichte auch anderen Kaisern zuschreibt, ebenso bei dem überlieferten Gerücht, Caligula habe den kranken Tiberius mit einem Kissen erstickt: Besonders bei Todesfällen von Herrschern kamen häufig unbestätigte Gerüchte auf. „Der Kaiser“ Regierungsantritt Mit dem Tod des Tiberius am 16. März 37 war die Nachfolge Caligulas weit sicherer als noch bei den mehrfach wechselnden Nachfolgekandidaten unter Augustus. Zwar hatte Tiberius in seinem Testament seinen leiblichen Enkel, Caligulas Cousin Tiberius Gemellus, zum Miterben eingesetzt, der Senat erklärte es aber auf Initiative des Prätorianerpräfekten und Nachfolgers des Seianus, Macro, für ungültig. Die von Augustus geschaffene Prätorianergarde mit ihrem Präfekten hatte traditionell ein enges Verhältnis zum Kaiser und mag daher gehofft haben, den jungen Caligula als Marionette zu gebrauchen. Jedenfalls ließ sie ihn am 18. März zum Kaiser ausrufen. Nach feierlichem Einzug in Rom übertrug der Senat am 28. März beinahe sämtliche Amtsfunktionen und Privilegien, die Augustus und Tiberius über die Zeit auf sich vereinigt hatten, an Caligula. Der übergangene Tiberius Gemellus wurde zunächst mit der Adoption durch Caligula entschädigt, die ihm Hoffnung auf Teilhabe an der Herrschaft sowie eine spätere Nachfolge machen konnte. Nach den unruhigen letzten Regierungsjahren des Tiberius, die durch den Putschversuch des Seianus und die anschließenden Prozesse geprägt waren, wurden mit Caligulas Herrschaftsantritt große Hoffnungen verbunden, unter anderem wegen der Popularität seines Vaters Germanicus, der als Wunschnachfolger des Augustus gegolten hatte. Die ersten zwei Jahre (37–38 n. Chr.) In den ersten Monaten seiner Regentschaft machte sich Caligula bei den herrschaftstragenden Gruppen beliebt: Er beschloss Steuersenkungen, setzte die unter Tiberius ausufernden Hochverratsprozesse aus und gewährte den bereits mit der Verbannung bestraften Senatoren die Rückkehr. Auch mit der Ausweisung einer Gruppe von Lustknaben distanzierte er sich von Tiberius, der deren Dienste in Anspruch genommen haben soll. Der Prätorianergarde ließ er erstmals bei Regierungsantritt ein Geldgeschenk zukommen und erkaufte sich damit die Gunst dieser als kaiserliche Leibgarde dienenden Elitetruppe. Der Tempel des vergöttlichten Augustus wurde symbolträchtig zu Beginn seiner Herrschaft eingeweiht, um Abstammung und Verbundenheit zum ersten Kaiser zum Ausdruck zu bringen. Diese Maßnahmen brachten Caligula allerdings an den Rand des Ruins. Kostspielig waren auch die von Caligula veranstalteten aufwändigen Wagenrennen, Tierhetzen und Gladiatorenkämpfe, die während seiner Regierungszeit grausamer wurden und dabei dem Geschmack der Zeit entgegenkamen: Blutige Gladiatorenkämpfe wurden in der Antike, soweit bekannt, zumindest nicht nachhaltig kritisiert. Viele Grausamkeiten des Kaisers sind im Zusammenhang mit Spielen oder öffentlichen Spektakeln überliefert. Möglicherweise aus Überanstrengung litt Caligula nach 6 Monaten Herrschaft an einer schweren Krankheit. Ihre Folgen kleidete Sueton in die Worte: Bis hierhin vom Kaiser, jetzt muss über das Scheusal berichtet werden. Dieser Periodisierung liegt ein gängiges Erzählmuster der antiken Biographie zugrunde, die das Leben eines Menschen möglichst in Kategorien aufzuteilen bestrebt war. Tatsächlich begannen in der Zeit nach Caligulas Genesung die ersten Hochverratsprozesse: Der Kaiser ließ seinen ehemaligen Miterben und Adoptivsohn Tiberius Gemellus, seinen Schwiegervater Silanus, den Vater seiner ersten, bereits 36 oder 37 im Kindbett verstorbenen Frau Iunia Claudilla, und den einflussreichen Prätorianerpräfekten Macro unter dem Vorwurf einer Verschwörung verhaften und zum Selbstmord zwingen. Caligula hatte damit seine Herrschaft abgesichert und gegen Einflussnahme geschützt. Außenpolitik Caligulas kurze Regierungszeit sah nur vergleichsweise kleine militärische Unternehmungen, deren Chronologie weitgehend unklar ist. Im Herbst 39 überschritt er mit einem Heer die Alpen, um in der Tradition seiner Vorfahren die als noch nicht abgeschlossen angesehene Expansion in Germanien und Britannien fortzuführen. Seine Ambitionen in Germanien waren indes nicht von Erfolg gekrönt: Weder konnte der Kaiser nach Abzug der Truppen signifikante territoriale Gewinne verzeichnen, noch erhielten die provisorischen Militärterritorien des ober- und niedergermanischen Heeres vor 85 n. Chr. den Status einer Provinz mit der hierzu notwendigen Infrastruktur. Im Zusammenhang mit dem Britannienfeldzug berichten die Quellen ausschließlich von großenteils grotesk anmutenden Aktionen des Kaisers. So ließ er Seemuscheln an den Stränden des Ärmelkanals sammeln, die als exotische Beutestücke den Erfolg der Operation suggerieren sollten. Pläne zu einem aufwendigen Triumph, bei dem eigens angeworbene gallische Gladiatoren mit rot gefärbten Haaren als germanische Kriegsgefangene aufgeführt werden sollten, wurden in diesem Umfang nicht verwirklicht. Die Münzprägung des Caligula betont indes die militärische Größe des Kaisers und steht damit im Widerspruch zur literarischen Überlieferung. Außerhalb militärischer Führungsstellen war Caligulas Politik erfolgreicher. Es gelang ihm 37, den im Umkreis der kaiserlichen Familie aufgewachsenen, romfreundlichen Herodes Agrippa I. als König von Judäa einzusetzen und sein Herrschaftsgebiet zwei Jahre später zu erweitern. Außerdem ließ Caligula unter unbekannten Umständen im Jahre 40 Ptolemaios, den König von Mauretania, zunächst nach Rom einladen, anschließend ermorden und sein Gebiet annektieren. Die Quellen berichten von Neidgefühlen des Caligula, welche der eindrucksvolle Auftritt des Königs im Amphitheater auslöste. Politische Motive für die Ermordung, die zur Expansion des Reiches beitrug, sind jedoch anzunehmen. Kunstraub Caligula ist auch als Liebhaber und Räuber nichtitalischer Kunstschätze, bevorzugt aus dem opulenten Bestand griechischer Tempel, in die Geschichte eingegangen. So wollte er die Zeus-Statue des Phidias, ein Weltwunder der Antike, nach Rom bringen lassen. Dieses Vorhaben scheiterte der Überlieferung nach daran, dass die Statue durch einen Abbau zerstört worden wäre und sich mächtige Wunderzeichen ereignet hätten. Seit Fortschreiten der Expansion und administrativer Einteilung des Reiches in Provinzen war Kunstraub durch Statthalter und Verwaltungsbeamte keine Seltenheit, was sich in den zahlreichen Belegen diesbezüglicher Anklagen spiegelt, die vermutlich bei weitem nicht das tatsächliche Ausmaß zum Ausdruck bringen. Da Caligula sich nur kurzfristig im Osten des Reiches aufhielt, mag die Initiative zum Kunstraub im Einzelfall eher beim verantwortlichen Statthalter als beim Kaiser gelegen haben. Caligula wird diese Missstände zumindest nicht unterbunden haben, da es gerade in seinem Interesse lag, seine Herrschaft mit hellenistischen Symbolen auszuschmücken. Als Augenzeuge berichtet Philon von Alexandria über die luxuriöse Ausstattung der Privatgemächer des Kaisers mit Kunstwerken aus aller Welt. Bautätigkeiten Caligulas freizügiger Umgang mit Geld schlug sich in bisweilen spektakulären Bauvorhaben nieder: Archäologisch nachweisbar sind ein Leuchtturm bei Boulogne in Nordfrankreich, der Wiederaufbau des Palastes des Polykrates in Samos, der Baubeginn zweier stadtrömischer Aquädukte, Reparaturen an der Stadtmauer und von Tempeln in Syrakus sowie eines Bades in Bologna. Literarische Belege existieren für ehrgeizige Projekte zum Bau eines Kanals über den Isthmus von Korinth, von Straßenverbindungen über die Alpen, den Ausbau des Hafens von Rhegium sowie der zwei sogenannten Nemi-Schiffe, zweier riesiger Schiffe, die sowohl kultischen Zwecken als auch zum Privatgebrauch des Kaisers dienten. Die Schiffe waren mit zwei im Lago di Nemi bereits 1446 entdeckten und 1929–31 von Archäologen geborgenen Schiffswracks aufgrund eindeutiger Inschriften identifiziert worden. 1944 wurden sie allerdings bei einem Brand im eigens für sie gebauten Museum zerstört. In Rom wurde an den Abhängen des Vatikanhügels ein Circus errichtet, das Theater des Pompeius renoviert, ein aufwendiges Amphitheater aus Holzbalken aufgestellt, das Staatsgefängnis (Carcer Tullianus), das der Hinrichtung politischer Gegner diente, ausgebaut sowie die Privatgemächer und Lustgärten des Kaisers luxuriös ausgestaltet (die sogenannten Gärten der Kaisermutter). Als besonders spektakulär und Zeichen der Eitelkeit des Kaisers wird eine mehr als fünf Kilometer lange Schiffsbrücke über die Bucht von Neapel zwischen Puteoli und Baiae beschrieben. Archäologische Überreste von Bauten an der Residenz des Caligula wurden 2003 auf dem Gelände des Forum Romanum gefunden. Ehen In erster Ehe war Caligula mit Iunia Claudilla verheiratet. Die Hochzeit wurde 33 n. Chr. noch vom Kaiser Tiberius ausgerichtet. Etwa vier Jahre später starb sie, vermutlich bei der Geburt ihres ersten Kindes. Ein weiterer Schicksalsschlag traf den Kaiser am 10. Juni 38 mit dem Tod seiner Lieblingsschwester Drusilla, für die er Ehrungen beschloss, die in Rom nur bei männlichen Herrscherpersönlichkeiten üblich waren. Bald nach dem Todesfall heiratete Caligula die vornehme Römerin Livia Orestilla; ihre Eheschließung mit Gaius Calpurnius Piso ließ Caligula noch während der Zeremonie wieder annullieren, nur um sie am selben Tag selbst zu heiraten. Bereits wenige Tage später erfolgte die Scheidung. Später schickte er Livia ins Exil, weil er sie verdächtigte, die Beziehung zu Piso wieder aufgenommen zu haben. Seine dritte Ehefrau war Lollia Paulina, die ebenfalls bereits verheiratet war (mit Publius Memmius Regulus) und von der er sich auch nach kurzer Zeit wieder trennte. In vierter Ehe war Caligula mit Milonia Caesonia verheiratet, mit der er Ende 39 oder Anfang 40 eine Affäre begonnen haben soll. Da diese in einem moralisch fragwürdigen Ruf stand, soll die römische Öffentlichkeit von der Eheschließung nicht sehr angetan gewesen sein. Nur einen Monat nach der Hochzeit – laut Sueton sogar am Tag der Vermählung – gebar Milonia eine Tochter, die ihren Namen Iulia Drusilla nach Caligulas verstorbener Schwester erhielt. „Das Scheusal“ Ermordung Nach nur vier Jahren der Herrschaft fand Caligula den Tod durch die Hand der Prätorianergarde. Initiator war ihr Offizier Cassius Chaerea, wobei die Verschwörung von einem Teil des Senatorenstandes und anderen einflussreichen Persönlichkeiten am Kaiserhof mitorganisiert wurde. Antike Todesdarstellungen sind üblicherweise stark stilisiert: Laut den antiken Berichten erfolgte das Attentat im unterirdischen Korridor eines Theaters, wobei Caligula nach der Art einer rituellen Opferung abgeschlachtet wurde, um so den Personenkult des Caligula in einer symbolischen Rollenumkehrung zu vergelten. Caligulas Ermordung erfolgte, nachdem er den Senat durch demonstrative Ausschöpfung der verfassungsrechtlichen Möglichkeiten des Prinzipats brüskiert hatte. Über die Gründe und den genauen Ablauf der Verschwörung gibt Flavius Josephus den ausführlichsten Bericht, über die Chronologie der vorausgegangenen Vorgänge lässt sich allerdings wenig Sicheres sagen, da die Darstellung des Sueton für diese Zeit ungeordnet, diejenige des Cassius Dio teilweise verloren und in den erhaltenen Teilen nicht widerspruchsfrei ist. Laut dessen Zeugnis begann Caligulas radikaler Regierungswechsel mit einer im Laufe des Jahres 39 vor dem Senat gehaltenen Rede. Die wörtliche Wiedergabe dieser Rede ist höchstwahrscheinlich eine unhistorische Ausgestaltung des Geschichtsschreibers, doch liegt ein in diesem Jahr erfolgter Umbruch auch durch andere Quellenaussagen nahe. Gewalt Hauptgrund der Verschwörung war Caligulas ausufernde Anwendung von Gewalt, vor allem gegen Senatoren: Der Kaiser ließ die Hochverratsprozesse, die nach dem Tod des Tiberius vorübergehend ausgesetzt wurden, etwa gegen Mitte der Regierungszeit in großem Umfang wieder aufnehmen. Mindestens 36 Fälle teils grausamer Hinrichtungen oder anderer schwerer Bestrafungen wie der Verbannung sind literarisch unter Angabe des Namens belegt, wobei es sich bei diesen Opfern in der Regel um Angehörige der Oberschicht, teilweise auch um Soldaten oder Bühnendarsteller handelte. In einigen Fällen ließ Caligula Senatoren foltern, die rechtlich grundsätzlich vor der Folter immun waren. Hierzu boten allerdings die Hochverratsgesetze einen gewissen rechtlichen Spielraum. Sueton erwähnt die Ermordung von Verbannten, ohne allerdings konkrete Fälle anzuführen. Caligula mag durch seine Jugenderfahrungen ein übertriebenes Bedrohungspotenzial wahrgenommen haben. Durch die Prozesse wuchs tatsächlich die Gefahr eines Mordanschlages. Dem Kaiser wird daher das Motto oderint, dum metuant (zu dt.: Sollen sie mich doch hassen, solange sie mich fürchten) zugeschrieben, das auf ein Zitat einer Tragödie des Lucius Accius zurückgeht. Hierin spiegelt sich der politische Stil der autokratischen Herrschaft, die Widerstand durch Gewalt oder zumindest deren demonstrative Zurschaustellung bekämpft, anstatt durch Konsensbildung ein derartiges Risiko zu verringern sucht. In ähnlicher Weise soll Caligula geäußert haben: „Hätte das Volk von Rom doch nur einen einzigen Nacken! [… damit ich es mit einem Mal erwürgen kann]“. Wörtliche Zitate in der antiken Literatur sind allerdings in ihrer Historizität fragwürdig; sie dienten dazu, den Charakter einer Person pointiert zum Ausdruck zu bringen. Hinrichtungen von Senatoren werden beinahe ausnahmslos als Willkürakte des Kaisers beschrieben, der entweder aus sadistischer Mordlust oder in Reaktion auf geringfügige Vergehen (wie Kritik an der Kleidung des Kaisers) handelte. Das Gleiche gilt für grausame Tötungen, besonders im Umfeld des nichtaristokratischen Kaiserhofs, bei denen der Kaiser seinen Anspruch auf totale Ermessensfreiheit zynisch zum Ausdruck brachte. Abweichend davon lässt sich aus der allgemeinen Regierungsrichtung vermuten, dass es Caligula letztlich mehr oder weniger um eine systematische Entmachtung des Senats ging, indem er einige Senatoren beseitigen ließ und die übrigen einschüchterte. Für diese Annahme sprechen Auffälligkeiten seiner Regierung, die im Folgenden diskutiert werden. Es finden sich außerdem überlieferte Berichte von Zwangsprostitution und Vergewaltigungen seitens des Kaisers, denen Angehörige der Oberschicht zum Opfer fielen. In der Forschung werden jedoch einige Berichte über Caligula (und andere Kaiser) in ihrer Historizität angezweifelt und dem Bereich der Tyrannentopik zugewiesen, da sich auch bei anderen negativ bewerteten Herrschern der römischen und vorrömischen Antike vergleichbare Berichte in auffälliger Weise wiederholen. Unbestätigte Gerüchte sowie literarische Bearbeitungen, z. B. im Rahmen von Tragödien, oder Bezugnahmen auf typologisch vergleichbare Herrscherpersönlichkeiten finden oft als historische Berichte Eingang in die Literatur. So geben einige Geschichtsschreiber in methodischen Abschnitten darüber Auskunft, dass fiktionale Elemente zur nachdrücklichen Charakterisierung einer Person legitim seien. Nur selten lässt sich allerdings mit letzter Sicherheit entscheiden, was zu diesem Bereich zu zählen ist, so dass sich gerade im Falle Caligulas eine Reihe historischer Probleme ergeben. Caligula und der Senat Durch demonstrative Gesten der Demütigung, die oft an Hofzeremonielle orientalischer Despoten erinnern, zielte Caligula auf eine politische Ausschaltung des hohen Standes. Bei der Ämtervergabe überging der Kaiser gezielt unerwünschte Bewerber und machte sich auch dadurch unbeliebt. Die Quellen berichten unter den zahllosen Extravaganzen des Kaisers, dass er sein Lieblingspferd Incitatus mit dem Konsulat bestallen wollte. Sollte Caligula sich tatsächlich in dieser Richtung geäußert haben, so wohl mit der Absicht, dem Senat seine alleinige Entscheidungsgewalt und seine Allmacht, auch über die Senatsaristokratie, zu demonstrieren. Caligula stand einem orientalischen Herrschaftsverständnis nahe, was eine demonstrativ extravagante Lebensweise sowie die Verehrung im Staatskult schon zu Lebzeiten, nicht erst nach dem Ableben, mit einschloss (obwohl sich im Westen des Reiches heute keine Belege in Form von Tempelanlagen, Inschriften oder Münzen finden, die Caligula eindeutig in Zusammenhang mit einer persönlichen Verehrung bringen). Die öffentliche Darstellung seiner Verbundenheit zu seinen Schwestern und besonders zu Drusilla könnte von ägyptischen Geschwisterherrschaften inspiriert sein. Ein solcher Herrschaftsstil, dem sich etwa auch Gaius Iulius Caesar und besonders Marcus Antonius verbunden fühlten, war der römischen Oberschicht von jeher suspekt. Der Kaiser brachte dieses Herrschaftsverständnis durch Ersetzung von Götterbildern mit dem eigenen Porträt oder dem von Verwandten zum Ausdruck sowie durch hellenistischen Kleidungsstil. Soweit Gründe für Hinrichtungen genannt sind, stehen diese zumeist mit einer Kritik an dieser Herrschaftsauffassung in Zusammenhang. Auch sind Tendenzen einer Alexander-Imitatio erkennbar. Wie im Falle des Antonius berichten die Quellen von den Plänen des Kaisers, die Hauptstadt des Reiches von Rom nach Alexandria zu verlegen, was einer endgültigen Entmachtung des Senats gleichgekommen wäre. Darin mögen sich Überlegungen zu einer radikalen Reichsreform spiegeln, basierend auf der Erkenntnis, dass sich ein Imperium von der Größe des römischen Reiches nicht mehr mit dem Personalbestand einer mittelitalienischen Stadt verwalten ließ, sondern nur mit Hilfe einer entwickelten Bürokratie und Hierarchie wie im hellenistisch-ptolemäischen Ägypten. Caligula mag gehofft haben, unter Übergehung des Senatorenstandes seine Regierung zunehmend auf Teile des Ritterstandes zu stützen, der einerseits durch Degradierungen, andererseits durch die Förderung loyaler Mitglieder personell umstrukturiert und dem Kaiser botmäßig gemacht werden sollte. Gruppen außerhalb der Oberschicht Die Gewaltherrschaft des Caligula erstreckte sich in erster Linie auf den Senat, der ihn deshalb hasste. Da nach Caligulas Tod Reaktionen gegen die Attentäter weitgehend ausblieben, scheint der Kaiser allerdings auch bei anderen herrschaftslegitimierenden Gruppen, wie dem Heer oder der stadtrömischen Bürgerschaft, trotz der Freigebigkeit seiner ersten Regierungsmonate teilweise unbeliebt geworden zu sein. Mitunter drastische Steuererhöhungen infolge der erhöhten Ausgaben könnten hierfür ein Grund gewesen sein. Caligula hat dabei auch ungewöhnliche Maßnahmen getroffen, wie die öffentliche Förderung und Besteuerung der Prostitution. Pro Bordellbesuch musste als Abgabe der Mindestpreis entrichtet werden, der für eine Umarmung verlangt wurde. Diese Steuer blieb als eine der wenigen Maßnahmen nach dem Tod des Kaisers bestehen und wurde erst in christlicher Zeit abgeschafft. Es gibt Berichte über Willkürakte und Gewalttaten gegenüber der stadtrömischen Bevölkerung bei Spielen, die gewöhnlich als öffentliche Plattform für Forderungen zum Beispiel nach Getreidespenden dienten und insofern als Ausgangspunkte für Volksaufstände Gefahrenpotential besaßen. Flavius Josephus spricht allerdings auch davon, dass Caligula bei Teilen der Bevölkerung, die an aufwendigen Spielen interessiert war, bis zu seinem Tod beliebt geblieben war, ebenso bei dem Teil des Heeres, der seine Soldzahlungen pünktlich erhalten hatte. Auch andere Quellen lassen auf relative Beliebtheit des Kaisers beim Volk in Rom beziehungsweise Italien schließen, vermutlich jedoch nicht in den Provinzen des griechischen Ostens, wo Caligula sich durch Kunstraub und Tempelplünderungen unbeliebt gemacht hatte: Tilgungen des Kaisernamens in Inschriften, die vermutlich auf lokal begrenzte Reaktionen nach Caligulas Tod zurückgehen, sind ausschließlich im Osten des Reiches belegt (s. u.). Juden Während von Caligulas Politik und seiner Einschätzung in den Provinzen kaum systematische Informationen überliefert sind, gibt es hauptsächlich aufgrund der Darstellungen des Flavius Josephus sowie des Philon von Alexandria Berichte über Caligulas Interventionen in Zentren des jüdischen Glaubens. Diese lassen jedoch nur sehr bedingt Rückschlüsse auf die Bewertungen des Kaisers in anderen Bevölkerungsgruppen zu, da der jüdische Monotheismus unvereinbar mit der von Caligula forcierten hellenistischen Herrscherverehrung der griechischen Bevölkerung war, die mit den Juden auf engstem Raum zusammenlebte. Insofern trug Caligula neben anderen Ursachen zur späteren dramatischen Entwicklung, der Zerstörung des Tempels durch Titus sowie der endgültigen Diaspora unter Hadrian, bei. Alexandria war seit dem Hellenismus multikulturell geprägt und besaß neben hellenisierten Ägyptern und Griechen eine starke jüdische Minderheit. Religiöse Auseinandersetzungen kamen wiederholt vor. Während der Anwesenheit des Herodes Agrippa I. verschärften sich Hassgefühle der griechischen Bevölkerung, die zu einem lokalen Pogrom führten. Der römische Statthalter Aulus Avillius Flaccus hatte bereits im Vorfeld Sanktionen einseitig nur gegen die jüdische Bevölkerung angeordnet und gab dieser nun die Hauptschuld an den Vorfällen, mit der Folge, dass die Juden in getrennte Wohnorte innerhalb der Stadt zwangsumgesiedelt wurden. Es handelt sich dabei um das erste historisch belegte jüdische Ghetto. Diese Zustände gaben Anlass zu einer Gesandtschaftsreise, an der Philon teilnahm und die er ausführlich beschreibt. Noch vor der Audienz mit Caligula, der die aus Griechen und Juden bestehende Gesandtschaft versetzt hatte, trafen im Jahre 40 aus Jerusalem schockierende Nachrichten ein, der Kaiser habe die Umwandlung des jüdischen Tempels in ein Zentrum des Kaiserkults in Auftrag gegeben. Die Gespräche endeten ergebnislos. Caligulas Versuch, den Kaiserkult gewaltsam durchzusetzen, erfolgte als Vergeltungsmaßnahme auf Übergriffe von Juden gegen den Kaiserkult praktizierende Griechen in Judäa. Sie verursachte weitere Unruhen in Antiochia, dem Verwaltungssitz von Syria, deren Statthalter Publius Petronius mit Anfertigung und Aufstellung einer Kaiserstatue im Tempel von Jerusalem beauftragt wurde, diese aber mit Rücksicht auf die mobilisierte jüdische Bevölkerung hinauszögerte. Die folgenden Ereignisse lassen sich alternativ so rekonstruieren, dass Caligula entweder auf Fürsprache des Herodes Agrippa von seinem ursprünglichen Befehl absah oder auf seinem Entschluss beharrte und Petronius die Aufforderung zum Selbstmord übersandte, die den Empfänger allerdings erst nach der Nachricht von Caligulas Tod erreichte. Aufgrund der Ereignisse wurde die Nachricht vom Tode des Caligula bei der jüdischen Reichsbevölkerung mit Freude aufgenommen, daraus resultierende Verschärfungen der Anspannungen mussten von Claudius beschwichtigt werden. Caligula als Präzedenzfall Der kurze Prinzipat des Caligula zeigte die Gefahren auf, die sich aus der unscharfen Stellung des Kaisers innerhalb der grundsätzlich fortbestehenden Verfassung der römischen Republik ergaben. Es wird heute vielfach davon ausgegangen, dass Caligula bei Amtsantritt ein ähnliches Bündel an Vollmachten erhalten hatte, wie dies für Vespasian inschriftlich überliefert ist (Lex de imperio Vespasiani). Einige Forscher erkennen darin die praktische Übertragung der völligen Ermessensfreiheit. Zumindest bei Wahlen brauchte der Kaiser auf den Senat formal keine Rücksicht zu nehmen; die republikanische Verfassung sah allerdings das Prinzip der Kollegialität vor, das unter Augustus und in der Anfangszeit des Tiberius zumindest propagandistisch aufrechterhalten wurde. Das aus republikanischer Zeit stammende Hochverratsgesetz (Lex maiestatis) war unscharf und ließ willkürliche Prozesse und Verurteilungen sowie Folter und Hinrichtungen, unabhängig von Statusgrenzen, zu. Da Caligula in seinen letzten beiden Regierungsjahren hiervon rücksichtslos Gebrauch machte, konnte die so ausgeübte Autokratie nur durch Tod und Damnatio memoriae („Verdammung des Andenkens“) beendet werden. Das Beispiel des Caligula wies daher auf spätere Kaiserherrschaften voraus: Performative Ritualisierung eines Konsenses mit der Senatsaristokratie durch den Kaiser war Bedingung für dessen Würdigung in der senatorisch geprägten römischen Geschichtsschreibung (und der zu großen Teilen auf dieser basierenden Rezeption späterer Jahrhunderte). Trotzdem blieb Caligula kein Einzelfall in der römischen Kaiserzeit. Historische Probleme Maßnahmen nach Caligulas Tod Mit Caligula wurden am 24. Januar 41 auch seine Gattin Milonia Caesonia und die gemeinsame Tochter Iulia Drusilla getötet. Sein Andenken sollte ausgelöscht werden. Schon nach dem Tod des Tiberius wurden vereinzelt Kaiserstatuen umgeworfen sowie die Schändung des Leichnams gefordert. Nach Caligulas Tod diskutierte der Senat zeitweise sogar die kollektive Verdammung aller Vorgänger sowie die Wiederherstellung der Republik, die allerdings allein durch den Senat nicht durchsetzbar gewesen wäre. Caligulas Nachfolger Claudius ließ schließlich mit Rücksicht auf den Senat sämtliche Regierungsmaßnahmen seines Vorgängers für ungültig erklären, Schriften über seine Regierung vernichten, Statuen zerstören und Münzen mit dem Bildnis des Caligula aus dem Verkehr ziehen. Einzelne archäologische Zeugnisse für eine Tilgung von Kaisernamen oder Verstümmelung von Statuen, besonders in den Provinzen, könnten allerdings von spontanen, nicht öffentlich angeordneten Einzelaktionen verursacht sein. Eine damnatio memoriae des Caligula kann somit nicht belegt werden, und Claudius dürfte auch angesichts der Ermordung seines Neffen keinen Präzedenzfall zu schaffen gewünscht haben. Diese Vorgänge könnten die literarische Darstellung beeinflusst haben: Da der Bericht des Tacitus für die Regierungszeit Caligulas verloren ist, ist neben dem viel späteren Cassius Dio sowie Flavius Josephus der Kaiserbiograph Sueton die literarische Hauptquelle. Etwa das erste Drittel der Caligula-Vita des Sueton, das überwiegend Jugend und Regierungsbeginn des Kaisers darstellt, bezieht sich auf positive oder neutrale Bewertungen oder auf außerliterarisch überprüfbare Fakten (politische Ämter, Bauten). Aus der zweiten Hälfte der Regierung sind hauptsächlich nur noch solche Informationen überliefert, die von den Untaten des Kaisers berichten. Sueton vertritt das senatorische Geschichtsbild, seine Darstellung lässt daher überwiegend nur Rückschlüsse auf das Verhältnis zwischen Caligula und dem Senat zu und sagt wenig über die Bewertung Caligulas bei anderen herrschaftstragenden Gruppen aus. Die Biographie trägt deutlich Züge der Ideologie der Adoptivkaiser, die sich von den Kaisern der julisch-claudischen Dynastie mit Ausnahme des Augustus distanzieren wollten. Als kaiserlicher Archivar hatte der Biograph Zugriff auf Dokumente der Regierung Caligulas, gibt aber kaum Informationen über Herkunft, Historizität oder Tendenz einer Quelle. Einige Argumentationen erscheinen aus heutiger Sicht unsachlich. Viele Beschreibungen des Sueton, besonders solche, die willkürliche Gewalthandlungen gegen Senatoren zum Inhalt haben, werden von Josephus bestätigt, der zur Zeit der Flavier schrieb. Angeblicher Wahnsinn Die antiken Quellen bezeichnen die Herrschaft des Caligula beziehungsweise die Person selbst häufig und praktisch einhellig als „wahnsinnig“. Fraglich ist jedoch, ob es sich bei dieser Bezeichnung regelmäßig um eine psychopathologische Kategorie im modernen Sinne handelt: Das vielleicht authentischste Zeugnis des Philon von Alexandria über seine Gesandtschaftsreise schildert den Kaiser als arrogant und zynisch, jedoch nicht als psychotisch. Trotzdem finden sich bei demselben Autor erste Hinweise auf den Wahnsinn des Kaisers. Seneca überliefert, hauptsächlich während seiner von Caligula mitverschuldeten Verbannung, Bilder grausamer Folterungen und Hinrichtungen des Kaisers, die ihn als Sadisten beschreiben. Seneca definiert außerdem den Begriff des Wahnsinns als Entartung eines Tyrannen, ohne dabei Caligula namentlich zu erwähnen. Flavius Josephus gebraucht den Begriff des Wahnsinns zur Charakterisierung des Kaisers mehrere Male, jedoch ist nicht genau zu unterscheiden, ob er damit auf eine tatsächliche psychische Störung anspielt oder eher die Willkürhandlungen des Kaisers pejorativ bezeichnet. Sueton, der in der Tradition antiker Biographie steht, den Charakter einer Person aus ihrer Herrschaft zu konstruieren, schildert Caligula ein halbes Jahrhundert später explizit als geisteskrank, indem er seine Darstellung mit pathologischen Auffälligkeiten Caligulas verbindet. Spätere Quellen argumentieren ähnlich (Cassius Dio; Eutropius, Breviarium ab urbe condita 7,12). Die für künstlerische Bearbeitungen des Tyrannen-Stoffes wegweisende Theorie des Cäsarenwahnsinns ist erstmals in einem 1894 erschienenen Essay von Ludwig Quidde dargelegt: Caligula sei im Verlauf seiner Herrschaft größenwahnsinnig und geisteskrank geworden, was ein Resultat der praktisch inzestuösen Familienpolitik der julisch-claudischen Kaiserfamilie sei. Obwohl auch antike Autoren von einer Degeneration sprechen, ist ihnen eine genetische Ursache völlig unbekannt: Die römische Gesellschaft berief sich auf das Konzept des mos maiorum (der Sitten der Vorfahren), das die Verdienste einer angesehenen Ahnenreihe automatisch auf Nachgeborene übertrug. Quidde ließ sich also vom naturwissenschaftlichen Fortschritt und nicht zuletzt vom darwinistischen Ansatz seiner Zeit inspirieren. Der Essay war außerdem als indirekte Kritik an Wilhelm II. gedacht. Als Indikation einer psychopathologischen Störung können nach heutigem Verständnis angeblich irrationale Handlungen gelten (z. B. die geplante Beförderung von Incitatus, Maßnahmen während und nach dem Germanien- und Britannienfeldzug), ebenso die Selbstinszenierung Caligulas als lebender Gott. Diese Personenverehrung steht allerdings in Kontinuität zum Kaiserkult des Augustus. Augustus hatte es zwar in der Stadt Rom noch vermieden, zu Lebzeiten persönlich als Gott verehrt zu werden, nicht jedoch im Osten des Reiches, wo es bereits seit dem Hellenismus einen Herrscherkult gab. Verschiedene Abstufungen des Herrscherkultes pflegten ebenfalls die Nachfolger im Kaiseramt oder andere hochrangige Personen am Kaiserhof. Grundsätzlich war in der paganen Antike ein Personenkult akzeptiert. Daher schließen ausschließlich Autoren mit monotheistischem Glauben (Philo, Flavius Josephus) hieraus auf den Wahnsinn des Kaisers. Vor allem in der neueren Forschung wird eine psychopathologische Störung bisweilen bezweifelt oder die Frage gar nicht erst diskutiert, da man sie als historisch nicht relevant oder unzulässig ansieht. Vor allem Aloys Winterling (2003) stellt Caligulas Geisteskrankheit vehement in Frage: Der Kaiser sei ein zynischer Machtmensch gewesen, der im Laufe seiner Regierungszeit das von Augustus eingeführte Konzept der „doppelbödigen Kommunikation“ gegenüber dem Senat aufgekündigt habe. Die sich hieraus ergebenden Konsequenzen, die in ihrer Bedeutungsbreite heute nur noch schwer nachzuvollziehen seien, hätten vor allem in der modernen Rezeption zum Bild des irrational handelnden Kaisers beigetragen: gelobte man, sein Leben für die Genesung des Kaisers zu geben, so forderte der genesene Caligula die Einhaltung des Gelübdes. Entscheidend für die Legendenbildung in der Antike seien Selbstschutzgründe des Senats, der den Vorwurf der Geisteskrankheit erfunden habe, um erlittene, letztlich aber akzeptierte Demütigungen des autokratischen Kaisers historisch zu rechtfertigen. Es sei schließlich der Senat gewesen, der eine zu diesem Zeitpunkt noch präzedenzlose Gewaltenübertragung zumindest formal auf freiwilliger Basis bewilligt habe und daher nach der einvernehmlichen erfolgten Ermordung in Erklärungsnot geraten sei. Dies spiegele sich in der Entwicklung der literarischen Überlieferung wider, bei der sich das Verdikt des Wahnsinns im Sinne einer psychischen Störung graduell entwickelt finde. Eine Legendenbildung des „wahnsinnigen“ Kaisers aus der Kommunikation zwischen Kaiser und Senat zu erklären, ist einerseits auch deshalb schlüssig, da für Caligula schon als Kind die Nachfolgefrage erstmals weitgehend sicher war. Er brauchte daher den Prinzipat nicht mit den gleichen Konsensritualen zu legitimieren, wie es der Senat unter Augustus und in der Anfangszeit des Tiberius gewohnt war. Die Aristokratie benötigte darüber hinaus eine Erklärung für die Degeneration des Nachkommen des populären Germanicus, ohne dabei das sie legitimierende Konzept der Vererbung von Verdiensten in Frage zu stellen. Ob Caligula andererseits gerade durch diese ungeheure Machtfülle pathologische Züge von Größenwahn entwickelte, ist letztlich eine spekulative Frage. Es kann nicht zuverlässig entschieden werden, inwieweit Beschreibungen von Caligulas Krankheit des Jahres 37/38 sowie weitere Schilderungen gesundheitlicher Auffälligkeiten (z. B. Schlafstörungen) Produkt der antiken Polemik sind oder, sollten diese historisch akkurat sein, eine psychotische Störung indizieren. Bewertungen Die Verurteilung zumindest der zweiten Regierungshälfte des Caligulas als grausame Tyrannenherrschaft ist in den antiken Quellen, auch solchen aus späterer Zeit, einhellig. Es ist keine Gegendarstellung überliefert, und es gibt keine Gründe anzunehmen, dass Tacitus in dem verlorenen Textabschnitt eine alternative Ansicht zu Caligula vertreten haben sollte. In der modernen Forschung wurden aufgrund der problematischen Überlieferungslage bis in die 80er-Jahre hinein vergleichsweise wenige monographische Untersuchungen zu Caligula geschrieben. Trotz der möglicherweise einseitigen Überlieferung gilt Caligula als politisch konzeptionsloser, willkürlicher Gewaltherrscher, dessen Regierung nur aufgrund der inneren Stabilität des Reiches ohne negative Folgen blieb. Die letzten drei größeren Caligula-Biographien spiegeln die Bandbreite der heutigen Lehrmeinung wider: Arther Ferrill (1991) beschreibt das in den Quellen dargestellte Bild des wahnsinnigen und irrational grausamen Tyrannen als historisch, Anthony A. Barrett (1989) diskutiert umfangreich Alternativen zur überlieferten Darstellung, Aloys Winterling (2003) rehabilitiert den Kaiser insofern, als er seine Regierung aus den zeitgenössischen Rahmenbedingungen verständlich macht. Die beiden letztgenannten Arbeiten sind in der Forschung breit rezipiert und aufgrund der vorbildlichen Darstellungsweise überwiegend positiv aufgenommen worden. Damit hat sich jedoch keine Revision des traditionellen Geschichtsbildes in dem Sinne vollzogen, dass die Herrschaft des Caligula als in irgendeiner Hinsicht erfolgreich oder für spätere Entwicklungen wegweisend gedeutet werden könnte. Caligula-Rezeption Das in den antiken Quellen überlieferte Bild des grausamen Tyrannen sowie Quiddes Bild des Wahnsinns bei Kaisern der julisch-claudischen Dynastie bestimmen die zahlreichen populärwissenschaftlichen, belletristischen und literarischen Darstellungen Caligulas, die sich aus dem reichlich überlieferten anekdotischen Material zur Person des Kaisers bedienen, und insofern nicht als historisch schlecht recherchiert gelten können, jedoch bisweilen zur Wirkungssteigerung weniger Wert auf quellenkritische Vorbehalte legen. In Anspielung an die totalitären Regime seiner Zeit verfasste der erst 25-jährige Albert Camus 1938 das Drama Caligula. Historisch setzt es nach dem Tod der Drusilla und der damit verbundenen Krise des Kaisers ein, der die Sinnlosigkeit des Lebens erkennt und damit Camus’ philosophische Konzeption des Existentialismus versinnbildlicht. Der deutsche Komponist Detlev Glanert verfasste eine frei auf Camus’ Drama beruhende Oper, die am 7. Oktober 2006 an der Oper Frankfurt uraufgeführt wurde. Tinto Brass setzte 1979 den Skandalfilm Caligula (dt. Untertitel Aufstieg und Fall eines Tyrannen) in Szene, das Drehbuch stammte von Gore Vidal. Malcolm McDowell gab den Kaiser, Peter O’Toole den Tiberius. Der ursprünglichen Verfilmung folgten weitere Produktionen, die den historischen Stoff als Fassade für die Darstellung von Sex- und Gewaltorgien benutzten. Im Rahmen des New York Musical Theatre Festivals wurde am Broadway 2004 das Musical Caligula: An Ancient Glam Epic uraufgeführt. Die Inszenierung, die ebenfalls die Skandalgeschichten um den Kaiser thematisiert, avancierte zum Publikumsliebling und wurde in der Presse überwiegend positiv rezensiert. Eine politisch gefärbte Singleauskopplung diente der Mobilisierung von Wählern in der bevorstehenden Präsidentenwahl. Belletristische Darstellungen Siegfried Obermeier: Caligula. Der grausame Gott. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 1993. Josef Toman: Tiberius und Caligula. Langen Müller, München 1982. Quellen Literarische Quellen Cassius Dio: Römische Geschichte. Übersetzt von Otto Veh. Band 4 (= Bücher 51–60). Artemis-Verlag, Zürich 1986, ISBN 3-7608-3673-9, (englische Übersetzung Römische Geschichte. Buch 59 bei LacusCurtius). Sueton: Caligula. Ausführlichste antike Biographie aus der Sammlung der Kaiserbiographien von Caesar bis Domitian. Zahlreiche Ausgaben, beispielsweise mit deutscher Übersetzung in: Gaius Suetonius Tranquillus: Sämtliche erhaltene Werke. Magnus, Essen 2004, ISBN 3-88400-071-3, (lateinischer Text, englische Übersetzung). Philon von Alexandria: Gesandtschaft an Gaius (engl. Übersetzung). Philon von Alexandria: Gegen Flaccus (engl. Übersetzung). Flavius Josephus: Jüdische Altertümer, Übersetzt und mit Einleitung und Anmerkungen versehen von Heinrich Clementz. Mit Paragraphenzählung nach Flavii Josephi Opera recognovit Benedictus Niese (Editio minor), Wiesbaden 2004. ISBN 3-937715-62-2 Die Bücher 17–19 betreffen Caligula. 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Q1409
104.584943
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https://de.wikipedia.org/wiki/Urin
Urin
Der Urin (, altgriechisch οὖρον oúron), auch Harn genannt, ist ein flüssiges bis pastöses Ausscheidungsprodukt der Wirbeltiere. Er entsteht in den Nieren und wird über die ableitenden Harnwege nach außen geleitet. Die Ausscheidung des Urins dient der Regulation des Flüssigkeits- und Elektrolythaushalts sowie der Beseitigung von Stoffwechselabbauprodukten (Metaboliten), insbesondere der beim Abbau von Proteinen und Nukleotiden entstehenden Stickstoffverbindungen. Die Gesamtheit der im Urin nachweisbaren Metaboliten wird als Urin-Metabolom bezeichnet. Menschlicher Urin ist eine zumeist gelbe Flüssigkeit. Zahlreiche Krankheiten wirken sich auf seine genaue Zusammensetzung aus, über die eine Urinuntersuchung Aufschluss gibt. Die natürliche Harnentleerung wird in der Medizin Miktion genannt. In der Allgemeinsprache existieren neben „Urinieren“ und „Wasserlassen“ viele weitere Synonyme. Etymologie Das Wort Urin geht auf zurück. Mit der Bedeutung ‚Harn‘ ging das lateinische Wort, nachdem die Medizinschule von Salerno im Hochmittelalter die Harnuntersuchung als diagnostische Methode entwickelt hatte, aus der Sprache der Ärzte in viele europäische Sprachen über. Altfranzösisch ist bereits im 12. Jahrhundert belegt, urine im Englischen erst um 1325 ( in der Bedeutung ‚Gefäß für Harnuntersuchungen‘ hier jedoch schon um 1275). Im Deutschen fand der Begriff erstmals im 15. Jahrhundert, also im Frühneuhochdeutschen, Verwendung. Seither hat das Wort die älteren deutschen Bezeichnungen zunehmend verdrängt. Das ältere deutsche Wort Harn ist seit dem Althochdeutschen bezeugt und unverändert in Gebrauch, allerdings nur im Hochdeutschen. Andere regionale Bezeichnungen sind häufig tabuisiert oder gelten gemeinsprachlich oft als anstößig. Dazu zählen die oberdeutschen Ausdrücke Brunz (vgl. auch Brunnen als Euphemismus im 16. Jahrhundert für Harn) und Seich, das ursprünglich niederdeutsche Wort Pisse oder kindersprachlich Pipi, ebenso Schiffe und österreichisch kindersprachlich Lulu (auf der zweiten Silbe betont). Geschichte Theorien der Harnbereitung Die Theorien der Harnbereitung („Erklärung der Harnabsonderung“ und damit die Erklärungsversuche für Anurie, Oligurie und Polyurie) haben eine lange Geschichte. Leonhart Fuchs (1501–1566) erkannte die paarige Niere als Sieb oder Filter. Andreas Vesalius (1514–1564) veröffentlichte 1543 in Basel in seinen sieben Büchern De humani corporis fabrica libri septem auf Seite 515 im fünften Buch eine offenbar symbolische Abbildung des Filters in der Niere („membrana cribri modo“ = „Membran wie ein Durchschlag“, horizontal über die gesamte Nierenbreite mit etwa 50 Löchern). John Blackall (1771–1860) hielt die Nieren für Drüsen mit einer elektiven Kraft, „die in der Lage ist, was immer dem Blute schädlich ist, davon abzutrennen.“ Der österreichische Anatom Josef Hyrtl (1810–1894) bezeichnete eine Niere analog als Seihe („seyhe“, Seiher) oder Sieb. William Bowman (1816–1892) behauptete noch 1842 irrtümlich, die glomerulären Kapillargefäße scheiden Wasser aus, welches die von den Tubuli sezernierten festen Stoffe wegspüle. August Pütter stellte 1926 seine „Dreidrüsentheorie der Harnbereitung“ vor; er postulierte die Existenz von Stickstoffdrüsen, Salzdrüsen und Wasserdrüsen ohne Übereinstimmung mit der glomerulären Filtration, der tubulären Sekretion und der tubulären Rückresorption. Vielmehr findet nach August Pütter der Stoffaustausch in der Niere durch Invasion, Resorption, Evasion und Exkretion oder Sekretion statt. Nach der Lehre des Moskauer Mediziners K. Buinewitsch werden Wasser und Kochsalz durch die Tubuli und die übrigen Harnbestandteile durch die Glomeruli ausgeschieden. Alte Bezeichnungen Früher unterschied man: Recrementa vesicae = Retrimenta vesicae = Blasenurin, Urina diabetica = der Harnruhrharn, Urina pericardii = Liquor pericardii = Aqua pericardii = das Herzbeutelwasser, Urina jumentosa = Urina jumentaria = gelblicher Lasttierharn und Urina spastica = Polyurie zum Beispiel bei Migräne, Epilepsie, Gemütserregungen, Angina pectoris, Nierenkolik, Gallenkolik, paroxysmaler Tachykardie, beim Phäochromozytom, bei hysterischen Anfällen sowie nach Commotio cerebri und Infektionskrankheiten. Die Bezeichnung „Urina jumentosa (zu lateinisch iumentum = Zugtier, Lasttier) für einen trüben pferdeharnähnlichen Urin bei verschiedenen Krankheiten“ findet sich noch im aktuellen Medizin-Duden. Statt von einer Urina spastica sprach man früher auch vom Nierenasthma und meinte damit eine „funktionelle Neurose bei vegetativer Stigmatisation mit anfallsweisen spastischen Kontraktionen der Nierengefäße beziehungsweise mit einer Adynamie des Nierenbeckens und des Harnleiters, die zuerst zu einer schmerzhaften Oligurie und danach zu einer starken reaktiven Diurese“ führe. Harnzeitvolumen Für jede einzelne Niere ist der Urinfluss gleich der Differenz der Blutflüsse in Nierenarterie (Arteria renalis als Vas afferens) und Nierenvene (Vena renalis als Vas efferens). Die Urinproduktion von Mensch und Säugetier ist also die Summe beider Differenzen aus renalem Blutzufluss und renalem Blutabfluss. Außerdem ist die Urinproduktion gleich der Differenz zwischen glomerulärer Filtration und tubulärer Rückresorption. Diese beiden Erklärungen sind seit mehr als einhundert Jahren bekannt, werden aber kaum publiziert. Allgemein wurde dieses Urinzeitvolumen (auch Harnzeitvolumen genannt) als die Menge an Urin definiert, die in einem bestimmten Zeitintervall – in der Regel in 24 Stunden oder pro Minute – produziert oder ausgeschieden wird. Carl Ludwig (1816–1895) schrieb 1856: „Die Grenzen, innerhalb der bei gesunden Erwachsenen das tägliche Harnwasser variirt, liegen zwischen 500 und 25.000 Gramm. Nach Becquerel [1814–1862] und Vogel [1814–1880] liegt bei jungen Männern das Tagesmittel zwischen 1200 bis 1600 Gramm.“ „Ein erwachsener, gutgenährter, nicht mehr als nöthig trinkender Mann entleert täglich 2–3 Liter.“ Das schrieb der Brockhaus noch 1866. Normalerweise scheidet heutzutage ein gesunder erwachsener Mensch zirka 1,5 bis zwei Liter Urin am Tag aus, etwa 200 bis 400 Milliliter (ml) pro Blasenentleerung. „Allgemeine Richtlinien zur Steinverhütung“ der Urologen empfehlen Erwachsenen eine „Harnverdünnung [mit] Steigerung der täglichen Flüssigkeitszufuhr, so dass eine Urinausscheidung von mindestens anderthalb Litern in 24 Stunden erreicht wird.“ Eine andere Definition des Harnzeitvolumens bezieht sich auf den maximalen Harnfluss in der Mitte der Miktion bei der Uroflowmetrie ebenfalls mit der Dimension Volumen pro Zeitintervall. Bei der Uroflowmetrie werden heutzutage bei jedem Miktionsvorgang unterschieden das Miktionsvolumen mit der Einheit ml als Integral der Harnflussrate (Fläche unter der Kurve), die Harnflussrate als erste Ableitung des Miktionsvolumens nach der Zeit mit der Einheit ml/s und die Miktionsbeschleunigung als zweite Ableitung des Miktionsvolumens nach der Zeit (beziehungsweise als erste Ableitung der Harnflussrate nach der Zeit) mit der Einheit ml/s². Das Harnzeitvolumen nach neuer Definition ist das Maximum der Harnflussrate am Ende der Flussanstiegszeit mit der Einheit ml/s; es entspricht dem Nullpunkt der Miktionsbeschleunigungskurve mit der Einheit ml/s². Glomerulum und Tubulus Die glomeruläre Filtrationsrate (GFR) ist eine lineare Funktion des Herzzeitvolumens (HZV) ohne direkten Einfluss auf den Volumenhaushalt. Die tubuläre Rückresorptionsrate (TRR) reguliert den Salz- und Wasserhaushalt im Rahmen eines vielschichtigen kybernetischen Regelkreises. Diese Regulation oder Modulation erfolgt im RAAS-System (RAS) mittels des antidiuretischen Hormons (ADH, Vasopressin als Gegenspieler von „Vasodilatin“) und des juxtaglomerulären Apparats. Ebenso beeinflussen die Hormone ANP und BNP die Tubulusfunktion im Sinne einer Vergrößerung des Harnzeitvolumens. Der BNP-Plasmaspiegel gilt darüber hinaus als ein objektives Maß für die Schwere einer Herzinsuffizienz. Auch andere Hormone besonders der Nebenniere (Nebennierenrindenhormone) beeinflussen die Urinproduktion über Veränderungen der tubulären Rückresorption. Glomeruli und Tubuli arbeiten unabhängig voneinander. Trotzdem hatten schon Homer William Smith (1895–1962) und andere Nephrologen im 20. Jahrhundert die Existenz eines tubuloglomerulären Feedbacks postuliert. Tubuläre Rückresorption Die „Wasserrückresorption und die Harnkonzentrierung“ erfolgen in den Nierentubuli. Diesbezüglich formulierten 1942 Werner Kuhn das Haarnadelgegenstromprinzip und Frank Henry Netter 1976 eine Kombination aus Gegenstrommultiplikationssystem und Gegenstromaustauschsystem mit Gegenstromdiffusionen als Erklärung. „Die Hypothese erwies sich als richtig. Entscheidend war der mikrokryoskopisch erbrachte Nachweis der Hypertonizität der Nierenpapille.“ Die Glomeruli filtrieren passiv, die Tubuli resorbieren aktiv. Die Tubuli entscheiden damit über die Harnpflicht der im Primärharn vorhandenen Stoffe und bilden so den eigentlichen Sekundärharn. Die Anurie ist also im Zweifel ein Zeichen einer guten Tubulusfunktion und kein Zeichen einer schlechten Glomerulusfunktion. Insofern ist die glomeruläre Filtrationsrate (GFR) bei der Oligoanurie kein Maß für die filtrative Nierenleistung. Darüber hinaus kann die GFR bei jeder kompensatorisch gesteigerten tubulären Rückresorption valide nur mittels der Serumkonzentration von Cystatin C bestimmt werden. Dafür gibt es zahlreiche GFR-Schätzformeln; die einfachste lautet GFR = 80/Cys. Blutgefäße im Nierenparenchym Sowohl die Resorption vom Tubulus in die Nierenvene als auch die Sekretion von der Nierenvene in den Tubulus können nur bei parallelen Verläufen von Tubuli und Nierenvenen erfolgen. Je geringer der Abstand dieser beiden Leitungsbahnen ist, desto leichter kann der wechselseitige Austausch von Wasser und Elektrolyten erfolgen. Eine entsprechende schematische Zeichnung stammt von Frank Henry Netter. Beiderseits der Henleschen Schleifen finden sich Arteriolae rectae verae und Venulae rectae. Den entstehenden Gefäßkomplex nennt man Rete mirabile. Die kleinsten parallel zum Tubulus verlaufenden arteriellen und venösen Gefäße heißen Vasa recta. Das Gegenstück zum arteriellen Vas afferens ist das venöse Vas efferens. Netter kommt jedoch zu folgendem Ergebnis: „Der juxtamedulläre Kreislauf der Niere ist von funktionellem Interesse, wenn auch seine Bedeutung beim Menschen ungenügend geklärt ist.“ Andeutungsweise kommt die Parallelität von Vene und Tubulus auch in der nachfolgenden schematischen Darstellung zum Ausdruck. Mensch und andere Säugetiere Entstehung Urin entsteht in den Nieren zunächst als Ultrafiltrat des Blutplasmas. Blut fließt dabei durch die Nierenkörperchen (Corpuscula renalia). Wasser und gelöste Stoffe mit einem Durchmesser von weniger als 4,4 Nanometern (unter anderem Ionen und kleine ungeladene Proteine) werden dabei wie in einem Sieb filtriert und gelangen in das sich anschließende Röhrchensystem (Nierentubuli) des Nephrons, der funktionellen Untereinheit der Nieren. Die größeren Teilchen verbleiben im Blutkreislauf. Die so entstandene Flüssigkeit wird als Primärharn bezeichnet und enthält neben den zur Ausscheidung bestimmten Stoffen auch solche, die für den Körper wichtig sind, wie Glucose (Traubenzucker), Aminosäuren und Elektrolyte. Ein Erwachsener produziert täglich zwischen 180 und 200 Liter Primärharn. In den darauffolgenden Tubuli und Sammelrohren werden aus dem Primärharn die wieder verwendbaren Inhaltsstoffe sowie etwa 99 Prozent des Wassers zurückgewonnen. Der übriggebliebene Endharn (=Urin), von dem ein gesunder Mensch täglich etwa 0,8 bis 2 Liter produziert oder 0,5 bis 1,5 ml pro kg Körpergewicht pro Stunde, fließt schließlich über das Nierenbecken und durch die Harnleiter in die Harnblase. Dort wird der Endharn gesammelt und anschließend durch die Harnröhre ausgeschieden. Der Prozess der Harnproduktion und -ausscheidung durch die Nieren wird als Diurese bezeichnet. Mit verschiedenen medizinischen Maßnahmen kann darauf Einfluss genommen werden. Diuretika werden eingesetzt, um bei Nieren- und Herzerkrankungen das Harnvolumen zu erhöhen und damit sekundär das Blutvolumen zu senken, da dies wiederum eine verminderte Herzbelastung (Blutkreislauf, Vorlast der Herzkammern) zur Folge hat. Eine forcierte Diurese wird z. B. eingesetzt, um giftige wasserlösliche Stoffe aus dem Organismus durch eine vermehrte Ausscheidung zu entfernen. Einige Stoffe, wie Koffein oder Ethanol (Trinkalkohol), haben ebenfalls eine harntreibende Wirkung, da sie die Bildung des antidiuretischen Hormons (ADH) hemmen, das sonst in den Nierentubuli die Rückresorption von Wasser aus dem Primärharn bewirkt. Ausscheidung Beim Menschen wird eine Urinproduktion von > 2,5 l/Tag als Polyurie bezeichnet, eine geringe (< 100 ml/Tag) oder ganz fehlende Urinausscheidung als Anurie. Bei einer Menge von < 400–500 ml/Tag spricht man von einer Oligurie. Der Terminus Pollakisurie meint die überdurchschnittlich häufige Blasenentleerung mit jeweils nur geringen Harnmengen. Als Diabetes werden verschiedene Krankheiten unterschiedlicher Ursache bezeichnet, die wiederum einen erhöhten Harnfluss zur Folge haben. Bezüglich der Harngewinnung für eine medizinische Untersuchung werden verschiedene Begriffe voneinander abgegrenzt. Neben dem durch eine Katheterisierung oder suprapubische Blasenpunktion gewonnenen Urin sind dies verschiedene Formen eines mittels einfacher Blasenentleerung gewonnenen Harns. Zeitlich festgelegt werden dabei: erster Morgenurin, zweiter Morgenurin, postprandialer Urin (meist zwei Stunden nach einer Mahlzeit), Sammelurin (meist als 24-Stunden-Harn). Eine tageszeitlich nicht festgelegte Blasenentleerung wird als Spontanharn bezeichnet. Eigenschaften Urin dient zur Regelung des Flüssigkeitshaushalts sowie zur Entsorgung von Harnstoff, Harnsäure und anderen Stoffwechsel-Endprodukten. Ein gesunder erwachsener Mensch scheidet täglich etwa 20 Gramm Harnstoff aus. Urin enthält ferner geringe Mengen an Zucker (Traubenzucker, Glucose). Ein erhöhter Glucosegehalt im Urin deutet auf Diabetes mellitus hin. Die Konzentration von Proteinen beträgt im Normalfall weniger als 2 bis 8 mg je 100 ml, die maximale Ausscheidung täglich 100 bis 150 mg, im Durchschnitt jedoch 40 bis 80 mg. Eine erhöhte Proteinausscheidung wird Proteinurie genannt. Die Proteine sind auch für die Bildung von Schaum auf dem Urin verantwortlich. Eine ungewöhnlich starke Schaumbildung ist somit auch ein Indiz für eine Nephropathie. Viele weitere Substanzen wie Hormone oder Duftstoffe kommen in geringen Mengen im Urin vor. Die Geruchskomponenten lassen sich zuverlässig durch die GC-MS-Kopplung nachweisen. Der pH-Wert des Urins liegt bei normaler Ernährung zwischen 4,6 und 7,5, also eher im sauren Bereich. Eine einzelne pH-Wert-Messung des Urins hat aber nur eine bedingte Aussagekraft, da der pH-Wert täglichen starken Schwankungen unterworfen ist. Eiweißreiche Ernährung verschiebt den pH-Wert in Richtung sauer, während Gemüse eine Verschiebung ins basische Milieu verursacht. Die Dichte beträgt zwischen 1015 und 1025 g/l. Unter extremen Bedingungen (wie beispielsweise extrem hoher Flüssigkeitszufuhr oder andererseits Dehydration) kann sie zwischen 1001 und 1040 g/l schwanken. Gelöste Proteine oder Glucose können die Dichte des Urins erhöhen. Die Osmolarität von Urin liegt typischerweise zwischen 600 und 900 mosmol/l. Urin ist dann hyperosmotisch bezogen auf Blutplasma (290–300 mosmol/l), das heißt, die Konzentration der gelösten Stoffe ist höher als im Blutplasma. Die Osmolarität kann aber in Abhängigkeit vor allem von Flüssigkeitszufuhr und Flüssigkeitsverlusten zwischen 50 und 1200 mosmol/l variieren (d. h., Urin kann hypo-, iso- oder hyperosmotisch bezogen auf Blutplasma sein). Entgegen der weit verbreiteten Ansicht, dass Urin beim gesunden Menschen in der Blase keimfrei sei, enthält er schon dort eine Vielzahl verschiedener Bakterien. Da die untere Harnröhre nicht keimfrei ist, enthält Urin beim Austritt bis zu 10.000 Keime pro Milliliter. Frischer Urin riecht nach Brühe, während abgestandener Urin aufgrund bakterieller Umwandlungsprozesse den stechenden Geruch von Ammoniak annimmt. Dabei wird der Harnstoff enzymatisch (Urease) in Ammoniak und Kohlendioxid umgewandelt und der ursprünglich eher neutral bis saure Urin wird basisch (pH-Wert ca. 9–9,2). Bei einer schweren Stoffwechselentgleisung im Rahmen eines Diabetes mellitus kann der Urin nach Aceton riechen, dies wird durch Ketoazidose (Ketokörper im Blut) verursacht. Auch bei akuten Krankheiten (Infektionen, Fieber) und nach dem Genuss bestimmter Nahrungsmittel kann der Urin einen atypischen Geruch aufweisen. So tritt bei knapp der Hälfte der Menschen nach dem Verzehr von Spargel ein charakteristischer Geruch des Urins auf. Er ist auf den Abbau bestimmter Inhaltsstoffe des Spargels wie Asparagusinsäure zu S-Methyl-thioacrylat, zu dessen Methanthiol-Additionsprodukt S-Methyl-3-(methylthio)thiopropionat und anderem zurückzuführen. Die Fähigkeit zu diesem Abbau wird dominant vererbt. Der Urin von Schwangeren enthält humanes Choriongonadotropin (hCG), ein in der Plazenta gebildetes Hormon, das für die Erhaltung der Schwangerschaft verantwortlich ist. Diesen Umstand macht man sich beim Schwangerschaftstest zu Nutze, der bei vorhandenem hCG eine Farbänderung zeigt. Färbung Die gelbe Farbe des Urins entsteht durch sogenannte Urochrome wie die Bilirubin-Abbauprodukte Sterkobilin und Urobilin, die aus dem Abbau des Hämoglobins oder Blutfarbstoffs entstehen. Die Farbintensität hängt von der Konzentration der Urochrome im Urin ab. Hypertonischer (erhöhte Konzentration der gelösten Stoffe) Urin ist gelb oder – bei höherer Konzentration, beispielsweise als Folge von Dehydratation – gelb-orange, während geringer konzentrierter (hypotonischer Urin) hellgelb bis farblos ist. Blutbeimengungen im Urin werden als Hämaturie bezeichnet und können den Urin rot färben. Ebenso tritt bei Porphyrie eine Rotfärbung auf. Außerdem kann es bei manchen Menschen zu einer kurzzeitigen Rotfärbung des Urins kommen, ohne dass durch eine Wunde oder Entzündung Blut in den Harn gelangt, wenn die Person vermehrt Carotine oder Betanin (in Roter Bete) aufgenommen hat. Ob dies genetisch vererbt wird, ist unbekannt. Zu einer rötlichen Urinverfärbung kann es zudem durch Anthracycline, Rifampicin, hochdosiertes Methotrexat und viele andere Medikamente kommen. Ist der Harn gesättigt, so kommt es bei Abkühlung zu einer Ausfällung von Uraten und damit zu ziegelroter oder dunkel gelber Färbung. Bei Erwärmung verschwindet sie wieder. Dunkel orange oder braun gefärbter Urin kann ein Hinweis auf eine Bilirubinurie und damit auf eine Gelbsucht (Ikterus) oder einen Morbus Meulengracht sein. Als Melanurie wird eine schwarze Färbung des Harns bezeichnet. Dieser enthält Melanogen, das an der Luft zu Melanin oxidiert. Melanurie kann beim Vorhandensein von Melanomen auftreten. Ebenfalls schwarzer oder dunkler Urin findet sich bei Alkaptonurie. Hier wird Homogentisat aufgrund eines Defekts oder Mangels des Enzyms Homogentisat-Dioxygenase mit dem Urin ausgeschieden. Dieser verdunkelt sich nach Kontakt mit der Luft. Auch einige Medikamente können eine Verfärbung des Urins bewirken. Bräunlicher Urin tritt bei Myoglobinurie auf, zum Beispiel verursacht durch Rhabdomyolyse, oder auch bei Porphyrie. Eine Grünfärbung des Urin kann durch Propofol ausgelöst werden. Propofol wird primär in der Leber abgebaut. Man nimmt an, dass phenolische Metaboliten den Urin grün färben können. Diese Metaboliten sind nicht nephrotoxisch. Auch Indomethacin, Amitriptylin, Cimetidin und Methylenblau können eine Grünfärbung des Urins auslösen. Ferner ein Verschlussikterus oder eine Pseudomonas-Infektion. Übrige Tiere Einfache, den Nieren entsprechende Ausscheidungsorgane finden sich bereits bei den Wirbellosen. Die Ausscheidungsprodukte der Proto- und Metanephridien sowie der Malpighischen Gefäße werden zumeist ebenfalls als Harn bezeichnet. Amphibien Auch Amphibien besitzen eine Opisthonephros ohne Henle-Schleifen und können daher keinen hyperosmolaren Harn produzieren. Die Stickstoffausscheidung erfolgt bei Kaulquappen über Ammoniak. Nach der Metamorphose erfolgt sie über Harnstoff, bei wüstenbewohnenden Amphibien und Makifröschen über Harnsäure (Uricotelie). Die Abgabe des Urins erfolgt in die Kloake, die über einen kurzen Verbindungsgang mit der Harnblase in Verbindung steht. Der dort gespeicherte Urin dient bei Amphibien vor allem als Wasserreservoir. Der ständige Wasserverlust über die Haut kann durch Rückresorption von Wasser aus dem Urin in gewissen Grenzen ausgeglichen werden. Fische Das Ausscheidungsorgan der Fische ist eine modifizierte Urniere, Opisthonephros genannt. Die Urniere tritt bei Säugetieren nur vorübergehend beim Embryo auf. Das Nephron der Fische besitzt keine Henle-Schleife, die zur Konzentration des Urins benötigt wird. Deshalb können sie keinen hyperosmolaren Harn (größere Konzentration an gelösten Stoffen als im Blutplasma) produzieren. Bei einigen Fischarten (beispielsweise Seenadeln, Seeteufel, Antarktisdorsche) sind nicht einmal Nierenkörperchen ausgebildet (aglomeruläre Niere), bei ihnen entsteht der Harn nicht durch Ultrafiltration, sondern durch Sekretions- und Diffusionsvorgänge in den Nierenkanälchen. Die Funktion und Zusammensetzung des Urins ist abhängig vom Lebensraum. Bei Süßwasserfischen wird viel Urin gebildet und dient vor allem der Eliminierung von überschüssigem Wasser. Elektrolyte kommen bei Süßwasserfischen nie im Überschuss vor, im Gegenteil, hier erfolgt eine aktive Aufnahme von einwertigen Ionen über das Epithel der Kiemen. Bei Meeresfischen sind dagegen die Verhältnisse umgekehrt. Bei ihnen wird nur wenig und im Vergleich zum Blut isoosmotischer Urin gebildet. Durch das Leben im Salzwasser sind Elektrolyte bei ihnen stets im Überschuss vorhanden, ihre Eliminierung erfolgt aber nicht über den Urin, sondern über die Rektaldrüsen (Knorpelfische) oder das Epithel der Kiemen (Knochenfische). Der Harn dient bei Meeresfischen also nicht der Osmoregulation, sondern nur der Ausscheidung zweiwertiger Ionen (wie Mg2+) und von überschüssigem Stickstoff. Interessant sind die Verhältnisse bei Wanderfischen (anadrome und katadrome Fische), die einen Teil des Lebens in Süß-, den anderen in Salzwasser verbringen. Hier kann über Hormone die Richtung des Elektrolytaustauschs in den Kiemen umgeschaltet werden: Durch Kortisol wird zur Anpassung an Salzwasser die Abgabe einwertiger Ionen, über Prolaktin deren Aufnahme zur Anpassung an Süßwasser ausgelöst. Die Stickstoffverbindungen werden bei Knochenfischen zumeist als Ammoniak (Ammoniotelie) direkt über die Kiemen, bei einigen anderen Fischen, insbesondere bei den Knorpelfischen, auch als Harnstoff (Ureotelie) ausgeschieden. Zum Teil wird Stickstoff auch als Guanin in die Schuppen eingelagert, welches ihnen den metallischen Glanz verleiht. Eine Harnblase und Harnröhre fehlt bei manchen Fischen, die Harnleiter münden in den Enddarm, die Harnröhre mit eigenem Porus, oder (selten) in eine Kloake usw. Reptilien Reptilien besitzen wie alle Amnioten eine Nachniere (Metanephros). Im Gegensatz zu Vögeln und Säugetieren besitzen die Nephrone keine Henle-Schleife und können daher in der Niere keinen konzentrierten Harn produzieren. Die produzierte Harnmenge ist bei Reptilien gering (0,2 bis 5,7 ml pro kg Körpermasse und Stunde). Die Harnleiter münden wie bei Amphibien in die Kloake. Von der Kloake führt bei Echsen und Schildkröten ein kurzer Gang in die Harnblase (Harnbeutel), in der der Harn gespeichert werden kann. Schlangen besitzen keine Harnblase. Der Urin ist bei Schildkröten flüssig. Bei den übrigen Reptilien wird er im Enddarm durch Wasserrückresorption eingedickt und ist daher breiartig bis pastös. Überschüssiger Stickstoff wird in Form von Harnsäure oder Guanin ausgeschieden. Für die Ausscheidung überschüssiger Elektrolyte ist der Urin der Reptilien von untergeordneter Bedeutung, ein Salzüberschuss wird über verschiedene Kopfdrüsen ausgeglichen: Orbitaldrüse (Meeresschildkröten, am Auge), Sublingual- oder Prämaxillardrüse (Schlangen), Zungendrüsen (Krokodile), Nasendrüse (Echsen). Vögel Die Nachniere der Vögel steht zwischen der von Reptilien und Säugetieren, da neben Nephronen vom Reptilientyp (ohne Henle-Schleife) auch Nephrone vom Säugetiertyp auftreten, so dass Vögel zur Bildung eines hyperosmolaren Harns befähigt sind. Der Urin wird über den linken und rechten Harnleiter in den Mittelabschnitt (Urodeum) der Kloake abgegeben, eine Harnblase fehlt allen Vögeln. Überflüssiger Stickstoff wird wie bei Reptilien in Form von Harnsäure oder Guanin ausgeschieden. Über eine negative Peristaltik gelangt der Urin in den Enddarm, wo ihm Wasser entzogen wird. Der Urin ist daher bei Vögeln pastös (hell) und es kommt zur Ausfällung von Harnsäurekristallen, die zusammen mit dem Kot (dunkler) ausgeschieden werden. Der stickstoffreiche Kot von Vögeln (Guano) wird auch als Düngemittel genutzt. Bei Vögeln mit entwickelten Blinddärmen (beispielsweise Hühnervögel) kann der konzentrierte Urin auch bis in die Blinddärme zurücktransportiert werden und dient der dort angesiedelten Darmflora als Stickstoffquelle. Überschüssige Elektrolyte (Kochsalz) werden bei Vögeln nicht nur über den Urin, sondern (wie bei Echsen) auch über die Nasendrüse ausgeschieden, ein Mechanismus, der für die Aufrechterhaltung der Osmolarität vor allem bei Meeresvögeln von Bedeutung ist. Urinuntersuchung Die Urinuntersuchung, auch Uroskopie oder Harnschau (mittels Harnglas), ist eine der ältesten medizinischen Untersuchungen. Sie erlaubt Rückschlüsse auf den Zustand und die Funktionsfähigkeit von Niere und Blase, beispielsweise bei Niereninsuffizienz und Blaseninfektion. Während früher die Untersuchung mittels Beschreibung der Beobachtungen (Farbe, Trübungen, Ablagerungen durch den Blasenablass usw.), des Geruches und des Geschmackes (daher stammt auch die Diagnose Diabetes mellitus, da mellitus im Lateinischen „honigsüß“ bedeutet) erfolgte, so wird heutzutage die Erstuntersuchung in erster Linie mit Hilfe von Urin-Teststreifen durchgeführt. Damit kann man gleichzeitig und innerhalb von wenigen Minuten mehrere wichtige Befunde erheben. Durch einen Farbumschlag können näherungsweise der Gehalt an Proteinen, Glucose, Ketonen, Bilirubin, Urobilinogen, Urobilin sowie der pH-Wert bestimmt werden, auch wird der Urin auf Vorhandensein von Blut und Entzündungszellen getestet. Die Zusammenstellung dieser Ergebnisse wird als Urinstatus bezeichnet. Mit Hilfe des Urinstatus können Frühsymptome dreier großer Krankheitsgruppen erkannt werden: Erkrankungen der Nieren und ableitenden Harnwege (Nierensteine, Nierentumoren, Entzündungen, …) Kohlenhydratstoffwechselstörungen (Diabetes mellitus) Leber- und hämolytische Erkrankungen. Eine qualitative Harnuntersuchung weist nach, ob eine Substanz im Harn vorhanden ist oder nicht, während eine quantitative Untersuchung die genaue Menge des untersuchten Stoffes angibt. Eine semiquantitative Untersuchung gibt in etwa an, wie viel von einer Substanz im Harn vorhanden ist. Der Urin eines gesunden Menschen sollte weder Proteine, Nitrit, Ketone noch Blutbestandteile wie Hämoglobin enthalten. Werden dort Substanzen, die normalerweise nicht im Urin vorkommen, nachgewiesen oder finden sich veränderte Konzentrationen, kann dies auf Stoffwechselerkrankungen wie Diabetes hinweisen. Wird frischer Morgenurin zentrifugiert und dann unter dem Mikroskop betrachtet (Untersuchung des Urinsediments), sind verschiedene feste Bestandteile sichtbar. Dazu gehören beispielsweise Kristalle aus Harnsäure, Calciumsulfat und Calciumoxalat. Kristallisiertes Tyrosin oder Bilirubin sind hingegen Zeichen für Erkrankungen. Unter dem Mikroskop können neben den kristallisierten Substanzen auch zelluläre Bestandteile gefunden werden. Diese können Hinweise auf Tumoren von Nieren und ableitenden Harnwegen darstellen. Durch spezielle Nachweistests kann die Einnahme von Medikamenten, Giften, Drogen oder Dopingsubstanzen im Urin nachgewiesen werden. Jedoch können diese Untersuchungen, die beispielsweise in der Suchttherapie eingesetzt werden, durch diverse Zusätze – wie Bleichmittel, Seife oder Kochsalz – verfälscht werden. Beim Schwangerschaftstest wird humanes Choriongonadotropin (hCG) nachgewiesen. Bei Verdacht auf verschiedene Erkrankungen können hierfür spezifische Substanzen im Urin bestimmt werden. Hierfür wird meistens der 24-Stunden-Sammelharn verwendet. Beim Phäochromozytom weist man Katecholamine und deren Abbauprodukte nach. Der früher durchgeführte Test auf Vanillinmandelsäure ist aufgrund zu geringer Spezifität veraltet. Die Menge des ausgeschiedenen Urins ist ein entscheidender Wert bei der Flüssigkeitsbilanzierung, bei der die Aufnahme von Flüssigkeiten mit der Ausscheidung (Urin, Schweiß, Perspiratio invisibilis) verglichen werden. Mittelstrahlurin Für Untersuchungen wird bevorzugt der Mittelstrahlharn des Morgenurins benutzt, da dieser die enthaltenen Stoffe in größerer Konzentration enthält als tagsüber gewonnener. Nach einer anfänglichen Säuberung und eventuellen Desinfektion der Eichel beim Mann oder des Genitalbereichs bei der Frau wird der erste Strahl des Harns verworfen. Erst die folgenden Anteile werden aufgefangen und für die Untersuchung verwendet. Damit werden Beimengungen aus Verunreinigungen der äußeren Abschnitte der Harnröhre vermindert, die das Ergebnis verfälschen können. Bei weiblichen Probanden wird das Gewinnen von unverfälschtem Mittelstrahlurin durch die Anatomie der Vulva und die Sekrete des Genitals deutlich erschwert. Dreigläserprobe Eine ähnliche Methode ist die Dreigläserprobe. Dabei werden der erste Strahl sowie der Mittelstrahl in separaten Gefäßen aufgefangen. Das dritte Glas wird nach leichter Prostata-Massage mit Urin – vermengt mit Prostata-Sekret – gefüllt. So lässt sich eine grobe Lokalisation beispielsweise von Blutungsquellen vornehmen. Der Inhalt des ersten Glases repräsentiert die Harnröhre, das zweite Glas die Harnblase und das dritte die Prostata. Weitere Sammelarten Für spezielle Fragestellungen kann der Urin auch über einen Katheter oder durch direkte Punktion der Blase durch die Bauchdecke (suprapubische Blasenpunktion) gewonnen werden. Dieser ist normalerweise frei von Keimen der Umgebung oder der Harnröhre. Für einige Untersuchungen ist das Sammeln des Urins über 24 Stunden notwendig. Dies ist in der Regel der Fall bei der Analytik von Hormonen und deren Abbauprodukten, wie z. B. der Vanillinmandelsäure, Homovanillinsäure oder 5-Hydroxyindolessigsäure zur Diagnostik des Phäochromozytoms, Neuroblastoms oder Karzinoidsyndroms. Harnsteine Wenn im Urin gelöste Mineralsalze (beispielsweise Calciumcarbonat, Calciumphosphat oder Calciumoxalat) ausgefällt werden, können sich zunächst kleine Kristalle bilden, die sich allmählich zu größeren Gebilden zusammenfügen. Diese als Harn- oder Nierensteine bezeichneten Gebilde können sich entweder in den Nieren, im Harnleiter oder in der Harnblase ansammeln und starke Schmerzen (Kolik) verursachen. In den meisten Fällen (etwa 80 %) gehen sie nach Gabe von entkrampfenden oder schmerzstillenden Mitteln mit Hilfe von erhöhter Trinkmenge und körperlicher Bewegung von selbst ab. Seltener ist ein (manchmal auch nur endoskopischer) Eingriff notwendig und nur in extremen Fällen ist eine Behandlung durch Stoßwellen-Zertrümmerung (Extrakorporale Stoßwellen-Lithotripsie) nötig. Verwendung von Urin Als Reinigungsmittel Urin, insbesondere „gefaulter“, wurde über Jahrtausende als Reinigungsmittel eingesetzt. So wurden in Rom an belebten Straßen amphorenartige Urinale aufgestellt, um den von den Wäschern benötigten Urin einzusammeln. Kaiser Vespasian erhob darauf eine spezielle Urinsteuer. Als sein Sohn Titus ihm daraufhin Vorwürfe machte, aus derartig stinkender Angelegenheit monetären Nutzen zu ziehen, soll er diesem eine Münze vor die Nase gehalten und „Pecunia non olet“ („Geld stinkt nicht“) geantwortet haben. Gefaulter Urin wurde noch bis ins 20. Jahrhundert zum Entfernen des Wollfetts (Entschweißen) frisch geschorener Schafwolle und zum Walken von Wolltuchen eingesetzt, des Weiteren im Gerberhandwerk sowie für das Beizen von kupfergedeckten Dächern (Patina). Als Färbungsmittel Große Bedeutung hat und hatte Urin auch für das Färberhandwerk. Aus dem Urin indischer Kühe, die ausschließlich mit Mangoblättern gefüttert wurden, wurde durch Verdampfen das Indischgelb (Magnesiumeuxanthat, ein Magnesiumsalz der Euxanthinsäure, Summenformel C19H16O11Mg · 5 H2O) gewonnen. Seine Herstellung ist in Indien bereits seit dem 15. Jahrhundert bekannt. Im 18. Jahrhundert gelangte der Farbstoff dann auch nach Europa. Seit Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts hat diese Herstellungsmethode jedoch aufgrund von Tierschutzbedenken an Bedeutung verloren. Außerdem diente menschlicher Urin zur Gewinnung von Indigoblau. Dazu wurden die Blätter des Färberwaids in Kübeln mit Urin vergoren. Die Färbung von Textilien mit Urin und Indigo nennt man Küpenfärbung. Dabei macht man sich die reduzierende Wirkung des Urins zu Nutze, um Indigo löslich zu machen und den Farbstoff so in die Faser zu bringen. Als Pflanzennährstoff Durch den Gehalt an Stickstoffverbindungen (bei Säugetieren einschließlich der Menschen vor allem Harnstoff, Harnsäure und Kreatinin), Phosphaten sowie Kalium- und Calciumsalzen u. a. m. kann Urin als Lieferant von Pflanzennährstoffen dienen. Dieser Gehalt ist i. d. R. so hoch, dass Pflanzen durch Begießen mit unverdünntem Urin geschädigt oder sogar zum Absterben gebracht werden können, sie „verbrennen“. Verdünnt, z. B. mit der acht- bis zehnfachen Menge Wasser, stellt Urin hingegen einen stark wachstumsfördernden Dünger dar. In Gebieten mit sehr geringen Niederschlägen kann der – je nach Ernährung unterschiedlich hohe – Kochsalzgehalt des Urins allerdings zu einer Versalzung des Bodens führen. Da Urin aufgrund des hohen Pflanzennährstoffanteils auch zur Überdüngung von Gewässern beiträgt, gibt es inzwischen weltweit Projekte, diesen Nährstoffgehalt durch entsprechende technische Maßnahmen nutzbar zu machen. Trinkwassergewinnung Urin kann durch Destillation zu Trinkwasser verarbeitet werden, um einer Dehydratation entgegenzuwirken. Das wird zum Beispiel auf der Internationalen Raumstation (ISS) getan, um die Astronauten im Weltraum mit genügend Trinkwasser versorgen zu können und zusätzliche Versorgungsflüge zu sparen. Auch kann das Destillieren von Urin in wasserarmen Regionen eine wichtige Überlebensstrategie im Sinne des Bushcrafting sein, sofern es keine andere Wasserquellen gibt. Nicht oder falsch destillierter Urin eignet sich nicht als Trinkwasserersatz, schadet den Nieren und steigert den Durst. Zum Destillieren eignen sich auch Solardestillen. Aktivkohlefilter können den Harnstoff nur wenig adsorbieren. Urin wie auch andere Flüssigkeiten in einer Abwasserleitung können durch eine Kläranlage gereinigt und als Uferfiltrat teilweise wieder zu Trinkwasser werden. Medizinische Verwendung In der Medizin wurden Urin und aus Urin gewonnene Substanzen vielfältig eingesetzt. So wurde in Kriegs- und Katastrophenfällen Urin als wirkungsvolles Wunddesinfektionsmittel verwendet. Um 1500 empfahl der ostschwäbische Wundarzt Jörg zu Pforzen ein aus Salz und dem Sediment von Knabenurin hergestelltes Pulver zur Behandlung des Pannus (Überwachsung der Augenhornhaut). Heute können aus dem Urin von postmenopausalen Frauen Gonadotropine gewonnen werden, die zur Therapie von Fruchtbarkeitsstörungen eingesetzt werden können. Im alternativmedizinischen Bereich wird die „Eigenurintherapie“ angewandt. Hierbei werden dem eigenen (Morgen-)Urin Fähigkeiten zur Heilung verschiedener Krankheiten zugeschrieben. Durch Trinken, äußerliche Anwendung oder Injektion sollen Krankheiten wie Asthma, Neurodermitis oder Cellulite und andere geheilt oder zumindest gelindert werden. In Deutschland hat unter anderem Carmen Thomas in ihrem Buch Ein ganz besonderer Saft – Urin dafür plädiert, Eigenurin zu trinken. Nachweise für einen positiven Effekt der Eigenurintherapie gibt es nicht. Die arabische Tradition kennt die Verwendung von Kamelurin als Heilmittel. Das geht auf eine Hadith des Propheten Mohammed zurück. In jüngerer Zeit wurde von Forschern in Arabien eine krebsmindernde Wirkung von Kamelurin behauptet. Im Juli 2015 warnte die WHO vor dem Trinken von Kamelurin, weil dadurch die Gefahr einer Ansteckung mit MERS besteht. Da pathogene Prionen – falsch gefaltete Eiweiße, welche Krankheiten wie BSE oder Scrapie auslösen können – im Urin gefunden wurden, unterliegt die Gewinnung von Arzneien aus menschlichem Urin strengen Vorschriften. Menotropin aus humanem Urin muss wegen möglicher CJK-Ansteckungsgefahr mit einem Warnhinweis versehen werden; es sind aber noch keine Ansteckungen via menschlichem Urin bekannt. Nach Ergebnissen des Schweizer Prionenforschers Adriano Aguzzi sind im Urin enthaltene Prionen die derzeit aktuelle Erklärung dafür, weshalb Prionenkrankheiten bei Schafen, Elchen und Hirschen relativ hohe Ansteckungsraten besitzen – schließlich ernähren sich diese Wildtiere nicht von Tiermehl. Allerdings fand man die Prionen im Urin nur, wenn eine Nierenentzündung vorlag. Kommunikation und Markierung im Tierreich Tiere verwenden Urin auch zur Kommunikation (Chemokommunikation). Am bekanntesten dürfte dabei der Hund sein, der, wie viele andere Tiere, sein Revier durch die Abgabe einer kleinen Urinmenge an markanten Stellen abgrenzt. Bei einigen Katzen wie Leopard oder Gepard und den meisten Huftieren erkennt das Männchen am Geruch des Urins, ob das Weibchen paarungsbereit ist. Beim Abbau des enthaltenen Harnstoffs in der Umwelt entsteht durch Hydrolyse das stechend riechende Gas Ammoniak. Sexuelle Vorliebe Die sexuelle Vorliebe zu Urin wird auch als Urophilie oder Undinismus bezeichnet. Dabei wird der Prozess des Urinierens oder der Urin selbst als erotisch und sexuell stimulierend erlebt. Auch Urophagie, der Lustgewinn durch orale Aufnahme von Urin (sogenanntem „Natursekt“), kann damit verbunden sein. In der entsprechenden Szene sind auch die Bezeichnungen Natursekt (oftmals auch mit „ns“ abgekürzt), Watersports, Pissing, Peeing, Golden Shower, Golden-Waterfalls und Wet-Games verbreitet. Da diese sexuelle Vorliebe deutlich von der empirischen Norm abweicht, wird auch von einer Paraphilie gesprochen. Psychische und soziale Aspekte des Urinierens Zu psychischen und sozialen Aspekten des Urinierens siehe Harnlassen. Siehe auch Detrusor-Sphinkter-Dyssynergie Harninkontinenz Paruresis Literatur Uwe Gille: Harn- und Geschlechtssystem, Apparatus urogenitalis. In: Franz-Viktor Salomon, Hans Geyer, Uwe Gille (Hrsg.): Anatomie für die Tiermedizin. Enke-Verlag, Stuttgart 2004, ISBN 3-8304-1007-7. Huldrych M. Koelbing: Der Urin im medizinischen Denken. Geigy, 1967. Robert Franz Schmidt, Florian Lang, Gerhard Thews: Physiologie des Menschen. 29. Auflage. Springer-Verlag, Berlin 2004, ISBN 3-540-21882-3. Weblinks G. Eknoyan: Looking at the Urine: The Renaissance of an Unbroken Tradition. In: American Journal of Kidney Diseases. 2007 06 (Vol. 49, Issue 6). Historische Übersicht (englisch). Einzelnachweise Körperflüssigkeit Niere
Q40924
193.860352
117651
https://de.wikipedia.org/wiki/V%C3%B6gel
Vögel
Die Vögel sind – nach traditioneller Taxonomie – eine Klasse der Wirbeltiere, deren Vertreter als gemeinsame Merkmale unter anderem Flügel, eine aus Federn bestehende Körperbedeckung und einen Schnabel aufweisen. Vögel leben auf allen Kontinenten. Bislang sind über 10.980 existente rezente Vogelarten bekannt, die 2385 Gattungen, 253 Familien und 44 Ordnungen zugeordnet werden. Zusätzlich sind 160 Arten in historischer Zeit ausgestorben. Bei Anwendung des moderneren, phylogenetischen Artkonzepts kommt man auf etwa 18.000 (15.845 bis 20.470) Vogelarten, und auch genetische Daten deuten auf eine in etwa doppelt so hohe Anzahl von Vogelarten hin. Die Wissenschaft von den Vögeln ist die Vogelkunde (Ornithologie). Allgemeine Kennzeichen Vögel haben wie alle Landwirbeltiere (Tetrapoda) zwei Paar Extremitäten, wovon die vorderen bei Vögeln zu Flügeln umgebildet sind. Das Gefieder bestimmt das äußere Gesamtbild der Vögel wesentlich: Der Körper ist von Federn bedeckt. Diese Strukturen aus Keratin dienen beim Fliegen als Tragfläche und Steuerfläche, einer aerodynamisch günstigen Verkleidung des Körpers und als Isolation, die sogar, meist je nach Temperatur und Wind, veränderbar ist. Ferner hat das Gefieder Farben und dient oft der sexuellen Werbung. Bei Wasservögeln ist es wasserabweisend und sorgt für Auftrieb. Das Gefieder wird zu bestimmten Zeiten (Mauser) gewechselt. Des Weiteren sind bei allen Vögeln die Beine durch Hautschuppen bedeckt. Alle rezenten Vögel besitzen einen Schnabel ohne echte Zähne. Einige ausgestorbene Arten waren dagegen bezahnt. Der Schnabel besteht bei Vögeln aus Knochensubstanz mit einer Hornscheide; nur bei Tauben- (Columbiformes) und Gänsevögeln (Anseriformes) ist die Knochenmasse des Schnabels von einer weichen Haut überzogen. Alle bekannten Vogelarten haben eine relativ hohe, konstante Körpertemperatur (Endothermie), die höher ist als bei allen anderen heute lebenden Tieren und ca. 42 °C beträgt. Einige Vogelarten, z. B. Kolibris und Kohlmeisen, senken bei der Nachtruhe ihre Körpertemperatur um ca. 10 °C. Die meisten Vögel sind flugfähig. Alle flugunfähigen Arten haben sich aus Arten entwickelt, die ursprünglich fliegen konnten. Dies betrifft zum Beispiel Laufvögel, Pinguine und viele Inselformen, wie die Kiwis (Neuseeland) und den Stummelkormoran (Galapagosinseln). Das Vogelskelett ist leicht gebaut. Es besitzt zur Gewichtsreduzierung hohle (pneumatisierte) Knochen. Der Anteil der Knochenmasse macht nur 8 bis 9 Prozent der Gesamtkörpermasse aus, während er bei einigen Säugern bis zu 30 Prozent betragen kann. Das sehr große Brustbein hat einen vorspringenden Kiel (Carina), der als Ansatz für die sehr großen Flugmuskeln dient. Die Herzschlagfrequenz ist hoch: Die maximale Herzschlagfrequenz eines Straußes beträgt 178 Schläge pro Minute, diejenige eines Haussperlings 900 und schließlich diejenige eines Blaukehl-Sternkolibris 1260 Schläge pro Minute. Das Zentralnervensystem (ZNS) ist hoch entwickelt, unter den Sinnesorganen ist besonders die Leistungsfähigkeit des Auges bemerkenswert. Einige Vögel sind wahrscheinlich Pentachromaten, haben also fünf Typen von Farbsinneszellen (Zapfen). Das für die Verarbeitung optischer Reize zuständige Hirnareal ist stark vergrößert. Die Stimmbildung erfolgt bei Vögeln nicht im Kehlkopf (Larynx), da Stimmbänder fehlen. Dafür liegt an der Gabelung der Trachea ein gesondertes Organ, der Stimmkopf (Syrinx), auch als unterer Kehlkopf bezeichnet. Die Vogellunge mit ihren Luftsäcken ist komplizierter gebaut als die aller anderen Wirbeltiere. Vögel haben eine Kloake, das heißt, Eier, Urin und Kot gelangen durch eine einheitliche Ausführungsöffnung ins Freie. Die Elektrolytausscheidung (Meersalze) erfolgt bei vielen Vögeln wie bei Reptilien auch über die Nasendrüse. Vögel scheiden ebenso wie Fledertiere und Reptilien über ihren Urin Stickstoffverbindungen als Guanin sowie Harnsäure aus. Guanin ist zwar energiereicher als Harnstoff, benötigt aber kaum Wasser zur Ausscheidung, sodass die Tiere nicht so viel Trinkwasser wie Säugetiere benötigen und das Wasser im Körper nicht mitgeführt werden muss. Diese Ersparnis an zu bewegender Masse unterstützt die Flugfähigkeit. Ablagerungen aus Vogelkot können abbauwürdige Mächtigkeiten erreichen. Sogenannter Inselguano, der aus Seevogelausscheidungen besteht, wird ebenso wie Höhlenguano (meist aus Fledermauskot bestehend) abgebaut und als phosphatreiches natürliches Düngemittel eingesetzt. Wie bei Reptilien fehlt eine Harnblase. Die meisten Vogelarten besitzen zur Gefiederpflege eine besondere, Fett absondernde Drüse, die Bürzeldrüse. Bei einigen Arten wird deren Funktion durch sogenannte Puderdunen unterstützt bzw. komplett ersetzt (Kakadus, Taubenvögel, Reiher). Einigen Arten fehlen sowohl Bürzeldrüse als auch Puderdunen (z. B. Schlangenhalsvögel). Von den oben genannten Merkmalen kommt keines exklusiv bei den Vögeln vor. So existieren (oder existierten) fliegende Formen bei den Säugetieren (Fledertiere) und Reptilien (Flugsaurier), über Federn verfügten auch die gefiederten Nichtvogeldinosaurier, amniotische Eier werden ebenso von Reptilien und Kloakentieren gelegt und auch ein Schnabel ist nicht auf die Vögel beschränkt. Bei den Vögeln sind Oberkiefer (Maxilla) und Unterkiefer (Mandibula) beweglich, während sich bei den anderen Wirbeltieren nur der Unterkiefer bewegt. Systematik Äußere Systematik Die Vögel werden so wie die Amphibien, Reptilien und Säugetiere traditionell als eigene Klasse von Landwirbeltieren (Tetrapoda) betrachtet. Dies ist allerdings aus moderner, kladistischer Sichtweise betrachtet falsch, da die Vögel als einzige überlebende Gruppe der Klade Dinosaurier eine Teilgruppe der Reptilien sind. Um eine einheitliche Terminologie zu bewahren, wird das monophyletische Taxon, welches die traditionellen Klassen Reptilien und Vögel vereint, als Sauropsida bezeichnet. Dementsprechend heißen die drei Klassen der Landwirbeltiere nach heutigem wissenschaftlichem Standard: Amphibien (Amphibia) Sauropsiden (Sauropsida) Säugetiere (Mammalia) Ordnungen und Familien der Vögel Die Klasse der Vögel ist die artenreichste der Landwirbeltiere. Sie umfasst etwa 10.700 rezente und etwa 150 in historischer Zeit ausgestorbene Vogelarten. Von ihren zwei Unterklassen (Urkiefer- und Neukiefervögel) ist erstere klein und bis auf fünf Familien ausgestorben. Hierhin gehören insbesondere die Laufvögel, die wegen des fehlenden Brustbeinkamms flugunfähig sind. Von den weiteren etwa 30 Ordnungen der Neukiefervögel umfasst jene der Sperlingsvögel fast 60 Prozent aller Arten. In dieser Gruppe ist wiederum die Unterordnung der Singvögel (Passeri) die umfangreichste. Unter Pygostylia findet sich eine abweichende Systematik der Vögel, die auch ausgestorbene Gruppen berücksichtigt. Evolution Abstammung von Dinosauriern Allgemein unstrittig ist, dass die Vögel der diapsiden Entwicklungslinie der Amnioten entstammen (siehe auch Reptilien). Als ihre nächsten lebenden Verwandten gelten die Krokodile. Gemeinsam bilden Krokodile und Vögel die Diapsiden-Untergruppe der Archosauria. Die Skelette der ersten Vögel stammen aus Ablagerungen des Oberjura (ca. 150 Mio. Jahre vor heute) und zeigen nach Ansicht der Mehrzahl der Forscher eine enge verwandtschaftliche Beziehung zu kleinen Raubdinosauriern (Theropoden) aus der Gruppe der Maniraptora. Nach den Regeln der Kladistik, die heute wissenschaftlicher Standard ist, sind Vögel damit ebenfalls Dinosaurier. Die Maniraptora galten lange als reine Bodenläufer, da ihr Fossilbericht, speziell die Ausbildung der Gliedmaßen aller bis dahin bekannten Vertreter, eine solche Lebensweise nahelegte. Anhänger einer Nicht-Dinosaurier-Abstammung der Vögel weisen deshalb unter anderem darauf hin, dass fliegende oder gleitfliegende Tiere immer von baumlebenden Vorfahren abstammen müssten, die sich zunächst zu Baumspringern entwickelt hätten. Die Vögel müssten deshalb zwingend von baumlebenden Diapsiden abstammen und könnten deshalb keine Dinosaurier sein. Im Jahr 2000 wurde jedoch Microraptor entdeckt, eine sehr wahrscheinlich baumlebende und gleitfliegende Gattung gefiederter Theropoden. Wenngleich Microraptor in der Frühen Kreide (ca. 130 Mio. Jahre vor heute) und somit deutlich später lebte als die ersten Vögel, zeigt seine Entdeckung, dass die Maniraptora auch baumlebende Formen hervorbringen konnten, und stützt die These der Zugehörigkeit der Vögel zu dieser Gruppe (und damit zu den Dinosauriern). Aber auch die Debatte, ob sich die Vögel aus Bodenläufern oder aus Baumspringern entwickelt haben, ist noch nicht entschieden. Vorläufer der modernen Vögel Die Pan-Gruppe der Vögel, die neben einer Reihe von fossilen „Urvögeln“ auch die modernen Vögel als Kronengruppe enthält wird mitunter als Avialae bezeichnet. Davon abweichend werden die Modernen Vögel auch als Neornithes bezeichnet. Das bekannteste evolutionäre Bindeglied zwischen Reptilien und den Vögeln ist die Gattung Archaeopteryx (wörtlich: „Urflügel“). Die Flügel von Archaeopteryx haben große Ähnlichkeit mit den Flügeln moderner Vögel. Fossilien dieser Gattung wurden in den Solnhofener Plattenkalken aus der Zeit des Oberjura gefunden. Von Archaeopteryx nahm man lange eine vermittelnde Position zwischen den beiden Klassen an, denn er schien mosaikartig sowohl Merkmale von Reptilien als auch solche von Vögeln zu zeigen. Aus diesem Grund sind unvollständig und schlecht erhaltene Exemplare – wie etwa beim „Haarlemer Exemplar“ im Teylers Museum – lange Zeit nicht als Fossilien dieses Tieres erkannt worden. Mit der Entdeckung von immer mehr gefiederten Dinosauriern seit den 1990er Jahren hat sich aber gezeigt, dass sehr viele, früher für typische Vogelmerkmale gehaltene Eigenschaften des Archaeopteryx bei vielen anderen Theropodenspezies ebenfalls vorkamen. Vögel erscheinen daher mehr und mehr als ans Fliegen angepasste, ansonsten aber typische Dinosaurier. Ungeklärt ist nicht zuletzt deshalb, ob Archaeopteryx ein echter „Urvogel“ war, also ein direkter Vorfahre der modernen Vögel. Viele Forscher meinen, dass er einer blind endenden Entwicklungslinie angehörte. Der oberjurassische Archaeopteryx besaß noch Kiefer mit Zähnen, eine lange Schwanzwirbelsäule und bewegliche bekrallte Mittelhandknochen. Wahrscheinlich besaß er, wie es auch für seine Nicht-Vogel-Dinosaurierverwandten vermutet wird, eine konstante, aktiv geregelte Körpertemperatur (Homoiothermie). Auch die in Sedimentgesteinen der oberen Kreide gefundenen fossilen Wasservögel (Ichthyornis und Verwandte) waren bezahnt. Die heutigen Vogelgruppen mit ihren unbezahnten Kiefern haben sich erst im Känozoikum herausgebildet. Der Verlust des harten Zahnschmelzes muss genetischen Analysen zufolge aber bereits vor mehr als 100 Millionen Jahren in der unteren Kreide in der Entwicklungslinie, die zu den modernen Vögeln (Neornithes, Vogel-Kronengruppe) führt, stattgefunden haben und zwar nach der Abspaltung der Linie, die zu Ichthyornis führt. Beim jüngsten gemeinsamen Vorfahren der beiden Hauptlinien der modernen Vögel (Urkiefervögel und Neukiefervögel) sollen schließlich alle für die Zahnentwicklung zuständigen Gene abgeschaltet gewesen sein. Während der älteste unzweifelhafte Fossilnachweis der Kronengruppen-Vögel aus der späten Oberkreide (Maastrichtium) stammt, sind bereits aus der späten Unterkreide Vögel bekannt, deren Anatomie an die der modernen Vögel stark heranreicht. Ein Beispiel für solch einen Vertreter ist Gansus yumenensis aus der Xiagou-Formation (115–105 mya) der chinesischen Gansu-Provinz. Generell besaßen die Vögel bereits in der Kreidezeit eine große Artenvielfalt. Eine mit Gansus relativ eng verwandte Gruppe kreidezeitlicher, anatomisch jedoch weniger fortschrittlicher Vögel sind die Enantiornithes, deren fossile Überreste unter anderem im Nordosten Chinas gefunden wurden. Entwicklung im Känozoikum Beim Massenaussterben vor 65,5 Millionen Jahren (Kreide-Tertiär-Grenze) starben die Nicht-Vogel-Dinosaurier aus. Auch die Vögel und viele andere Gruppen von Lebewesen erlitten einen erheblichen Verlust an Arten und höheren Taxa. Zu Beginn des Känozoikums entwickelte sich in sehr kurzer Zeit aus den vermutlich wenigen überlebenden Arten eine Vielzahl neuer Vogelgruppen, welche die Grundlage der heutigen Avifauna (Vogelwelt) bildete. Einige dieser Gruppen starben wieder aus. Vogelfossilien aus dem Eozän (z. B. aus der Grube Messel) belegen das Vorhandensein einer vielfältigen Avifauna, wobei nicht alle Arten heute noch lebenden Gruppen zuzuordnen sind. Ein Beispiel für Vertreter ausgestorbener Gruppen sind große, fleischfressende, flugunfähige Vögel wie Gastornis, die im Eozän die ökologische Rolle der noch nicht entwickelten Raubtiere eingenommen haben könnten. Die Evolution der Feder 1995 in der Volksrepublik China entdeckte fossile Vögel aus der Unterkreide ähnelten Archaeopteryx hinsichtlich Krallenhand, Bauchrippen (Gastralia) und Beckenbau. Doch zeigten manche Versteinerungen Federn und ein kräftiges Brustbein wie heutige Vögel, ferner einen Schnabel ohne Zähne und nur noch eine kurze Schwanzwirbelsäule. Die 1998 veröffentlichte Erstbeschreibung des kleinen gefiederten Dinosauriers Caudipteryx trug wesentlich zum Verständnis der Evolution der Vögel, der Gefiederentwicklung und zum Teil des Vogelflugs bei. Demnach entwickelten die Vogelvorfahren zunächst sowohl an den Vorder- als auch an den Hinterextremitäten Federn und konnten damit im Gleitflug von Baum zu Baum gelangen. Die Flügelbildungen an den Hinterextremitäten wurden im Laufe der Evolution reduziert, sodass lediglich die Arm- und Handschwingen zum Fliegen übrigblieben. Nach einer anderen These bildeten sich die Federn zuerst zum Schutz vor Wärmeverlust bei bodenlebenden, zweibeinig gehenden Sauriern. Auch heutige Vögel haben Tausende von relativ einfach gebauten Flaumfedern, aber nur etwa 50 Schwungfedern. Eine Entwicklung von isolierendem Flaum zu komplexeren Flugfedern macht auch die Zwischenstufen der Entwicklung plausibler, die für das Fliegen noch ungeeignet waren. Fortpflanzung Allen Vögeln gemeinsam ist die Fortpflanzung durch die Ablage von Eiern (Oviparie). Es gibt zwar einige lebendgebärende Fische, Lurche und Reptilien (sowie andererseits eierlegende Säugetiere), aber keine einzige lebendgebärende Vogelart. Wahrscheinlich hätte eine längere Tragzeit und die damit verbundene Gewichtsveränderung für die Vögel als Flieger zu viele Nachteile. Zwar sind Fledertiere als Flieger ebenfalls lebendgebärend, aber in dieser Untergruppe der Höheren Säugetiere ist das Gebären lebender Jungen (Viviparie) ein ursprüngliches Merkmal. Das heißt, die Flugfähigkeit der Fledertiere entwickelte sich bei einer bereits lebendgebärenden Stammart. Für Vögel ist das Eierlegen hingegen ein ursprüngliches Merkmal, sodass bei ihnen die Flugfähigkeit die Entstehung von Viviparie verhindert haben könnte. Die Männchen einiger Vogelgruppen wie beispielsweise Laufvögel und Gänsevögel haben gut entwickelte Kopulationsorgane, während andere gar keinen oder einen einfach gebauten Vogel-Penis besitzen. Bei weiblichen Vögeln ist im Allgemeinen nur ein – und zwar der linke – Eierstock entwickelt, während bei den Männchen zwei Gonaden vorhanden sind. Für das Flugvermögen ist ein möglichst geringes Körpergewicht von großer Bedeutung. So werden die Sexualorgane bei den Vögeln außerhalb der Paarungszeit stark zurückgebildet, sie schrumpfen aber meist nicht sofort nach der Eiablage, um bei Bedarf noch ein zweites Gelege erzeugen zu können. Bei der Begattung, dem sogenannten Tretakt, steigt das Männchen auf den Rücken des Weibchens, und beide drücken ihre Kloaken aufeinander. Die Samenflüssigkeit des Männchens fließt in die Kloake des Weibchens. Die Kopulation dauert meist nur wenige Sekunden, wird jedoch oft wiederholt. Der Follikelsprung – das Freiwerden der Eizelle – kann durch verschiedenartige Reize (wie zum Beispiel Anblick eines Geschlechtspartners) ausgelöst werden. In der Öffnung des Eileiters verbleibt das Ei einige Minuten und wird von im Eileiter entlang gewanderten Spermien befruchtet. Danach befördern Muskelbewegungen des Eileiters das noch unfertige Ei in Richtung der Geschlechtsöffnung. Im Eileiter werden dem Dotter (bestehend aus einem Drittel Proteinen und zwei Dritteln Fetten und fettähnlichen Stoffen sowie Vitaminen und Mineralsalzen) und dem sich bereits furchenden Embryo erst das Eiklar (Proteine, Salze und Wasser), die Eihaut und schließlich die Eischale angelagert. Im Gegensatz zu den weichschaligen Eiern der Reptilien sind die Schalen von Vogeleiern stark verkalkt (bis zu 94 % Calciumcarbonat); sie lassen jedoch einen Gasaustausch zur Atmung zu. Durch die Muskelbewegungen des Eileiters (dessen letzten Teil man als Uterus bezeichnet) erhalten Vogeleier ihre arttypische Form. Bei weiblichen Vögeln wächst, induziert durch Östrogene, vor der Eiablage eine sehr calciumreiche Knochensubstanz in den Beinknochen zwischen dem harten Außenknochen und dem Knochenmark, in der das Calcium für die Bildung der Eierschalen gespeichert wird. Diese Knochensubstanz, die sich nach der Eiablage wieder zurückbildet, wird als medullärer Knochen bezeichnet. Medullärer Knochen ist auch bei Nicht-Vogel-Dinosauriern und fossilen Vögeln bekannt und dient in der Paläontologie zur Bestimmung weiblicher Tiere. Vogeleier enthalten alle Nährstoffe, Vitamine und Spurenelemente, die der Embryo zu seiner Entwicklung braucht. Der zum Stoffwechsel unerlässliche Sauerstoff wird durch die feste Schale hindurch aufgenommen. Die Eier von Nestflüchtern enthalten mehr Dotter als Eier von gleich großen, als Nesthocker schlüpfenden Vogelarten. In dem einen Fall sind die Küken schon kurz nach dem Schlüpfen weitgehend selbständig, während Nesthocker völlig hilflos, unbefiedert und meist blind aus dem Ei kommen und von den Eltern lange gefüttert werden. Viele Vögel erbrüten nur ein Ei, während die größten Gelege mit 20 bis 22 Eiern bei Hühnervögeln vorkommen. Bei einigen Arten legen auch zwei oder mehrere Weibchen ihre Eier in ein gemeinsames Nest (s. die großen Laufvögel). Viele Vogelarten ziehen in einer Fortpflanzungsperiode mehrere Jahresbruten hintereinander hoch. Brut und Schlüpfen der Jungen Einige Vogelarten (Großfußhühner) nutzen Fremdwärme zum Ausbrüten ihrer Eier. Die meisten Vögel jedoch wärmen ihre Eier im Brust- und Bauchgefieder. Bei einigen Arten haben die an der Brut beteiligten Geschlechter Brutflecke (federlose Hautpartien an Brust und Bauch), an denen die Körperwärme besser zu den Eiern gelangen kann als durch das isolierende Gefieder. Bei vielen Arten brüten beide Partner, bei anderen nur das Weibchen oder seltener ausschließlich das Männchen, beispielsweise die großen Laufvögel sowie der Kaiserpinguin. Die Bruttemperatur liegt bei etwa 34 °C. Die Eier werden während der Brut häufig gewendet, um so eine gleichmäßige Erwärmung zu gewährleisten. Viele andere Faktoren, wie genügend Feuchtigkeit, keine übermäßige Erwärmung durch Sonneneinstrahlung, keine oder nur wenige schwache Erschütterungen u. a. sind wichtig für eine erfolgreiche Brut. Die kürzeste Brutdauer beträgt elf Tage (z. B. Feldlerche 11–12), die längste etwa zwölf Wochen (Streifenkiwi bis 92 Tage). Kurz vor dem Schlüpfen ist die Kalkschale durch Kalkabbau vom Embryo dünner geworden. Die Jungvögel geben oft schon vor Verlassen des Eies Rufe von sich, die oftmals der Synchronisation des Schlüpfvorganges dienen oder für die Beziehung zwischen Altvogel und Nestling von entscheidender Bedeutung sind. Der Jungvogel reibt und pickt von innen her die Eischale auf, bis ein kleines Loch entsteht. Dazu ist auf der Spitze des Oberschnabels – und bei einigen Vogelarten auf dem unteren Schnabelteil – ein kleiner, harter Höcker, der Eizahn ausgebildet, der wenige Tage nach dem Schlüpfen abfällt oder zurückgebildet wird. Der gesamte Schlüpfvorgang dauert – je nach Vogelart – einige Minuten oder bis zu vier Tagen (Röhrennasen). Vögel, die alt genug sind, um flugfähig zu sein, sind flügge. Nestlinge: Nesthocker, Nestflüchter und Platzhocker Nesthocker Zum Zeitpunkt des Schlupfes sind die Jungvögel meist nackt und blind. Die Augen und Gehörgänge sind noch verschlossen. Sie sind auf die Wärmezufuhr (hudern) von außen angewiesen und auf eine regelmäßige Fütterung durch die Altvögel. Je nach Vogelart hudern beide Elternteile oder nur das Weibchen. Viele Nesthocker verlassen das Nest erst kurz vor dem Erreichen der Flugfähigkeit. An diesem Punkt heißt der Jungvogel nicht mehr Nestling, sondern Ästling. Die Ästlinge werden weiter bis zum Erreichen der Flugfähigkeit und dann weiter bis zur Selbständigkeit von den Altvögeln gefüttert. Vertreter der Gruppe der Nesthocker sind beispielsweise Störche, Tauben, Greifvögel, Segler, Spechte und alle Singvogelarten. Nestflüchter Diese Jungvögel sind gleich beim Schlupf am ganzen Körper mit Daunen befiedert. Bereits voll entwickelt sind Augen und Ohren. Die meisten Nestflüchterarten können ab Schlupf selbständig Nahrung aufnehmen. Ebenso können sie je nach Art sofort laufen, schwimmen und tauchen. Bereits am 1. oder 2. Lebenstag verlassen sie unter der Führung der Altvögel das Nest. Dieses wird nie wieder aufgesucht. In der Anfangszeit werden sie in der Regel durch die Mutter gehudert. Durch leise Rufe teilen die Altvögel ihren Jungen mit, wo sie sich befinden. Ebenso kommunizieren die Jungvögel mit den Eltern und ihren Geschwistern. Bis zur Selbständigkeit der Nestflüchter verbringt die Familie die Zeit zusammen. Zu den Nestflüchtern gehören beispielsweise Entenvögel und Kraniche. Platzhocker Im Unterschied zu Nesthockern sind Platzhocker beim Schlupf bereits voll befiedert, ihre Augen und Ohren sind voll entwickelt. Sie halten sich im Nest und in dessen unmittelbarer Nähe auf bis zum Erreichen der Flugfähigkeit. Lange Zeit sind sie nicht in der Lage, ihre Körpertemperatur selber zu regeln, weswegen sie lange gehudert werden. Ebenso erreichen sie die Flugfähigkeit erst sehr spät. Wie beim Nesthocker füttern die Altvögel – manchmal nur das Weibchen, seltener nur das Männchen – die Jungvögel, bis jene selbständig sind. Zu den Platzhockern gehören beispielsweise fast alle Möwen und Pinguine. Flugunfähige Vögel Die Flugfähigkeit ist bei einigen Vogelarten bzw. -gruppen sekundär verlorengegangen, das heißt, sie sind flugunfähig. Das kann mehrere Gründe haben: Anpassung an das Leben im Wasser, wie dies bei den auf der Südhalbkugel lebenden Pinguinen der Fall ist. Auch die auf der Nordhalbkugel lebenden Alkenvögel zeigen eine Tendenz zur Flugunfähigkeit, der ausgestorbene Riesenalk war flugunfähig. Beide Gruppen „fliegen“ unter Wasser mit ihren Flügeln. Die Verdauung von energiearmer Nahrung erfordert ein großes und damit schweres Verdauungssystem. Grasfressende Vögel wie Gänse sind daher besonders schwer. Aufgrund des Flugvermögens können Vögel nicht beliebig an Größe zunehmen. Daher gibt es unter entsprechenden Nahrungsspezialisten ebenfalls sekundär flugunfähige Arten wie beispielsweise den Kakapo. Auch die Umstellung auf schnelles Laufen wie beim afrikanischen Strauß und den anderen großen Laufvögeln in Südamerika und Australien kann zu Flugunfähigkeit führen. Als letztes kann auch das Nichtvorhandensein von bodenbewohnenden Raubsäugern eine Flugfähigkeit überflüssig machen. Deshalb haben viele Bewohner isolierter Inseln ihre Flugfähigkeit verloren. Vielen Arten wurde dies aber zum Verhängnis, nachdem durch Seefahrer doch Raubsäuger (z. B. Katzen, Ratten, Schweine usw.) eingeführt wurden. Beispiele dafür sind die inzwischen ausgestorbenen Dronten (Raphus cucullatus) auf Mauritius, der neukaledonische Kagu (Rhynochetos jubatus), die neuseeländische (Porphyrio mantelli) und die ebenfalls flugunfähige Galapagosscharbe (Nannopterum harrisi) sowie die stark gefährdete Südinseltakahe und alle Arten der Kiwis. Sinnesleistungen der Vögel Die Sinnesleistungen der Vögel unterscheiden sich nicht grundlegend von denen der Säugetiere. Allerdings gibt es aufgrund der anderen Lebensweise Unterschiede in der Konstruktion und der Gewichtung der einzelnen Sinne, die es oft schwer machen, sich vorzustellen, wie Vögel ihre Umwelt wahrnehmen. Sehen Die Augen der Vögel sind relativ zur Körpergröße größer als die der Säugetiere. Die meisten Vogelarten können mehr Bilder pro Sekunde unterscheiden als Menschen (siehe Flimmerfusionsfrequenz). In der Vogelhaltung werden daher keine Leuchtstofflampen mit 50 Hertz betrieben, da dieses Licht für Vögel flimmert. Je nach Ökologie besitzen Vogelaugen zahlreiche Spezialanpassungen. Zum Beispiel können Vögel, die ihre Nahrung unter Wasser suchen, ihre besonders weichen Augenlinsen durch Muskeln verformen und so das Brechungsvermögen anpassen. Lichtempfindlichkeit und Sehschärfe Eulen können bei Nacht zwar mehr sehen als Tagvögel oder der Mensch, ihr Sehen ist allerdings weniger auf Sehschärfe als auf Lichtausbeute ausgerichtet. Dies funktioniert aufgrund gleicher Physik wie bei lichtstarken Objektiven, die ebenfalls mit wenig Licht auskommen, sich dabei aber Schärfeprobleme, besonders mit der Schärfentiefe einhandeln. Wanderfalken sind dagegen auf Tagjagd optimiert; sie können kleine Objekte wie Beutevögel über Entfernungen von über einem Kilometer ausmachen und verfolgen. Zumindest kleine Vögel sind in der Lage, UV-Licht zu sehen, bei großen Vögeln wird das UV-Licht vom Glaskörper des Auges zu stark ausgefiltert. Viele Arten besitzen nicht nur drei Farbrezeptoren wie der Mensch, sondern vier Farbrezeptoren (beim Menschen haben sich nach neueren Erkenntnissen der Rezeptor für rotes und der für grünes Licht aus einem gemeinsamen entwickelt, so dass Vögel eigentlich zwei Rezeptoren mehr als Säugetiere haben), davon einer für violettes Licht, der sich bei einigen Vogelgruppen zu einem UV-Rezeptor (um 375 Nanometer) entwickelt hat. Evolutionär ist hierzu nur die Mutation von drei Aminosäuren des Opsins notwendig. Der Nutzen des UV-Lichtes ist sehr unterschiedlich: Mäuse-Urin leuchtet im UV-Bereich, mäusejagende Greife können so von oben eine Landschaft auf ihren Mäusereichtum beurteilen. Bei Früchten kann der Reifegrad mit Hilfe von UV-Licht besser beurteilt werden; manche Schimmelpilze besitzen im UV-Bereich andere Farben und fallen so besser auf. Es gibt einige Vogelarten, bei denen sich die Geschlechter im für uns sichtbaren Licht nicht unterscheiden, wohl aber im UV-Licht. Stare oder einzelne Meisenarten (Blaumeisen) sind dafür ein Beispiel. Räumliches Sehen Je nach ökologischer Anpassung ist die Fähigkeit zum räumlichen Sehen von Art zu Art sehr unterschiedlich. Bei Artengruppen, die unter einem hohen Verfolgungsdruck durch Raubtiere stehen (z. B. Tauben und Hühnervögel), sind die Augen seitlich am Kopf angeordnet. Dies erlaubt einen fast vollständigen Rundblick um 360°, die Überlappung der Sichtfelder und damit die Fähigkeit zum räumlichen Sehen ist aber relativ gering. Das andere Extrem stellen Eulen dar. Bei ihnen sind die Augen nebeneinander an der Vorderseite des Kopfes angeordnet (also wie bei Menschen). Die Sichtfelder der Augen überlappen sehr stark, entsprechend gut ist daher auch das räumliche Sehvermögen. Die geringe seitliche Ausdehnung des Sichtfeldes wird durch eine sehr starke Beweglichkeit der Halswirbelsäule ausgeglichen. Eulen können ihren Kopf um bis zu 270° drehen. Bewegungssehen Viele Vögel wippen beim Gehen mit dem Kopf vor und zurück. Dabei dient die Rückwärtsbewegung dazu, den Kopf für einen Moment relativ zur Umgebung in Ruhe zu halten, sodass das Bild auf der Netzhaut sich nicht bewegt, zugunsten der besseren Erkennbarkeit bewegter Objekte – wie beispielsweise eines Raubtieres. Der Scharfsehbereich ist beim Menschen ca. 2,5°, bei den Vögeln ca. 20°. Auch das verbessert die Wahrnehmung von Bewegungen. Magnetsinn Bei einigen Arten, besonders bei Zugvögeln, aber auch bei Haustauben, wurde ein Sinn für das Erdmagnetfeld nachgewiesen. Dieser Magnetsinn besteht aus zwei unterschiedlichen, einander ergänzenden Mechanismen und ist zum einen im Auge, zum anderen im Oberschnabel lokalisiert. Der Magnetsinn im Auge funktioniert mit Hilfe der sogenannten Radikalpaarbildung. Hierbei lässt das ins Auge fallende Licht bestimmte Moleküle zu Radikalen zerfallen. Diese Reaktion könnte durch das Erdmagnetfeld beeinflusst werden. Der Magnetsinn im Schnabel funktioniert durch eingelagerte magnetische Teilchen, die sich nach dem Magnetfeld der Erde ausrichten und so einen Reiz auf das umliegende Nervengewebe ausüben. Im Unterschied zum technischen Kompass richtet sich der Magnetsinn im Auge der Vögel nicht nach der Polung des Erdmagnetfeldes, sondern basiert auf dem Erkennen des Neigungswinkels der Feldlinien des Magnetfeldes. Experimentell nachgewiesen wurde der Magnetsinn erstmals 1967 am Zoologischen Institut in Frankfurt am Main durch Wolfgang Wiltschko bei Rotkehlchen. Hören Vögel besitzen keine Ohrmuschel, die äußere Gehöröffnung ist von einem Kranz kleiner Federn umgeben. Zur Schallortung müssen Vögel daher intensive Kopfbewegungen ausführen. Das Mittelohr besitzt nur ein Gehörknöchelchen, die Columella, die dem Steigbügel der Säugetiere entspricht. Die Schnecke ist relativ kurz und nur leicht gewunden und wird als Papilla basilaris bezeichnet. Der Hörsinn ist bei Vögeln dennoch relativ gut entwickelt und hat beispielsweise bei Eulen große Bedeutung für die Jagd. Der untere wahrnehmbare Frequenzbereich ist ähnlich wie bei den Säugetieren, hohe Töne ab etwa 6000 Hertz werden von den meisten Vögeln dagegen nicht wahrgenommen. Das zeitliche Auflösungsvermögen für Töne liegt über dem des Menschen. Ornithologen müssen sich bei vielen Lautäußerungen von Vögeln damit behelfen, dass sie sie aufnehmen und verlangsamt abspielen, um die Details hören zu können. Gleichgewichtssinn Vögel besitzen mehrere unabhängige Gleichgewichtsorgane. Neben einem Gleichgewichtsorgan im Ohr sitzt ein zweites Organ im Becken, das zum Beispiel beim Sitzen auf Ästen die Körperlage analysiert. Vögel, bei denen dieses Organ zerstört ist, können ohne Gesichtssinn auf Störungen wie zum Beispiel das Drehen des Sitzastes nicht mehr richtig reagieren. Geruchssinn Sehr lange Zeit ging man von der Vorstellung aus, dass Vögel nur einen gering entwickelten Geruchssinn besitzen (sog. Mikrosmatiker). Als Ausnahme galt der neuseeländische Kiwi, der seine Nasenöffnung an der Schnabelspitze hat und sich vorwiegend nach dem Geruch orientiert. Aber auch die Gruppe der amerikanischen Neuweltgeier besitzt nachweislich Geruchsvermögen. Das wird unter anderem auf die fehlende Nasenscheidewand zurückgeführt und ist in Freilandbeobachtungen und -versuchen bewiesen worden. Geschmackssinn Die Geschmacksknospen der Vögel liegen nicht wie beim Säuger auf der Zunge, sondern im Bereich des Zungengrunds und im Rachen. Die Anzahl der Geschmacksknospen ist deutlich geringer als bei Säugetieren (Ente etwa 200, Mensch 9000), dennoch ist der Geschmackssinn bei Vögeln nicht so untergeordnet wie man lange angenommen hat. Je nach Art spielt der Geschmack gegenüber dem Tastsinn des Schnabels und der Zunge jedoch bei der Nahrungsauswahl eine untergeordnete Rolle. Tastsinn Der Tastsinn ist für viele Vögel bei der Nahrungssuche und Nahrungsaufnahme von großer Bedeutung. Schnabel und Zunge der meisten Vögel sind sehr tastempfindlich. Insbesondere Watvögel suchen ihre Nahrung, indem sie mit meist langen Schnäbeln im Schlamm stochern. Vögel, die auf Bäumen herumklettern, orientieren sich auch tastend mit ihren Zehen. Vogelintelligenz Forschungsergebnisse seit den 1990er Jahren erbrachten, dass Vögel, zumindest aber die Vertreter bestimmter Großgruppen, intelligenter sind, als es bis dahin allgemein angenommen wurde. Die traditionelle Nomenklatur der Anatomie des Vogelhirns beruhte auf der Annahme, dass es sich bei den Strukturen des Vogelhirns um Äquivalente des Gehirns der Säugetiere handelt. Da sich diese Annahme als falsch herausgestellt hat, wurde mittlerweile eine neue Nomenklatur für das Vogelgehirn ausgearbeitet (siehe auch Gehirn und Kognition der Vögel). Hirnorganisch scheint die Vogelintelligenz mit einer im Verhältnis zu Hirnvolumen und -masse sehr hohen Anzahl und Dichte von Neuronen in Zusammenhang zu stehen. So weisen die Gehirne von Sperlings- und Papageienvögeln, die als die intelligentesten gelten, bei gleicher Masse deutlich mehr Neuronen auf als Säugergehirne (einschließlich denen von Primaten). Zudem ist die Hirnmasse und die Neuronenanzahl bei diesen Vögeln im Verhältnis zu ihrer Körpermasse größer als bei Säugetieren (außer bei Primaten). So hat das Wintergoldhähnchen ein Neuntel des Körpergewichts einer Maus, aber sein Gehirn enthält mehr als doppelt so viele Neuronen. Hierbei konzentrieren sich die Neuronen im Großhirn und insbesondere in der Großhirnrinde, die bei Sperlingsvogel- und Papageiengehirnen eine drei- bis vierfach höhere Neuronendichte aufweist als bei Primaten. Das dennoch vergleichsweise geringe Gewicht und Volumen dieser Vogelgehirne resultiert aus einer Verkleinerung der einzelnen Neuronen, wohingegen die Großhirnrinde als größter Teil des Säugergehirns aus relativ wenigen aber relativ großen Nervenzellen aufgebaut ist. Deutliche Unterschiede im Enzephalisationsgrad bestehen aber auch innerhalb der Vögel. Demnach hat ein Bankivahuhn, als Vertreter einer „primitiveren“ Linie der Vögel, die gleiche Anzahl von Neuronen wie eine Kohlmeise, obwohl es ein rund 50-fach höheres Körpergewicht aufweist. Allerdings ist auch bei Hühner- und Straußenvögeln die Neuronendichte in der Großhirnrinde immer noch ungefähr ebenso groß wie bei Primaten. Evolutionär könnte der hohe Enzephalisationsgrad der Sperlingsvögel (insbesondere der großen Rabenvögel) und Papageien unter anderem durch die intensive Brutpflege, die in diesen Gruppen betrieben wird, begünstigt worden sein, durch die den Jungvögeln ausreichend Zeit bleibt, um viele Hirnzellen auszubilden. Viele Vögel können sich im Spiegel nicht erkennen, weshalb sie als Spiegelfechter ihr eigenes Spiegelbild bekämpfen. Vögel und Menschen Etymologie Das gemeingermanische Substantiv mittelhochdeutsch vogel, althochdeutsch fogal hat keine außergermanischen Entsprechungen; seine Herkunft ist nicht sicher geklärt. Mythologie, Redewendungen, Motiv in der Kunst Seit der Menschwerdung hat der Homo sapiens auch die Vögel aufmerksam beobachtet, um sich von ihnen orientieren oder warnen zu lassen, sie zu jagen oder einzufangen. Der afrikanische Honiganzeiger beispielsweise führt Menschen zu den Nestern von Wildbienen, um die Larven zu fressen, während der Mensch vom Honig profitiert. In vielen Kulturkreisen spielen Vogelarten daher in der Mythologie eine Rolle, vom Adler bis zum Sperling. Zu den mythischen Vögeln zählen etwa Phönix, Greif, Ziz (Jüdisch), Roch (Arabisch), Feng (Chinesisch) oder Garuda (Indisch). Daneben seien die Harpyien der griechischen Sagenwelt genannt sowie Wotans Begleiter, die Raben Hugin und Munin. Die Heraldik ist reich an stilisierten mythischen Vögeln. Hier tritt insbesondere der Adler in Erscheinung, der das Wappentier vieler Staaten ist (Deutschland, Österreich, Polen, USA u. a.). In der christlichen Ikonographie spielt der Pelikan eine wichtige Rolle, in der Religion der Jesiden der Blaue Pfau. Vögel erscheinen in vielen Redensarten: Jemand „stinkt wie ein Wiedehopf“ oder ist „zänkisch wie eine Meise“ oder „ist einfach ein Gimpel“, wenn er „jedem auf den Leim geht“ (gemeint hier der Vogelleim). Gestisch kann man ihm „einen Vogel zeigen“. Auch in den Künsten tauchen zahlreiche Vogelarten auf. Ein Beispiel ist Selma Lagerlöfs Roman Die wunderbare Reise des kleinen Nils Holgersson mit den Wildgänsen. Vögel als Nutztiere und Haustiere Der Mensch hält zahlreiche Vogelarten als Nutz- oder Haustiere. Der Verzehr von Geflügel erfüllt eine wichtige Rolle bei der menschlichen Ernährung, denn das Fleisch ist fettarm und liefert hochwertiges Protein. Die Nutzung einheimischer Vogelarten als Haustier nimmt in Deutschland seit dem 19. Jahrhundert jedoch stark ab. Waren es in den 1980er Jahren noch sieben Millionen Ziervögel (ohne Tauben), sind es im Jahre 2018 4,8 Millionen. Diese Zahlen erfassen jedoch nur die durch den Zoofachhandel verkauften Tiere. Eine nicht unerhebliche Anzahl dürften durch Hobby-Vogelzüchter zusätzlich gezüchtet/vermehrt werden. Zier- oder Heimvogel: Es gibt Heimvögel (Papageien), die keiner Haustierart angehören, sondern einer Wildtierart und dennoch in Haushalten gepflegt werden. Ziervögel werden hingegen vornehmlich artgerecht in Volieren, Vogelhäusern oder Zuchtanlagen im Garten gehalten. In der heutigen Zeit wird der Begriff Ziervogel jedoch für alle vom Menschen gehaltenen Vögel (außer Nutzgeflügel) verwendet. Einige Arten, wenn bereits als Jungvögel und im Käfig geduldig dazu angehalten, lernen es auch, Worte und kurze Sätze nachzusprechen, so besonders – nach absteigender Gelehrigkeit geordnet – Papageien und Stare sowie verschiedene Arten der Rabenvögel. Vielfach lassen sie sich abrichten, z. B. Körner oder Obst von den Lippen aufzunehmen bis hin zur Dressur als Nutztier, beispielsweise als Jagdfalke oder Brieftaube. Bis in die 1950er Jahre waren Kanarienvögel in Deutschland wichtige Nutztiere im Kohlebergbau, wo ihr Verhalten vor dem Auftreten giftiger Gase (Kohlenmonoxid) warnte, die beim Stollenvortrieb austreten können. Das direkte Zusammenleben mit Vögeln, insbesondere durch intensiven Kontakt auf engstem Raum, birgt für den Menschen jedoch mitunter Gefahren in Form übertragbarer Krankheiten (Zoonosen). Unter nichthygienischen Bedingungen ist in Einzelfällen in Asien beispielsweise der Erreger der Geflügelpest bzw. der Vogelgrippe H5N1 und der Vogelgrippe H7N9 auf den Menschen übertragen worden, der Krankheitsverlauf endet meist tödlich. Nichtsdestotrotz wird das Hobby der Vogelhaltung und Vogelzucht auch in der Neuzeit ausgeübt. Vogelschutz Viele der ausgestorbenen Arten gehörten zu Inselpopulationen; sie wurden durch den Menschen oder von ihm eingeführte andere Tierarten verdrängt, ein Prozess, der schon vor Beginn der Industrialisierung einsetzte und sich nun verstärkt hat. Gegenwärtig gelten über 10 Prozent der etwa 10.451 rezenten Vogelarten als gefährdet. Sie werden in sogenannten roten Listen aufgeführt. Neue Berechnungen ergaben sogar, dass bis 2100 etwa zwölf Prozent der Arten aussterben könnten. Laut dem European Bird Census Council ist in Europa der Bestand bei den 146 gemessenen Arten zwischen 1960 und 2016 um 14 Prozent zurückgegangen. Betrachtet man nur die Landwirtschaftliche Nutzfläche, belief sich der Rückgang bei den 39 gemessenen Arten gar auf 56 Prozent. In Nordamerika ist die Vogelwelt zwischen 1970 und 2018 um 29 Prozent zurückgegangen. Weltweit arbeitet die Vogelschutz-Organisation BirdLife International mit ihren jeweils nationalen Partnerorganisationen für den Schutz der Vögel und ihrer Lebensräume. In Deutschland ist der Naturschutzbund Deutschland (NABU, der Landesbund für Vogelschutz LBV in Bayern ist angegliedert) der nationale Partner von BirdLife. In der Schweiz arbeiten der Schweizer Vogelschutz SVS, ASPO, ASPU und in Österreich Birdlife Österreich für den Erhalt der Artenvielfalt als BirdLife-Partner. Siehe auch: Das gegenwärtige Massenaussterben Rechtliches zur Haltung von Vögeln in Menschenobhut In Deutschland sind gemäß dem Tierschutzgesetz (TierSchG) die artgemäßen Bedürfnisse eines Vogels in der Haltung zu erfüllen. Die Haltung besonders und streng geschützter Arten sowie die Haltung von Kreuzungen nicht geschützter Arten ist verboten. Greifvogelhybriden dürfen nur innerhalb besonders gesicherter Volieren gehalten werden. Für die Unterbringung von Vögeln, Kleinvögeln, Greifvögel, Laufvögeln und Papageien gibt es jeweilige Mindestanforderungen, herausgegeben vom Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft. In Österreich ist seit dem 1. Januar 2005 nach dem Tierschutzgesetz (TSchG) die Haltung von Vögeln in Menschenobhut strenger reglementiert als bisher. Insbesondere für nicht domestizierte Vögel wie Greifvögel, Papageien und viele andere ist nur mehr die artgerechte Haltung erlaubt, vielen arttypischen Bedürfnissen muss nun nachgekommen werden. Unter anderem ist die Einzelhaltung sozialer Vögel und das Einschränken der Flugfähigkeit (Flügelstutzen) – bis auf wenige Ausnahmen – generell verboten, Mindestgrößen für Käfige, Volieren und Schutzräume sind für die verschiedenen Arten festgelegt, wobei im Wesentlichen für domestizierte Vögel wie Hühner oder Wellensittiche kleinere Gehege zulässig sind. Handaufzuchten sind nur mehr in Ausnahmefällen, und dann nur mit Nestlingen (zur Vermeidung von Fehlprägungen) zulässig. In der Schweiz ist für die Vogelhaltung in Menschenobhut eine Bewilligung von kantonaler Ebene notwendig. Geschützte Vogel dürfen nur zu dem Zweck gehalten werden, wenn die Haltung der Wiederauswilderung dient. Bei Vogelgrippegefahr ist die Haltung von Vögeln im Freien verboten. Bei der Haltung von nicht gefährdeten Vögeln müssen die tatsächlichen Bedürfnisse der Tiere erfüllt werden. Siehe auch Vogelgesang Vogelwarte Liste der neuzeitlich ausgestorbenen Vögel Literatur Der große Kosmos-Vogelatlas. Über 450 Arten in Wort, Bild und Ton. Version 3.0. CD-ROM, United Soft Media Verlag, München 2001, ISBN 3-8032-1742-3. William Geoffrey Arnott: Birds in the ancient world from A to Z. Routledge, London / New York 2007. – Rez. von Roberto Batisti in: Eikasmós. 19, 2008, S. 517–519 (online). Einhard Bezzel, Roland Prinzinger: Ornithologie. Verlag Eugen Ulmer, Stuttgart 1990, ISBN 3-8252-8051-9. Colin Harrison: Jungvögel, Eier und Nester der Vögel Europas, Nordafrikas und des Mittleren Ostens. AULA Verlag, Wiebelsheim 2004, ISBN 3-89104-685-5. Roger Lederer, Carol Burr: Latein für Vogelbeobachter: über 3000 ornithologische Begriffe erklärt und erforscht. Aus dem Englischen übersetzt von Susanne Kuhlmannn-Krieg, Verlag DuMont, Köln 2014, ISBN 978-3-8321-9491-8. Christoph Moning, Thomas Griesohn-Pflieger, Michael Horn: Grundkurs Vogelbestimmung. Eine Einführung zur Beobachtung und Bestimmung unserer heimischen Vögel. 2. Auflage. Quelle & Meyer Verlag, Wiebelsheim 2013, ISBN 978-3-494-01535-4. Detlef Singer: Die Vögel Mitteleuropas. Kosmos Naturführer. Franckh Verlag, Stuttgart 1988, ISBN 3-440-05906-5. Hugo Suolahti: Die deutschen Vogelnamen. Eine wortgeschichtliche Untersuchung. Straßburg 1909. Lars Svensson: Der neue Kosmos Vogelführer: Alle Arten Europas, Nordafrikas und Vorderasiens. Franckh-Kosmos Verlag, Stuttgart 1999, ISBN 978-3-440-07720-7. Weblinks Avibase – Die Welt-Vogel-Datenbank (etwa 10.000 Arten) Handbook of the Birds of the World and BirdLife International digital checklist of the birds of the world: Version 9.1 (June 2017) Jungvogel gefunden – was tun? (PDF; 155 kB) Schweizerische Vogelwarte, alles rund um Vögel https://ebird.org/ Roland Knauer: Wie Vögel das Magnetfeld im Auge behalten in Spektrum.de vom 23. Juni 2021 Vogelstimmen Häufige Gartenvögel und ihre Stimmen mit Quiz Vogelstimmen.de vogelstimmen-wehr.de Einzelnachweise
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2,526.16656
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https://de.wikipedia.org/wiki/Muslimbr%C3%BCder
Muslimbrüder
Die Muslimbruderschaft oder Moslembruderschaft, genannt auch Muslimbrüder (), ist eine der einflussreichsten sunnitisch-islamistischen Bewegungen im Nahen Osten. Sie wird teilweise als radikal-islamistische Organisation eingestuft. Die Muslimbruderschaft gilt als die erste revolutionäre islamische Bewegung. Seit der Gründung 1928 in Ägypten hat sich die Muslimbruderschaft in der gesamten arabischen Welt verbreitet und ist dort vielerorts ein einflussreicher politischer Akteur, beispielsweise in Syrien (syrische Muslimbrüder), Libyen (Partei für Gerechtigkeit und Aufbau), Tunesien (Ennahda), Algerien (algerische Hamas), Jordanien (Islamische Aktionsfront), im Gazastreifen (Hamas) und im Sudan (Nationale Kongresspartei). Die größten staatlichen Unterstützer sind die Türkei und Katar. Manche anderen autoritären Regierungen arabischer Länder sehen sich durch sie dermaßen in ihrer Macht bedroht, dass sie heute dort als Terrororganisation gelten und verboten sind, beispielsweise in Saudi-Arabien und den Vereinigten Arabischen Emiraten sowie seit dem dortigen Umsturz 2013 auch im Gründungsland Ägypten. Geschichte in Ägypten Ägypten unter kolonialer Vorherrschaft Ägypten war seit 1517 eine osmanische Provinz und wurde lange von Einflüssen aus dem islamisch-arabischen Raum, Afrika und aus Europa geprägt. Die Eroberung Ägyptens 1798 durch Napoleon verschob diese Balance jedoch deutlich in Richtung Europa. Auch wenn die Herrschaft Frankreichs nur von kurzer Dauer war, markierte die Intervention einen grundlegenden Umbruch für Ägypten und die islamische Welt. Der militärisch mühelos errungene Sieg Frankreichs zerstörte die Illusion der Überlegenheit der islamischen Welt und zog ungeheure ökonomische und soziale Folgen nach sich. Napoleon leitete eine Reihe von Reformen zur Modernisierung des Landes ein. Nach dem Abzug Frankreichs gelangte Muhammad Ali Pascha 1805 an die Macht, regierte das Land als osmanischer Statthalter und begründete die bis 1953 herrschende Dynastie. 1882 nutzten die Briten eine Revolte der Armee als Vorwand, um das Land zu besetzen und den Sueskanal zu übernehmen. Ägypten war nun zwar noch formal ein Teil des Osmanischen Reichs, wurde aber tatsächlich britisch regiert. Als Reaktion auf Napoleons Besetzung traten im Laufe des 19. Jahrhunderts mehrere Denkschulen für den richtigen Modernisierungspfad des Landes hervor. Einige Intellektuelle bedienten sich der islamischen Vergangenheit des Landes, während andere sich wiederum an der europäischen Aufklärung orientierten. Ein dritter Weg versuchte die ersten beiden in Einklang zu bringen und argumentierte, dass weder die vollständige Nachahmung noch die vorbehaltlose Ablehnung europäischer Ideen der richtige Weg für eine ägyptische Renaissance sein könnten. Der Kolonialismus der europäischen Nationen, der den islamischen Ländern eine gleichberechtigte Teilnahme an der Moderne versagte, führte jedoch ab den 1870ern zunehmend zu einer Rückbesinnung auf islamische Werte. Der Perser Dschamal ad-Din al-Afghani (1838–1897) formulierte den Gedanken, der Islam sei nicht nur eine Religion, sondern ein Zivilisationsmodell, das alle für eine Modernisierung notwendigen Elemente enthalte. Für Afghani bedeutete dies eine Rückkehr zu den vom Propheten im Koran niedergeschriebenen Prinzipien und er entwickelte darauf aufbauend das Konzept eines islamischen Sozialismus, der im Gegensatz zum westlichen Sozialismus in der Religion verwurzelt sei. Damit wurde Afghani zu einem bedeutenden Vordenker des Islamismus. Am Ende des 19. Jahrhunderts entstand eine Nationalbewegung und verband sich mit den Zielen des Anti-Kolonialismus. Anfang des 20. Jahrhunderts wurden eine Reihe liberaler und nationaler Parteien gegründet. Trotz der Verbreitung liberaler Ideale war die britische Herrschaft autoritär geprägt und behinderte die Entstehung einer liberalen und offenen Gesellschaft. 1919 brach eine Revolution gegen die britische Kolonialherrschaft aus. Dieser Aufstand wurde von einer neuen Generation von säkularen liberalen Nationalisten unter Saad Zaghlul angeführt. Die Briten reagierten zunächst mit Härte, waren aber nach landesweiten Demonstrationen und Streiks gezwungen, auf die Forderungen einzugehen. Am 28. Februar 1922 wurde die Unabhängigkeit Ägyptens von der britischen Regierung im Prinzip anerkannt und als Königreich Ägypten in die staatliche Souveränität entlassen. Die Verfassung konzentrierte jedoch einen erheblichen Anteil der Macht in der Person des Königs und enthielt Einschränkungen, die es den Briten weiterhin erlaubte, sich in interne Angelegenheiten des Landes einzumischen. Dies führte dazu, dass sich die regierende Wafd-Partei unter Zaghlul in den nächsten zwanzig Jahren ständig von den Bemühungen des Palasts, eine königliche Herrschaft herzustellen, bedroht sah. Darüber hinaus versuchten die Briten, den Einfluss der Wafd-Partei einzudämmen, um britische Interessen zu schützen. Das führte zu einer Untergrabung der Legitimität der Regierung und förderte den Aufstieg von nationalistischen und islamistischen Gruppierungen ab den 1930ern. Gründung und Ausbreitung im Königreich Ägypten (1928 bis 1952) Wie Hasan al-Bannā selbst in seinen Memoiren schreibt, gründete er die Muslimbruderschaft im März 1928 in Ismailia zusammen mit sechs anderen Männern, die unter dem Eindruck seiner Vorträge standen, die Vorherrschaft der Briten in Ägypten beklagten und sich aktiv für die Stärkung des Islams und der Umma einsetzen wollten. Man leistete einen Treueid auf Gott und schwor, als Brüder leben und sich ganz in den Dienst des Islam stellen zu wollen. Um sich von bisherigen formalistischen Organisationsformen zu unterscheiden – Gesellschaft, Club, Orden oder Gewerkschaft, wählten die Männer für ihre auf Ideen und Aktivitäten ausgerichtete Gemeinschaft den einfachen Namen al-Ichwān al-Muslimūn, die „Muslim-Brüder“. Ziel der neuen Gemeinschaft war die Verbreitung islamischer Moralvorstellungen und die Unterstützung wohltätiger Aktionen und sozialer Einrichtungen, aber auch die Befreiung des Landes von der fremden Okkupation sowie der Kampf gegen die britisch-westliche „Dekadenz“, die sich im Lande ihrer Meinung nach offenbarte. Anfangs war die Bruderschaft eine religiöse Gesellschaft, die im Umfeld säkularistischer Tendenzen und Ansprüche Großbritanniens ihre islamischen Moralvorstellungen verbreiten wollte und wohltätige Aktionen unterstützte. Schon um die Wende zum 20. Jahrhundert begannen Vorläufer der späteren Muslimbruderschaft in Ägypten drei Thesen zu verbreiten: Die Entstehung der europäischen Renaissance beruhe auf einer Begegnung des Westens mit dem Islam; seit dem 19. Jahrhundert betreibe der Westen eine „kulturelle Offensive“ gegen die arabische Welt, mit dem Ziel, deren Verhältnis zum Islam zu zerstören und sie ohne militärischen Einsatz zu beherrschen; im Westen gebe es eine vorherrschende dekadente Tendenz, und der Islam werde in naher Zukunft eine Führungsrolle übernehmen. In den 1930er Jahren politisierte sich die Bruderschaft stärker und setzte sich für das Ziel der Rückkehr zum ursprünglichen Islam und der Errichtung einer islamischen Ordnung ein. Sie sah die Religion als bedroht an und wollte nur diejenigen als legitime Herrscher anerkennen, die in Übereinstimmung mit der Scharia regierten. Al-Banna wandte sich 1936 mit dieser Zielsetzung in seinem Traktat „Aufbruch zum Licht“ (naḥwa n-nūr) an den ägyptischen König und andere arabische Staatsoberhäupter. Er trat auch für den bewaffneten, offensiven Dschihad gegen Nicht-Muslime und deren Helfer ein. 1938 führte die „Bruderschaft“, unter den antisemitischen Parolen „Nieder mit den Juden“ und „Juden raus aus Ägypten“, gewalttätige Proteste gegen Juden durch. 1938 erschien al-Bannas Werk „Die Todesindustrie“, in welchem die Abwendung vom Leben radikalisiert und die Verherrlichung des Märtyrertums entfaltet wird: „Derjenigen Nation, welche die Industrie des Todes perfektioniert und die weiß, wie man edel stirbt, gibt Gott ein stolzes Leben auf dieser Welt und ewige Gunst in dem Leben, das noch kommt. Die Illusion, die uns gedemütigt hatte, besteht in nichts anderem als der Liebe zum weltzugewandten Leben und dem Hass auf den Tod.“ (al-Banna) Al-Banna formulierte die Grundüberzeugungen der Muslimbrüder in fünf Sätzen: „Gott ist unser Ziel. Der Prophet ist unser Führer. Der Koran ist unsere Verfassung. Der Dschihad ist unser Weg. Der Tod für Gott ist unser nobelster Wunsch.“ Diese Leitsätze verwenden die Muslimbrüder bis zum heutigen Tag als Motto. Der Unterwerfung der Mitglieder der Muslimbruderschaft unter diese Ziele entspricht, dass sie sich in absolutem Gehorsam der Führung der Bruderschaft unterwerfen. Die Bruderschaft wuchs sehr rasch und breitete sich auch in Nachbarländern aus. Ende der 1930er Jahre noch eine Gruppe von wenigen Hundert, hatte sie 1941 schon ungefähr 60.000, 1948 ungefähr 500.000 Mitglieder und Hunderttausende Sympathisanten. Sie war streng hierarchisch organisiert, hatte eigene Moscheen, Firmen, Fabriken, Krankenhäuser und Schulen und besetzte wichtige Posten in Armee und Gewerkschaften. Sie legte viel Wert auf Bildung und Ausbildung im Sinne ihrer islamischen Gesellschaftsvision. So gelang es ihr, großen Einfluss im ägyptischen Staat zu gewinnen. Von 1938 bis zum Kriegsbeginn 1939 erhielt die Muslimbruderschaft über den deutschen Agenten in Kairo Wilhelm Stellbogen finanzielle Unterstützung durch das Deutsche Reich. Die deutsche Regierung subventionierte mehrere ägyptische antibritische Gruppen, die Bruderschaft erhielt jedoch die höchsten Zahlungen. Die Bruderschaft verwendete die Mittel für Waffenkäufe und Propaganda im Sinne des sich abzeichnenden Nahostkonflikt im damaligen britischen Mandatsgebiet Palästina. Am Arabischen Aufstand in Palästina beteiligten sich bereits Muslimbrüder als freiwillige Kämpfer. Aus deren Zellen entstand später der militärische Arm der Organisation. Anfang der 1940er Jahre richtete die Bruderschaft einen geheimen militärischen Apparat ein. Sie beteiligte sich an antibritischen Aktionen. Nach Anschlägen von Muslimbrüdern und der Aufdeckung des Geheimbunds verbot Premierminister Mahmud an-Nukraschi Pascha im Dezember 1948 die Bruderschaft, woraufhin er selbst kurz darauf einem Anschlag der Bruderschaft zum Opfer fiel. Die Behörden reagierten ihrerseits mit verstärkter Verfolgung. Al-Banna wurde schließlich am 12. Februar 1949 in Kairo, wahrscheinlich im Auftrag des ägyptischen Königshauses, erschossen; der Attentäter wurde nicht gefasst. Salih Aschmawi wurde für kurze Zeit al-Bannas Nachfolger als Kopf der Bruderschaft. Schon 1950 wurde die Bruderschaft rehabilitiert und die Gefangenen freigelassen. Unter dem neuen Führer Hasan al-Hudaibi verfolgte sie weiter ihre Ziele: Bildung und soziale Verbesserungen für die Massen, eine national ausgerichtete Wirtschaft sowie die Befreiung und Einheit der arabischen Welt. Anfang der 1950er Jahre führte der Widerstand der Bruderschaft gegen die Briten zu einem regelrechten Kleinkrieg. Nach der Revolution der „Freien Offiziere“ und unter Nasser Die Muslimbruderschaft unterstützte auch den Staatsstreich der „Freien Offiziere“ im Juli 1952. Einige der Offiziere, darunter Anwar as-Sadat, waren sogar selbst Muslimbrüder. Bald nahmen die Spannungen zwischen der Bruderschaft und der neuen Regierung unter Präsident Nasser zu, auch intern gab es Konflikte. Schließlich kam es zur Eskalation, und die Regierung verbot am 14. Januar 1954 erneut die Bruderschaft, ließ sie jedoch schon im März wieder zu. Trotzdem verübte die Bruderschaft am 26. Oktober 1954 ein Attentat auf Staatspräsident Nasser, das jedoch erfolglos blieb. Daraufhin folgten brutale Repressionen; viele Anhänger wurden verhaftet. Es war Zainab al-Ghazali und ihr Frauennetzwerk, das in dieser Zeit die Verbindung zwischen den inhaftierten Muslimbrüdern und der Außenwelt aufrechterhielt. Allerdings wurde al-Ghazali 1965 selbst verhaftet und wegen ihrer politischen Aktivitäten zum Tode verurteilt. Unter denen, die 1954 verhaftet wurden, gehörte auch der 1951 der Muslimbruderschaft beigetretene Ideologe Sayyid Qutb. Er entwickelte in seiner Haftzeit eine neue, militantere Ideologie: In seinen Hauptwerken, dem Korankommentar „Im Schatten des Korans“ und der Kampfschrift „Zeichen auf dem Weg“ erklärte er, auch muslimische Gesellschaften könnten sich im Zustand der (vorislamischen) „Unwissenheit und Ignoranz“ (Dschāhilīya) befinden und dürften daher von rechtgläubigen Muslimen gestürzt werden, um einen islamischen Staat zu errichten. Nach kurzzeitiger Freilassung und Wiederfestnahme 1965 im Rahmen einer neuen Verfolgungswelle nach Aufdeckung eines Verschwörungsplans wurde Qutb 1966 schließlich hingerichtet. Ein weiterer Ideologe der Muslimbruderschaft, der unter Nasser hingerichtet wurde, war der Zivilrichter ʿAbd al-Qādir ʿAuda. Er hatte in seinen Schriften die Auffassung vertreten, dass Muslime verpflichtet sein, für eine Scharia-Gesetzgebung zu kämpfen und Gesetze, die zu ihr im Widerspruch stehen, zu bekämpfen. Besonders der Zusammenbruch des Nasserismus nach dem Sechstagekrieg 1967 und der „Export“ ägyptischer Lehrer und Techniker auf die arabische Halbinsel im Zuge des Ölbooms nach 1973 stärkte den Einfluss der Muslimbrüder wieder. Duldung unter Sadat Präsident Sadat entließ 1971 wichtige Anführer der Muslimbruderschaft aus den Gefängnissen, darunter auch Zainab al-Ghazali, und duldete, dass die Organisation wieder aktiv wurde, ohne das Verbot aber offiziell aufzuheben. Vor allem an den Universitäten, aber auch unter den verarmten Landflüchtlingen hatte die Bruderschaft weiterhin großen Erfolg – ihre Zahl wird zu dieser Zeit auf eine Million Aktive und mehrere Millionen Sympathisanten geschätzt. Ab 1972 übernahm Umar at-Tilimsani die Führung der Muslimbruderschaft und propagierte den gewaltlosen Kampf. 1976 legalisierte Sadat zwei Zeitschriften der Muslimbruderschaft, ad-Daʿwa („der Ruf“) und al-Iʿtiṣām („Die Bewahrung“), die sich hernach zu wichtigen Plattformen der Kritik an Sadats Politik der wirtschaftlichen Liberalisierung und verbesserten Beziehungen zum Westen entwickelten. Nachdem sich Ende der 1970er Jahre die radikalen Gruppen Takfīr wa-l-Hidschra (Erklärung zu Ungläubigen und Auswanderung) und Islamischer Dschihad (al-Dschihad al-Islāmī) abspalteten, zählte die ägyptische Bruderschaft eher zu den gemäßigten islamistischen Organisationen, die Gewalt als Mittel der Politik grundsätzlich ablehnt, aber sie ausdrücklich im Kampf gegen „Besatzer“ billigt. Diese Einschränkung zielt insbesondere gegen Israel. Sadat führte als Zugeständnis an die Islamisten zum Teil die Scharia als offizielles Strafrecht ein und schuf einen religiösen Rat (Schura). Im Artikel 2 der ägyptischen Verfassung wurde die Scharia zur Grundlage des ägyptischen Gesetzes erklärt Dennoch agitierte die Bruderschaft gegen Sadat. Deshalb ließ er im September 1981 etwa 1.000 Muslimbrüder verhaften. Anfangs wurden die Muslimbrüder auch verdächtigt, für Sadats Ermordung am 6. Oktober 1981 verantwortlich zu sein, was sich jedoch als falsch erwies. Wahlerfolge unter Mubarak Sadats Nachfolger Mubarak entließ im Januar 1982 einen Großteil der gemäßigten Muslimbrüder wieder aus den Gefängnissen. Losgelöst von ihrer Bedeutung als politischer Gruppierung, hat sich die Muslimbruderschaft im Laufe der Zeit auch zu einer treibenden Kraft der ägyptischen Wirtschaft entwickelt. Eingeleitet worden ist dieser Trend bereits in den 1970er Jahren durch den neuen (innen)politischen Kurs Anwar as-Sadats. Viele der Muslimbrüder, die vor den Verfolgungen durch Präsident Nasser ins Ausland geflohen und dort zu Wohlstand gekommen waren, kehrten nach dessen Tod nach Ägypten zurück und begannen nun, ihr angespartes Kapital in eigene Unternehmen zu investieren. Heute sollen sich unter den 18 Unternehmerfamilien und deren Teilhabern, welche als die eigentlichen Kontrolleure der ägyptischen Wirtschaft gelten, angeblich acht Muslimbrüder befinden. Ende der 1980er Jahre verfügten alle von der Muslimbruderschaft kontrollierten Unternehmen im In- und Ausland über ein geschätztes Kapital von zusammen 10–15 Milliarden US$. 1986 übernahm Hamid Abu Nasr die Führung der Muslimbruderschaft. 1984 und 1987 beteiligte sich die Bruderschaft mittels Allianzen mit großem Erfolg an den Parlamentswahlen. Bei der Wahl von 1987 gewannen mit der Muslimbruderschaft verbundene Kandidaten 38 der 444 Sitze der Volkskammer, indem sie sich für die Ägyptische Arbeitspartei bzw. die Sozialistische Liberale Partei aufstellen ließen. Vor der Parlamentswahl im November 1995 formulierte die Muslimbruderschaft ein „Kompendium demokratischer Ziele“, die in 15 Leitprinzipien dargelegt sind. Dazu zählen die Unterstützung freier und fairer Wahlen, Religionsfreiheit, Meinungs- und Versammlungsfreiheit sowie die Unabhängigkeit der Justiz. Die Regierung stellte jedoch sicher, dass die Muslimbruderschaft nicht ins Parlament einzog. Von den 150 Kandidaten der Bruderschaft, die als Unabhängige bzw. für die Arbeitspartei kandidierten, wurde keiner gewählt. Einige den Muslimbrüdern nahestehende Kandidaten wurden sogar verhaftet. Anfang 1996 wurde Mustafa Maschhur neuer Führer der Muslimbruderschaft. Da sie nicht als Partei antreten durfte, trat die Bruderschaft auch bei den nachfolgenden Wahlen mit unabhängigen Kandidaten auf. Bei der Parlamentswahl 2000 konnte sie mit 17, bei der Wahl 2005 mit 88 Abgeordneten in die Volksvertretung einziehen und wurde damit zur stärksten Oppositionskraft. Im Wahlkampf befürworteten ihre Vertreter ausdrücklich die Grundsätze von Demokratie und Pluralismus. Insbesondere seit 2005 hat die Bewegung mit ihrem Engagement im ägyptischen Parlament international für Aufsehen gesorgt, als sie entgegen den Erwartungen vieler Experten beträchtliche Bemühungen unternahm, das politische System zu einem demokratischeren hin zu reformieren. Beispielsweise Samer Shehata von der Georgetown University und Joshua Stacher von der American University in Cairo würdigten diesen Einsatz in einer ausführlichen Analyse im Middle East Report. Sie schrieben zusammenfassend: . Im Jahr 2008 verabschiedete das Parlament in Ägypten ein Gesetz, welches die Beschneidung von Mädchen und die Hochzeit unter 18 Jahren verbot. Dies stieß auf scharfe Kritik der damals offiziell verbotenen Muslimbruderschaft, welche das Verbot als Widerspruch zum Islam sieht. Die Muslimbrüder haben heute in Ägypten etwa eine Million aktive Mitglieder und unterhalten verschiedene karitative Einrichtungen wie Krankenhäuser und Sozialstationen, vor allem in den ärmeren Vierteln. Armenspeisungen und die Schaffung von Arbeitsplätzen für Jugendliche haben dazu geführt, dass die Muslimbrüder insbesondere aus den unteren Schichten Unterstützung erfahren. Revolution in Ägypten (ab 2010) Seit Anfang 2010 ist Mahmoud Hussein der Generalsekretär der ägyptischen Muslimbrüder. Die Muslimbrüder unterliegen seit einigen Jahren einer Transformation: Während ältere Mitglieder eher eine Theokratie als System bevorzugen, fordern junge bekannte Vertreter hingegen überwiegend die Einführung einer Demokratie mit islamischen Elementen. Diese Differenzen sorgten auch für eine unterschiedliche Beteiligung während der Revolution in Ägypten 2011, in der die Muslimbrüder als Organisation eine eher untergeordnete bzw. passive Rolle einnahmen. Jüngere Muslimbrüder nahmen zum Teil an den Protesten teil und distanzierten sich unter anderem vom Gedanken der möglichen Einführung der Scharia über das bisher geltende Maß hinaus. Als Folge dessen wurden einige von ihnen aus der Muslimbruderschaft ausgeschlossen und gründeten die Ägyptische Strömungspartei. Die Muslimbrüder selbst erklärten, dass sie in Ägypten die Idee eines Religionsstaates ablehnen würden. Zunächst erklärten sie, sich im Falle eines Regimewechsels nicht an einer neuen Regierung beteiligen zu wollen. Ein Gesprächsangebot von Mubaraks Vizepräsidenten Omar Suleiman an alle Oppositionsgruppen lehnte der Vorsitzende der Muslimbruderschaft Muhammad Badi’e zunächst ab, solange Mubarak noch im Amt sei. Diese Position wurde später revidiert zugunsten eines Gipfeltreffens Oppositioneller mit der Regierung. Im Gegensatz zu den säkularen Kräften in der Opposition sprachen sich die Muslimbrüder in Ägypten im Mai 2011 gegen eine Verschiebung der Wahlen und eine vorherige Ausarbeitung einer neuen Verfassung aus. Die Proteste für eine Änderung des Wahlrechts, um die Wahl früherer Politiker des Mubarak-Regimes zu verhindern, unterstützen sie hingegen. Als sich das Ende der Regierung Mubaraks abzeichnete, gründeten die Muslimbrüder am 30. April 2011 die Freiheits- und Gerechtigkeitspartei, deren Generalsekretär Saad al-Katatni wurde. Bei den Parlamentswahlen Ende 2011 errang die Partei knapp die Hälfte der Parlamentsmandate. Regierung Mohammed Mursis (2012–2013) Zur Präsidentschaftswahl in Ägypten 2012 wollte die Partei den Vize-Chef der Muslimbruderschaft, Chairat el-Schater, als Kandidat aufstellen, welcher jedoch von der Wahlkommission nicht zugelassen wurde. Als Reservekandidat wurde daher der Vorsitzende der Partei, Mohammed Mursi, ins Rennen geschickt, welcher ebenfalls der Führungsriege der Muslimbruderschaft angehört hatte. Er konnte die Wahl für sich entscheiden und war vom 30. Juni 2012 bis zu seinem Sturz am 3. Juli 2013 Präsident Ägyptens. Zwar beendete Mursi mit Bekanntwerden seines Wahlsieges seine Mitgliedschaft in der Freiheits- und Gerechtigkeitspartei und bei den Muslimbrüdern, da er nach eigenen Angaben Präsident aller Ägypter sein wollte, doch stellten die Muslimbrüder somit faktisch den ersten frei gewählten Staatschef Ägyptens. Das politische Erfolgsrezept der Muslimbrüder war offensive Wohltätigkeit verbunden mit zur Schau gestellter strenger Religiosität. Dieses äußerst kapitalintensive Wahlkampfrezept konnte beeindruckende Einzelprojekte hervorbringen, weil viele Muslimbrüder wohlhabend sind und die Muslimbrüder über ein internationales Unterstützernetzwerk verfügen. Viele Ägypter wählten die Muslimbrüder, weil sie glaubten, dass diese dann viel mehr wohltätige Projekte durchführen würden. Dafür fehlten aber die finanziellen Mittel. Hinzu kam eine schwere Wirtschaftskrise während der Amtszeit Mursis, so dass die Zahl der Ägypter, die unter oder an der Armutsgrenze leben, auf 40 Millionen anstieg. Hinzu kamen steigende Lebensmittel- und Treibstoffpreise. Reiche arabische Länder verloren das Vertrauen in die ägyptische Regierung und kürzten die Finanzhilfen. Statt die wirtschaftlichen und sozialen Probleme anzugehen, befasste sich der erste Gesetzesentwurf der Regierung Mursi mit der Aufhebung des Verbots der Genitalverstümmelung von Frauen, was säkulare Gruppen grundsätzlich kritisierten – die Mehrheit der Ägypter sah darin zumindest eine falsche Prioritätensetzung. Mursis Amtszeit war stark von dem Bemühen der Regierung geprägt, die Macht der Islamisten in Ägypten auf lange Sicht zu festigen. Im Dezember 2012 versuchte Mursi, sich per Dekret Sondervollmachten zu geben, die ihn über jegliche Gesetze erhoben hätten. Demonstrationen wurden von bewaffneten Einheiten der Muslimbrüder gewaltsam aufgelöst, wobei dutzende Demonstranten getötet wurden. In der Folge anhaltender Proteste zum ersten Jahrestag des Machtantritts Mohammed Mursis setzte die Armeeführung ihn nach einem eindringlichen Ultimatum am 3. Juli 2013 ab und ernannte am nächsten Tag den zivilen Übergangspräsidenten Adli Mansur. Anhänger Mursis riefen zu massiven Protesten auf, die in Gewalt ausarteten und blutig niedergeschlagen wurden. Muslimbrüdern, die zur Gewalt aufgerufen hatten, wurde der Prozess gemacht, andere tauchten in den Untergrund ab. Nach Abflauen der Massenproteste der Islamisten bemühte sich die Übergangsregierung um Rückkehr zur Normalität. Erneutes Verbot der Muslimbrüder 2013 und Einstufung als Terrororganisation Die Muslimbrüder wurden per Gerichtsbeschluss am 23. September 2013 verboten. Bereits am Anfang des Monats September hatte ein Militärgericht 52 Anhänger der Bruderschaft zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt. Am 25. Dezember 2013 stufte die ägyptische Regierung die Muslimbruderschaft als Terrororganisation ein. Diese wurde zuvor beschuldigt, für den Bombenanschlag auf ein Polizeigebäude in Al-Mansura, bei dem 16 Menschen starben, verantwortlich zu sein. Ende April 2014 verurteilte das Gericht in al-Minya in einem Massenprozess 683 Anhänger des abgesetzten früheren Präsidenten Mohammed Mursi zur Todesstrafe durch Hängen, darunter auch den Vorsitzenden Muhammad Badi’e; zuvor waren im März 2014 in einem ähnlichen Massenverfahren 529 Mursi-Anhänger zum Tode verurteilt worden. Andere Länder Die Bruderschaft zählt neben dem sogenannten Wahhabismus zu den einflussreichsten Elementen des Islamismus. Mitglieder der Bruderschaft waren zeitweise Umar Abd ar-Rahman, der später die radikalere al-Dschamaʿa al-islamiyya gründete, und Aiman az-Zawahiri, der heute als erster Mann bei al-Qaida gilt und die Muslimbrüder dafür anprangert, dass sie inzwischen zu Wahlen antreten. Laut Selbstdarstellung der Bruderschaft gibt es Zweige in über 70 Ländern der Welt. Die US-amerikanische Denkfabrik Nixon Center glaubte 2007, dass die Muslimbruderschaft ein potenzieller Alliierter der Vereinigten Staaten im Nahen Osten werden könnte, weil sie einen globalen Dschihad ablehnten und Demokratie befürworteten. Das Nixon Center wies dabei auf eigene Zweifel hinsichtlich eines glaubwürdigen Engagements der Muslimbrüder für Demokratie und auf eine sehr große Bandbreite der vertretenen Positionen hin. Palästina Schon in den 1930er Jahren unterstützte die Bruderschaft die Araber in Palästina. Seit 1946 gibt es im vormaligen Transjordanien einen Organisationsableger. Bis 1947 gab es in Palästina allein 25 Zweigstellen mit 20.000 Mitgliedern. Die Bruderschaft nahm 1948 am Krieg gegen Israel teil. Die Hamas ist heute eine Tochterorganisation der Muslimbrüder. Die Hamas führte 40 Prozent der Anschläge auf israelische Autobusse, Nachtclubs und Kaffeehäuser aus, bei denen mehr als tausend Israelis starben. Der Terrorkrieg verlor an Intensität im Zuge der schleppenden Friedensverhandlungen, aber auch weil Israel das Westjordanland mit Sperranlagen von Israel abriegelte, die einen unkontrollierten Grenzübertritt stark erschwert. 2005 erreichte Hamas bei der Wahl zum palästinensischen Legislativrat die Mehrheit der Stimmen im Gazastreifen und stellt seitdem dort die Regierung und errichtete eine islamistische Diktatur. 2006 führte Israel Luftangriffe auf Führungspersonen der Hamas aus, die Hamas griff Israel mit Raketen an. Daraus entstand 2008/2009 ein dreiwöchiger offener Krieg zwischen Israel und der Hamas, dem die Hamas nicht standhalten konnte. In der Folgezeit riegelte Israel den Gazastreifen ab. Daraufhin organisierte das internationale Netzwerk der Muslimbruderschaft Hilfsflottillen. Syrien In Syrien wurde der Zweig der Bruderschaft 1937 von Gelehrten um Mustafa as-Siba'i (1915–1964) gegründet, die Mitglieder der ägyptischen Bruderschaft waren. Nach ihrem Aufstand und dem Massaker von Hama 1982 kamen die Aktivitäten der Muslimbrüder in Syrien unter Ali Sadreddin al-Bajanuni nahezu völlig zum Erliegen. Im Bürgerkrieg in Syrien gelangen den Muslimbrüdern keine militärischen Erfolge. Hier waren radikal salafistische Gruppen wie Al-Qaida oder der Islamische Staat viel erfolgreicher. Tunesien In Tunesien gibt es die „Bewegung der Erneuerung“ (En-Nahda) als Ableger. Die Ennade errang im Oktober 2011 bei der ersten freien Wahl in Tunesien 41,5 Prozent der Stimmen und formte mit säkularen Parteien eine Regierung, die eine Verfassung schuf, die nicht speziell auf islamischem Recht basiert. Später kam es zur Ermordung von zwei Führern der liberalen Opposition, und es gab Vermutungen, Ennahda würde sich mit radikalen Islamisten verbünden, um die Demokratie zu beseitigen und einen Gottesstaat zu schaffen. Im Herbst 2013 gab Ennahda den Posten des Premierministers auf und bewies damit eine demokratische Gesinnung. Der Politikwissenschaftler Cengiz Günay vermutet, dass die Beteiligung am demokratischen Prozess eine Veränderung der inneren Zielsetzungen der Ennahda brachte. Für das eigentliche Problem des Landes, die Armut und Perspektivlosigkeit sehr vieler junger Menschen, konnte Ennahda bisher keine Lösungsansätze entwickeln. Ebenso wie in Ägypten hat der Slogan der Muslimbrüder „Islam ist die Lösung“ auch in Tunesien aufgrund der wirtschaftlichen Misserfolge an Glaubwürdigkeit verloren. Marokko In Marokko gibt es die Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (Marokko), die aus der Muslimbruderschaft hervorgegangen ist. Ministerpräsident Abdelilah Benkirane distanzierte sich 2011 von der Muslimbruderschaft. Anders als diese strebe die Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung keine Einmischung in das Privatleben der Menschen an. Muslimbrüder in anderen arabischen Ländern Im Sudan führten sie 1983 die Scharia ein, als die Nationale Islamische Front eine der wichtigsten Parteien geworden war. In Jordanien (Islamische Aktionsfront, arabisch Dschabhat al-Amal al-Islami) sind sie die wichtigste Oppositionspartei. 1994 opponierten sie intensiv gegen den jordanisch-israelischen Friedensvertrag. In Libyen gründeten die Muslimbrüder 2012 die Partei Gerechtigkeit und Entwicklung. Im Zweiten libyschen Bürgerkrieg gilt sie als eine der Hauptfraktionen. In Saudi-Arabien gibt es Muslimbrüder seit den 1930er Jahren. Als Hasan al-Bannā im Oktober 1946 im Hedschas eine Zweigorganisation gründen wollte, wurde dies zwar abgelehnt, doch haben in den 1960er Jahren Muslimbrüder aus Ägypten im Erziehungssystem und in den Medien sehr stark Fuß gefasst. Insbesondere an der 1961 gegründeten Islamischen Universität Medina hat ihr Anteil im Laufe der 1960er Jahre immer weiter zugenommen, an der 1967 gegründeten König-Abdulaziz-Universität von Dschidda und der 1981 ausgegliederten Umm-al-Qura-Universität stellten sie von Anfang an sogar die Mehrheit der Dozenten. Unter den besonders bekannten ägyptischen Muslimbrüdern, die in Dschidda lehrten, waren Sayyid Qutbs Bruder Muhammad Qutb, der 1971 freigelassen wurde, Sayyid Sābiq, der Autor des Buches „Die Jurisprudenz der Sunna“ (Fiqh as-sunna) und Muhammad al-Ghazāli, der bis in die Mitte der 1980er Jahre das Department für Daʿwa und „Grundlagen der Religion“ (uṣūl ad-dīn) leitete. Muslimbrüder stellten darüber hinaus den Großteil des Personals in den religiösen Sekundarschulen, die als „wissenschaftliche Institute“ (maʿāhid ʿilmīya) bezeichnet werden. Der massive Zustrom von Muslimbrüdern, die zum großen Teil unter dem Eindruck der Ideen Sayyid Qutbs standen, hatte großen Einfluss auf das religiöse Feld in Saudi-Arabien. Es entstand in den 1970er Jahren eine eigene saudische Bewegung, die mit den Ideen der Muslimbrüder sympathisierte und als „das islamische Erwachen“ (aṣ-ṣahwa al-islāmīya) bekannt wurde. Der saudische Innenminister kritisierte die Muslimbruderschaft in der Vergangenheit des Öfteren. Im März 2014 wurde sie in Saudi-Arabien als Terror-Organisation eingestuft. Im Libanon gibt es seit 1936 einen Ableger. In Algerien gewann die Tochterorganisation FIS 1991 die Wahlen, woraufhin diese annulliert wurden. Muslimbrüder in Europa Als Dachverband unterschiedlicher Organisationen, die den Muslimbrüdern nahestehen, fungiert in Europa die Föderation Islamischer Organisationen in Europa (englisch „Federation of Islamic Organisations in Europe“, FIOE). Sie pflegt als internationaler Dachverband die Auslandsbeziehungen und vertritt offiziell die Position, die zentrale Anlaufstelle im sunnitisch-islamischen Bereich zu sein. Großbritannien war das erste westliche Land, das Kontakte zur Muslimbruderschaft aufnahm. Sie begannen im Jahr 1941 und intensivierten sich in den 1950er Jahren, als das MI 6 und eine Gruppe von Tory-Abgeordneten mit den Muslimbrüdern gemeinsame Pläne zur Ermordung des ägyptischen Präsidenten Nasser schmiedeten. Großbritannien entschloss sich stattdessen zusammen mit Frankreich zum erfolglosen Versuch, den Sueskanal und weitere Teile Ägyptens zu annektieren, um Nasser zu entmachten. 2014 beauftragte der britische Premierminister David Cameron ein Team aus hochrangigen britischen Diplomaten und Geheimdienstlern, darunter der Chef des MI 6, mit einer Untersuchung über die von Großbritannien ausgehenden Aktivitäten der Muslimbrüder, insbesondere über eventuelle Verbindungen zu extremistischen und terroristischen Aktivitäten. Sicherheitsexperten bewerteten das Vorgehen als ungewöhnlich, denn bei einem konkreten Verdacht auf Steuerung terroristischer Aktivitäten würde die Regierung die Geheimdienste mit einer Untersuchung beauftragen, ohne die Öffentlichkeit darüber zu informieren. Als Ergebnis der Untersuchung kündigte die britische Regierung nicht näher definierte Einschränkungen der Aktivität der Muslimbruderschaft auf ihrem Territorium an, der sie Nähe zu extremistischen Gruppen im Mittleren Osten vorwarf. Von einem Verbot der Bruderschaft nahm sie Abstand. Im September 2019 wurde ein Finanzierungsprogramm des Staates Katar bekannt, das auf die Stärkung der Einflussnahme des politischen Islam in ganz Europa mit der Finanzierung von 140 Moscheebauten, Kulturzentren und Schulen, die alle mit der Muslimbruderschaft zusammenhängen, abzielt. Nach Recherchen der ARD reichen die Verbindungen der Muslimbruderschaft bis in die Spitze des Staates Katar und die Herrscherfamilie Al-Thani hinein. 2022 wurden fragwürdige Finanznetzwerke von Medien aufgedeckt über die zur Muslimbruderschaft gezählte Stiftung „Europe Trust“ (ET) im mittelenglischen Markfield. Einer britischen Regierungsstudie zufolge sollen von dort Millionenbeträge an von Verfassungsschützern als radikal und demokratiefeindlich eingestufte islamistische Organisationen auf dem Kontinent fließen bzw. geflossen sein. So soll ET in Berlin für vier Millionen Euro eine Immobilie erstanden haben, die mehrere vom Verfassungsschutz beobachtete Vereine nützen. Einer davon ist die Deutsche Muslimische Gesellschaft (DMG), ein vom bayerischen Verfassungsschutz als verfassungsfeindlich eingestuftes Muslimbrüder-Sammelbecken. Mit der Stiftung ET befasste sich auch eine österreichischen Studie über die „Paneuropäische Struktur der Muslimbruderschaft“. Demnach werde ET von ranghöchsten Führungskräften der Bruderschaft in Europa kontrolliert. Das Unternehmen sei in einer Vielzahl von Finanzgeschäften tätig, hauptsächlich im Immobilienbereich, die ihrerseits verschiedene Einrichtungen des Milieus finanzieren. Muslimbrüder in Deutschland Bereits 1994 wird in Deutschland mit erheblicher Beteiligung der Muslimbruder-nahen Organisationen IGD, IZ München und IZ Aachen der Zentralrat der Muslime in Deutschland gegründet. Über verschiedene Vereine hat die Muslimbruderschaft auch heute noch großen Einfluss auf den Zentralrat der Muslime. Anhänger der Muslimbruderschaft nutzen in Deutschland oftmals „Islamische Zentren“ für ihre Aktivitäten. Die mit einigen Hundert Anhängern mitgliederstärkste Organisation ist die „Islamische Gemeinschaft in Deutschland e. V.“ (IGD), 2018 umbenannt in Deutsche Muslimische Gemeinschaft (DMG), die unter Vorsitz von Ibrahim el-Zayat 2008 ihr 50-jähriges Bestehen feierte. Sie ging hervor aus der 1958 gegründeten „Moscheebauinitiative in München e. V.“, die das Islamische Zentrum München (IZM) errichtete. Neben dem Hauptsitz im IZM unterhält die IGD nach eigenen Angaben „Islamische Zentren“ in Nürnberg, Stuttgart, Frankfurt am Main, Köln, Marburg, Braunschweig und Münster. Die Bruderschaft hatte in Deutschland im Jahr 2005 nach Angaben des Verfassungsschutzes Niedersachsen 1800 Mitglieder. Der Verfassungsschutz Nordrhein-Westfalens betont in der ausführlichen Bestandsaufnahme vom Mai 2006 eine Unvereinbarkeit des Gedankenguts der Muslimbrüder mit dem deutschen Grundgesetz: Die Jugendorganisation der Muslimbrüder in Deutschland ist die Muslimischen Jugend in Deutschland e.V. In einer Stellungnahme des Bundesverfassungsschutzes von 2009 heißt es: Laut den Landesverfassungsschutzberichten von Bayern und Baden-Württemberg übt die Muslimbruderschaft am Islamischen Zentrum München maßgeblichen Einfluss aus. Anhänger des syrischen Zweigs der Muslimbrüder hätten Anfang der 80er Jahre die „Islamischen Avantgarden“ mit organisatorischem Schwerpunkt im „Islamischen Zentrum“ in Aachen gegründet. Der in Kairo wohnhafte damalige oberste Führer der Bruderschaft, Mohammed Mahdi Akef, bezeichnete den Präsidenten der IGD, Ibrahim el-Zayat, in einem ARD-Fernsehbeitrag als „Chef der Muslimbrüder in Deutschland“. Ibrahim El-Zayat wehrte sich gegen diese Bezeichnung. In einer Gegendarstellung auf der Website der Muslimbrüder verneinte er, „Mitglied der Muslimbruderschaft“ zu sein. Ein Mitglied der Muslimbruderschaft in Deutschland soll neben Ibrahim El-Zayat auch Mehmet Erbakan sein. Die gemeinnützige Gesellschaft „Sächsische Begegnungsstätte“ steht offenbar in Verbindung mit der Muslimbruderschaft. Unter dem Prediger Dr. Saad Elgazar wurden in sechs Monaten Begegnungszentren und Gebetsräume in neun sächsischen Städten eröffnet. In einem Interview mit der FAZ im Nov. 2019 äußerte Burkhard Freier, der Leiter der Verfassungsschutzbehörde von Nordrhein-Westfalen, seine Besorgnis über den Einfluss der Muslimbrüder in Deutschland in Politik und Gesellschaft: Muslimbrüder in Österreich Im August 2017 erstellte Lorenzo Vidino von der George Washington Universität in Zusammenarbeit mit der Universität Wien, dem Bundesamt für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung sowie dem Österreichischen Integrationsfonds eine Studie über den Einfluss der Muslimbruderschaft in Österreich. Laut dieser Studie ist die islamistische Bewegung auch in Österreich aktiv und verfügt hier über beträchtliche Verbindungen und Einfluss. Der Muslimbruderschaft nahestehende Personen und Organisationen haben Schlüsselpositionen für das Leben von muslimischen Zuwanderern in Österreich übernommen. So stehe etwa die Islamische Religionspädagogische Akademie (IRPA) aufgrund verschiedener Verbindungen zur Muslimbruderschaft „zweifellos unter deren Einfluss“. Auch bei der Aufnahme der in Österreich ankommenden Asylsuchenden aus mehrheitlich muslimischen Ländern hätten Organisationen und Personen mit Verbindungen zur Muslimbruderschaft zentrale Rollen eingenommen; allerdings würden ihre Bestrebungen den Maßnahmen der österreichischen Politik zuwiderlaufen, da ihre Werte in Widerspruch zu den rechtsstaatlichen Werten Österreichs stünden. Die Muslimbrüder würden auf eine Spaltung der Gesellschaft und eine Stärkung des Einflusses des politischen Islam abzielen. Auch werde etwa eine kritische Auseinandersetzung mit dem Islam kategorisch als „Islamophobie“ abgelehnt und anti-muslimische Vorfälle von islamistischen Kreisen bewusst überzeichnet. Vor dem Hintergrund des starken Anstiegs von islamischer Radikalisierung müsse die Verbreitung des Narrativs der Muslime als Opfer mit Sorge betrachtet werden. Auf Basis der Studie kritisierte Efgani Dönmez die Verbindungen zwischen der SPÖ und der Muslimbruderschaft und führte als Beispiel dafür ein in Wien aktives Mitglied der Bruderschaft als Betreiber von Kinderbetreuungseinrichtungen an, die von der Stadt gefördert werden. Der Wiener SPÖ-Landtagsabgeordnete Omar Al-Rawi soll ebenfalls in einem Näheverhältnis zur Bruderschaft stehen. Auch innerhalb der IGGiÖ hat die Muslimbruderschaft großen Einfluss, ebenso werden Vereine wie „Liga Kultur“, der vor allem in Wien und Graz präsent ist, in engem Naheverhältnis zur Muslimbruderschaft gesehen. Im Dezember 2022 sorgte eine Studie zur Islamischen Vereinigung Österreichs (IVÖ) der Dokumentationsstelle Politischer Islam für Schlagzeilen, die ebenso der Muslimbruderschaft nahstehen soll. Es wurden Predigten, Social Media Posts und Büchern der Bibliothek einer Moschee über einen längeren Zeitraum analysiert, wo etwa die Terrororganisation Hamas als vorbildhaft befürwortet wurde. Darüber hinaus wurde die Verbreitung von antisemitischen Stereotypen und eine Verherrlichung des Martyriums festgestellt. Südostasiatische Bewegungen nach Vorbild der Muslimbrüder Daneben haben südostasiatische Muslime islamische Bewegungen ins Leben gerufen, die sich an der Muslimbruderschaft orientieren. Studierende aus Malaysia gründeten 1975 in Brighton den Islamic Representative Council (IRC). Sie strebten nach der Errichtung einer islamischen Ordnung, meinten aber im Gegensatz zu anderen islamischen Gruppierungen, dass der beste Weg dafür die Gründung von Zellen nach Vorbild der Muslimbruderschaft sei. Sie setzten darauf, durch Erziehungsarbeit (tarbiya) und Infiltration schon bestehender Organisationen mit eigenen Anhängern eine Islamisierung der Gesellschaft zu erreichen. Anhänger der Bewegung, die nach Beendigung ihrer Studien nach Malaysia zurückkehrten, verbreiteten dort ihre Ideologie an den Universitäten. Unter dem Namen IKRAM United Kingdom & Eire besteht die Gruppierung bis heute in Europa weiter. Eine andere südostasiatische Gruppierung, die sich explizit an der ägyptischen Muslimbruderschaft orientiert, ist die indonesische Gerechtigkeits- und Wohlfahrtspartei (PKS – Partai Keadilan Sejahtera). Oberste Führer der Muslimbrüder Der jeweilige Oberste Führer, Murschid al-'Amm (مرشد العام muršid al-ʿāmm) der Muslimbruder war: 1928–1949 Hassan al-Banna 1949–1951 Salih Aschmawi 1951–1972 Hasan al-Hudaibi 1972–1986 Umar at-Talmasani 1986–1996 Muhammad Hamid Abu Nasser 1996–2002 Mustafa Maschur 2002–2004 Mamun al-Hudaibi Banna 2004–2010 Muhammad Mahdi Akif seit 2010 Muhammad Badi’e Literatur Geneive Abdo: No God but God: Egypt and the triumph of Islam. Oxford University Press, Oxford, 2000. 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Q133207
86.223907
8645
https://de.wikipedia.org/wiki/Lhasa
Lhasa
Lhasa (, auch Lasa; ) ist die Hauptstadt des Autonomen Gebiets Tibet der Volksrepublik China. Sie liegt in einem Hochgebirgstal und wurde bei einem Tempel begründet. Noch heute hat sie große religiöse Bedeutung und beherbergt viele Mönche. Eine wichtige Sehenswürdigkeit ist der Potala-Palast, der ehemalige Palast des Dalai Lama. Seit 2006 ist Lhasa an das chinesische Eisenbahnnetz angebunden. Die mehrheitlich von Tibetern bewohnte Stadt hat im inneren Stadtbezirk einen Han-Bevölkerungsanteil von rund einem Drittel. Geografie Lhasa befindet sich im Transhimalaya-Gebirge. Es liegt etwa in 3600 m Meereshöhe im Tal des Lhasa He (tib.: lha sa gtsang po), einem Nebenfluss des Yarlung Zangbo. Die Stadt liegt an dessen nördlichem Ufer und erstreckt sich heute in west-östlicher Richtung über mehr als 10 Kilometer. Administrative und ethnische Gliederung Lhasas Nach 1950 wuchs die Einwohnerzahl und die Fläche von Lhasa sprunghaft an. Lebten um 1950 nur 20.000 bis 25.000 Menschen in der Stadt, und dies auf einer Fläche von nur 3 km² vor dem Potala-Palast, und dazu noch 15.000 bis 20.000 Mönche in den umgebenden Klöstern, so waren es im Jahr 2000 schon nahezu 475.000 Menschen und mittlerweile fast eine Million. Fast die Hälfte der Bevölkerung Lhasas lebt im Stadtbezirk Chengguan (Thrinkönchü). Dieser Bezirk umfasst den städtischen Bereich Lhasas (d. h. die eigentliche Stadt). Administrative Gliederung Lhasas Das Verwaltungsgebiet der Stadt Lhasa, bestehend aus dem Stadtbezirk Chengguan (Thrinkönchü, „Innenstadt“), zwei weiteren Stadtbezirken und fünf Kreisen, hat eine Gesamtfläche von 31.662 km² und laut Zensus (2020) 867.891 Einwohner (Bevölkerungsdichte: 29 Einwohner/km²). Stadtbezirk Chengguan (tib: ཁྲིན་ཀོན་ཆུས, khrin kon chus, Thrinkönchü, „Innenstadt“, chines. 城关区 Chéngguān Qū) Stadtbezirk Doilungdêqên (tib.: སྟོད་ལུང་བདེ་ཆེན་ཆུས, stod lung bde chen chus, 堆龙德庆区 Duīlóngdéqìng Qū), Hauptort: Großgemeinde Donggar (东嘎镇), Stadtbezirk Dagzê (tib.: སྟག་རྩེ་ཆུས, stag rtse chus, 达孜区 Dázī Qū), Hauptort: Großgemeinde Dêqên (德庆镇), der Kreis Lhünzhub (tib.: ལྷུན་གྲུབ་རྫོང, lhun grub rdzong, Lhündrub Dzong, 林周县 Línzhōu Xiàn), Hauptort: Großgemeinde Ganqoin (甘曲镇), der Kreis Damxung (tib.: འདམ་གཞུང་རྫོང, ´dam gzhung rdzon, Damshung Dzong, 当雄县 Dāngxióng Xiàn), Hauptort: Gemeinde Gungthang (公塘乡), der Kreis Nyêmo (tib.: འདམ་གཞུང་རྫོང, sne mo rdzong, Nyemo Dzong, 尼木县 Nímù Xiàn), Hauptort: Großgemeinde Tarrong (塔荣镇), der Kreis Qüxü (tib.: ཆུ་ཤུར་རྫོང, chu shur rdzong, Chushur Dzong, 曲水县 Qūshuǐ Xiàn), Hauptort: Großgemeinde Qüxü (曲水镇), der Kreis Maizhokunggar (tib.: མལ་གྲོ་གུང་དཀར་རྫོང, mal gro gung dkar rdzong, Meldro Gungkar Dzong, 墨竹工卡县 Mòzhúgōngkǎ Xiàn), Hauptort: Großgemeinde Gungkar (工卡镇). Ethnische Gliederung der Bevölkerung Die Gesamtbevölkerung von Lhasa (Stadt) betrug im Jahr 2000 521.500 Einwohner. Gemäß der Volkszählung im November 2000 ist die ethnische Verteilung im Stadtgebiet von Lhasa folgendermaßen (Armeeangehörige sind in dieser Zählung ausgenommen): Volksgruppen im ganzen Stadtgebiet: Der Stadtbezirk Chengguan („Innenstadt“ 城关区) hat eine Fläche von 523 km² und laut Zensus aus dem Jahr 2000 223.001 Einwohner; dies bedeutet eine Bevölkerungsdichte von 426,39 Einwohner/km². Volksgruppen im Detail: Geschichte Die Geschichte Lhasas geht bis in das 7. Jahrhundert zurück. Damals wurden der Jokhang-Tempel, noch heute das religiöse Zentrum der Altstadt von Lhasa, der Ramoche-Tempel sowie der erste Palast des tibetischen Königs Songtsen Gampo (reg. 620–649) auf dem roten Hügel (tib.: dmar-po ri) gegründet. Dieser stand dort, wo sich heute der Potala-Palast befindet. Zwei im Potala gelegene Kapellen, die u. a. der großtibetischen Königslinie gewidmet sind, gelten als Überbleibsel dieses Palastes. Im 15. Jahrhundert baute die buddhistische Gelug-Schule mit Sera, Drepung und Ganden drei Klöster in der Umgebung von Lhasa. Im 17. Jahrhundert wurde der Potala-Palast unter Ngawang Lobsang Gyatsho, dem fünften Dalai Lama, auf dem „Roten Hügel“ neu erbaut, und auch der Jokhang-Tempel wurde vergrößert. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts unternahmen verschiedene westliche Persönlichkeiten Reisen in die Stadt, darunter Francis Younghusband, Alexandra David-Néel, Heinrich Harrer und Peter Aufschnaiter. Wortgeschichte des Namens Der Bedeutung des Namens Lhasa wird heute in der Regel mit tibetisch „Götterort“ angegeben. In der Zeit der Yarlung-Dynastie trug dieser Ort den Namen (tib.:) rva-sa, womit eine umzäunte Weide gemeint war. Möglich ist auch die Interpretation „Ziegenweide“. Darin erinnert auch die Bezeichnung dieses Ortes im heutigen Lhasa-Dialekt. Hier wird der Name mit API ɬ ̄ɛ:s ̄a ausgesprochen, was dem Schrifttibetischen „lhas sa“ entspricht. Dies wiederum hat die Bedeutung „umzäunter Ort“ (rva sa). Letztendlich ist auch zu beachten, dass tib.: lha auch die Bezeichnung für die als göttlich angesehen tibetischen Könige war, so dass Lhasa zunächst als „Ort der Könige“ verstanden wurde und später eine Umdeutung in „Götterort“ erfahren hat. Verkehr Es führen Straßen in die Provinzen Sichuan (Chengdu), Qinghai (Xining) und in das Nachbarland Nepal. Lhasa liegt an der Nationalstraße G318, die von Shanghai über Wuhan, Chengdu, Garzê, Litang, Batang, Markam, Bayi nach Lhasa verläuft und von dort aus weiter über Samzhubzê und Lhazê nach Kathmandu in Nepal bzw. ab Lhazê als G219 über Westtibet bis nach Kargilik bei Yarkant in Xinjiang führt. Außerdem liegt Lhasa am Ende der Nationalstraße G109, die von Peking über Datong, Dongsheng, Lanzhou, den Qinghai-See und Golmud nach Lhasa führt. Seit der am 1. Juli 2006 erfolgten Fertigstellung der Lhasa-Bahn, mit einem Scheitelpunkt von 5072 m höchste Eisenbahnstrecke der Welt und dem mit 5068 Metern höchstgelegenen Bahnhof, ist Lhasa an das chinesische Eisenbahnnetz angeschlossen. Damit verkürzt sich die Reisezeit von Lhasa nach Peking auf ungefähr fünfzig Stunden. Der Bahnhof Lhasa liegt im Neubaugebiet am Südufer des Lhasa He. Am 15. August 2014 wurde eine 253 Kilometer lange Verlängerung nach Xigazê in Betrieb genommen. Der Flughafen von Lhasa liegt 45 km in südlicher Richtung im Kreis Gongkar. Bildung Die 1985 gegründete Universität Tibet sowie die Universität für tibetische Medizin befinden sich in Lhasa. Kultur und Sehenswürdigkeiten Nach der Tradition des Tibetischen Buddhismus gibt es in Lhasa drei konzentrische Pilgerrouten. Die innerste Route, Nangkhor, umfasst einen Rundgang im Innenhof des Jokhang-Tempels. Die mittlere Route heißt Barkhor und umfasst einen Rundgang um den Jokhang-Tempel sowie weiteren Klöstern und Tempeln in der Altstadt. Die äußerste Route, Lingkhor genannt, folgt den früheren Stadtgrenzen. Dieser Teil der Altstadt ist heute auch touristisch erschlossen. Hauptsehenswürdigkeit in Lhasa ist der Potala-Palast, der ehemalige Palast des Dalai Lama. Das 1999 eröffnete Tibet-Museum zeigt mehr als 30.000 Ausstellungsstücke aus der tibetischen Kultur (vgl. Buddhistische Kunst). Galerie Klima In Lhasa herrscht nach der Köppen-Geiger-Klassifikation ein sinisches Klima mit warmen Sommern (Cwb). Das Klima Lhasas zeichnet sich vor allem durch gewaltige Temperaturschwankungen zwischen Tag und Nacht aus. Literatur Andre Alexander: The Temples of Lhasa. Tibetan Buddhist Architecture from the 7th to the 21st Century. Serindia, Chicago 2005. F. Spencer Chapman: Lhasa the Holy City. R.&R. Clark, London 1940, Nachdruck ISBN 0-8369-6712-7; chinesische Übersetzung (2004) ISBN 7-80057-460-1. Qing Li: The Evolution and Preservation of the Old City of Lhasa. Singapur: Springer, 2018; ISBN 978-981-10-6733-4, . Knut Larsen und Amund Sinding-Larsen: The Lhasa Atlas. Traditional Tibetan Architecture and Townscape. Shambala, Boston 2001. Weblinks Offizielle Website (chinesisch) Einzelnachweise Ort in Tibet Bezirksfreie Stadt Hauptort einer Verwaltungseinheit Hochschul- oder Universitätsstadt
Q5869
112.230852
1271143
https://de.wikipedia.org/wiki/Vestlandet
Vestlandet
Vestlandet („das Westland“) wird in der Landessprache der westliche Landesteil Norwegens an der Nordsee und dem Europäischen Nordmeer genannt. Er umfasst die drei Provinzen (Fylker) Rogaland, Vestland und Møre og Romsdal und hat eine Fläche von 58.582 km2. Im Landesteil Vestlandet leben rund 1.382.000 Menschen, oder ungefähr ein Viertel der norwegischen Bevölkerung (Stand 2020). Die größten Städte sind Bergen (284.000 Einwohner) und Stavanger (144.000 Einwohner). Die anderen vier Landesteile heißen Nord-Norge (Nordnorwegen), Trøndelag, Sørlandet (Südland) und Østlandet (Ostland) Historische Entwicklung Das geografische Gebiet hat eine lange Tradition, die bis vor die Einigung Norwegens zurückreicht. Viele Distrikte stellten kleine Herrschaftsbereiche dar, später wurden sie von Lehnsmännern des Königs geführt, bis das Vogt­system in der dänischen Zeit eingeführt wurde. Durch eine Gebietsreform (formannsskapslovene) wurde die tradierte administrative Gliederung 1837 aufgehoben. Die räumliche Bindekraft im Vestlandet wird unter anderem durch die Mundart und ein ausgeprägtes Selbstbewusstsein der Bevölkerung gestärkt. Regionalplanung und Kooperationen der Kommunen verleihen dem Landesteil aktuelle Bedeutung. Im Vestlandet liegen 15 „Distrikte“: Nordmøre Romsdal Sunnmøre Nordfjord Sunnfjord Sogn Nordhordland Midthordland Sunnhordland Hardanger Voss Haugaland Ryfylke Jæren Dalane Klima Vestlandet ist eine der niederschlagsreichsten Regionen in Europa. Die Niederschlagsmengen in den Bergen entlang der Küsten betragen im Durchschnitt 3.500 mm pro Jahr, in Spitzenjahren auch bis 5.000 mm pro Jahr. Die Stadt Bergen hat eine durchschnittliche Niederschlagsmenge von 2.250 mm pro Jahr. Ursache ist u. a. der Golfstrom, dem die Region auch ein milderes Klima verdankt als eigentlich aus der geografischen Lage ableitbar wäre. An der Küste ist daher auch im Winter Regen nicht ungewöhnlich. Sprache Im Vestlandet ist Nynorsk eine häufig gebrauchte Variante der norwegischen Sprache. Verkehr Die traditionelle Postschifflinie Hurtigruten hat ihren Ausgangspunkt in Bergen und bedient mehrere Küstenstädte im nördlichen Vestlandet. Zwei Autofähren der Fjord Line verkehren täglich zwischen Bergen und Stavanger und dem dänischen Hirtshals. Per Straße sind die Küstenstädte über die Europastraße 39 miteinander verbunden, die im Norden nahe Trondheim beginnt und sich im Süden in Kristiansand über eine Autofähre bis ins dänische Aalborg erstreckt. Mehrere Städte verfügen über Flughäfen, die sie verkehrstechnisch international, mit der Hauptstadt Oslo, anderen Landesteilen, sowie untereinander verbinden. Des Weiteren bestehen Zugverbindungen zwischen Oslo und Bergen und Stavanger und Kristiansand. Weblinks Vestlandet im Store norske leksikon Einzelnachweise Landesteil von Norwegen NUTS-2-Region
Q127598
98.179222
9249
https://de.wikipedia.org/wiki/Mammute
Mammute
Die Mammute (Sing. das Mammut; Pl.: auch Mammuts), wissenschaftlicher Name Mammuthus (von frz. mammouth < russ.: мамонт mamont < vermutlich aus dem Waldnenzischen), bilden eine ausgestorbene Gattung der Elefanten. Sie entstand im Übergang vom Miozän zum Pliozän in Afrika und besiedelte in der darauf folgenden Zeit sowohl Europa als auch Asien und Nordamerika. Die letzten Vertreter der Mammute, die der weitaus bekanntesten Art, dem Wollhaarmammut (Mammuthus primigenius) angehören, starben erst vor rund 4000 Jahren auf der nordsibirischen Wrangelinsel aus. Im November 2008 wurde in der Fachzeitschrift Nature die Genomsequenz des Wollhaarmammuts veröffentlicht. Circa 70 Prozent der Erbinformation konnten entschlüsselt werden. Das Mammutgenom ist das erste Genom eines ausgestorbenen Tieres, das sequenziert wurde. Lebensraum Vor allem die während der letzten Kaltzeit lebenden Vertreter der Mammute (Mammuthus primigenius) waren an den Lebensraum der Kaltsteppe gebunden. Die üblicherweise als Mammutsteppe bezeichnete Vegetationsform besteht nur zu etwa 20 Prozent aus Gräsern, weitaus dominanter sind besonders proteinreiche Kräuter und Blüten wie Wegeriche, Beifuß, Schafgarbe, Chrysanthemen, Kuhschellen, Silberwurz und sogar einige Weiden. Diese Tundra-ähnliche Kaltsteppe bildete mit den nahrhaften Kräutern die Grundlage zur Ernährung von Herden großer Landsäugetiere. Sie erstreckte sich ursprünglich vom westlichen Europa über die osteuropäische Tiefebene, das nördliche Sibirien bis nach Alaska und schloss auch einige damals trockengelegene Schelfgebiete ein, wie die Nordsee (Doggerland) und die Beringstraße. Neben dem Mammut gehörten zur damaligen Tierwelt die Saigaantilope, das Mufflon, der Steinbock, verschiedene Hirschartige (Rothirsch, Riesenhirsch, Elch, Ren) und Wildrinder (Wisent und Bison), aber auch das Wollnashorn, größere und kleinere Raubtiere wie Großkatzen (Schneeleopard, Höhlenlöwe), Bären (Höhlenbär, Braunbär) und Hunde (Wolf, Fuchs) und darüber hinaus zahlreiche Kleinsäuger zum üblichen Bild der Mammutsteppe. Nachfahren der Tierarten dieses Biotops leben heute vorwiegend in Hochgebirgen und arktischen Regionen. Dieser Lebensraum wurde außerdem von Populationen der frühen Jäger und Sammler bewohnt und genutzt. Merkmale Allgemein und Körpergröße Mammute waren große bis sehr große Säugetiere, die einen generell elefantenähnlichen Körperbau mit großem Kopf und säulenartigen Beinen aufwiesen. Die Größe war von Art zu Art unterschiedlich. Das bekannte Wollhaarmammut (Mammuthus primigenius), das Endglied der Mammutentwicklung aus dem Mittleren und Oberen Pleistozän, erreichte eine Schulterhöhe von 2,8 bis 3,7 m und entsprach damit jener der heute lebenden Elefanten, das Gewicht variierte von 5 bis 8 t. Andere Arten konnten aber durchaus größer werden, so erreichten das Präriemammut (Mammuthus columbi) aus dem Pleistozän Nordamerikas und der Südelefant (Mammuthus meridionalis) aus dem Altpleistozän Eurasiens bis zu 4,2 m Schulterhöhe und ein Gewicht von gut 12 t. Der größte Vertreter der Mammute und eines der größten bekannten Rüsseltiere überhaupt war jedoch das Steppenmammut (Mammuthus trogontherii), das im Alt- und Mittelpleistozän in Eurasien lebte. Es wurde bis zu 4,5 m hoch, sein geschätztes Gewicht betrug 15 t. Innerhalb der Mammute kam es mehrfach durch Abtrennung kleinerer Gruppen von der Hauptpopulation der einzelnen Arten auf Inseln zur Ausbildung von Zwergformen. Nachgewiesen wurden Zwergformen auf Sardinien und Kreta, die vom Südelefanten abstammen. Eine Extremform ist dabei das Kreta-Zwergmammut (Mammuthus creticus), das nur etwa 1,1 m hoch und rund 310 kg schwer wurde. Schädel- und Gebissmerkmale Charakteristisch für die Mammute waren kurze hohe Schädel, noch ausgeprägter als bei Elephas, die im Laufe ihrer Entwicklung immer höher wurden. Die Stirnlinie verlief vorn steil und war abweichend von Loxodonta stark eingedellt. Das Stirnbein war nach hinten ausgezogen. Stirn- und Scheitelbein besaßen von vorn gesehen eine gewölbte Gestaltung, wobei eine sehr tiefe mittlere Eintiefung wie bei Elephas fehlte. Auch das Hinterhauptsbein war stark verlängert und wies tief liegende Gelenkansätze für die Halswirbelsäule auf, die nahezu auf der Höhe des Gaumenbeins lagen. Weitere besondere Charakteristika der Mammutschädel stellten die weit auseinander liegenden Augenfenster und vor allem im Gegensatz zu den rezenten Elefanten sehr eng stehenden, fast parallel verlaufenden Alveolen der oberen Stoßzähne. Die Knochen des Schädeldaches waren wie bei den heutigen Elefanten luftgefüllt, einerseits um das Gewicht zu reduzieren, andererseits um durch die damit verbundene Oberflächenvergrößerung eine größere Ansatzstelle für die massive Nacken- und Kiefermuskulatur zu gewährleisten. Das Gebiss war vergleichbar zu dem der rezenten Elefanten und bestand aus einem Paar Stoßzähne in der oberen Zahnreihe, die sich stammesgeschichtlich durch Hypertrophie aus den jeweils zweiten Schneidezähnen gebildet hatten, und aus drei Molaren je Kieferhälfte. Das Milchgebiss besaß zudem noch jeweils drei Prämolaren. Die Stoßzähne waren lang und deutlich gebogen, wobei die Krümmung im Laufe der Stammesgeschichte immer stärker wurde und in spiralartig geformte Stoßzähne mündete. Der längste bekannte Stoßzahn maß über die Krümmung 4,9 m und stammt von einem Präriemammut aus Post im US-Bundesstaat Texas. Die Stoßzähne steckten zu etwa einem Viertel ihrer Länge in den Alveolen. Das weitere Gebiss umfasste jeweils einen funktionalen Backenzahn je Kieferhälfte, der insgesamt fünfmal nach Abnutzung ausgetauscht werden konnte, also sechs Generationen umfasste. Dieser horizontale Zahnwechsel ist typisch für Elefanten und unterscheidet sich deutlich vom vertikalen Zahnwechsel der meisten Säugetiere. Generell waren die Backenzähne hochkronig (hypsodont), wobei die Hochkronigkeit im Laufe der Entwicklung zunahm. So überstieg die Höhe der Backenzähne später Mammutvertreter deren Breite teilweise um das Doppelte. Ein bedeutendes Merkmal stellte der lamellenartige Aufbau der Backenzähne dar, der durch enge Schmelzfalten erreicht wurde. Die Anzahl der Lamellen der einzelnen Backenzähne, in der Regel der dritte und letzte Molar, hat taxonomischen Wert für die Bestimmung der Mammutarten. Die Anzahl der Schmelzfalten nahm im Laufe der Evolution der Mammute stark zu. Die frühesten afrikanischen Mammutformen wie Mammuthus subplanifrons oder Mammuthus africanavus besaßen 7 bis 9 beziehungsweise durchschnittlich 9 Schmelzfalten. Wies der Südelefant als erster eurasischer Mammutvertreter 13 bis 18 Schmelzlamellen auf, hatte das Steppenmammut bereits zwischen 17 und 23. Das Wollhaarmammut letztendlich besaß 21 bis 30 Schmelzlamellen. Diese späten Mammutformen stellen aufgrund der Morphologie der Backenzähne die am stärksten spezialisierten Elefanten überhaupt dar. Die Zunahme der Schmelzfalten ist ein Anzeichen für eine stärkere Anpassung an offene Landschaftsverhältnisse und eine steigende Spezialisierung auf die daraus resultierende Grasnahrung. Einher ging die Zunahme der Faltenanzahl mit einer Verdünnung des jeweiligen Zahnschmelzbandes der einzelnen Falten von 4 bis 5 auf 1 bis 2 mm. Systematik Die Mammute haben sich im Übergang vom späteren Miozän zum frühen Pliozän in Afrika entwickelt und verbreiteten sich von dort aus bis Eurasien und Nordamerika. Dabei spezialisierten sie sich zunehmend auf Grasnahrung und entwickelten Anpassungen an die Kälte. Laut molekulargenetischen Untersuchungen hatten sie sich bereits vor 6,7 Millionen Jahren von der Linie, die zum Asiatischen Elefanten (Elephas maximus) führte, abgetrennt. Die ältesten bisher gefundenen Fossilreste von Mammuten sind etwa 5,7 Millionen Jahre alt und stammen aus der Landsenke von Afar in Äthiopien, mit 5 Millionen Jahren nur wenig jünger sind Funde aus Langebaanweg in Südafrika. Diese Funde gehören der Art Mammuthus subplanifrons an. Der Übergang vom Miozän zum Pliozän zeichnete sich durch eine hohe Vielfalt an verschiedenen Rüsseltierformen in Afrika aus, zudem fällt in diese Zeit die Herausbildung der modernen Elefanten wie Loxodonta, Elephas oder eben Mammuthus. Problematisch bei diesen frühen Elefantenfunden ist dabei, dass diese überwiegend aus fragmentierten Zähnen und Gebissresten bestehen, zusammengehöriges Schädelmaterial ist selten. Die Zähne bestehen meist aus einer geringen Anzahl an Lamellen mit einer dicken Zahnschmelzschicht, durch diese ähnliche Gestaltung können noch Unterscheidungsschwierigkeiten zwischen den einzelnen frühen Formen auftreten. Mammuthus subplanifrons überlebte sicher bis vor etwa drei Millionen Jahren. Etwa in diesem Zeitraum tauchte sein vermutlicher direkter Nachfolger Mammuthus africanavus in Nordafrika auf, der teilweise auch als das erste eindeutige Mitglied der Mammute angesehen wird. Möglicherweise war diese Art der Vorfahre des Südelefanten (Mammuthus meridionalis), der auch der erste in Eurasien nachgewiesene Mammutvertreter ist. Aus dem Südelefanten entwickelte sich vor etwa 750.000 Jahren das Steppenmammut (Mammuthus trogontherii), das sich über das nördliche Eurasien verbreitete und zum Vorfahren des Wollhaarmammuts wurde. Das Präriemammut (Mammuthus columbi) Nordamerikas hat sich wahrscheinlich ebenfalls aus dem Südelefanten entwickelt, der vor etwa 1,5 Millionen Jahren nach Amerika eingewandert ist. Einige Experten sehen auch einen Ursprung des Präriemammuts im Steppenmammut, welches bisher aber noch nicht in Nordamerika nachgewiesen ist. Das Präriemammut trat erstmals im Altpleistozän vor rund 1,2 Millionen Jahren auf. Es bildet den Grundstock für einen Teil der amerikanischen Mammutpopulation. Im Jungpleistozän besiedelte dann auch das Wollhaarmammut Nordamerika, es bevorzugte aber gegenüber dem Präriemammut eher nördlichere Regionen. Wahrscheinlich kam es aber im Kontaktgebiet, etwa im nördlichen Bereich der heutigen USA, teilweise zur Vermischung der beiden Arten, da molekulargenetische Untersuchungen des Präriemammuts in dessen Genom einzelne Haplotypen des Wollhaarmammuts nachweisen konnten. Die Ursachen sind nicht vollständig geklärt, eventuell spielen Introgressions-Prozesse eine Rolle, wie sie vergleichbar auch zwischen dem Afrikanischen Elefanten (Loxodonta africana) und dem Waldelefanten (Loxodonta cyclotis) bekannt sind. Folgende Arten sind heute anerkannt: Mammuthus subplanifrons (Osborn, 1928); Pliozän; Ost- und Zentralafrika Mammuthus africanavus (Arambourg, 1952); Pliozän bis Altpleistozän; Nordafrika Mammuthus meridionalis (Nesti, 1825) (Südelefant; einschließlich Mammuthus rumanus und Mammuthus gromovi); Pliozän bis Altpleistozän; Europa, Russland Mammuthus lamarmorai (Major, 1883); Jungpleistozän; Südeuropa Mammuthus creticus (Bate, 1907) (Kreta-Zwergmammut); Altpleistozän; Südeuropa Mammuthus trogontherii (Pohlig, 1885) (Steppenmammut); Alt- bis Mittelpleistozän; Eurasien Mammuthus primigenius (Blumenbach, 1799) (Wollhaarmammut); Mittelpleistozän Mittelholozän; Eurasien, Nordamerika Mammuthus columbi (Falconer, 1857) (Präriemammut; einschließlich Mammuthus hayi, Mammuthus imperator und Mammuthus jeffersoni); Alt- bis Jungpleistozän; Nord- und Zentralamerika Mammuthus exilis (Stock & Furlong, 1928) (Zwergmammut oder Kalifornisches Zwergmammut); Mittel- bis Jungpleistozän; Nordamerika Im Allgemeinen meint man mit „Mammut“ das während der letzten Eiszeit in Eurasien und Nordamerika verbreitete Wollhaarmammut (Mammuthus primigenius). Irreführend ist der Umstand, dass der Gattungsname Mammut nicht etwa die Mammute bezeichnet, sondern einen mit diesen und den Elefanten nur entfernt verwandten Vertreter der Mammutiden (Mammutidae), einer urtümlicheren Gruppe von Rüsseltieren mit teilweise vier Stoßzähnen, die in der letzten Eiszeit ebenfalls behaarte Formen entwickelte. Beide Entwicklungslinien trennten sich bereits im Oberen Oligozän. Aus forschungsgeschichtlicher Sicht ist anzumerken, dass der Gattungsname Mammut Blumenbach, 1799 für das Mitglied der heutigen Mammutidae wissenschaftlich eher eingeführt wurde als Mammuthus Brookes, 1828 für die bekannteren Mammute als Vertreter der Elefanten. Mammut und Mensch Das Wollhaarmammut war eines der Jagdtiere der Menschen im Jungpleistozän, Knochen und Elfenbein dienten außerdem als Materialressourcen. Dies ist durch zahlreiche Höhlenmalereien und eine Vielzahl von Mammutknochen-Anhäufungen in archäologischen Fundstellen des Aurignacien, Gravettien und Epigravettien dokumentiert. Bei der Fundstelle Judinowo in der Osteuropäischen Ebene und auf der arktischen Kotelny-Insel wurden Hinweise gefunden, dass dort Mammuts von Menschen zumindest geschlachtet wurden. Mammutknochenhäuser fanden sich in Meschyritsch, Mesyn, Dobranitschewka und dem Kiewer Kiew-Kyrill-Wohnplatz, (alle Ukraine) aus der Zeit des osteuropäischen Epigravettiens (entspricht zeitlich etwa dem Magdalénien Mitteleuropas) – Mezyn ist auf 16.000 v. Chr. zu datieren. Aussterben Die Diskussion, inwieweit Bejagung durch den Menschen im Sinne der „Overkill-Hypothese“ (siehe: Mensch und Präriemammut) zum Aussterben der eurasischen und nordamerikanischen Mammute beitrug, wird kontrovers geführt. Eine Studie von C. Johnson deutet darauf hin, dass das Aussterben des Wollhaarmammuts und anderer pleistozäner Arten mit einer rapiden Abnahme der Fruchtbarkeit einherging. Eine zu geringe Reproduktionsrate sieht er bei einer Reihe von Großsäugern in Australien, Eurasien, Amerika und Madagaskar als Hauptursache des Aussterbens, während er die „Overkill-Hypothese“ (bei Johnson: „Blitzkrieg-Hypothese“) als ursächliches Szenario zurückweist. Da Arten mit zurückgehender Reproduktionsrate bei menschlicher Bejagung zusätzlichem Stress ausgesetzt sind, sei die Gleichzeitigkeit des Aussterbens mit der verstärkten Bejagung durch Jäger-und-Sammler-Populationen die logische Folge. Eine weitere, teils häufig vertretene Meinung sieht die Ursachen eher im Klimawandel am Ende der Eiszeit und den dadurch hervorgerufenen ökologischen Veränderungen (v. a. bodenbildungsbedingten Vegetationswandel). Das Einwirken des Menschen wird in dieser Sichtweise mitunter nur als Nebeneinfluss auf durch ökologische Faktoren bereits geschwächte Spezies eingeschätzt. Für das Aussterben der Mammute wird daher vom dänischen Biologen Roy Weber der Universität Aarhus der Schwund der Kräuter in der Kaltsteppe und damit das Klima verantwortlich gemacht. Ähnlich argumentiert eine Studie aus dem Jahr 2021. Anhand von Umwelt-DNA, also genetischen Resten der Fauna und Flora aus Bodenproben, aus dem Großteil des circumpolaren Gebietes kommt sie zu dem Schluss, dass der Rückgang der Mammutsteppe als nährstoffreiche Nahrungsgrundlage der Mammute zum Ende der letzten Kaltzeit verbunden mit wärmeren und feuchteren Klimabedingungen den Populationen der Rüsseltiere stark zusetzte. Der Einfluss des Menschen wird hier als weitgehend gering eingestuft. Bisher wurde angenommen, das Wollhaarmammut sei in Europa und Südsibirien bereits am Ende des Jungpleistozäns vor etwa 12.000 Jahren ausgestorben, nachdem es in der letzten Kaltphase („Jüngere Dryas“) am Ende der Weichsel-Eiszeit noch einmal bis Nordosteuropa vordringen konnte. Neu datierte Altfunde der 1940er Jahre aus Russland zeigen aber, dass die letzten Mammute erst um 9250 v. Chr., also etwa 300 Jahre nach Beginn des Präboreal, aus Nordosteuropa verschwanden. Nur wenig später verschwand die Art – nach dem heutigen Fossilreport zu urteilen – auch auf dem nordsibirischen Festland. Nur auf der ostsibirischen Wrangelinsel überlebten kleine Populationen bis etwa 2000 v. Chr. In Kontinentalalaska starb das Wollhaarmammut (Mammuthus primigenius) etwa um 12.000 v. Chr. aus, während auf St. Paul, der nördlicheren der Pribilof-Inseln, eine Restpopulation der Wollhaarmammute der vormaligen Beringia-Landmasse isoliert bis etwa 3600 v. Chr. bestand. Auf den im Spätpleistozän nur durch einen schmalen Kanal von Kalifornien getrennten Kanalinseln (Kalifornien) überlebte eine als Mammuthus exilis bezeichnete Inselverzwergung des Präriemammuts (Mammuthus columbi) bis etwa 11.000 v. Chr. möglicherweise sogar bis 10.200 v. Chr. – die kontinentale Form des Präriemammuts (Mammuthus columbi) starb ebenfalls ungefähr zu dieser Zeit aus. Entdeckung erhaltener Körper Im asiatischen Teil Russlands werden immer wieder nahezu vollständig im Eis eingeschlossene gut erhaltene Mammutkörper gefunden. Entdeckt werden diese meist durch den kilometerweit wahrnehmbaren beißenden Moschus- und Verwesungsgeruch, sobald Teile des Tierkörpers durch Auftauen freigelegt wurden. Neben der raschen Verwesung sorgen auch Aasfresser dafür, dass solche bis dahin über Jahrtausende ununterbrochen gefrorenen Kadaver oft schon binnen Wochen vollständig zerstört werden. Im Mai 2013 wurde auf den Ljachow-Inseln im Arktischen Ozean von russischen Wissenschaftlern ein äußerst gut erhaltenes älteres weibliches Mammut entdeckt, aus dessen Kadaver eine Probe flüssigen Blutes gewonnen werden konnte. Dies erhöht laut Angaben der Wissenschaftler die Chancen auf ein erfolgreiches Klonen von Mammuten. Fundorte und Museen Zu wichtigen Fundorten, die viel zur Analyse der Lebensweise der Mammute beigetragen haben, gehören die Teergruben von Rancho La Brea und die Bechan Cave, eine Höhle, die vor 15.000 Jahren über eine Dauer von 1.500 Jahren von Präriemammuten genutzt wurde. Überreste in großen Mengen wurden zudem auf den Neusibirischen Inseln gefunden, die einen Gutteil ihrer Entdeckungsgeschichte russischen Händlern verdanken, die Überreste von Mammuten, insbesondere deren elfenbeinerne Stoßzähne, suchten. Sieben vollständige Mammutskelette sind im Mammutheum Siegsdorf, ein großes im Südostbayerischen Naturkunde- und Mammut-Museum Siegsdorf im Chiemgau und ein Teilskelett im Museum für Ur- und Frühgeschichte in Eichstätt zu besichtigen. Weitere, mehr oder weniger vollständige Mammutskelette befinden sich beispielsweise in Stuttgart, Münster (Fundort: Ahlen), Bottrop, Darmstadt, Halle an der Saale und Sangerhausen. Die größte Fundstätte in der Schweiz ist in Niederweningen, wo die Funde in einem extra dafür eingerichteten Mammutmuseum zu sehen sind. Im Juni 2009 wurde in einer Kohlegrube im serbischen Kostolac in unmittelbarer Nähe der Ausgrabungsstätte des ehemaligen römischen Legionärslagers und Stadt Viminatium das nahezu unversehrte Skelett eines Steppenmammuts (Mammuthus trogontherii) entdeckt. Der Fund datiert in das Alt- bis Mittelpleistozän und ist zwischen 1 Million und 400.000 Jahre alt. Es handelt sich um ein männliches Tier mit einem Alter von über 60 Jahren. Die Auswertung des Fundes übernahm ein Wissenschaftlerteam um Adrian M. Lister. An derselben Lokalität wurde 2012 ein wissenschaftlich bedeutender Mammutfriedhof freigelegt; er barg mehrere Mammut-Skelette, die stark disartikuliert, also in nicht mehr ursprünglichem anatomischen Zusammenhang waren. Diese stammen aber aus Lössschichten des Mittleren Pleistozäns und sind radiometrischen Daten zufolge rund 192.000 Jahre alt. Schließlich wurde im Juni 2014 auf dem Gelände des Archäologieparkes Viminatium mit den Kostolac-Mammut-Fossilien der erste sogenannte „Mammut-Park“ in Europa eröffnet. Neben dem Steppenmammut sind noch vier weitere Mammutskelette ausgestellt. Das Kostolacer Mammut ist damit eines der wenigen Mammutfossilien, welches direkt an seinem Fundort ausgestellt ist. Handel mit Mammutskeletten Schon aufgrund der enormen Größe befinden sich nur wenige vollständige Mammutskelette in Privatbesitz. 2016 wurde ein 3,5 Meter hohes und über 5,5 Meter langes Skelett, das ein Fossiliensammler aus 270 Knochen zusammengesetzt hatte, für 120.000 € versteigert. Etymologie Die Bezeichnung Mammut ist seit dem 17. Jahrhundert in Europa verbreitet. Der Name wurde möglicherweise durch den Amsterdamer Bürgermeister Nicolaas Witsen (1641–1717) eingeführt, der im Jahre 1692 einen Reisebericht nach Nordostsibirien veröffentlichte. Das Wort, das im Russischen und in einigen älteren europäischen Quellen auch Mamont (мамонт) lautet, stammt aus einer sibirischen Sprache. Als ein mögliches Ausgangswort wurde die waldnenzische (waldjurakische) Bezeichnung „jěaŋ-ŋammurəttaə“ („Erdfresser“) identifiziert. Bilder Literatur Vadim Evgenievič Garutt: Das Mammut. Mammuthus primigenius (Blumenbach). Nachdruck der 1. Auflage von 1964. Westarp Wissenschaften, Hohenwarsleben 2004, ISBN 3-89432-171-7. Ulrich Joger (Hrsg.): Mammuts aus Sibirien. Begleitbuch zur Ausstellung im Hessischen Landesmuseum Darmstadt vom 20. Oktober 1994 bis 19. Februar 1995. Hessisches Landesmuseum Darmstadt, Darmstadt 1994, ISBN 3-926527-34-X. Adrian Lister, Paul Bahn: Mammuts. Die Riesen der Eiszeit. Thorbecke, Sigmaringen 1997, ISBN 3-7995-9050-1. Richard Stone: Mammut – Rückkehr der Giganten? Franckh-Kosmos, Stuttgart 2003, ISBN 3-440-09520-7. Peter D. Ward: Ausgerottet oder ausgestorben? Warum die Mammuts die Eiszeit nicht überleben konnten. Birkhäuser, Basel 1998, ISBN 3-7643-5915-3. Reinhard Ziegler: Das Mammut (Mammuthus primigenius Blumenbach) von Siegsdorf bei Traunstein (Bayern) und seine Begleitfauna. In: Münchner Geowissenschaftliche Abhandlungen. Reihe A: Geologie und Paläontologie. 26, 1994, , S. 49–80. Einzelnachweise Weblinks LWL-Museum für Naturkunde, Westfälisches Landesmuseum mit Planetarium Mammutheum Mammutmuseum Niederweningen Naturkundemuseum Siegsdorf Universität Tübingen Älteste Darstellung eines Mammuts Das Mammut vom Vogelherd Eines der ältesten Kunstwerke der Menschheit aus Mammutelfenbein geschnitzt Expedition Mammut: Zeittafel auf Spiegel Online Ausgestorbenes Rüsseltier Rüsseltiere
Q36715
103.399012
4146629
https://de.wikipedia.org/wiki/Dallas
Dallas
Dallas ([]) ist nach Houston und San Antonio die drittgrößte Stadt im Bundesstaat Texas und die neuntgrößte Stadt der Vereinigten Staaten. Die Stadt hat eine Fläche von 997,1 km² und ist auch Verwaltungssitz des gleichnamigen Countys. Sie hat 1,3 Millionen Einwohner (Stand 2020) und ist das kulturelle und ökonomische Zentrum (engl.: principal city) des zwölf Countys umfassenden Dallas-Fort-Worth-Metroplex. Die 1841 gegründete Stadt war durch ihre strategische Lage an zahlreichen Eisenbahnlinien ein wichtiges Zentrum der Öl- und Baumwollindustrie. Heute ist die Wirtschaft hauptsächlich von der Telekommunikations-, Computer-, Finanzdienstleistungs- und Transportbranche bestimmt. Dallas ist eine von elf Weltstädten der USA. Geographie Dallas ist der Verwaltungssitz des Dallas County. Teile der Stadt reichen in die Nachbarcountys Collin, Denton, Kaufman und Rockwall hinein. Dem US Census Bureau zufolge hat die Stadt eine Gesamtfläche von 997,1 km², davon sind 887,1 km² Land und 42,5 km² Wasser (11,03 %). Dallas bildet ein Fünftel des Metropolgebiets Dallas-Fort-Worth-Metroplex, in dem ungefähr ein Viertel aller Texaner wohnen. Klima Dallas hat ein subtropisches Klima mit milden Wintern (um 15 °C) und heißen Sommern (um 35 °C). Im Winter können jedoch auch Frost und Schneefälle vorkommen. Während der Sommermonate werden immer wieder Temperaturen über 40 °C erreicht. Im Jahr fallen etwa 850 mm Niederschlag. Die Temperaturextrema liegen zwischen −18 °C und 45 °C. Des Weiteren liegt die Stadt in einem tornadogefährdeten Gebiet. Geschichte Im Gebiet um Dallas lebten die amerikanischen Ureinwohner Caddo, bevor es im 16. Jahrhundert Teil der spanischen Provinz Neuspanien bzw. von Texas wurde. Das heutige Dallas blieb bis 1821 unter spanischer Herrschaft, als Mexiko seine Unabhängigkeit von Spanien erklärte. Das Gebiet des zukünftigen Dallas wurde Teil des Staats Coahuila y Tejas in der neuen Nation. Die Republik Texas trennte sich 1836 von Mexiko und blieb fast zehn Jahre ein unabhängiges Land. 1839, nach vier Jahren in der Republik, vermaß John Neely Bryan das Gebiet um Dallas, und zwei Jahre später gründete er dort die Stadt Dallas. 1846 annektierten die Vereinigten Staaten die Republik von Texas, und es entstand das Dallas County. Man vermutet, dass County wie Stadt nach George M. Dallas, dem damaligen elften Vizepräsidenten der USA, benannt wurden. Bryan äußerte allerdings nur, dass sie „nach meinem Freund Dallas“ benannt wurde. 1856 erhielt Dallas das Stadtrecht. Die Stadt hatte wenige Sklaven, die hauptsächlich von Siedlern aus Alabama und Georgia mitgebracht wurden. Dallas war bis nach dem Amerikanischen Bürgerkrieg, in dem Dallas ein Teil der Konföderierten Staaten von Amerika war, nur eine Kleinstadt im texanischen Grenzland und wurde erst 1871 offiziell eine Stadt. Die Stadt bezahlte der Houston and Central Texas Railroad eine Summe von 5000 US-Dollar, um die geplante Bahnstrecke 32 km westlich und somit durch Dallas zu verlegen. Im folgenden Jahr sicherten die Stadtväter der Texas and Pacific Railroad gesetzliche Vergünstigungen zu, wenn diese ihre Bahnlinie ebenfalls durch Dallas verlegte. So kreuzten sich 1873 die beiden Hauptbahnlinien von Texas (Nord-Süd und Ost-West) in Dallas und die Zukunft als Kommerzzentrum war gesichert. 1890 wurde in der Stadt das römisch-katholische Bistum Dallas errichtet. Die Cathedral Shrine of the Virgin of Guadalupe ist die Hauptkirche des Bistums. Um die Jahrhundertwende wurde Dallas zum bedeutendsten Markt für Drogeriewaren, Bücher, Juwelen und Spirituosen im Südwesten der Vereinigten Staaten und zu einem Handelszentrum für Baumwolle, Getreide und Büffelprodukte. Schnell wurde sie zum weltweit führenden Baumwoll-Inlandmarkt und konnte sich auch als Marktführer in der Sattlerei und im Bau von Entkörnungsmaschinen für Baumwolle etablieren. So wurde Dallas im beginnenden 20. Jahrhundert rasch von einem landwirtschaftlichen Zentrum zu einem Zentrum für Bankwesen, Versicherer und andere Geschäfte. 1930 wurde 160 km östlich von Dallas Öl entdeckt, die Stadt wurde dadurch schnell zum Zentrum der Ölindustrie in Texas und Oklahoma. 1958 erfand Jack Kilby bei Texas Instruments die integrierte Schaltung; damit begann die Entwicklung des Gebiets als ein Zentrum für die Herstellung von Hochtechnologie. Während der 1950er und 1960er Jahre wurde Dallas das drittgrößte Technologiezentrum in den Vereinigten Staaten. So entstanden etwa Unternehmen wie Ling-Tempco-Vought (LTV Corporation) und Texas Instruments. 1957 öffneten zwei Bauträger (Trammell Crow und John M. Stemmons) einen Möbelmarkt, aus dem später das Dallas Market Center entstand, das heute der größte Großhandelsmarkt der Welt ist. Am 22. November 1963 wurde der damalige US-Präsident John F. Kennedy auf der Elm Street erschossen, während seine motorisierte Eskorte über die Dealey Plaza in der Innenstadt von Dallas fuhr. In den 1970er und 1980er Jahren erfuhr Dallas einen wahren Bauboom, der der Innenstadt ihre prominente Silhouette verlieh, die z. T. von berühmten Architekten beeinflusst wurde. Mit dem Umzug eines Teils der Ölindustrie nach Houston und dem aufkeimenden Computer- und Telekommunikationsmarkt fing Dallas an, die Kernindustrie auf die Technologiebranche zu konzentrieren. In den späteren 1980ern brach die Wirtschaft während der Savings-and-Loan-Krise in Dallas fast völlig zusammen. Hunderte Rohbauten blieben unvollendet stehen. Wegen des riesigen weltweiten Erfolgs der Fernsehserie Dallas wurde die Stadt in den 1980er Jahren zu einer der prominentesten US-Städte. Anfang der 1990er Jahre konnte sich die Wirtschaft wieder deutlich erholen. Wegen der ansässigen Industrie im Bereich der Hochtechnologie erhielt Dallas in Anlehnung an das kalifornische Silicon Valley den Spitznamen „Silicon Prairie“. Beim Attentat auf Polizisten in Dallas am 7. Juli 2016 wurden fünf Polizisten getötet und sieben Polizisten sowie zwei weitere Personen verletzt. Das Attentat war der bis dahin schwerste gezielte Angriff auf Strafverfolgungsbeamte in den Vereinigten Staaten. In Dallas befindet sich die Präsidentenbibliothek von George W. Bush, dem 43. Präsidenten der Vereinigten Staaten. Bevölkerung Die Bevölkerung bestand laut dem Zensus von 2010 zu 28,8 Prozent aus Weißen und zu 24,7 Prozent aus Afroamerikanern; 6,3 Prozent waren asiatischer Herkunft; 0,7 % waren Indianer. 42,7 Prozent der Bevölkerung waren Hispanics. Der Median des Einkommens je Haushalt lag 2015 bei 50.270 US-Dollar. 17,9 Prozent der Bevölkerung lebten unterhalb der Armutsgrenze. Politik Stadt und Umland von Dallas entwickelten sich im 21. Jahrhundert zu einer Bastion der Demokratischen Partei. Bei den US-Präsidentschaftswahlen 2004 stimmten 57 % der städtischen Wähler für den demokratischen Bewerber John Kerry. Im Dallas County insgesamt stimmten 49 % für Kerry und 50 % für George W. Bush. Bei den Präsidentschaftswahlen 2008 and 2012 erzielte Barack Obama jeweils 57 % in Dallas County und noch höhere Anteile in der Stadt. Bei den Wahlen 2016 stimmten rund 66 % für Hillary Clinton, nur 28 % der städtischen Wähler für Donald Trump. Dallas County insgesamt stimmte zu 61 % für Clinton, zu 35 % für Trump. In 2004 wurde mit der offen lesbisch lebenden Lupe Valdez in Dallas County der einzige weibliche Sheriff in Texas gewählt und 2008 wiedergewählt. Wirtschaft Die Metropolregion von Dallas erbrachte 2016 eine Wirtschaftsleistung von 511,6 Milliarden US-Dollar. Das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf liegt bei 65.154 US-Dollar. Bei einer Studie aus dem Jahr 2014 belegte Dallas Platz 18 unter den wirtschaftsstärksten Metropolregionen weltweit und Platz 6 innerhalb der Vereinigten Staaten. Die Arbeitslosenrate in Dallas beträgt 3,4 % (Stand: Mai 2018) und liegt damit unter dem nationalen Durchschnitt. Die Stadt war durch ihre strategische Lage an zahlreichen Eisenbahnlinien ein wichtiges Zentrum der Öl- und Baumwollindustrie. Heute ist die Wirtschaft hauptsächlich von der Telekommunikations-, Computer-, Finanzdienstleistungs- und Transportbranche bestimmt. Dallas ist zudem das zweitgrößte Zentrum der US-amerikanischen Computerspiel-Entwicklungsbranche. Viele erfolgreiche Entwicklungsstudios haben sich in Dallas oder der näheren Umgebung niedergelassen, darunter unter anderem id Software, 3D Realms, Ensemble Studios, Gearbox Software und Ritual Entertainment. Bekannte Unternehmen AT&T, Telekommunikationskonzern Builders FirstSource, Baustoffhändler CBRE Group, Immobiliendienstleister Celanese, Chemieunternehmen Dean Foods, Molkereiunternehmen Greyhound Lines, Betreiber von Fernbuslinienverbindungen HollyFrontier, Betreiber von Erdölraffinerien Kronos International, Hersteller chemischer Erzeugnisse Mary Kay, Kosmetik, die im Direktvertrieb verkauft wird Neiman Marcus, in Dallas gegründete Kaufhauskette Regus, bietet Virtuelle Büros an Southwest Airlines, Luftfahrtgesellschaft Texas Instruments, Halbleiterfabrikant und Hersteller des ersten integrierten Schaltkreises Verkehr Stadtbahn Der schienengebundene ÖPNV in Dallas und Umgebung wird durch die Stadtbahn Dallas betrieben. Das Dallas Area Rapid Transit Nahverkehrsunternehmen betreibt außerdem die Straßenbahn Dallas und ist beteiligt an der M-Line in Uptown. Flugverkehr Der internationale Flughafen Dallas-Fort Worth (DFW) auf halber Strecke zwischen Dallas und Fort Worth gelegen, ist der größte Flughafen im Bundesstaat Texas, der viertgrößte der USA und der achtgrößte der Welt. Der DFW International Airport ist flächenmäßig größer als Manhattan. 1999 wurden hier mehr als 60 Millionen Passagiere abgefertigt. Verschiedene Fluggesellschaften sind mit ihren Hauptquartieren am DFW International Airport ansässig. Zu ihnen zählt unter anderen die größte Fluggesellschaft der Welt, American Airlines. Mit mehr als 800 täglichen Starts und Landungen macht American Airlines den Großteil des Flugbetriebs aus. Neben dem DFW International Airport gibt es noch den Flughafen Love Field (DAL), der bis zur Eröffnung des Flughafens Dallas-Fort Worth der Hauptflughafen der Stadt war. Kultur und Sehenswürdigkeiten Kunst Zum Arts District in der Innenstadt zählen das Dallas Museum of Art, das Crow Museum of Asian Art, die Dallas Opera, das Wyly Theatre des Dallas Theater Center, das Morton H. Meyerson Symphony Center, die Trammell & Margaret Crow Collection of Asian Art, das Nasher Sculpture Center. Der Distrikt beherbergt auch die regional bekannte Booker T. Washington High School for the Performing and Visual Arts. Weitere überregional bekannte Museen und Galerien sind die Kunsthalle Dallas Contemporary mit wechselnden Ausstellungen und das Meadows Museum (in der Enklave University Park), das eine bedeutende Sammlung spanischer Kunst zeigt. Das Kalita Humphreys Theater, 1959 erbaut von Frank Lloyd Wright, war die ehemalige Spielstätte des Dallas Theater Center und wird seit 2009 von verschiedenen freien Gruppen bespielt. Der Stadtteil Deep Ellum wurde während der 1920er und 1930er als Jazz- und Blueszentrum des amerikanischen Südens populär. Unter anderem spielten Musiker wie Blind Lemon Jefferson, Robert Johnson, Huddie „Leadbelly“ Ledbetter und Bessie Smith in den hier ansässigen Clubs. Heute wohnen in Deep Ellum zahlreiche Künstler, die neben Kneipen, Lokalen und Veranstaltungsorten ihre Ateliers haben. Auch die Sprayerszene konnte sich in Deep Ellum stark verbreiten – zahlreiche Graffiti und Wandgemälde bedecken Tunnel, Gebäude, Gehwege und Straßen. Bauwerke Die Innenstadt von Dallas ist von mehreren hohen Bauwerken geprägt. Höchstes Bauwerk der Stadt ist der Mitte der 1980er Jahre fertiggestellte und 281 Meter hohe Wolkenkratzer Bank of America Plaza. Das bis dahin höchste Bauwerk war der Renaissance Tower mit 270 Metern Höhe und 56 Stockwerken. Die Dallas City Hall, in der sich die Stadtregierung befindet, fällt durch ihre Architektur auf, die teilweise an eine umgekehrte Pyramide erinnert. Die Skyline wird neben den Hochhäusern auch von dem 171 Meter hohen Aussichtsturm Reunion Tower geprägt, der durch eine geodätische Kuppel als Turmkorb auffällt. Das Majestic Theatre wurde als 1977 als erstes Gebäude der Stadt unter Denkmalschutz gestellt. Die geschwungene Margaret Hunt Hill Bridge wurde 2012 in Betrieb genommen. Gastronomie Kulinarisch ist Dallas bekannt für Barbecue-Spezialitäten sowie mexikanische und Tex-Mex-Küche. Berühmte Lokale sind El Fenix, Mi Cocina, Bone Daddy’s Barbeque und The Mansion on Turtle Creek. In Dallas gibt es mehr Restaurants pro Kopf als in New York City. Sport In Dallas gibt es folgende Mannschaften nationaler Ligen: Dallas Cowboys (NFL; American Football) Dallas Desperados (Arena Football League, Arena Football) Dallas Mavericks (NBA; Basketball) Dallas Stars (NHL; Eishockey) FC Dallas (MLS, Fußball) Die Texas Rangers (Baseball) sind im Vorort Arlington beheimatet. Das Cotton Bowl Stadium ist das traditionsreiche Sportstadion von Dallas. Städtepartnerschaften Partnerstädte von Dallas sind Freundschaftliche Beziehungen bestehen zu: Dalian, Volksrepublik China Nanjing, Volksrepublik China Qingdao, Volksrepublik China Persönlichkeiten Panoramen Literatur Harvey J. Graff: The Dallas Myth: The Making and Unmaking of an American City. University of Minnesota Press, Minneapolis 2008, ISBN 978-0-8166-5269-3. Patricia Evridge Hill: Dallas: The Making of a Modern City.University of Texas Press, Austin 1995, ISBN 978-0-292-73104-2. Weblinks Einzelnachweise Millionenstadt County Seat in Texas Hochschul- oder Universitätsstadt in den Vereinigten Staaten George M. Dallas als Namensgeber Gemeindegründung 1841
Q16557
521.15671
3068006
https://de.wikipedia.org/wiki/.au
.au
.au ist die länderspezifische Top-Level-Domain Australiens. Sie wurde am 5. März 1986 eingeführt und gehört damit zu den ältesten Top-Level-Domains. Für die Verwaltung ist die .au Domain Administration Ltd (kurz auDA) mit Sitz in Carlton (Victoria) zuständig. Bis August 2001 wurde .au durch die Universität Melbourne organisiert. Geschichte .au gestattete es zunächst nur Privatpersonen und Unternehmen mit Sitz im Land, eine Domain anzumelden. Bereits 2007 wurde allerdings eine Kommission namens Names Policy Panel eingesetzt, welche die Möglichkeiten für Ausländer prüfen sollte. Letztendlich wurden die Vergabekriterien nur minimal verändert, sodass nun kein Wohnsitz oder eine Niederlassung notwendig sind, sondern auch eine in Australien eingetragene Marke zur Anmeldung einer .au-Domain berechtigt. Die Einhaltung der Richtlinien wurde von der auDA immer wieder streng überprüft, beispielsweise im Jahr 2009 im Bereich .org.au. Lange Zeit hatte die auDA auch zahlreiche geografische .au-Domains gesperrt, sie konnten nicht, auch nicht von der entsprechenden Gebietskörperschaft, registriert werden. Im Frühjahr 2005 wurde diese Praxis geändert, die nun verfügbaren Domains wurden verlost. Infolgedessen wurde 2008 die Community Geographic Domain Name Initiative ins Leben gerufen, die eine systematische Verwendung des Länderkürzels im Stil von stadt.bundesland.au forciert hat. 2008 wurden die Regeln für .au erneut liberalisiert, um den Handel mit Adressen zu ermöglichen. Bis dahin war es verboten, .au-Domains beispielsweise auf Sedo zu versteigern. Eine Registrierung nur zum Zweck des Verkaufs einer .au-Domain ist seitdem gestattet. 2011 wurde das zunächst gelockerte Verbot gänzlich aufgehoben, außerdem können nun auch abgelaufene .au-Domains ohne Wartezeit durch Dritte erneut registriert werden. Eigenschaften Insgesamt darf eine .au-Domain zwischen drei und 63 Zeichen lang sein, die Zuteilung benötigt bis zu zwei Wochen und ist im Vergleich zu anderen Top-Level-Domains damit überdurchschnittlich langsam. Es werden Adressen sowohl aus zweiter als auch dritter Ebene vergeben. Es existieren unter anderem folgende Second-Level-Domains: .asn.au für gemeinnützige Organisationen .com.au für kommerzielle Unternehmen .csiro.au für die Commonwealth Scientific and Industrial Research Organisation .edu.au für Bildungseinrichtungen .gov.au für die australische Regierung .id.au für Privatpersonen .net.au für Internetdienstleister .org.au für sonstige Organisationen .conf.au für Konferenzen. Die einzige verbliebene Webseite ist linux.conf.au. .info.au für allgemeine Informationen. Die Endung .oz.au ist ein Relikt aus der Zeit, in der die Universitäten direkt verbunden waren und Dateien direkt über UUCP austauschten. Damals wurde als Domain .oz verwendet, als dann die Top-Level-Domain .au erstellt wurde, wurden die bestehenden Seiten auf .oz.au verschoben. Bis heute verbleiben noch einige zu Universitäten gehörenden Websites unter .oz.au. Sonstiges Im Jahr 2011 versuchte BMW eine .au-Domain über das Schiedsgericht der WIPO zu erhalten. Letztendlich wurde eine Pflicht zur Herausgabe von bmwdiscounts.com.au, die der Autohersteller durch eine Verletzung seiner Markenrechte begründet sah, aber durch die WIPO verneint. Der Fall erlange international größere Bekanntheit. Die Vergabestelle kündigte Ende 2013 an, in Zukunft auch Angaben wie Telefonnummer und E-Mail-Adresse von Inhabern einer .au-Domain zu veröffentlichen, was bislang nicht der Fall war. Kritik 2007 geriet die Top-Level-Domain in die Kritik, nachdem die auDA Wildcards im Domain Name System angekündigt hatte. Sie leiten den Aufrufer nicht registrierter .au-Domains auf eine Seite mit Werbung um, anstatt ihm eine reguläre Fehlermeldung anzuzeigen. Experten sahen darin einen unzulässigen technischen Eingriff. Weblinks Offizielle Website der Vergabestelle auDA Einzelnachweise Länderspezifische Top-Level-Domain Medien (Australien) Technik (Australien)
Q37420
93.621954
501905
https://de.wikipedia.org/wiki/Wasserb%C3%BCffel
Wasserbüffel
Der Wasserbüffel (Bubalus arnee) gehört zu den Rindern (Bovinae) und ist die am weitesten verbreitete und bekannteste Art der Asiatischen Büffel (Bubalus). Er ist vielerorts zum Haustier geworden, wilde Wasserbüffel hingegen sind heute eine Seltenheit. Für wilde Büffel wird oft die indische Bezeichnung Arni verwendet; damit werden sowohl echte Wild- als auch verwilderte Hausbüffel bezeichnet. Taxonomie Ursprünglich wurde der wilde Wasserbüffel als Bubalus arnee, der Hausbüffel aber als Bubalus bubalis geführt. Heute werden sie zu einer Art zusammengefasst, laut Entscheidung der International Commission on Zoological Nomenclature (ICZN) Opinion 2027 ist arnee der gültige Name. Umstritten ist allerdings, ob wirklich alle Wasserbüffel einer Art angehören. So sehen manche in den chinesischen Büffeln, deren wilde Vorfahren vor etwa 3500 Jahren ausstarben, eine eigene Art Bubalus mephistopheles. Als Unterart des Wasserbüffels wird gelegentlich der philippinische Tamarau geführt, der heute häufig den Rang einer eigenständigen Art erhält. Merkmale Ein Wasserbüffel bringt es auf eine Kopf-Rumpf-Länge von fast 3 Metern, eine Schulterhöhe von 180 Zentimetern und ein Gewicht von mehr als einer Tonne. Diese Maße werden fast nur von wilden Büffeln erreicht. Die domestizierten Exemplare sind für gewöhnlich sehr viel kleiner und selten schwerer als 500 Kilogramm. Die Farbe der wilden Tiere ist grau, braun oder schwarz. Bei domestizierten Büffeln gibt es auch schwarz-weiß gescheckte oder ganz weiße Tiere. Der Rumpf ist rindertypisch tonnenförmig, der etwa 60 bis 80 Zentimeter lange Schwanz hat eine Endquaste. Die weit auseinander gespreizten Hufe geben den Tieren in ihrem sumpfigen Lebensraum sicheren Halt. Der Kopf ist meist lang und nach vorne hin verhältnismäßig schmal, die Ohren sind vergleichsweise klein. Beide Geschlechter tragen Hörner, die entweder geradlinig zur Seite weisen oder sich halbkreisförmig nach innen krümmen. Sie erreichen eine Spannweite von 2 Metern, mehr als bei jedem anderen lebenden Paarhufer; die Hörner der Weibchen sind allerdings meist etwas kürzer. Daneben existieren aber auch Büffelrassen mit kleineren Hörnern. Die Lebensdauer eines wilden Wasserbüffels beträgt 25 Jahre; in der Obhut des Menschen werden Wasserbüffel noch einige Jahre älter. Wilde Wasserbüffel Lebensweise Den Lebensraum des Wasserbüffels bilden offene Feuchtgebiete, Sumpfwälder und dicht bewachsene Flusstäler. Zum Schutz vor Insekten und zur Abkühlung hält er sich oft im Wasser oder im Schlamm auf. Anschließend ist die Haut von einer dichten Schlammschicht bedeckt, die kein blutsaugendes Insekt durchdringen kann. Da es in Asien fast nur noch domestizierte Wasserbüffel gibt, hat man das Verhalten dieser Tiere vor allem bei ausgewilderten Büffeln im Norden Australiens studiert. Wie weit dies dem ursprünglichen Verhalten entspricht, ist unbekannt. Wasserbüffel leben hier in Familiengruppen von dreißig Individuen, die von einer alten Kuh angeführt werden. Die Herden bestehen aus Weibchen und ihren Jungen. Junge Weibchen bleiben für gewöhnlich bei der Herde; jüngere Männchen werden dagegen im Alter von zwei Jahren aus der Herde vertrieben. Die Bullen werden nach einer Übergangszeit in Junggesellenverbänden, die jeweils etwa zehn Individuen umfassen, zu temporären Einzelgängern, schließen sich aber alljährlich zur Paarungszeit (in Nordindien im Oktober, weiter südlich zu keiner festgelegten Jahreszeit) einer Herde an. Die dominante Kuh behält auch in dieser Zeit die Führung der Gruppe und jagt nach dem Ende der Paarungszeit die Bullen davon. Alte Bullen, die sich nicht mehr paaren können, leben bis zu ihrem Tod als dauerhafte Einzelgänger. Meistens sondern sie sich freiwillig ab, gelegentlich werden sie von einem jüngeren Bullen gewaltsam vertrieben. Eine Kuh trägt etwa alle zwei Jahre ein Junges aus. Dies wird nach einer Tragzeit von 333 Tagen geboren und wiegt zunächst etwa 40 Kilogramm. Es wird etwa ein halbes Jahr gesäugt, ehe es selbständig grasen kann. Im Alter von zwei bis drei Jahren erlangen die Tiere die Geschlechtsreife. Die Nahrung des Wasserbüffels sind in erster Linie Gräser, daneben auch fast jede Art von Ufervegetation. Neben dem Menschen sind Tiger, Warane und Krokodile die einzigen Fressfeinde des Wasserbüffels. Tiger attackieren bevorzugt Jungtiere oder Einzelgänger, da eine geschlossene Herde durch koordiniertes Vorgehen oft in der Lage ist, die Raubkatzen zu vertreiben oder in Einzelfällen durch den Einsatz der Hörner sogar zu töten. Bestände Das Verbreitungsgebiet des wilden Wasserbüffels ist seit der Eiszeit kontinuierlich geschrumpft. Noch im späten Pleistozän gab es Wasserbüffel auch in Nordafrika. Zur Zeit der frühen Hochkulturen waren sie weit verbreitet: von Mesopotamien über Indien bis nach China und Südostasien. Der wilde Wasserbüffel wird von der International Union for Conservation of Nature (IUCN) in der Roten Liste gefährdeter Arten als „stark gefährdete“ Art (Endangered) geführt. Es ist heute jedoch bei den meisten Beständen schwierig zu bestimmen, welche Wasserbüffel echte Wildbüffel und welche bloß Nachkommen verwilderter Hausbüffel sind. Die Bestandsangaben schwanken deshalb zwischen 200 und 4000 Exemplaren. Indien beherbergt heute mit über 3000 Exemplaren die meisten wilden Wasserbüffel. Aber ihre Reinblütigkeit steht fast überall im Zweifel. Sie kommen nur noch in kleinen Gruppen in wenigen Reservaten vor: In Assam kommen wilde Wasserbüffel im Gebiet des Manas-Nationalparks, im Kaziranga-Nationalpark, im Laokhowa-Schutzgebiet und im Dibru-Saikhowa-Nationalpark vor. Im Manas-Gebiet bewohnen die Tiere auch angrenzende Teile Bhutans. In Arunachal Pradesh leben wilde Wasserbüffel im Namdapha-Nationalpark-Gebiet. In Chhattisgarh gibt es zwei Populationen: eine im Indravati-Nationalpark, die andere im Udanti-Reservat. Letztere könnte sich bis in angrenzende Gebiete Orissas ausdehnen. Weitere kleine Gruppen gibt es in Madhya Pradesh und Meghalaya. Die einzige Population in Nepal lebt im Kosi-Tappu-Wildreservat im Südosten des Landes und besteht aus etwa 150 Tieren. In Südostasien existieren darüber hinaus nur noch winzige, versprengte Restbestände. Die einzige Population wilder Wasserbüffel in Thailand lebt im Huai-Kha-Kaeng-Reservat und besteht aus etwa 50 Tieren, die mit Hauswasserbüffeln vermischt sein könnten. Einige Dutzend halten sich in Kambodscha im Osten der Provinz Mondulkiri. In Vietnam und Laos sind die letzten Bestände erloschen. Für Myanmar liegen keine aktuellen Schätzungen vor. Die wildlebenden Wasserbüffel Sri Lankas tragen wahrscheinlich ein hohes Maß an Hausbüffelgenen in sich, da die Bestände in der jüngeren Vergangenheit durch den Ausbruch der Rinderpest am Ende des 19. Jahrhunderts stark zusammengeschmolzen sind und sich die überlebenden Populationen vor ihrer Erholung mit Hausbüffeln gekreuzt haben dürften. Domestizierte Wasserbüffel Weltweit gibt es 150 Millionen domestizierte Wasserbüffel (Hausbüffel). Aufgrund der Umstellung auf maschinelles Pflügen ist der Einsatz und damit auch die Zahl dieser Arbeitstiere in den letzten ca. 25 Jahren drastisch zurückgegangen (besonders z. B. in Thailand). Domestikation und Verbreitung Wann der Wasserbüffel domestiziert wurde, ist umstritten, da sich die Knochen wilder und domestizierter Tiere nicht unterscheiden lassen. Eine genetische Studie aus dem Jahr 2008 deutet darauf hin, dass die erste Domestikation nicht in China stattfand. Wahrscheinlich wurden der Flussbüffel und der Sumpfbüffel – die beiden wichtigsten Typen der Wasserbüffel – unabhängig voneinander domestiziert: zuerst der Flussbüffel in Indien vor etwa 5000 Jahren, dann der Sumpfbüffel in China vor etwa 4000 Jahren. In der Indus-Kultur wurden Wasserbüffelknochen teilweise in großer Zahl gefunden (zum Beispiel an der Fundstätte Dholavira in Gujarat), man nimmt daher eine Herdenhaltung und die Nutzung für den Ackerbau an. Vom Industal aus kamen Hausbüffel nach Mesopotamien, von Indien und China gelangten sie nach Südostasien. Schon lange vor der Zeitenwende gab es in diesem gesamten Verbreitungsgebiet domestizierte Büffel. Heute ist Indien das Land mit den meisten Hausbüffeln, gefolgt von Pakistan und China. In historisch jüngerer Zeit gelangten Wasserbüffel auch in andere Regionen: In Nordafrika (vor allem Ägypten), Südamerika (vor allem Brasilien), Süd- und Mitteleuropa, Mauritius, Australien, Hawaii und Japan werden heute in unterschiedlichem Maße Wasserbüffel gehalten. In Europa werden Büffel in Italien, Rumänien und Bulgarien in größerem Stil genutzt. In Ungarn leben noch etwa 200 Büffel, ein kleiner Restbestand von ehemals 100.000 Büffeln (siehe Büffelreservat am Kis-Balaton). In Australien, wo die Büffelhaltung weitgehend aufgegeben wurde, verwilderten die Tiere und besiedelten den Norden, wo sie heute in etwa 200.000 Exemplaren vorkommen. Verwilderte Wasserbüffel gibt es in kleinerer Zahl auch in anderen Ländern (siehe unten). Domestizierte Büffel verhalten sich gegenüber Menschen friedlich und lassen sich sogar von Kindern dirigieren, während wilde Büffel in der Regel die Flucht vor dem Menschen ergreifen. Allerdings werden die einzelgängerischen alten Bullen gelegentlich sehr aggressiv und greifen dann Menschen und selbst Elefanten an. Sie sollen gelegentlich durch die Farben Gelb und Orange provoziert werden, weshalb z. B. die thailändischen Mönche mit ihrer orangen Robe oft einen größeren Bogen um sie machen. Nutzen Wasserbüffel werden zum Pflügen von Reisfeldern und als Lasttiere verwendet. Milch, Fleisch und Leder werden ebenfalls genutzt. Ein weiterer Vorteil des Wasserbüffels liegt darin, dass er von BSE nicht betroffen ist; Büffel in China erkranken gelegentlich an der Maul- und Klauenseuche. Milch Mit den heutigen Hausrindern können Wasserbüffel bei der Menge von Fleisch und Milch je Tier noch nicht mithalten. Büffelmilch hat verglichen mit Kuhmilch einen doppelt so hohen Fettgehalt (8 %) und längere Haltbarkeit. Jährlich werden in Asien 45 Millionen Tonnen Büffelmilch gewonnen. Durch gezielte Zucht immer ergiebigerer Büffelrassen konnte die Milchproduktion je Tier in den letzten Jahrzehnten beträchtlich gesteigert werden. Noch 1970 wurde ein Wert von 3000 Litern je Tier und Laktationsperiode (etwa 300 Tage) für einen Rekord gehalten; heute gibt es hochgezüchtete Büffelrassen, die 5000 Liter Milch im gleichen Zeitraum abgeben. Der Murrah gilt als die Büffelrasse, die in der Milchwirtschaft am vielversprechendsten ist; Züchter gehen davon aus, in naher Zukunft mit Wasserbüffeln ebenso viel Milch produzieren zu können wie mit Milchkühen. 2015 hatte die Büffelmilch, mit 110 Milliarden Kilo, einen Anteil von 13 % an der weltweiten Milchproduktion. Büffelmilch enthält je Gramm 0,19 mg Cholesterin (Rindermilch: 0,14 mg). Sie ist außerdem reicher an Kalzium, Eisen, Phosphor und Vitamin A. Mozzarella wurde ursprünglich aus Büffelmilch gewonnen – heute wird meistens aus Rindermilch hergestellter Mozzarella verkauft, der geschmacksärmer und von anderer Konsistenz ist. Echter Büffelmozzarella wird weiterhin aus Wasserbüffelmilch hergestellt. Fleisch Büffelfleisch ist in Europa bisher kaum bekannt, in Asien und Nordafrika dagegen jedoch traditioneller Bestandteil der Ernährung. Die globale Produktion von Büffelfleisch nahm zwischen 1970 und 2006 von 1.322.000 Tonnen auf 3.181.000 Tonnen um 140,8 % zu. Unter den führenden Ländern sind beispielsweise Indien, China, Ägypten, Nepal oder Indonesien. Büffelfleisch weist nicht nur verhältnismäßig geringe Fett- und Cholesterinwerte auf, sondern enthält auch überproportional viel Eisen und Protein. Zudem wurde in wissenschaftlichen Analysen durch das Institut für Lebensmittelhygiene Leipzig und das argentinische Institut für Lebensmitteltechnologie des nationalen Landwirtschaftstechnologieinsitutes (INTA) ein sehr gutes Verhältnis von Omega-3- zu Omega-6-Fettsäuren festgestellt. Büffelfleisch enthält durchschnittlich im Muskelfleisch auf 100 Gramm 24 % Protein, 1,5 % Fett, 35 mg Cholesterin, 2 % Eisen sowie 110 Kilokalorien. Beweidung Ein Beispiel aus dem Landkreis Mühldorf (Bayern) zeigt, wie Wasserbüffel als Habitatkonstrukteure wirken. Dort wurde eine seit 1996 mit Rindern beweidete Feuchtbrache 2011 zusätzlich mit Wasserbüffeln besetzt und die Raumnutzung sowie das Verhalten der Wasserbüffel untersucht sowie die Amphibienfauna beobachtet. Durch die Beweidung entwickelte sich die ursprünglich dichte und hohe Vegetation aus Hochstauden und Schilfröhricht zu einem Mosaik aus Weiderasen sowie höheren Gras- und Staudenbeständen. Röhricht in Gewässern wurde stark reduziert und die Besonnung der Uferzonen nahm zu. Im Gebiet hat der Bestand des Grasfroschs (Rana temporaria) seit Projektbeginn deutlich zugenommen. Auch bei der Gelbbauchunke (Bombina variegata) deutet sich ein Bestandsanstieg an. Sie laicht in den von Weidetieren offengehaltenen Uferbereichen eines Tümpels und seit 2011 in den von Wasserbüffeln neu geschaffenen Gewässern. Durch Suhlen, und indem die Büffel in nassen Bereichen der Weide Pfade bahnten, entstanden vegetationsfreie, besonnte Kleingewässer in zuvor dichter Vegetation. Es deutet sich an, dass eine Beweidung mit Wasserbüffeln eine Alternative zur maschinellen Entlandung oder Neuschaffung solcher Gewässer darstellen kann. Rassen 74 Rassen von Hausbüffeln sind bekannt. Sie werden grob in Sumpf- und Flussbüffel unterteilt: Sumpfbüffel sind vor allem Arbeitstiere, sie werden überwiegend in China und Südostasien gezüchtet. Sie helfen bei der Bewirtschaftung der Reisfelder. Erst wenn sie für die Arbeiten zu alt sind, werden sie geschlachtet und gegessen. Für die Milchproduktion spielen sie so gut wie keine Rolle. Flussbüffel werden für Milch- und Fleischproduktion gezüchtet. Das Zentrum der Flussbüffelzucht liegt in Indien, wo es die meisten Rassen und die ergiebigsten Tiere gibt. Wichtige Rassen bei den Arbeitstieren sind: Carabao (Philippinen und Guam): graues oder schwarzes Fell, halbmondförmige Hörner Malaiischer Büffel (Südostasien): graues Fell, mittellange, halbmondförmige Hörner Zu den Milchrassen gehören: Murrah (Haryana und Punjab): gilt als ergiebigste aller Milchbüffelrassen, weltweit exportiert Nili-Ravi (Punjab): schwarzes Fell mit weißer Zeichnung im Gesicht, sehr kurze Hörner Pandharpuri (Maharashtra): schwarzes Fell, erkennbar an den schwertartigen, riesigen Hörnern (jeweils bis 150 cm lang) Kundi (Sindh): schwarzes Fell, besonders schwer und massig Es gibt auch Rassen mit gemischter Nutzung, zum Beispiel Saidi in Oberägypten und Baladi in Unterägypten. Inzwischen wird die Zucht auch in Nordamerika und Europa fortgesetzt. Büffelzucht in Deutschland Es gibt einige Höfe, auf denen Wasserbüffel gezüchtet werden. Zum Beispiel eine Büffelzucht mit ca. 290 Tieren (Stand 2014) in Hohenstein-Meidelstetten auf der Schwäbischen Alb. Im Jahr 2008 lebten etwa 1800 Wasserbüffel in Deutschland. Anfang März 2010 waren es nach Angaben des Deutschen Büffelverbandes e. V. mit 2362 Büffel fast viermal so viele wie im Jahr 2000. Im September 2018 war in Bayern und Baden-Württemberg noch ein Züchter mit 20 Herdbuchkühen erfasst, in Sachsen im Februar 2020 noch ein Züchter mit zwei Bullen und 64 Kühen und in Sachsen-Anhalt gab es 2017 noch vier Haltungen mit insgesamt 34 Tieren. Seit 2017 leben in Wesel auf der Bislicher Insel inzwischen etwa 150 Tiere in einer Herde. Büffelzucht in der Schweiz In der Schweiz wurden die ersten Wasserbüffel 1996 aus Rumänien importiert und in der Region Schangnau gehalten, u. a. in Eggiwil. Die Milch wird vorwiegend in Marbach LU zu Mozzarella verarbeitet. Ende 2021 lebten in der Schweiz über 2200 Wasserbüffel. Verwilderte Wasserbüffel Vorkommen Im Norden Australiens entstand gegen Ende des 19. Jahrhunderts eine sehr große verwilderte Population. Kleinere verwilderte Populationen existieren in Neuguinea, Tunesien und im Nordosten Argentiniens. Verwilderte Herden gibt es ferner in Kolumbien, Guyana, Suriname, Brasilien und Uruguay sowie auf den Inseln Neubritannien und Neuirland. Population in Australien Zwischen 1823 und 1840 wurden durch den Menschen 80 Wasserbüffel zur Fleischproduktion im Northern Territory in Australien eingeführt. Einzelne Tiere und Herden verwilderten und vermehrten sich unter ihren neuen Lebensbedingungen so schnell, dass nach Schätzungen der australischen Regierung zwischen 1880 und 1970 insgesamt 700.000 Tiere erlegt werden mussten. 1985 lebten mit einem Bestand von 350.000 Tieren mehr als die Hälfte der weltweit nicht als Haustiere gehaltenen Wasserbüffel in Australien. Die verwilderten Wasserbüffel stellten in den Marschregionen an Australiens Nordküste ein gravierendes ökologisches Problem dar. Sie verstärkten durch ihre Trampelpfade und ihr Suhlen die Bodenerosion, veränderten durch ihr Fressverhalten die Zusammensetzung der lokalen Flora und erleichterten durch ihr Suhlen das Eindringen von Salzwasser in Süßwasserhabitate. Sie veränderten damit ihren Lebensraum so nachhaltig, dass die Anzahl der dort lebenden Australien-Krokodile, des australischen Süßwasserfisches Barramundi und ähnlicher einheimischer Arten drastisch zurückging. Zu diesen gravierenden ökologischen Auswirkungen trug wesentlich bei, dass sich in den Trockenzeiten auf einem Quadratkilometer Marschland bis zu 35 Tiere aufhielten. Wasserbüffel sind außerdem Überträger von Rinderkrankheiten wie der Tuberkulose und der Rinderbrucellose. Besonders Letztere hat dazu beigetragen, dass der Wasserbüffelbestand sowohl von der Regierung als auch von der Mehrheit der australischen Bevölkerung als zu bekämpfende Plage angesehen wird. Von 1979 bis 1997 wurde von der australischen Regierung ein Programm zum Abschuss verwilderter Wasserbüffel durchgeführt, wobei die Tiere, die im unzugänglichen Marschland lebten, zum Teil vom Helikopter aus abgeschossen wurden. Die Anzahl der verwilderten Wasserbüffel ist seitdem deutlich zurückgegangen. In dem zum Weltnaturerbe gehörenden Kakadu-Nationalpark beispielsweise wurde die Anzahl der dort lebenden Tiere von 20.000 im Jahre 1988 auf 250 im Jahre 1996 reduziert und damit erreicht, dass die Bestände einheimischer Pflanzen wie bestimmte Eukalyptus-Arten und die Rote Wasserlilie sich wieder erholten. Symbolik Mythologie und Volksglaube Ein so eng mit dem Menschen verbundenes Tier wie der Wasserbüffel taucht naturgemäß in vielen Märchen und Sagen der mit ihm assoziierten Völker auf. In der indischen Mythologie verkörpert der Wasserbüffel unter anderem den Dämon Mahishasura, ein Mischwesen aus Büffel und Mensch, das von keinem der Götter besiegt werden konnte, bis die Kriegsgöttin Durga ihn zuletzt doch niederrang. Im Hinduismus erinnern das bengalische Durgapuja sowie das nepalesische Dashain-Fest an diesen Kampf zwischen Gut und Böse. In Nepal ist es ein staatlicher Feiertag. Zu diesem Fest wird in einer Prozession ein Büffelkopf durch die Straßen getragen, der Mahishasura symbolisieren soll. Der Büffel taucht noch in einer anderen, ebenfalls nicht sehr positiven Rolle auf: Yama, im Hinduismus der Herr der Unterwelt, wird oft auf einem Wasserbüffel reitend dargestellt. Zu bestimmten Gelegenheiten nimmt der Gott selbst die Gestalt eines Büffels an. Der chinesische Philosoph Laozi wird meistens auf einem Wasserbüffel reitend dargestellt. In der chinesischen Astrologie ist der Büffel eines der zwölf Sternzeichen. 2033 ist das nächste Jahr des Büffels. In Osttimor ist der Wasserbüffel ein Symbol von Macht. Seinen Hörnern ist die Kaibauk, eine Art Krone und Herrschaftssymbol, nachempfunden. Obwohl die Bevölkerung nahezu vollständig katholisch ist, werden nach animistischer Tradition neben Kreuzen auch Büffelhörner und -schädel auf Gräbern aufgestellt. Sonstiges In dem berühmten Dschungelbuch von Rudyard Kipling wird Mogli nach seiner Rückkehr zu den Menschen zu einem Büffelhirten. Die Büffel sind es, die letztlich den bösartigen Tiger Shere Khan zu Tode trampeln. „Büffel“ (khwaai) ist in Thailand eine der abfälligsten Bezeichnungen zur Charakterisierung eines Menschen, auch im Sinne einer Beleidigung, und in der Ausdrucksstärke vergleichbar mit „Schwein“ im Deutschen. Gemeint ist damit jemand, der stur, dumm, lernunfähig, stumpf oder unbeweglich ist. Aufgrund ihrer Wasserkühlung und einer starken Leistung von bis zu 67 PS erhielt das Motorrad Suzuki GT 750 in den 1970er-Jahren schnell im deutschsprachigen Raum den Szenenamen „Wasserbüffel“, unter dem es heute noch bekannt ist. Literatur Bernhard Grzimek: Grzimeks Tierleben. Säugetiere Band 13. dtv, München 1970. ISBN 3-423-03207-3 Ronald Nowak: Walker’s Mammals of the World. Bd. 2. Johns Hopkins University Press, Baltimore 1999. ISBN 0-8018-5789-9 The Water Buffalo. New Prospects for an Underutilized Animal. Books for Business. Washington 1981, 2002. ISBN 0-89499-193-0 Tim Low: Feral future. The untold story of Australia's exotic invaders. Penguin Books Australia Ltd, Ringwood 2001. ISBN 0-14-029825-8 (Dieses Buch beschreibt u. a. die ökologischen Probleme, die die Verwilderung der Wasserbüffel in Australien nach sich zog.) Dorian Fuller: An agricultural perspective on Dravidian historical linguistics, archaeological crop packages, livestock and Dravidian crop vocabulary. In: Peter Bellwood, Colin Renfrew: Examining the farming/language dispersal hypothesis. Macdonald Institute for Archaeological Research, Cambridge 2002, 191–213. ISBN 1-902937-20-1 (zur Domestikation) Weblinks Prof. Dr. Zeigert und Peter Biel: Nutzung des Wasserbüffels bei extensiver Beweidung von Feucht- und Moorstandorten, Naturweiden und Brachland, auf der Homepage seiner Büffelfarm Hatten, 2012 Wasserbüffel in der Landschaftspflege (LEL BW) Möglichkeiten und Grenzen des Einsatzes von Wasserbüffel in der Landschaftspflege, Projektbericht u. a. von Studenten der HTW Dresden, 2004 (pdf) Zuchtverband Sächsischer Rinderzuchtverband e.G.: Zuchtprogramm für die Rasse Wasserbüffel (Februar 2020, pdf) Einzelnachweise Rinder und Waldböcke
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https://de.wikipedia.org/wiki/Schmuck
Schmuck
Schmuck ist ein Ziergegenstand oder eine Maßnahme zur Verschönerung. Der Begriff hat eine weitere und eine engere Bedeutung: Im weitesten Sinne sind mit Schmuck Verzierungen gemeint, also Maßnahmen zur Verschönerung, zur optischen Aufwertung oder zu einer Wohlstand repräsentierenden (Aus-)Gestaltung von Räumen, Objekten oder Personen. Man spricht auch von Ausschmückung oder dekorativen (schmückenden) Elementen. Im engeren Sinne bezeichnet der Begriff Schmuck einen subjektiv als schön empfundenen Gegenstand (Ziergegenstand, aber auch Bemalung). Im engsten Sinne sind unter Schmuck Gegenstände zu verstehen, die an Körper und Kleidung des Menschen angebracht werden, und der Zierde dienen. Schmuck bezeichnet auch die Elemente, die Tiere oder Pflanzen zu analogen Zwecken als Kommunikationsmittel im weitesten Sinne ausbilden. Etymologie Das Wort ‚Schmuck‘ hat denselben Ursprung wie das Wort Geschmeide, das wie mittelhochdeutsch gesmîdec (leicht zu bearbeiten, gestaltbar, geschmeidig) und althochdeutsch smîda (Metall) von der germanischen Wurzel smi (in Metall arbeiten) stammt. Allgemeine Geschichte Die Verwendung von Schmuck geht auf die Anfänge der Menschheit zurück: Forschungen aus dem Jahr 2006 weisen darauf hin, dass Menschen sich bereits vor 100.000 Jahren mit Muscheln schmückten – mindestens 25.000 Jahre früher als bislang angenommen. Halsschmuck in Form sowohl von einfachen als auch schon mehrgliedrigen Halsketten ist bereits aus der Altsteinzeit belegt (vgl. Jungpaläolithische Kleinkunst). Die Menschen der Steinzeit arbeiteten ihre Halsketten aus Muschel- und Schneckengehäusen (z. B. Kaurischnecken), Tierzähnen, Fischwirbeln und Perlen. Anhänger wurden aus Knochen, Steinen und auch bereits aus Bernstein gearbeitet. Mit der Entdeckung der Verarbeitungsmöglichkeiten von Kupfer und Bronze wurden diese in Spiralröllchen, Plättchen, Metallperlen, Ringe und Scheiben verarbeitet. Selbst Äxte und Beile hatten zunächst nur Schmuckfunktion, da sie im Verhältnis zu Steinwerkzeug zu weich waren. Die praktische Verwendung folgte der Schmuckfunktion daher mit zeitlichem Abstand. Die Verwendung organischer Stoffe wie Tierzähne oder auch Bernstein nahm entsprechend ab. In der vorchristlichen Zeit war Schmuck neben anderen Gegenständen auch Grabbeigabe. Zudem wurde Schmuck nicht nur im Endneolithikum als nonverbales Zeichensystem benutzt, mit dessen identitätsstiftenden Charakter sich soziale, territoriale und religiöse Gruppen optisch differenzieren konnten. Mit der Entdeckung der Metallverarbeitung in der Bronzezeit über die Glasherstellung bis zur Entwicklung neuer Stoffe im 20. Jahrhundert (beispielsweise Kunststoff) konnte sich die Bandbreite der verwendeten Materialien bei der Schmuckanfertigung (Bijouterie) entsprechend erweitern. Mit der Verwendung von kostbaren Materialien wurde der Schmuck zugleich auch ein Wertgegenstand, der bei Tauschgeschäften verwendet wurde. Aufgaben und Funktionen von Schmuck Schmuck kann allein ästhetische Funktionen besitzen oder auch in Verbindung mit einem praktischen oder sozialen Gebrauch stehen. Gebrauchsgegenstände werden häufig verziert und umgekehrt können ursprünglich reine Schmuckgegenstände auch mit einem Gebrauchswert versehen werden. Beispiele für Schmuck mit Gebrauchsfunktion sind: der Schlüsselring (kurzer Schlüssel der in römischer Zeit auf einem Ring befestigt war) und der Siegelring, (der in griechischer und römischer Zeit auch zur Beurkundung von Verträgen auf Ton oder Wachs genutzt wurde). Aus Sicht ihrer Träger kann eine mystische Wirkung auch praktisch sein, wenn z. B. einem Amulett mit einem bestimmten Symbol die Fähigkeit zugesprochen wird, Unheil abzuwenden. Schmuck kann auch Signalwirkung zukommen mit der z. B. ein sozialer Status oder eine Zugehörigkeit angezeigt wird. Beispiele sind der Ehering, der Bischofsring oder die Krone. Schmuck kann auch als Wertreserve und Zahlungsmittel dienen (siehe dazu auch Geschichte des Geldes). Gerade in wirtschaftlich schwächer entwickelten Ländern dient der Goldschmuck den Frauen ständig am Körper tragen als materielle Notreserve der Familie. Bis in das 19. Jahrhundert hinein war es bei friesischen Fischern und Seefahrern üblich einen goldenen Ohrring zu tragen, von dessen Wert ihre christliche Bestattung finanziert werden konnte, wenn sie ertrunken an eine fremde Küste angeschwemmt wurden. Die Körperbemalung kann neben einer Signalwirkung (Stammeszugehörigkeit, Kriegsbemalung) darüber auch dem Schutz der Haut vor zu intensiver Sonneneinstrahlung oder vor Insekten dienen. Auch das seit früher Zeit im Alten Ägypten übliche Schminken aus Malachit und Bleiglanz um die Augen herum soll neben der ästhetischen Wirkung dem Schutz gegen Fliegen und die Blendwirkung der Sonne gedient haben. Beim Brustwarzen- und Intimpiercing steht neben einem ästhetischen Motiv auch die Absicht einer sexuellen Stimulation durch mechanische Reize. Körper- und Kleiderschmuck Bei Menschen ist Schmuck ein Ziergegenstand, der am Körper getragen wird. Der Schmuck dient in erster Linie dazu, die Attraktivität oder den Stellenwert einer Person innerhalb einer Gesellschaft oder Gruppe zu erhöhen oder einen Status sichtbar darzustellen (zum Beispiel die Kronjuwelen). Schmuck ist einerseits an die Faszination des Materials gebunden, etwa an das Metall mit seinem Glanz oder an die Farbigkeit von Edelsteinen, andererseits an formale Aspekte der Schmuckform. Schmuck unterscheidet man unter anderem: nach Form Ketten Bänder Ringe nach Funktion Anhänger, Gürtelschnallen Schmuckuhr nach Material Metall- bzw. Edelmetall­schmuck wie Bronzeschmuck, Eisenschmuck, Goldschmuck, Platinschmuck, Silberschmuck, Silber-Türkisschmuck Email­schmuck Fossil­schmuck Haarschmuck Perlenschmuck Schmucksteine (besonders wertvoll und bearbeitet Juwelen genannt) nach Herstellungsweise Filigranschmuck 3D-gedruckter Schmuck nach geschmücktem Körperteil Armschmuck: Armband oder Armreif Fingerschmuck: Fingerring, Nagelschmuck Fußschmuck: Fußkettchen, Zehenring Halsschmuck: Halsband, Halskette, Halskragen, Halsring oder -reif, Torques Intimschmuck Kopfschmuck: Aigrette, Diadem, Ferronière Haarschmuck, Haarnadeln, Einsteckkämme, Haarklammern, Kanzashi Mundschmuck Nasenschmuck Ohrenschmuck: Ohrringe und -stecker nach Anbringung Ansteckschmuck, zum Beispiel Broschen, Nadeln, Pins, Abzeichen Piercingschmuck Auf die Haut geklebter Schmuck, beispielsweise Bindis nach Anlass Brautschmuck Trauerschmuck nach Preis Modeschmuck, günstig produzierter Schmuck nach regionaler oder kultureller Herkunft Friesenschmuck Hümmlingschmuck Toledoschmuck Berberschmuck Indianerschmuck Navajoschmuck Hopischmuck Zunischmuck Black-Hills-Schmuck Eng verwandt mit diesem Thema ist Kleidung :Kategorie:Kleiderschmuck, Körperbemalung (Schminken), Tätowierungen und Narben. Tierschmuck Tierschmuck wird bei Haustieren angebracht und dient meist als Statussymbol der Besitzer. Ein klassischer Schmuck bei Haustieren ist beispielsweise bei Pferden ein mit kleinen Metallscheiben und ähnlichem versehenes Geschirr, sowie Decken, Bänder und weitere Verzierungen. Diese werden vor allem bei offiziellen Anlässen angelegt (etwa bei Paraden), um die Aufmerksamkeit auf die jeweiligen Reiter/Gruppen zu richten und gegebenenfalls die gesellschaftliche Stellung der Besitzer hervorzuheben. Ähnliches gilt für indische Elefanten sowie für andere Tiere. Der Kopfschmuck des Leittieres beim Almabtrieb soll den Erfolg des Besitzers anzeigen. Teilweise kommt zur dekorativen Funktion auch ein funktionaler Gebrauch hinzu. So erleichtert eine Kirchenglocke bzw. ein Glöckchen die Lokalisation, beispielsweise bei Kühen, Schafen oder Katzen. Verzierte Halsbänder dienen weiterhin auch der Kontrolle von Hunden. Schmückende Ausgestaltung der menschlichen Umgebung Das Bedürfnis des Menschen nach einer schmückenden Ausgestaltung seiner Umgebung erstreckt sich auf Gegenstände aller Art, Räumlichkeiten und Gebäude. Gebäudeschmuck Zum Gebäudeschmuck zählen Fassade Gesimse Ornament Sohlbank Gurtprofil Giebelschmuck Buchschmuck Die Bezeichnung Buchschmuck steht in den Bereichen Buchgestaltung und Grafikdesign für alle verzierende Elemente eines Schriftwerks. Das Schmücken zu feierlichen Anlässen Das zeitlich begrenzte Schmücken, das zu feierlichen, offiziellen, religiösen, privaten oder anderen Anlässen neben Gegenständen, Räumlichkeiten und Gebäuden beispielsweise zur Weihnachts- oder Osterzeit auch den öffentlichen Raum erfasst, fällt in den Bereich des Brauchtums.Siehe: Kategorien Feste und Brauchtum (Religion), Feste und Brauchtum nach Jahreszeit, Feste und Brauchtum nach Staat. Siehe auch Schmuckmuseum Pforzheim Schmucktheorie Literatur Ulla Stöver: Mon Bijou. Geschichte und Geschichten um Schmuck. Nymphenburger, München 1971. ISBN 3-485-04049-5 F. d’Errico, C. Henshilwood, M. Vanhaeren, K. van Niekerk: Nassarius kraussianus shell beads from Blombos Cave, evidence for symbolic behaviour in the Middle Stone Age. In: Journal of Human Evolution. Band 48, Nr. 1, 2005, S. 3–24. , DOI:10.1016/j.jhevol.2004.09.002 Kerstin Geßner: Vom Zierrat zum Zeichen von Identitäten. Soziokulturelle Betrachtungen auf der Grundlage des endneolithischen Schmucks im Mittelelb-Saale-Gebiet. In: Ethnographisch-Archäologische Zeitschrift, Nr. 46, 2005, S. 1–26, online Christopher Henshilwood u. a.: Middle Stone Age shell beads from South Africa. In: Science. Band 304, Nr. 5669, 2004, S. 404. , DOI:10.1126/science.1095905 Karina Iwe, Yvonne Schmuhl, Sabine Wolfram (Hrsg.): Chic! Schmuck. Macht. Leute. (Ausstellungskataloge des Staatlichen Museums für Archäologie Chemnitz, Band 5), Dresden 2022, ISBN 978-3-943770-67-4. Weblinks Schmuck und Accessoires – Informationen des Bundesamts für Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen Einzelnachweise Handlung und Verhalten Dekoration
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https://de.wikipedia.org/wiki/Anaximander
Anaximander
Anaximander oder Anaximandros (; * um 610 v. Chr. in Milet; † nach 547 v. Chr. ebenda) war ein vorsokratischer griechischer Philosoph. Er gehört neben Thales und Anaximenes zu den wichtigsten Vertretern jenes philosophischen Aufbruchs, der mit Sammelbegriffen wie „ionische Aufklärung“ und „ionische Naturphilosophie“ bezeichnet wird. Einordnung von Person und Bedeutung Apollodor von Athen zufolge lebte Anaximander um 610 – 546 v. Chr. in Milet. Es ist wahrscheinlich, dass er Thales von Milet gekannt und mit ihm in enger Gedankengemeinschaft gelebt hat. Jedenfalls gilt er als Nachfolger und Schüler des Thales. Ihn beschäftigte dasselbe Grundproblem wie Thales, nämlich die Frage nach dem Ursprung allen Seins, nach der Arché (). Dafür hielt er jedoch nicht das Wasser, sondern das stofflich unbestimmte Ápeiron (): das hinsichtlich seiner Größe „Unbegrenzte“ bzw. „Unermessliche“. Von Anaximanders Philosophie ist im Original nur ein einziges Fragment überliefert; es stellt überhaupt den ersten erhaltenen griechischen Text in Prosaform dar. Der Großteil der philosophischen Anschauungen Anaximanders ist der zwei Jahrhunderte späteren Überlieferung des Aristoteles zu entnehmen und mit einigen Unsicherheiten behaftet. Als bedeutender Astronom und Astrophysiker entwarf er als erster eine rein physikalische Theorie der Weltentstehung (Kosmogonie). Er gründete seine Überlegungen zur Entstehung des Weltganzen ausschließlich auf Beobachtung und rationales Denken. Auf Anaximander geht der moderne Begriff Kosmos () und die Erfassung der Welt als ein planvoll erfassbares, geordnetes Ganzes zurück. Er zeichnete ebenfalls als erster nicht nur eine geographische Karte mit der damals bekannten Verteilung von Land und Meer, sondern konstruierte auch eine Sphäre, einen Himmelsglobus. Die Karte ist heute verschollen, wurde aber später durch Hekataios von Milet ausgewertet, aus dessen Werk eine halbwegs konkrete Darstellung der damaligen Weltsicht überliefert ist. Nach ihm ist der Mondkrater Anaximander benannt. Ursprung und Ordnungsprinzip des Weltganzen Die Grundsubstanz alles Gewordenen nach Anaximander, das Apeiron (das Grenzenlose), wird unterschiedlich gedeutet: als räumlich und zeitlich unbegrenzter Urstoff, als unendlich hinsichtlich Masse oder Teilbarkeit, als unbestimmt oder grenzenlos u. a.m. Der Begriff des Unermesslichen spiegelt die Offenheit der Möglichkeiten, das Apeiron zu deuten, aber auch die Unvorhersehbarkeit dessen, was aus dem Apeiron entsteht oder von ihm erzeugt wird. Nach Aristoteles hat Anaximander das, was der Begriff bezeichnet, als ein den Göttern der Volksreligion vergleichbares unsterbliches und unzerstörbares Wesen betrachtet. Mit dem einzigen erhaltenen Anaximander-Fragment liegt der erste schriftlich gefasste und überlieferte Satz der griechischen Philosophie überhaupt vor. Allerdings ist die diesbezügliche Forschung uneins, in welchem Umfang das Überlieferungsgut tatsächlich authentisch auf Anaximander zurückgeht. Die Wiedergabe durch Simplikios von Kilikien im 6. nachchristlichen Jahrhundert beruht ihrerseits auf einem verlorengegangenen Werk des Aristoteles-Schülers Theophrastos von Eresos. Die sich auf das Apeiron beziehende, unter dem Seienden die Vielheit der Dinge und Phänomene verstehende Kernaussage lautet: „(Woraus aber für das Seiende das Entstehen sei, dahinein erfolge auch sein Vergehen) gemäß der Notwendigkeit; denn diese schaffen einander Ausgleich und zahlen Buße für ihre Ungerechtigkeit nach der Ordnung der Zeit.“ Damit hat Anaximander als Erster etwas nicht Wahrnehmbares und Unbestimmtes als existierend festgelegt, um so wahrnehmbare Phänomene zu erklären. Die gleichsam gesetzmäßige wechselseitige Ablösung gegenstrebiger Wirkkräfte oder Substanzen in einem kontinuierlichen und ausgeglichenen Prozess dürfte für die beständige Ordnung des Kosmos stehen: ein dem Wechsel und der Veränderung ausgesetztes und doch in sich stabiles System. Uneinig ist die Forschung darüber, ob auch das Apeiron an diesem Geschehen beteiligt ist oder ob es sich um einen rein innerweltlichen Ausgleichsprozess handelt, sodass die Wirkung des Apeiron sich allein auf die Phase der Weltentstehung beschränkte. Im anderen Fall kämen auch Vorstellungen von einer Mehrzahl neben- oder nacheinander existierender Welten in Betracht. Robinson erwägt, dass Anaximander sich das Universum als einen ewigen Prozess gedacht haben könnte, „in dem eine unendliche Anzahl galaktischer Systeme aus dem Apeiron geboren und wieder in es aufgenommen wird. Damit hätte er auf brillante Weise die Weltsicht der Atomisten Demokrit und Leukipp vorweggenommen, die für gewöhnlich als deren eigene Leistung betrachtet wird.“ Kosmos und Erde Anaximander meinte, bei der Entstehung des heutigen, geordneten Universums habe sich aus dem Ewigen ein Wärme- und Kältezeugendes abgesondert, und daraus sei eine Feuerkugel um die die Erde umgebende Luft gewachsen, wie um einen Baum die Rinde. Die Gestirne entstehen laut Anaximander durch die geplatzte Feuerkugel, indem das abgespaltene Feuer von Luft eingeschlossen wird. An ihnen befänden sich gewisse röhrenartige Durchgänge als Ausblasestellen; sie seien dort als Gestirne sichtbar. In gleicher Weise entstünden auch die Finsternisse, nämlich durch Verriegelung der Ausblasestellen. Das Meer sei ein Überrest des ursprünglich Feuchten. „Ursprünglich war die ganze Oberfläche der Erde feucht gewesen. Wie sie aber dann von der Sonne ausgetrocknet wurde, verdunstete allmählich der eine Teil. Es entstanden dadurch die Winde und die Wenden von Sonne und Mond, aus dem übrigen Teil hingegen das Meer. Daher würde es durch Austrocknung immer weniger Wasser haben, und schließlich würde es allmählich ganz trocken werden“ (Aristoteles über Anaximander). Aus einem Teil dieses Feuchten, das durch die Sonne verdampfe, entstünden die Winde, indem die feinsten Ausdünstungen der Luft sich ausschieden und, wenn sie sich sammelten, in Bewegung gerieten. Auch die Sonnen- und Mondwenden geschähen, weil diese eben, jener Dämpfe und Ausdünstungen wegen, ihre Wenden vollführten, indem sie sich solchen Orten zuwendeten, wo ihnen die Zufuhr dieser Ausdünstung gewährleistet sei. Die Erde sei das, was vom ursprünglich Feuchten an den hohlen Stellen der Erde übrig geblieben sei. Anaximander meinte, die Erde sei schwebend, von nichts überwältigt und in Beharrung ruhend infolge ihres gleichen Abstandes von allen Himmelskreisen. Ihre Gestalt sei rund, gewölbt und ähnele in der Art eines steinernen Säulensegments einem Zylinder. Wir stünden auf der einen ihrer Grundflächen; die andere sei dieser entgegengesetzt. Regengüsse bildeten sich aus der Ausdünstung, welche infolge der Sonnenstrahlung aus der Erde hervorgerufen werde. Blitze entstünden, indem der Wind sich in die Wolken hineinstürze und sie auseinanderschlage. Theorie der Menschwerdung und der Seele Die Entstehung der Menschheit führte Anaximander auf andere Lebewesen zurück. Ihm war aufgefallen, dass der Mensch im Vergleich zu anderen Arten im Frühstadium seiner Entwicklung sehr lange Zeit benötigt, bis er für die Selbstversorgung und das Überleben aus eigenen Kräften sorgen kann. Deshalb nahm er an, dass die ersten Menschen aus Tieren hervorgegangen sind, und zwar aus Fischen oder fischähnlichen Lebewesen. Denn den Ursprung des Lebendigen suchte er im Wasser; das Leben war für ihn eine Spontanentstehung aus dem feuchten Milieu: „Anaximander sagt, die ersten Lebewesen seien im Feuchten entstanden und von stachligen Rinden umgeben gewesen. Im weiteren Verlauf ihrer Lebenszeit seien sie auf das trockene Land gegangen und hätten, nachdem die sie umgebende Rinde aufgeplatzt sei, ihr Leben noch für kurze Zeit auf andere Weise verbracht.“ Die Seele hielt Anaximander für luftartig. Der Vorstellung von der Seele als Aër mag die Verbindung mit dem Leben bzw. dem Ein- und Ausatmen zugrunde gelegen haben. Unklar ist, ob er zwischen der Atemseele des Menschen und der anderer Lebewesen unterschied. Wie sich Anaximanders Auffassung von Apeiron und Kosmos zu seiner Vorstellung von der Seele verhielt, ob es zwischen ihnen überhaupt eine Beziehung gab, ist ungewiss. Da Anaximander die Seele für luftartig hielt, vermuten manche, dass er der Seele Unsterblichkeit zusprach. Ob er an eine Beseelung des Kosmos, ferner an eine Allbeseelung, ähnlich wie sie sich Thales vermutlich vorgestellt hatte, und darüber hinaus an die Unsterblichkeit individueller Seelen dachte, bleibt dahingestellt. Interpretationen Bertrand Russell interpretiert Anaximanders Theorien in der Geschichte der abendländischen Philosophie als Behauptung der Notwendigkeit eines angemessenen Gleichgewichts zwischen Erde, Feuer und Wasser, die alle unabhängig voneinander danach streben können, ihre Anteile im Verhältnis zu den anderen zu vergrößern. Anaximander scheint seine Überzeugung auszudrücken, dass eine natürliche Ordnung das Gleichgewicht zwischen diesen Elementen sicherstellt, dass dort, wo Feuer war, nun Asche (Erde) ist. Friedrich Nietzsche behauptete in Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen, Anaximander sei ein Pessimist gewesen, der behauptete, das ursprüngliche Wesen der Welt sei ein Zustand der Unbestimmtheit. Demnach muss alles Bestimmte schließlich wieder in die Unbestimmtheit übergehen. Mit anderen Worten: Anaximander betrachtete „... alles Werden als eine unrechtmäßige Emanzipation vom ewigen Sein, ein Unrecht, für das die Zerstörung die einzige Buße ist“. Die Welt der einzelnen Objekte hat in dieser Denkweise keinen Wert und sollte untergehen. Nietzsche bezeichnet Anaxagoras und die anderen Vorsokratiker als Vorplatoniker. Textausgaben Hermann Diels (Hrsg.): Die Fragmente der Vorsokratiker. Band 1. Herausgegeben von Walther Kranz. 4. Auflage (Abdruck der 3. Auflage mit Nachträgen). Weidmann, Berlin 1922 (griechisch und deutsch) Laura Gemelli Marciano (Hrsg.): Die Vorsokratiker. Band 1, Artemis & Winkler, Düsseldorf 2007, ISBN 978-3-7608-1735-4, S. 32–69 (griechische Quellentexte mit deutscher Übersetzung, Erläuterungen sowie Einführung zu Leben und Werk) Jaap Mansfield (Hrsg.): Die Vorsokratiker. Stuttgart 1987. (Fragmente (griech./dtsch.), Übersetzung und Erläuterungen) Georg Wöhrle: Die Milesier: Anaximander und Anaximenes. Berlin 2012. (Kommentare und griech./dtsch. Fragmente) Bertrand Russel: Philosophie des Abendlandes: Ihr Zusammenhang mit der politischen und der sozialen Entwicklung, Europa Verlag, Zürich 1950, ISBN 3-88059-965-3 Literatur Übersichtsdarstellungen in Handbüchern Thomas Schirren, Georg Rechenauer: Zum Leben der einzelnen Philosophen. 2. Anaximander und Niels Christian Dührsen: Anaximander. In: Hellmut Flashar u. a. (Hrsg.): Frühgriechische Philosophie (= Grundriss der Geschichte der Philosophie. Die Philosophie der Antike, Band 1), Halbband 1, Schwabe, Basel 2013, ISBN 978-3-7965-2598-8, S. 184–185 (Biographie) und 263–320 (Werk, Lehre, Rezeption) Einführungen und Untersuchungen Walter Burkert: Iranisches bei Anaximandros. In: Rheinisches Museum für Philologie. Neue Folge, Band 106, 1963, S. 97–134. Dirk L. Couprie, Robert Hahn, Gerard Naddaf: Anaximander in Context. New Studies in the Origins of Greek Philosophy. State University of New York Press, Albany (New York) 2003, ISBN 0-7914-5537-8 Maria Marcinkowska-Rosóɫ: Die Prinzipienlehre der Milesier. Berlin/Boston 2014. Thomas M. Robinson: Die Ionische Aufklärung. In: Friedo Ricken (Hrsg.): Philosophen der Antike. Band 1, Kohlhammer, Stuttgart u. a. 1996, ISBN 3-17-012719-5, S. 38–51, hier: S. 45 ff. Christof Rapp: Die Vorsokratiker. Beck, München 1997, ISBN 3-406-38938-4 Wolfgang Schadewaldt: Die Anfänge der Philosophie bei den Griechen. Tübinger Vorlesungen Band I. Frankfurt/M. 1978. Rezeption Carmela Baffioni: Anaximandre dans l'Islam. In: Richard Goulet (Hrsg.): Dictionnaire des philosophes antiques. Band Supplément. CNRS Editions, Paris 2003, ISBN 2-271-06175-X, S. 759–761 Carlo Rovelli: Die Geburt der Wissenschaft: Anaximander und sein Erbe. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 2019, ISBN 3-498-05398-1. Weblinks Textausgaben Verschiedene Textauszüge (griech., engl., franz.; PDF-Datei; 136 kB) Fragments and Commentary, engl. Übers. von Arthur Fairbanks, The First Philosophers of Greece, London: K. Paul, Trench, Trubner 1898, 8–16. Literatur Karl Bormann: Anaximander von Milet. In: UTB-Online-Wörterbuch Philosophie Dirk Couprie: Materialien zu Anaximander (englisch) Egon Gottwein: Anaximander Patricia Curd: „Presocratic Philosophy“, in: The Stanford Encyclopedia of Philosophy (Summer 2016 Edition), Edward N. Zalta (ed.). Fußnoten Vorsokratiker Astronom der Antike Kosmologe der Antike Person als Namensgeber für einen Asteroiden Person als Namensgeber für einen Mondkrater Person (Milet) Grieche (Antike) Geboren im 7. Jahrhundert v. Chr. Gestorben im 6. Jahrhundert v. Chr. Mann
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https://de.wikipedia.org/wiki/Bakteriophagen
Bakteriophagen
Als Bakteriophagen oder kurz Phagen (Singular Phage, der; von ‚Stäbchen‘ und phageín ‚fressen‘) bezeichnet man herkömmlicherweise verschiedene Gruppen von Viren, die auf Bakterien als Wirtszellen spezialisiert sind, d. h. Bakterienviren. Herkömmlicherweise werden die Bakterienviren (Bakteriophagen) entsprechend ihrer Wirtsspezifität in verschiedene Gruppen klassifiziert, zum Beispiel in Coli-, Staphylokokken-, Diphtherie- oder Salmonella-Bakteriophagen (oder -viren). Mit einer geschätzten Anzahl von 1030 Virionen im gesamten Meerwasser sind Bakterienviren häufiger als jede Art zellulärer Lebewesen und bilden zusammen mit Viren der Archaeen und Protisten (mikrobiellen Eukaryoten) das sogenannte Virioplankton, zu ihnen zählen insbesondere viele Cyanophagen (Viren der Cyanobakterien). Traditionell wurden (und werden) auch die Viren der Archaeen (Archaeenviren, en. ) gelegentlich noch als Phagen oder Bakteriophagen bezeichnet, eine Reminiszenz an die frühen 1970er Jahre ist, als Archaeen noch nicht von Bakterien unterschieden wurden. Seinerzeit wurden besonders Viren mit charakteristischer Kopf-Schwanz-Struktur (Caudoviren, heute Klasse Caudoviricetes) erforscht. Diese infizieren zum Teil Bakterien und zum Teil Archaeen, und man bezeichnete sie kurz als „Phagen“. Zudem wurden die Archaeen anfänglich noch als „Archaebakterien“ bezeichnet, weshalb die Archaeenviren sich zunächst weiterhin als „Bakteriophagen“ bezeichnen ließen. Viren (d. h. die Viruspartikel) besitzen keinen eigenen Stoffwechsel, sondern „leihen“ diesen und Teile des Replikationsmechanimus von ihren Wirten „aus“, um sich genetisch mittels ihrer DNS (oder RNS) zu vermehren („replizieren“). Sie werden daher (von den meisten Autoren) nicht als Lebewesen (im eigentlichen Sinne) angesehen, aber von einigen Wissenschaftlern als „dem Leben nahe“ bezeichnet. Die meisten Bakterienviren (insbesondere die Caudoviren) besitzen, wie zelluläre Organismen, ein dsDNA-Genom (linear oder zirkulär), es gibt aber auch Beispiele für andere Genomorganisationen (ssDNA, und RNA). Geschichte Die Wirkung von Bakterienviren („Phagen“) wurde im Jahr 1917 von dem Frankokanadier Félix Hubert d’Hérelle erstmals beschrieben. Zwar hatte der Engländer Frederick Twort bereits zwei Jahre zuvor an Staphylokokken-Kulturen Zersetzungsprozesse beobachtet, die auf die Einwirkung von Bakteriophagen zurückzuführen sind, jedoch wurde seine Veröffentlichung praktisch nicht beachtet. D’Hérelle gilt somit neben Frederick Twort als einer der Entdecker der Bakteriophagen, den sogenannten „Bakterienfressern“. Ihren Namen verdanken sie d’Hérelle. Parallel zu d’Hérelle postulierte der deutsche Mikrobiologe Philalethes Kuhn aufgrund von Beobachtungen der Veränderungen von Bakterienkulturen unter bestimmten Bedingungen die Existenz von Bakterienparasiten. Er bezeichnete diese als Pettenkoferien und sah die von d’Hérelle beschriebene „unsichtbare, dem Ruhrbazillus entgegenwirkende Mikrobe“ als Sonderfall dieser Parasiten an. Wie sich später herausstellte, beruhten seine Beobachtungen jedoch nicht auf der Existenz eines Bakterienparasiten, sondern lediglich auf Formveränderungen der von ihm untersuchten Bakterien. D’Hérelle stellte sich den Bakteriophagen als ein „ultravisibles, korpuskulares Lebewesen“ vor, das in einer Grundform existiere und sich an verschiedene Wirte, also Bakterien anpasse. Tatsächlich sind Bakteriophagen nach heutigem Wissensstand hochspezialisierte Viren, die an einen spezifischen Wirt gebunden sind. Auch wenn in diesem Kontext von Wirten die Rede ist, sind nach heutiger Definition Bakteriophagen, da sie als Viren keine Lebewesen sind, keine Parasiten. Die ersten Phagen, die untersucht wurden, waren sieben Phagen des Bakteriums Escherichia coli. Sie wurden von Max Delbrück in der Reihenfolge ihrer Entdeckung als Typ () 1 (T1), Typ 2 (T2) und so weiter benannt. Die aktuelle taxonomische Einordnung dieser Phagenstämme nach ICTV mit Spezies und Familie ist wie folgt: T1: Spezies Escherichia-Virus T1, Drexlerviridae, Siphoviren T2: Spezies Escherichia-Virus T4 (alias ), Straboviridae, Myoviren T3: Spezies Escherichia-Virus T3, Autographiviridae, Podoviren T4: Typusstamm der Spezies Escherichia-Virus T4. T5: Spezies Escherichia-Virus T5, Demerecviridae, Siphoviren T6: ebenfalls Spezies Escherichia-Virus T4 T7: Spezies Escherichia-Virus T7, Autographiviridae, Podoviren Diese sieben Escherichia-Phagen (echte Bakterienviren) werden manchmal unter der Sammelbezeichnung „T-Phagen“ () zusammengefasst, was aber keine Verwandtschaftsgruppe (Taxon) darstellt. Stattdessen werden diese Viren vom ICTV (mit Stand Januar 2021) nach einigen Verschiebungen den oben angegebenen Familien zugeordnet. Lediglich die Vertreter mit gerader Typ-Nummer () erwiesen sich zufällig als nahe miteinander verwandt, so dass für vom ICTV eine Spezies als Taxon eingerichtet wurde. Die Typen mit ungerader Nummer () bilden jedoch kein Taxon. Allerdings ist allen diesen Phagentypen ein Kopf-Schwanz-Aufbau gemeinsam, weshalb sie früher in einer morphologisch begründeten Ordnung Caudovirales zusammengefasst wurden, welche die drei Morphotypen Myo-, Sipho- und Podoviren zunächst jeweils als taxonomische Familien umfasste. Diese ursprüngliche Ordnung wurde inzwischen aufgrund der genomischen Diversität zur Klasse Caudoviricetes hochgestuft. Von anderen Autoren wurde die Gepflogenheit bei der Benennung anderer Caudoviren teilweise weitergeführt (z. B. „T12“, Vorschlag, ohne Familienzuordnung). Aufbau Die Gestalt der Bakterienviren mit Kopf-Schwanz-Struktur (Caudoviren, Klasse Caudoviricetes) wurde vorwiegend an den Bakteriophagen der T-Reihe (T-Serie) von Escherichia coli aufgeklärt. Der Bakteriophage T2 besteht aus einem polyedrischen Kopf von 100 nm Länge, an dem ein etwa gleich langer Schwanz sitzt. Viren werden taxonomisch in erster Linie nach ihrem Genom-Aufbau, und nachrangig nach ihrer Morphologie und ihrem Wirt eingeteilt. So unterscheidet man DNA-Viren mit einzelsträngiger DNA, sogenannte ssDNA-Viren (von engl. ), und solche mit doppelsträngiger DNA, sogenannte dsDNA-Viren (von engl. ). Die hier exemplarisch behandelten Escherichia coli-Viren der T-Reihe werden zu letzterer Gruppe gezählt. Die oben bereits erwähnten T-Phagen (wie z. B. die Gattung Tequattrovirus mit der Spezies Escherichia-Virus T4) zeichnen sich zusammen mit anderen Mitgliedern der Klasse Caudoviricetes gegenüber sonstigen Bakteriophagen durch einen relativ komplexen Aufbau mit „Kopf-Schwanz-Struktur“ aus: Grundlegend setzen sie sich aus einer Grundplatte (9), einem Einspritzapparat (Injektionsapparat oder Schwanz, 2) und einem Kopf (1), bestehend aus dem so genannten Kapsid (4) und der darin enthaltenen Nukleinsäure (Genom, 3), zusammen. Die Module Kopf und Einspritzapparat/Schwanz sind durch einen Hals (Collar, 5) verbunden. Die Grundplatte (die wie Kapsid und Injektionsapparat aus Proteinen aufgebaut ist) ist mit Schwanzfibern (7) und Spikes (8) besetzt, die der Adsorption auf der Wirtszellwand dienen. Der Injektionsapparat besteht aus einem dünnen Rohr (Schwanzrohr, 6), durch das die Phagen-Nukleinsäure (3) in die Wirtszelle injiziert wird. Das Rohr wird von einer kontraktilen Schwanzscheide umhüllt, die sich während der Injektion zusammenzieht. Das Kapsid ist mit ikosaedrischer Symmetrie aus 152 Kapsomeren aufgebaut und enthält die DNA des Phagen. Aufgrund dieses Aufbaus zählen die Phagen der Gattung Tequattrovirus (Morphotyp Myoviren) zu den strukturell komplexesten Viren. Phagen mit einzelsträngiger DNA sind dagegen meist klein, sphärisch und schwanzlos (Microviridae) oder filamentös (Tubulavirales). Die ebenfalls auftretenden RNA-Phagen bestehen meist (soweit bis zu diesem Zeitpunkt beschrieben) aus einer Proteinhülle, die ein einsträngiges RNA-Molekül umschließt. Der Durchmesser dieser Phagen beträgt etwa 25 nm, sie gehören also zu den kleinsten Phagen. Vermehrung Viren benötigen mangels eines eigenen Stoffwechsels zur Reproduktion einen Wirt, im Falle der Bakteriophagen eine geeignete, lebende Bakterienzelle. Die Reproduktion lässt sich in fünf Phasen gliedern: Adsorption an spezifische Zellwandrezeptoren: Bei der Adsorption koppeln die Enden der Schwanzfasern an passende Moleküle (Rezeptoren) der Oberfläche des Bakteriums. Injektion der Phagen-Nukleinsäure in die Wirtszelle: Die phageneigene Nukleinsäure, DNA bzw. RNA, gelangt in das Bakterium. Die nun funktionslosen Proteine der leeren Phagenhülle bleiben außen auf der Oberfläche des Bakteriums zurück. Latenzphase: Während dieser Phase lassen sich im Bakterium keine Phagen nachweisen. Nun beginnt die Transkription des Virusgenoms, die Translation der viralen mRNA und die Replikation der Virusnukleinsäure. Dieser Vorgang dauert maximal einige Stunden. Produktionsphase: Nachdem die Phagengene in einer festgelegten Reihenfolge aktiv geworden sind, werden alle Virusbestandteile, Hüllproteine und Schwanzfasern, gebildet. Reifephase: In dieser Phase der Morphogenese erfolgt der Zusammenbau (assembly) zu reifen Phagenpartikeln. Zunächst wird ein Kopfteil, das Kapsid, gebildet. Die Proteine im Innern dienen als Platzhalter und werden später durch die Phagen-Nukleinsäure, die in das Kapsid eindringt, ersetzt. Dabei nehmen die Nukleinsäure-Fäden, gleich einem Wollknäuel, eine platzsparende Form an. Freisetzung: Die fertigen Viruspartikel werden durch enzymatische Auflösung der Wirtszelle befreit. Das Lysozym, welches von dem umprogrammierten Bakterium gebildet wurde, löst die bakterielle Mureinzellwand auf. Die Zelle platzt, und etwa 200 infektiöse Phagen werden frei. Die Vermehrung verläuft bei einigen Phagenarten nicht immer nach dem oben beschriebenen, lytischen Schema ab. Bei temperenten Phagen unterscheidet man zwischen lysogenen und lytischen Vermehrungszyklen beziehungsweise Infektionszyklen. Bei einem lysogenen Zyklus wird die DNA des Phagen in das Chromosom des Bakteriums eingebaut, wodurch ein Prophage entsteht. Bei jeder folgenden Zellteilung werden die Gene des Phagen und die des Bakteriums gemeinsam verdoppelt und weitergegeben. Dieser Zyklus kann später in den lytischen Zyklus münden. Riesenphagen Doppelstrang-DNA-Phagen mit einer Genomgröße von mehr als 540 kbp werden als Megaphagen bezeichnet, kleinere mit mehr als 200 kbp als Jumbo-Phagen. Die Autoren hatten 2018/2019 Fäkalien von Menschen in Bangladesch und Tansania sowie von Pavianen in Afrika und Schweinen in Dänemark untersucht. Die Proben enthielten Bakterien der Gattung Prevotella (Prevotellaceae), die von einer Reihe von dsDNA-Megaphagen infiziert waren, die von den Autoren „Lak-Phagen“ (nach dem Ort Laksam Upazila, Bangladesch) genannt wurden. Die gefundenen Phagen wurden (vorläufig) als Lak-A1, Lak-A2, Lak-B1 bis Lak-B9 und Lak-C1 bezeichnet. Es könnte eine lose phylogenetische Beziehung zum „Sphingomonas-Phagen PAU“ (dieser Riesenphage infiziert Bakterien der Spezies Sphingomonas paucimobilis, Sphingomonadaceae) vom Morphotyp der Myoviren bestehen. Die Autoren kommen zu dem Schluss, dass „Lak-Phagen“ „weit verbreitete, aber bisher übersehene Mitglieder des Darm-Mikrobioms“ sind. Im Februar 2020 veröffentlichten Basem Al-Shayeb und Kollegen eine Analyse, die diese Untersuchungen fortführt. Darin ziehen sie die Grenze für Megaphagen bei 500 kbp (was offenbar Basenpaare im doppelsträngigen Fall und Basen oder Nukleotide in einzelsträngigen Fall bedeutet). Die Autoren ziehen es aber vor, alle Phagen mit mehr als 200 kbp (also Jumbo-Phagen und Megaphagen) als „“ (hier mit Riesenphagen übersetzt) zusammengefasst zu betrachten. Die Autoren identifizierten unter dieser Gruppe eine Reihe von zehn Kladen, für die sie folgende Namen vorschlugen: „Kabirphage“, „Mahaphage“ (darunter die Gruppe der „Lak-Phagen“), „Biggiephage“ (nicht zu verwechseln mit der vorgeschlagenen Spezies Biggie virus), „Dakhmphage“, „Kyodaiphage“, „Kaempephage“, „Jabbarphage“, „Enormephage“, „Judaphage“ und „Whopperphage“ (alle Namen beziehen sich auf „riesig“ oder engl. „“ in den verschiedenen Sprachen der Autoren). Durch ihre Metagenomanalysen verschiedener Proben konnten sie 351 dsDNA-Phagensequenzen identifizieren, davon nur drei unter 200 kbp. Das größte Genom hatte eine Länge von 735 kbp (ein Mahaphage, was offenbar neuer Rekord ist; der vorherige lag bei 596 kbp); gewöhnliche Nicht-Riesenphagen haben im Mittel lediglich 52 kbp. Einige Riesenphagen scheinen einen vom Standard abweichenden genetischen Code zu benutzen, in dem das Stop-Codon UAG für eine Aminosäure kodiert. Die Wirte sind (meist) Bakterien der Firmicutes oder der Proteobacteria, aber auch – so bei den Mitgliedern der Mahaphage-Gruppe mit den „Lak-Phagen“ – der Bacteroidetes. Das Genom kodiert neben den phageüblichen Proteinen für tRNAs. Die Phagen interagieren darüber hinaus im CRISPR/Cas-System (siehe CRISPR, CRISPR/Cas-Methode, Genom-Editierung): Alle bedeutenden Typen des Systems waren vertreten, die meisten Phagen schienen aber Cas-Proteine des Wirts zu benutzen, um sich selbst zu schützen. Darüber hinaus schienen die Phagen das CRISPR-Immunsystem der Wirte darin zu unterstützen, konkurrierende Phagen abzuwehren. Manche Pseudomonas-infizierende Phagen kodieren auch für Anti-CRISPRs (Acrs) und Proteine, die ein Zellkern-ähnliches Kompartiment bilden, in dem der Phage sein Genom unabhängiger vom Wirt replizieren kann (siehe Viroplasma). Die Autoren sehen ihre Arbeit als einen weiteren Beleg für die weltweite Verbreitung der Riesenphagen. Sie fanden Belege, dass die Phagen zwischen verschiedenen Wirten und Ökosystemen wanderten, was eine Bedeutung für die Verbreitung von Toxin- und Antibiotikaresistenz-Genen hat. Ihre CRISPR-Werkzeuge könnten sich in Zukunft nutzen lassen, um die „Genschere“ CRISPR/Cas zu verbessern und ihre Funktionalität zu erweitern. Ein weiterer Riesenphage ist der Megasphaera-Phage A9 (alias ), nicht zu verwechseln mit dem Brochothrix-Phagen A9 (Spezies Brochothrix-Virus A9, Herelleviridae). Schwanzlose Phagen Lange Zeit hat die Forschung nur Mitglieder der Ordnung Caudovirales betrachtet, deren Vertreter Phagen (Bakterien- und Archaeenviren) mit Kopf-Schwanz-Struktur sind. Erst in letzter Zeit sind „schwanzlose“ Phagen Gegenstand von Forschungsarbeiten geworden. Einige Vertreter sind: Ordnung Tubulavirales (filamentöse Bakteriophagen) u. a. mit Familie Inoviridae Familie Finnlakeviridae (ssDNA, mit Spezies Flavobacterium virus FLiP alias Phage FLiP) Familie Autolykiviridae (dsDNA) Spezies Planktothrix-Phage PaV-LD (Cyanophage PaV-LD) crAssphagen und Gubaphagen Camarillo-Guerrero, Almeida et al. beschreiben 2019/2020 die Ergebnisse ihrer Metagenomanalysen der menschlichen Darmflora hinsichtlich Bakteriophagen. Sie machen dabei eine neue Klade aus, genannt „Gubaphagen“ ( , ) (mit zwei Gattungen: G1 – infiziert Bacteroides, und G2 – infiziert Parabacteroides [en]), die nach den crAssphagen (offiziell Ordnung Crassvirales) mit ca. zehn Gattungen (en. , aufgrund ihres Podoviren-Morphotyps ursprünglich vorgeschlagene Mitglieder der früheren Familie Podoviridae (ehemalige Ordnung Caudovirales), mit ca. zehn Gattungen) die zweithäufigsten Viren (d. h. Bakteriophagen) in dieser Umgebung darstellen. Die Merkmale der Gubaphagen erinnern dabei an die von „p-crAssphage“. Die Gubaphagen sind wegen ihrer Ähnlichkeit mit den crAssphagen wahrscheinlich ebenfalls Mitglieder der Crassvirales (oder jedenfalls der Caudoviricetes). Anwendungsgebiete Phagen haben in Medizin, Biologie, Agrarwissenschaften, vor allem im Bereich der Gentechnik, ein breites Anwendungsspektrum gefunden. So verwendet man Phagen in der Medizin aufgrund ihrer Wirtsspezifität zur Bestimmung von bakteriellen Erregern. Dieses Verfahren nennt man Lysotypie. Aufgrund der immer häufiger auftretenden multiplen Antibiotikaresistenzen wird zurzeit intensiv an der Anwendung von Bakteriophagen als Antibiotika-Ersatz in der Humanmedizin (siehe: Phagentherapie) geforscht. Probleme ergeben sich hierbei durch die geringe Stabilität von Phagen im Körper, da sie in recht kurzer Zeit durch Fresszellen als Fremdkörper beseitigt werden. Diese Anwendung von Phagen zur Therapie bakterieller Infektionen entdeckte Felix d’Hérelle (s. o.) lange vor Entdeckung des Penicillins und der Antibiotika. Später wurde die Phagentherapie jedoch mit der Einführung der Chemotherapie per Antibiotika als unpraktisch erachtet und geriet in Vergessenheit. D’Hérelle gründete 1934 zusammen mit dem georgischen Mikrobiologen Georgi Eliava in der Georgischen Sozialistischen Sowjetrepublik das Eliava-Institut für Phagenforschung, welches heute noch besteht. Heute wird dort sowie am Ludwik-Hirszfeld-Institut für Immunologie und Experimentelle Therapie in Breslau (Teil der Polnischen Akademie der Wissenschaften) die Phagentherapie bei ansonsten therapieresistenten bakteriellen Infektionen durchgeführt. In Deutschland ist die Anwendung zu therapeutischen Zwecken bisher nicht zulässig. Die Anwendungen in der Lebensmittelproduktion sind vielfältig; so kommt beispielsweise ein Sprühnebel aus Phagen beim Verpacken von Würstchen oder dem Aufschneiden von Käseaufschnitt zum Einsatz. In der Gentechnik werden temperente Phagen als Vektoren (z. B. der Phage λ) benutzt. Hierzu werden Phagen so präpariert, dass ihrem Genom die Gene, welche die Virulenz hervorrufen, entnommen und durch Gene ersetzt werden, die für gentechnische Belange interessant sind, so beispielsweise Gene, die zur Insulinproduktion benötigt werden. Diese veränderten Phagen werden nun mit geeigneten Bakterien, zum Beispiel E. coli, in Kontakt gebracht. Nach einer Überprüfung, ob das gewünschte Gen in die Erbsubstanz des Bakteriengenoms integriert wurde (man bedient sich hierzu genexprimierter Antibiotikaresistenzen, die an die zu klonierenden Wunschgene angeschlossen werden), können die modifizierten Bakterienzellen weiterkultiviert werden und das in diesem Falle produzierte Insulin isoliert werden. Ähnlich werden Phagen in der Agrartechnik zur Transduktion bestimmter Gene in Nutzpflanzen eingesetzt. Eine wichtige Anwendung in der Biochemie ist das Phagen-Display zur Identifikation von Bindungspartnern, z. B. bei der Isolierung neuer Wirkstoffe. Einfacher als die Nutzung von Phagen ist jedoch die Transformation freier DNA, die heutzutage überwiegend zum Transfer in die Bakterienzellen verwendet wird. Phagen und deren Bestandteile werden für die Entfernung von mikrobiellen Verunreinigungen in Lebensmitteln (z. B. per affinitätsmagnetische Separation) sowie mit Endotoxinen kontaminierten Laborproben verwendet. Des Weiteren ergeben sich humandiagnostische Anwendungen, vor allem im klinischen Bereich zur Dekolonisierung von pathogenen Krankenhauskeimen wie MRSA. Durch Proteindesign lassen sich die Phagenproteine zum jeweiligen Anwendungszweck optimieren. Möglicher wirtschaftlicher Schaden Bakteriophagen können überall dort Schaden anrichten, wo bakterielle Prozesse dem Menschen dienen und erwünscht sind. Infektion von Milchsäurebakterien (LAB) durch Phagen aus Rohmilch ist die häufigste Ursache für verringerte oder fehlende Enzymaktivität in Starterkulturen für die Käse- oder Dickmilchproduktion. Klassifikation Prokaryoten infizierende Viren (Bakterien- und Archaeenviren; der Begriff „Bakteriophagen“ umfasst herkömmlich auch Viren der Archaeen, da diese ursprünglich nicht von den Bakterien unterschieden wurden) bilden keine geschlossene Verwandtschaftsgruppe (Taxon). Für viele Gruppen dieser Viren finden sich noch informelle Bezeichnungen nach ihren Wirten (s. o.), z. B. Cyanophagen (Cyanobakterien), Coliphagen (Colibakterium E. coli) und stellen meist ebenfalls keine Verwandtschaftsgruppen dar. Eine weitere Besonderheit sind Satellitenviren, deren Helferviren Bakteriophagen sind; diese werden gelegentlich Satellitenphagen genannt. Ein Beispiel ist „Escherichia-Phage P4“ (Caudoviricetes), der den Coliphagen P2 (Caudoviricetes: Peduoviridae, Gattung Peduovirus) als Helfervirus benötigt. Klassifikation nach Baltimore Nach der Baltimore-Klassifikation lassen sich Phagen-Familien (inkl. Archaeenviren) anhand des Aufbaus ihres Genoms wie folgt gruppieren: dsDNA-Phagen: Ackermannviridae Aggregaviridae Anaerodiviridae Assiduviridae Autographiviridae Autolykiviridae Bicaudaviridae Casjensviridae Chaseviridae Corticoviridae Crevaviridae Demerecviridae Drexlerviridae Druskaviridae Duneviridae Forsetiviridae Fuselloviridae Guelinviridae Graaviviridae Hafunaviridae Haloferuviridae Halomagnusviridae Halspiviridae Helgolandviridae Herelleviridae Guttaviridae Intestiviridae Kyanoviridae Leisingerviridae Lipothrixviridae Madisaviridae Mesyanzhinovviridae Molycolviridae Naomviridae Orlajensenviridae Pachyviridae Peduoviridae Pervagoviridae Plasmaviridae Pyrstoviridae Rountreeviridae Rudiviridae Salasmaviridae Saparoviridae Schitoviridae Shortaselviridae Soleiviridae Straboviridae Suoliviridae Steigviridae Tectiviridae Thaspiviridae Vertoviridae Vilmaviridae Winoviridae Zierdtviridae Zobellviridae ssDNA-Phagen: Finnlakeviridae Inoviridae Paulinoviridae Plectroviridae Microviridae Sonderfall Pleolipoviridae (mit Gattung Gammapleolipovirus und Spezies Gammapleolipovirus His2 alias His 2 virus, Haloarcula virus His2) dsRNA-Phagen: Cystoviridae ssRNA-Phagen: Fiersviridae (alias Leviviridae) Taxonomische Klassifizierung nach ICTV In der Systematik der Virus-Taxonomie nach dem finden sich Phagen in folgenden taxonomischen Gruppen: Die Mitglieder der Familie Picobirnaviridae (Ordnung Durnavirales) scheinen ebenfalls Bakterien zu infizieren, keine Säugetiere. Eine weitere vorgeschlagene Phagenfamilie sind die „Autolykiviridae“ (dsDNA). Literatur Nicholas H. Mann: The third age of phage. In: PLOS Biology. Band 3, Nr. 5, 17. Mai 2005, Artikel e182, doi:10.1371/journal.pbio.0030182, (Volltext online). Nancy Trun, Janine Trempy: Bacteriophage. In: Nancy Jo Trun, J. E. Trempy, Janine Trempy: Fundamental Bacterial Genetics. Blackwell, Oxford 2003, ISBN 0-632-04448-9; blackwellpublishing.com (PDF; 263 kB). Forest Rohwer, Merry Youle, Heather Maughan, Nao Hisakawa, Leah L Pantéa: Life in our phage world: a centennial field guide to the Earth’s most diverse inhabitants. Wholon, San Diego (CA) 2014, ISBN 978-0-9904943-0-0. Hans Günther Schlegel, Georg Fuchs (Hrsg.): Allgemeine Mikrobiologie. 8. Auflage. Thieme, Stuttgart 2006, ISBN 3-13-444608-1. Jong-Geol Kim, So-Jeong Kim, Virginija Cvirkaite-Krupovic, Mart Krupovic et al.: Spindle-shaped viruses infect marine ammoniaoxidizing thaumarchaea. In: Proceedings of the National Academy of Sciences. (PNAS) Band 116, Nr. 31, Juli 2019, Artikel 201905682, doi:10.1073/pnas.1905682116 (Volltext als PDF; auf: researchgate.net). Weblinks Aufbau und Vermehrung mit Animation Bakteriophagen und Phagentherapie: Fragen und Antworten im Überblick, Informationen des Leibniz-Instituts DSMZ (Deutsche Sammlung von Mikroorganismen und Zellkulturen GmbH) in Braunschweig Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR): Fragen und Antworten zu Bakteriophagen. Website des Eliava-Instituts Phagentherapie am Ludwik-Hirszfeld-Institut für Immunologie und Experimentelle Therapie, Breslau Phagentherapie gegen Lungenentzündung. Forschungsprojekt in Paris Auf: idw-online.de. Phagoburn. – EU-Forschungsprojekt zur Phagentherapie bei Brandverletzten Auf: phagoburn.eu. „Bakterienfresser“ statt Antibiotika. In: VDI-Nachrichten, 25. September 2015 Heilende Viren – Infektionen bekämpfen mit Bakteriophagen. Radiosendung, Bayern 2, 29. September 2012, abgerufen am 25. September 2015. Bacterial Predator Could Help Reduce COVID-19 Deaths – “Potential Game Changer”. Auf: scitechdaily.com, 26. Juni 2020, Quelle: University of Birmingham. Jean Crépu: Mit Viren aus der Antibiotika-Krise. Doku auf ARTE (F 2019, 54 Min). Robert C. Edgar et al.: Petabase-scale sequence alignment catalyses viral discovery. In: Nature. Band 602, 26. Januar 2022, S. 142–147, doi:10.1038/s41586-021-04332-2 – Über die Identifizierung zahlreicher neuer Verwandter der Coronaviren, Hepatitis-Deltavirus und Riesenphagen (en. ) aus Datensätzen öffentlich zugänglicher Gendatenbanken. Thomas G. Laughlin, Amar Deep, Amy M. Prichard, Christian Seitz, Yajie Gu, Eray Enustun, Sergey Suslov, Kanika Khanna, Erica A. Birkholz, Emily Armbruster, J. Andrew McCammon, Rommie E. Amaro, Joe Pogliano, Kevin D. Corbett, Elizabeth Villa: Architecture and self-assembly of the jumbo bacteriophage nuclear shell. In: Nature, 3. August 2022; doi:10.1038/s41586-022-05013-4. Dazu: Tessa Koumoundouros: Giant Viruses Called 'Jumbo Phages' Could Help Us Fight Antibiotic Resistance. Auf: sciencealert vom 5. August 2022. Bakteriophagen. Universität Hohenheim (Memento im Webarchiv vom 5. Juni 2019). Suche Uni-Hohenheim-Artikeln zu „Bakteriophagen“ Einzelnachweise Veraltetes Taxon (Virologie) Nicht-taxonomische Virusgruppe
Q165028
119.129204
5344
https://de.wikipedia.org/wiki/Ungarn
Ungarn
Ungarn ( []) ist ein Binnenstaat in Mitteleuropa mit rund 9,6 Millionen Einwohnern. Das im Pannonischen Becken gelegene und von der Donau durchflossene Land grenzt an die Slowakei und die Ukraine im Norden, Rumänien im Osten, Serbien und Kroatien im Süden, sowie Slowenien und Österreich im Westen. Hauptstadt und größte Stadt ist Budapest; zu den weiteren Großstädten zählen Debrecen, Szeged, Miskolc, Pécs und Győr. Als einer der ersten Ostblock-Staaten wurde Ungarn am 23. Oktober 1989 zur Demokratie und trat 1999 der NATO bei. Seit 2004 ist das Land Mitglied der Europäischen Union und bildet darin zusammen mit Polen, Tschechien und der Slowakei die Visegrád-Gruppe. Seit Amtsantritt des rechtspopulistischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán im Jahr 2010 wird das Land jedoch wieder zunehmend autoritär regiert. Daher leitete die Europäische Kommission 2022 erstmals ein Rechtsstaatsverfahren gegen ein Mitgliedsland ein. Ebenso sprach das Europäische Parlament erstmals einem Mitgliedsland ab, eine Demokratie zu sein. Ende des Jahres blockierten die anderen EU-Staaten aus diesem Grund erstmals die Auszahlung von mehreren Milliarden Euro, knapp fünf Prozent der geschätzten Wirtschaftsleistung Ungarns in diesem Jahr. Geographie Ungarn besteht aus 19 Komitaten und der Hauptstadt Budapest. Im Westen, an Österreich grenzend, liegen die Komitate Győr-Moson-Sopron und Vas, die landschaftlich besonders durch ihre Voralpenhügel gekennzeichnet sind. Etwas weiter im Osten, beim Plattensee, liegen die Komitate Veszprém, Somogy und Fejér und nördlich davon das Komitat Komárom-Esztergom. Diese Gegend ist vor allem wegen des Bakonygebirges bekannt. Weiter östlich befinden sich die Hauptstadt Budapest, mit dem umliegenden Komitat Pest und dem Komitat Bács-Kiskun im Süden. Dominiert wird diese Gegend vom Pilisgebirge und von der Donau. Noch weiter östlich befinden sich die Komitate Heves, Jász-Nagykun-Szolnok und Csongrád-Csanád. Diese Gegend ist der Zwischenraum zwischen der Donau und der Theiß (ungarisch: ). Im Süden der Region finden sich kleine Steppen. Im Norden befindet sich das Mátra-Gebirge mit dem höchsten Berg Ungarns, dem Kékes. Am östlichen Rand des Landes befinden sich die Komitate Borsod-Abaúj-Zemplén, Szabolcs-Szatmár-Bereg, Hajdú-Bihar und Békés. Diese Gegend wird von der Puszta im Süden und dem Bükk in Borsod-Abaúj-Zemplén dominiert. Die Außengrenze mit den sieben Nachbarstaaten ist 2246 Kilometer lang, davon 356 Kilometer mit Österreich, 679 Kilometer mit der Slowakei, 137 Kilometer mit der Ukraine, 453 Kilometer mit Rumänien, 164 Kilometer mit Serbien, 355 Kilometer mit Kroatien und 102 Kilometer mit Slowenien. Tiefebenen Die Donau teilt Ungarn in das westliche Transdanubien mit der Kleinen Ungarischen Tiefebene (ungarisch Kisalföld) und in die von der Theiß durchflossene Große Ungarische Tiefebene (ungarisch Alföld) im zentralen und östlichen Teil des Landes. Die fruchtbare Kleine Ungarische Tiefebene im Nordwesten Ungarns besteht hauptsächlich aus dem Becken von Győr (Raab). Die abwechslungsreiche Landschaft wird bestimmt durch leicht welliges Terrain, kleine Hügel und zerschnittene Platten. Auf den fruchtbaren Lössböden kann dank des milden Klimas intensiv Landwirtschaft betrieben werden. Die Große Ungarische Tiefebene nimmt nahezu die Hälfte des gesamten Staatsgebiets Ungarns ein. Sie ist eine ebene, weiträumige Fläche und ist mit in vorgeschichtlicher Zeit aufgeschütteten Geröllen und Sanden bedeckt. Sie ist entlang der Theiß von Auenlandschaften durchzogen und mit einzelnen Waldinseln durchsetzt. Die Trockenlegung der Auen und die Rodung der Wälder haben zur Versalzung der Böden geführt. So entstand die typische Puszta mit Ziehbrunnen, Einzelgehöften und extensiver Weidewirtschaft. Aufgrund aufwändiger Bewässerungsmaßnahmen entstanden fruchtbare Böden, die den Anbau von Tabak, Mais und Sonnenblumen ermöglichen. Der Nationalpark Hortobágy wurde geschaffen, um die ursprüngliche Puszta-Landschaft zu schützen. Gebirge Die ungarischen Mittelgebirge verlaufen vom Zemplén-Gebirge im Nordosten bis zum Bakonywald im Westen. Fast alle Mittelgebirge in Ungarn tragen in höheren Lagen dichten Laubwald. Die Hänge und Becken sind mit fruchtbaren Böden bedeckt, die Acker-, Obst- und Weinbau ermöglichen. Thermalquellen, die an den Rändern der Mittelgebirge auftreten, sind Zeugnisse eines vergangenen und lebhaften Vulkanismus. Dies bestätigen auch die vulkanischen Gesteine des Bakonywaldes und des Mátra-Gebirges im Norden. Bis auf diese Ausnahmen bestehen die sonstigen Mittelgebirge in Ungarn aus Dolomit und Kalkstein. Das bewaldete Mecsekgebirge im Südwesten nördlich von Pécs erhebt sich inselartig auf bis zu . Im Mátra-Gebirge liegt die mit höchste Erhebung Ungarns, der Kékes. Höhenverhältnisse: Größte Höhe: Kékes im Mátra-Gebirge, Komitat Heves, bis . Niedrigster Landesteil: an der Theiß, im Komitat Csongrád-Csanád, . Etwa die Hälfte des Landes liegt tiefer als 130 m (Große Ungarische Tiefebene). Flüsse und Seen Der längste Fluss in Ungarn ist mit 597 Kilometer die Theiß (Tisza), die das Land im Nordosten aus der Ukraine kommend erreicht und im weiteren Verlauf östlich parallel zur Donau nach Süden fließt, um schließlich in Serbien in die Donau zu münden. Größere Städte an ihrem Lauf sind Tokaj, Tiszaújváros, Szolnok, Csongrád und Szeged. Der zweite Hauptfluss Ungarns ist mit 417 Kilometer die Donau (Duna), zu deren Einzugsgebiet das gesamte ungarische Staatsgebiet gehört. An ihrem Flusslauf liegen unter anderem die wichtigen Städte Komárom, Esztergom, die Hauptstadt Budapest, Dunaújváros, Baja und Mohács. Die Donau erreicht Ungarn im Nordwesten und fließt zunächst als Grenzfluss zur Slowakei in Richtung Osten. Nach dem Donauknie (Dunakanyar), einer 90°-Wendung des Flusses bei Visegrád, fließt sie von Norden nach Süden und verlässt Ungarn in Richtung Balkan, wo der Fluss zuerst als Grenze zwischen Kroatien und Serbien fungiert, ehe er quer durch Serbien in Richtung Rumänien weiterfließt. Weitere wichtige Flüsse in Ungarn sind die Kreisch (Körös), die Raab (Rába), die Zagyva, die Drau (Dráva; bildet über weite Strecken die Grenze zu Kroatien), der Sajó, die Eipel (Ipoly), die Zala, der Szamos, der Maros und der Bodrog. Fast alle genannten Flüsse entspringen außerhalb Ungarns: die Donau im Schwarzwald (Süddeutschland), die Theiß in der Ukraine, die Drau in Südtirol, Hernád und Sajó in der Slowakei, die Körös in Siebenbürgen (West-Rumänien), Mur und Raab in Österreich. Lediglich die Quellen von Zagyva und Zala befinden sich in Ungarn, wenn auch in unmittelbarer Grenznähe. Der größte See in Ungarn ist der Plattensee (ungarisch Balaton) im hügeligen Westungarn. Er ist zugleich der größte See in Mitteleuropa. Der Plattensee ist neben der Hauptstadt Budapest das wichtigste Tourismusgebiet Ungarns, vor allem wegen seiner Strände und Thermalquellen. In seiner Nähe liegt der Velencer See (ungarisch Velencei-tó), ebenfalls ein beliebter Badesee mit einem bedeutenden Vogelschutzgebiet, der aber touristisch stark im Schatten des „großen Bruders“ Plattensee liegt. Westlich des Balaton liegt in Hévíz mit über vier Hektarn Fläche der größte Thermalsee Europas. Der Neusiedler See (ungarisch Fertő-tó) liegt zu 75 Prozent in Österreich, nur der südlichste Teil gehört zu Ungarn. Der Nationalpark Fertő-Hanság umfasst den ungarischen Teil des Sees sowie die Sümpfe im Süden und den Hanság und wurde 2001 zusammen mit dem österreichischen Nationalpark Neusiedler See-Seewinkel zum UNESCO-Welterbes ernannt. Der größte künstlich geschaffene See Ungarns ist der Theiß-See (ungarisch: Tisza-tó) in der Tiefebene im östlichen Teil des Landes. Klima Wegen der Binnenlage und der abschirmenden Wirkung der Gebirge hat Ungarn ein relativ trockenes Kontinentalklima mit kalten Wintern und warmen Sommern. Die Jahresmitteltemperatur beträgt im Großteil des Landes 10 bis 11 °C. Auf den Anhöhen des Bakonygebirges, an der westlichen Landesgrenze und im Nördlichen Ungarischen Mittelgebirge beträgt sie unter 8 °C. Die mittleren Temperaturen liegen im Januar zwischen −3 °C und −1 °C sowie im Juli zwischen +21 °C und +23 °C. Die tiefste offiziell in Ungarn gemessene Temperatur betrug −35 °C. Sie wurde am 16. Februar 1940 in Miskolc registriert. Die bisher höchste Temperatur wurde mit 41,9 °C am 20. Juli 2007 in Kiskunhalas gemessen. Im Frühsommer sind zwischen Mai und Juli die ergiebigsten Niederschläge zu verzeichnen. Die mittlere Niederschlagsmenge beträgt im Westen auf Grund der vorherrschenden Regen bringenden Westwinde rund 800 Millimeter, während in den östlichen Landesteilen in trockenen Jahren 500 Millimeter unterschritten werden können. Die Niederschlagsmenge nimmt generell von Westen nach Osten ab. Flora und Fauna In Ungarn sind etwa 45.000 Tierarten und 2.200 Pflanzenarten beheimatet. Vereinzelt gibt es nord-, ost- und südeuropäische Arten, die Mehrheit wird von mitteleuropäischen Arten gebildet. 855 Tierarten und 535 Pflanzenarten stehen unter Schutz. Seltene, geschützte Blumen sind beispielsweise die mediterrane Nieswurz, die wilde Pfingstrose im Hügelland vom Mecsek und die ungarische Windblume in der Nyírség-Gegend. Wildschweine, Hirsche, Rehe und Füchse sind ebenfalls in den ungarischen Wäldern beheimatet. Auf den landwirtschaftlichen Landflächen und im Tiefland leben vor allem Hasen, Fasane, Rebhühner und Wachteln. Im Frühling ziehen riesige Vogelschwärme von Süden nach Norden. Zu ihnen gehören Schwalben und Störche, die in Afrika den Winter verbringen. Geschützte Vogelarten sind beispielsweise der Stelzenläufer, die Trappe, die vor allem in der südlichen Tiefebene verbreitet ist, und der Säbelschnäbler. Die ungarischen Flüsse und Seen sind sehr fischreich. Beheimatet sind Brassen, Karpfen und Hechte. Aale und Amuren wurden aus fremden Seen und Flüssen übergesiedelt und leben mittlerweile zahlreich in ungarischen Gewässern. Auf einer Gesamtfläche von 816.008 Hektar gibt es neun Nationalparks, 38 Landschaftsschutzgebiete und 142 Naturschutzgebiete. Bevölkerung Demografische Struktur Ungarn hatte 2021 9,7 Millionen Einwohner. Das jährliche Bevölkerungswachstum betrug −0,4 %. Dieses wurde durch einen Sterbeüberschuss beeinflusst. 2020 stand einer Geburtenziffer von 9,6 pro 1000 Einwohner eine Sterbeziffer von 14,5 pro 1000 Einwohner gegenüber. Die Anzahl der Geburten pro Frau lag 2020 statistisch bei 1,6 und damit über dem Wert der Europäischen Union von 1,5. Die Lebenserwartung der Einwohner Ungarns ab der Geburt lag 2020 bei 75,6 Jahren (Frauen: 79,1, Männer: 72,3). Der Median des Alters der Bevölkerung lag im Jahr 2020 bei 43,3 Jahren und damit über dem europäischen Wert von 42,5. Größte Städte Im Jahr 2021 lebten 72 Prozent der Einwohner Ungarns in Städten. Die mit Abstand größte Stadt ist die Hauptstadt Budapest, auf die etwa 18 % der Bevölkerung Ungarns entfällt. Folgende Tabelle zeigt die Einwohnerzahlen der zehn größten Städte mitsamt ihrer Agglomerationen (Stand: 1. Januar 2021). Ethnien Die weitaus größte Volksgruppe sind die Magyaren, die laut der Volkszählung von 2001 92,3 % der Bevölkerung ausmachen. Als größte der ethnischen Minderheiten in Ungarn gelten die Roma (vgl. Roma in Ungarn). Laut einer Volkszählung sind es etwa 2 % der Gesamtbevölkerung; laut anderen Schätzungen sind es deutlich mehr. Wichtige Volksgruppen sind Ungarndeutsche (unter anderem Donauschwaben) (0,6 %), Slowaken (0,2 %) und Kroaten (0,15 %). Alle anderen Ethnien sind laut dieser Statistik mit weniger als 10.000 Personen vertreten. Zahlenmäßig folgen Rumänen, Ukrainer, Serben, Slowenen und Wenden, Polen, Griechen, Bulgaren, Russinen und Armenier. Weitere Auswahlmöglichkeiten waren nicht vorhanden. Über 27.000 Personen gaben „Unbekannt“ an. Über fünf Prozent der Befragten beantworteten die Frage nicht. Außerhalb Ungarns leben im Karpatenbecken etwa 2,4 Millionen Magyaren. Ihre Siedlungsgebiete liegen auf Grund des Vertrages von Trianon als Folge des Ersten Weltkrieges jenseits der heutigen Staatsgrenzen. Dies führt noch heute gelegentlich zu politischen Verstimmungen zwischen den Nachbarländern und Ungarn. Im Jahre 2017 waren 5,2 % der Bevölkerung im Ausland geboren. Häufigste Herkunftsländer waren Rumänien (210.000 Personen), die Ukraine (50.000) und Serbien (40.000). In allen drei Ländern leben große ungarische Minderheiten. Religionen Die Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit in Ungarn wird durch Artikel VII des Ungarischen Grundgesetzes garantiert. Gleichzeitig enthält dessen Präambel eine Erklärung, in der das Ungarische Volk die Rolle des Christentums bei der Erhaltung der Nation anerkennt. Durch das Selbstbestimmungsrecht sind Staat und Kirche voneinander getrennt. Es gibt in Ungarn keine Kirchenmitgliedschaft im eigentlichen Sinne, und auch keine Kirchensteuer. Allerdings besteht die Möglichkeit, ein Prozent der Einkommensteuer einer Religionsgemeinschaft zuzuweisen. Von dieser Möglichkeit hat 2008 zugunsten der katholischen Kirche eine halbe Million Steuerzahler Gebrauch gemacht. Danach folgen die Reformierten mit 160.000 und die Lutheraner mit 50.000 Steuerzahlern. Auf Platz vier liegt die Krishna-Bewegung (11.000), auf Platz fünf folgen die jüdischen Gemeinden (5.000). Im Rahmen der Volkszählung 2011 bekannten sich 39 Prozent der Bevölkerung zur römisch-katholischen und zur ungarischen griechisch-katholischen Kirche. 11,6 Prozent der Bevölkerung waren Calvinisten, 2,2 Prozent Lutheraner. Vor dem Holocaust lebten rund 800.000 Juden in Ungarn. Von den heute in Ungarn lebenden Juden bekannten sich bei der letzten Volkszählung knapp 11.000 zum jüdischen Glauben. 18,2 Prozent der Bevölkerung sagten, dass sie konfessionslos oder Atheisten seien. 27,2 Prozent machten keine Angaben. Eine repräsentative Umfrage im Auftrag der Europäischen Kommission im Rahmen des Eurobarometers ergab 2020, dass für 30 Prozent der Menschen in Ungarn Religion wichtig ist, für 35 Prozent ist sie weder wichtig noch unwichtig und für 35 Prozent ist sie unwichtig. Sprachen Ungarisch ist Amtssprache in Ungarn und wird von 99,58 % der Bevölkerung gesprochen. Sie gehört nicht, wie die meisten im mitteleuropäischen Raum gesprochenen Sprachen, zur indogermanischen Sprachfamilie, sondern zum finno-ugrischen Zweig der uralischen Sprachen, und ist entfernt verwandt mit der Estnischen und der Finnischen Sprache. Das Ungarische ist eine Agglutinierende Sprache, grammatikalische Beziehungen werden durch Suffixe ausgedrückt. Besonders komplex ist das Kasussystem des Ungarischen. In der Linguistik variiert die Zahl der Kasus aufgrund der Endsuffixe zwischen 18 und 27. Das Alphabet besteht aus 40 lateinischen Buchstaben, zu denen auch acht Digraphen (cs, dz, gy, ly, ny, sz, ty, zs) und ein Trigraph (dzs) als eigene Buchstaben zählen. Q, W, X und Y zählen zur erweiterten Variante des Alphabets. Sie finden sich in der ungarischen Sprache nur als Teil von Fremdwörtern oder Namen. Die Dialekte des Ungarischen unterscheiden sich weniger stark voneinander als etwa die deutschen Dialekte. Aus der Zeit der Herrschaft der Habsburger (1699 bis 1867 und 1918) in Ungarn stammt der Einfluss der deutschen Sprache. Neben Ungarisch sind die Sprachen der Minderheiten verbreitet, siehe hierzu den Artikel Ethnische Gruppen in Ungarn. Während 1910 der Anteil der ungarischsprachigen Bevölkerung 54,5 % betrug, ist Ungarn nach dem Vertrag von Trianon (1920) und der weitgehenden Vertreibung der Ungarndeutschen nach dem Zweiten Weltkrieg heute sprachlich homogen. Jedoch leben seit 1920 große Ungarisch sprechende Minderheiten außerhalb des Staatsgebiets. 2012 gaben bei einer Eurobarometer-Umfrage 35 % an, in mindestens einer Fremdsprache ein Gespräch führen zu können, als beherrschte Fremdsprache wurden am häufigsten Englisch (20 %), Deutsch (18 %), Französisch (3 %) und Russisch (3 %) genannt. Bildung Hauptartikel Bildungssystem in Ungarn Schulsystem Es gibt nach der achtjährigen Grundschule das vierjährige Gymnasium, daneben auch sechs- und achtjährige Gymnasien. In der Berufsbildung wird eine duale Ausbildung angeboten. Daneben gibt es das Technikum, in dem zusätzlich eine spezielle Hochschulreife erworben wird. Die Anzahl der bilingualen Grundschulen und Gymnasien wächst ständig. Im sonst sehr auf Budapest zentrierten Ungarn wächst auch die Zahl der zweisprachigen Schulen auf dem Lande. Auch gibt es neue Schulen für Minderheiten, zum Beispiel das Gandhi-Gymnasium in Pécs, das talentierten Roma-Kindern die Möglichkeit bietet, die Reifeprüfung abzulegen. Die Prüfungen zum Abitur werden im ganzen Land einheitlich und zentralisiert abgehalten. Seit 2005 gibt es die Möglichkeit, eine Art „Leistungsmatura“ in einigen Fächern abzulegen, die gleichzeitig als Aufnahmeprüfung für die Universität gilt. Der Erwerb der Hochschulreife ermöglicht ein Studium an Universitäten und Fachhochschulen. Für viele Studienzweige gelten Zugangsbeschränkungen, es gibt Aufnahmeprüfungen, und auch die Leistungen in der Mittelschule oder die Sprachkenntnisse können bei der Aufnahme entscheidend sein. Allerdings gibt es auch Studienrichtungen, die ohne Aufnahmeprüfung belegt werden können, wenn die beträchtlichen Kosten selber getragen werden. Universität Die bekannteste Universität in Ungarn ist die Eötvös-Loránd-Universität in Budapest. Die medizinische Ausbildung in Ungarn genießt international einen sehr guten Ruf. Die Semmelweis-Universität ist hierbei als humanmedizinische Universität weltweit bekannt. Sie bietet, wie die Universitäten von Pécs und Szeged die medizinische Ausbildung in ungarischer, deutscher und englischer Sprache an. Weiterhin existiert seit 2001 die Andrássy Universität in Budapest als einzige komplett deutschsprachige Universität außerhalb des deutschen Sprachraumes in Mitteleuropa. Die Anzahl der privaten und konfessionellen Universitäten wächst ständig. Private Universitäten verlangen hohe Studiengebühren. Auch ein Zweitstudium oder PhD-Programm an einer öffentlichen Universität oder Hochschule muss teilweise von den Studierenden finanziert werden. Landesname Herkunft Die Eigenbezeichnung der Ungarn weicht stark von den ausländischen Namen für Ungarn ab. Der Begriff magyar (Aussprache // von ung. magyar []; früher magyeri) taucht schon im 9. und 10. Jahrhundert in islamischen Quellen auf und ist wahrscheinlich ein Kompositum aus magy (< ugrisch *mańćε = „Mensch, Mann, Geschlecht“) und er(i) (ebenfalls „Mensch, Mann, Geschlecht“). Der Name bezeichnete anfangs nur einen von sieben halbnomadischen Stämmen, die im 9. sowie im beginnenden 10. Jahrhundert räuberische Überfälle in Europa (bis über die Pyrenäen) unternahmen. Diese Stämme hießen Megyer (Magyar), Tarján, Jenő, Kér, Keszi, Kürt-Gyarmat und Nyék; sie sind auch unter dem Stammesbundnamen hétmagyar bekannt. Gegen Ende des 10. Jahrhunderts ist es dem Stamm der Magyaren – das heißt den Nachkommen Árpáds – gelungen, die übrigen Stämme unter seiner Oberherrschaft zu vereinigen. Von da an kann von Magyaren gesprochen werden. Der Name „Ungarn“ gelangte vermutlich aus dem Slawischen in die anderen europäischen Sprachen. Das slawische Wort lässt sich auf die bolgarotürkische Stammesbezeichnung onogur (on = „zehn“ + ogur = „Stamm“) zurückführen, die dadurch entstand, dass die Vorfahren der Ungarn im 5. und 6. Jahrhundert in enger Verbindung mit den Onoguren lebten. Das „H-“ im lateinischen hungarus (und dadurch auch in manchen anderen Sprachen) entstand dadurch, dass der Name irrtümlicherweise mit den Hunnen (Hunni) gleichgesetzt wurde. Gebrauch des Namens Das Königreich Ungarn, das in wechselnden Grenzen von 1001 bis 1946 bestand, heißt auf Ungarisch Magyar Királyság, da magyar im Ungarischen als Staatsbezeichnung und auch als Volksbezeichnung fungiert. Das heutige Ungarn heißt in der Landessprache Magyarország (dt.: Ungarland). Von magyar wird im Deutschen auch das Adjektiv „magyarisch“ abgeleitet. In den meisten Sprachen der Welt – so auch im Deutschen – werden für das Land und seine Bewohner ebenfalls gleichlautende Bezeichnungen verwendet; sie stammen von dem lateinischen Begriff hungarus her. In Form der Landesbezeichnungen „Hungary“ und „Hongrie“ gelangte dieser Name beispielsweise auch ins Englische und Französische. Auf Rumänisch heißen das Königreich und die heutige Republik Regatul Ungariei beziehungsweise Republica Ungaria oder kurz Ungaria (Ungarn) und auf Ukrainisch (Koroliwstwo Uhorschtschyna) oder kurz (Uhorschtschyna). Slowaken, Slowenen, Kroaten und Serben, die bis 1918 ganz oder teilweise im multiethnischen Ungarn lebten, unterscheiden dagegen bei der Staats- und Volksbezeichnung zwischen „ungarisch“ und „magyarisch“. Für den ungarischen Teil des einstigen Vielvölkerstaats Österreich-Ungarn werden Bezeichnungen verwendet, die auf hungarus beruhen: Uhorsko (slowakisch), Ogrska (slowenisch) und Ugarska/Угарска (kroatisch/serbisch). Für den nach dem Vertrag von Trianon 1920 entstandenen Staat lauten die Bezeichnungen hingegen, abgeleitet von dem ethnischen Begriff Magyaren Maďarsko (slowakisch), Madžarska (slowenisch) und Mađarska/ (kroatisch/serbisch). Bis 2012 lautete die amtliche Vollform Republik Ungarn (ungarisch Magyar Köztársaság). Geschichte 9. bis 15. Jahrhundert Die Magyaren wanderten, angeführt von dem Großfürsten Árpád, Ende des 9. Jahrhunderts, angeblich im Jahr 896 in das Karpatenbecken ein und führten Raubzüge durch ganz Europa. Diese wurden auch von Árpáds Nachfolgern erfolgreich weitergeführt, bis 955 Otto I. die Angriffe der Ungarn durch einen vernichtenden Sieg auf dem Lechfeld zurückschlagen konnte. Das Königreich Ungarn wurde am 20. August 1000 von Stephan I. gegründet, der das Land gegen den erbitterten Widerstand des alten Adels nach karolingischem Vorbild gestaltete (Begründung des bis heute bestehenden Komitatswesens). Im „Mongolensturm“, wie die Angriffe der Goldenen Horde der Mongolen unter dem Heerführer Batu Khan in den Jahren 1241 und 1242 bezeichnet werden, wurde das Land verwüstet und in weiten Teilen entvölkert; 50 % der Bevölkerung Ungarns kam dabei ums Leben. König Béla IV. rief für die Neubesiedlung Siedler aus dem Heiligen Römischen Reich (Schwaben) ins Land, die sich in der Folgezeit teilweise magyarisierten. Im Jahr 1301 starb Andreas III., der letzte Herrscher des Hauses Árpád. 1370–1386 und 1440–1444 wurde Ungarn von den Anjou und Jagiellonen in Personalunion mit Polen regiert. In der Folgezeit hatte Ungarn nur noch einen ungarischen König, Matthias Corvinus, der das Land von 1458 bis 1490 regierte. Unter dem hochgebildeten Matthias stieg Ungarn zur politischen Großmacht und zu einem Zentrum der Renaissancekultur sowie des Humanismus auf. Als Renaissancefürst zog er Gelehrte und Künstler aus Italien an seinen Hof, gründete die Universität in Pressburg (Pozsony, heute Bratislava) und die Bibliothek Corvina in Ofen (Budapest); sein Großreich zerfiel nach seinem Tod. Zwischen 1490 und 1526 regierten die polnisch-litauischen Jagiellonen Ungarn und Böhmen in Personalunion. 16. bis 19. Jahrhundert Das Ende der Unabhängigkeit Ungarns kam um die Mitte des 16. Jahrhunderts mit den Eroberungen durch das Osmanische Reich. Am 29. August 1526 besiegte Sultan Süleyman I. bei Mohács König Ludwig II. von Böhmen und Ungarn, der auf der Flucht ertrank. Der größte Teil Ungarns geriet unter türkische Herrschaft, wobei die nicht eroberten Teile entweder in Kontinuität des ungarischen Königtums als Königliches Ungarn unter habsburgische Herrschaft kamen (darunter der Westen Oberungarns) oder von Ungarn getrennt und als Fürstentum Siebenbürgen unter osmanische Oberhoheit gestellt wurden. Nach 145 Jahren türkischer Besetzung Ungarns fiel Buda nach der zweiten Belagerung im Jahr 1686 und die Habsburger eroberten nunmehr ganz Ungarn. Die Ungarn missbilligten aber deren harte Herrschaft, so dass es von 1703 bis 1711 zum Kuruzenaufstand unter Fürst Franz II. Rákóczi kam, einem Adeligen aus Siebenbürgen. Da die Spannungen zwischen dem ungarischen Adel und dem Wiener Hof nicht beseitigt werden konnten, entluden sie sich (nach scheinbar einvernehmlichen Verhandlungen und Zugeständnissen des Kaisers gegenüber den Ungarn) in der Revolution von 1848/49, die mit Hilfe Russlands (mit Berufung auf die „Heilige Allianz“) blutig niedergeschlagen wurde, was das Klima in der Monarchie dauerhaft verschlechterte. Nach anhaltenden Unruhen im Land wurde Ungarn durch den österreichisch-ungarischen Ausgleich von 1867 gleichberechtigter Teil der Doppelmonarchie Österreich-Ungarn. Franz Joseph I. nannte sich nun gleichrangig Apostolischer König von Ungarn (er ließ sich nun in Buda krönen) und Kaiser von Österreich (bis dahin war der ungarische Königstitel dem Kaisertitel untergeordnet). Diese Personalunion, de jure begründet durch die Pragmatische Sanktion, wurde durch gleichlautende österreichische und ungarische Grundgesetze, Außenpolitik und Armee sowie deren Finanzierung betreffend, zur Realunion. Eine freiwillige Zoll- und Handelsunion folgte, die Gulden-, später Kronenwährung blieb gemeinsam (Oesterreichisch-ungarische Bank). Führend am Erfolg des Ausgleichs für die ungarische Seite beteiligt waren Ferenc Deák und Graf Gyula Andrássy. Zur ungarischen „Reichshälfte“ (wie man im kaiserlichen Österreich gern sagte; Ungarn wollte den Begriff Reich für die Doppelmonarchie nicht) gehörten die Länder des Königreichs Kroatien und Slawonien (im Wesentlichen der heutige Staat Kroatien ohne Dalmatien), die Vojvodina, ein großer Teil Rumäniens (Siebenbürgen im weiteren Sinne und der heute rumänische Teil des Banats) sowie kleine Teile Polens und der Ukraine (Karpatenukraine). In der Folge kam es zu einem bedeutenden wirtschaftlichen Aufschwung des Landes und besonders seiner Hauptstadt, der nicht zuletzt in den Millenniumsfeiern der magyarischen Landnahme und der Budapester Millenniumsausstellung 1896 zum Ausdruck kam. Allerdings war der Vielvölkerstaat Königreich Ungarn durch innere Spannungen (Selbstständigkeitsbestrebungen der nichtmagyarischen Völker, Nationalitätenkonflikte im Zuge der Magyarisierungspolitik) gekennzeichnet. Die führende Rolle bei der Industrialisierung hatten zwar vielfach Repräsentanten von Minderheiten (Deutschösterreicher und Juden) inne, die eher zur freiwilligen Magyarisierung neigten, für die slawische und rumänische Bevölkerung der ungarischen Reichshälfte galt dies aber nicht. Dies begünstigte die Zerschlagung des heterogenen Staatsgebildes nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg. Die Entscheidungen der Siegermächte führten dazu, dass in der Tschechoslowakei (heute in der Slowakei), in Rumänien und im Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen (heute vor allem in Serbien) aufgrund des Vertrages von Trianon ungarische Minderheiten leben. Allerdings verblieben auch slowakische, rumänische und deutsche Minderheiten in Ungarn. Von 1918 bis 1945 Ungarn erklärte am 31. Oktober 1918 den Austritt aus der Realunion mit Österreich und rief die magyarischen Truppen von der italienischen Front zurück. Damit war die k. u. k. Monarchie aufgelöst. Auf dringende Forderungen ungarischer Spitzenpolitiker erklärte König Karl IV. am 13. November 1918 auf Schloss Eckartsau (Niederösterreich) seinen Verzicht auf jeden Anteil an den ungarischen Staatsgeschäften, so wie er dies als Kaiser Karl I. zwei Tage zuvor für Österreich erklärt hatte. Eine formelle Abdankung erfolgte jedoch nicht. Ministerpräsident Mihály Károlyi rief am 16. November 1918 die demokratische Republik Ungarn aus, im Januar 1919 wurde er zum ersten Präsidenten des Landes gewählt. Die sozialen Missstände infolge des verlorenen Krieges hielten jedoch an. Nach der friedlichen Bürgerrevolution von 1918 setzte die Regierung der neuen Republik das Volksgesetz Nummer 1 in Kraft, das zum ersten Mal in der ungarischen Geschichte ein gleiches Wahlrecht für beide Geschlechter garantierte, das über Parteilisten ausgeübt wurde. Es wurden aber keine Wahlen auf dieser Basis abgehalten. Der konservative Flügel der nationalistischen Bewegung stürzte den Ministerpräsidenten Mihály Károlyi in einer Gegenrevolution, und das Frauenwahlrecht wurde wieder abgeschafft. Nach Károlys Rücktritt am 21. März 1919 übernahmen die Kommunisten unter der Führung Béla Kuns die Macht und gründeten eine Räterepublik. Das nachrevolutionäre Wahlgesetz vom November 1919, das in der Regierungsverordnung 5985/1919/ME enthalten war, garantierte dann wieder ein stufenweise ausgeweitetes Wahlrecht. Dennoch waren die Wahlen von 1920 erschüttert von Einschüchterung und Korruption. Frauen und Männer über 24 hatten das Wahlrecht, wenn sie seit sechs Jahren die ungarische Staatsangehörigkeit hatten und schon mindestens sechs Monate in Ungarn wohnten. Das Wahlrecht der Frauen war auf die Frauen beschränkt, die lesen und schreiben konnten. Männer waren von der Altersbeschränkung ausgenommen, wenn sie mindestens zwölf Wochen Militärdienst an der Front geleistet hatten. 1922 folgte ein ernster Rückschlag: Eine Wahlrechtsreform erhöhte das Wahlalter für Frauen auf 30. Auch wurde eine bestimmte Schulbildung zur Voraussetzung: Vier Jahre Grundschule für Männer und sechs für Frauen (vier, wenn sie mindestens drei Kinder hatten oder ihr eigenes Einkommen und Haushaltsvorstände waren). Zur Rückerlangung der nach dem Ersten Weltkrieg verlorenen Gebiete (Siebenbürgen, Slowakei) ging Ungarn militärisch gegen seine Nachbarländer vor. Im Ungarisch-Rumänischen Krieg geriet die ungarische „Rote Armee“ jedoch schnell in die Defensive. Mit der Besetzung weiter Teile des Landes durch rumänische Truppen brach die sozialistische Republik am 1. August 1919 zusammen, Béla Kun musste fliehen. Nach dem Ende der Räterepublik scheiterte zunächst Erzherzog Joseph August von Österreich, vom 7. August bis 23. August Reichsverweser, mit dem Versuch einer Regierungsbildung an der ablehnenden Haltung der Alliierten. Schließlich zog der ehemalige k. u. k. Admiral Miklós Horthy, der zuvor in Szeged eine konservative Gegenregierung zu den Kommunisten gebildet hatte, am 16. November 1919 mit seinen Truppen in Budapest ein. Von der Nationalversammlung zum Reichsverweser gewählt, führte Horthy am 1. März 1920 die Monarchie formal wieder ein, blieb in der Folge jedoch faktisches Staatsoberhaupt. Karl IV. versuchte von seinem Exil in der Schweiz aus zweimal, die Herrschaft in Ungarn wieder zu übernehmen; beide Male verweigerte Horthy jedoch die Übergabe der Macht. Die Restauration der habsburgischen Monarchie wurde Ungarn im Zuge der Friedensverhandlungen (Pariser Vorortverträge) verboten (Vertrag von Trianon). Am 6. November 1921 beschloss der Reichstag im sogenannten Dethronisationsgesetz die formelle Absetzung der Dynastie Habsburg-Lothringen. Die Regierung erkannte daraufhin den Friedensvertrag von Trianon an, nach dessen Bedingungen Ungarn zwei Drittel seines Staatsgebiets an die Tschechoslowakei, Rumänien, den südslawischen Staat und Österreich abtreten musste. Die meisten nun abgetretenen Gebiete hatten sich schon 1918/1919 von Ungarn getrennt und waren den neuen Nachfolgestaaten der Donaumonarchie beigetreten oder von ihnen in Besitz genommen worden; das spätere Burgenland kam aber erst im Herbst 1921 zu Österreich. Ungarn näherte sich ab 1933 unter Ministerpräsident Gyula Gömbös aufgrund wirtschaftlicher Krisen und revisionistischer Propaganda politisch immer mehr dem nationalsozialistischen Deutschland an. In den von NS-Deutschland diktierten Wiener Schiedssprüchen erhielt Ungarn 1938 die ungarisch bewohnte Südslowakei (entlang der Donau) und 1940 einen beträchtlichen Teil Siebenbürgens (von Rumänien) zurück. Durch den Balkanfeldzug (1941) fiel zudem das Übermurgebiet an Ungarn. Jedes dieser Gebiete musste 1945 jedoch wieder aufgegeben werden. Als Gegenleistung trat Horthy am 27. Juni 1941 auf Seiten der Achsenmächte in den Krieg gegen die Sowjetunion ein, musste jedoch aufgrund unzureichender Ausrüstung schwere Verluste hinnehmen. Man nahm Verbindung mit den Westalliierten auf, die jedoch auf Moskau verwiesen. Als diese Kontakte den Deutschen bekannt wurden, besetzten sie ab Mitte März 1944 das Land und setzten eine Kollaborationsregierung unter Döme Sztójay ein, die sofort mit der Deportation der jüdischen Bevölkerung begann. Über 200.000 der auf dem Staatsgebiet von 1937 lebenden jüdischen Ungarn kamen in Konzentrations- und Vernichtungslagern ums Leben. Weitere über 200.000 Opfer stammten aus den Gebieten, die Ungarn nach den Wiener Schiedssprüchen besetzt hatte. Nach der Kapitulation Rumäniens entschloss sich Horthy am 28. September 1944, eine Abordnung mit einem Kapitulationsangebot an Moskau zu entsenden, die Verhandlungen führten am 15. Oktober zur Proklamation des Waffenstillstandes im Rundfunk. Nach der Festnahme Horthys im Herbst 1944 wurde die Kriegsbeteiligung unter der faschistischen Bewegung der Pfeilkreuzler von Ferenc Szálasi fortgesetzt. Für Ungarn endeten die Kampfhandlungen des Zweiten Weltkriegs mit dem Kampf um Ungarn und der Besetzung des Landes durch die Rote Armee, welche bis zum 4. April 1945 abgeschlossen war. Ostblock, Ungarnaufstand und Wende Ungarn kam auf Grund des Vertrages von Jalta unter sowjetischen Einfluss. 1945 wurde das uneingeschränkte Wahlrecht wiederhergestellt. Bei der freien Parlamentswahl im November 1945 errang die Kleinlandwirtepartei 57 % der Stimmen, die Kommunisten lagen mit 17 % knapp hinter den Sozialdemokraten auf Platz 3. Auf sowjetischen Druck wurden die Kommunisten dennoch in die Regierung aufgenommen und rissen bis 1949 schrittweise die Macht an sich, das Land wurde dem Kommunismus nach sowjetischem Vorbild unterworfen. 1948 wurde die Sozialdemokratische Partei Ungarns mit den Kommunisten zwangsvereinigt zur Partei der Ungarischen Werktätigen (MDP), die 1956 durch die Ungarische Sozialistische Arbeiterpartei (MSZMP) ersetzt wurde. Am 20. August 1949 wurde eine Verfassung nach sowjetischem Vorbild beschlossen. Bis 1953 verfolgte Ungarn unter Mátyás Rákosi einen stalinistischen Kurs. Am 23. Oktober 1956 kam es zu einem Volksaufstand, in dessen Verlauf Imre Nagy, der bereits von 1953 bis 1955 Ministerpräsident gewesen war, erneut dieses Amt erlangte. Er bildete eine Mehrparteienregierung und forderte die parlamentarische Demokratie sowie die Neutralität Ungarns. Der Aufstand wurde jedoch durch die sowjetische Armee blutig niedergeschlagen. Viele Ungarn verließen daraufhin das Land und emigrierten nach Westeuropa oder Nordamerika. Nagy wurde hingerichtet (seine Asche wurde erst 1989 feierlich in Ungarn beigesetzt). János Kádár, bis dahin stellvertretender Ministerpräsident, wurde Generalsekretär der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei sowie Ministerpräsident. Den anfänglichen Repressionen gegen die Beteiligten des Aufstandes folgten in den Jahren zwischen 1959 und 1963 Amnestien, die zu Freilassungen führten. 1968 beteiligte sich Ungarn am militärischen Eingreifen der Warschauer Pakt-Staaten in der für den Ostblock gefährlich liberal gewordenen Tschechoslowakei. Seit den 1960er Jahren erlaubte Kádár, der bis 1988 Generalsekretär der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei und von 1956 bis 1958 sowie von 1961 bis 1968 auch Ministerpräsident war, gewisse Liberalisierungen im politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Bereich, die unter dem Begriff „Gulaschkommunismus“ bekannt wurden. 1987/1988 bildeten sich Oppositionsgruppen, die den friedlichen Systemwechsel vorantrieben und die Legitimität der sowjetischen (faktisch russischen) Vorherrschaft in Frage stellten (erwähnt sei Imre Pozsgay, der im Amt eines Staatsministers öffentlich der Doktrin von der „Konterrevolution von 1956“, widersprach). 1988 trat der nun schon greise Kádár unter dem Druck der Verhältnisse auf einem Sonderparteitag der Staatspartei USAP zurück, Nachfolger wurde Károly Grósz. Auch in der kommunistischen USAP gab es oppositionelle Stimmen, die freie Wahlen und den Abzug der sowjetischen Truppen forderten. Dies leitete die Grenzöffnung nach Österreich, den Abbau der Grenzanlagen und damit die Zerschneidung des Eisernen Vorhangs ein. Bereits am 2. Mai 1989 begannen ungarische Grenzsoldaten mit der Demontage des Grenzzaunes. Am 27. Juni 1989 durchtrennte Gyula Horn, der ungarische Außenminister, zusammen mit seinem österreichischen Amtskollegen Alois Mock in einer symbolischen Aktion den Stacheldraht an der Grenze zwischen Österreich (Klingenbach) und Ungarn (Sopron). Bis August 1989 lieferte Ungarn gefasste Fluchtwillige grundsätzlich an die DDR aus. Ab dem 11. September 1989 erlaubte Ungarn auch DDR-Bürgern offiziell die Ausreise nach Österreich. Ungarn hatte entscheidenden Anteil an den Revolutionen im Jahr 1989 in den ehemaligen Ostblockstaaten und damit auch an der friedlichen Revolution in der DDR, die den Weg zur Wiedervereinigung Deutschlands ebnete. Geschichte seit 1989 Nach 1989/90 wurde Ungarn (politisch gesehen) Teil des westlichen Staatensystems. Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs 1989/90 wurde auch das ungarische Staatswesen erneuert. Am 23. Oktober 1989, dem Jahrestag des Ungarischen Volksaufstands von 1956, wurde die Republik Ungarn ausgerufen, und eine modifizierte Version der sozialistischen Verfassung von 1949 trat in Kraft. Vorbild dieser geänderten Fassung war unter anderem das deutsche Grundgesetz. Die Regierung ist dem Parlament verantwortlich, für die Regierungstätigkeit trägt der Ministerpräsident Verantwortung. Um eine möglichst große Stabilität der Regierung zu gewährleisten, wurde die Institution des konstruktiven Misstrauensvotums geschaffen. Im März 1990 fanden die ersten freien Parlamentswahlen Ungarns seit 1947 statt. Das ungarische Parlament ist ein Einkammerparlament. Es wählt den Präsidenten der Republik, den Ministerpräsidenten, die Mitglieder des Verfassungsgerichts, den Ombudsmann der Minderheiten, den Präsidenten des Obersten Gerichts und den Generalstaatsanwalt. Die Macht des auf fünf Jahre gewählten Präsidenten ist gering. Die ungarische Politik war seit der Einführung freier und geheimer Wahlen bis 2010 von häufigen Mehrheitswechseln geprägt. Nach der Wahl 1990 regierte bis 1994 eine konservative Koalitionsregierung aus MDF, FKgP und KDNP. Ministerpräsident war zunächst József Antall, nach dessen Tod im Dezember 1993 Péter Boross. Die Regierungskoalition erlitt bei der Wahl im Mai 1994 eine schwere Niederlage, während die aus der ehemaligen kommunistischen Einheitspartei hervorgegangenen Sozialisten (MSZP) aufgrund des Wahlsystems mit 33 % der Stimmen die absolute Mehrheit der Mandate erzielten. Neuer Ministerpräsident wurde Gyula Horn, der trotz der absoluten Mehrheit seiner Partei mit den Linksliberalen (SzDSz) koalierte. Die Wahl 1998 brachte einen erneuten Machtwechsel. Fidesz, bis dahin eine kleine Partei, wurde stärkste Fraktion. Viktor Orbán wurde erstmals Ministerpräsident. Er stand bis zur überraschenden knappen Wahlniederlage 2002 einer Koalition aus Fidesz, MDP und der während der Wahlperiode zerfallenden FKgP vor. Im März 1999 wurde Ungarn Mitglied der NATO, nachdem das Parlament am 9. Februar mit überwältigender Mehrheit für einen Beitritt gestimmt hatte. Das Land gehörte damit zu den ersten Staaten des früheren Ostblocks, die der Allianz beitraten. Nach den Wahlen 2002 übernahm wieder die MSZP zusammen mit dem SzDSz die Regierungsverantwortung. Der neue Ministerpräsident Ferenc Gyurcsány, der seit dem 29. September 2004 amtierte, war Nachfolger von Péter Medgyessy, der nach Versuchen der Regierungsumstrukturierung zurückgetreten war. Am 1. Mai 2004 trat Ungarn der Europäischen Union bei, nachdem sich in einem Referendum eine Zustimmung vom 83,8 % ergab. Die Regierung von MSZP und SzDSz wurde bei den Parlamentswahlen vom 9. und 23. April 2006 wiedergewählt. Damit schaffte es eine Regierung erstmals, im Amt zu bleiben. Im September 2006 wurden Details über eine Rede (Őszöder Rede) publik, die Gyurcsány nach der Parlamentswahl im Mai vor seiner Fraktion gehalten hatte. In dieser Rede sprach Gyurcsány davon, dass die Regierung in den vergangenen Jahren nur gelogen habe, um den wahren Zustand der Staatsfinanzen zu verschleiern. Mit dieser Rede wollte Gyurcsány seine Partei dazu bringen, die von ihm geplanten Konsolidierungsmaßnahmen mitzutragen (Mehrwertsteuererhöhung, Praxisgebühr, Entlassungen im öffentlichen Dienst). Im September und Oktober 2006 kam es vor allem in Budapest wiederholt zu gewalttätigen Ausschreitungen, die auch die Feierlichkeiten zum 50. Jahrestag des Volksaufstands von 1956 überschatteten. Gyurcsány bot am 21. März 2009 seinen Rücktritt an. Eine Minderheitsregierung aus Sozialisten und parteilosen Fachleuten wurde daraufhin im April 2009 unter dem parteilosen vormaligen Wirtschaftsminister Gordon Bajnai gebildet, die vom Szabad Demokraták Szövetsége toleriert wurde. Bei der Parlamentswahl 2010 erhielt das Wahlbündnis aus Fidesz und KDNP 263 der 386 Mandate und verfügte damit über eine für Verfassungsänderungen nötige Zweidrittelmehrheit. Am 29. Mai 2010 wählte das neue Parlament Viktor Orbán zum neuen Ministerpräsidenten. Am 18. April 2011 wurde mit den Stimmen der Regierungsparteien die zum 1. Januar 2012 in Kraft getretene neue Verfassung verabschiedet, das Grundgesetz Ungarns. Als Grundlagen der Nation bekennt sich das Grundgesetz in seiner Präambel unter anderem zu Gott, Krone (Stephanskrone) und Vaterland, Christentum, Familie und Nationalstolz. Der offizielle Staatsname wurde von Republik Ungarn (Magyar Köztársaság) in Ungarn (Magyarország) geändert. Die Staatsform Ungarns wird in Artikel B der Verfassung jedoch weiterhin als Republik bezeichnet, die Regierungsform ist parlamentarisch. Bei den Parlamentswahlen 2014, 2018 und 2022 gewann Fidesz im Bündnis mit der KDNP bei geändertem Wahlrecht jeweils knapp eine Zweidrittelmehrheit. Das Land wurde während der Flüchtlingskrise in Europa 2015/2016 zur Zwischenstation einer großen Wanderbewegung von Flüchtlingen und Migranten. Diese versuchten, von Griechenland kommend, auf diversen als Balkanroute bekannt gewordenen Strecken nach Westeuropa zu gelangen. Die Regierung ließ einen Grenzzaun an den südlichen Landesgrenzen errichten und verschärfte ihre Migrations- und Flüchtlingspolitik. Seit 2018 ist Ungarn Beobachter in der Organisation der Turkstaaten. Politik Politisches System Ungarn ist laut Grundgesetz eine parlamentarische Demokratie. Staatsoberhaupt ist der Präsident der Republik (ung. Köztársasági elnök), der hauptsächlich repräsentative Funktionen hat. Er wird vom Parlament (ung. Országgyűlés) gewählt und hat eine Amtszeit von fünf Jahren. Die Exekutive im Land übt die Regierung Ungarns mit dem Ministerpräsidenten (ung. Miniszterelnök) als Regierungschef an der Spitze aus. Die Ungarische Regierung ist dem Parlament verantwortlich. Vorsitzender des Parlaments ist der Parlamentspräsident (ung. Országgyűlés elnöke), der aus der Mitte der Parlamentsmitglieder gewählt wird. Am 1. Januar 2012 trat eine neue Verfassung in Kraft, die bereits 2013 reformiert wurde. Sie löste die 1989 reformierte Verfassung von 1949 ab. Der Staatsaufbau wurde nicht wesentlich verändert. Die neue Verfassung und die Reform 2013 stießen im In- und Ausland auf erhebliche Kritik, auch seitens der EU. Kritisiert wurden unter anderem die Präambel, eine Beschneidung der Befugnisse des Verfassungsgerichts und die Befugnisse des neu geschaffenen Haushaltsrates. Im Zuge der COVID-19-Pandemie in Ungarn verabschiedete das ungarische Parlament am 30. März 2020 ein Gesetz, wonach die Regierung für die Dauer der Gefahrenlage zum Erlass von Dekreten und zur Aussetzung von Grundrechten und Gesetzen befugt wurde, Wahlen und Volksabstimmungen sollten nicht stattfinden. Ein Enddatum war nicht vorgesehen. Am 16. Juni 2020 beschloss das Parlament, den stark umstrittenen Notstand aufzuheben, der zum 18. Juni 2020 außer Kraft gesetzt wurde. Gleichzeitig beschloss das Parlament ein Durchführungsgesetz, das es der Regierung erlaubt, wieder zu Verordnungen zurückzukehren, um auf eine eventuelle Verschlechterung der Situation reagieren zu können. Kritiker bemängeln daran, dass sich Orbán über die Hintertür weiterhin Vollmachten zu sichern trachtet. Nach einem Jahrzehnt der Fidesz-KDNP-Führung unter der Leitung von Viktor Orbán stufte der Bericht „Nations in Transit 2020“ des Freedom House Ungarn von einer Demokratie in ein Übergangs- oder Hybridregime ab. Dem Bericht zufolge „hat das rechte Bündnis … die Rechtsstaatlichkeit in Ungarn allmählich untergraben und eine strenge Kontrolle über die unabhängigen Institutionen des Landes eingeführt … [das rechte Bündnis] hat die ungarische Verfassung stetig umgeschrieben und demokratische Schutzmechanismen, die im Verfassungsgericht, der Staatsanwaltschaft, der Medienbehörde und dem staatlichen Rechnungshof gesetzlich verankert sind, abgeschafft …“. Es beschränkte auch die parlamentarische Kontrolle, unabhängige Medien, Nichtregierungsorganisationen und Wissenschaftler und festigte gleichzeitig die Macht um die Zentralregierung. Parlament und Parteien Das Parlament hat eine Kammer und besteht seit 2014 aus 199 Mitgliedern, zuvor waren es 386. Die Abgeordneten werden für vier Jahre gewählt. Zu einer vorzeitigen Neuwahl kam es seit 1990 nicht. Das Wahlsystem ist eine Mischung aus Mehrheits- und Verhältniswahl. Für die Verteilung der Listensitze gilt eine Fünfprozenthürde. Das im Dezember 2011 verabschiedete neue Wahlgesetz verstärkte die Begünstigung großer Parteien. Bei der Parlamentswahl vom April 2014 erreichten die Regierungsparteien Fidesz von Ministerpräsident Viktor Orbán und KDNP zusammen 133 der 199 Sitze im Parlament und damit nach 2010 erneut die für Verfassungsänderungen notwendige Zweidrittelmehrheit. Dieselbe Sitzzahl errangen sie bei der Parlamentswahl am 8. April 2018 und konnten bei den Wahlen 2022 mit insgesamt 135 Sitzen zum vierten Mal in Folge die Zweidrittelmehrheit erreichen. Für die Bildung einer Fraktion sind fünf Abgeordnete erforderlich. Im Ungarischen Parlament sind 2022 folgende Parteien mit einer Fraktion vertreten: Außenpolitik Mit dem Beitritt Ungarns 1999 zur NATO und im Zuge der EU-Osterweiterung 2004 auch zur Europäischen Union wurden zwei grundlegende Ziele der ungarischen Außenpolitik erreicht. Ungarn ratifizierte am 17. Dezember 2007 als erstes Land den Vertrag von Lissabon und bekundete damit öffentlich seine pro-europäische Haltung. Ministerpräsident Ferenc Gyurcsány sprach sich stark für ein integriertes Europa aus und befürwortete die Stärkung des gemeinschaftlichen Entscheidungsprozesses nach dem Motto Fortschritt durch Kompromiss. Die Europapolitik Ungarns ist seit etwa 2009 auch durch Parteien mitbestimmt, die die EU kritisch sehen bzw. ablehnen, was insgesamt zu einer teilweisen Distanzierung führte. Ungarn ist an der wirtschaftlichen und politischen Stabilität seiner südlichen Nachbarn interessiert, es setzte sich schon vor dem Sturz Slobodan Miloševićs für die demokratische Opposition in Jugoslawien ein. Die Infrastrukturverbindungen, insbesondere die Autobahnen zu den Nachbarn, sollen weiter ausgebaut und die wirtschaftlichen Beziehungen zu den zukünftigen EU-Mitgliedstaaten intensiviert werden. Zudem setzte sich Ungarn für den Beitritt Kroatiens zur EU ein. Innerhalb der Europäischen Union soll die Zusammenarbeit innerhalb der Visegrád-Gruppe (mit Tschechien, der Slowakei und Polen) fortgesetzt werden. Ungarn hatte 2001 und 2002 den Vorsitz inne. Seit 2016 hat das Land Beobachterstatus in der Gemeinschaft der Portugiesischsprachigen Länder (siehe hierzu auch Portugiesisch-ungarische Beziehungen). Ungarn ist seit September 2018 Beobachter der Organisation der Turkstaaten. Hierbei erklärte Viktor Orbán, dass die Ungarn als Magyaren stolz auf ihre Herkunft und Beziehung mit den Turkvölkern Zentralasiens seien. Mit dem Anliegen, die Verbindung zu Europa und zur Europäischen Union zu vertiefen, wurde im September 2019 in Budapest ein Vertretungsbüro der Organisation der Turkstaaten eingerichtet, und unter Teilnahme des türkischen Außenministers eingeweiht. Magyarische Minderheiten Von den gut 12,5 Millionen autochthonen Magyaren im Gebiet des Karpatenbeckens leben als Folge des Friedensvertrags von Trianon und der Pariser Friedenskonferenz 1946 etwa drei Millionen außerhalb der Landesgrenzen. Seit der Novellierung der ungarischen Verfassung von 1989 sind die ungarischen Regierungen verpflichtet, sich um die Belange und Interessen der magyarischen Minderheiten jenseits der Grenzen zu kümmern und die ungarisch-auslandsungarischen Beziehungen und den kulturellen sowie wirtschaftlichen Austausch zu fördern. Daraus ergeben sich zwischenstaatliche Konflikte mit den Nachbarn, die sich besonders nach 2000 artikulierten. 2001 wurde ein Gesetz mit Begünstigungen für Auslandsungarn verabschiedet. Zwar schloss Ungarn zugleich auch Minderheitenabkommen und Grundlagenverträge über freundschaftliche Beziehungen mit seinen Nachbarstaaten, um die Minderheitenfrage der im Ausland lebenden Ungarn zu lösen. Im Zuge der Zunahme nationalistischer und patriotischer Strömungen sowohl in Ungarn als auch in den Nachbarstaaten, die sich auch durch die parlamentarische Anwesenheit rechtsnationalistischer Parteien und deren Regierungsbeteiligung äußerte, verschlechterte sich jedoch das bilaterale Verhältnis insbesondere zur Slowakei, in der die Magyaren fast 10 % der Bevölkerung stellen. Die bilateralen Verstimmungen zwischen der Slowakei und Ungarn zeigten sich am Konflikt um die verweigerte Einreise des ungarischen Staatspräsidenten László Sólyom am 21. August 2009 in das slowakische Komárno, an der Novellierung des slowakischen Sprachgesetzes, mit dem die offizielle Benutzung der ungarischen Sprache in der Slowakei deutlich eingeschränkt wurde, und am Inkrafttreten des Patriotismusgesetzes in der Slowakei. In Einlösung eines zentralen Wahlversprechens des Gewinners der Parlamentswahl 2010, Fidesz, verabschiedete das neu konstituierte ungarische Parlament am 26. Mai 2010 ein Gesetz zur doppelten Staatsangehörigkeit, mit der Auslandsmagyaren unabhängig von einem ungarischen Wohnsitz die ungarische Staatsbürgerschaft beantragen können. Die sofortige Reaktion des slowakischen Parlaments war die Verabschiedung eines Gesetzes, das slowakischen Staatsbürgern bei Erlangung der ungarischen Staatsbürgerschaft die Entziehung ihrer bisherigen und die Entfernung aus öffentlichen Ämtern und der Verwaltung androht. Mit dem Sieg eines Bündnisses aus konservativ-liberalen Parteien, zu denen auch die auf eine friedliche Koexistenz von Magyaren und Slowaken ausgerichtete slowakisch-magyarische Partei Most–Híd gehörte, bei den Nationalratswahl in der Slowakei 2010 ist eine Entspannung der slowakisch-ungarischen Beziehungen eingetreten. Europapolitik Zum 1. Mai 2004 folgte mit der Zustimmung einer deutlichen Mehrheit der Bevölkerung der Beitritt zur Europäischen Union im Zuge der EU-Erweiterung 2004. Beim Referendums zum EU-Beitritt am 12. April 2003 stimmten 84 % für den Beitritt, 45,6 % der acht Millionen Wahlberechtigten gingen zur Abstimmung. Bei den Europawahlen 2004, 2009, 2014 und 2019 wurde die Fidesz im Bündnis mit der KDNP jeweils deutlich stärkste Partei. Das derzeitige ungarische Mitglied der EU-Kommission ist Olivér Várhelyi. Bereits am 17. Dezember 2007 ratifizierte Ungarn als erstes Land den Vertrag von Lissabon und bekundete damit seine pro-europäische Haltung. Im ersten Halbjahr 2011 übernahm Ungarn erstmals den Vorsitz im Rat der Europäischen Union; im Mittelpunkt dieser ungarischen Ratspräsidentschaft stand unter anderem die EU-Energiepolitik. Allerdings kam es, vor allem aufgrund des umstrittenen ungarischen Mediengesetzes, zu Beginn der Ratspräsidentschaft auch zu Kontroversen mit anderen EU-Partnern. Am 12. September 2018 beschloss das Europäische Parlament die Einleitung eines Verfahrens nach Artikel 7 des EU-Vertrages wegen Verletzung europäischer Grundwerte. Für eine Feststellung der Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung von europäischen Grundwerten müssten vier Fünftel der übrigen EU-Staaten stimmen, für Sanktionen bis hin zu einem Stimmrechtsentzug Ungarns im Europäischen Rat wäre ein einstimmiger Beschluss erforderlich. Am 15. Juli 2021 leitete die Europäische Union aufgrund eines umstrittenen Gesetzes, welches Kinder und Jugendliche vor „homosexueller Propaganda“ „schützen“ soll, ein Vertragsverletzungsverfahren nach Art. 258 (Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union) gegen Ungarn ein. Die Präsidentin der EU-Kommission Ursula von der Leyen bezeichnete das Gesetz als eine „Schande“. Am 15. September 2022 sprach das EU-Parlament Ungarn den Demokratie-Status ab. Seit Dezember 2022 blockiert die EU für Ungarn vorgesehenes Geld aus dem Kohäsionsfonds in Höhe von 22 Milliarden Euro für den Zeitraum 2021–2027 und weitere 5,8 Milliarden Euro des Covid-Wiederaufbaufonds. Im April 2023 machte Staatspräsidentin Katalin Novák als erster Staatspräsident seit Orbáns zweitem Amtsantritt 2010 bei einem für Orbáns wertekonservativer Ideologie wichtigen Gesetz von ihrem Recht Gebrauch, ein Gesetz einmalig zurück an das Parlament zu verweisen. Das Gesetz sollte die Rechte von homosexuellen und transsexuellen Menschen einschränken und sah unter anderem vor, dass Bürgerinnen und Bürger gleichgeschlechtliche Paare, die gemeinsam Kinder aufziehen, anonym anzeigen können. Das Gesetz stehe nicht im Einklang mit EU-Rechtsnormen. Umwelt-, Naturschutz und Klimapolitik Ungarn hat im Verhältnis zu anderen Osteuropäischen Ländern eine vergleichsweise geringe Industrieproduktion. Im Jahr 2020 machten Kohle, Öl und Nuklearenergie zwei Drittel der ungarischen Energieerzeugung aus. Das Kohlekraftwerk Mátra soll frühestens im Jahr 2030 abgeschaltet werden. Ungarn stand dem EU-Plan „Green Deal“ mit seiner angestrebten „Klimaneutralität“ im Jahr 2050 kritisch gegenüber, wie Polen und Tschechien. Die Einführung des europäischen Schutzgebietsnetzes Natura 2000 beeinflusste nachhaltig die Unterschutzstellung von Gebieten in Ungarn. Natura-2000-Gebiete machen 59 % der Gesamtfläche aller geschützten Gebiete in Ungarn aus. Für die Naturschutzpolitik und Umweltbelange des Landes und die Implementierung europäischer Programme ist das Landwirtschaftsministerium zuständig. Politische Indizes Militär Die Ungarischen Streitkräfte (Magyar Honvédség) sind seit 2004 eine Berufsarmee von aktuell 23.000 Mann (2021) und gliedern sich in Heer (Szárazföldi Haderő) und Luftstreitkräfte (Légierő). Die Mannstärke soll sich bis 2026 auf 30.000 erhöhen, langfristiges Ziel sind über 37.000 Mann. Hinzu kommt eine Reserve von 11.000 Mann, die bis 2028 auf 20.000 Mann aufgestockt werden soll. Oberbefehlshaber ist der Präsident von Ungarn. Die Verteidigungsausgaben Ungarns beliefen sich 2021 auf 1,6 % des Bruttoinlandsprodukts und sollen spätestens bis 2024 das Zwei-Prozent-Ziel der NATO erreichen. Die Ausgaben würden dann mehr als das dreifache der von 2010 betragen. Da die Ausrüstung der Streitkräfte noch immer zu einem großen Teil aus Waffen der Zeit vor 1989 besteht, beschloss die Regierung 2017 ein umfassendes Programm (Zrínyi 2026) für die Modernisierung der Streitkräfte mit westlicher Technik. Als Ersatz für die sowjetischen T-72 und BTR-80A Panzer wurden 2018 44 Leopard 2 A7 und 24 neue Panzerhaubitzen 2000 bestellt. 2020 wurde Ungarn mit der Bestellung von 218 neuartiger Lynx KF 41 Schützenpanzer erster NATO-Kunde dieses Panzerfahrzeugs. Die Luftwaffe soll mit modernsten Hubschraubern und Transportflugzeugen ergänzt werden. Ein kleines Detachement ungarischer Soldaten diente im Irak. Die Reservebasis der ungarischen Luftwaffe in Kaposvár wurde vor dem Irakkrieg von der US-Luftwaffe gemietet. Es bleibt offen, ob dort auch US-Geheimdienstmitarbeiter auf den Krieg im Irak vorbereitet oder dafür ausgebildet wurden. Im NATO-Rahmen sind zudem auf dem Balkan ungarische Stabilisierungstruppen stationiert, außerdem engagierte sich Ungarn auch in Afghanistan mit eigenen Truppen. Verwaltungsgliederung Ungarn ist in 19 Komitate und die Hauptstadt Budapest eingeteilt. Das Land wurde 1999 in sieben Regionen eingeteilt, auch um die Auflagen der Europäischen Union zu erfüllen. Die Komitate wiederum waren bis 2013 in Kleingebiete unterteilt, die im NUTS-System der EU der Ebene LAU 1 entsprachen. 2013 wurden die Kleingebiete durch Kreise (járások) ersetzt. Innerhalb der Komitate gibt es 25 Städte mit Komitatsrecht. Diese gehören verwaltungsrechtlich zum Komitat, ihre Einwohner wählen jedoch die Komitatsvertretung (Megyei Közgyűlés) nicht mit. Neben den Komitatssitzen gelten die Städte Baja (Komitat Bács-Kiskun), Dunaújváros (Komitat Fejér), Érd (Komitat Pest), Esztergom (Komitat Komárom-Esztergom), Hódmezővásárhely (Komitat Csongrád-Csanád), Nagykanizsa (Komitat Zala) und Sopron (Komitat Győr-Moson-Sopron) als Städte mit Komitatsrecht. Infrastruktur Im Logistics Performance Index, der von der Weltbank erstellt wird und die Qualität der Infrastruktur misst, belegte Ungarn 2023 den 52. Platz unter 160 Ländern. Straßenverkehr 2021 gab es 32521 Kilometer Staatsstraßen (davon 96 % asphaltiert) und 183987 Kilometer Gemeindestraßen (davon 27 % asphaltiert). Die Infrastruktur wird sukzessive ausgebaut. 2021 betrug die Länge der Autobahnen und Schnellstraßen 2390 Kilometer gegenüber 505 km im Jahr 2001. Es gibt fünf Autobahnen, die in Richtung Budapest verlaufen. Drei davon sind komplett fertiggestellt, die M1, die M5 und die M7. Die M1 verläuft von der österreichischen Staatsgrenze bei Hegyeshalom zur Hauptstadt Budapest. Von ihr zweigt die M15 in Richtung Bratislava ab. Die M5 verläuft von der serbischen Grenze bei Röszke im Süden nach Budapest. Die M7 ist besonders aus touristischer Sicht wichtig, da sie Budapest mit dem Tourismusgebiet des Balaton und mit Kroatien (oder über die M70 mit Slowenien) verbindet. Schon 1964 wurde mit dem Bau dieser ersten ungarischen Autobahn begonnen, jedoch war sie bis 2005 kurz nach Siófok für mehrere Kilometer unterbrochen. Andere bereits bestehende Autobahnen werden nach und nach bis an die Staatsgrenzen verlängert, wie beispielsweise die M3. Die M3 ermöglicht die Durchquerung des Landes von West nach Ost, sie verläuft von Budapest nach Nyíregyháza. Über die M3 und M30 ist Budapest mit Miskolc und mit Nordostungarn verbunden. Der Bauauftrag zur Verlängerung bis zur ukrainischen Grenze wurde 2020 erteilt. Über die M35 ist Debrecen an die M3 angebunden. Die erste Teilstrecke der M6 Richtung Pécs wurde im Sommer 2006 zwischen Budapest und Dunaújváros eröffnet. Seit Frühjahr 2010 sind 193 der geplanten 212 Kilometer (Budapest–Grenze zu Kroatien) für den Verkehr frei gegeben. Eine weitere wichtige Autobahn ist die M0, die künftig zu einem kompletten Ring um Budapest ausgebaut werden und den Durchgangsverkehr aufnehmen soll. 2020 sind 79 Kilometer der geplanten 108 Kilometer befahrbar. Die M0 verbindet dann die Autobahnen (gegen den Uhrzeigersinn) M1, M7, M6, M5, M4, M31, M3 und M2 um Budapest. Am Ende der derzeitigen Ausbaustufe werden die M2 und die Landstraße 11 (Richtung Esztergom) angeschlossen. Weitere Autobahnen von und nach Budapest wie die M10 (Budapest–Esztergom) oder ein weitläufiger Ring um Budapest wie die M11 (Esztergom–Hatvan) sind derzeit in Planung. In Ungarn lässt sich nahezu jede Gemeinde per Bus erreichen. Zwischen größeren Städten verkehren Buslinien in einem Takt von 30 bis 60 Minuten, kleinere Städte und Dörfer werden meist im Takt von ein bis zwei Stunden angefahren. Die größte Busverkehrsgesellschaft in Ungarn ist Volán, sie befördert pro Tag etwa 1,6 Millionen Fahrgäste. Schienenverkehr Die Eisenbahnlinien laufen, wie die Autobahnen auch, sternförmig auf die zentral gelegene Hauptstadt zu. Betreibergesellschaften sind die ungarische MÁV (Magyar Államvasutak Rt.) und in Westungarn auch die österreichisch-ungarische GySEV/Raaberbahn. 2021 hatte das Schienennetz mit Normalspur eine Länge von 7558 Kilometern, davon 3221 elektrifiziert und 1315 mindestens zweigleisig. Im internationalen Schienenverkehr zwischen Ungarn und den Nachbarländern verkehren Züge der MÁV unter anderem als EuroCity (zum Beispiel nach Wien, Prag, Berlin und Hamburg) oder als InterCity (zum Beispiel nach Zagreb oder Bukarest). Sieben Mal täglich verbindet der Railjet der ÖBB Budapest mit Wien und darüber hinaus mit Zielen in Süddeutschland und der Schweiz. Während im Auslandsverkehr hauptsächlich klimatisierte Großraum- und Abteilwagen eingesetzt werden, überwiegen im Inlandsverkehr noch unklimatisierte Personenwagen aus der Zeit vor 1990. So sind unter anderem Halberstädter Mitteleinstiegswagen und aus solchen entstandene Steuerwagen zu finden, diese wurden nach 1993 von der Deutschen Bahn nach Ungarn verkauft. In Ungarn kann die 2. Klasse der Eisenbahn von EU-Bürgern ab 65 Jahren grundsätzlich kostenlos benutzt werden. Schnellzugzuschläge sind jedoch zu zahlen. Flugverkehr Internationale Flughäfen sind Budapest Liszt Ferenc südöstlich von Budapest (Terminals 1, 2a, 2b), Debrecen südwestlich der gleichnamigen Stadt in Ostungarn und seit dem Frühjahr 2006 der Flughafen Hévíz-Balaton bei Sármellék in Südwestungarn. Die größte Fluglinie Ungarns ist die Billigfluggesellschaft Wizz Air, die ihren Sitz in Budapest hat. Darüber hinaus gibt es in Ungarn noch eine Reihe weiterer Flughäfen, wie etwa Győr-Pér, Nyíregyháza und Pécs-Pogány. Energieversorgung Der Primärenergieverbrauch lag 2018 bei 2700 Öleinheiten pro Kopf (Deutschland 3600, Österreich 3700), der Stromverbrauch pro Kopf bei 4,4 Megawattstunden (Deutschland 6,9; Österreich 8,4 MWh). Mit Abstand den größten Anteil bei der Stromerzeugung hat die Kernenergie. Im Jahr 2020 betrug ihr Anteil 45,4 %. Im selben Jahr betrug die Anteile anderer Arten der Stromerzeugung: Gas 25,7 %, Kohle 10,9 %, Photovoltaik 6,9 %, Biomasse 5,6 %, Windkraft 1,9 %, Müllverbrennung 1,9 %, Wasserkraft 0,7 %, Öl 0,1 %, Sonstige 0,5 %. Im Gegensatz zu anderen Donau-Anrainerstaaten besitzt Ungarn keine größeren Wasserkraftwerke an der Donau. Dies liegt vor allem daran, dass der zusammen mit der Slowakei geplante Bau des Donauwasserkraftwerks Gabčíkovo-Nagymaros auf großen Widerstand der ungarischen Bevölkerung stieß. Danach wurden Pläne für weitere Wasserkraftwerke verworfen. Das Kernkraftwerk Paks liegt 100 Kilometer südlich von Budapest direkt an der Donau; seine vier Kernreaktoren sind die einzigen in Ungarn. Das KKW ist der größte Arbeitgeber in der Region um Paks. Je ein Reaktor ging 1982, 1984, 1986 und 1987 ans Netz. Alle sind sowjetische Typen (WWER). Jährlich werden im Kernkraftwerk Paks zwischen 11.000 und 14.000 GWh Strom erzeugt. Die radioaktiven Abfälle werden im Lager Püspökszilágy zwischengelagert. Im Januar 2014 wurde mit dem russischen Rosatom-Konzern vereinbart, zwei zusätzliche Reaktorblöcke mit einer Leistung von bis zu 2 Gigawatt zu errichten. Ungarn deckt einen erheblichen Teil des Strombedarfs durch Importe. 2020 standen bei einem Stromverbrauch von 46602 Gigawattstunden (GWh) Exporte von 7498 GWh Importen von 19176 GWh gegenüber. 2019 hatte Ungarn mit umgerechnet durchschnittlich 11,2 Cent je Kilowattstunde nach Bulgarien den zweitniedrigsten Strompreis für Privathaushalte in der EU. Die Strompreise für Geschäftskunden lagen knapp unter dem EU-Durchschnitt. Bei weitem wichtigster Energieträger zur Wärmegewinnung ist Gas, 2020 betrug der Anteil 67 % (Biomasse 7,4 %, Kohle 6,4 %, Geothermie 5,4 %, Müllverbrennung 7,4 %, Kernenergie 1 %, Öl 0,04 %, Sonstige 5,4 %). Ungarn bezieht 80 bis 85 % seines Erdgases aus Russland. Dabei vereinbarte das Land 2021 mit Russland einen Vertrag über 4,5 Milliarden Kubikmeter Gas pro Jahr über 15 Jahre. Im April 2023 vereinbarte Ungarn mit dem russischen Konzern Gasprom, dass dieser über das vereinbarte Maß hinaus Gas an Ungarn liefern könne. Ungarn warnte die EU davor dieses Abkommen zu untersagen. Wasserwirtschaft Wasserversorgung Aufgrund seiner beckenartigen Struktur verfügt Ungarn im Vergleich zu anderen Staaten Mitteleuropas über relativ große Wasserressourcen, die bei ungefähr 120 Milliarden Kubikmeter Süßwasser im Jahr liegen. Davon entfallen jedoch 90 Prozent auf Flüsse, die außerhalb der Staatsgrenzen entspringen (Donau, Drau, Theiß). Das bedeutet, dass die Wasserqualität dieser Flüsse nur in begrenztem Ausmaß durch nationale Maßnahmen zu beeinflussen ist. Darüber hinaus hat Ungarn nationale Probleme, die vor allem aus der langjährigen Vernachlässigung der Abwasserbehandlung resultieren. In Ungarn stammen 90 Prozent des Trinkwassers aus Grundwasserressourcen. Insgesamt beträgt die jährliche Wasserentnahmemenge etwa 5.500 Mio. m³, wovon etwa 85 % Oberflächenwasser und 15 Prozent Grundwasser sind. Die durchschnittliche Gesamtwasserentnahme pro Kopf liegt in Ungarn bei etwa 550 Kubikmeter im Jahr oder 1500 Liter pro Tag, was ungefähr dem Doppelten der Werte von Polen, Rumänien oder Tschechien entspricht und leicht über dem deutschen Verbrauch (500 m³/Jahr/Person) liegt. Von dieser Menge entfallen auf die öffentliche Wasserversorgung etwa 13 Prozent (195 l/Tag/Person), auf die Industrie und Energieerzeugung etwa 78 Prozent und auf die Landwirtschaft ungefähr 9 Prozent. Vor der Systemwende war der Wasserverbrauch noch bedeutend höher. Der deutliche Rückgang ist bedingt durch die Stilllegung von Bauxit- und Kohlebergwerken, den rückläufigen Bedarf der Industrie und den stetigen Anstieg der Wasserpreise, die seit 1990 von den Gemeinden festgelegt werden und durch den Abbau von Subventionen erheblich gestiegen sind. In Budapest zum Beispiel betrugen im Jahr 2004 die Gebühren für Trinkwasser 0,56 €/m³ und die Abwassergebühren 0,73 €/m³ (Umrechnungskurs vom 12. Mai 2004). Viele Kommunen wenden inzwischen außerdem einen progressiven Wassertarif an, der hohen Wasserverbrauch bestraft. Abwasserentsorgung Der Anteil der Haushalte, die an die öffentliche Kanalisation angeschlossen sind, liegt bei etwa 51 Prozent und betrifft etwa 60 Prozent der Bevölkerung. Die Quote der an das Kanalnetz angeschlossenen Haushalte schwankt jedoch je nach Größe der Stadt. In der Hauptstadt Budapest liegt sie bei etwa 90 Prozent, in anderen Großstädten Ungarns bei 75 Prozent. In mittelgroßen Städten erreicht die Anschlussquote 45 bis 50 Prozent, und in Dörfern liegt sie lediglich bei 35 Prozent. Der Anschluss ans Kanalnetz besagt allerdings noch wenig über die anschließende Aufbereitung des Wassers. Nur etwa ein Drittel der Bevölkerung ist bisher auch an Kläranlagen angeschlossen, von denen drei Viertel sowohl mit einer primären als auch sekundären Reinigungsstufe ausgestattet ist. Eine tertiäre Behandlungsstufe, in der Phosphor und Stickstoff entfernt werden, findet man nur in den wenigsten Anlagen. Die Abwässer derjenigen Haushalte, die nicht an ein öffentliches Kanalnetz angeschlossen sind, werden etwa zu einem Drittel dezentral behandelt, überwiegend in Kleinkläranlagen, meistens Mehrkammerabsetzgruben. Etwa 3200 Gemeinden in Ungarn haben überhaupt kein Abwassersystem und keine Kläranlage. Dagegen werden Industrieabwässer zu mehr als 90 Prozent ordnungsgemäß behandelt. Jährlich fallen in Ungarn durch kommunale Abwässer über 100.000 Tonnen Klärschlamm in Trockenmasse an, die zum Großteil auf Deponien verfüllt werden, aber auch in der Landwirtschaft als Dünger zum Einsatz kommen oder kompostiert werden. Feuerwehr In der Feuerwehr in Ungarn waren im Jahr 2019 landesweit 10.913 Berufs- und 19.965 freiwillige Feuerwehrleute organisiert, die in 151 Feuerwachen und Feuerwehrhäusern, in denen 1.040 Löschfahrzeuge und 108 Drehleitern bzw. Teleskopmasten bereitstehen, tätig sind. Der Frauenanteil beträgt zwei Prozent. In den Jugendfeuerwehren sind 2.412 Kinder und Jugendliche organisiert. Die ungarischen Feuerwehren wurden im selben Jahr zu 79.922 Einsätzen alarmiert, dabei waren 20.913 Brände zu löschen. Hierbei wurden 113 Tote von den Feuerwehren bei Bränden geborgen und 758 Verletzte gerettet. Der nationale Feuerwehrverband Magyar Tűzoltó Szövetség repräsentiert die ungarische Feuerwehr im Weltfeuerwehrverband CTIF. Wirtschaft Ungarn erwirtschaftete 2019 ein Bruttoinlandsprodukt (BIP) von 143,8 Mrd. Euro, was rund 14.720 Euro pro Kopf entsprach. Verglichen mit dem BIP der EU ausgedrückt in Kaufkraftstandards erreicht Ungarn einen Index von 73 (EU-27 = 100; 2019). Bei weitem größter Handelspartner ist Deutschland, worauf 2017 26 % der Importe und 28 % der Exporte entfielen. Ein hoher Teil der Ausfuhren wird von Unternehmen in ausländischem Besitz getätigt. Wichtige Industriestandorte sind vor allem der Raum Budapest und die Grenzregion zu Österreich. Die größte ungarische Unternehmung ist der Mineralölkonzern MOL, an zweiter Stelle folgt die Audi Hungaria Motor Kft. Ungarn hat sich zu einem bedeutenden Standort der Automobilindustrie entwickelt. Als ausländische Hersteller haben Mercedes-Benz (in Kecskemét), BMW (in Debrecen), Audi (in Győr), Suzuki (Magyar Suzuki, Esztergom) und Opel (in Szentgotthárd) Werke in Ungarn errichtet. Bedeutende einheimische Fahrzeughersteller waren lange Zeit die Nutzfahrzeug-Marken Ganz, Ikarus und Rába, die vor allem zur Ostblock-Zeit auch im Export erfolgreich waren, heute aber nur noch geringe, vorwiegend nationale Bedeutung haben. Eine wichtige Rolle als Einnahmequelle spielt der Tourismus in Budapest, in der Puszta und am Plattensee (Balaton). Touristisch vermarktet Ungarn verstärkt seine über 350 Thermalquellen. Mit über 15,2 Millionen Touristen stand Ungarn 2016 auf Platz 23 der meistbesuchten Länder der Welt. Die Tourismuseinnahmen beliefen sich im selben Jahr auf 5,6 Mrd. US-Dollar. Wirtschaftsdaten Im Global Competitiveness Index, der die Wettbewerbsfähigkeit eines Landes misst, belegt Ungarn Platz 60 von 137 Ländern (Stand 2017–2018). Im Index für wirtschaftliche Freiheit belegt das Land 2022 Platz 48 von 177 Ländern. Bruttoinlandsprodukt (BIP) (2021): 153,5 Mrd. € Bruttoinlandsprodukt pro Kopf (2021): 15.810 € Wirtschaftswachstum (2021): 7,1 % Monatliches Bruttoeinkommen (2018): 1.054 € Monatliches Nettoeinkommen (2018): 701 € Import (2021): 120,9 Mrd. € Export (2021): 119,9 Mrd. € Inflationsrate (2018): 3,7 % Arbeitslosenquote (September 2022): 3,7 % Beschäftigungsverteilung (2016) Industrie: 30 % Land-/Forstwirtschaft: 5 % Dienstleistungen: 65 % Wirtschaftliche Entwicklung Von 2010 bis 2018 war die Leistungsbilanz positiv, während sie bis 2008 stark negativ war und seit 2019 wieder negativ ist. Die Inflationsrate unterliegt größeren Schwankungen als in der Eurozone. 2012 betrug sie 5,7 %, 2014 und 2015 herrschte geringfügige Deflation, 2021 betrug die Inflationsrate 5,1 %. Nach dem Ende der kommunistischen Herrschaft stieg die Arbeitslosenquote nach der Definition des Ungarischen Statistikamtes bis 1993 auf 12,1 % und fiel bis 2001 auf 5,7 %. 2005 begann ein erneuter deutlicher Anstieg bis auf 11,2 % im Jahr 2010, worauf ab 2014 ein deutliches Absinken bis auf 3,7 % im Jahr 2018 folgte. 2020 betrug sie 4,3 %. Die Arbeitslosigkeit bei der Bevölkerung unter 25 Jahren hatte 2012 einen Höchststand erreicht mit 28,2 %, fiel bis 2018 auf 10,2 % und auf 12,8 % im Jahr 2020. Ungarn hat eine der niedrigsten Arbeitslosenquoten in der EU. Die Beschäftigungsquote der Bevölkerung im Alter von 20 bis 64 Jahren lag im Jahr des EU-Beitritts 2004 bei 62,1 %, 2010 betrug sie 59,9 %. Sie stieg dann deutlich und lag 2020 bei 75 % (zum Vergleich: EU 72,4 %, Deutschland 80 %, Österreich 75,5 %). 2015 arbeiteten 4,9 % aller Arbeitskräfte in der Landwirtschaft, 30,3 % in der Industrie und 64,5 % im Dienstleistungssektor. Die Gesamtzahl der Beschäftigten wird für 2017 auf 4,6 Millionen geschätzt; davon sind 45,8 % Frauen. Steuern Bei der Einkommensteuer gibt es nur einen einzigen Steuersatz (Flat Tax) von 15 Prozent. Der Körperschaftsteuersatz beträgt 9 Prozent, der Regelsatz bei der Umsatzsteuer 27 Prozent. Wirtschaftskennzahlen Die wichtigen Wirtschaftskennzahlen Bruttoinlandsprodukt und Außenhandel entwickelten sich in den letzten Jahren folgendermaßen: Staatshaushalt Die Staatsverschuldung stieg zwischen 2001 und 2011 von 52,3 % auf 80,3 % des Bruttoinlandsproduktes (BIP), danach sank sie bis 2019 auf 65,3 %. 2020 lag die Staatsverschuldung bei 79,3 % und 2021 bei 76,8 % des BIP. Das Defizit der öffentlichen Haushalte erreichte 2006 einen Höhepunkt mit 9,3 % des BIP. In den Jahren 2012 bis 2019 schwankte das Defizit zwischen 1,8 % und 2,8 % des BIP, 2020 und 2021 lag es bei über 7 %. 2021 betrugen die Staatsausgaben 48,4 % des BIP (Deutschland 51,3 %, Österreich 56,0 %, EU-Durchschnitt 51,5 %), darunter entfielen auf: Soziale Sicherung 13,1 % Gesundheit: 5,6 % Bildung: 5,0 % Militär: 1,1 % Von der Weltfinanzkrise 2007–2008 war Ungarn besonders stark betroffen. Wegen des hohen Doppeldefizits (Leistungsbilanz und Staatshaushalt) und der hohen Verschuldung der privaten Haushalte, die zu erheblichen Teilen in Fremdwährungen erfolgte, erlitt der Forint gegen den Euro im Oktober 2008 erhebliche Kursverluste. Die Zentralbank erhöhte daraufhin den Zins um drei Prozentpunkte. Außerdem musste die Europäische Zentralbank Ungarn einen Swap in Höhe von fünf Milliarden Euro zur Verfügung stellen, weil ungarische Banken die Vergabe von Devisenkrediten weitgehend eingestellt hatten. Nachdem auch der Markt für ungarische Staatsanleihen wegbrach, bat Ungarn den Internationalen Währungsfonds um Hilfe. Am 27. Oktober 2008 gab der IWF bekannt, Ungarn mit einem Rettungspaket zu unterstützen, um den sonst unausweichlichen Staatsbankrott Ungarns zu verhindern. Die Europäische Union und die Weltbank beteiligen sich ebenfalls an dem Rettungspaket; insgesamt wurde Ungarn ein Kredit über 20 Milliarden Euro zugesagt. Am 21. November 2011 bat die ungarische Regierung vorbeugend den Internationalen Währungsfonds und die EU erneut um finanzielle Unterstützung. Die Rendite auf ungarische Staatsanleihen war in den Monaten zuvor sukzessive angestiegen, wodurch sich auch die Refinanzierung der Schulden verteuerte. Am 23. Mai 2014 beendete der IWF die 'Article IV consultation'. Ungarn zahlte Kredite des IWF vorzeitig zurück. Tourismus Ungarn wurde 2018 laut Weltorganisation für Tourismus (UNWTO) von 17,2 Millionen Touristen besucht. Im Jahr 2019 sank die Zahl der Touristen um 1,3 % auf 16,9 Millionen. Wichtigstes Reiseziel war mit Abstand die Hauptstadt Budapest. Danach folgten die Kurorte Hévíz, Hajdúszoboszló und Bük sowie die Badeorte Balatonfüred, Siófok und Zalakaros am Balaton. Die Wertschöpfung des Tourismus entsprach 6,8 % des ungarischen Bruttoinlandsprodukts, etwa 428.000 Personen werden im Tourismussektor beschäftigt. Die meisten Touristen reisten 2018 aus Deutschland, dem Vereinigten Königreich, Tschechien und Österreich nach Ungarn ein. Kultur Feiertage Ungarn hat drei Nationalfeiertage (15. März, 20. August und 23. Oktober), Staatsfeiertag ist der 20. August. Die offiziellen Feiertage in Ungarn sind die folgenden Tage (an diesen Tagen sind die Geschäfte geschlossen, während sie sonst meistens auch sonntags geöffnet haben): Feiertage vor und nach der Wende Zur Zeit der Volksrepublik gab es Feiertage, die mit dem kommunistischen Regime zusammenhingen: Der 21. März bezog sich auf die Ausrufung der Ungarischen Räterepublik 1919. Der 4. April wurde als „Tag der Befreiung (vom Faschismus)“ begangen, da an diesem Tag 1944 vorgeblich der letzte deutsche Soldat, durch das Eindringen der Roten Armee, Ungarn verlassen musste. Der 7. November wurde als der „Tag der großen sozialistischen Oktoberrevolution“, gefeiert. Am 15. März war nur in den Schulen frei, und man befürchtete immer wieder Unruhen in den Kreisen der Jugend. An diesem Tag ist es auch heute noch üblich, eine Kokarde in den ungarischen Nationalfarben über dem Herzen zu tragen. Der 20. August wurde in den kommunistischen Jahren als „Tag der Verfassung“ bezeichnet und mit einer großen Militärparade begangen, ferner mussten die neuen Wehrpflichtigen ihren Eid ablegen. An diesem Tag findet heute immer noch eine Parade der Luftwaffe über der Donau in Budapest statt, heute legen aber an diesem Tag nur noch die jungen Offiziere ihren Eid ab, weil die allgemeine Wehrpflicht abgeschafft wurde. Die Feierlichkeiten am 20. August sind nun (wie vor 1948) eher historischer Natur, im Mittelpunkt stehen die Gedenkfeierlichkeiten um den ersten König Ungarns – überall in Ungarn gedenkt man Stephans des Heiligen, zu dessen Ehren Gottesdienste und Prozessionen abgehalten werden. Der Tag endet traditionell mit einem großen Feuerwerk in Budapest, das auch vom Fernsehen live übertragen wird. Der 23. Oktober durfte bis zur Wende nicht gefeiert werden. Am 1. Mai fand ein großer Aufmarsch der Arbeiter statt, der an einer Tribüne vorbeiführte, auf der die wichtigsten kommunistischen Parteifunktionäre standen. Heute finden nur noch Maikundgebungen statt. Einige kirchliche Feiertage (Allerheiligen und Pfingsten) gelten erst seit 1998 wieder als offizielle Feiertage. Andere Feste und Feiertage In Ungarn feiert man den Muttertag (Anyák napja) nicht wie in vielen anderen Ländern am zweiten, sondern bereits am ersten Sonntag im Mai. Am ersten Sonntag im Juni ist Pädagogentag, in der darauf folgenden Woche wird den Lehrern gratuliert. Namenstage werden in Ungarn sowohl in der Familie als auch im Kreis der Freunde und Kollegen groß gefeiert, sie haben oft einen größeren Stellenwert als die Geburtstage. Inzwischen haben auch Feste aus den angelsächsischen Ländern (Halloween, Valentinstag) in Ungarn Einzug gehalten. Die meisten Bräuche an den kirchlichen Feiertagen sind denen in anderen mitteleuropäischen Ländern ähnlich. Eine wichtige Tradition ist es, dass Männer am Ostermontag die Frauen mit Parfüm begießen (locsolkodás), was auf einen alten Brauch zurückzuführen ist. Früher war es vor allem auf dem Lande üblich, junge Frauen mit einem Eimer kaltem Wasser zu übergießen, damit sie nicht „verwelken“. Dieses Motiv ist in den meisten kleinen Osterreimen (locsoló vers) zu finden, die aus diesem Anlass gerne aufgesagt werden: Zöld erdőben jártam, kék ibolyát láttam, el akart hervadni, szabad-e locsolni? („Ich ging im grünen Wald und fand ein blaues Veilchen, es wollte verwelken, darf ich es begießen?“ eine andere Übersetzung: „Im grünen Wald war ich/Blaue Blumen sah ich/Sie wollten verwelken/Darf ich Dich begießen?“). Die Frauen müssen den Männern für das Begießen ein rotes Ei oder ein kleines Geschenk (Schokolade) geben. Heutzutage gibt man Kindern Kleingeld, Männern einen Schnaps dafür. Küche Die ungarischen Speisen gelten im Vergleich zu anderen europäischen Speisen als relativ „schwere Kost“. Ein beliebtes Gericht der Ungarn (häufig als Nationalgericht tituliert) ist pörkölt (nicht zu verwechseln mit dem gulyás). Pörkölt wird nicht nur im deutschsprachigen Raum fälschlicherweise auch als Gulasch bezeichnet. In Ungarn gibt es dieses sowohl als disznó-pörkölt (mit Schweinefleisch) als auch als marhapörkölt (mit Rindfleisch). Pörkölni bezeichnet das Verfahren der Fleischzubereitung (Schmoren in Zwiebeln, Paprika und Fett). Die Beilagen zu diesem Gericht sind variabel und von Region zu Region verschieden. Das in Ungarn gekochte gulyás ist im Gegensatz zum pörkölt eine Suppe. Die deutsche Bezeichnung „Gulaschsuppe“ ist also korrekt (ungarisch gulyásleves). Traditionell wird die Suppe im Kessel (bogrács) zubereitet. Das Kochen in diesem Gerät geht auf die Nomadenzeit zurück und ist verwandt mit der chinesischen Version des Kessels: dem Wok. Das Fleisch wird zunächst wie pörkölt geschmort, jedoch nach ausreichender Garzeit mit Wasser aufgegossen. Außerdem gibt man Kartoffelstücke und Kümmel dazu (nicht so beim pörkölt). Für dieses Gericht wird traditionell nur Rindfleisch verwendet. Dass dies so ist, ergibt sich aus dem Wort gulyás. Das Wort gulya bedeutet „Rinderherde“, der gulyás ist der Rinderhirte (sozusagen der ungarische Cowboy). Weltberühmt ist neben dem Paprika, der auch gemahlen als Gewürz besonders in der ungarischen und mittlerweile auch in ausländischen Küchen verwendet wird, der Tokajer (ung. tokaji), ein Wein aus dem Tokajer Weingebiet (ung. tokaji borvidék). Für diesen Wein werden nur spätreifende Rebsorten verwendet, so dass die Weintrauben nicht nur von den trockenen, heißen Sommern, sondern auch von den langen, warmen und nebelreichen Herbsten profitieren. Architektur Einige der wichtigsten erhaltenen Bauten Ungarns sind im spätromanischen Stil erbaut. Sie sind stark von westeuropäischen Einflüssen (Rheinland/Köln) geprägt, etwa die Kirchen in Zsámbék und Ják (St. Georg) aus dem 13. Jahrhundert. In der Gotik sind besonders zwei- und dreischiffige Hallenkirchen aus dem 15. Jahrhundert charakteristisch. Unter König Sigismund (ung. Zsigmond) entstand in Buda ein Fürstensitz, den König Matthias Corvinus in florentinischem Stil ausbauen ließ. Eines der bedeutendsten Werke dieser Epoche ist das Schloss des Fürsten Esterházy in Fertőd, dessen Vorbild Schloss Versailles war. Mihály Pollack, einer der Hauptbaumeister des Klassizismus in Ungarn, stammte aus Wien. Miklós Ybl, der vornehmlich im Renaissancestil baute, ließ diese Epoche in Ungarn noch einmal aufleben (etwa beim Opernhaus in Budapest). Imre Steindl errichtete 1885–1902 das Parlamentsgebäude in Budapest im neugotischen Stil, wodurch dieser in Ungarn wieder kurzzeitig in Mode kam. Um die Jahrhundertwende wurden vor allem in der Hauptstadt viele Bauten im Jugendstil errichtet, zum Beispiel das Blindeninstitut. In Kecskemét ist ein schönes Beispiel für den Jugendstil der Cifra Palota, 1902 nach den Plänen von Géza Márkus mit Fassadenschmuck aus Zsolnay-Keramik gebaut. Für den Baustil der Wohnhäuser in Budapest um die Jahrhundertwende sind Häuser mit Innenhof und offenen Gängen (gang) typisch; die Wohnungen in bürgerlichen Häusern ähneln sehr den heutigen „Altbauwohnungen“ in Wien. Sie sind vorwiegend in den linksufrigen Pester Bezirken am „Großen Ring“ (nagykörút) zu finden. In den Jahren der kommunistischen Herrschaft wurden diese Häuser (besonders im 7. und im 8. Bezirk) sehr vernachlässigt und viele befinden sich bis heute in heruntergekommenem Zustand (die meisten Substandardwohnungen befinden sich in diesen Bezirken). In den 1930er Jahren erbaute man mehrere Mustersiedlungen im Bauhausstil, vor allem auf dem Svábhegy (Schwabenberg) (im 12. Bezirk) zu finden. Die kurz vor der Jahrhundertwende und vor der Wiener Stadtbahn errichtete erste U-Bahn-Linie Österreich-Ungarns führt vom Vörösmarty tér zur Mexikói út. Im Stadtwäldchen befinden sich das Széchenyi-Heilbad und der Zoo. Nach dem Zweiten Weltkrieg bauten ungarische Architekten vorwiegend im Stil der Moderne. Der sozialistische Realismus kam nur während der stalinistischen Rákosi-Diktatur kurzzeitig zur Anwendung. Vor allem in den Außenbezirken der stark wachsenden Hauptstadt Budapest, aber auch in allen anderen Regionen, entstanden zur Minderung des Wohnungsproblems in der sozialistischen Zeit zahlreiche Plattenbauten (ungarisch panelház). Zu den größten Einzelbauten zählten das Faluház in Budapest und das 2016 abgerissene Magasház in Pécs. Daneben kamen auch Ziegel- und Betonbautechniken zum Einsatz. In den 1970er und 1980er Jahren stand nur die ungarische organische Architektur, zu deren Vertreter Imre Makovecz und György Csete zählten, der Architektur der Moderne entgegen. Der Einfluss internationaler Strömungen nahm in den 1980er Jahren immer weiter zu, da es nun erlaubt war, private Architekturbüros zu eröffnen und sich das Land wirtschaftlich zunehmend öffnete. Der neueste Trend ist die Errichtung von „Wohnparks“, Wohnanlagen mit guter Infrastruktur, deren Stil dem in den westeuropäischen Ländern ähnlich ist. Ein interessantes Bauprojekt war der Bau des neuen Nationaltheaters in Budapest nach den Plänen von Mária Siklós, das 2002 fertiggestellt wurde. Die traditionelle Architektur auf dem Lande ist heute noch in einigen Ortschaften authentisch erlebbar, wie in Hollókő, das als Museumsdorf Teil des Welterbes der UNESCO ist. Die strohgedeckten Häuser in Tihany am Balaton sind ebenfalls denkmalgeschützt – im Ortskern dürfen Häuser nur in alter Bauweise errichtet werden. Die Vielfalt der ungarischen dörflichen Baukultur kann man im Freilichtmuseum in Szentendre bewundern – hier wurden abgetragene Originalhäuser aus allen Gebieten Ungarns wieder aufgebaut und der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Malerei Der bekannteste ungarische Maler des 15. Jahrhunderts war Michele Ongaro (auch Pannonio). Er arbeitete am Hof von Ferrara in Italien. Die ungarischen Maler des 17. und 18. Jahrhunderts arbeiteten ebenfalls hauptsächlich im Ausland. Im 19. Jahrhundert kam die nationale Historienmalerei auf (mit bekannten Malern wie Gyula Benczúr, Bertalan Székely, Mór Than). Miklós Barabás, einem Porträtisten, gelang es als erstem ungarischem Maler, im eigenen Land Anerkennung zu finden. Die Bilder von Mihály Zichy und von Géza Mészöly sind vor allem von der Romantik geprägt. Mihály Munkácsy verband in verschiedensten Kompositionen aus dem bäuerlichen Volksleben die den Impressionismus vorbereitende Freilichtmalerei mit realistischen Elementen. Ähnlich gestaltet sind auch die Werke von Pál Szinyei Merse. Um die Jahrhundertwende erlangten die Künstlerkolonie Nagybánya, die von Károly Ferenczy geführt wurde, sowie einige andere Gruppen Bedeutung, hauptsächlich als Künstler einer realistisch gefärbten oder romantisierenden „Naturmalerei“. Die sozialistisch-realistischen Genre- und Historienmalerei war in den 1950er und 1960er Jahren besonders beliebt. Danach kamen unterschiedliche internationale Strömungen ins Spiel, hauptsächlich aber die Medienkunst und die abstrakte und realistische Malerei (beispielsweise Imre Bak oder Dóra Maurer). Mit Victor Vasarely, Zsigmond Kemény und László Moholy-Nagy stammen einige der führenden, im Ausland arbeitenden Künstler des 20. Jahrhunderts aus Ungarn. Heutzutage bekannte Maler aus Ungarn sind István Szőnyi, Jenő Barcsay, László Lakner und Aurél Bernáth. Literatur Aus der Zeit, in der die Magyaren noch nicht christianisiert waren (bis ca. 950–1000), sind lediglich einige Inschriften in ungarischen Runen erhalten. Seit der Christianisierung durch Stephan I. (Szent István) wurde nur das lateinische Alphabet verwendet. Die Literatursprache war ebenfalls das Lateinische. Der älteste vollständig erhaltene sakrale Text in ungarischer Sprache ist die „Grabrede“ (Halotti beszéd) und ein angefügtes Gebet, das um 1200 entstand. Im 13. und 14. Jahrhundert dominierte die lateinische Geschichtsschreibung. Hier sind vor allem die Gesta Hungarorum aus dem 13. Jahrhundert zu nennen. Der Autor nannte sich „Anonymus“. Wer er wirklich war, ist bis heute umstritten. Nach der Blüte der Geschichtsschreibung gelangte die christliche Hymnendichtung in den Vordergrund. Das erste vollständig erhaltene Gedicht in ungarischer Sprache ist die „Altungarische Marienklage“ (Ómagyar Máriasiralom), sie wurde erst 1922 entdeckt. Mit dem Renaissancekönig Matthias Corvinus (1458–1490) setzte in Ungarn ein kultureller Aufschwung ein, und für die Bibliotheca Corviniana entstanden zahlreiche Prachtcodices mit ungarischen Passagen. Bedeutende lateinisch schreibende Ungarn waren Janus Pannonius (1434–1472) und Bálint Balassi (1554–1594). Der wichtigste Vertreter der Gegenreformation war Péter Pázmány (1570–1637), er hatte Vorbildwirkung für die ungarische Prosa. Sein Hauptwerk, der „Führer zur göttlichen Wahrheit“ (1613), war ein wichtiger Schritt bei der Entwicklung einer ungarischen Philosophiesprache. Erst in dieser Zeit setzte sich das Ungarische als Schriftsprache endgültig durch. Miklós Zrínyi (1620–1664) schrieb das Nationalepos „Die Belagerung von Sziget“ (Szigeti veszedelem, 1645/1646), das 1821 auf Deutsch erschien und das erste Epos überhaupt in ungarischer Sprache war. Neben Sándor Baróczi (1735–1809) und Ábrahám Barcsay (1742–1806) war es vor allem György Bessenyei (etwa 1747–1811), der im Zeitalter von Aufklärung und Romantik Anschluss an die allgemeine europäische Entwicklung fand. Während sich die Stadt Pest als literarisches Zentrum Ungarns etablierte, blieb der Wiener Hof nicht untätig und knüpfte ein dichtes Netzwerk von Zensoren. Große Bedeutung gewann Mihály Csokonai Vitéz (1773–1805), der neue lyrische Gattungen in die ungarische Literatur einführte. So verfasste er das erste jambische Gedicht und – mit dem Versepos „Dorothea“ (Dorottya, 1795), das den Lebenswandel des Adels karikierte – das erste komische Epos Ungarns. Die Zeit zwischen 1823 und 1848 war eine Glanzzeit der ungarischen Literatur. Mit Mihály Vörösmarty (1800–1855), János Arany (1817–1882) und Sándor Petőfi (1823–1849) gab es eine Reihe bedeutender Dichter. Das Gedicht Szózat (1838) von Mihály Vörösmarty, das während der Märzrevolution 1848 als ungarische Nationalhymne diente, war eines der bedeutendsten Werke dieser Zeit. Mór Jókai (1825–1904) war ebenfalls ein Vertreter der Romantik. Ferenc Kölcsey schrieb 1823 die Nationalhymne Himnusz. Endre Adys (1877–1919) wichtiges Werk sind die „Neuen Gedichte“ aus dem Jahr 1906. Er war die überragende Gestalt am Beginn des 20. Jahrhunderts in der ungarischen Literatur. Gyula Krúdy (1878–1933) war ein stilbildender Prosaist der ungarischen Moderne, dessen umfangreiches literarisches Werk etwa 100 Bände Romane und Erzählungen umfasst. Géza Csáth zählt zu den bedeutenden Vertretern der modernen Literatur in Ungarn im 20. Jahrhundert. In seinen Novellen, Erzählungen und Tagebüchern brach er mit den Tabus seiner Zeit und thematisierte psychologische Abgründe. Sein Werk hat zahlreiche ungarische Schriftsteller beeinflusst. Mihály Babits (1883–1941) übersetzte Dantes Göttliche Komödie und schrieb Romane, Lyrik und Essays. Dezső Kosztolányi (1885–1936) übersetzte zeitgenössische Werke der Weltliteratur in „Moderne Dichter“ (1913). Ferenc Molnár (1878–1952) ist der bedeutendste ungarische Dramatiker, am bekanntesten ist sein Theaterstück Liliom (1909). 1937 musste er ins Exil in die USA. Sándor Márai (1900–1989) war nach dem Zweiten Weltkrieg gezwungen im Exil zu leben. Nach der kommunistischen Machtergreifung verstummten zahlreiche ungarische Schriftsteller, oder sie emigrierten. Dem Dogma des sozialistischen Realismus beugten sich aber nicht alle Schriftsteller. Mit dem Kommunismus setzten sich in ihren Werken Péter Nádas, Tibor Déry und Magda Szabó kritisch auseinander. Imre Kertész (* 1929) verarbeitete seine Erfahrungen als Überlebender des Holocaust im KZ Auschwitz-Birkenau und in Buchenwald in seinem Roman eines Schicksallosen (Sorstalanság, 1975), für den er 2002 mit dem Nobelpreis für Literatur geehrt wurde. Weitere zeitgenössische Autoren sind Ferenc Juhász und György Konrád und Lyriker wie László Nagy, Sándor Weöres und János Pilinszky. István Eörsi und László Krasznahorkai setzten sich nach dem Ende des kommunistischen Regimes in Ungarn mit der Machtausübung in totalitären Systemen auseinander. Der rechtsextreme Politiker István Csurka war ein geachteter Schriftsteller. Besonders bekannt wurde der nach dem Krieg geborene Autor Péter Esterházy (1950–2016) mit seiner „Harmonia Caelestis“ und der „Verbesserten Ausgabe“ derselben. Musik Aus Ungarn stammen wesentliche Beiträge zur europäischen Musikgeschichte. Zu erinnern ist an Komponisten wie Franz Liszt, Imre Kálmán, Franz Lehár, Leó Weiner, Ernst von Dohnányi, Béla Bartók, Zoltán Kodály und György Ligeti. Als bedeutende Dirigenten sind Antal Doráti, Ferenc Fricsay, Georg Solti und György Széll zu nennen, als bekannte Pianisten Géza Anda, György Cziffra, Andor Foldes, Zoltán Kocsis, und András Schiff und schließlich, als bedeutende Gesangssolisten, die Sopranistin Sylvia Geszty und der Tenor Sándor Kónya. In der Popmusik sind bekannte Namen Katalin Karády, Omega, Piramis, Kati Kovács, Locomotiv GT, Sarolta Zalatnay, Illés, Ákos Kovács und Magdolna Rúzsa. Moderne Volksmusik hat auch einige berühmte Interpreten wie: Márta Sebestyén, Muzsikás und Bea Palya. Europaweit bekannte Musikfestivals sind Sziget und Balaton Sound. Film Die ungarische Filmgeschichte begann Anfang des 20. Jahrhunderts, als etwa Michael Curtiz und Alexander Korda ihre ersten Filme inszenierten. In den turbulenten Jahren nach dem Ersten Weltkrieg, mit der Errichtung der kurzlebigen Diktatur von Béla Kun und auch nach der Abschaffung der Räterepublik im August 1919, flüchteten viele Ungarn ins Ausland – meist ins nahe Österreich. Auch zahlreiche Filmschaffende belebten in den 1920er-Jahren den österreichischen Film: neben den bereits erwähnten Michael Curtiz und Alexander Korda, die es später in Hollywood und Großbritannien zu Berühmtheit brachten, auch Schauspielstars wie Lucy Doraine, María Corda, Oskar Beregi, Vilma Bánky, Marika Rökk, Marta Eggerth oder auch der Filmtheoretiker Béla Balázs. Ebenfalls ungarischer Abstammung war der amerikanische Weltstar Tony Curtis. Medien Presse In Ungarn erscheinen 40 Tageszeitungen mit einer Gesamtauflage von 1,6 Millionen, was einer Käuferschaft von 194 Zeitungsexemplaren pro 1000 Einwohnern entspricht. Die bekanntesten Tageszeitungen waren bzw. sind: Népszabadság (sozialdemokratisch, ehemals Presseorgan der Staatspartei, ca. 100.000 Exemplare, im Oktober 2016 eingestellt) Magyar Nemzet (rechtskonservativ, ca. 50.000 Exemplare, im April 2018 eingestellt) Magyar Hírlap (früher liberal, heute konservativ, ca. 25.000 Exemplare) Népszava (traditionell sozialdemokratisch, ca. 20.000 Exemplare) Zu den bekanntesten Wochenzeitungen zählen das liberale Literatur- und Politikblatt Élet és Irodalom, die Wirtschaftszeitschrift Heti Világgazdaság (HVG), die bürgerlich-konservativen politischen Zeitschriften Heti Válasz und Demokrata, die liberalen politischen Zeitschriften 168 óra und Beszélő, die Frauenillustrierte Nők Lapja, das Rätselblatt Füles, die Zeitung Reformátusok Lapja der Reformierten Kirche, und die katholische Zeitschrift Új Ember. Das Boulevardblatt Blikk erfreut sich großer Popularität. Die satirische Zeitschrift Ludas Matyi wurde vor einigen Jahren eingestellt. Die Obdachlosenzeitung von Budapest heißt Fedél nélkül. Rundfunk und Telekommunikation Bis 2003 existierten in Ungarn Rundfunk- und Fernsehgebühren. Die Duna Médiaszolgáltató Zártkörűen Működő Nonprofit Részvénytársaság, kurz: Duna Média (etwa Donau Media Service Gesellschaft) ist seit 2015 die zentrale öffentlich-rechtliche Rundfunkgesellschaft Ungarns. Sie ist der einzige öffentliche Rundfunk Dienstleister des Landes und entstand durch die Fusion der Duna Televízió (Regionales Fernsehen), Magyar Radio (Nationales Radio) und Magyar Televízió (Nationales Fernsehen). Produziert werden 2 Hauptfernsehprogramme (M1, M2) und etliche Sparten- und Regionalprogramme. Sämtliche Kanäle von MTV und Duna Televízió AG werden auch noch analog terrestrisch verbreitet. Daneben existieren private Fernsehsender, die unter der Regierung Orbán mehrheitlich im Besitz von ungarischen Medienunternehmen sind. Dazu zählen Programme Magyar ATV, TV2, RTL Klub, Viasat 3, Hálózat Televízió und Spartenkanäle wie Minimax, Animax (Kinderkanäle), Hír TV (Nachrichtenkanal), TV Paprika (Gastronomie), Viasat History (Geschichtliche Dokumentationen), Spektrum Televízió (Technische Dokumentationen) und Ableger internationaler Fernsehkanäle (Viva, Music Television Hungary, National Geographic Channel, Nickelodeon, Eurosport, History Channel, Discovery Channel und viele andere). Duna TV, Duna II Autonómia, m2, TV Paprika und Budapest TV strahlen ihre Programme auch über Satellitenkanäle aus. Ein Ableger des Bezahlfernsehprogramms HBO ist HBO Hungary. Viele Privat- und Regionalsender und Sender, die speziellen Zielgruppen oder Themen gewidmet sind, senden in Ungarn. Die größte Telekommunikationsgesellschaft ist die Magyar Telekom. Sie war außerdem als T-Mobile in Ungarn aktiv. Weitere Telekommunikationsanbieter sind Vodafone Magyarország und Pannon GSM. Medienfreiheit Am 21. Dezember 2010 verabschiedete das ungarische Parlament ein neues Mediengesetz, das am 1. Januar 2011 rechtsgültig in Kraft trat. Zudem wurde eine neue Medienbehörde geschaffen, die „Staatliche Behörde für Medien und Nachrichtenübermittlung“, Nemzeti Média- és Hírközlési Hatóság (kurz: NMHH). Sowohl das Gesetz als auch die Medienbehörde wurden auf nationaler und internationaler Ebene von zahlreichen Experten, Wissenschaftlern, Journalisten und Politikern kontrovers diskutiert. In der Rangliste der Pressefreiheit 2020 von Reporter ohne Grenzen rangiert Ungarn auf Platz 89 von 180 Ländern. Ein neues NMHH-Gesetz verfügt, dass über bestimmte Themen nur noch nach Absprache mit der Regierung berichtet werden darf. Sport Fußball Fußball ist in Ungarn die populärste Sportart. Zwischen den 1930er und den 1960er Jahren zählte die ungarische Fußballnationalmannschaft zur Weltspitze. Insgesamt nahm Ungarn neunmal an Fußball-Weltmeisterschaften teil, bei Olympischen Spielen gewann Ungarn dreimal (1952, 1964, und 1968) die Goldmedaille. Bei der WM 1938 und der WM 1954 stand das Team (damals auch Aranycsapat, „Goldene Mannschaft“, genannt) im Finale und wurde Vize-Weltmeister. Das Finale der WM 1954 wird seither als Nationaltragödie behandelt, in dem das hoch favorisierte Ungarn gegen Deutschland 2:3 verlor. 1953 hatte Ungarn als erste Mannschaft überhaupt in England gewonnen, und das mit 6:3. Dieser Sieg galt als Symbol, dem darüber hinaus eine politische Deutung zugeschrieben wurde: Ungarn hatte eine „imperialistische“ Großmacht besiegt. Eine Symbolfigur dieser Mannschaft war Ferenc Puskás (Puskás Öcsi). Seit 1986 hat Ungarn allerdings nicht mehr an einer WM-Endrunde teilgenommen und in den letzten Jahren war die Nationalelf nicht mehr sehr erfolgreich. Erfolgreichster Verein ist Ferencváros Budapest, kurz Fradi, der neben 28 Meistertiteln auch als bis heute einziger ungarischer Verein einen internationalen Titel erringen konnte (1965 Gewinn des Messepokals (Vorläufer des UEFA-Pokals) durch ein 1:0 gegen Juventus Turin). Die finanziellen Schwierigkeiten des Vereins führten 2006 allerdings dazu, dass er in die zweite Liga absteigen musste. Die höchste Spielklasse im ungarischen Fußball ist die Nemzeti Bajnokság I., die aufgrund von Sponsorenvereinbarungen wechselnde kommerzielle Namensgeber aufweist. Wasserball Als Nationalsport gilt in Ungarn auch Wasserball. Mit neun olympischen Goldmedaillen gilt das Land als das erfolgreichste in dieser Disziplin. Einer der Gründe für die Beliebtheit von Wasserball sind die zahlreichen Thermalquellen des Landes aus denen sich später eine Wassersportkultur entwickelte. Nach dem ersten offiziellen Spiel am 30. Juli 1899 in Siófok am Balaton wurde Ungarn im Laufe der Jahre zu einer dominierenden Kraft im Wasserball. Für insgesamt 110 Spiele war die Wasserball-Nationalmannschaft in den Jahren 1928 bis 1932 unbesiegt und gewann 1932 bei den Olympischen Spielen in Los Angeles die erste Goldmedaille. In der kommunistischen Volksrepublik wurde der Wasserball staatlich gefördert. Ungarn gelang es bis 1980 bei jeden Olympischen Spielen Medaillen zu gewinnen, darunter auch 1956 Gold in Melbourne als Ungarn in der Finalrunde während des antisowjetischen Volksaufstands im sogenannten Blutspiel von Melbourne gegen die Sowjetunion gewann. Mit den Goldmedaillen in den Jahren 2000, 2004 und 2008 gelang Ungarn als zweite Mannschaft überhaupt das Triple. Bekannte spieler waren Dezső Gyarmati, György Kárpáti und Tibor Benedek. Olympische Spiele und Special Olympics Bei den Olympischen Sommerspielen sind die ungarischen Sportler häufig erfolgreich, und Ungarn belegt nach Medaillen pro Einwohner in der Weltrangliste den dritten Platz. Der erste Sportler, der für Ungarn olympische Medaillen gewonnen hat, war der Schwimmer Alfréd Hajós, nach dem das Sportschwimmbad auf der Margareteninsel benannt ist. Besonders erfolgreich sind die Schwimmer (Krisztina Egerszegi, Tamás Darnyi, László Cseh, Ágnes Kovács, Katinka Hosszú), die Wasserballmannschaft, die Handballmannschaft der Frauen, die Fechter und die Fünfkämpfer. Ein legendärer Boxer war László Papp. Nach dem Turner Zoltán Magyar wurde eine Figur auf dem Pferd benannt: magyar vándor. Special Olympics Ungarn wurde 1989 gegründet und nahm mehrmals an Special Olympics Weltspielen teil. Der Verband hat seine Teilnahme an den Special Olympics World Summer Games 2023 in Berlin angekündigt. Die Delegation wird vor den Spielen im Rahmen des Host Town Programs von Weiden und dem Landkreis Neustadt an der Waldnaab betreut. Weitere Auch der Handball spielt in Ungarn eine wichtige Rolle. So sind bei den Männern die Vereine KC Veszprém und SC Szeged sowie bei den Frauen die Vereine Győri ETO KC und FTC Budapest regelmäßig in der EHF Champions League vertreten. Bekannte Spieler sind László Nagy, Nándor Fazekas, Tamás Mocsai und Ferenc Ilyés sowie Anita Görbicz und Katalin Pálinger. Als Trainer sind Lajos Mocsai und Ildikó Barna zu nennen. Ungarn hat eine ganze Reihe herausragender Schachspieler hervorgebracht, darunter Rudolf Charousek, Géza Maróczy, László Szabó, Lajos Portisch und András Adorján. In jüngerer Zeit gehören Péter Lékó, Zoltán Almási und Judit Polgár zu den weltweit besten Schachspielern. Bei offiziellen Schacholympiaden hat Ungarn dreimal Gold gewonnen. Seit 1986 werden auf dem Hungaroring Formel-1-Rennen zum Großen Preis von Ungarn ausgetragen. Eine zweite international bekannte Rennstrecke ist der Pannonia-Ring, auf dem vor allem Motorradrennen stattfinden. An der Formel 1 nahm in der Saison 2004/05 auch der Ungar Zsolt Baumgartner teil. Im Speedway sind die Rennbahnen in Miskolc, Debrecen und Szeged international bekannt. Bekannt ist auch der ungarische Tischtennissport. Victor Barna konnte von den 1920er- bis zum Ende der 1930er-Jahre insgesamt 21 Weltmeistertitel gewinnen (fünf im TT-Einzel, sieben im TT-Doppel und neun WM-Titel mit der Mannschaft), was bis heute Weltrekord ist. Die ungarische Eishockey-Nationalmannschaft qualifizierte sich für die Top-Division der Eishockey-Weltmeisterschaften 2009 und 2016. Die wichtigsten Teams der obersten Liga sind der Rekordmeister Ferencváros TC, Alba Volán Székesfehérvár, Dunaújvárosi Acélbikák (Dunaújváros), Győri ETO HC, DVTK Jegesmedvék und Újpest Budapest. Siehe auch Finno-ugrische Völker Königreich Ungarn Österreich-Ungarn Literatur Thomas Bauer: Wo die Puszta den Himmel berührt. Auf Umwegen durch Ungarn. F. A. Herbig Verlag, München, 2007, ISBN 978-3-7766-2512-7. Matthias Eickhoff: Ungarn. DuMont Reise-Taschenbuch, Ostfildern 2005, ISBN 3-7701-3149-5. Holger Fischer: Eine kleine Geschichte Ungarns, edition suhrkamp, Frankfurt a. M. 1999, ISBN 978-3-51812114-6. Janos Hauszmann: Ungarn. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Pustet, Regensburg 2004, ISBN 3-7917-1908-4. Janos Hauszmann: Kleine Geschichte Budapests, Pustet, Regensburg 2012, ISBN 978-3-79172454-6. Paul Lendvai: Die Ungarn. Eine tausendjährige Geschichte. ecoWing, 2. Aufl., 2022, ISBN 978-371100266-2. Werner J. Patzelt: Ungarn verstehen: Geschichte – Staat – Politik, Langen-Müller, 2023, ISBN 978-3784436784. Andreas Schmidt-Schweizer: Politische Geschichte Ungarns von 1985 bis 2002. Von der liberalisierten Einparteienherrschaft zur Demokratie in der Konsolidierungsphase. München 2007, ISBN 978-3-486-57886-7. Reinhold Vetter: Ungarn. Ein Länderporträt, Links-Verlag, Berlin 2012, ISBN 978-3-83890278-4. Speziell Deutsche und Ungarn – eine besondere Beziehung. Zukunftschance oder Auslaufmodell? Dokumentation des Potsdamer Forums vom 13. Mai 2004 in der Vertretung des Freistaats Thüringen beim Bund, Berlin. Deutsches Kulturforum östliches Europa e. V., Potsdam 2005, ISBN 3-936168-22-9. László Beke: Abstrakt – Konkret – Konstruktiv. 6 Positionen aus Ungarn. Ausstellungskatalog. Deutsches Kulturforum östliches Europa e. V., Potsdam 2006, ISBN 3-936168-40-7. Weblinks Offizielle Website der ungarischen Regierung (ungarisch, englisch) Tourismusportal der ungarischen Regierung (deutsch) Ungarisches Statistikamt (ungarisch, englisch) Länderinformationen des deutschen Auswärtigen Amtes zu Ungarn Einzelnachweise Staat in Europa Mitgliedstaat der Europäischen Union Mitglied des Europarats Binnenstaat Mitgliedstaat der Vereinten Nationen Mitgliedstaat der NATO Mitgliedstaat der OECD Verwaltungseinheit als Namensgeber für einen Asteroiden
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https://de.wikipedia.org/wiki/Byte
Byte
Das Byte ([]; wohl gebildet zu „Bit“) ist eine Maßeinheit der Digitaltechnik und der Informatik, das meist für eine Folge aus 8 Bit steht. Historisch gesehen war ein Byte die Anzahl der Bits zur Kodierung eines einzelnen Schriftzeichens im jeweiligen Computersystem und daher das kleinste adressierbare Element in vielen Rechnerarchitekturen. Um ausdrücklich auf eine Anzahl von 8 Bit hinzuweisen, wird auch die Bezeichnung Oktett (in Frankreich octet) verwendet – die früher dafür ebenfalls gängige Bezeichnung Oktade ist hingegen nicht mehr geläufig. Abgrenzung Was genau ein Byte bezeichnet, wird je nach Anwendungsgebiet etwas unterschiedlich definiert. Der Begriff kann stehen für: eine Maßeinheit für eine Datenmenge von 8 Bit mit dem Einheitenzeichen „B“, wobei es nicht auf die Ordnung der einzelnen Bits ankommt.Das Einheitszeichen sollte nicht mit dem zur Einheit Bel gehörenden Einheitszeichen „B“ verwechselt werden. eine geordnete Zusammenstellung (n-Tupel) von 8 Bit, deren formale ISO-konforme Bezeichnung Oktett ist (1 Byte = 8 Bit). Ein Oktett wird manchmal in zwei Hälften (Nibbles) zu je 4 Bit zerlegt, wobei jedes Nibble durch eine hexadezimale Ziffer darstellbar ist. Ein Oktett kann also durch zwei Hexadezimalziffern dargestellt werden. die kleinste, meist per Adressbus adressierbare, Datenmenge eines bestimmten technischen Systems. Die Anzahl an Bits pro Zeichen ist dabei fast immer eine natürliche Zahl. Beispiele: bei Telex: 1 Zeichen = 5 Bit bei Rechnern der Familien PDP: 1 Zeichen = log2(50) Bit = zirka 5,644 Bit (Radix-50-Code). Ergibt gegenüber 6 Bit eine Ersparnis von wenigen Bits pro Zeichenkette, die beispielsweise für Steuerungszwecke genutzt werden können. Allerdings gehen die Byte-Grenzen mitten durch die Bits, was die Analyse von Inhalten erschweren kann. bei IBM 1401: 1 Zeichen = 6 Bit bei ASCII: 1 Zeichen = 7 Bit bei IBM-PC: 1 Zeichen = 8 Bit = 1 Oktett bei Nixdorf 820: 1 Zeichen = 12 Bit bei Rechnersystemen der Typen UNIVAC 1100/2200 und OS2200 Series: 1 Zeichen = 9 Bit (ASCII-Code) beziehungsweise 6 Bit (FIELDATA-Code) bei Rechnern der Familie PDP-10: 1 Zeichen = 1…36 Bit, Bytelänge frei wählbar einen Datentyp in Programmiersprachen. Die Anzahl an Bits pro Byte kann je nach Programmiersprache und Plattform variieren (meistens 8 Bit). ISO-C99 definiert 1 Byte als eine zusammenhängende Folge von mindestens 8 Bit. Bei den meisten heutigen Rechnern fallen diese Definitionen (kleinste adressierbare Einheit, Datentyp in Programmiersprachen, C-Datentyp) zu einer einzigen zusammen und sind dann von identischer Größe. Der Begriff „Byte“ wird aufgrund der großen Verbreitung von Systemen, die auf acht Bit (beziehungsweise Zweierpotenzvielfache davon) basieren, für die Bezeichnung einer 8 Bit breiten Größe verwendet, die in formaler Sprache (entsprechend ISO-Normen) aber korrekt Oktett (aus ) heißt. Als Maßeinheit bei Größenangaben wird in der deutschen Sprache der Begriff „Byte“ (im Sinne von 8 bit) verwendet. Bei der Übertragung kann ein Byte parallel (alle Bits gleichzeitig) oder seriell (alle Bits nacheinander) übertragen werden. Zur Sicherung der Richtigkeit werden oft Prüfbits angefügt. Bei der Übertragung größerer Mengen sind weitere Kommunikationsprotokolle möglich. So werden bei 32-Bit-Rechnern oft 32 Bits (vier Byte) gemeinsam in einem Schritt übertragen, auch wenn nur ein 8-Bit-Tupel übertragen werden muss. Das ermöglicht eine Vereinfachung der zur Berechnung erforderlichen Algorithmen und einen kleineren Befehlssatz des Computers. Wie bei anderen Maßeinheiten gibt es neben dem ausgeschriebenen Namen der Maßeinheiten jeweils auch ein Einheitenkürzel. Bei Bit und Byte sind dies: Der ausgeschriebene Name unterliegt grundsätzlich der normalen Deklination. Aufgrund der großen Ähnlichkeit der Kürzel mit den ausgeschriebenen Einheitennamen sowie entsprechender Pluralformen in der englischen Sprache werden jedoch gelegentlich auch die Einheitenkürzel „bit“ und „byte“ mit Plural-s versehen. Geschichte des Begriffs Das Bit ist ein Kofferwort aus den englischen Wörtern und , heißt also „zweiwertige Ziffer“ – Null oder Eins. Dessen Bestandteile lassen sich auf die lateinischen Wörter digitus (Finger), den bzw. die man seit der Antike zum Zählen verwendet (vgl. Plautus: ), und lateinisch (genauer neulateinisch) binarius (zweifach), vergleiche lateinisch bis (zweimal), zurückführen. Das Byte ist zudem ein Kunstwort und wurde wohl aus dem englischen (deutsch „[das] Bisschen“ oder „Häppchen“) und (zu deutsch: „[der] Bissen“ oder „Happen“) gebildet. Verwendet wurde es, um eine Speichermenge oder Datenmenge zu kennzeichnen, die ausreicht, um ein Zeichen darzustellen. Der Begriff wurde im Juni 1956 von Werner Buchholz in einer frühen Designphase des IBM-7030-Stretch-Computers geprägt, wobei die Schreibweise von bite zu byte geändert wurde, um zu vermeiden, dass es sich versehentlich zu bit ändere. Im Original beschrieb es eine wählbare Breite von ein bis sechs Bits (damit konnten Zustände, z. B. Zeichen, dargestellt werden) und stellte die kleinste direkt adressierbare Speichereinheit eines entsprechenden Computers dar. Im August 1956 wurde die Definition auf ein bis acht Bits aufgeweitet (damit konnten dann Zeichen dargestellt werden). So konnte man die Buchstaben und gängige Sonderzeichen zum Beispiel in Quelltexten von Programmen oder anderen Texten speichern (also verschiedene Zeichen). In den 1960er Jahren wurde der sich in seiner Verwendung schnell ausbreitende ASCII definiert, welcher sieben Bits zur Kodierung eines Zeichens verwendet (das sind Zeichen). Später wurden durch Nutzung des meist sowieso vorhandenen achten (höchstwertigen) Bits erweiterte, auf dem ASCII basierende Zeichensätze entwickelt, die auch die häufigsten internationalen Diakritika abbilden können, wie zum Beispiel die Codepage 437. In diesen erweiterten Zeichensätzen entspricht jedes Zeichen exakt einem Byte mit acht Bit, wobei die ersten 128 Zeichen exakt dem ASCII entsprechen. In den 1960er und 1970er Jahren war in Westeuropa auch die Bezeichnung Oktade geläufig, wenn speziell 8 Bit gemeint waren. Diese Bezeichnung geht möglicherweise auf den niederländischen Hersteller Philips zurück, in dessen Unterlagen zu Mainframe-Computern sich die Bezeichnung Oktade (bzw. englisch oktad[s]) regelmäßig findet. Seit Anfang der 1970er Jahre gibt es 4-Bit-Mikroprozessoren, deren 4-Bit-Datenwörter (auch Nibbles genannt) mit hexadezimalen Ziffern dargestellt werden können. 8-Bit-Prozessoren wurden schon kurz nach der Erfindung der Programmiersprachen C und Pascal eingeführt, also Anfang der 1970er Jahre, und waren in Heimcomputern bis in die 1980er Jahre im Einsatz (bei eingebetteten Systemen auch heute noch), deren 8-Bit-Datenwörter (respektive Bytes) mit genau zwei hexadezimalen Ziffern dargestellt werden können. Seitdem hat sich die Breite der Datenwörter von Hardware von 4 über 8, 16, 32 bis heute zu 64 und 128 Bit hin immer wieder verdoppelt. Zur Unterscheidung der ursprünglichen Bedeutung als kleinste adressierbare Informationseinheit und der Bedeutung als 8-Bit-Tupel wird in der Fachliteratur (abhängig vom Fachgebiet) korrekterweise auch der Begriff Oktett für letzteres benutzt, um eine klare Trennung zu erzielen. Praktische Verwendung In der elektronischen Datenverarbeitung bezeichnet man die kleinstmögliche Speichereinheit als Bit. Ein Bit kann zwei mögliche Zustände annehmen, die meist als „Null“ und „Eins“ bezeichnet werden. In vielen Programmiersprachen wird für ein einzelnes Bit der Datentyp „boolean“ (respektive „Boolean“ oder „BOOLEAN“) verwendet. Aus technischen Gründen erfolgt die tatsächliche Abbildung eines Boolean aber meist in Form eines Datenwortes („“). Acht solcher Bits werden zu einer Einheit – einem Datenpäckchen – zusammengefasst und allgemein Byte genannt. Die offizielle ISO-konforme Bezeichnung lautet dagegen Oktett: 1 Oktett = 1 Byte = 8 Bit. Viele Programmiersprachen unterstützen einen Datentyp mit dem Namen „byte“ (respektive „Byte“ oder „BYTE“), wobei zu beachten ist, dass dieser je nach Definition als ganze Zahl, als Bitmenge, als Element eines Zeichensatzes oder bei typunsicheren Programmiersprachen sogar gleichzeitig für mehrere dieser Datentypen verwendet werden kann, sodass keine Zuweisungskompatibilität mehr gegeben ist. Das Byte ist die Standardeinheit, um Speicherkapazitäten oder Datenmengen zu bezeichnen. Dazu gehören Dateigrößen, die Kapazität von permanenten Speichermedien (Festplattenlaufwerke, CDs, DVDs, Blu-ray Discs, Disketten, USB-Massenspeichergeräte usw.) und die Kapazität von vielen flüchtigen Speichern (zum Beispiel Arbeitsspeicher). Übertragungsraten (zum Beispiel die maximale Geschwindigkeit eines Internet-Anschlusses) gibt man dagegen üblicherweise auf der Basis von Bits an. Bedeutungen von Dezimal- und Binärpräfixen für große Anzahlen von Byte SI-Präfixe Für Datenspeicher mit binärer Adressierung ergeben sich technisch Speicherkapazitäten basierend auf Zweierpotenzen (2n Byte). Da es bis 1996 keine speziellen Einheitenvorsätze für Zweierpotenzen gab, war es üblich, die eigentlich dezimalen SI-Präfixe im Zusammenhang mit Speicherkapazitäten zur Bezeichnung von Zweierpotenzen zu verwenden (mit Faktor 210 = 1024 statt 1000). Heutzutage sollten die SI-Präfixe nur noch in Verbindung mit der dezimalen Angabe der Speichergrößen benutzt werden. Beispiele: 1 Kilobyte (kB) = 1000 Byte 1 Megabyte (MB) = 1000 Kilobyte = 1000 × 1000 Byte = 1.000.000 Byte Bei Hard Drive Disks, SSD-Laufwerken und anderen Speichermedien ist dies weit verbreitet. Für Arbeitsspeicher (RAM), Grafikspeicher und Prozessor-Caches hingegen, die technisch binär arbeiten, werden oft noch SI-Präfixe für Zweierpotenzen verwendet. Binär- oder IEC-Präfixe Um Mehrdeutigkeiten zu vermeiden, schlug die IEC 1996 neue Einheitenvorsätze vor, die nur in der binären Bedeutung verwendet werden sollten. Dabei wird eine den SI-Präfixen ähnlich lautende Vorsilbe ergänzt um die Silbe „bi“, die klarstellt, dass es sich um binäre Vielfache handelt. Beispiele: 1 Kibibyte (KiB) = 1024 Byte 1 Mebibyte (MiB) = 1024 × 1024 Byte = 1.048.576 Byte. Das für die SI-Präfixe zuständige Internationale Büro für Maß und Gewicht (BIPM) empfiehlt diese Schreibweise, auch wenn es nicht für Byte zuständig ist, da dies keine SI-Einheit ist. Viele weitere Standardisierungsorganisationen haben sich dieser Empfehlung angeschlossen. Unter Unix-artigen Systemen finden sich oft die abweichenden einsilbigen großgeschriebenen Vorsätze als Abkürzungen, also z. B. K für KiB und M für MiB. Vergleich Von einem Präfix zum Nächsten wird das Verhältnis von Binär zu Dezimal um einen Faktor größer. So beträgt es zwischen KiB und kB 2,4 %, zwischen TiB und TB hingegen bereits ≈10,0 %. Kapazitätsangaben bei Speichermedien Massenspeichermedien, wie Festplatten, DVD-Rohlingen und USB-Speicher-Sticks, mit vorgeschalter komplexer Firmware lassen sich in praktisch beliebig fein abgestufter Größe herstellen. Dort hat sich die Herstellung in glatten, gut vermarktbaren Größen durchgesetzt. Die Hersteller verwenden Dezimalpräfixe. RAM-Hauptspeicher und Cache-Speicher von CPUs, auf die in ihrer ziemlich ursprünglichen Form zugegriffen wird, werden als glatte Werte mit Binärpräfixen angegeben, SI-Präfixe wären hier unpraktisch. Für Kunden ist dessen genaue Größe meist irrelevant, da sie mit diesen Größen selten direkt in Kontakt kommen. Wenn die Binärpräfixe nicht normgerecht geschrieben werden, ergeben sich Probleme: Ein mit „4,7 GB“ gekennzeichneter DVD-Rohling wird von mancher Software, zum Beispiel dem Windows-Explorer, mit dem Wert von „4,38 GB“ angezeigt – richtig wäre hier „4,38 GiB“ –, obwohl rund 4,7 Gigabyte (4.700.000.000 Byte) gemeint sind. Ebenso wird eine mit „1 TB“ spezifizierte Festplatte mit der scheinbar deutlich kleineren Kapazität von etwa „931 GB“ oder „0,9 TB“ erkannt (auch hier sollte eigentlich „931 GiB“, beziehungsweise „0,9 TiB“ angezeigt werden), obwohl jeweils rund 1,0 Terabyte (1.000.000.000.000 Byte) gemeint sind. Andererseits enthält ein mit „700 MB“ gekennzeichneter CD-Rohling tatsächlich 700 MiB (734.003.200 Byte), also etwa 734 MB (und sollte somit streng genommen mit „700 MiB“ ausgezeichnet werden). Vor allem weil die Speicher-Kapazitäten der Hersteller meist nur mit SI-Präfix angegeben sind, kann es gerade in Verbindung mit Microsoft-Systemen zu Verwirrung kommen. Denn Microsoft rechnet für Datengrößen immer mit Zweierpotenzen, gibt diese dann aber mit Hilfe der SI-Präfixe an. So wird also ein 128-GB-Speichermedium als 119,2 GB angezeigt, obwohl es laut IEC 119,2 GiB lauten müsste. Hinzu kommt die Verwirrung der Benutzer, dass laut Microsoft 120 GB (eigentlich 120 GiB) nicht auf ein mit 128 GB beworbenes Speichermedium passen und ein Fehler ausgegeben wird. Vergleich: 128 GB = 128.000.000.000 Byte sind weniger(!) als 120 GiB = 128.849.018.880 Byte = 120 × 10243 Byte Apples macOS benutzt ab Version Mac OS X Snow Leopard (10.6) einheitlich Dezimalpräfixe nur in dezimaler Bedeutung. KDE folgt dem IEC-Standard und lässt dem Anwender die Wahl zwischen binärer und dezimaler Angabe. Für Linux-Distributionen mit anderen Desktopumgebungen, wie zum Beispiel Ubuntu ab Version 11.04, gibt es klare Richtlinien, wie Anwendungen Datenmengen angeben sollen; hier findet man beide Angaben, wobei die Binärpräfixe überwiegen. Unix-Shells nutzen normalerweise Datenblöcke als Einheit. Optional wird auch eine lesbarere Darstellungsform, bezeichnet, angeboten, normalerweise die binäre Einheit, wobei jedoch abweichend von der IEC-Vorgabe nur die Vorsätze der Maßeinheiten in Großbuchstaben als Einheit angegeben werden, also K für KiB, M für MiB usw. Es gibt jedoch auch oft die Möglichkeit, SI-Einheiten zu wählen, dann in der korrekten, jedoch großgeschriebenen Einheit, also KB, MB usw. Die in den 1980er und 1990er Jahren verbreitete 3,5-Zoll-Diskette verwendete eine binär-dezimale Mischform: die nominellen „1,44 MB“ bedeuteten = 1440 KiB. Siehe auch Bytemaschine Zettabyte-Ära Weblinks Prefixes for binary multiples. (englisch) „Byte“ From MathWorld (englisch) Konrad Lischka: Warum Festplatten plötzlich schrumpfen. Spiegel Online, 9. Februar 2009 (Reihe „Technikärgernis“). UnitJuggler Konvertieren zwischen den verschiedenen Bytegrößen Beispielhafte Umrechnung eines Bytes in das Dezimalsystem Einzelnachweise Datentyp Computerarithmetik Compilerbau Informationseinheit
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584.208933
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https://de.wikipedia.org/wiki/Nihilismus
Nihilismus
Nihilismus () bezeichnet einerseits allgemein eine Weltsicht, die die Gültigkeit jeglicher Seins-, Erkenntnis-, Wert- und Gesellschaftsordnung verneint. Andererseits ist Nihilismus in der Philosophie ein Terminus mit teilweise sehr tiefgründiger Bedeutung, so etwa bei Friedrich Nietzsche und Martin Heidegger. Der Ausdruck wurde auch polemisch verwendet, so für Kritiker kirchlicher, religiöser oder politischer Ordnungen. Umgangssprachlich bezeichnet Nihilismus eine Verneinung aller positiven (seltener auch der negativen) Ansätze. Wortgebrauch 1733 erwähnte Friedrich Lebrecht Goetz das Wort Neinismus beziehungsweise Nihilismus als literarischen Terminus. Etliche Jahre später versuchte der theosophische Mystiker Jacob Hermann Obereit, Immanuel Kants Hypostasierung des Subjektes zum Erkenntnisgaranten durch eine spekulative Methode zu unterlaufen, der er 1787 den Namen Nihilismus gab. Bei Obereit bezeichnet Nihilismus die methodisch notwendige Annihilation einer lediglich im Denken verankerten Weltgewissheit, so dass die Offenheit eines inhaltsleeren Bewusstseins entsteht. Als Verabsolutierung der Negation im philosophischen Sinne wurde Nihilismus 1799 erstmals von Friedrich Heinrich Jacobi in einem Brief an Johann Gottlieb Fichte verwendet, in dem er Einwände gegen dessen philosophisches System erhob. In seiner 1826 erschienenen Schrift Über die Freiheit der Intelligenz gebraucht Franz von Baader Nihilismus als Synonym für Kritizismus, womit er einen „für die Religion destruktiven Mißbrauch der Intelligenz“ bezeichnen will. 1851 wirft Juan Donoso Cortés dann in seinem Essay Versuch über den Katholizismus, Liberalismus und Sozialismus den französischen Sozialisten Nihilismus vor. Später wurde Nihilismus meist in polemischer Absicht gebraucht, so im Vormärz, als die Junghegelianer wegen ihres Atheismus oft pauschal als Nihilisten bezeichnet wurden. Differenzierter urteilte damals der Althegelianer Karl Rosenkranz. Er respektierte die Junghegelianer Ludwig Feuerbach und Bruno Bauer trotz ihres dezidierten Atheismus als hegelianische Denker, nicht aber Max Stirner, dessen Buch Der Einzige und sein Eigentum (1845) er als „Spitze der einseitig subjectiven Tendenz“ bezeichnete und als „Nihilismus alles ethischen Pathos“ verurteilte, von wo aus keine weitere Entwicklung mehr möglich sei. Es ist rekonstruiert worden, dass der Student Friedrich Nietzsche, der Feuerbach und die „geistesrege Zeit“ des Vormärz hochschätzte, im Herbst 1865 diese Orientierung verwarf und sich abrupt der Philosophie Schopenhauers zuwandte, weil er zuvor mit jenem Stirnerschen Nihilismus konfrontiert worden war. Der russische Dichter Iwan Sergejewitsch Turgenew gab dem Wort Nihilismus 1862 mit seinem Roman Väter und Söhne, in dem Anhänger sozialrevolutionärer Ideen Nihilisten genannt wurden, einen abwertend gemeinten politischen Inhalt. In der Folge gewann der Begriff eine breite öffentliche Aufmerksamkeit und einige russische Anarchisten übernahmen ihn zur Selbstbezeichnung. Der sich zunächst als Schüler Arthur Schopenhauers („Nichts“ ist das letzte Wort von Arthur Schopenhauers Hauptwerk Die Welt als Wille und Vorstellung) bekennende Friedrich Nietzsche bezog sich auf die Verwendung des Ausdrucks bei Turgenew hinsichtlich der „russischen Nihilisten“ und meinte damit das Phänomen einer Entwertung der obersten, sinngebenden Werte der Menschen einer Kulturgemeinschaft. In Nietzsches Werk Jenseits von Gut und Böse ist von einem „Russischen Nihilin“ die Rede, einem Pessimismus, „der nicht bloß Nein sagt, Nein will, sondern […] Nein tut.“ Philosophie Im philosophischen Sinn bezeichnet Nihilismus Lehren, die entweder die Existenz einer Wirklichkeit (metaphysischer Nihilismus), die Geltung eines Sittengesetzes (ethischer Nihilismus) oder den Bestand irgendeiner Wahrheit (logischer Nihilismus) verneinen. In der modernen Philosophie wird der Begriff Nihilismus wegen seiner Mehrdeutigkeit und des diffamierenden Beigeschmacks wenig verwendet. Seine unterschiedlichen Bedeutungen im Verlauf der Geistesgeschichte lassen sich festmachen an dem, was verneint wird: ein Sinn des Lebens ein Sinn der Weltgeschichte Existenz übernatürlicher Wesen erkennbare Tatsachen moralische Verbindlichkeit, Werte etc. Im ersten und zweiten Fall verneinen Nihilisten, dass irgendeine Religion, Weltanschauung, philosophische oder politische Lehre den richtigen Weg zu leben weisen kann und lehnen daher jede Form von Engagement ab. Als problematisch kann hier die Aufrechterhaltung von Sinn als Motivation zur Handlung erlebt werden. Im vierten Fall handelt es sich um erkenntnistheoretischen Skeptizismus, im fünften um Protest, die Ablehnung gesellschaftlicher Werte und Normen bis hin zum Amoralismus. Nietzsche Der Nihilismus ist für Nietzsche Ergebnis der Überzeugung, dass es keine absoluten Wahrheiten und Werte gibt. Hieraus ergibt sich ein „Glauben an die absolute Wertlosigkeit, das heißt Sinnlosigkeit.“ (KSA XII, 513) Der Philosoph Wilhelm Weischedel unterscheidet beim Nihilismus Nietzsches drei wesentliche Bausteine: Das Zerbrechen des Glaubens an Wahrheit und Wissenschaft, sowie die Ablehnung einer absoluten Wahrheit Ablehnung der Moral, die als leere Hülle bestehender Sitten als wertlos und sinnlos wahrgenommen wird und hinterfragt werden sollte Ablehnung von Religion, wobei der Gottesglaube als Lüge und Mittel zum Zweck beschrieben wird, um furchtsame, folgsame Menschen hervorzubringen Nietzsche betrachtete den Nihilismus genealogisch als Ergebnis eines historischen Prozesses, der vom antiken Griechenland bis hin in das Christentum reicht. Der Verlust des Glaubens an einen Gott, wie er in der Antike bei Sokrates und Platon, im Judentum und dann im Christentum gelehrt wurde, führt zu einer Destruktion der überkommenen Weltauffassung und damit einer Entwertung aller bisherigen Werte. „Was bedeutet Nihilismus? Dass die obersten Werthe sich entwerthen.“ (KSA XII, 350) Mit der Philosophie Kants wurde das Ende der Religionen und des metaphysischen Glaubens eingeleitet. Auch für die Wissenschaften bedeutet dies, dass sie kein sicheres Fundament mehr haben. Es gibt keine absolute Wahrheit mehr. „Dass es keine Wahrheit giebt; dass es keine absolute Beschaffenheit der Dinge, kein »Ding an sich« giebt – dies ist selbst ein Nihilismus, und zwar der extremste.“ (KSA XII, 351) Entsprechend gibt es auch keinen Maßstab mehr für die Moral. Dennoch wäre der Nihilismus in seiner vollständigen Form die Verwirklichung des Strebens nach Wahrheit und Wahrhaftigkeit. Nietzsche wollte nicht nur destruktiv im Pessimismus verharren wie Schopenhauer, sondern suchte eine Perspektive zur Überwindung des Nihilismus. Bezüglich Nietzsches Denkentwicklung ist in der Forschung angemerkt worden, dass er sich ab 1869 zwar mit „nihilistischen“ Themen beschäftigte („Pessimismus, mit dem Nirvana und mit dem Nichts und Nichtsein“), aber eine begriffliche Verwendung von Nihilismus erstmalig in handschriftlichen Notizen Mitte 1880 (KSA 9.127-128) stattfand. In diese Zeit fällt ein damals populärwissenschaftliches Werk, welches anhand russischer Zeitungsberichte über nihilistische Vorfälle den sogenannten „Russischen Nihilismus“ rekonstruiert (Nicolai Karlowitsch: Die Entwicklung des Nihilismus. Berlin 1880). Diese in drei Auflagen erschienene Materialsammlung war nicht nur einer breiten deutschen Leserschaft bekannt, auch ihre Ausstrahlung auf Nietzsche lässt sich belegen. Die Geschichte des Nihilismus kann man, so der Philosophiehistoriker Wolfgang Röd, auch als einen Prozess vom Verlust der alten (vorsokratischen) Werte betrachten, durch den die wahre Welt zur Fabel wurde, zur Metaphysik und zu den jüdisch-christlichen Formen einer dogmatischen Religion. Die Geschichte der Überwindung der Dogmen in der Renaissance und der Aufklärung folgt einer „Logik der décadence“, einem Niedergang der Werte und einem Übergang zur Sklavenmoral. In der Folge entstehen Desorientierung und Unklarheit, deren höchste Ausprägung der Nihilismus in seiner reinen Form ist. Eine Sinn-Stiftung kann nach Nietzsche nur durch neue Werte gefunden werden, die nicht aus dem Verstand entwickelt, sondern durch eine willentliche Bejahung der Welt erreicht werden. „Wer das Große nicht mehr in Gott findet, findet es überhaupt nicht […] und muß es entweder leugnen oder selbst schaffen“. (KSA 10, 32) Statt Gott als Idee des Weltgrundes setzt Nietzsche den Gedanken der ewigen Wiederkehr, die Vorstellung, dass alles Geschehende schon unendlich oft geschah und unendlich oft wiederkehren wird. Der, dem es gelingt, durch Umwertung aller Werte neue Werte zu schaffen, ist der Mensch der Zukunft, der Übermensch, zugleich Antichrist und Überwinder Gottes sowie Antinihilist und Besieger des Nichts. Das Handeln des neuen Menschen folgt der Triebkraft des Willens zur Macht und überwindet den Nihilismus durch ein Ja-Sagen zum unvermeidlichen Schicksal, ausgedrückt durch den Begriff des amor fati („Liebe zum Schicksal“). Siehe auch: Also sprach Zarathustra: Von den drei Verwandlungen Heidegger Auch die Metaphysik kann als eigentlicher Nihilismus verstanden werden, soweit das Seiende in den Blickpunkt gerät und das Sein unberücksichtigt bleibt. Martin Heidegger sieht in Nietzsches Philosophie einen geschichtlichen Höhepunkt des Nihilismus, da Nietzsche seiner Philosophie ein metaphysisches Prinzip – den Willen zur Macht – zugrunde lege (Heideggers Auseinandersetzung mit Nietzsches Willen zur Macht erfolgt allerdings auf Basis eines Buches, das aus Nietzsches Nachlass teils sinnentstellend zusammengestellt wurde). Nach Heidegger hat Nietzsche das Wesen des Nihilismus, dass dieser auf metaphysischem Denken beruhe, verkannt. Wenn nun Nietzsche versuche, den Nihilismus zu überwinden, so tue er dies durch die bloße Umkehrung metaphysischer Sätze, womit er allerdings immer noch im metaphysischen Denken verhaftet bleibe. Heidegger greift dies in seinem seinsgeschichtlichen Denken auf. Nach Heidegger haben die Philosophen ihrer Zeit stets nur dem Sein „entsprechen“ können, indem sie es zur Sprache gebracht haben. Nietzsche hätte somit den Nihilismus zur Sprache gebracht, welcher seine und auch unsere „seinsgeschichtliche Epoche“ kennzeichnet. In seiner Technikkritik deutet Heidegger das Wesen der Technik als Erscheinungsform des von Nietzsche gemeinten Willens zur Macht. Demnach würde sich in der Technik eine Ausbreitung des nihilistischen Denkens, des Willens zur Macht zeigen. Die industrialisiert-technologische Gesellschaft unserer Zeit verortet Heidegger seinsgeschichtlich in der Epoche der Seinsvergessenheit. Die Überwindung des Nihilismus besteht für Heidegger in der „Verwindung“ der Metaphysik. Eine Aufgabe, die insgesamt der Intention des Heideggerschen Lebenswerkes entspricht. Kritik Karl Popper bestreitet die völlige Sinnlosigkeit des Lebens, da er meint, man könne den Sinn des Lebens selbst schaffen, so dass nur Teile des Lebens sinnlos blieben. Eine häufig vorgebrachte Kritik gegen den Nihilismus, sofern er als universeller Skeptizismus interpretiert wird, mithilfe dessen behauptet wird, man könne tatsächlich nichts erkennen, ist, dass er auf sich selbst angewandt zur Selbstnegation führen würde, da man dann ja nicht erkennen kann, dass man nichts erkennen kann. Partieller Skeptizismus bleibt von diesem Vorwurf allgemein verschont. Umgekehrt wird auch den nicht negierenden, sondern postulierenden Weltanschauungen vorgehalten, sie fielen ohne ihre Grundannahmen gegenstandslos in sich zusammen. So stelle etwa der Theismus den Versuch dar, durch die (axiomatische) Annahme eines Gottes, welche als solche nicht kritisierbar sei, sich aus sich selbst zu beweisen. Insofern seien alle Weltanschauungen mit dem Makel nichtkonsistenter Theorien behaftet, die ihre Allgemeingültigkeit entweder selbst in Frage stellten oder nicht von einem äußeren Standpunkt her belegen könnten. Insbesondere halten viele gemäß dem Münchhausen-Trilemma Letztbegründungen für nicht möglich. Apel, Hösle, Holz und Kuhlmann beanspruchen aber, dass dies nicht für den Spezialfall „reflexiver Letztbegründungen“ gelten kann, da sonst prinzipiell keine Erhebung von Geltungsansprüchen möglich wäre beziehungsweise sich diese selbst widersprechen würden, was auch für einen „totalen“ Nihilismus gelten würde. Solche Versuche, eine angebliche Selbstwidersprüchlichkeit beziehungsweise Selbstverneinung des universellen Skeptizismus zu konstruieren und dies zu einer (reflexiven) Letztbegründung auszunutzen, stehen allerdings in starker Kritik. Selbst Philosophen, die dem philosophischen Skeptizismus beziehungsweise Nihilismus nicht nahestehen (beispielsweise Wolfgang Stegmüller), haben diesem Versuch aus mehreren Gründen eine Absage erteilt. So könne unter anderem etwa ein universeller Skeptizismus mit einem logischen Skeptizismus verbunden sein, so dass die klassische Logik abgelehnt wird und damit auch der Satz vom ausgeschlossenen Dritten nicht mehr gilt, womit kein Widerspruch mehr konstruierbar ist. Universellem Skeptizismus, Nihilismus und damit verbundenen relativistischen Auffassungen könne letztlich nur durch performative Argumente (siehe Retorsion) entgegengewirkt werden. Hans Jonas sieht die Ursache des Nihilismus in einem Fehlen einer den modernen wissenschaftlichen Erkenntnissen angepassten Naturphilosophie. Für den Schriftsteller Wolfgang Kraus ist Nihilismus „die Haltung dessen, der das Bestehende ablehnt, aber keine Verbesserungen weiß“. Religion Manche konservativ-christliche Strömungen werfen ihren Gegnern Nihilismus vor, da sie sich nicht an der Religion orientieren, die allein Begründungen für Sinnhaftigkeit liefern könne. Säkulare Strömungen wie der Materialismus oder der Agnostizismus bestreiten dies dagegen. Dem Buddhismus wurde oft vorgeworfen, er sei eine nihilistische Lehre. Ein Anlass dafür wurde im zentralen buddhistischen Begriff des Nirwana gesehen, der aufgrund einer laxen Übersetzungsgeschichte als ein „Nichts“ wiedergegeben wurde, der aber hauptsächlich einen transzendenten Zustand andeuten soll. Entsprechendes gilt auch für negative Formulierungen, die in buddhistischen Texten prominent vorkommen, etwa die Serie von Verneinungen im Herz-Sutra oder der Begriff der „Leerheit“ (Shunyata), die aber differenzierte Interpretationen erfordern (und die als analog zur negativen Theologie des Christentums diskutiert werden können). Medizin Als Therapeutischer Nihilismus wird polemisch eine naturwissenschaftlich orientierte Richtung der Medizin bezeichnet, die der vollständigen Beschreibung von Krankheiten den Vorrang vor therapeutischen Eingriffen einräumt, das heißt, die lieber auf Therapie verzichtet, als ein nicht durch das vollständige Wissen um die pathologische Anatomie und Chemie der Krankheiten begründetes therapeutisches Eingreifen anzuwenden. Der Begriff Therapeutischer Nihilismus wurde vom Vertreter der Deutschen Physiologischen Schule C. A. Wunderlich im 19. Jahrhundert geprägt, und er sollte die Haltung der konkurrierenden Zweiten Wiener Medizinischen Schule und ihrer Haupt-Vertreter Josef Škoda, Carl Rokitansky und Josef Dietl charakterisieren. Siehe auch Antinatalismus Nagarjuna Literatur Rudolf Eisler: Nihilismus. In: Wörterbuch der philosophischen Begriffe. 1904. Friedrich Heinrich Jacobi: Jacobi an Fichte (Text 1799–1816 im Vergleich) (Reihe Fichtiana, n. 28). Istituto Italiano per gli Studi Filosofici – Press, Neapel 2011, ISBN 978-88-905957-5-2. Dieter Arendt: Nihilismus. Die Anfänge von Jacobi bis Nietzsche. Köln 1970. Elmar Dod: Der unheimlichste Gast. Die Philosophie des Nihilismus. Tectum, Marburg 2013, ISBN 978-3-8288-3107-0. - Elmar Dod: Der unheimlichste Gast wird heimisch. Die Philosophie des Nihilismus – Evidenzen der Einbildungskraft. Baden-Baden 2019, ISBN 978-3-8288-4185-7. Ludger Lütkehaus: Nichts. Haffmans, Zürich 1999, ISBN 3-251-00446-8. Seraphim Rose: Nihilismus: die Ideologie des Antichristen – Der Glaube an das Nichts als Quell des Untergangs. Edition Hagia Sophia, Straelen 2010, ISBN 978-3-937129-62-4. Winfried Schröder: Moralischer Nihilismus von den Sophisten bis Nietzsche. Reclam, Stuttgart 2005. Emanuele Severino: Essenza del nichilismo (1972) [deut. üb. Vom Wesen des Nihilismus, Klett-Cotta, Stuttgart 1983]. Patrick Spät: Das Leben – und der Sinn des Ganzen. Zwischen Nihilismus und einem Funken Moral. Schmetterling, Stuttgart 2013. Federico Vercellone: Einführung in den Nihilismus. Wilhelm Fink, München 1998. Winfried Weier: Nihilismus. Schöningh, Paderborn 1980. Taisen Deshimaru: Hannya Shingyō. Das Sūtra der höchsten Weisheit. Kristkeitz, Heidelberg 1988. Weblinks Einzelnachweise Weltanschauung Ethische Theorie Metaphysik Religionskritik Philosophie des 19. Jahrhunderts Philosophie des 20. Jahrhunderts
Q80968
187.086305
4927142
https://de.wikipedia.org/wiki/Altai
Altai
Der Altai (auch: das Altaigebirge; ; in türkischer Lateinschrift Altay; chinesische 阿爾泰山脈 Ā'ěrtài shānmài (wörtlich: Altai-Gebirge)) ist ein bis zu hohes zentralasiatisches Hochgebirge im Grenzgebiet von Kasachstan, Russland (Sibirien), der Mongolei und China. Es erstreckt sich über rund 2100 km Länge vom Quellgebiet der Flüsse Irtysch und Ob in Südsibirien bis in die Trockenregionen Xinjiangs und zum ostmongolischen Hochplateau. Teile des Altai sind Weltnaturerbe der UNESCO. Der Altai gliedert sich in drei Teile, den Russischen, den Mongolischen und den Gobi-Altai, deren höchste Gipfel über oder um aufragen und große Gletscher tragen. Nördlich des Mongolischen Altai liegt der geografische Mittelpunkt Asiens in der Nähe der tuwinischen Hauptstadt Kysyl. Das Gebirge ist durch die Schönheit seiner Landschaft und Flora (Naturschutzgebiet „Goldene Berge“) und die altaische Kultur ein Anziehungspunkt für Bergsteiger und Exkursionen. Bis in Höhen von sind die Berghänge mit Zedern, Kiefern, Lärchen, Fichten und Birken bewachsen. Bis zur Schneegrenze (2400 bis ) liegen Hochgebirgsweiden und -steppen. Der Altai ist reich an Bodenschätzen wie Kohle, Blei und Zink, aber auch Edelmetallen und Eisenerz. Der Asteroid des mittleren Hauptgürtels (2232) Altaj wurde nach dem Gebirge benannt. Geografie Gliederung Das Gebirgssystem des Altai, das von vielen weiteren Hochgebirgen begrenzt wird, besteht aus den eingangs genannten drei Teilgebirgen: Der Russische Altai oder Große Altai liegt im Grenzgebiet der oben erwähnten vier Länder, jedoch überwiegend in Russland, wo er sich über die beiden Verwaltungseinheiten Republik Altai und Region Altai (Altaiski krai) erstreckt. Er geht im Nord-Nordwesten und Norden über das Tal des Ob allmählich in das Westsibirische Tiefland über. Im Nordosten schließt sich der Westsajan und im Osten das Tannu-ola-Gebirge und das mongolische Hochland an. Im Südosten geht der Russische Altai in den Mongolischen Altai über. Im Süden und Südwesten fällt sein Gelände zum Tal des Irtysch mit dem Saissansee ab, der bei Vollstau des Buchtarma-Stausees von dessen Wasser überflutet wird; jenseits des Flusses und der Seen breitet sich die Kasachische Schwelle aus. In Richtung Nordwesten fällt es zur Kulundasteppe ab. Der höchste Berg des Russischen Altai ist die Belucha (). Der Mongolische Altai oder Ektag Altai (mongol. „weißgipfliger Altai“), an den sich im Nordwesten und Norden der Russische Altai anschließt, befindet sich überwiegend in der Mongolei im Grenzgebiet zur Volksrepublik China. Er fällt nach Norden und Osten in das zuvor genannte mongolische Hochland ab, aus dem sich das Changai-Gebirge erhebt. Im Südosten geht er in den Gobi-Altai und in die Wüste Gobi über. Im Süden und Südwesten fällt sein Gelände unter anderen über das Tal des Irtysch zum Becken der Dsungarei und zum bereits genannten Saissansee ab. Der höchste Berg des Mongolischen Altai ist der Chüiten-Gipfel (). Der Gobi-Altai, an den sich im Nordwesten der Mongolische Altai anschließt, befindet sich ausschließlich in der Mongolei. Er fällt in Richtung Norden zum bereits erwähnten mongolischen Plateau ab. Im Osten, Südosten, Süden und Südwesten geht er in die Wüste Gobi über; als südliche Fortsetzung kann das Bergland am Hoangho (Gelber Fluss) gelten. Der höchste Berg des Gobi-Altai ist der Ich Bogd Uul (). Der nordwestliche Teil des Russischen Altai bei Öskemen mit dem Belucha-Massiv () gehört zu den Südsibirischen Gebirgen und stellt die Wasserscheide zwischen den Einzugsgebieten der großen sibirischen Flüsse Ob und Irtysch dar. Die südöstlichen Fortsetzungen (Mongolischer Altai und Gobi-Altai) trennen zusammen mit den Gebirgen Dsungarischer Alatau und Westsajan die verzahnten Quellgebiete des Ob und des Jenissei sowie der innermongolisch versiegenden Binnenflüsse. Berge Der höchste Berg des gesamten Altai-Gebirges ist mit die Belucha (russ. Gora Belucha), die sich in der russischen Republik Altai etwa 300 km östlich der kasachischen Großstadt Öskemen im Russischen Altai befindet. Dessen Gipfel ragt nur wenige Kilometer nördlich der Grenze zu Kasachstan und ungefähr 100 km nord-nordwestlich des Dreiländerecks Russland–China–Kasachstan auf. Der zweithöchste Berg des Altai-Gebirges ist der Chüiten-Gipfel (; auch Nairamdal, Freundschafts-Gipfel; chinesisch Youyi Feng), der als höchster Punkt der Mongolei an der mongolisch-chinesischen Grenze aufragt. Das Dreiländereck zwischen Russland, China und der Mongolei wird etwa 2,5 km weiter nördlich vom niedrigeren Tawan Bogd gebildet. Die höchsten und bekanntesten Berge im Altai sind (Auswahl): Belucha () – Russischer Altai Chüiten-Gipfel () – Mongolischer Altai Mönkh Khairkhan Uul () – Mongolischer Altai Tsast Uul () – Mongolischer Altai Tsambagaraw Uul () – Mongolischer Altai Sutai Uul () – Mongolischer Altai Tawan Bogd () – Mongolischer Altai Ich Bogd Uul () – Gobi-Altai Gletscher Oberhalb von etwa 3000 Höhenmeter (stellenweise auch darunter) sind die Kämme des Altai heute noch intensiv vergletschert, insbesondere die Nordhänge, was für die nördliche Halbkugel der Erde charakteristisch ist. Mit 1330 Gletschern auf einer Gesamtfläche von 890 km² ist das Gebirge nach dem Kaukasus eines der bedeutendsten Gletscherreservoire Russlands und Innerasiens. Wie in anderen Teilen der Welt, schmelzen auch im Altai die Gletscher (→ Gletscherschwund seit 1850). Im russischen Teil des Gebirges ist die vergletscherte Fläche bis Mitte der 2010er Jahre um etwa ein Viertel zurückgegangen. Ursache sind vor allem gestiegene Sommertemperaturen, die nicht durch die Zunahme der winterlichen Niederschlägen kompensiert werden konnte. Bemerkenswert sind die Gletscher in den Katun- und Tschuja-Kämmen, wo die Belucha das Hauptzentrum der Vereisung bildet. An ihren Flanken befinden sich einige 4 bis 9 km² große, radial angeordnete Gletscher, deren Zungen mit Gletschertoren bis herab in eine Höhe von (Mensugletscher) gelangen. Relief Das gegenwärtige Relief des Altai ist stark untergliedert. Neben schroffen, steilen Gebirgskämmen sind mehr oder weniger breite Plateaus und großflächige Einsenkungen charakteristisch. Ferner umringen typische Mittelgebirgsformen sowie einzelne Gebirgsketten und Hochflächen den Gesamtaltai. Meist verlaufen diese Reliefformen in NW-SO streichender Richtung. Umsäumt von Bergketten liegen die mit Lockermaterial aufgefüllten Ebenen – hier befanden sich in Höhen von 1000 bis die eiszeitlichen Stauseen. Die größten und bedeutendsten dieser Art sind das Tschuja-, Kurai- und Uimonbecken, welche sich im zentralen und östlichen Teil des Gebirges befinden. Demgegenüber stehen die 2000 bis hohen Hochplateaus, wie die Ukok-, Baschkaus-, Tschulyschman- und Terekta-Hochfläche. Auch bei den am stärksten zergliederten, höchsten und schmalsten Gebirgsketten des Altai, wie den Katun-, Süd-Tschuja- und Nord-Tschuja-Rücken (3000 bis ), konnten alte Plateauflächen rekonstruiert werden. Entstehung und Geologie Der Grundstock des Altai ist ein paläozoisches Faltengebirge, dessen Bildung in zwei verschiedenen Erdzeitaltern erfolgte. Während die Orogenese des Gebirgsaltai bereits im Alt-Paläozoikum, also kaledonisch, vonstattenging, unterlagen die Randbereiche wie der Erz-Altai nochmaliger variszischer Faltung, welche erst an der Grenze zum Mesozoikum ihren Abschluss fand. Heute ist von dem alten Faltengebirge kaum mehr etwas zu sehen – nur im Bereich des Zentralaltai können die Fachleute einige der ursprünglichen Faltungsschichten erkennen. Erneute tektonische Bewegungen im Tertiär führten zu einer allgemeinen Hebung der Rumpffläche en bloc. Diese wurde durch Brüche fragmentiert, wobei die Hebung und Senkung der einzelnen Schollen bis ins eiszeitliche Quartär reichte. Die entstandenen Verwerfungen bilden die Ausgangslinien, an denen die Gebirgsbildung des gegenwärtigen Altai ansetzte. Die verschiedenen Entstehungsphasen sind bereits Peter Simon Pallas, und von Gustav Rose 1842 referiert, aufgefallen, als er – vom Ural kommend – „kein neueres […], sondern Schiefergebirge“ vorfindet, das „mit Übergangskalkstein abwechselt und von Granit und Porphyren durchsetzt wird“. Extreme Klimaschwankungen während des Pleistozäns lösten auf der ganzen Welt mehrfache Vereisungsperioden aus. Man spricht von fünf glazialen Zyklen, welche im Altai-Gebiet stattgefunden haben. Man wies anhand von zahlreichen Bohrungen, Schnitten und C14-Datierungen nach, dass das meiste glaziale Formengut des Gebirges auf der letzten Eiszeit, der Würm-Kaltzeit, beruht. Etwa 20.000 bis 16.000 Jahre vor unserer Zeitrechnung erreichte sie ihr Maximum, wobei Gletscher weite Täler und intramontane Becken abriegelten. Während der Degradierungsphase füllten sich diese mit Schmelzwasser, so dass riesige Paläoseen wie in der Tschuja-, Kurai- und Uimon-Steppe entstanden. Brüche in den natürlichen Eisstaudämmen führten zu katastrophalem Ausfließen dieser Seen. Heute sind die Zeugnisse dieser Naturkatastrophen in Form von Gigantrippeln und Wellenschlag-Terrassen in den großen intramontanen Becken sichtbar. Da das Gebirge während der quartären Kaltzeit in großen Teilen vereist war – die Schneegrenze lag gegenüber dem jetzigen Niveau um durchschnittlich 1000 m tiefer –, bestimmt der übliche glaziale Formenschatz das heutige Landschaftsbild: Kare, Kartreppen und Taltröge im Bereich der hohen Ketten; Endmoränen und glazialfluviale Schotterfelder in den Tälern. Außer einigen größeren Seen (Saissansee und Markakol in Kasachstan; Chowd-Fluss, Atschit Nuur und Char Us Nuur in der Mongolei) gibt es im Altai auch viele kleine Gebirgsseen, die im Gefolge der Eiszeit entstanden sind. Auch großräumig ist diese Gebirgsregion von großen Seen umgeben, wie dem Alakölsee, Bortala- und Balchaschsee im Südwesten und den Chöwsgöl Nuur und Baikalsee im Osten. Die häufigsten Gesteine des Russischen Altai sind meist stark gefaltete Schiefer, die vor allem die Hauptketten des Gebirges bilden und ihnen stellenweise grünliche oder violette Farben verleihen. Klima Das Klima des Altai ist stark kontinental geprägt, was sich am deutlichsten in den langen, kalten Wintern zeigt. Die warmen oder sogar heißen Sommer sind dagegen kurz. Aufgrund seiner geografischen Lage zwischen trockenen Steppenklimaten und relativ feuchten Nadelwäldern und des ausgeprägten Gebirgsklimas variieren die Niederschlagsverhältnisse innerhalb des Altai beträchtlich. Die westlichen und nördlichen Teile des Russischen Altai erhalten die höchsten Niederschläge, die dort während des ganzen Jahres niedergehen. Die südlichen Teile, insbesondere der Gobi-Altai, sind dagegen viel trockener. Generell gilt, dass die Niederschlagsmenge mit der Höhe zunimmt. In den südlichen Steppen, die den Altai umgeben, beträgt die jährliche Niederschlagsmenge 300 mm und weniger. Auf 500 m Höhe liegt sie im Russischen Altai bereits bei 900 mm, und in den Gipfellagen werden bis zu 1500 mm erreicht. In den Hochgebirgsbecken im Inneren des Gebirges, die im Schatten großer Bergketten liegen, nimmt die Niederschlagsmenge allerdings wieder ab und sinkt trotz großer Höhenlage teilweise bis auf 300 mm. Hier ist die winterliche Schneedecke nur sehr gering oder fehlt ganz, während in den westlichen Teilen oft Schneehöhen von 2 bis 3 m erreicht werden. An vielen Stellen des Altai trifft man auf ausgedehnte Permafrostböden. Flora Waldgrenzen Die großen Niederschlagsunterschiede und die verschiedenen Höhenlagen des Altai führen zu einer besonders vielgestaltigen Vegetation. Im Süden, wo sich der Altai aus den Steppen erhebt, gibt es eine untere, niederschlagsbedingte und eine obere, temperaturbedingte Waldgrenze. Die untere Waldgrenze liegt im westlichen Altai bei nur etwa 350 m, während sie im Südostaltai bis auf 1800 m hinauf klettern kann. Die obere Waldgrenze liegt bei etwa 2400 m. Im Norden gehen die Baumbestände direkt in die Taigagebiete über. Hier gibt es nur eine Waldgrenze, diese liegt bei etwa 1500 m. Arten und Landschaftstypen Die Wälder des Altaigebirges setzen sich im Wesentlichen aus fünf verschiedenen Nadelbaumarten und einigen kleinblättrigen Laubbäumen wie Hänge-Birken (Betula pendula) und Espen (Populus tremula) zusammen. Die häufigste Nadelbaumart ist die Sibirische Lärche (Larix sibirica). In den Gebirgsteppen besiedelt sie oft in lichten Beständen die Nordhänge, was insgesamt zu einer parkartigen Waldsteppenlandschaft führt. Im Unterwuchs dieser lichten Lärchenwälder findet man Rhododendron dahuricum, Spiersträucher (Spiraea aquilegifolia), Rosen (Rosa acicularis) und Zwergmispeln (Cotoneaster melanocarpus). In den südlichen Teilen des Altai bildet die Lärche allein oder zusammen mit der Sibirischen Zirbelkiefer (Pinus sibirica) meist die obere Waldgrenze. Nur auf sandigen und trockenen Böden der Randzonen bildet die Waldkiefer (Pinus sylvestris) größere Bestände. Die typische Waldform des niederschlagsreichen, kalten Nordostaltai ist die sogenannte dunkle Nadelwaldtaiga. Sie besteht vor allem aus Sibirischen Zirbelkiefern, Sibirischen Fichten (Picea obovata) und Sibirischen Tannen (Abies sibirica) und bildet im Nordaltai die Waldgrenze. Unterhalb der dunklen Taiga liegt die Schwarze oder Finstere Taiga, die vor allem aus Tannen besteht, zu denen sich einige Laubhölzer wie Ebereschen (Sorbus sibirica), Traubenkirschen (Padus racemosa) und Espen (Populus tremula) gesellen. Zwischen den Wäldern des Altai liegen immer wieder blumenreiche Bergsteppen oder Staudenfluren. Oberhalb der Wälder liegen im Nordaltai Waldtundren mit Zwerg-Birken (Betula nana), Heckenkirschen (Lonicera hispida), Zwergmispeln (Cotoneaster uniflorus) und Johannisbeeren (Ribes) und im Südaltai alpine Matten, die von Mooren durchsetzt sind. Im größten Teil der alpinen Stufe, besonders auf den Hochplateaus, finden wir Gebirgstundren mit etlichen Moosen und Flechten. Noch weiter oben schließt sich eine Steintundra an, die bis zur Schneegrenze emporreicht. Südliche Teile des Altai, insbesondere der Gobi-Altai, sind so trocken, dass man auf ausgedehnte Wüstengebiete stößt. Für den zentralen Altai werden folgende sechs ökologische Höhenstufen beschrieben: 500–900/1700 m: Kolline Höhenstufe mit Kurzgrassteppe 900/1700–1400/2000 m: Montane Höhenstufe mit Gebirgs-Lärchenwald 1400/2000–1900/2200 m: Hochmontane Höhenstufe mit Gebirgs-Kiefernwald 1900/2200–2200/2400 m: Subalpine Höhenstufe mit Zwergbirken-Gebüschtundra 2200/2400–3100/3300 m: Alpine Höhenstufe mit Wiesen-Bergtundra über 3100/3300 m: Nivale Höhenstufe mit Moosen und Flechten Fauna Säugetiere Die Tierwelt des Altai ist ebenso vielfältig wie seine Vegetation und setzt sich aus Arten der Taiga, der Steppen und der zentralasiatischen Gebirge zusammen. Der Sibirische oder Asiatische Steinbock (Capra sibirica) bewohnt vor allem die steilen Hänge und Gipfelregionen. Das seltene Riesenwildschaf (Ovis ammon) ist ebenfalls ein typisches Gebirgstier. Mit Maralhirsch (Cervus elaphus sibiricus), Elch (Alces alces), Sibirischem Waldrentier (Rangifer tarandus valentinae), Sibirisches Moschustier (Moschus moschiferus) und Sibirischem Reh (Capreolus pygarus) sind die Hirsche im Altai gleich in fünf Arten vertreten. Vor allem Elch und Rentier sind aber auf die nördlichen Teile des Gebirges beschränkt. Das Wildschwein (Sus scrofa) dringt zwar kaum in die Gebirgslagen des Altai vor, lebt aber in den umgebenden Tiefländern. Bis vor kurzem kam auch die Mongoleigazelle (Procapra gutturosa) bis ins russische Altaigebirge vor und noch im 18. Jahrhundert wird der Wildyak (Bos grunniens) als Wildtierart des Altai erwähnt. Heute ist er hier allerdings nur noch als Haustier anzutreffen. In den Wüstengebieten des Gobi-Altai halten sich noch immer einige Wildkamele (Camelus ferus ferus) und Gobi-Halbesel (Equus hemionus luteus). Einst lebten auch Przewalski-Pferde (Equus przewalski) in den südlichen Steppen der Region, wo man sie heute wieder anzusiedeln versucht. Die großen Raubtiere sind durch den seltenen Schneeleopard (Uncia uncia), den Wolf (Canis lupus), den Rothund (Cuon alpinus), den Luchs (Lynx lynx) und den Sibirischen Braunbären (Ursus arctos) reichhaltig vertreten. In den nördlichen Gebieten trifft man auch auf den Vielfraß (Gulo gulo) und ursprünglich kam sogar der Kaspische Tiger am Fuß des Altaigebirges vor. Noch in der Neuzeit gab es Populationen der Großkatze am Saissansee und am Schwarzen Irtysch. Einzelne Exemplare wurden auch viel weiter nördlich, etwa in der Gegend von Barnaul oder in der Mongolei bestätigt. Die große Katze ist allerdings heute dort ausgestorben. An kleineren Räubern findet man Manul (Felis manul), Rotfuchs (Vulpes vulpes), Steppenfuchs (Vulpes corsac), Europäischer Dachs (Meles meles), Fischotter (Lutra lutra), Zobel (Martes zibellina), Steinmarder (Martes foina), Feuerwiesel, Altaiwiesel, Hermelin, Mauswiesel und den aus Nordamerika stammenden Mink. Durch die Abgelegenheit des Altai (und ebenso im nahen Sajangebirge) hat sich unter den Säugetieren eine Artenzusammensetzung erhalten, die jener des Pleistozäns im letzten Glazial entspricht. Der östliche Altai fungiert somit als Refugium für Säugetiergemeinschaften der letzten Eiszeit. Auch der Wisent kam noch im Mittelalter im Altai vor. Möglicherweise waren die Rinder sogar bis ins 18. Jahrhundert anzutreffen. Eine Herde von etwa 40 Flachlandwisenten (Stand 2008), die allerdings zunehmend an Inzucht leidet, wird mit dem Ziel einer späteren Auswilderung in einem Zuchtzentrum im Altaigebirge gehalten. Typische Kleinsäugetiere der Hochgebirgsregionen sind der Alpenschneehase (Lepus timidus), das Graue Murmeltier (Marmota baibacina) und mehrere Pfeifhasen (Ochotona). In den Wäldern trifft man auf Eichhörnchen (Sciurus vulgaris), Burunduk (Tamias sibiricus), Europäische Gleithörnchen (Pteromys volans), und Waldlemminge, außerdem auf Ostschermaus, Rötelmaus, Waldmaus, Birkenmaus und Zwergmaus. In den Steppen des Altai findet man ebenfalls einige kleine Säugetiere, wie zum Beispiel den Feldhasen, das Steppenmurmeltier (Marmota bobac), verschiedene Ziesel (Spermophilus), Feldhamster, Steppenlemminge und Langohrigel. Als weitere Kleinsäuger dieser Region seien noch Wanderratte, Feldmaus, Erdmaus, Hausmaus, Teichfledermaus, Wasserfledermaus, Kleine Bartfledermaus, Großer Abendsegler, Nordfledermaus und Große Bartfledermaus genannt. Andere Tierarten Unter den Vogelarten des Altai fallen besonders einige eindrucksvolle Greifvogelarten auf. Darunter sind Gänsegeier (Gyps fulvus), Mönchsgeier (Aegypius monachus), Steinadler (Aquila chrysaetos), Steppenadler (Aquila rapax), Fischadler (Pandion halliaetus) und Wanderfalke (Falco peregrinus) wohl die eindrucksvollsten. In Gewässernahe leben Schwarzstörche (Ciconia nigra), Graureiher (Ardea cinerea) und etliche andere Wasservögel. In den Hochgebirgslagen treffen wir auf einige Hühnervögel, wie das Altai-Königshuhn (Tetraogallus altaicus) und verschiedene Schneehühner (Lagopus). Charakteristische Vogelarten der Gebirgsnadelwälder sind das Stein-Auerhuhn (Tetrao parvirostris), Haselhuhn (Tetrastes bonasia), Habichtskauz (Strix uralensis), Unglückshäher (Perisoreus infaustus), Dreizehenspecht (Picoides tridactylus), Hakengimpel (Pinicola enucleator) und Blauschwanz (Tarsiger cyanurus). Aufgrund des relativ kühlen Klimas finden wir im Altai nur relativ wenige Reptilien und Amphibien, etwa die Waldeidechse (Lacerta vivipara), die Kreuzotter (Vipera berus), die Wechselkröte (Bufo virridis) und die Erdkröte (Bufo bufo). Eine besonders schöne Insektenart der Gebirgslagen des Altai ist der Apollofalter (Parnassio apollo). Naturschutzgebiete Im russischen Altai-Gebirge sind zum Schutz der Landschaft und der Tierwelt seit längerem drei Sapowedniki (russische Bezeichnung für Naturschutzgebiete) ausgewiesen. Sie wurden 1998 als die „Goldenen Berge des Altai“ von der UNESCO in die Liste der Weltnaturerbe aufgenommen und umfassen insgesamt 12.000 km²: Das Altai-Naturreservat (Алтайский заповедник, Altaiski Sapowednik) im nördlichen Altai, mit 8812 km² das größte und älteste seiner Schutzgebiete. Es umfasst vor allem die „Perle Westsibiriens“, den 80 km langen Telezker See (russ. Озеро Телецкое, altaisch Altyn-Köl oder „Goldener See“) und seine von naturbelassenem Taiga-Wald bedeckte Umgebung mit dem Gebirgsplateau östlich des Flusses Tschulyschman. Es wurde bereits 1931 unter Schutz gestellt. Das Katun-Naturreservat (Катунский заповедник, Katunski Sapowednik) im Westen des russischen Altai mit 1.501 km². Es wurde 1991 zum Schutz der Landschaft und Tierwelt am Oberlauf des Katun (größter Quellfluss des Ob) und den Katun-Kamm geschaffen. Die Pufferzone umfasst auch die Belucha (4506 m), den höchsten Altai-Gipfel. Weniger streng geschützt sind die Pufferzonen der zwei Naturreservate (3560 km²), außerdem das Ukok-Schutzgebiet mit 2529 km² (UNEP 2003) und das Chakassky Zapovednik (ca. 1500 km²) an der Grenze zur autonomen Republik Chakassien. Zusammen mit weiteren Schutzgebieten im Alatau- und Sajan-Gebirge stehen sie unter Verwaltung der russischen Bioregion 9 Altai-Sajanski. Da der Naturschutz hier jedoch nicht sehr effektiv ist und der Hochgebirgs-Tourismus stark zunimmt, wurde 1992 die NGO Fund for 21st Century Altai gegründet, um in der Ust-Koksa-Region einen größeren Katun-Nationalpark einzurichten. Derzeit wird dies durch Pläne der russischen Regierung konterkariert, mehrere Staudämme am Katun zu errichten. Menschliche Einflüsse Bevölkerung Vor rund 40.000 Jahren lebten Denisova-Menschen im Altai. Die Skythen lebten vor etwa 2500 Jahren in den Weiten von der Mongolei bis ans Schwarze Meer. Die Ureinwohner des Altaigebietes sind verschiedene Turkvölker, Mongolen und Sinotibetische Völker, sowie einige andere heute ausgestorbene Paläosibirische Völker, die vor allem Viehzucht betreiben. Ihre Herden bestehen meist aus Schafen, Ziegen, Pferden und Yaks. In den trockenen, südlichen Regionen finden auch Kamele Verwendung. Das Urvolk in den zentralen Teilen des Altai sind die Altaier, die etwa 50.000 Köpfe zählen. In den nordöstlichen Gebieten des Altai, die an das Sajangebirge grenzen, leben die Tuwiner, die wie die Altaier zu den Turkvölkern zählen. Im russischen Teil des Altai, der aus den beiden Verwaltungsgebieten Republik Altai und Region Altai (Altaiski Krai) besteht, leben mehrheitlich Russen. Da das Altaigebirge bis heute nur sehr dünn besiedelt und wenig erschlossen ist, hielten sich die menschlichen Einflüsse in Grenzen. Die Bevölkerungsdichte liegt meist bei weniger als einem Einwohner pro Quadratkilometer. Wirtschaft und Erschließung Schon seit alter Zeit werden im Altaigebirge Weizen, Hafer, Gerste, Hirse und Flachs angebaut, meistens in künstlich bewässerten Steppentälern. Neuerdings werden auch im Gebirgsaltai Kartoffeln, Äpfel, Pflaumen und Birnen angebaut. Jagd und Fischfang spielen noch immer eine große Rolle, während umfangreiche Holznutzung bisher fast nur in den Randgebieten das Altai stattfindet. Auf einigen Maralfarmen werden Maralhirsche wegen ihrer wertvollen Geweihe gezüchtet. Aus den Samen der Sibirischen Zirbelkiefer („Zedernüssen“) wird Speiseöl gewonnen. Besonders im Nordwesten ist der Altai reich an Bodenschätzen. Kupfer, Gold, Silber und Eisen werden hier schon seit dem Altertum gewonnen. Heute wird auch Asbest und Phosphorit gefördert. Dennoch gibt es nahezu keine Industrie in dem Gebiet. Auch der Tourismus spielt noch eine sehr geringe Rolle. Der Russische Altai wird nur durch eine einzige größere, wetterfeste Straße erschlossen, die von Barnaul nach Chowd in der Mongolei führt. Eisenbahnlinien fehlen, und die Flüsse sind nicht schiffbar. Geschichte Im Ursprungsmythos der Türken, der Asena-Legende, zieht eine Wölfin einen Jungen auf; ihre Höhle wird im Altaigebirge verortet. Siehe auch Liste der Berge im Altai Altaische Sprachen Literatur Gerhard Klotz u. a.: Hochgebirge der Erde und ihre Pflanzen und Tierwelt. Urania Verlag, Leipzig 1989, ISBN 3-332-00209-0. Hans-Ulrich Plener: Sibirischer Altai. Stoff-&Wechsel-Verlag, Tuttlingen 2011, ISBN 978-3-00-035264-5. Cambra Skadé: Am Feuer der Schamanin. Reisewege im sibirischen Altai. Hans-Nietsch-Verlag, Freiburg im Breisgau 2007, ISBN 978-3-939570-11-0. Konrad Frenzel: Andrees Handatlas. Einleitung und Karte Nr. 79 Mongolei. Verlag Velhagen & Klasing, Bielefeld/Leipzig 1937. Weblinks Center for Russian Nature Conservation: Altai-Sayansky. Naturschutzgebiete im russischen Altai, auf www.wild-russia.org (englisch) Eduard Klein: ehemals auf www.altai.at Alexander Herdt: Fotogalerie Über Altai Fotogalerie: Blumen, Berge und Flüsse des Altai, auf www.altaireisen.de АОО «IVDK»: Siedlungsorte. Altai-Region. Kulturerbe der deutschen Minderheit in Russland, Siedlungsgeschichte im Altai, auf www.siedlung.rusdeutsch.ru (deutsch, russisch) Einzelnachweise Gebirge in Asien Gebirge in Russland Gebirge in Xinjiang Gebirge in der Mongolei Gebirge in Kasachstan Region in Asien Gebirge als Namensgeber für einen Asteroiden
Q5955
171.441557
555110
https://de.wikipedia.org/wiki/Meeresschnecke
Meeresschnecke
Als Meeresschnecken werden jene Familien und Arten von Schnecken bezeichnet, die im Meer leben. Durch das salzhaltige Wasser haben sie teilweise eine von Süßwasser- und Landschnecken verschiedene Biochemie. Geschichte Fossile Schnecken sind seit dem frühen Kambrium vor ca. 530 Millionen Jahren bekannt, wobei bei den ältesten Funden allerdings nicht endgültig geklärt ist, ob sie wirklich zur Klasse der Schnecken zu zählen sind. Diese ersten Arten lebten im Meer von Algen, möglicherweise auch von Schwämmen. Im Erdaltertum waren Arten der Gattung Bellerophon verbreitet. Echte Süßwasser- und Land-Lungenschnecken sind mit Sicherheit erst ab dem Erdmittelalter (Jurazeit) bekannt, doch dürften in früheren Erdperioden (Trias, spätes Paläozoikum) durchaus auch schon Schnecken auf dem Festland oder im Süßwasser gelebt haben. Da die Klasse der Schnecken aus dem Meer stammt, bilden die Meeresschnecken keine geschlossene systematische Gruppe. Die ersten Gastropoden ähnelten den heutigen Napfschnecken, Nixenschnecken, Lochschnecken und den Seeohren, die äußerlich wie Muscheln aussehen. Diese Arten haben dann eine verminderte Ausprägung der sonst bei Schnecken festzustellenden Rechts-Links-Symmetrie. Im Laufe der Zeit hat sich eine große Artenvielfalt entwickelt. Es gibt harmlose Weidegänger und giftige Räuber. Viele Schnecken bilden massive Gehäuse, um sich vor Feinden zu schützen. Die Nacktkiemer und die Seehasen verzichten auf eine Schale und schützen sich durch Tarnung oder mit Nesselzellen, die sie mit ihrer Nahrung aufnehmen und in fransigen Körperfortsätzen einlagern. Es gibt etwa 40.000 verschiedene marine Gastropoden, und an verschiedenen Stellen des Stammbaums zweigen im Süßwasser und an Land lebende Taxa ab. Marine Lebensräume Die Meerestiere besiedeln alle Bereiche von der Brandungszone bis in die Tiefsee, von den Polen bis zum Äquator. Es gibt sie in Korallenriffen, auf Schwämmen, im Sandboden, an Felsen und Tangen und frei im Meer schwimmend. Es gibt dabei die ungewöhnlichsten Lebensweisen. Die Veilchenschnecke lebt unter einem selbstgebauten Floß aus Schleimblasen. Damit treibt sie über das Meer und frisst Quallen, wenn sie auf sie trifft. Sogar an den schwarzen Rauchern leben Schnecken. Die bekannteste ist die "Scaly Snail" mit ihren eisenhaltigen Körperschuppen. Nicht weniger bemerkenswert sind Wurmschnecken: Sie verwachsen mit dem Korallenriff und ernähren sich in dem sie Plankton mit einem Schleimnetz aus dem Wasser fangen. Kegelschnecken machen mit Giftpfeilen Jagd auf Fische. Sogar eher einfache Vertreter wie die Napfschnecken legen als revierbildende Weidegänger interessante Verhaltensweisen an den Tag. Bau und Form der Schale Die Gehäuse bilden sich ausgehend vom Mantelrand und besitzen vielfach kräftige Farben und innen manchmal Perlmuttglanz. Die Färbung hat keine oder wenig Funktion, weil sie unterhalb von 10 bis 20 Meter Wassertiefe kaum mehr wahrnehmbar ist. Hier ist das rote Licht bereits großteils aus der Sonnenstrahlung herausgefiltert, sodass blaue Anteile im Licht vorherrschen. Außerdem entstehen die Farben der Schalen meist durch das Deponieren von Abfallprodukten des Eiweiß-Stoffwechsels. Die Gehäuse von Meeresschnecken dienen in verschiedenen Kulturen der Herstellung von Schneckentrompeten. Aufgrund der besonderen akustischen Eigenschaften wird auch – meist scherzhaft – der Aberglaube gepflegt, im Schneckenhaus sei das Meeresrauschen gefangen, das man als konservierte Urlaubserinnerung mit nach Hause nehmen kann. Einige Schnecken sind auch Bestandteil des Zooplanktons, etwa Glaucus atlanticus oder die räuberischen Pterotracheidae. Bekannte Beispiele von Seeschnecken Viele der Meeresschnecken sind als „Meeresfrüchte“ beliebt und teilweise kulinarische Delikatessen, was den Bestand mancher Arten bereits stark gefährdet. Neben den Seeohren (Abalonen), die für die asiatische Küche sehr beliebt sind, betrifft dies z. B. die Purpurschnecken – allerdings wegen der Herstellung des seit dem Altertum beliebten Purpurs. Unter den vielen, auch kleineren Arten – die nicht nur in warmen Meeren, sondern auch in der gemäßigten Klimazone und auch weiter nördlich vorkommen, sind noch weitere Tierspezies besonders bekannt. Einzelnachweise Malakologie Schnecken
Q381180
120.2602
593461
https://de.wikipedia.org/wiki/Analepse
Analepse
Als Analepse (von ), auch Rückblende, Rückwendung oder Retrospektive, im Englischen Flashback, bezeichnet man bei Film- und Fernsehproduktionen sowie in der Literatur eine Erzähltechnik. Ereignisse, die zeitlich vor dem bisher Erzählten stattgefunden haben bzw. haben müssten, werden erst im Nachhinein erzählt. Die Analepse ist eine Form des anachronischen Erzählens; ihr Gegenstück ist die Prolepse. Literatur Der Begriff Rückwendung stammt vom Literaturwissenschaftler Eberhard Lämmert, Gérard Genette spricht von Analepse – beide Begriffe meinen aber das gleiche. Lämmert definiert zwei Arten der Rückwendung: Aufbauende Rückwendung: Nach einem direkten, plötzlichen Einstieg wird im Nachhinein erzählt, wie es zu dieser Situation gekommen ist. Die aufbauende Rückwendung wird oft am Anfang von Erzählungen verwendet, man spricht dann auch von einem „offenen Einstieg“. Auflösende Rückwendung: Erst nach einer längeren Erzählung wird etwas berichtet, was zeitlich vor dieser Erzählung liegt. Dadurch erscheint das bisher Erzählte in einem neuen Licht. Ein berühmtes Beispiel hierfür ist Nathan der Weise von Gotthold Ephraim Lessing: Erst am Ende stellt sich heraus, dass einige der Figuren, die eigentlich rivalisierenden Religionen angehören, miteinander verwandt sind, aber als Kinder voneinander getrennt wurden. Auch die klassische Krimi-Auflösung ist eine auflösende Rückwendung. Film Um in Filmproduktionen dem Zuschauer die Rückblende deutlich zu machen, wird diese oft optisch abgesetzt, durch die Verwendung von Schwarzweiß, eine andere Farbgebung, Änderung der Schärfe oder der Belichtung. Das Gegenstück zur Rückblende ist die Vorausblende. Beispiele für Filmwerke, die mit Rückblenden arbeiten, sind: Casablanca (1942): Die Episode: Rick und Ilsa in Paris. Goldenes Gift (1947): Die lange Vorgeschichte: Jeff Markhams Liaison mit Kathie Moffat – die Vergangenheit, die Jeff Bailey wieder einholt. Die Rechnung ging nicht auf (1956): Der mehrmalige Beginn der Handlung aus der Perspektive mehrerer handelnder Figuren. Hiroshima, mon amour (1959): Die Nevers-Szenen. Schießen Sie auf den Pianisten (1960): Die Zeit, als Charlie Kohler noch der bekannte Konzertpianist Edouard Saroyan war; die Zeit seiner Ehe mit Thérésa. Fight Club (1999): Beinahe der gesamte Film ist eine Rückblende nach der Szene im Hochhaus. Siehe auch Anachronie Prolepse Twist Weblinks „Analepse“ in LiGo – Literaturwissenschaftliche Grundbegriffe online „Rückblende“ in Lexikon der Filmbegriffe, uni-kiel.de Einzelnachweise Literarischer Begriff Filmtechnik
Q473432
93.834617
239650
https://de.wikipedia.org/wiki/Einb%C3%BCrgerung
Einbürgerung
Unter einer Einbürgerung, auch Naturalisation, wird der Erwerb einer Staatsbürgerschaft durch einen Exekutivakt verstanden, d. h. auf Antrag des Bewerbers bei der in dem jeweiligen Land zuständigen Behörde. Begriffsabgrenzung Die Einbürgerung ist zu unterscheiden von dem Erwerb der Staatsbürgerschaft durch Geburt, was an den Geburtsort (Geburtsortsprinzip) oder Abstammung (Abstammungsprinzip) anknüpfen kann. In diesen Fällen wird die Staatsbürgerschaft nicht auf Antrag, sondern automatisch gewährt. dem Erwerb der Staatsbürgerschaft durch Adoption oder durch Heirat, der Ehrenbürgerschaft. Diese wird nicht auf Antrag des Betroffenen gewährt, sondern um ihn auszuzeichnen; oft handelt es sich um eine rein symbolische Auszeichnung, mit der keine Bürgerrechte und -pflichten verbunden sind. Regelungen in einzelnen Ländern Deutschland Voraussetzungen Der Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit durch Einbürgerung ist im Staatsangehörigkeitsgesetz geregelt ( Abs. 1 Nr. 5, §§ 8 bis 16, 40b und 40c StAG), außerdem in des Gesetzes über die Rechtsstellung heimatloser Ausländer im Bundesgebiet für heimatlose Ausländer und in Art. 2 des Gesetzes zur Verminderung der Staatenlosigkeit für seit Geburt Staatenlose. Das Gesetz zur Regelung von Fragen der Staatsangehörigkeit mit der Möglichkeit von Sammeleinbürgerungen deutscher Volkszugehöriger wurde zum 15. Dezember 2010 aufgehoben. Frühere deutsche Staatsangehörige, denen zwischen dem 30. Januar 1933 und dem 8. Mai 1945 die Staatsangehörigkeit aus politischen, rassischen oder religiösen Gründen entzogen worden ist, und ihre Abkömmlinge werden nach Abs. 2 GG, StAG auf Antrag wieder eingebürgert. Die Einbürgerung setzt einen Antrag voraus. Der Antragsteller muss das 16. Lebensjahr vollendet haben und darf nicht geschäftsunfähig sein. Antragsteller unter 16 Jahre müssen gesetzlich vertreten werden ( Abs. 1 Nr. 1, Abs. 1 Satz 1 StAG). Ein Anspruch auf Einbürgerung nach StAG besteht für Personen, die das 16. Lebensjahr vollendet haben, wenn folgende Voraussetzungen vorliegen: unbefristetes Aufenthaltsrecht zum Zeitpunkt der Einbürgerung, eine Blaue Karte EU oder eine befristete Aufenthaltserlaubnis, die ihrem Zweck nach zu einem dauerhaften Aufenthalt führen kann bestandener Einbürgerungstest (Kenntnisse über die Rechts- und Gesellschaftsordnung sowie die Lebensverhältnisse in Deutschland) seit acht Jahren gewöhnlicher und rechtmäßiger Aufenthalt in Deutschland (diese Frist kann nach erfolgreichem Besuch eines Integrationskurses auf sieben Jahre verkürzt werden, bei besonderen Integrationsleistungen sogar auf sechs Jahre) eigenständige Sicherung des Lebensunterhalts (auch für unterhaltsberechtigte Familienangehörige) ohne Sozialhilfe und Arbeitslosengeld II ausreichende Deutschkenntnisse keine Verurteilung wegen einer Straftat, Ausnahmen: StAG Bekenntnis zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland ( Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, StAG) grundsätzlich der Verlust beziehungsweise die Aufgabe der alten Staatsangehörigkeit, Ausnahme: StAG. In Art. 18 des Übereinkommens über die Rechte von Menschen mit Behinderungen erkennen die Vertragsstaaten das gleiche Recht von Menschen mit Behinderungen auf eine Staatsangehörigkeit an, indem sie unter anderem gewährleisten, dass Menschen mit Behinderungen das Recht haben, eine Staatsangehörigkeit zu erwerben und ihre Staatsangehörigkeit zu wechseln, und dass ihnen diese nicht willkürlich oder aufgrund von Behinderung entzogen wird. Eine Einbürgerung setzt grundsätzlich voraus, dass der Antragsteller über ausreichende Kenntnisse der deutschen Sprache, der Rechts- und Gesellschaftsordnung und der Lebensverhältnisse in Deutschland verfügt ( Abs. 1 Satz 1 Nr. 6, Nr. 7 StAG). Davon macht Abs. 6 StAG eine Ausnahme, wenn der Ausländer diese Voraussetzungen wegen einer körperlichen, geistigen oder seelischen Krankheit oder Behinderung oder altersbedingt nicht erfüllen kann. Rechtsfolgen Die Einbürgerung wird wirksam mit der Aushändigung der von der zuständigen Verwaltungsbehörde ausgefertigten Einbürgerungsurkunde und ist insofern ein mitwirkungsbedürftiger Verwaltungsakt. Vor der Aushändigung ist gem. Satz 2 StAG folgendes feierliches Bekenntnis abzugeben: Eingebürgerte Personen haben alle Rechte und Pflichten als Staatsbürger wie insbesondere das Wahlrecht und die Freizügigkeit innerhalb der Bundesrepublik Deutschland, außerdem erwerben sie die sog. Deutschengrundrechte wie die Versammlungs-, Vereinigungs- und Berufsfreiheit. Als Staatsangehörige eines Mitgliedsstaats der Europäischen Union erlangen sie auch die Unionsbürgerschaft nach AEUV. Statistik Detaillierte Einbürgerungszahlen über die bisherige Staatsangehörigkeit, Familienstand, Alter und Geschlecht sowie Aufenthaltsdauer und den Rechtsgrund der Einbürgerung sind in der Datenbank GENESIS verfügbar. Österreich Die Verleihung der österreichischen Staatsbürgerschaft an Personen, die sie nicht besitzen („Fremde“), ist im Staatsbürgerschaftsgesetz geregelt (§§ 10 bis 24, 2 Nr. 4, 6 Z 2 StBG). Über den entsprechenden Antrag wird durch schriftlichen Bescheid entschieden. „Die Verleihung der Staatsbürgerschaft hat in einem diesem Anlass angemessenen, feierlichen Rahmen zu erfolgen, dem durch das gemeinsame Absingen der Bundeshymne und das sichtbare Vorhandensein der Fahnen der Republik Österreich, des jeweiligen Bundeslandes, und der Europäischen Union Ausdruck verliehen wird“ (§ 21 Z 1 StBG). Schweiz Die Schweiz kennt drei Arten für den Erwerb des Schweizer Bürgerrechts durch behördlichen Beschluss. Sie sind im Bürgerrechtsgesetz (BüG) geregelt. Die Einbürgerungsbewilligung des Bundes erteilt das Staatssekretariat für Migration (SEM) stellt diese der kantonalen Einbürgerungsbehörde zum Entscheid über die Einbürgerung zu. Mit Eintritt der Rechtskraft des kantonalen Einbürgerungsentscheids wird das Gemeinde- und Kantonsbürgerrecht sowie das Schweizer Bürgerrecht erworben (Art. 13, 14 BÜG). Die ordentliche Einbürgerung (Art. 9 ff. BÜG) steht ausländischen Staatsbürgern offen, die mindestens 10 Jahre in der Schweiz gelebt haben, davon drei in den letzten fünf Jahren vor Einreichung des Gesuchs, und eine Niederlassungsbewilligung (Ausweis C) besitzen. Das kantonale Recht kann vorsehen, dass ein Einbürgerungsgesuch den Stimmberechtigten an einer Gemeindeversammlung zum Entscheid vorgelegt wird. Die Verleihung des Ehrenbürgerrechts hat nicht die Wirkungen einer Einbürgerung (Art. 19 BÜG). Die erleichterte Einbürgerung (Art. 20 ff. BÜG) steht unter anderem Personen zu, die mit einem Schweizer Staatsbürger oder einer Schweizer Staatsbürgerin verheiratet sind, außerdem die zur dritten Ausländergeneration gehören und in der Schweiz geboren wurden. Das Gesuch von Personen der dritten Ausländergeneration muss bis zum vollendeten 25. Altersjahr eingereicht werden. Daneben kennt die Schweiz weitere erleichterte Einbürgerungsverfahren, beispielsweise für staatenlose Kinder (Art. 23 BÜG) oder im Fall eines gutgläubig von der betreffenden Person und den kantonalen oder Gemeindebehördenirrtümlich angenommenen Schweizer Bürgerrechts (Art. 22 BÜG). Die Wiedereinbürgerung steht Personen zu, die das Schweizer Bürgerrecht durch Verwirkung, Entlassung oder Verlust des Schweizer Bürgerrechts verloren haben (Art. 26 ff. BÜG). Spanien Siehe Spanische Staatsangehörigkeit Ein ununterbrochener Wohnsitz von 10 Jahren in Spanien berechtigt Ausländer dazu, die spanische Staatsbürgerschaft zu beantragen. Portugal Siehe Portugiesische Staatsangehörigkeit#Erwerb Vereinigte Staaten In den Vereinigten Staaten von Amerika liegt die Zuständigkeit für die Einbürgerung von Bewerbern bei den Citizenship and Immigration Services (USCIS). Der Erwerb der amerikanischen Staatsbürgerschaft kann unter jeder der folgenden Voraussetzungen beantragt werden: Bewerber, die seit mindestens 5 Jahren Inhaber einer Permanent Resident Card sind. Diese Bewerber müssen mindestens 18 Jahre alt sein, innerhalb der letzten fünf Jahre mindestens 30 Monate in den Vereinigten Staaten verbracht haben, mindestens 3 Monate innerhalb des Bundesstaates gelebt haben, Englisch sprechen, Grundkenntnisse der amerikanischen Geschichte und Staatsform besitzen und bestimmte persönliche Voraussetzungen (z. B. Treue zur US-Verfassung) erfüllen. Ehepartner eines US-Bürgers, die seit mindestens 3 Jahren Permanent Residents sind Mitglieder der US-Streitkräfte Minderjährige, die außerhalb der USA geboren sind und außerhalb der USA leben, aber Kinder von US-Staatsbürgern sind.Wenn sie dagegen als Permanent Residents in den USA leben, erhalten Kinder von US-Bürgern – dem Abstammungsprinzip entsprechend – die US-Staatsbürgerschaft per Gesetz, d. h. ohne besonderen Verwaltungsakt und automatisch. Dies gilt auch, wenn die Eltern US-Staatsbürgerschaft per Naturalisation erworben haben; will eine Familie mit minderjährigen Kindern sich naturalisieren lassen, genügt es, wenn lediglich alle mindestens 18-Jährigen Einbürgerungsanträge stellen. Das Einbürgerungsverfahren beginnt mit dem Antrag, zu dem neben dem ausgefüllten Formblatt N-400 Anlagen, eine Liste sämtlicher Auslandsaufenthalte seit Erwerb der Green Card, Passfotos und Gebühren in Höhe von 680 US-Dollar gehören. Bewerber, die dies wünschen, können mit der Einbürgerung auch ihren Namen ändern oder sich z. B. einen Mittelnamen zulegen. Bewerber unter 75 Jahren werden anschließend ins nächstgelegene Field Office der Behörde geladen, um dort ihre Fingerabdrücke nehmen zu lassen. Der nächste Schritt ist ein Interview, zu dem die Bewerber ebenfalls ins Field Office gebeten werden; von Bewerbern unter 75 Jahren sind bei diesem Termin auch ein Englisch- und ein Einbürgerungstest zu absolvieren. Bewerber, über deren Anträge positiv entschieden wird, legen ‒ entweder noch während des Interviewtermins oder an einem späteren Termin – ihren Treueeid auf die Verfassung der Vereinigten Staaten ab, geben ihre Permanent Resident Card ab und nehmen ihre Einbürgerungsurkunde entgegen. Ein Ausscheiden aus der bisherigen Staatsangehörigkeit wird von amerikanischer Seite nicht erwartet. Verkauf von Staatsbürgerschaften Beim sog. Passhandel (engl. Citizenship by Investment Program) wird eine Staatsbürgerschaft gegen eine vorab festgelegte Zahlung oder Investition in dem betreffenden Land erworben, ohne dass bei der Einbürgerung ein echter Bezug zu dem einbürgernden Land besteht, z. B. durch einen vorherigen langfristigen Aufenthalt. Der Erwerb der Staatsangehörigkeit oder zumindest eines Aufenthaltsrechts eines bestimmten Landes wird vielmehr für Zwecke der Steuerflucht missbraucht. Europäische Union Sowohl der Mordanschlag im Jahr 2017 auf die Investigativ-Journalistin Daphne Caruana Galizia, welche die Citizenship by Investment-Programme als Einfallstore für Schwarzgeld sah, als auch ein Bericht einer EU-Kommission brachten solche Käufe von Staatsbürgerschaften in Verruf: Die Praxis sollte einer Prüfung betreffend Geldwäscherei und Korruption unterzogen werden. Zypern Siehe Staatsangehörigkeit auf Zypern#Staatsangehörigkeitsgesetz 1967 Malta Seit 2014 kann man in Malta, für eine Zahlung von 650.000 Euro, zuzüglich des Erwerbs oder der Anmietung einer Immobilie und 150.000 Euro an Investitionen in maltesische Staatsanleihen, die Staatsbürgerschaft erwerben. Die Europäische Kommission erwies sich trotz einer Resolution des Europaparlamentes, die die Praxis der käuflichen Staatsbürgerschaft ausschließt, als hilflos. Bis einschließlich 2020 nahm Malta mehr als 1,4 Milliarden Euro durch den Handel mit maltesischen Staatsbürgerschaften ein und ist das einzige EU-Land, das eine solche Regelung noch anwendet. Am 20. Oktober 2020 beschloss die Europäische Kommission, gegen Malta ein Vertragsverletzungsverfahren vor dem Gerichtshof der Europäischen Union einzuleiten. Die Gewährung der Unionsbürgerschaft als Gegenleistung für vorab festgelegte Zahlungen oder Investitionen ohne wirklichen Bezug zu dem betreffenden Mitgliedstaat sei nicht mit dem in Abs. 3 des Vertrags über die Europäische Union (AEUV) verankerten Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit und dem Konzept der Unionsbürgerschaft gemäß AEUV vereinbar. Weitere Länder Republik Moldau Siehe Moldauische Staatsangehörigkeit#Investoren St. Kitts und Nevis Die Staatsbürgerschaft von St. Kitts und Nevis war bis 2009 für 250.000 Euro zu erwerben. Nach Abschluss eines Abkommens mit der Europäischen Union von 2009, das visafreie Einreise in die Union erlaubt, erhöhte sich der Preis. Nach Recherchen des Spiegel müssen 400.000 Euro für fünf Jahre auf den Inseln investiert werden, um Staatsbürger zu werden. Vanuatu Auch in Vanuatu gibt es seit 2017 ein Einbürgerungsprogramm, mit dem Ausweis kann man visafrei in die EU und Großbritannien einreisen. Im Jahr 2020 wurde etwa 2.200 neue Bürger über dieses Programm eingebürgert. Davon waren ca. 1200 Chinesen, der Rest verteilte sich auf Nigerianer, Russen, Libanesen, Iraner, Libyer, Syrer und Afghanen. Die Gebühren machten 42 % aller Einnahmen der Regierung aus. Zu den Neubürgern zählen: Raees und Ameer Cajee von Africrypt, sie waren im April 2021 mit $3,6 Milliarden in Bitcoin verschwunden Fayiz as-Sarradsch, ehemaliger Premierminister von Libyen, besitzt seit Januar 2020 die Staatsbürgerschaft Alaa Ibrahim, ehemals Gouverneur von Damaskus, im Dezember 2020 abgesetzt Hayyam Garipoğlu, ehemals Besitzer der türkischen Sümerbank, 2013 verurteilt wg. Betrugs Gianluigi Torzi, Hauptverdächtiger im Vatikan Finanzskandal Abdul Rahman Khiti, syrischer Geschäftsmann, zusammen mit seiner Familie Vinay Mishra, indischer Politiker, Verdächtiger im Indiens größtem Rinder- und Kohlen-Schmuggel-Skandal Weblinks Einzelnachweise ! Einwanderungsrecht Besonderes Verwaltungsrecht (Deutschland)
Q841440
136.155835
3173
https://de.wikipedia.org/wiki/Magnesium
Magnesium
Magnesium ist ein chemisches Element mit dem Elementsymbol Mg (Alchemie: ⚩) und der Ordnungszahl 12. Im Periodensystem der Elemente steht es in der zweiten Hauptgruppe bzw. der 2. IUPAC-Gruppe und gehört damit zu den Erdalkalimetallen. Magnesium ist eines der zehn häufigsten Elemente der Erdkruste. Es kommt in zahlreichen Mineralen, im Meerwasser, sowie im Blattgrün der Pflanzen vor. Geschichte Die Herkunft der Elementbezeichnung wird in der Literatur unterschiedlich dargestellt: von altgriechisch in der Bedeutung „Magnetstein“, von Magnisia, einem Gebiet im östlichen Griechenland, von Magnesia, einer Stadt in Kleinasien auf dem Gebiet der heutigen Türkei. Allerdings scheinen alle angegebenen Herleitungen etymologisch wiederum von den Magneten bzw. deren eponymen Heros Magnes herzustammen. Magnesiumverbindungen waren schon Jahrhunderte vor der Herstellung elementaren Magnesiums bekannt und in Gebrauch. Magnesia alba bezeichnete Magnesiumcarbonat, während Magnesia der gebräuchliche Name für Magnesiumoxid war. Der schottische Physiker und Chemiker Joseph Black war der erste, der Magnesiumverbindungen im 18. Jahrhundert systematisch untersuchte. 1755 erkannte er in seinem Werk den Unterschied zwischen Kalk (Calciumcarbonat) und Magnesia alba (Magnesiumcarbonat), die zu dieser Zeit oft verwechselt wurden. Er fasste Magnesia alba als Carbonat eines neuen Elements auf. Deswegen wird Black oft als Entdecker des Magnesiums genannt, obwohl er nie elementares Magnesium darstellte. 1808 gewann Sir Humphry Davy Magnesium durch Elektrolyse angefeuchteten Magnesiumhydroxids mit Hilfe einer Voltaschen Säule – allerdings nicht in reiner Form, sondern als Amalgam, da er mit einer Kathode aus Quecksilber arbeitete. So zeigte er, dass Magnesia das Oxid eines neuen Metalls ist, das er zunächst Magnium nannte. 1828 gelang es dem französischen Chemiker Antoine Bussy durch das Erhitzen von trockenem Magnesiumchlorid mit Kalium als Reduktionsmittel, geringe Mengen von reinem Magnesium darzustellen. 1833 stellte Michael Faraday als erster Magnesium durch die Elektrolyse von geschmolzenem Magnesiumchlorid her. Basierend auf diesen Versuchen arbeitete der deutsche Chemiker Robert Wilhelm Bunsen in den 1840er und 1850er Jahren an Verfahren zur Herstellung von Magnesium durch Elektrolyse von Salzschmelzen mit Hilfe des von ihm entwickelten Bunsenelements. 1852 entwickelte er eine Elektrolysezelle zur Herstellung größerer Mengen von Magnesium aus geschmolzenem, wasserfreien Magnesiumchlorid. Dieses Verfahren ist bis heute zur Gewinnung von Magnesium bevorzugt. Die technische Erzeugung von Magnesium begann 1857 in Frankreich nach einem Verfahren von Henri Etienne Sainte-Claire Deville und Henri Caron. Beim sogenannten Deville-Caron-Prozess wird ein Gemisch aus wasserfreiem Magnesiumchlorid und Calciumfluorid mit Natrium reduziert. In England begann die Firma Johnson Matthey um 1860 mit der Magnesiumherstellung nach einem ähnlichen Verfahren. Aufgrund von Fabrikationsschwierigkeiten blieben diese frühen Unternehmungen allerdings unwirtschaftlich. Vorkommen Magnesium kommt in der Natur wegen seiner Reaktionsfreudigkeit nicht in elementarer Form vor. Als Mineral tritt es überwiegend in Form von Carbonaten, Silicaten, Chloriden und Sulfaten auf. In Form von Dolomit ist ein Magnesiummineral sogar gebirgsbildend, so z. B. in den Dolomiten. Die wichtigsten Mineralien sind Dolomit CaMg(CO3)2, Magnesit (Bitterspat) MgCO3, Olivin (Mg, Fe)2 [SiO4], Enstatit MgSiO3 und Kieserit MgSO4 · H2O. Andere Mineralien sind: Serpentin Mg3[Si2O5] (OH)4 Talk Mg3[Si4O10] (OH)2 Sepiolith Mg4[Si6O15] (OH)2 Schönit K2Mg(SO4)2 · 6 H2O Carnallit KMgCl3 · 6 H2O Spinell MgAl2O4 Im Leitungswasser gelöst, ist Magnesium zusammen mit Calcium für die Wasserhärte verantwortlich. Im Meerwasser ist Magnesium mit einer Massenkonzentration von ungefähr 1,3 kg/m³ enthalten, was einer Stoffmengenkonzentration von 0,054 mol/L entspricht. Damit ist Magnesium nach Natrium das zweithäufigste metallische Element im Meerwasser. Das macht eine ökonomische Gewinnung von Magnesium aus Meerwasser möglich. Gewinnung und Darstellung Die Gewinnung von Magnesium erfolgt vorwiegend über zwei Wege: Durch Schmelzflusselektrolyse von geschmolzenem Magnesiumchlorid in Downs-Zellen: Downs-Zellen bestehen aus großen eisernen Trögen, die von unten beheizt werden. Als Anoden dienen von oben eingelassene Graphitstäbe, die an den Spitzen von einer ringförmigen Kathode umgeben sind. Das metallische Magnesium sammelt sich auf der Salzschmelze und wird abgeschöpft. Das entstehende Chlorgas sammelt sich im oberen Teil der Zelle und wird wieder verwendet zur Herstellung von Magnesiumchlorid aus Magnesiumoxid. Zur Schmelzpunkterniedrigung des Magnesiumchlorids wird der Salzschmelze Calcium- und Natriumchlorid zugesetzt. 75 % der Weltproduktion werden auf diesem Weg erzeugt. Durch thermische Reduktion von Magnesiumoxid Pidgeon-Prozess: In einem Behälter aus Chrom-Nickel-Stahl wird gebrannter Dolomit, Schwerspat und ein Reduktionsmittel wie Ferrosilicium eingefüllt. Anschließend wird evakuiert (Abpumpen des Gases) und auf 1160 °C erhitzt. Das dampfförmige Magnesium kondensiert am wassergekühlten Kopfstutzen außerhalb des Ofens. Das chargenweise gewonnene Magnesium wird durch Vakuumdestillation weiter gereinigt. 88 % der weltweiten Magnesiumproduktion finden in China statt, dort wurden 2020 ca. 886.000 t Magnesiummetall produziert. Danach folgen mit jeweils nur wenigen Prozent Marktanteil Russland, Israel, Kasachstan und Brasilien. Eine große Rolle spielt beim Magnesium auch das Recycling. Alleine in den USA werden ca. 100.000 t Magnesium pro Jahr aus recyceltem Metallschrott gewonnen. Haupteinsatzzweck von metallischem Magnesium ist das Metallgießen bzw. die Herstellung von Aluminiumlegierungen z. B. zur Gewichtsreduktion von teuren Sportautos. Durch die hohe Verfügbarkeit von Magnesium in Meerwasser und magnesiumhaltigen Mineralien gelten die globalen Magnesiumressourcen als praktisch unbegrenzt. Wegen der hohen Abhängigkeit der EU von Magnesium aus China (93 %) ist Magnesium jedoch auf der Liste kritischer Rohstoffe der EU. Die weltweiten Primarerzeugungsmengen von Magnesium können der nachfolgenden Tabelle entnommen werden. Die USA veröffentlichen ihre Erzeugungsmengen aus Gründen der Geschäftsgeheimhaltung nicht. Bei der Produktion von 1 kg Magnesium durch den Pidgeon-Prozess entstehen Treibhausgase mit einem CO2-Äquivalent von etwa 31 kg (zum Vergleich: Für 1 kg Stahl entstehen zwischen 0,5 und 2 kg CO2-Äquivalente). Obwohl Magnesium in mehr als 60 Mineralien enthalten ist, sind nur Dolomit, Magnesit, Brucit, Carnallit, Talk und Olivin von kommerzieller Bedeutung. Das Mg2+-Kation ist das im Meerwasser am zweithäufigsten vorkommende Kation, was Meerwasser und Meersalz zu attraktiven kommerziellen Quellen für Magnesium macht. Um es zu extrahieren, wird Calciumhydroxid zu Meerwasser gegeben, um einen Niederschlag aus Magnesiumhydroxid zu bilden. Magnesiumhydroxid (Brucit) ist wasserunlöslich und kann abfiltriert und mit Salzsäure zu konzentriertem Magnesiumchlorid umgesetzt werden. Aus dem Magnesiumchlorid kann anschließend durch die oben genannte Schmelzflusselektrolyse metallisches Magnesium gewonnen werden. Eigenschaften Das feste, silbrig glänzende Leichtmetall Magnesium ist gut ein Drittel leichter als Aluminium. Reinmagnesium hat eine geringe Festigkeit und Härte. Sein E-Modul liegt bei etwa 45 GPa (Baustahl 210 GPa). An Luft überzieht sich Magnesium mit einer Oxidschicht, die im Gegensatz zu Aluminium nicht vollständig deckend ist. Grund dafür ist, dass das Magnesiumoxid ein geringeres Molvolumen als Magnesium selbst hat (MgO: 10,96 cm3/mol, Mg: 13,96 cm3/mol); s. Pilling-Bedworth-Verhältnis. Dünne Bänder oder Folien lassen sich leicht entzünden. Es verbrennt an der Luft mit einer grellweißen Flamme zu Magnesiumoxid MgO und wenig Magnesiumnitrid Mg3N2. Beide Reaktionen verlaufen stark exotherm. Die Reaktionswärme der Oxidbildung beträgt −592,8 kJ·mol−1, die der Nitridbildung −462,8 kJ·mol−1. Frisch hergestelltes Magnesiumpulver kann sich wie Aluminiumpulver an der Luft bis zur Selbstentzündung erwärmen. Gefährliche Reaktionen sind bei höheren Temperaturen, das heißt besonders bei Schmelzflüssigem zu erwarten. Auch in vielen Oxiden wie Kohlenstoffmonoxid, Stickoxid und Schwefeldioxid verbrennt Magnesium. Mit Wasser reagiert Magnesium unter Bildung von Wasserstoff: Reaktion von Magnesium mit Wasser Dabei bildet sich ein schwer löslicher Überzug aus Magnesiumhydroxid, der die Reaktion weitgehend zum Erliegen bringt (Passivierung). Schon schwache Säuren, wie beispielsweise Ammoniumsalze, genügen um die Hydroxidschicht zu lösen, da sie die Hydroxidionen zu Wasser umsetzen und sich lösliche Salze bilden. Ohne Passivierung verläuft die exotherme Reaktion heftig; je feiner der Magnesiumstaub, desto heftiger. Mit Luft bildet der freigesetzte Wasserstoff leicht ein explosionsfähiges Gemisch (Knallgas). Magnesium reagiert mit Kohlenstoffdioxid exotherm unter Bildung von Magnesiumoxid und Kohlenstoff: Reaktion von Magnesium mit Kohlenstoffdioxid Daher löscht Kohlendioxid Magnesiumbrände nicht, sondern befeuert sie. Gegen Fluorwasserstoffsäure und Basen ist es im Gegensatz zum Aluminium relativ beständig. Grund dafür ist die geringe Löslichkeit des als Überzug gebildeten Magnesiumfluorids (MgF2), die eine weitere Bildung von Mg(OH)3−-Ionen verhindern. Isotope Es sind insgesamt 21 Isotope zwischen 19Mg und 40Mg des Magnesiums bekannt. Von diesen sind drei, die Isotope 24Mg, 25Mg und 26Mg stabil und kommen in der Natur vor. Das Isotop mit dem größeren Anteil an der natürlichen Isotopenzusammensetzung ist 24Mg mit 78,99 %, 25Mg hat einen Anteil von 10,0 % und 26Mg von 11,01 %. Die langlebigsten instabilen Isotope sind 28Mg, das mit einer Halbwertszeit von 20,915 Stunden unter Betazerfall in 28Al übergeht und 27Mg, das mit einer Halbwertszeit von 9,435 Minuten ebenfalls unter Betazerfall zu 27Al zerfällt. Alle anderen Isotope haben nur kurze Halbwertszeiten von Sekunden oder Millisekunden. Verwendung Metallisches Magnesium Magnesiumpulver und -draht wird in Brandsätzen, -bomben und Leuchtmunition, früher auch als Blitzlichtpulver verwendet. Häufig dienen Magnesiumstäbe als Opferanoden, die Teile aus edleren Metallen vor Korrosion schützen. In der Metallurgie findet Magnesium vielseitige Verwendung, z. B. als Reduktionsmittel im Kroll-Prozess zur Gewinnung von Titan, als Reduktionsmittel zur Gewinnung von Uran, Kupfer, Nickel, Chrom und Zirconium, als Bestandteil von Aluminiumlegierungen der Gruppen AlSiMg und AlMg, als Magnesiumgranulat zur Entschwefelung von Eisen und Stahl, als Zuschlagstoff für Kugelgraphitguss Magnesium ist Basis einer Gruppe genormter Leichtlegierungen für den Bau von Luft- und Kraftfahrzeugen (deren Schmelzen benötigen eine Abdeckschicht aus geschmolzenem Magnesiumchlorid zum Schutz vor Luftzutritt und Oxidation, s. Schmelzebehandlung), siehe auch Elektron (Werkstoff). Eine weitere Anwendung sind Fackeln, die unter Wasser brennen. In der organischen Chemie wird es zur Herstellung von Grignard-Verbindungen genutzt. Weil sich Magnesium sehr leicht entzündet, wird es auch als Feuerzeug verwendet, das auch unter widrigen Umständen funktioniert. Die als Fire Starter Kits vertriebenen Magnesiumblöcke werden mit einem Zündstein geliefert, dessen Abrieb sich an der Luft spontan entzündet. Die Prozedur ähnelt der seit der Steinzeit üblichen Methode, ein Feuer mit Feuerstein und Zunder anzuzünden, wobei das Magnesium die Rolle des Zunders übernimmt. Zunächst werden mit einem Messer Späne vom Magnesiumblock abgeschabt und auf oder unter dem eigentlichen Brennmaterial platziert. Anschließend werden durch Schaben am Zündstein (z. B. mit dem Rücken des Messers) Funken möglichst nahe an den Magnesiumspänen erzeugt, um diese zu entzünden. Magnesiumlegierungen Die wichtigste Eigenschaft von Magnesiumlegierungen, die ihnen gegenüber Aluminium und seinen Legierungen zu Bedeutung verholfen hat, ist der mit ihnen mögliche Leichtbau. Mit einer Dichte von rund 1,75 g/cm³ ist der Unterschied zu Aluminiumleichtbau mit einer Dichte um 2,75 g/cm³ deutlich. Hinzu kommt, dass der Schmelzbereich zwischen 430 und 630 °C, also energiesparend niedriger liegt. Die mechanischen Eigenschaften wie Zugfestigkeit und Härte liegen jedoch deutlich niedriger als bei Aluminiumlegierungen. Die geringere Dichte machte Magnesium schon früh für mobile Anwendungen interessant. Die erste Großanwendung fand schon vor dem Ersten Weltkrieg beim Bau des Gerüstes für die starren Zeppelinluftschiffe statt. In Kraftfahrzeugen nutzte man Magnesiumlegierungen zur Herstellung von Gehäuseteilen sowie zur Herstellung von Felgen für Mobile aller Art. Nach 1930 verwendete man Magnesiumlegierungen zunehmend im Flugzeugbau, denn die mit ihnen möglichen Gewichtseinsparungen erlaubten energieeffizientere Flüge wie auch höhere Zuladung. All dies führte zu einem raschen Ausbau der Magnesiumerzeugung in Deutschland (Elektron aus der Chemischen Fabrik Griesheim) und nach 1940 auch in den USA. „Elektron“ wurde unmittelbar nach Produktionsanlauf zum markenrechtlich geschützten Namen für die ersten Magnesiumlegierungen. Andere Verwendungsmöglichkeiten für Magnesiumguss boten sich im Zuge der technischen Entwicklung an, teils kriegsbedingt, teils konstruktiv vorausschauend und zugleich die Legierungen optimierend. Als Werkstoffe auf Magnesiumbasis wurden die Legierungen Mg-Al-, Mg-Mn-, Mg-Si-, Mg-Zn- und schließlich Mg-Al-Zn-Legierungen entwickelt. Die Getriebegehäuse und Motorblock des VW Käfers wurde in Millionenauflage aus einer Mg-Si-Legierung gegossen. Heute werden Magnesiumlegierungen nicht allein unter dem Gesichtspunkt Gewichtsersparnis verwendet, sondern sie zeichnen sich zudem durch hohe Dämpfung aus. Dies führt bei Schwingungsbelastung zu einer Verringerung der Vibration und Geräuschemission. Auch aus diesem Grunde sind Magnesiumlegierungen interessante Werkstoffe im Motorenbau, wie überhaupt im Automobilbau, geworden. So werden nicht nur Teile des Motors aus Magnesiumlegierung hergestellt, sondern zunehmend auch für den Guss von Motorblöcken das Hybridverfahren/Hybridguss angewendet, erstmals in der Großserie im Alfa Romeo 156, später auch bei BMW (siehe hierzu auch BMW N52). Im Druckgießverfahren (siehe auch unter Formguss) lassen sich viele, auch großflächige, dünnwandige Bauteile endabmessungsnah und ohne kostenintensive Nachbearbeitung herstellen, so z. B. Felgen, Profile, Gehäuse, Türen, Motorhauben, Kofferraumdeckel, Handbremshebel und anderes. Nicht nur im Automobilbau, auch im Maschinenbau wird mit Teilen aus Mg-Al-Zn-Legierungen konstruiert. Die Bestrebungen nach Leichtbau führten bereits zu Ende des 20. Jahrhunderts zu Magnesium-Lithium-Legierungen, noch leichteren Legierungen aus Magnesium mit Zusatz von Lithium. Magnesiumwerkstoffe in der Medizin Jüngste Forschungen versprechen ein hohes Entwicklungspotenzial von Magnesiumwerkstoffen als resorbierbares Implantatmaterial (z. B. als Stent) für den menschlichen Körper. Das Korrosionsverhalten ist bei einer Verwendung als zeitlich begrenzt einzusetzendes Implantatmaterial ein entscheidender Vorteil, da es sich nach einer bestimmten Zeit gefahrlos auflösen würde. Damit entfielen Risiken und Kosten einer Operation zur Implantatentnahme. Die Korrosionsrate sowie alle Legierungselemente müssen dabei biologisch verträglich sein. Etablierte Legierungselemente sind Calcium und Zink, Selte Erden und Silber werden jedoch auch untersucht. Physiologie Magnesium gehört zu den essentiellen Stoffen und ist daher für alle Organismen unentbehrlich. Im Blattgrün der Pflanzen, dem Chlorophyll, ist Magnesium zu etwa 2 % enthalten. Dort bildet es das Zentralatom des Chlorophylls. Bei Magnesiummangel vergeilen Pflanzen ebenso wie auch bei Lichtmangel. Auch dem menschlichen Körper muss Magnesium täglich in ausreichender Menge zugeführt werden, um Magnesiummangel vorzubeugen. Der Körper eines Erwachsenen enthält etwa 20 g Magnesium (zum Vergleich: 1000 g Calcium). Im Blutplasma ist das Magnesium zu 40 % an Proteine gebunden; der normale Serumspiegel beträgt 0,8–1,1 mmol/l. Magnesium ist an circa 300 Enzymreaktionen als Enzymbestandteil oder Coenzym beteiligt. Zudem beeinflussen freie Mg-Ionen das Potential an den Zellmembranen und fungieren als second messenger im Immunsystem. Sie stabilisieren das Ruhepotential von erregbaren Muskel- und Nervenzellen und der Zellen des autonomen Nervensystems. Magnesiummangel löst Ruhelosigkeit, Nervosität, Reizbarkeit, Konzentrationsmangel, Müdigkeit, allgemeines Schwächegefühl, Kopfschmerzen, Herzrhythmusstörungen und Muskelkrämpfe aus. Es kann auch zum Herzinfarkt kommen. Im Bereich Stoffwechsel und Psyche wird vermutet, dass Magnesiummangel Depression und schizophrene Psychosen verstärkt. Ein Magnesiumüberschuss im Blut kann durch exzessive Zufuhr und Nierenfunktionsstörungen auftreten und führt zu Störungen im Nervensystem und Herz. Die Magnesiumresorption findet zuerst im oberen Dünndarm statt, aber auch im übrigen Verdauungstrakt. Es wird über die Nieren ausgeschieden und ist in unterschiedlichen Mengen in allen Nahrungsmitteln sowie im Trinkwasser enthalten. Die erforderliche Tagesdosis von circa 300 mg wird in der Regel durch eine ausgewogene Ernährung erreicht. Ein erhöhter Bedarf kann über Nahrungsergänzungsmittel oder Medikamente gedeckt werden. Leichter Magnesiummangel ist durch schwere Erkrankung, Schwangerschaft oder Leistungssport möglich. Schwere Mangelzustände treten bei Nierenfunktionsstörungen, langandauerndem Durchfall, chronischen Darmentzündungen, schlecht eingestelltem Diabetes mellitus, Kortikoiden, bestimmten Diuretika oder Alkoholismus mit Fehlernährung auf. Magnesiumsalze wie etwa Citrat, Gluconat, Aspartat und Aspartathydrochlorid sind in Deutschland als Arzneimittel in Tagesdosen von 100 mg bis 400 mg zugelassen gegen Mangelzustände und neuromuskuläre Störungen, wie z. B. Muskelkrämpfe, Migräne oder Schwangerschaftskomplikationen. Nebenwirkungen sind Magen-Darm-Beschwerden und Durchfall, bei Überdosierung auch Müdigkeit und verlangsamter Puls. Kontraindikationen sind Nierenfunktionsstörung sowie bestimmte Herzrhythmusstörungen. Bei oraler Aufnahme von Magnesiumpräparaten (Tabletten, Kau- oder Lutschtabletten, Granulat zum Auflösen in Flüssigkeit) ist die Dosierung wichtig. Verschiedene Studien kommen zu dem Ergebnis, dass bei einer Einnahme von 120 mg circa 35 % (42 mg) resorbiert werden, jedoch bei Einnahme einer kompletten Tagesdosis von 360 mg nur noch circa 18 % (65 mg). Für die Resorption im Körper ist die Art der heute in Medikamenten gebräuchlichen Magnesiumverbindungen unerheblich, denn sie sind sowohl pharmakologisch wie auch biologisch und klinisch äquivalent; organische Magnesiumsalze wie etwa Magnesiumaspartat oder Magnesiumcitrat werden lediglich schneller vom Körper aufgenommen als anorganische Magnesiumsalze. Außerdem verbleibt das zusätzliche Magnesium nur dann nutzbringend im Körper, wenn genug bindende Moleküle im Körper zur Verfügung stehen; dies geschieht durch biochemische Anpassungen erst nach längerer Erhöhung des Magnesiumangebots bzw. nach Einnahme über wenigstens vier Wochen. Magnesiumsulfat („Bittersalz“) war früher als Abführmittel gebräuchlich und wird zur Behandlung von Herzrhythmusstörungen eingesetzt. Magnesiumsalze finden in der Alternativmedizin Verwendung. Lebensmittel Magnesium dient etwa 300 verschiedenen Proteinen als Cofaktor, vor allem bei ATP- und Nukleinsäure-bindenden Enzymen. Die empfohlene tägliche Zufuhr von Magnesium beträgt beim Menschen je nach Alter und Geschlecht zwischen 24 und 400 mg pro Tag. Magnesium kommt als Verbindung in vielen Lebensmitteln vor, insbesondere in Vollkornprodukten (zum Beispiel Vollkornbrot, Vollkorn-Nudeln, Vollkorn-Reis, Haferflocken, Cornflakes), Mineralwasser, insbesondere Heilwasser, Leitungswasser ausreichender Wasserhärte, Leber, Geflügel, Speisefisch, Kürbiskernen, Sonnenblumenkernen, Schokolade, Cashewnüssen, Erdnüssen, Kartoffeln, Spinat, Kohlrabi, Beerenobst, Orangen, Bananen, Sesam, Zuckerrübensirup, Milch und Milchprodukten. Gefahren und Schutzmaßnahmen Die Gefährlichkeit von elementarem Magnesium hängt stark von der Temperatur und der Teilchengröße ab: kompaktes Magnesium ist bei Temperaturen unterhalb des Schmelzpunktes ungefährlich, während Magnesiumspäne und -pulver leichtentzündlich sind. Bedingt durch die große Oberfläche können letztere leicht mit dem Sauerstoff der Luft reagieren. Bei sehr feinem Magnesiumpulver besteht die Gefahr der Selbstentzündung; Luft-Pulver-Gemische sind sogar explosionsgefährlich. Phlegmatisierung ist eine die Gefahr herabsetzende Behandlung bei der Verarbeitung von Magnesium-, wie Metallpulvern überhaupt. Geschmolzenes Magnesium entzündet sich ebenfalls von selbst an der Luft. Auch mit vielen anderen Stoffen, beispielsweise Wasser und anderen sauerstoffhaltigen Verbindungen, reagiert feinkörniges oder erhitztes Magnesium. Magnesiumschmelzen bedürfen daher einer permanenten Sicherung gegen Zutritt von Luftsauerstoff. In der Praxis erfolgt dies durch Abdeckung der Schmelze mittels magnesiumchloridreicher Mittel. Schwefelhexafluorid ist ebenfalls als Oxidationsschutz geeignet. Das früher übliche Abdecken mit elementarem Schwefel wird wegen der starken Belästigung durch entstehendes Schwefeldioxid nicht mehr praktiziert. Bei Magnesiumbränden treten Temperaturen bis zu etwa 3000 °C auf. Keinesfalls dürfen gängige Löschmittel wie Wasser, Kohlenstoffdioxid, Schaum oder Stickstoff verwendet werden, da Magnesium heftig mit diesen reagiert. Bei Zutritt von Wasser zu einem Magnesiumbrand besteht die akute Gefahr einer Knallgasreaktion. Für den Brand (Metallbrände) einer Schmelze gilt das Löschprinzip des Erstickens, also die rasche Sauerstoffverdrängung. Im einfachsten Fall durch Abdecken mit trockenem Sand, sonst mittels Aufbringung eines Abdecksalzes für Magnesiumschmelzen. Weiter geeignet sind Löschpulver der Brandklasse D, Magnesiumoxid-Pulver (Magnesia usta/gebrannte Magnesia), notfalls auch trockene rostfreie Graugussspäne. Bei der Verwendung von Magnesium sind insofern alle gegebenen Sicherheitshinweise genau zu befolgen. Es darf unter keinen Umständen eine explosive Atmosphäre (Magnesiumstaub, Wasserstoff, Aerosole und Dämpfe brennbarer Kühlschmierstoffe) entstehen. Auch die normalen Arbeitsschutzmaßnahmen, wie die Vermeidung von Zündquellen, müssen beachtet werden. Nachweis Fast alle Magnesiumnachweise werden durch andere Elemente gestört, weshalb Magnesium von anderen Ionen abgetrennt werden muss. Im Kationentrennungsgang findet sich Magnesium in der löslichen Gruppe wieder. Führt man den Trennungsgang vollständig durch, so sind nur noch, falls überhaupt, Ammonium –, Natrium –, Kalium –, Lithium – und Magnesiumionen vorhanden. Nach dem Entfernen von Ammoniumionen durch Abrauchen der festen Substanz über offener Flamme, kann man Magnesium als schwer lösliches Hydroxid von den Alkalimetallen abtrennen. Magnesium kann man zum einen durch die Bildung schwerlöslicher Verbindungen nachweisen: Versetzt man eine Magnesiumionenlösung mit Carbonat-Ionen, so fällt ein basisches Magnesiumcarbonat wechselnder Zusammensetzung aus, das sich in Säuren oder Ammoniumchlorid wieder auflöst. In Anwesenheit von Ammoniumsalzen erfolgt keine Fällung. Gibt man zu Magnesiumionen Quecksilber(II)-oxid, so bildet sich in schwach ammoniakalischer Lösung das schwer lösliche Magnesiumhydroxid. Diese Fällungsreaktion eignet sich gut zur Abtrennung von den Alkalimetallen. Durch Hinzufügen von Natriumhydrogenphosphat zu einer ammoniakalischen, Ammoniumchlorid – gepufferten Magnesiumionenlösung, so kann weißes Magnesiumammoniumphosphat gefällt werden. Da viele andere Kationen, wie Lithium –, Mangan – oder Zinkionen in ammoniakalischer Lösung ebenfalls Fällungen mit Phosphat ergeben, müssen sie vorher abgetrennt werden. Zum anderen kann man Magnesium mittels organischer Reagenzien nachweisen: Magnesiumionen bilden in ammoniakalischer Lösung mit Oxin einen schwer löslichen grünlich-gelben Chelatkomplex. Diese Fällung eignet sich besonders gut zur Abtrennung des Magnesiums von Alkali-Ionen. Allerdings bilden auch viele Schwermetalle einen schwer löslichen Niederschlag und müssen vorher abgetrennt werden. Mit Magneson II ergeben Magnesiumionen in stark alkalischer Lösung einen kornblumenblauen Farblack. Auch hier stören zahlreiche Schwermetalle sowie Aluminium –, Calcium – und Berylliumionen und müssen vorher abgetrennt werden. Mit alkalischer Chinalizarin-Lösung bildet Magnesium einen blauen Farblack. Der Nachweis wird von Alkali –, Erdalkali – und Aluminiumionen gestört. In alkalischer Lösung entsteht aus Titangelb und Mangesiumionen ein hellroter Farblack. Cobalt –, Mangan –, Nickel – und Zinkionen stören und müssen vorher als Sulfide gefällt und mit Cyanid-Ionen maskiert werden. Verbindungen In Verbindungen kommt Magnesium fast ausschließlich als zweiwertiges Kation mit dem Oxidationszustand 2 vor. Oxide und Hydroxide Magnesiumoxid (Magnesia) bildet farblose Kristalle in der Natriumchlorid-Struktur. In der Natur kommt es als vulkanisches Mineral Periklas vor. Es sind weiße bis graue, durch Einschlüsse auch dunkelgrüne, glasglänzende reguläre Kristalle. Magnesiapulver wird Lebensmitteln als Säureregulator oder Trennmittel zugesetzt. Aus Magnesiumoxid-Keramik werden verschiedene hitzebeständige Gegenstände für Labors und Industrie hergestellt. Magnesiumhydroxid ist ein farbloses, stark basisches Salz und kommt in der Natur als Mineral Brucit vor. Es hat eine trigonale Kristallstruktur in der und wird als Speiseölzusatz (zum Abbinden von Schwefeldioxid), als Flockungsmittel für die Abwasseraufbereitung, als Flammschutzmittel in thermoplastischen Kunststoffen (Polyolefinen, Polyvinylchlorid) und Elastomeren sowie als Zusatzstoff in Reinigungsmitteln verwendet. In der Medizin kommt es als Antazidum zur Neutralisierung der Magensäure und als mildes Abführmittel zum Einsatz. Magnesiumperoxid ist eine feinpulvrige, farblose Verbindung, die eine Pyrit-Kristallstruktur in der . Es ähnelt Calciumperoxid und setzt durch kontrollierte Reaktion mit wässrigen Lösungen Sauerstoff frei. Es hat verschiedene Anwendungen in der Landwirtschaft, Pharmazie und Kosmetik. Düngemittel Bei der Kalkung von Acker- und Grünlandflächen kommt Magnesium in Form von Magnesiumoxid oder Magnesiumcarbonat zum Einsatz, um den Magnesiumentzug des Bodens durch die Pflanzen wieder auszugleichen. Weiterhin wird der Boden-pH-Wert angehoben und die Verfügbarkeit weiterer Nährstoffe verbessert. Hierbei wird die Magnesiumverbindung meist zusammen mit Kalk als magnesium- und calciumhaltiger Mehrnährstoffdünger angewendet. Auch das natürlich als Bobierrit vorkommende Magnesiumphosphat Mg3(PO4)2 (Trimagnesiumphosphat) sowie Magnesiumnitrat werden als Mehrnährstoffdünger verwendet. Halogenide Magnesiumchlorid ist stark hygroskopisch und kommt in der Natur im Mineral Bischofit (MgCl2 · 6 H2O), als Doppelsalz Carnallit (KMgCl3 · 6 H2O), im Meerwasser und in Salzseen vor. Es kristallisiert im trigonal in der Raumgruppe (Nr. 166). In der Lebensmitteltechnik wird es als Säureregulator, Festigungsmittel, Geschmacksverstärker, Trägerstoff oder Trennmittel eingesetzt. Magnesiumchlorid-Hexahydrat kann als thermische Batterie Wärmeenergie speichern und wieder abgeben. Magnesiumfluorid bildet farblose Kristalle, die tetragonal in der Rutilstruktur (Raumgruppe: , Nr. 136) kristallisieren. Seine optischen Eigenschaften machen es zusammen mit seiner chemischen Stabilität zu einem wichtigen Werkstoff für optische Anwendungen. Anders als andere Halogenide des Magnesiums ist es nur äußerst schwer in Wasser löslich. Magnesiumbromid und Magnesiumiodid sind ebenfalls hygroskopische Salze, die eine trigonale Kristallstruktur in der Raumgruppe (Nr. 164) aufweisen. Weitere anorganische Verbindungen Magnesiumcarbonat kommt in der Natur in großen Mengen als Magnesit (Bitterspat) vor. Es kristallisiert trigonal in der . In der Lebensmittelindustrie wird es als Säureregulator, Trägerstoff oder Trennmittel zugesetzt. Es wird beim Klettern und Turnen eingesetzt und ist auch unter den Namen Magnesia und Chalk bekannt. Die Athleten trocknen sich dann darin vor dem Übungsbeginn die Handinnenflächen, damit ihre Haut beim Umfassen der Holme von Barren oder der Eisenstangen von Reck oder Langhantel nicht zu stark haftet. Außerdem hat es medizinische und industrielle Anwendungen. Magnesiumnitrat ist ein farbloses, hygroskopisches Salz, das gut löslich in Wasser ist. Das Hexahydrat (Mg(NO3)2 · 6 H2O) besitzt eine monokline Kristallstruktur mit der . Es wird als Dünger, Latentwärmespeicher (als Hexahydrat) oder in der Keramikindustrie eingesetzt. Magnesiumsulfat-Heptahydrat (Mg(SO4) · 7 H2O) ist bekannt als Mineral Epsomit (Bittersalz). Es bildet farblose Kristalle, die ein rhombisch pseudotetragonales Kristallgitter ausbilden. Die Kristalle blühen oft in faserigen Aggregaten aus und bilden Stalaktiten. Es wird für Düngemittel, als Trocknungsmittel und für medizinische Anwendung verwendet. Magnesiumphosphate (Magnesiumdihydrogenphosphat (Mg(H2PO4)2), Magnesiumhydrogenphosphat (MgHPO4) und Magnesiumphosphat (Mg3(PO4)2)) werden in der Industrie als keramischer Rohstoff und als Flammschutzmittel verwendet. In der Lebensmittelindustrie werden sie als Futtermittelzusatz, Abführmittel und Lebensmittelzusatz eingesetzt. Lebensmitteln werden sie als Säureregulator oder Trennmittel zugesetzt. Spinell ist ein häufig vorkommendes Mineral aus der Mineralklasse der Oxide und Hydroxide mit der idealisierten chemischen Zusammensetzung MgAl2O4 und ist damit chemisch gesehen ein Magnesium-Aluminat. Es kristallisiert isotyp mit Magnetit im kubischen Kristallsystem in der . Dolomit ist ein sehr häufig vorkommendes Mineral aus der Mineralklasse der Carbonate und Nitrate mit der chemischen Zusammensetzung CaMg[CO3]2 und ist damit chemisch gesehen ein Calcium-Magnesium-Carbonat. Es kristallisiert im trigonalen Kristallsystem in der . Magnesiumhydrid kann als Wasserstoff- und Energiespeicher eingesetzt werden. Durch Wasserstoff, der aus Magnesiumhydrid freigesetzt wird, kann ein Metallschaum mit interessanten Eigenschaften, der leichter als Wasser ist, erzeugt werden. Weitere interessante kristalline Magnesiumverbindungen sind zum Beispiel Magnesiumdiborid, Magnesiumcarbid, Magnesiumnitrid, Magnesiumsulfid, Magnesiumsilicid, Magnesiumgermanid, Magnesiummetasilicat, Magnesiumtitanoxid und Magnesiumpolonid. Magnesiumorganyle Magnesiumorganyle sind metallorganische Verbindungen, in denen eine Bindung zwischen Magnesium und Kohlenstoff existiert. Unter den Magnesiumorganylen kommt Grignard-Verbindungen (R-Mg-X) die weitaus größte Bedeutung zu. Eine deutlich untergeordnete Rolle spielen binäre Magnesiumorganyle sowie Alkenylmagnesiumhalogenide. Organylmagnesiumhalogenide Organylmagnesiumhalogenide (meist Grignard-Verbindung genannt) werden im Direktverfahren durch die Reaktion von Organylhalogeniden mit Magnesiumspänen gewonnen. Grignard-Verbindungen stehen in Lösung im Schlenk-Gleichgewicht. Sie reagieren unter Halogen-Organyl-Substitution zu Elementorganylen: Allgemein: z. B. : oder unter Addition von Organylen mit Mehrfachbindungssystemen: Allgemein: z. B.: Binäre Magnesiumorganyle Binäre Magnesiumorganyle (R2Mg, auch Magnesium-diorganyle genannt) können auf verschiedene Art erzeugt werden: durch Transmetallierung, beispielsweise von Quecksilberdiorganylen: durch Dismutation bei der Verschiebung des Schlenk-Gleichgewichtes mit Hilfe von 1,4-Dioxan: Auch Magnesacyclen (cyklische Alkane mit einem Magnesium im Ring) sind mit Hilfe von 1,4-Dioxan darstellbar. durch Metathese von Grignard-Verbindungen mit Lithium-Organylen durch Hydromagnesierung (Addition von MgH2 an 1-Alkene): durch die Anlagerung von elementarem Magnesium an C=C-Doppelbindungen bei einigen ungesättigten Kohlenwasserstoffen wie 1,3-Butadien oder Anthracen (Metalladdition). Möglich ist beispielsweise die Reaktion von 1,3-Butadien in Tetrahydrofuran bei Raumtemperatur: Das erzeugte Magnesium-Butadien, auch (2-Buten-1,4-diyl)magnesium genannt, kann als Quelle für Butadien-Anionen in weiteren Synthesen dienen. Analog dazu wird das orangegelbe Magnesiumanthracen dargestellt. Magnesiumanthracen kann anschließend als Katalysator für Hydrierung von Magnesium benutzt werden. Alkenylmagnesiumhalogenide Alkine reagieren im Rahmen der sogenannten Carbomagnesierung mit Alkinen zu Alkenylmagnesiumhalogeniden: Weitere organische Verbindungen Magnesiumhydrogencitrat und Trimagnesiumdicitrat sind Magnesiumsalze der Citronensäure. Magnesiumcitrat wird als Arzneimittel eingesetzt. Magnesiummonoperoxyphthalat ist ein Desinfektionsmittel zur Flächendesinfektion. Magnesiumstearat ist das Magnesiumsalz der Stearinsäure und gehört zu den Kalkseifen. Es besteht aus einem Magnesium-Ion und zwei langkettigen Stearat-Ionen. Weblinks Verbrennung von Magnesium (engl.) Einzelnachweise Coenzym Hexagonales Kristallsystem Metallischer Werkstoff Leichtmetall
Q660
757.705461
73278
https://de.wikipedia.org/wiki/Bra%C8%99ov
Brașov
Brașov ([]; ; , , historisch – als Stadt im Land der Stephanskrone – auch Stephanopolis sowie Cronstadt, Corona und Krunen, von 1950 bis 1960 nach Josef Stalin Orașul Stalin „Stalinstadt“) ist eine Großstadt in Rumänien mit etwa 250.000 Einwohnern. Historisch war sie eines der Zentren der Siebenbürger Sachsen und die wirtschaftlich stärkste Stadt Siebenbürgens. Namen Corona, Kronstadt Laut Orbán Balázs wird der Name Corona – das lateinische Wort für „Krone“ – erstmals 1235 im Catalogus Ninivensis erwähnt, mit der Anmerkung, dass auf dem Gebiet der römisch-katholischen Diözese von Kumanien ein Klosterviertel existiert. Anderen Vermutungen zufolge leitet sich der Name von einem alten Wappen der Stadt ab. Die beiden Stadtnamen Kronstadt und Corona wurden im Mittelalter zusammen mit dem mittellateinischen Brassovia gleichzeitig verwendet. Brassovia, Brassó, Brașov Nach Dragoș Moldovanu stammt Brașov von dem Namen des in einer Urkunde von 1211 erwähnten Flusses Bârsa, dessen Name von eingewanderten Slawen zu „Brasov“ umgewandelt wurde. Laut Pál Binder leitet sich der ungarische Name Brassó ([ˈbrɒʃʃoː]) vom türkischen Wort „barasu“ („weißes Wasser“) ab, woran das slawische Suffix -ov gehängt wurde. Andere Linguisten schlugen Etymologien wie das altslawische Anthroponym „Brasa“ vor. Die erste beglaubigte Erwähnung dieses Namens befindet sich in einem 1252 von Béla IV. von Ungarn ausgestellten Dokument der Terra Saxonum de Barasu („Sächsisches Land von Baras“). Stephanopolis, Orașul Stalin Ein weiterer historischer Name ist Stephanopolis, der sich von dem griechischen Wort „stephanos“ („Krone“) und „polis“ („Stadt“) ableitet. Von 1950 bis 1960 hieß die Stadt Orașul Stalin (Stalinstadt), benannt nach dem sowjetischen Politiker Joseph Stalin. Geographische Lage Die „Stadt unter der Zinne“ liegt im gleichnamigen Kreis im Burzenland im Südosten Siebenbürgens, Rumänien. Im Süden und Osten ist die Stadt von den Karpaten umgeben. Die nächstgelegenen größeren Nachbarorte sind (im Uhrzeigersinn, im Norden beginnend) Sfântu Gheorghe, Ploiești, Târgoviște, Pitești, Hermannstadt und Mediaș. Geschichte Kronstadt wurde von den Ritterbrüdern des Deutschen Ordens im frühen 13. Jahrhundert als südöstlichste deutsche Stadt in Siebenbürgen unter dem Namen Corona gegründet (später auch Krunen genannt). 1225 mussten die Deutschordensritter ihre Komturei Kronstadt verlassen und ließen sich im Baltikum nieder. Kronstadt war über Jahrhunderte neben Hermannstadt das kulturelle, geistige, religiöse und wirtschaftliche Zentrum der Siebenbürger Sachsen, die seit dem 12. Jahrhundert auf Einladung des ungarischen Königs in der Region siedelten und bis ins 19. Jahrhundert hinein die Mehrheit der Stadtbevölkerung bildeten. Im 13. Jahrhundert fielen die Mongolen und seit dem 14. Jahrhundert immer wieder Türken in die Stadt ein. Um 1500 hatte Kronstadt etwa 10.000 bis 12.000 Bewohner und war die größte Stadt Siebenbürgens, die ihren Reichtum und damit auch ihre Selbständigkeit dem Handel verdankte. Nebst den Sachsen lebten auch Ungarn, Rumänen, Roma, Armenier und Griechen hier. Die Schwarze Kirche, die gotische Stadtpfarrkirche, war die größte südöstlich von Wien. Mit vielen Schulen war die Stadt ein wichtiges Zentrum des siebenbürgisch-sächsischen Humanismus. Ab 1523 kamen erste evangelische Schriften von Martin Luther und Philipp Melanchton in die Stadt. Der bekannteste Humanist Kronstadts war der Schulmann und spätere Kirchenreformator Johannes Honterus (1498–1549), der zuerst Philologe, Pädagoge, Geograph und Buchdrucker war. Nach seiner Ausbildung in Wien und weiteren Stationen kehrte er 1533 als Anhänger des Basler Reformators Johannes Oekolampad zurück. Er reformierte das Schulwesen, um humanistische Bildungsziele zu erreichen. Er eröffnete eine Druckerei und gab zahlreiche Schriften heraus. 1542 konnte die seit 1541 als autonomes Fürstentum unter türkischer Oberhoheit stehende Stadt und das Umland dank dem neuen Stadtrichter Johannes Fuchs (Nachfolger von Lukas Hirscher) für die Reformation gewonnen werden. 1543 gab Honterus die Bekenntnisschrift „Reformationsbüchlein für Kronstadt und das Burzenland“ heraus, worin er sich an die Reformationsordnung Nürnbergs anlehnte, das er 1529 besucht hatte. Damit galt die Reformation der Kronstädter Stadtbevölkerung als vollzogen und es folgten bald weitere Städte. Ebenfalls 1543 gründete Honterus (nach Vorbildern in Nürnberg und Basel) das die alte Lateinschule erneuernde Studium Coronense als humanistisches Gymnasium, worauf sich das spätere Honterusgymnasium gründet. 1544 wurde er Stadtpfarrer, und die Reformation lutherischer Ausprägung konnte sich weiter durchsetzen. 1550 wurde die „Kirchenordnung aller Deutschen in Siebenbürgen“ von der Universität für die deutschen sächsischen Siedlungen verbindlich erklärt. 1560 wurde andere Bekenntnisse als die lutherische Konfession verboten. Noch bis ins 17. Jahrhundert hinein waren Stadt und Region durch ihre Lage an der Grenze zum osmanischen Machtbereich immer wieder bedroht. Kronstadt und seine Umgebung gehörten zum Königreich Ungarn, zum Fürstentum Siebenbürgen bzw. zur Habsburgermonarchie, bis sie nach dem Vertrag von Trianon von 1920 an Rumänien abgetreten werden musste. In der Zeit von 1950 bis 1960 wurde die Stadt im Gefolge des Personenkults um Stalin in Orașul Stalin (Stalinstadt) umbenannt. Die neue Stadtbezeichnung nahm in der DDR der Verlag Volk und Wissen in seinen Schulatlas auf (hier Ausgabe 1960), die deutsche Bezeichnung Kronstadt jedoch nicht, obwohl bei Klausenburg und Hermannstadt die deutschen Bezeichnungen mit angegeben sind. Das Denkmal Stalins stand auf dem Platz vor dem Gebäude Bulevardul Eroilor 5. Bereits 1987, zwei Jahre vor der Rumänischen Revolution 1989, gehörte Brașov zu den ersten Städten Rumäniens, in denen sich Arbeiter im Aufstand von Brașov gegen die Ceaușescu-Diktatur erhoben. Von den etwa 300 inhaftierten Teilnehmern dieses Aufstands wurden 61 Männer für sechs Monate bis zu drei Jahren in unterschiedliche Städte des Landes wie Filiași, Târgoviște, Brăila oder Bârlad umgesiedelt. Auch deren Ehefrauen waren unterschiedlichen Schikanen ausgesetzt. 1996 ernannte die Stadt etwa 50 Todesopfer der Revolution von 1989 zu Ehrenbürgern der Stadt. 2017 wurde Brașov der Ehrentitel „Reformationsstadt Europas“ durch die Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa verliehen. Bevölkerung Um 1500 hatte Kronstadt etwa 11.000 Einwohner und war die bevölkerungsreichste, wirtschaftlich mächtigste und somit bedeutendste Stadt Siebenbürgens. Bis in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts waren die Deutschen (Siebenbürger Sachsen) die zahlreichste Volksgruppe in Kronstadt. Bei der österreichischen Volkszählung von 1850 wurden 21.782 Einwohner gezählt, davon 8.874 Deutsche (Siebenbürger Sachsen; 40,8 %), 8.727 Rumänen (40 %) und 2.939 Magyaren (13,4 %). Im Jahr 1880 lebten in Brașov 29.584 Einwohner, die etwa je zu einem Drittel Deutsche, Magyaren und Rumänen waren. Bis in die Zeit zwischen den beiden Weltkriegen weisen die Volkszählungen eine leichte zahlenmäßige Dominanz der Magyaren aus. 1941 wurde mit 16.210 die größte absolute Zahl der Deutschen registriert; wegen der stärkeren Zunahme insbesondere der rumänischen Bevölkerung betrug der Anteil der Deutschen jedoch nur noch 19 %. In den ersten Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg lebten noch etwa 10.000 Deutsche in der Stadt. Seit den 1970er Jahren nahm ihre Zahl durch Auswanderung nach Deutschland kontinuierlich ab und liegt heute unter 2.000. Die Gesamtbevölkerung von Brașov stieg bis auf 324.000 im Jahr 1992 und ist seitdem rückläufig. Zur Volkszählung 2002 wurden noch etwa 285.000 Bewohner registriert, darunter 258.000 Rumänen, 23.200 Magyaren, 1.700 Deutsche, 800 Roma und je 100 Juden und Russen bzw. Lipowaner. Bei der Volkszählung 2011 bekannten sich von den 253.200 registrierten Menschen, 219.019 als Rumänen, 16.551 als Magyaren, 1.188 als Deutsche, 845 als Roma, je 75 als Lipowaner und Italiener, 70 als Juden, 69 Griechen, 65 als Türken und noch einige andere Ethnien. In einer Statistik von 2022 der Direcția Generală de Asistență Socială și Protecția Copilului (DGASPC) Brașov („Generaldirektion für Sozialhilfe und Kinderschutz“) wurden laut einem Bericht von 2020 492 obdachlose Minderjährige in Brașov gezählt, und für 31 von ihnen wurde eine Sondermaßnahme eingeleitet. 2021 waren es fast 600 Straßenkinder und Mitte 2022 waren es 214, von denen 42 eine besondere Schutzmaßnahme erhielten. Politik Dem Lokalrat von Brașov gehören 27 Mitglieder an. Bürgermeister ist Allen Coliban. Politische Interessenvertretung der deutschsprachigen Minderheit ist das Demokratische Forum der Deutschen im Kreis Kronstadt. Städtepartnerschaften Angaben der offiziellen Homepage von Brașov: Wappen Sehenswürdigkeiten Historische Bauwerke Bedeutendes geschichtliches Bauwerk und markantes Wahrzeichen der Stadt ist die 1477 gebaute evangelische Schwarze Kirche () mit ihrer Buchholz-Orgel. Weitere Sakralbauten sind die 1858 gebaute orthodoxe Kathedrale und die Kirche des Nikolaus von Myra (), die 1292 errichtet und 1495 aus Stein neu gebaut wurde, sowie die Neologe Synagoge und die Orthodoxe Synagoge. Das alte Rathaus am Rathausplatz gilt als weiteres markantes Zeichen der Stadt. Die St. Bartholomäus-Kirche aus dem 13. Jahrhundert ist das älteste Bauwerk der Stadt. Die historische Altstadt ist geprägt von spätmittelalterlichen Bürgerhäusern (so zum Beispiel das Hirscherhaus am Rathausplatz) und großzügigen, stilvollen Bauten des 19. Jahrhunderts. Sehenswert sind auch die mittelalterlichen Stadtbefestigungen, darunter das Katharinentor aus dem Jahr 1559, die Weberbastei, der Weiße Turm und der Schwarze Turm. Alle sind heute restauriert und als Museum zugänglich. Das Museum Erste rumänische Schule () stellt u. a. das erste Buch aus, das in rumänischer Sprache gedruckt wurde. Nicht weit von Brașov entfernt befindet sich das Schloss Bran. Moderne Bauwerke In der Nähe von Brașov bei Bod (Brenndorf) betreibt der rumänische Rundfunk den Langwellensender Bod auf der Frequenz 153 kHz mit einer Sendeleistung von 1.200 Kilowatt. Kunst und Kultur Staatsoper Brașov Die Rumänische Staatsoper Brașov gehört nach der Opera Națională București zu den führenden Opernensembles des Landes. Sie wurde erst 1953 gegründet. Aber sie setzt eine lange musikalische Tradition fort, denn schon 1794 wurde eine opera-buffa-Truppe in Brașov nachgewiesen. Cristian Mihăilescu, Regisseur und ehemals Solist der Opera Națională București, leitet die Staatsoper. Er wurde 1998 zur Musikerpersönlichkeit des Jahres gewählt. Schauspielhaus Philharmonisches Orchester Deutsches Kulturzentrum Kronstadt Wirtschaft Nach dem Zweiten Weltkrieg ging der Traktorenhersteller Uzina Tractorul Brașov aus dem seit 1925 bestehenden Flugzeugwerk Întreprinderea Aeronautică Română hervor. 2007 wurde das Unternehmen liquidiert. Im Jahr 1921 wurde das ROMLOC-Werk als Schienenfahrzeughersteller gegründet, im Zweiten Weltkrieg wurden dort Waffen und Munition hergestellt. Nach verschiedenen Umbenennungen wurden ab 1954 Lastwagen produziert, zunächst Kopien von sowjetischen Fahrzeugen. 1969 wurde eine Lizenz zur Produktion von MAN-Fahrzeugen erworben. Später wurde die Fabrik in ROMAN umbenannt. Seit Ende 1999 stellt die Firma Autoliv aus Schweden Airbags für BMW und ab 2005 auch Sicherheitsgurte her. Danach folgte ein Werk für Gasgeneratoren für Airbags. Neben der Kfz-Industrie ist der Maschinenbau der wichtigste Wirtschaftszweig der Stadt. Dazu zählt auch die Schaeffler-Gruppe, die ein großes Produktionswerk in Brașov aufgebaut hat. Im Jahr 2007 eröffnete die österreichische JAF-Gruppe hier das Säge- und Furnierwerk J.F.Furnir (2023 als Filiale der Fa. Holver SRL). Seit 2014 unterhält die Firma Varta Microbattery ein Werk für Mikrobatterien in Brașov. In Brașov existiert außerdem die Universität Transilvania Brașov sowie die Universität George Barițiu. Durch die Präsenz gut ausgebildeter Universitätsabsolventen werden auch ausländische Firmen angezogen. So hat z. B. Siemens einen Standort in Brașov, der stetig ausgebaut wird, ebenso wie die Miele & Cie. KG. Der Verlag Directmedia Publishing GmbH, der Textsammlungen elektronisch publiziert, hat 2009 seinen Sitz von Berlin nach Brașov verlegt. Die Airbus-Tochtergesellschaft Premium Aerotec betreibt seit Ende 2010 ein Werk in Brașov. Fauna Beinahe täglich werden in den Randbezirken der Stadt Bären gesichtet, welche die dortigen Mülleimer nach Essbarem durchsuchen und sich sogar von Menschen füttern lassen. In den Wäldern rund um Brașov leben noch Bären (Brauner Karpatenbär) in freier Natur. Damit ist es eine der wenigen Gegenden in Südosteuropa, wo das noch der Fall ist. Zum Schutz von Wölfen und Bären wurde in Kooperation mit dem World Wide Fund for Nature (WWF) das Carpathian Large Carnivore Project (CLCP) ins Leben gerufen. Medien Buna Ziua Brasov (Tageszeitung) Transilvania expres (Tageszeitung) BizBrașov.ro - online portal Karpatenrundschau deutschsprachig (Wochenzeitung) Allgemeine Deutsche Zeitung, deutschsprachige Tageszeitung Verkehr Die Stadt ist Eisenbahnknoten mit dem Rangierbahnhof Brașov Triaj und hat seit 1959 ein Oberleitungsbussystem. Daneben wird Brașov von zahlreichen Taxis und Linienbussen befahren. Ab 1892 bis 1927 und erneut von 1987 bis 2006 gab es auch eine Straßenbahnlinie. Ein internationaler Flughafen nahe Brașov in Ghimbav (Weidenbach) ist seit dem 15. Juni 2023 in Betrieb. Die Autobahn 3 von Bukarest nach Borș an der ungarischen Grenze wird durch Brașov führen. Sport Der Fußballverein FC Brașov spielt in der zweiten rumänischen Liga. Der Eishockeyverein ASC Corona 2010 Brașov nimmt an der rumänischen Eishockeyliga und der MOL Liga teil. Erfolgreich spielt die Handball-Damenmannschaft, Rulmentul Brașov, die 2006 rumänischer Meister und Pokalmeister war. Persönlichkeiten Panoramafoto Siehe auch Poiana Brașov Liste der Städte in Rumänien Liste deutscher und ungarischer Bezeichnungen rumänischer Orte Literatur Arne Franke: Kronstadt – Brașov. Ein kunstgeschichtlicher Rundgang durch die Stadt unter der Zinne (= Große Kunstführer. Band 236; Große Kunstführer in der Potsdamer Bibliothek östliches Europa. Band 2). Mit einer historischen Einführung von Harald Roth. Schnell & Steiner, Regensburg 2008, ISBN 978-3-7954-2058-1 (48 S.). Arnold Huttmann, George Barbu: Medicina în Orașul Stalin ireri și astăzi (Die Medizin in Stalinstadt gestern und heute). Editura societății științelor medicale din R.P.R., Filiala regională Stalin, 1959, . Erich Jekelius (Hrsg.): Kronstadt (= Das Burzenland. Band III,1). Verlag Burzenländer Sächsisches Museum, Kronstadt 1928, . Maja Philippi: Kronstadt. Historische Betrachtungen über eine Stadt in Siebenbürgen. Aufsätze und Vorträge. Arbeitskreis für Siebenbürgische Landeskunde, Heidelberg 1996, ISBN 3-929848-06-6; Kriterion-Verlag, Bukarest 1995, ISBN 973-26-0460-3. Harald Roth (Hrsg.): Kronstadt. Eine siebenbürgische Stadtgeschichte. Universitas, München 1999, ISBN 3-8004-1375-2. Harald Roth: Kronstadt in Siebenbürgen. Eine kleine Stadtgeschichte. Böhlau, Köln 2010, ISBN 978-3-412-20602-4. Friedrich Wilhelm Stenner: Die Beamten der Stadt Brassó (Kronstadt) von Anfang der städtischen Selbstverwaltung bis auf die Gegenwart (= Quellen zur Geschichte der Stadt Brassó (Kronstadt). Band 7, Beiheft 1). Buchdruckerei Brüder Schneider & Feminger, Kronstadt 1916, . Klaus T. Weber, Monika Jekel: Das Schloss von Kronstadt. In: Zeitschrift für Siebenbürgische Landeskunde. 23. Jg., Nr. 1, 2000, , S. 64–81 (ceeol.com Summary/Abstract). . (PDF; 108 kB; Daten aus: Gernot Nussbächer: Kronstadt. München 1999; Beschreibung rumänisch) Weblinks Offizielle Webseite Offizielle Tourismussite des Kreisrates Offizielle Tourismussite des Rathauses Deutsches Kulturzentrum Kronstadt Kronstadt bei siebenbuerger.de Webdarstellung des Demokratischen Forums der Deutschen im Kreis Kronstadt Naturschutz und Ökotourismus in den rumänischen Karpaten bei cntours.eu. 22. Mai 2022 Staatsoper Brașov Historische Fotografien (1912 – Sammlung Bernd Nasner) Aussprache von „Brașov“ auf Forvo.com Einzelnachweise Wintersportgebiet in Rumänien Träger des Europapreises Hochschul- oder Universitätsstadt in Rumänien Ort im Kreis Brașov Wikipedia:Artikel mit Video Ersterwähnung 1252
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1904
Ereignisse Politik und Weltgeschehen Russisch-Japanischer Krieg 6. Februar: Japan bricht seine diplomatischen Beziehungen zu Russland ab und zieht seinen Botschafter aus Sankt Petersburg zurück. 8. Februar: Mit einem japanischen Überraschungsangriff auf Port Arthur beginnt der Russisch-Japanische Krieg. 2. August: Die Belagerung von Port Arthur beginnt. 22. August: Das Kaiserreich Japan und das Kaiserreich Korea unterzeichnen das Japanisch-Koreanische Protokoll vom August 1904. 29. November: Es kommt zu Massenprotesten in Sankt Petersburg und Moskau gegen den Krieg mit Japan und die Zarenherrschaft. Weitere Ereignisse in und um Russland 16. Juni: Der finnische Nationalist Eugen Schauman verübt ein Attentat auf den russischen Generalgouverneur Nikolai Iwanowitsch Bobrikow, dem jener am Folgetag erliegt, und tötet sich anschließend selbst. 28. Juli: Der russische Innenminister Wjatscheslaw Konstantinowitsch von Plehwe wird durch ein Bombenattentat von Anarchisten ermordet. 22. Oktober: Beim Doggerbank-Zwischenfall kommt es zu einem versehentlichen Beschuss englischer Fischerboote durch die russische Flotte. Deutsches Kaiserreich 1. Januar: Das Kinderschutzgesetz tritt in Deutschland in Kraft. Es verbietet die Arbeit von Kindern unter 12 Jahren in allen gewerblichen Betrieben. 16. Januar: Rosa Luxemburg wird vom Amtsgericht Zwickau wegen Majestätsbeleidigung zu einer dreimonatigen Haftstrafe verurteilt. Während des Wahlkampfes 1903 hatte sie Kaiser Wilhelm II. Inkompetenz vorgeworfen. Die Sozialdemokratin tritt ihre Haftstrafe aber erst am 26. August an. 14. Juni: Die deutsche Kaiserin Auguste Viktoria empfängt eine Abordnung des in Berlin unter dem Vorsitz von Lina Morgenstern tagenden internationalen Frauenkongresses in Privataudienz. 15. Oktober: Friedrich August III. wird König von Sachsen. Weitere Ereignisse in Europa 1. Januar: Robert Comtesse wird Bundespräsident der Schweiz. 8. April: Großbritannien und Frankreich bilden die Entente cordiale. 16. November: Der eingebürgerte Brite Carl Anton Larsen gründet Grytviken, die Hauptstadt Südgeorgiens, mit einem Team von sechzig Norwegern. Die Kolonie soll dem Walfang dienen. Britischer Tibetfeldzug 3. August: Einheiten der British Indian Army besetzen im Tibetfeldzug die tibetanische Hauptstadt Lhasa. Der Dalai Lama ist aus der Stadt geflohen. 7. September: Nachdem eine britische bewaffnete Expedition unter Francis Younghusband im August Lhasa erreicht hatte, muss Tibet in einem Vertrag Großbritannien weit reichende Handelsrechte und einen Militärstützpunkt in Lhasa einräumen. China protestiert, da es Tibet als seine Interessensphäre betrachtet. Deutsche Kolonien in Afrika 12. Januar: Der Aufstand der Herero in Deutsch-Südwestafrika beginnt. Im Verlauf des Kolonialkriegs erlässt der deutsche General von Trotha seinen berüchtigten Schießbefehl „Aufruf an das Volk der Herero“. 11. August: Deutsche Kolonialtruppen unter Lothar von Trotha bekämpfen in der Schlacht am Waterberg einheimische Hereros, die nach Osten ausweichen. 3. Oktober: Hendrik Witbooi, Kapitän der in der Kolonie Deutsch-Südwestafrika siedelnden Witbooi, kündigt den bestehenden Schutzvertrag und erklärt dem Deutschen Reich den Krieg, nachdem einen Tag zuvor Generalleutnant Lothar von Trotha den sogenannten Vernichtungsbefehl proklamiert hat. Seine Leute greifen Deutsche an, der Namakrieg beginnt. Der Anyangaufstand in Kamerun beginnt. Weitere Ereignisse in Afrika 18. Mai: Die Entführung Ion Perdicaris in Tanger löst eine Krise zwischen den Vereinigten Staaten und Marokko aus. 25. September: In der Schlacht an der Pembe-Furt im Süden Angolas erleiden portugiesische Kolonialtruppen ihre bis dahin schwerste Niederlage im Afrika südlich der Sahara. Aufständische Cuamato-Ovambo machen mehr als 300 Mann eines 500-Mann-Kommandos nieder. Lateinamerika 1. September: In der Schlacht von Masoller setzen sich die Soldaten der regierenden Colorados gegen die Kämpfer der Blancos in der letzten Schlacht des uruguayischen Bürgerkriegs durch. Der Putschistenführer Aparicio Saravia wird schwer verwundet, kann sich jedoch noch nach Brasilien begeben. 20. Oktober: Chile und Bolivien beenden mit einem Friedensvertrag den Salpeterkrieg endgültig. Zwanzig Jahre vorher war im Vertrag von Valparaíso schon eine erste Regelung erfolgt. Vereinigte Staaten von Amerika 8. November: Bei der Präsidentschaftswahl in den Vereinigten Staaten 1904 wird Theodore Roosevelt neuerlich zum Präsidenten der Vereinigten Staaten gewählt. 6. Dezember: Theodore Roosevelt legt mit seiner Rede vor dem Kongress mit der Roosevelt-Corollary, seinem Zusatz zur Monroe-Doktrin, den Grundstein für eine expansionistischere Außenpolitik der Vereinigten Staaten. Australien 27. April: Chris Watson von der Australian Labour Party wird Ministerpräsident Australiens; er ist der erste nationale Regierungschef, der einer Arbeiterpartei angehört. Auf Empfehlung von Charles Scrivener bestimmt das australische Parlament in Melbourne den Ort Dalgety als zukünftige Hauptstadt. Die Regierung von New South Wales in Sydney protestiert gegen diesen Beschluss, da der Ort zu nahe an Melbourne liege und droht damit, den Australischen Bund zu verlassen. Wirtschaft Weltausstellung 30. April: In St. Louis, Missouri, wird die Weltausstellung Louisiana Purchase Exposition eröffnet, die bis zum 1. Dezember dauert. Im Rahmen der Weltausstellung werden auch die Olympischen Sommerspiele 1904 ausgetragen, die jedoch kaum Beachtung finden. Insgesamt besuchen 19,7 Millionen Menschen die Ausstellung. Marken und Patente 6. Januar: Das Bayer-Kreuz wird als deutsches Warenzeichen mit der Nummer 65.777 vermerkt. 25. Januar: Im Auftrag des Fabrikanten John B. Timberlake wird beim United States Patent Office ein Patent auf den erfundenen Kleiderbügel aus Draht beantragt. 23. August: Der US-Amerikaner Harry D. Weed erhält ein Patent auf die von ihm erfundene Schneekette für Autos. 30. August: Der ungarische Erfinder Alfred Pongracz erhält in Deutschland das erste Patent auf eine Bohnermaschine. Er erleidet in der Folge aber mit seinem Unternehmen wegen technischer Unzulänglichkeiten des Geräts Konkurs. 17. September: Der Drogist Max Riese meldet die von ihm erfundene Penaten-Creme beim Reichspatentamt in Berlin an. Unternehmensgründungen 16. April: Der Kapitän Peter Mærsk Møller und sein Sohn Arnold Peter Møller gründen in Svendborg eine Dampfschiffgesellschaft, die A/S Dampskibsselskabet Svendborg, die sich mit der Zeit zum größten dänischen Unternehmen A. P. Møller-Mærsk und einem Global Player im Logistikbereich entwickeln wird. 18. April: Die von Jean Jaurès gegründete französische Zeitung L’Humanité erscheint mit ihrer Erstausgabe. Das Blatt entwickelt sich zum langjährigen Zentralorgan der Kommunistischen Partei Frankreichs (PCF). 4. Mai: Henry Royce und Charles Rolls treffen in einem Hotel in Manchester zusammen, um per Handschlag den gemeinsamen Automobilvertrieb zu vereinbaren. Der Autohersteller Rolls-Royce Motor Cars entwickelt sich im weiteren Verlauf. 22. November: In Graz wird die Kleine Zeitung gegründet. Léon Levavasseur, Jules Gastambide und Louis Blériot gründen in Puteaux die Société Antoinette zum Bau von Automobilen und Flugzeugen. Anton Kreidler gründet das Metallwerk Kreidler. Verkehr 3. Juni: Die Firma Büssing eröffnet die erste Omnibuslinie Deutschlands auf der Strecke Braunschweig–Wendeburg. 17. Juli: Das Schwimmdock der Woermann-Linie in Duala wird von Blohm + Voss in Hamburg abgeliefert und tritt im Schleppzug die Fahrt nach Kamerun an. 27. Oktober: In New York wird nach vier Jahren Bauzeit die U-Bahn offiziell eröffnet. Die erste Strecke führt vom Rathaus (City Hall) über den Grand-Central-Bahnhof und den Times Square zur Ecke Broadway und 145. Straße in Harlem. Eröffnung der Pilionbahn Banken- und Versicherungswesen 17. November: Die Rheinische Creditbank übernimmt die Oberrheinische Bank für 20 Millionen Mark. 16. Dezember: Genehmigung zur Aufnahme der Geschäftstätigkeit der „Gewerbekrankenkasse zu Leipzig“ als erster Ausgangspunkt der heutigen Barmenia Krankenversicherung a. G. Wissenschaft und Technik 22. Februar: Argentinien erhält auf Laurie Island ein im Vorjahr von einer britischen Antarktisexpedition erbautes Gebäude. Das Land richtet die seither ständig bewohnte Orcadas-Station ein, die erste der Forschungsstationen in der Antarktis. 8. März: Über einen Teil des Großen Salzsees hinweg wird eine Eisenbahnstrecke eröffnet, deren auf Bohlen ruhender Bahndamm mit 12 Meilen (etwa 19 km) Länge weltweit kein Beispiel hat. 11. März: Ein Prototyp des Kreiselkompasses wird erfolgreich in der Ostsee von Hermann Anschütz-Kaempfe auf dem Dampfer Schleswig getestet. 22. März: Erstes Farbfoto auf der Titelseite der Zeitung Daily Illustrated Mirror 15. Juni: Otto Nußbaumer bringt im Physik-Institut der Technischen Universität Graz die erste drahtlose Übertragung von Musik zuwege. Er verwendet zu diesem Zweck das Dachsteinlied. 29. Juni: Ein niederländischer Torfstecher entdeckt im Bourtanger Moor zwei Moorleichen, die Männer von Weerdinge, aus der Zeit um Christi Geburt. 29. Juli: Der Zoo Landau in der Pfalz wird gegründet. 11. September: Die Pferdedroschken in Paris führen erstmals Taxameter ein. 20. September: Dem US-Amerikaner Wilbur Wright gelingt erstmals ein gesteuerter Rundflug mit einem Motorflugzeug 3. Dezember: Charles Dillon Perrine entdeckt den Jupitermond Himalia (Jupiter VI) 28. Dezember – Alphonse Louis Nicolas Borrelly entdeckt einen Kometen, der nach ihm benannt wird. Die Firma Magirus baut die erste maschinell betriebene Drehleiter der Welt Errichtung der Küstenfunkstelle Elbe-Weser Radio Ingenieure der US-Army errichten den Panamakanal (bis 1914) Kultur Literatur Hermann Hesses erster Roman Peter Camenzind erscheint in Berlin. Vom Barock inspirierte Gedichtsammlung Dafnis von Arno Holz Der teils autobiographische Abenteuerroman Der Seewolf, in New York verlegt, wird Jack Londons größter Erfolg. Spanische Trilogie von Pío Baroja in Madrid Von Luigi Pirandello erscheint der Roman Mattia Pascal in Mailand. Die gotischen Zimmer von August Strindberg in Stockholm Die Bauern von Władysław Reymont in Warschau (1924 Nobelpreis) Musik und Theater 20. Januar: Die Uraufführung der Operette Der Göttergatte von Franz Lehár findet am Carl-Theater in Wien statt. 21. Januar: UA der Oper Jenufa von Leoš Janáček in Brünn 22. Januar: UA der Oper Nal und Damajanti (Orig.: Nal' i Damajanti) von Anton Stepanowitsch Arenski im Bolschoi-Theater in Moskau 30. Januar: Die Uraufführung der tragischen gesellschaftskritischen Komödie Der Kirschgarten von Anton Tschechow erfolgt am 44. Geburtstag des Autors am Moskauer Künstlertheater. Sie ist das letzte Stück Tschechows, der am 15. Juli an Tuberkulose stirbt. 1. Februar: Die Uraufführung der Tragödie Die Büchse der Pandora findet vor geladenem Publikum am Intimen Theater in Nürnberg statt. Die Inszenierung besorgt der Regisseur und ehemalige Direktor des Deutschen Theaters München, Emil Meßthaler. Das Theaterstück ist der zweite Teil der Lulu-Tragödie von Frank Wedekind. Es kommt zu einem Theaterskandal, eine zweite Aufführung am nächsten Tag wird von der Polizei verhindert. Am 29. März erfolgt eine einmalige, geschlossene Aufführung im Münchner Schauspielhaus, die ein überwiegend negatives Presseecho hat. Am 23. Juli erhebt die Münchner Staatsanwaltschaft Anklage gegen Wedekind und seinen Verleger Bruno Cassirer wegen Verbreitung unzüchtiger Schriften. 13. Februar: Das Schauspiel Der einsame Weg von Arthur Schnitzler wird in Berlin uraufgeführt. 17. Februar: Die ursprüngliche zweiaktige Fassung der Oper Madama Butterfly von Giacomo Puccini nach der Erzählung Madame Chrysanthème von Pierre Loti wird am Teatro alla Scala in Mailand uraufgeführt. Das Libretto stammt von Giuseppe Giacosa und Luigi Illica. Die erste Sängerin der Titelpartie ist die von Puccini verehrte Sopranistin Rosina Storchio. Am 28. Mai findet die Uraufführung einer dreiaktigen überarbeiteten Fassung statt. 16. März: UA der Oper La Fille de Roland von Henri Rabaud an der Opéra-Comique in Paris 21. März: UA der Sinfonia domestica von Richard Strauss in New York 25. März: UA der Oper Armida in Prag. Ihr Komponist, Antonín Dvořák, stirbt fünf Wochen später, am 1. Mai 1904. 24. September: UA der Tragikomödie Traumulus von Arno Holz und Oskar Jerschke in Berlin 18. Oktober: UA der 5. Sinfonie von Gustav Mahler im Gürzenich in Köln unter der Leitung des Komponisten. 23. November: UA des Theaterstückes Sommergäste von Maxim Gorki in Moskau 30. November: UA des Dramas Resurrezione (Auferstehung) von Franco Alfano am Teatro Vittorio Emanuele in Turin 13. Dezember: UA der Oper Der Roland von Berlin von Ruggero Leoncavallo in Berlin. Es handelte sich um ein Auftragswerk von Wilhelm II. 22. Dezember: UA der Operette Die Juxheirat von Franz Lehár am Theater an der Wien in Wien 27. Dezember: Das Bühnenstück Peter Pan, or The Boy Who Wouldn't Grow Up des schottischen Dramatikers J. M. Barrie hat mit großem Erfolg seine Uraufführung in London. Alexander Skrjabin komponiert seine 3. Sinfonie Anton von Webern schließt das Musikpoem Im Sommerwind ab und besucht Kompositionskurse von Arnold Schönberg in Wien. Charles Ives vollendet den Marsch 1776. Claude Debussy schreibt nach Trennung von seiner ersten Frau Trois Chansons de France für seine zweite Gattin. Die Kindertotenlieder von Gustav Mahler entstehen, außerdem entwirft der Komponist einen unfallsicheren Spielplatz für seine Töchter in Maiernigg am Wörthersee. Max Reger schließt die Bach-Variationen ab, eines seiner bedeutendsten Klavierwerke. Sergei Rachmaninows Oper Francesca di Rimini ist fertig. Sonstiges 16. Juni: An diesem einen Tag spielt der berühmte Roman Ulysses von James Joyce – wegen dessen Hauptfigur Leopold Bloom auch Bloomsday genannt wird er, nicht nur in Dublin, als Gedenktag begangen. 18. Oktober: Mit der Eröffnung des Kaiser-Friedrich-Museums wird auch die neugegründete Islamische Abteilung erstmals dem Publikum vorgestellt. Gesellschaft 8. Mai: In Berlin öffnet das weltweit erste Zucker-Museum. Seit 1995 ist es integriert in das Deutsche Technikmuseum. 28. Juni: Die taubblinde US-Amerikanerin Helen Keller macht am Radcliffe College ihren Abschluss als Bachelor of Arts. 1. September: Im Pachtgebiet Kiautschou in China geht das Mecklenburghaus offiziell in Betrieb. Es gilt als das erste deutsche Genesungsheim in Asien. 31. Dezember: Der New Yorker Times Square wird erstmals zur Feier des neuen Jahres verwendet. Religion 31. August: Nach elfjähriger Bauzeit wird in Speyer die vom Architekten Julius Flügge im Stil der doktrinären Neugotik errichtete Gedächtniskirche der Protestation mit vier Gedenkgottesdiensten eingeweiht. Katastrophen Schiffskatastrophen 8. Januar: Das kanadische Dampfschiff Clallam gerät in der Juan-de-Fuca-Straße in einen Sturm und sinkt. 56 Menschen kommen ums Leben, darunter alle Frauen und Kinder an Bord. 15. Mai: Der Geschützte Kreuzer Yoshino sinkt nach einer Kollision mit dem ebenfalls zur Kaiserlich Japanischen Marine gehörenden Panzer­kreuzer Kasuga östlich von Lüda im Gelben Meer, wobei 329 der 419 Besatzungs­mitglieder ums Leben kommen. 15. Juni: Auf dem East River in New York gerät der Raddampfer General Slocum mit 1388 Personen, meist deutschstämmigem Einwanderern, an Bord in Brand. Mindestens 1021 Menschen kommen bei der Katastrophe ums Leben. Es ist damit bis heute die schwerste zivile Schiffskatastrophe in den USA. 28. Juni: Das dänische Passagierschiff Norge läuft im Nordatlantik auf ein Riff in unmittelbarer Nähe der Felsinsel Rockall und sinkt in 20 Minuten. 625 Passagiere und Besatzungsmitglieder kommen ums Leben. Der Untergang der Norge ist das bis dahin größte Schiffsunglück im Nordatlantik. Stadtbrände 23. Januar: Der Stadtbrand von Ålesund zerstört die norwegische Stadt Ålesund fast vollständig; über 10.000 Menschen werden obdachlos. 7. Februar: Das US-amerikanische Baltimore wird von einem Großbrand heimgesucht, der weite Teile der Stadt einäschert. Unmittelbare Personenschäden beim Brand selbst sind nicht zu beklagen, doch entsteht ein auf 150 Millionen US-Dollar geschätzter Sachschaden. 19. April: Mit dem Stadtbrand von Toronto ereignet sich die größte Brandkatastrophe der Stadt, die über 100 Gebäude in der Innenstadt zerstört. Menschen kommen nicht ums Leben, allerdings werden 5.000 kurz- oder mittelfristig arbeitslos, weil zahlreiche Industrie- und Gewerbegebäude von dem Brand betroffen sind. Sport Olympische Spiele 1. Juli bis 23. November: Olympischen Sommerspiele in St. Louis, Missouri, Vereinigte Staaten. Bei den Spielen ist Sackhüpfen das erste und einzige Mal olympische Sportart, ebenso wie Tonnenspringen und Tabakweitspucken. Verbandsgründungen 21. Mai: In Paris wird der Weltfußballverband FIFA von den Fußballverbänden folgender Länder gegründet: Belgien, Dänemark, Frankreich, Niederlande, Schweden, Schweiz, Spanien 21. Dezember: In Paris wird der Motorradweltverband, die Fédération Internationale de Motocyclisme, gegründet. Vereinsgründungen 29. Januar: Der schwedische Sportverein Västerås SK wird gegründet. 15. April: Gründung des Fußballclubs FC Einigkeit Braunschweig (späterer Name: VfB Rot-Weiß Braunschweig) 1. Mai: Fußballbund für das Herzogtum Braunschweig wird durch folgende Vereine gegründet: FC Einigkeit Braunschweig, FuCC Eintracht 1895 Braunschweig, FC Viktoria 1900 Braunschweig, FC Fortuna 1901 Wolfenbüttel und FV 1902 Helmstedt 4. Mai: Gründung des Fußballclubs Westfalia Schalke (späterer Name: FC Schalke 04) 30. Mai: Gründung des deutschen Fußballvereins SC Freiburg 1. Juli: Gründung des Sport- und Fußballvereins Bayer 04 Leverkusen 20. Juli: Gründung des „Schwimm- und Eisklub Schwenningen e. V.“ der später in SERC Wild Wings umbenannt wird 12. August: In Rio de Janeiro wird der Fußballverein Botafogo Football Club gegründet. 4. Oktober: Der Fußballverein IFK Göteborg wird gegründet. 18. Dezember: Gründung des deutschen Fußballvereins Rot-Weiß Oberhausen Weitere Sportereignisse 29. Mai: Das Endspiel zwischen dem VfB Leipzig – Britannia 92 Berlin um die deutsche Fußballmeisterschaft findet nicht statt. Nach einem Protest des Karlsruher FV sagt der DFB das Finale am Spieltag ab und annulliert die Meisterschaftsendrunde. Einträge von Leichtathletik-Weltrekorden siehe unter der jeweiligen Disziplin unter Leichtathletik. Nobelpreise Geboren Januar 1. Januar: Paul Laufer, MfS-Mitarbeiter († 1969) 2. Januar: Walter Heitler, deutscher Physiker († 1981) 2. Januar: Walter Hewel, Fahnenträger beim Hitlerputsch 1923 († 1945) 3. Januar: Caro Lamoureux, kanadische Sängerin († 1998) 4. Januar: Erhard Quack, deutscher Kirchenlieddichter und -Komponist († 1983) 5. Januar: Otto Niebergall, deutscher Politiker († 1977) 7. Januar: Fjodor Jefimowitsch Bokow, politisches Mitglied des Kriegsrates der Sowjetischen Militäradministration († 1984) 7. Januar: Ruth Landshoff, deutsch-amerikanische Schauspielerin und Schriftstellerin († 1966) 8. Januar: Peter Arno, US-amerikanischer Cartoonist († 1968) 8. Januar: Karl Brandt, Mediziner und Leibarzt von Adolf Hitler († 1948) 8. Januar: Otto Spülbeck, Bischof des Bistums Meißen († 1970) 8. Januar: Tampa Red, US-amerikanischer Sänger und Gitarrist († 1981) 8. Januar: Jan Volkert Rijpperda Wierdsma, niederländischer Rechtswissenschaftler († 1981) 9. Januar: Adolf Schröter, deutscher Porträt- und Landschaftsmaler († 1997) 9. Januar: Hermann Gösmann, 6. Präsident des DFB († 1979) 9. Januar: Conrad Letendre, kanadischer Organist, Komponist und Musikpädagoge († 1977) 10. Januar: Gonzalo Curiel, mexikanischer Pianist und Komponist († 1958) 11. Januar: Murray Alper, US-amerikanischer Schauspieler († 1984) 12. Januar: Bernhard Fischer-Schweder, Polizeichef von Tilsit, Massenmörder († 1960) 12. Januar: Fred McDowell, US-amerikanischer Blues-Musiker († 1972) 12. Januar: Elisabeth Rögner-Seeck, deutsche Malerin, Kinderbuchautorin und Kunsterzieherin († 1997) 13. Januar: Anton Besold, deutscher Politiker († 1991) 13. Januar: Nathan Milstein, ukrainisch-US-amerikanischer Violinist († 1992) 13. Januar: Eduard Schüller, deutscher Ingenieur († 1976) 13. Januar: Richard Addinsell, britischer Filmkomponist († 1977) 14. Januar: Henri-Georges Adam, französischer Hochschullehrer, Maler, Grafiker, Bildhauer und Gestalter († 1967) 15. Januar: Jim Bowdoin, US-amerikanischer American-Football-Spieler († 1969) 15. Januar: Ludvík Frejka, tschechischer Politiker und Publizist († 1952) 17. Januar: André Blusset, französischer Skilangläufer († 1994) 18. Januar: Cary Grant, US-amerikanischer Schauspieler († 1986) 19. Januar: Gordon Beecher, US-amerikanischer Marine-Vizeadmiral und Komponist († 1973) 22. Januar: Sigurd Anderson, US-amerikanischer Politiker († 1990) 22. Januar: Arkadi Petrowitsch Gaidar, russischer Jugendschriftsteller († 1941) 22. Januar: George Balanchine, russischer Choreograph, Gründer des American Ballet († 1983) 23. Januar: Karl Schlechta, deutscher Nietzsche-Forscher († 1985) 24. Januar: Hans Lauscher, deutscher Politiker († 1981) 25. Januar: Géza Frid, ungarischer Pianist und Komponist († 1989) 26. Januar: Otto Kässbohrer, deutscher Unternehmer und Fahrzeugkonstrukteur († 1989) 26. Januar: Seán MacBride, irischer Politiker und Friedensnobelpreisträger († 1988) 29. Januar: Arnold Gehlen, deutscher Philosoph und Soziologe († 1976) 30. Januar: Jean Delemer, französischer Autorennfahrer († 1993) 30. Januar: Fritz Duda, deutscher Maler und Grafiker († 1991) 30. Januar: Louis Häfliger, Schweizer Delegierter des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz († 1993) 31. Januar: Frederick H. Boland, irischer Politiker († 1985) 31. Januar: Max Sulzbachner, Schweizer Maler († 1985) Februar 1. Februar: Joseph Asajirō Satowaki, Erzbischof von Nagasaki und Kardinal († 1996) 1. Februar: Gerhard Wartenberg, deutscher Autor († 1942) 2. Februar: Waleri Pawlowitsch Tschkalow, sowjetischer Pilot († 1938) 3. Februar: Alexander Alexandrowitsch Charkewitsch, russischer Wissenschaftler der Nachrichtentechnik († 1965) 3. Februar: Luigi Dallapiccola, italienischer Komponist († 1975) 4. Februar: MacKinlay Kantor, US-amerikanischer Schriftsteller († 1977) 4. Februar: Josef Klein, deutscher Motorradrennfahrer († 1973) 4. Februar: Teo Otto, deutscher Bühnenbildner († 1968) 4. Februar: Deng Yingchao, Ehefrau von Zhou Enlai († 1992) 5. Februar: Walter Gross, deutscher Kabarettist († 1989) 5. Februar: Ioan Ghyka Cantacuzene, rumänischer Adeliger, Flieger und Autorennfahrer († 1932) 6. Februar: Theo Balden, deutscher Bildhauer und Grafiker († 1995) 7. Februar: Ernst Ginsberg, deutscher Schauspieler, Regisseur und Theaterleiter († 1964) 9. Februar: Harold J. Arthur, US-amerikanischer Politiker († 1971) 10. Februar: John Farrow, australischer Drehbuchautor und Regisseur († 1963) 10. Februar: Otto Dannebom, deutscher Politiker und MdB († 1975) 10. Februar: Tito Colliander, finnlandschwedischer Schriftsteller († 1989) 11. Februar: Michail Barschtsch, russischer Architekt und Hochschullehrer († 1976) 11. Februar: Lucile Randon, französische Supercentenarian und Ordensschwester († 2023) 12. Februar: Rudolf Platte, deutscher Schauspieler († 1984) 13. Februar: Karaki Junzō, japanischer Literaturwissenschaftler († 1980) 14. Februar: Hertta Kuusinen, finnische kommunistische Politikerin († 1974) 14. Februar: Walter Hochmuth, deutscher Politiker und Antifaschist († 1979) 15. Februar: Antonin Magne, französischer Radrennfahrer († 1983) 16. Februar: George F. Kennan, US-Historiker und Diplomat († 2005) 16. Februar: Hugo Wiener, österreichischer Komponist und Pianist († 1993) 17. Februar: Philippe de Gunzburg, französischer Widerstandskämpfer und Automobilrennfahrer († 1986) 17. Februar: Hans Morgenthau, deutscher Jurist und Politikwissenschaftler († 1980) 18. Februar: Otto Rahn, deutscher Schriftsteller, der sich mit dem Gralsmythos beschäftigte († 1939) 20. Februar: Herbert Brownell junior, US-amerikanischer Politiker und ehemaliger Justizminister († 1996) 21. Februar: Charles Frederick Goodeve, kanadischer Chemiker († 1980) 22. Februar: Robert Thomas Ashmore, US-amerikanischer Politiker († 1989) 22. Februar: Clemens Lugowski, deutscher Germanist († 1942) 22. Februar: Ernst Jakob Henne, deutscher Motorsportler († 2005) 22. Februar: Stephanos I. Sidarouss, Kardinal und Patriarch von Alexandria († 1987) 22. Februar: Bayume Mohamed Husen, afrikanisch-deutscher Askari und Schauspieler († 1944) 23. Februar: George Docking, US-amerikanischer Politiker († 1964) 23. Februar: Leopold Trepper, polnischer Kommunist, Widerstandskämpfer und Publizist († 1982) 24. Februar: Maitland Farmer, kanadischer Organist, Cembalist und Musikpädagoge († 1995) 24. Februar: Wilhelm Mantel, deutscher Forstbeamter und Forstwissenschaftler († 1983) 26. Februar: Curth Georg Becker, deutscher Maler und Graphiker († 1972) 26. Februar: Hans-Joachim Fricke, deutscher Politiker († 1974) 27. Februar: André Leducq, französischer Radrennfahrer († 1980) 27. Februar: Josef Maria Camenzind, Schweizer Geistlicher und Schriftsteller († 1984) 27. Februar: James T. Farrell, US-amerikanischer Schriftsteller († 1979) 27. Februar: Theodor Ritterspach, Richter am Bundesverfassungsgericht († 1999) 28. Februar: Wilhelm Michels, Pädagoge und Schulleiter, Freund Arno Schmidts († 1988) 29. Februar: Rukmini Devi Arundale, indische Tänzerin, Politikerin und Theosophin († 1986) 29. Februar: Hugh Bancroft, kanadischer Organist und Komponist († 1988) 29. Februar: Jimmy Dorsey, US-amerikanischer Jazzmusiker († 1957) 29. Februar: Walter Heinrich Fuchs, deutscher Phytomediziner († 1981) 29. Februar: Alan Richardson, schottischer Komponist und Pianist († 1978) März 1. März: Glenn Miller, US-amerikanischer Jazz-Posaunist und Bandleader († 1944) 2. März: Theodor Seuss Geisel, US-amerikanischer Kinderbuch-Autor und Cartoonzeichner († 1991) 2. März: Elsie Wisdom, britische Automobilrennfahrerin († 1972) 3. März: Unica Bachmann-Calcoen, deutsch-niederländische Porträt- und Tiermalerin († 1986) 3. März: Horace Lapp, kanadischer Pianist, Organist, Dirigent und Komponist († 1986) 3. März: El Duque del Morteruelo, spanischer Dichter († 2004) 3. März: Harry Werner Storz, deutscher Leichtathlet († 1982) 4. März: Luis Carrero Blanco, spanischer Admiral und Politiker († 1973) 4. März: Edgar Jené, deutsch-französischer Maler und Grafiker, Surrealist († 1984) 4. März: George Gamow, russisch-US-amerikanischer Physiker († 1968) 4. März: Joseph Schmidt, deutsch-österreichischer Kammersänger und Kantor († 1942) 5. März: Alexei Nikolajewitsch Kossygin, Ministerpräsident der Sowjetunion († 1980) 5. März: Karl Rahner, katholischer deutscher Theologe († 1984) 6. März: José Antonio Aguirre, baskischer Politiker († 1960) 6. März: Andy Aitkenhead, schottisch-kanadischer Eishockeytorwart († 1968) 7. März: Jean Arnolds, belgischer Geistlicher († 1944) 7. März: Reinhard Heydrich, NS-Politiker († 1942) 8. März: Hans Tschiggfrey, österreichischer Politiker († 1963) 8. März: Viktor de Kowa, deutscher Theater- und Filmschauspieler und Regisseur († 1973) 9. März: Ellen Frank, deutsche Schauspielerin und Tänzerin († 1999) 9. März: Bobby Kohlrausch, deutscher Automobilrennfahrer († 1953) 10. März: Hans Brehme, deutscher Komponist († 1957) 10. März: Oran Pape, US-amerikanischer American-Football-Spieler, Polizist († 1936) 11. März: Albrecht von Hagen, deutscher Jurist und Widerstandskämpfer († 1944) 12. März: Adolf Arndt, deutscher Politiker († 1974) 12. März: Bodo Uhse, deutscher Schriftsteller († 1963) 13. März: Reidar Aulie, norwegischer Maler († 1977) 13. März: Wilhelm Eigener, deutscher Tier-Illustrator († 1982) 13. März: Erhart Kästner, deutscher Schriftsteller und Bibliothekar († 1974) 13. März: Paul Mattick, deutscher Kommunist und politischer Schriftsteller († 1981) 14. März: Armas Äikiä, finnischer Autor kommunistischer Literat und Journalist († 1965) 14. März: Doris Eaton Travis, US-amerikanische Schauspielerin und Tänzerin († 2010) 15. März: Brunolf Baade, deutscher Ingenieur der Flugzeugindustrie († 1969) 15. März: George Brent, US-amerikanischer Filmschauspieler († 1979) 15. März: Fritz Berendsen, deutscher Politiker († 1974) 17. März: Patrick Hamilton, englischer Schriftsteller († 1962) 17. März: Walfried Winkler, deutscher Motorradrennfahrer († 1982) 18. März: Alfredo Poviña, argentinischer Soziologe († 1986) 19. März: Tadeusz Kassern, polnischer Komponist († 1957) 19. März: John Sirica, US-amerikanischer Richter († 1992) 20. März: B. F. Skinner, US-amerikanischer Psychologe († 1990) 20. März: Walter Elsasser, deutsch-amerikanischer Physiker († 1991) 21. März: Nikos Skalkottas, griechischer Komponist († 1949) 21. März: Max Steenbeck, deutscher Physiker († 1981) 23. März: Mosher Joseph Blumenfeld US-amerikanischer Jurist († 1988) 22. März: Jack Z. Anderson, US-amerikanischer Politiker († 1981) 25. März: Johann Baptist Gradl, deutscher Politiker († 1988) 25. März: Alexander Schawinsky, Schweizer Maler, Fotograf und Bühnenbildner († 1979) 26. März: Joseph Campbell, US-amerikanischer Professor und Autor († 1987) 26. März: Attilio Ferraris, italienischer Fußballspieler († 1947) 26. März: Hermann Schroeder, deutscher Komponist und katholischer Kirchenmusiker († 1984) 26. März: Willy Fischer, deutscher Politiker († 1951) 30. März: Alexandrina Maria da Costa, portugiesische Mystikerin († 1955) 30. März: E. P. Jacobs, belgischer Comic-Zeichner († 1987) 30. März: Ernesto de la Guardia Navarro, 30. Staatspräsident von Panama († 1983) 31. März: Harry Buckwitz, deutscher Regisseur († 1987) April 1. April: Nikolai Bersarin, erster sowjetischer Stadtkommandant von Berlin († 1945) 3. April: Maria Wiłkomirska, polnische Pianistin, Kammermusikerin und Musikpädagogin († 1995) 4. April: Alexander Nikolajewitsch Afinogenow, russischer Schriftsteller und Dramatiker († 1941) 4. April: Arne Hülphers, schwedischer Jazzmusiker, Pianist und Kapellmeister († 1978) 4. April: Walter Kohler, US-amerikanischer Politiker († 1976) 4. April: Käthe von Nagy, ungarische Schauspielerin († 1973) 5. April: Hermann Bruse, deutscher Maler und Graphiker († 1953) 6. April: Willy Harzheim, deutscher Arbeiterschriftsteller und Kommunist († 1937) 6. April: Kurt Georg Kiesinger, deutscher Politiker und Bundeskanzler († 1988) 6. April: Erwin Komenda, Automobildesigner († 1966) 7. April: Curt Querner, Maler († 1976) 8. April: John Antill, australischer Komponist († 1986) 8. April: Yves Congar, Kardinal der römisch-katholischen Kirche († 1995) 8. April: John Richard Hicks, britischer Ökonom († 1989) 8. April: Karl Scherm, deutscher Fußballspieler († 1977) 8. April: Herbert Wolff, deutscher Politiker († 1958) 9. April: Ludwig Hohl, Schweizer Autor († 1980) 9. April: Adolf Schmidt-Bodenstedt, deutscher Lehrer, NS-Funktionär und Politiker († 1981) 9. April: Paul Wessel, Mitglied des Politbüros des ZK der SED in der DDR († 1967) 9. April: August Wieschemeyer, deutscher Maristenpater und Theologe († 1979) 10. April: Gerhard Aßfahl, deutscher Pädagoge und Heimatforscher († 2007) 10. April: Scott E. Forbush, US-amerikanischer Geophysiker († 1984) 10. April: Joachim Gottschalk, deutscher Schauspieler († 1941) 11. April: Werner Berg, deutscher Maler († 1981) 12. April: Paul Dahlke, deutscher Schauspieler († 1984) 13. April: Martha Weber, deutsche Heimatdichterin († 1998) 14. April: Matthias Andresen, deutscher Politiker († 1992) 14. April: John Gielgud, britischer Schauspieler († 2000) 14. April: Hans Schumann, deutscher Motorradrennfahrer († 1968) 15. April: Arshile Gorky, US-amerikanischer Maler († 1948) 16. April: Clifford P. Case, US-amerikanischer Politiker († 1982) 16. April: Walter Walford Johnson, US-amerikanischer Politiker († 1987) 17. April: Joseph Ahrens, deutscher Komponist und Organist († 1997) 18. April: Paul Zapp, Anführer des Sonderkommandos 11a der Einsatzgruppe D, Massenmörder († 1999) 21. April: Leon Adde, US-amerikanischer Jazz-Schlagzeuger († 1942) 21. April: Odilo Globocnik, an der Durchführung des Holocaust beteiligter Nationalsozialist († 1945) 21. April: Vasil Hopko, griechisch-katholischer Weihbischof von Prešov († 1976) 22. April: Pino Bernasconi, Schweizer Jurist und Politiker († 1983) 22. April: Robert Oppenheimer, US-amerikanischer Physiker († 1967) 24. April: Willem de Kooning, US-amerikanischer Maler († 1997) 25. April: Huey Long, US-amerikanischer Musiker († 2009) 26. April: Igor Gorin, US-amerikanischer Sänger, Schauspieler, Komponist und Musikpädagoge († 1982) 27. April: Cecil Day-Lewis, Schriftsteller und Dichter († 1972) 28. April: Irene Ambrus, ungarische Sängerin und Schauspielerin († 1990) 28. April: Willi Kollo, deutscher Komponist († 1988) 28. April: Elisabeth Schumacher, deutsche Widerstandskämpferin († 1942) 29. April: Willi Dickhut, deutscher Kommunist und Mitbegründer der MLPD († 1992) 29. April: Russ Morgan, US-amerikanischer Bandleader, Pianist, Posaunist und Komponist († 1969) 29. April: Pedro Vargas, mexikanischer Sänger († 1989) Mai 3. Mai: Bill Brandt, deutscher Fotograf († 1983) 3. Mai: Roberto Agramonte, kubanischer Philosoph, Soziologe und Politiker († 1995) 4. Mai: Antonio Buenaventura, philippinischer Komponist († 1996) 4. Mai: Umm Kulthum, ägyptische Sängerin († 1975) 4. Mai: Josef Pieper, deutscher Philosoph († 1997) 5. Mai: Franz Arzdorf, deutscher Schauspieler und Regisseur († 1974) 5. Mai: Robert Kronfeld, österreichischer Segelflieger († 1948) 6. Mai: Benjamin Akzin, israelischer Professor († 1985) 6. Mai: Clifford Raymond „Cliff“ Carlisle, US-amerikanischer Country-Sänger († 1983) 6. Mai: Harry Martinson, schwedischer Schriftsteller, Nobelpreisträger (Literatur) († 1978) 6. Mai: Max Mallowan, britischer Archäologe († 1978) 6. Mai: Moshé Feldenkrais, Physiker, entwickelte die Feldenkrais-Methode († 1984) 7. Mai: Pierre Padrault, französischer Autorennfahrer († 1971) 9. Mai: Erwin van Aaken, deutscher Architekt († 2008) 9. Mai: Gregory Bateson, britischer Anthropologe († 1980) 9. Mai: Pol Demeuter, belgischer Motorradrennfahrer († 1934) 9. Mai: David MacDonald, englischer Filmregisseur († 1983) 9. Mai: Grete Stern, deutsche Fotografin und Designerin († 1999) 9. Mai: Takeda Rintarō, japanischer Schriftsteller († 1946) 10. Mai: Kuwabara Takeo, japanischer Literaturwissenschaftler und Übersetzer († 1988) 11. Mai: Salvador Dalí, spanischer Maler des Surrealismus († 1989) 11. Mai: Willy Sommerfeld, deutscher Stummfilmpianist († 2007) 13. Mai: Ernst Duschön, deutscher Politiker († 1981) 13. Mai: Chishū Ryū, japanischer Schauspieler († 1993) 14. Mai: Hans Albert Einstein, Sohn Albert Einsteins und dessen Frau Mileva Maric († 1973) 14. Mai: Marcel Junod, Schweizer Arzt († 1961) 15. Mai: Georg Knöpfle, deutscher Fußballspieler und Fußballtrainer († 1987) 15. Mai: Emmi Haux, deutsche Leichtathletin († 1987) 15. Mai: Merle Montgomery, US-amerikanische Komponistin, Pianistin und Musikpädagogin († 1986) 16. Mai: François Marty, Kardinal der römisch-katholischen Kirche († 1994) 16. Mai: Horst Strempel, deutscher Grafiker und Maler († 1975) 17. Mai: Jean Gabin, französischer Schauspieler († 1976) 18. Mai: Alfred Jäger, tschechisch-deutscher Mediziner († 1988) 20. Mai: Margery Allingham, englische Krimi-Schriftstellerin († 1966) 20. Mai: Nagai Tatsuo, japanischer Schriftsteller († 1990) 21. Mai: Wolfgang Auler, deutscher Organist († 1986) 21. Mai: Robert Montgomery, US-amerikanischer Schauspieler († 1981) 21. Mai: Fats Waller, Jazz-Pianist, -Komponist und -Sänger († 1943) 22. Mai: Erich Behrendt, deutscher Politiker und SA-Mitglied († 1941) 23. Mai: Erich Beyreuther, deutscher lutherischer Theologe und Kirchenhistoriker († 2003) 24. Mai: Sefton Delmer, britischer Journalist († 1979) 24. Mai: Hanna Waag, deutsche Schauspielerin († 1995) 25. Mai: Kurt Thomas, deutscher Komponist und Chorleiter († 1973) 25. Mai: Lizzi Waldmüller, österreichische Filmschauspielerin und Sängerin († 1945) 26. Mai: Vincent Alo, hochrangiger US-amerikanischer Mobster der La Cosa Nostra († 2001) 27. Mai: Chuhei Nambu, japanischer Leichtathlet und Olympiasieger († 1997) 29. Mai: Grigori Romanowitsch Ginsburg, russischer Pianist († 1961) 29. Mai: Gregg Toland, US-amerikanischer Kameramann († 1948) Juni 1. Juni: Raymond Lussan, französischer Autorennfahrer († 1994) 2. Juni: František Plánička, tschechischer Fußballspieler († 1996) 2. Juni: Valaida Snow, US-amerikanische Jazztrompeterin und Sängerin († 1956) 2. Juni: Johnny Weissmüller, US-amerikanischer Schwimmer und Filmschauspieler († 1984) 3. Juni: Friedrich Gondolatsch, deutscher Astronom († 2003) 4. Juni: Henry Grob, Schweizer Schachmeister († 1974) 4. Juni: Anni Krahnstöver, deutsche Politikerin († 1961) 4. Juni: Rudolf Preising, deutscher römisch-katholischer Pfarrer, Lehrer, Heimatforscher und Archivar († 1981) 4. Juni: Paul Schachtschabel, deutscher Bodenkundler († 1998) 5. Juni: Hans Furler, deutscher Politiker († 1975) 6. Juni: Hans Pauer, österreichischer Archivar und Bibliothekar († 1989) 7. Juni: Udo Adelsberger, deutscher Erfinder († 1992) 8. Juni: Robert Furrer, Schweizer Zollbeamter († 1962) 9. Juni: William Joscelyn Arkell, britischer Geologe († 1958) 9. Juni: Herdis McCrary, US-amerikanischer American-Football-Spieler († 1981) 10. Juni: Willi Agatz, deutscher Politiker († 1957) 11. Juni: Pinetop Smith, US-amerikanischer Jazz-Pianist († 1929) 11. Juni: Emil František Burian, tschechischer Komponist († 1959) 12. Juni: John Newmark, kanadischer Pianist († 1991) 13. Juni: Hermann Stoll, deutscher Geologe und Prähistoriker († 1944) 14. Juni: Benno Ammann, Schweizer Dirigent und Komponist († 1986) 14. Juni: Margaret Bourke-White, US-amerikanische Fotoreporterin († 1971) 14. Juni: Jenny Jugo, österreichische Schauspielerin († 2001) 14. Juni: Marion Yorck von Wartenburg, deutsche Juristin und Widerständlerin († 2007) 15. Juni: Anna Mahler, österreichische Bildhauerin († 1988) 15. Juni: Paul Joseph Z’dun, deutscher „komischer Radfahrer“ († 1981) 16. Juni: Paul Grupp, deutscher Kameramann († 1974) 17. Juni: Ralph Bellamy, US-amerikanischer Schauspieler († 1991) 17. Juni: John Vernon McGee, US-amerikanischer presbyterianischer Geistlicher und Radioprediger († 1988) 18. Juni: Gordon Buehrig, US-amerikanischer Fahrzeugdesigner († 1990) 18. Juni: Clive Dunfee, britischer Automobilrennfahrer († 1932) 18. Juni: Manuel Rosenthal, französischer Dirigent und Komponist († 2003) 19. Juni: Claus Back, deutscher Schriftsteller († 1969) 19. Juni: Karl Fellinger, Arzt († 2000) 20. Juni: Heinrich von Brentano, deutscher Politiker († 1964) 20. Juni: Antônio de Castro Mayer, brasilianischer Bischof († 1991) 23. Juni: Placido Acevedo, puerto-ricanischer Trompeter, Orchesterleiter und Komponist († 1974) 23. Juni: George William Ahr, US-amerikanischer Bischof († 1993) 24. Juni: Louis Debeugny, französischer Automobilrennfahrer († 1979) 24. Juni: Kurt Kusenberg, deutscher Kunstkritiker und Schriftsteller († 1983) 25. Juni: Matthias Hoogen, deutscher Politiker († 1985) 25. Juni: Wladimir Konstantinowitsch Kokkinaki, sowjetischer Testpilot († 1985) 26. Juni: Peter Lorre, US-amerikanisch-ungarischer Filmschauspieler († 1964) 27. Juni: Walter Damm, deutscher Politiker, MdL in Schleswig-Holstein († 1981) 29. Juni: Jean Berveiller, französischer Organist und Komponist († 1976) 29. Juni: Witold Hurewicz, polnischer Mathematiker († 1956) 29. Juni: Allie Morrison, US-amerikanischer Ringer und Olympiasieger († 1966) 29. Juni: Umberto Mozzoni, Kardinal der römisch-katholischen Kirche († 1983) 29. Juni: Arthur Müller, deutscher Motorradrennfahrer († 1983) 30. Juni: Oskar Paulini, deutscher Schriftsteller († 1980) 30. Juni: Josef Wicki, Schweizer Jesuit und Missionshistoriker († 1993) Juli 2. Juli: René Lacoste, französischer Tennisspieler und Modeschöpfer († 1996) 2. Juli: Carl Weinrich, US-amerikanischer Organist und Musikpädagoge († 1991) 3. Juli: Otto Gotsche, deutscher Politiker und Schriftsteller († 1985) 3. Juli: Paul Bronisch, deutscher Künstler und Bildhauer († 1989) 3. Juli: Ralph Samuelson, US-amerikanischer Erfinder der Sportart Wasserski († 1977) 4. Juli: Gerhard Just, deutscher Schauspieler († 1977) 5. Juli: Harold Mario Mitchell Acton, britischer Autor († 1994) 5. Juli: Omar Cáceres, chilenischer Lyriker († 1943) 5. Juli: Ernst Mayr, deutsch-US-amerikanischer Biologe († 2005) 5. Juli: Milburn Stone, US-amerikanischer Schauspieler († 1980) 6. Juli: Wilhelm Angerer, österreichischer Fotograf († 1982) 8. Juli: Henri Cartan, französischer Mathematiker († 2008) 9. Juli: Heinz Jost, Chef der Einsatzgruppe A, Amtschef Amt VI SD-Ausland im RSHA († 1964) 9. Juli: Otto Wahl, deutscher Skilangläufer († 1935) 12. Juli: Heinrich Abegg (Politiker), Schweizer Politiker († 1984) 12. Juli: Paul Braess, deutscher Hochschullehrer († 1972) 12. Juli: Pablo Neruda, chilenischer Dichter und Diplomat († 1973) 12. Juli: Pinchas Lawon, israelischer Politiker († 1976) 13. Juli: Robert Minton, US-amerikanischer Bobsportler († 1974) 14. Juli: Hans Bernd Gisevius, Widerstandskämpfer des 20. Juli 1944 († 1974) 14. Juli: Hans-Heinrich Herwarth von Bittenfeld, deutscher Diplomat und Autor († 1999) 14. Juli: Nadia Reisenberg, US-amerikanische Pianistin und Musikpädagogin († 1983) 15. Juli: Hildegunde Fritzi Anders, deutsche Schriftstellerin († 1944) 15. Juli: Karl Richter, Berliner Sozialdemokrat († 2005) 15. Juli: Rudolf Arnheim, deutsch-amerikanischer Kunstpsychologe († 2007) 16. Juli: Goffredo Petrassi, italienischer Komponist († 2003) 16. Juli: Léon-Joseph Suenens, belgischer Theologe, Erzbischof von Mecheln und Kardinal († 1996) 17. Juli: Charlotte Prinz, deutsche Malerin († 1993) 22. Juli: Georg Augustin, deutscher Jurist († 1993) 22. Juli: Karl Veken, deutscher Schriftsteller († 1971) 22. Juli: Otto Rombach, deutscher Journalist und Schriftsteller († 1984) 22. Juli: Peter Igelhoff, Musiker und Komponist († 1978) 22. Juli: Walther G. Oschilewski, deutscher Publizist, Lyriker und Kulturhistoriker († 1987) 23. Juli: Georges Hugon, französischer Komponist († 1980) 24. Juli: Léo Arnaud, US-amerikanischer Musiker († 1991) 24. Juli: Willi Boltze, deutscher Mittel- und Langstreckenläufer († 1937) 24. Juli: Delmer Daves, US-amerikanischer Drehbuchautor und Regisseur († 1977) 27. Juli: Hermann Jansen, Generalvikar und Domherr in Köln († 1984) 27. Juli: Ljudmila Rudenko, sowjetische Schachspielerin († 1986) 27. Juli: Oskar Lange, polnischer Nationalökonom und Minister († 1965) 28. Juli: Elyesa Bazna, deutscher Spion († 1970) 28. Juli: Pawel Alexejewitsch Tscherenkow, russischer Physiker und Nobelpreisträger († 1990) 29. Juli: Antanas Gudaitis, litauischer Maler und Grafiker († 1989) 30. Juli: Irène Aïtoff, französische Pianistin († 2006) 30. Juli: Rudolf Anderl, deutscher Journalist und Schriftsteller († 1971) August 2. August: Werner Seelenbinder, deutscher Ringer und Kommunist († 1944) 3. August: Clifford D. Simak, US-amerikanischer SF-Autor († 1988) 3. August: Wilhelm Naegel, deutscher Politiker († 1956) 4. August: Christian-Jaque, französischer Regisseur († 1994) 4. August: Witold Gombrowicz, polnischer Schriftsteller († 1969) 4. August: Otto Tschumi, Schweizer Kunstmaler († 1985) 6. August: Henry Iba, US-amerikanischer Basketballtrainer († 1993) 6. August: Tichon Alexandrowitsch Rabotnow, russischer Geobotaniker und Universitätsprofessor († 2000) 7. August: Ralph Bunche, US-amerikanischer Bürgerrechtler († 1971) 7. August: Erwin Fischer, deutscher Jurist († 1996) 7. August: Johanna Melzer, deutsche Widerstandskämpferin gegen das NS-Regime († 1960) 7. August: Gerhard Voigt, deutscher Ruderer 8. August: Achille Varzi, italienischer Automobilrennfahrer († 1948) 8. August: István Szelényi, ungarischer Komponist († 1972) 9. August: Hasso von Boehmer, Oberstleutnant im Generalstab und Widerstandskämpfer († 1945) 9. August: Weston Adams, US-amerikanischer Sportfunktionär († 1973) 10. August: Geraldo, englischer Bandleader († 1974) 10. August: Karl Helling, deutscher Schachspieler († 1937) 10. August: Albert Skira, Schweizer Verleger († 1973) 12. August: Edward Montague Hussey Cooper, australischer Schauspieler († 2000) 12. August: Alexei Nikolajewitsch Romanow, Thronfolger, Kronprinz, Sohn des Zaren Nikolaus II. († 1918) 14. August: Martial Singher, französischer Opernsänger und Musikpädagoge († 1990) 15. August: Victor Bruns, deutscher Fagottist und Komponist († 1996) 16. August: Genda Minoru, japanischer Luftwaffengeneral und Politiker († 1989) 16. August: Wendell Meredith Stanley, US-amerikanischer Chemiker und Nobelpreisträger († 1971) 17. August: Franz Reuss, deutscher Generalmajor († 1992) 20. August: Ernst Hofmann, deutscher katholischer Pfarrer und Lieddichter († 1999) 20. August: Hans-Georg Lindenstaedt, deutscher Tischtennisspieler († 1975) 20. August: Volodymyr Malanczuk, ukrainischer Bischof († 1990) 21. August: Count Basie, US-amerikanischer Jazz-Pianist, Organist und Bandleader († 1984) 21. August: Herbert Hesmer, deutscher Forstwissenschaftler († 1982) 22. August: Deng Xiaoping, chinesischer Politiker († 1997) 24. August: Eric Ashby, britischer Botaniker († 1992) 24. August: Ludwig Schmidseder, deutscher Komponist († 1971) 25. August: Wilhelm Abel, deutscher Wirtschaftshistoriker († 1985) 25. August: Jack Bartlett, britischer Unternehmer und Autorennfahrer († 1993) 26. August: Christopher Isherwood, englisch-amerikanischer Schriftsteller († 1986) 26. August: Michel Vieuchange, französischer Abenteurer († 1930) 27. August: Ernst Degn, österreichischer Maler († 1990) 28. August: Alfred Agar, englischer Fußballspieler († 1989) 28. August: Ernie Fields, US-amerikanischer Jazzposaunist und Bandleader († 1997) 29. August: Louise Piëch, österreichische Unternehmerin († 1999) 29. August: Werner Forßmann, deutscher Mediziner, Erfinder des Herzkatheters († 1979) 30. August: Charles E. Bohlen, US-amerikanischer Diplomat († 1974) 30. August: John Eldredge, US-amerikanischer Schauspieler († 1961) 31. August: Werner Weber, deutscher Staatsrechtler († 1976) September 1. September: Viktor Aschenbrenner, Vertriebenenpolitiker († 1992) 2. September: Sigmund Durst, deutscher Sportjournalist († 1974) 3. September: Eduard Hartmann, österreichischer Politiker († 1966) 4. September: Gereon Josef Ausserlechner, österreichischer Prämonstratenser und Widerstandskämpfer († 1944) 5. September: Johannes Spörl, deutscher Historiker († 1977) 6. September: Ljubomir Pipkow, bulgarischer Komponist († 1974) 7. September: Hans Arnold, deutscher SPD-Politiker († 1981) 7. September: Daniel Prenn, deutscher Tennis- und Tischtennisspieler († 1991) 8. September: Ron Gibson, britischer Autorennfahrer († 1959) 9. September: Claudio Ferrer, puerto-ricanischer Komponist und Sänger († 1979) 9. September: Feroze Khan, pakistanischer Hockeyspieler und Olympiasieger († 2005) 11. September: William McKinley Gillum, US-amerikanischer Blues- und Hokum-Musiker († 1966) 11. September: Friedrich Schönauer, deutscher Politiker († 1950) 11. September: Kurt Karl Doberer, deutscher Ingenieur, Journalist, Schriftsteller und Philatelist († 1993) 11. September: Lyman Bradford Smith, US-amerikanischer Botaniker († 1997) 12. September: Joe Lederer, österreichische Journalistin und Schriftstellerin († 1987) 13. September: Luigi Bertolini, italienischer Fußballspieler († 1977) 13. September: Richard Scheringer, deutscher Antifaschist und Mitglied der KPD († 1986) 13. September: Robert Stupperich, deutscher Theologe († 2003) 14. September: Rudolf Zurmühl, deutscher Mathematiker († 1966) 14. September: Richard Mohaupt, deutscher Komponist und Kapellmeister († 1957) 15. September: Umberto II., italienischer König († 1983) 16. September: Stewart Adams, kanadischer Eishockeyspieler († 1978) 16. September: Alfred Klahr, österreichischer Kommunist und Journalist († 1944) 17. September: Edgar G. Ulmer, US-amerikanischer Filmregisseur († 1972) 17. September: Frederick Ashton, britischer Tänzer und Choreograph († 1988) 17. September: Jürgen Kuczynski, deutscher Historiker und Gesellschaftswissenschaftler († 1997) 17. September: Jerry Colonna, US-amerikanischer Schauspieler, Komiker und Musiker († 1986) 17. September: Wilfrid Schreiber, Professor für Sozialpolitik († 1975) 18. September: Dolores Viesèr, österreichische Schriftstellerin und Erzählerin († 2002) 18. September: Jean Dasté, französischer Schauspieler († 1994) 18. September: Hans-Adolf Asbach, deutscher Politiker († 1976) 20. September: Raymond Gaillard, französischer Unternehmer und Automobilrennfahrer († 1973) 21. September: Norbert Dufourcq, französischer Musikhistoriker und Organist († 1990) 21. September: Franz Stock, katholischer Theologe († 1948) 21. September: Hans Hartung, deutsch-französischer Maler und Grafiker († 1989) 22. September: Otto Guglia, österreichischer Historiker, Geograph und Naturforscher († 1984) 22. September: Joe Valachi, Mafia-Mitglied († 1971) 23. September: Alfred Baum, Schweizer Komponist, Pianist und Organist († 1993) 23. September: Wilhelm Reitz, deutscher Politiker und MdB († 1980) 23. September: Geoffrey Waddington, kanadischer Geiger und Dirigent († 1966) 25. September: Horst Michel, deutscher Formgestalter († 1989) 25. September: Ernst Zwilling, österreichischer Reiseschriftsteller († 1990) 27. September: Edvard Kocbek, slowenischer Schriftsteller und Publizist († 1981) 27. September: Koene Dirk Parmentier, niederländischer Luftfahrtpionier († 1948) 28. September: Luperce Miranda, brasilianischer Mandolinist und Komponist († 1977) 29. September: Egon Eiermann, deutscher Architekt († 1970) 29. September: Georg Ferdinand Duckwitz, deutscher Diplomat († 1973) 29. September: Greer Garson, US-amerikanische Filmschauspielerin († 1996) 29. September: Jean-Pierre Timbaud, Funktionär einer französischen Gewerkschaft († 1941) 29. September: Nikolai Alexejewitsch Ostrowski, sowjetischer Schriftsteller und Revolutionär († 1936) 30. September: Alfred F. Havighurst, US-amerikanischer Historiker († 1991) Oktober 1. Oktober: Hans Brunke, deutscher Fußballspieler († 1985) 1. Oktober: Hermann Ehlers, deutscher Politiker († 1954) 1. Oktober: Otto Frisch, österreichisch-britischer Physiker († 1979) 1. Oktober: Wilhelm Emil Mühlmann, deutscher Soziologe und Ethnologe († 1988) 1. Oktober: Milly Reuter, deutsche Leichtathletin und Olympiateilnehmerin († 1976) 2. Oktober: Graham Greene, britischer Schriftsteller († 1991) 2. Oktober: Lal Bahadur Shastri, indischer Politiker und Regierungschef († 1966) 3. Oktober: Pacho Galán, kolumbianischer Komponist († 1988) 3. Oktober: Friedhelm Missmahl, deutscher Politiker († 1967) 3. Oktober: Charles Pedersen, US-amerikanischer Chemiker († 1989) 5. Oktober: Harald Lechenperg, deutsch-österreichischer Fotograf, Journalist und Dokumentarfilmer († 1994) 6. Oktober: Horst Lange, deutscher Schriftsteller († 1971) 7. Oktober: Armando Castellazzi, italienischer Fußballspieler und -trainer († 1968) 7. Oktober: Günther Schwab, österreichischer Schriftsteller († 2006) 8. Oktober: Yves Giraud-Cabantous, französischer Automobilrennfahrer († 1973) 10. Oktober: Sam Theard, US-amerikanischer Sänger und Songwriter († 1982) 12. Oktober: Ding Ling, chinesische Schriftstellerin († 1986) 13. Oktober: Jutta Hecker, deutsche Schriftstellerin († 2002) 15. Oktober: Wolfgang Weyrauch, deutscher Schriftsteller und Hörspielautor († 1980) 17. Oktober: Eddie Hertzberger, niederländischer Unternehmer und Autorennfahrer († 1993) 17. Oktober: Josef Klehr, SS-Unterscharführer, Sanitäter in Auschwitz, Massenmörder († 1988) 20. Oktober: Tommy Douglas, kanadischer Politiker († 1986) 20. Oktober: Mario von Galli, Jesuit, theologischer Redaktor und Publizist († 1987) 20. Oktober: Sergei Ignatjewitsch Rudenko, sowjetischer Pilot († 1990) 21. Oktober: Heinz Ludwig Ansbacher, deutsch-US-amerikanischer Psychologe († 2006) 21. Oktober: Edmond Hamilton, US-amerikanischer Autor u. a. von Captain Future († 1977) 24. Oktober: Madeleine Delbrêl, französische Schriftstellerin († 1964) 24. Oktober: Theodor Eschenburg, Politikwissenschaftler, Publizist und Staatsrechtler († 1999) 24. Oktober: Moss Hart, US-amerikanischer Schriftsteller († 1961) 24. Oktober: Egon Strohm, deutscher Journalist, Schriftsteller und Übersetzer († 1983) 25. Oktober: Cemal Reşid Rey, türkischer Komponist († 1985) 26. Oktober: Virgilio Felice Levratto, italienischer Fußballspieler und -trainer († 1968) 27. Oktober: Ludwig Raiser, Professor für Bürgerliches, Handels- und Wirtschaftsrecht († 1980) 30. Oktober: Sergio Amidei, italienischer Drehbuchautor († 1981) 30. Oktober: Neil H. McElroy, US-amerikanischer Politiker († 1972) November 3. November: Jānis Kalniņš, kanadischer Komponist († 2000) 3. November: Fritz Manasse, deutscher Jurist († 2006) 3. November: Franz Varelmann, deutscher Politiker und MdB († 1978) 4. November: Friedrich Tamms, Architekt, Professor an der TH Berlin-Charlottenburg († 1980) 4. November: Werner Henneberger, deutscher Architekt, Sozialdemokrat († 1977) 5. November: Alfredo Brilhante da Costa, brasilianischer Fußballspieler († 1980) 6. November: Paul Bleiß, deutscher Politiker († 1996) 7. November: Jonas Aistis, litauischer Dichter und Essayist († 1973) 7. November: Berthold Haupt, Buchdrucker, Kämpfer gegen den Nationalsozialismus († 1933) 7. November: Gino Rossetti, italienischer Fußballspieler († 1992) 7. November: Aaly Tokombajew, kirgisischer Dichter († 1988) 8. November: Etienne Aigner, ungarischer Modeschöpfer († 2000) 9. November: Karl Adolphs, deutscher Politiker († 1989) 9. November: Viktor Brack, nationalsozialistischer Funktionär, Kriegsverbrecher († 1948) 10. November: Hans Ahlgrimm, österreichischer Komponist und Violinist († 1945) 10. November: Max Kukil, deutscher Politiker († 1959) 10. November: Tawee Boonyaket, Landwirtschaftsminister und Premierminister von Thailand († 1971) 10. November: Heinrich Mohn, deutscher Ingenieur, Erfinder und Philanthrop († 2003) 11. November: Alger Hiss, US-amerikanischer Rechtsanwalt († 1996) 11. November: Erna Raupach-Petersen, deutsche Volksschauspielerin († 1997) 11. November: John Henry Constantine Whitehead, britischer Mathematiker († 1960) 12. November: Edmund Veesenmayer, nationalsozialistischer Kriegsverbrecher († 1977) 12. November: Jacques Tourneur, US-amerikanischer Filmregisseur († 1977) 13. November: Fritz Benscher, deutscher Schauspieler, Quizmaster, Moderator, Hörspielsprecher und -regisseur († 1970) 13. November: Günter Reimann, deutscher Ökonom und Journalist († 2005) 13. November: Peter Graf Yorck von Wartenburg, deutscher Jurist und Widerstandskämpfer († 1944) 14. November: Art Hodes, Jazz-Pianist, -Komponist, -Bandleader und -Journalist († 1993) 14. November: Felix Messerschmid, deutscher Pädagoge († 1981) 14. November: Dick Powell, US-amerikanischer Schauspieler († 1963) 14. November: Arthur Michael Ramsey, Erzbischof von Canterbury († 1988) 14. November: Elise Aylen Scott, kanadische Schriftstellerin († 1972) 16. November: Joseph Baumgartner, deutscher Volkswirt und Politiker († 1964) 16. November: Nnamdi Azikiwe, nigerianischer Politiker (Staatspräsident) († 1996) 16. November: Renée Saint-Cyr, französische Schauspielerin († 2004) 17. November: Isamu Noguchi, japanischer Bildhauer († 1988) 17. November: Paul Chaudet, Schweizer Politiker († 1977) 18. November: Mihai Antonescu, rumänischer Politiker († 1946) 19. November: Rudolf Meyer-Ronnenberg, deutscher Politiker († 1973) 19. November: Antonio Vojak, italienischer Fußballspieler und -trainer († 1975) 21. November: Coleman Hawkins, US-amerikanischer Jazz-Musiker († 1969) 22. November: Louis Néel, französischer Physiker († 2000) 23. November: Ludwig Rellstab, deutscher Schachspieler († 1983) 23. November: Carlos Torre Repetto, mexikanischer Schachspieler († 1978) 25. November: Toni Ortelli, italienischer Alpinist, Dirigent und Komponist († 2000) 25. November: Ba Jin, chinesischer Schriftsteller († 2005) 25. November: Lillian Copeland, US-amerikanische Leichtathletin und Olympiasiegerin († 1964) 26. November: Hanna Adenauer, deutsche Kunsthistorikerin († 1978) 26. November: Paul Klüber, deutscher Maler († 1944) 27. November: Klara Blum, deutsch-chinesische Schriftstellerin († 1971) 28. November: Marcel Foucret, französischer Autorennfahrer († 1975) 28. November: Nancy Mitford, englische Schriftstellerin und Biographin († 1973) 29. November: Franz Xaver Lehner, deutscher Komponist und Hochschullehrer († 1986) 30. November: Helmuth Naudé, deutscher Moderner Fünfkämpfer († 1943) 30. November: Robert T. Odeman, deutscher Kabarettist († 1985) 30. November: Clyfford Still, US-amerikanischer Maler († 1980) Dezember 4. Dezember: Albert Norden, DDR-Politiker († 1982) 4. Dezember: Herman Autrey, Mitglied der Band „Fats Waller & his Rhythm“ († 1980) 6. Dezember: Alexander Iwanowitsch Wwedenski (Dichter), russischer Dichter († 1941) 6. Dezember: Eve Curie, Schriftstellerin und Beraterin des Generalsekretärs der NATO († 2007) 7. Dezember: Martin Frey, deutscher Politiker († 1971) 8. Dezember: Christopher Addison, britischer Peer († 1976) 8. Dezember: Marty Barry, kanadischer Eishockeyspieler († 1969) 8. Dezember: Wilmer Allison, US-amerikanischer Tennisspieler († 1977) 9. Dezember: Cornelius Ysselstyn, kanadischer Cellist und Musikpädagoge († 1979) 10. Dezember: Antonín Novotný, tschechoslowakischer Politiker und Staatspräsident († 1975) 11. Dezember: Felix Nussbaum, deutscher Maler († 1944) 11. Dezember: Nicola Riezzo, italienischer Erzbischof († 1998) 11. Dezember: Franz Zauner, katholischer Bischof der Diözese Linz († 1994) 14. Dezember: Gustav Burmester, deutscher Regisseur und Schauspieler († 1978) 14. Dezember: Emmerich Nagy, österreichischer Motorradrennfahrer († 1929) 15. Dezember: Herbert Blankenhorn, Diplomat († 1991) 16. Dezember: Giancarlo Cornaggia-Medici, italienischer Degenfechter († 1970) 16. Dezember: Nakanoshima Kin-ichi, japanischer Komponist († 1984) 18. Dezember: Oskar Müller, österreichischer Fußballtrainer 18. Dezember: George Stevens, US-amerikanischer Regisseur († 1975) 19. Dezember: Fritz Richter, deutscher Grafiker und Maler († 1981) 21. Dezember: Erling Sivertsen, norwegischer Karzinologe und Zoologe († 1989) 24. Dezember: Hugo Friedrich, deutscher Romanist († 1978) 25. Dezember: Gerhard Herzberg, deutsch-kanadischer Chemiker und Physiker († 1999) 25. Dezember: Paul Kunze, niederländischer Fechter († 1983) 25. Dezember: Funabashi Seiichi, japanischer Romanautor († 1976) 26. Dezember: Alejo Carpentier, französisch-kubanischer Schriftsteller († 1980) 27. Dezember: René Bonnet, französischer Automobilrennfahrer und Fahrzeugkonstrukteur († 1983) 27. Dezember: Georg Groscurth, deutscher Arzt und Widerstandskämpfer († 1944) 27. Dezember: Konrad Wölki, deutscher Komponist, Mandolinist († 1983) 28. Dezember: Joseph Offenbach, deutscher Schauspieler († 1971) 28. Dezember: Hori Tatsuo, japanischer Schriftsteller († 1953) 29. Dezember: Michele Abbruzzo, italienischer Schauspieler († 1996) 29. Dezember: Adolf Ott, Anführer des Sonderkommandos 7b in Weißrussland († 1973) 30. Dezember: Edith Schultze-Westrum, deutsche Schauspielerin († 1981) 30. Dezember: Dmitri Borissowitsch Kabalewski, russischer Komponist († 1987) 31. Dezember: Johannes Pietzonka, Forscher († 1989) Dezember: Richard Watney, britischer Automobilrennfahrer und Geschäftsmann († 1949) Genaues Geburtsdatum unbekannt Monroe Abbey, kanadischer Rechtsanwalt († 1993) Aleksandrs Ābrams, lettischer Fußballspieler († unbekannt) Max Aeschlimann, Schweizer Erfinder und Unternehmer († 1971) Glore Becker-Bettermann, deutsche Malerin († 1980) Oscar Muñoz Bouffartique, kubanischer Komponist, Songwriter, Geiger, Pianist und Bandleader († 1990) Pete Briggs, US-amerikanischer Tubist und Bassist Magnus Henning, deutscher Komponist und Pianist († 1995) İsmail Kılıç Kökten, türkischer Archäologe († 1974) Shambhu Maharaj, indischer Tänzer († 1970) Stefan Ochaba, österreichischer Komponist, Kirchenmusiker und Chorleiter († 1948) Paul Van Cuyck, belgischer Automobilrennfahrer († 1985) Hector Vasena, argentinischer Autorennfahrer († 1978) Napoleón Zayas, dominikanischer Merenguemusiker, Komponist, Saxophonist und Orchesterleiter († 1979) Gestorben Januar bis März 2. Januar: Ferdinand Bonaventura Fürst Kinsky, böhmischer Adliger (* 1834) 2. Januar: James Longstreet, General der Konföderation (* 1821) 3. Januar: Otto Karlowa, deutscher Rechtswissenschaftler, Rechtshistoriker und Romanist (* 1836) 9. Januar: Charles Foster, US-amerikanischer Politiker (* 1828) 10. Januar: Alfred Emil Oskar Agster, deutscher Politiker (* 1858) 11. Januar: John Young Brown, US-amerikanischer Politiker (* 1835) 12. Januar: Reinhold Johow, deutscher Jurist (* 1823) 15. Januar: Karl Eduard Ferdinand Ascherson, deutscher Klassischer Philologe und Bibliothekar (* 1832) 15. Januar: Asa S. Bushnell, US-amerikanischer Politiker (* 1834) 24. Januar: Friedrich I., Herzog von Anhalt (* 1831) 24. Januar: Albert Hollenbach, deutscher Orgelbauer (* 1850) 24. Januar: Curt von Knobelsdorff, preußischer Oberstleutnant (* 1839) 24. Januar: Johann Traugott Mutschink, sorbischer Volksschriftsteller und Heimatkundler (* 1821) 27. Januar: Heinrich Otto Lehmann, deutscher Rechtswissenschaftler, Rechtshistoriker und Hochschullehrer (* 1852) 28. Januar: Karl Emil Franzos, österreichischer Novellist, Publizist, Romancier und Herausgeber (* 1848) 7. Februar: Emil Rosenow, deutscher Politiker und Schriftsteller (* 1871) 8. Februar: Malvina Schnorr von Carolsfeld, portugiesische Opernsängerin (* 1825) 11. Februar: Wladimir Markownikow, russischer Chemiker (* 1837) 15. Februar: Mark Hanna, US-amerikanischer Industrieller und Politiker (* 1837) 23. Februar: Friederike Kempner, deutschsprachige Dichterin (* 1828) 28. Februar: Levegh, französischer Automobilrennfahrer (* 1870) 5. März: Alfred von Waldersee, deutscher Militär, Generalfeldmarschall Preußens (* 1832) 7. März: Ferdinand André Fouqué, französischer Geologe (* 1828) 13. März: Hugo von François, deutscher Offizier (* 1861) 17. März: Gideon C. Moody, US-amerikanischer Politiker (* 1832) 24. März: Emma Herwegh, deutsche Revolutionärin (* 1817) 25. März: Conrad Justus Bredenkamp, deutscher evangelischer Theologe und Hochschullehrer (* 1847) 25. März: Sakkalin, König von Luang Phrabang (* 1840) 31. März: Auguste Bernus, Schweizer evangelischer Geistlicher und Hochschullehrer (* 1844) April bis Juni 1. April: Otto von Böhtlingk, Indologe (* 1815) 9. April: Isabella II., Königin von Spanien (* 1830) 13. April: Stepan Ossipowitsch Makarow, russischer Admiral und Polarforscher (* 1849) 13. April: Saitō Ryokuu, japanischer Schriftsteller (* 1867) 13. April: Michail Wassiljew, Kommandant des ersten russischen Eisbrechers (* 1857) 15. April: Eugen Dieterich, Chemiker und Pionier der deutschen pharmazeutischen Industrie (* 1840) 24. April: Friedrich Ecklin, Schweizer evangelischer Geistlicher (* 1830) 24. April: Norodom I., König von Kambodscha (* 1834) 1. Mai: Antonín Dvořák, tschechischer Komponist (* 1841) 5. Mai: Mór Jókai, ungarischer Schriftsteller und Journalist (* 1825) 6. Mai: Franz von Lenbach, deutscher Maler (* 1836) 7. Mai: Peter Hille, deutscher Schriftsteller (* 1854) 8. Mai: Eadweard Muybridge, britischer Fotograf und Pionier der Fototechnik (* 1830) 10. Mai: Henry Morton Stanley, schottischer Journalist und Livingstone-Sucher in Afrika (* 1841) 12. Mai: Paul Chapuis, Schweizer evangelischer Geistlicher und Hochschullehrer (* 1851) 19. Mai: Korla Awgust Kocor, sorbischer Komponist (* 1822) 19. Mai: Jamshedji Tata, indischer Unternehmer und Industrieller (* 1839) 23. Mai: Karl Christian Andreae, deutscher Maler (* 1823) 24. Mai: Friedrich Siemens, deutscher Industrieller (* 1826) 30. Mai: Robert Aßmus, deutscher Landschaftsmaler und Illustrator (* 1837) 1. Juni: George Frederic Watts, britischer Maler (* 1817) 5. Juni: Sami Frashëri, albanischer Literat (* 1850) 7. Juni: Otto von Heinemann, deutscher Bibliothekar und Historiker (* 1824) 10. Juni: Carl Weitbrecht, deutscher Dichter und Literaturhistoriker (* 1847) 12. Juni: Camille de Renesse, belgischer Graf (* 1836) 24. Juni: Frederick Field Bullard, US-amerikanischer Komponist (* 1864) 25. Juni: Wilhelm Jordan, deutscher Schriftsteller (* 1819) 29. Juni: John L. Mitchell, US-amerikanischer Politiker (* 1842) Juli bis September 2. Juli: Henri Béconnais, französischer Automobilrennfahrer (* 1869) 2. oder 3. Juli: Hans Thum, deutscher Unternehmer und Automobilrennfahrer (* 1869) 3. Juli: Theodor Herzl, österreichischer Schriftsteller und Politiker (* 1860) 6. Juli: Abai Qunanbajuly, kasachischer Dichter, Schriftsteller und Denker (* 1845) 14. Juli: Paul Kruger, südafrikanischer Politiker und Gründer des Kruger-Nationalparks (* 1825) 15. Juli: Anton Tschechow, russischer Schriftsteller und Dramatiker (* 1860) 17. Juli: Wilhelm Marr, deutscher politischer Journalist (* 1819) 18. Juli: Friedrich Jakob Dochnahl, deutscher Naturforscher und Pomologe (* 1820) 20. Juli: Friedrich von Schele, deutscher Offizier und Gouverneur von Deutsch-Ostafrika (* 1847) 24. Juli: Fulvio Fulgonio, italienischer Schriftsteller und Librettist (* 1832) 24. Juli: Ernst Friedrich Wilhelm Koenigs, Kölner Bankier (* 1843) 28. Juli: Jules Bovon, Schweizer evangelischer Geistlicher und Hochschullehrer (* 1852) 30. Juli: Joseph Lajeunesse, kanadischer Musiker und Musikpädagoge (* 1818) 31. Juli: Richard Kund, deutscher Offizier und Forschungsreisender (* 1852) 1. August: Martin Binder, deutscher Orgelbauer (* 1849) 2. August: Friedrich Bernhard Gustav von Arnim, preußischer Politiker (* 1820) 4. August: Arnold Krug, deutscher Komponist (* 1849) 6. August: Eduard Hanslick, österreichischer Musikwissenschaftler und Musikkritiker (* 1825) 7. August: William Adams, englischer Ingenieur (* 1823) 8. August: James Cox Aikins, kanadischer Politiker (* 1823) 9. August: Friedrich Ratzel, deutscher Zoologe und Geograph (* 1844) 11. August: Rudolf Ganßer, deutscher Kolonialoffizier (* 1866) 11. August: Alexander Meyer-Cohn, deutscher Bankier und Autographensammler (* 1853) 11. August: Friedrich Reinecke, deutscher Fotograf (* 1837) 15. August/16. August: Adolf Ausfeld, deutscher Klassischer Philologe (* 1855) 18. August: Peter Becker, deutscher Maler (* 1828) 22. August: Kate Chopin, US-amerikanische Schriftstellerin (* 1850) 25. August: Marie von Najmájer, österreichische Schriftstellerin (* 1844) 29. August: Murad V., Sultan des Osmanischen Reiches (* 1856) 3. September: Tommy Fallot, französischer evangelischer Pfarrer und Sozialreformer (* 1844) 4. September: Antonio Chiattone, Schweizer Bildhauer (* 1856) 4. September: Carlo von Erlanger, deutscher Forschungsreisender und Ornithologe (* 1872) 4. September: Martin Johnson Heade, US-amerikanischer Maler (* 1819) 16. September: Gaston Thierry, deutscher Offizier und Kolonialbeamter (* 1866) 18. September: Herbert von Bismarck, Politiker, Sohn des Reichskanzlers Otto von Bismarck (* 1849) 21. September: Chief Joseph, Häuptling der Nez Percé-Indianer (* 1840) 23. September: Émile Gallé, französischer Kunsthandwerker (* 1846) 24. September: Niels Ryberg Finsen, dänischer Arzt und Nobelpreisträger (* 1860) 27. September: Oskar Appelius, deutscher Architekt (* 1837) 29. September: Hugo Knorr, deutscher Maler (* 1834) 29. September: Friedrich Eduard Krichauff, deutsch-australischer Botaniker und Politiker (* 1824) Oktober bis Dezember 1. Oktober: Samuel Rousseau, französischer Komponist (* 1853) 4. Oktober: Frédéric-Auguste Bartholdi, französischer Bildhauer (* 1834) 4. Oktober: Adela Florence Nicolson, englische Lyrikerin (* 1865) 4. Oktober: Henry C. Payne, US-amerikanischer Politiker (* 1843) 4. Oktober: Karl Tanera, deutscher Offizier und Schriftsteller (* 1849) 7. Oktober: Isabella Bishop, britische Reiseschriftstellerin (* 1831) 8. Oktober: Matt Whitaker Ransom, US-amerikanischer Offizier und Politiker (* 1826) 8. Oktober: Clemens Winkler, deutscher Chemiker (* 1838) 12. Oktober: Engelbert Lanz, österreichischer Komponist und Musikpädagoge (* 1820) 13. Oktober: Harald Asplund, schwedischer Ingenieur (* 1831) 15. Oktober: Georg I., Thronfolger Albert I. (Sachsen) (* 1832) 20. Oktober: Henry Hiles, englischer Komponist, Organist und Musikpädagoge (* 1826) 21. Oktober: Isabelle Eberhardt, schweizerisch-französische Weltenbummlerin und Reiseschriftstellerin (* 1877) 22. Oktober: Carl Josef Bayer, österreichischer Chemiker (* 1847) 23. Oktober: Jean-Edouard Barde, Schweizer evangelischer Geistlicher und Hochschullehrer (* 1836) 28. Oktober: George K. Nash, US-amerikanischer Politiker (* 1842) 29. Oktober: Benjamin Harrison Eaton, US-amerikanischer Politiker (* 1833) 4. November: Gaston Serpette, französischer Komponist (* 1846) 4. November: Buren Sherman, US-amerikanischer Politiker (* 1836) 5. November: Heinrich Bertram, deutscher Pädagoge (* 1826) 10. November: Rose Montmasson, italienische Freiheitskämpferin (* 1823) 10. November: Moritz Alphons Stübel, deutscher Naturforscher (* 1835) 26. November: Peter Heinrich Brincker, deutscher Missionar in Deutsch-Südwestafrika (* 1836) 29. November: Fanny Janauschek, Schauspielerin (* 1828) 2. Dezember: Karl Koester, deutscher Pathologe und Hochschullehrer (* 1843) 5. Dezember: James Noble Tyner, US-amerikanischer Politiker (* 1826) 6. Dezember: Maria Zanders, deutsche Papierfabrikantin und Kulturstifterin (* 1839) 11. Dezember: Friedrich Hammacher, deutscher Jurist, Reichstagsabgeordneter und Wirtschaftsführer (* 1824) 12. Dezember: Emanuel Schiffers, russischer Schachmeister (* 1850) 28. Dezember: Otto Intze, Professor für Wasserbau (* 1843) 31. Dezember: Henri Berthoud, Schweizer evangelischer Geistlicher und Sprachwissenschaftler (* 1855) Genaues Todesdatum unbekannt Bertha Akermann-Hasslacher, deutsche Schriftstellerin (* 1840) Camille Andrès, französischer Organist und Komponist (* 1864) William Gillet Ritch, US-amerikanischer Politiker (* 1830) Weblinks https://www.dhm.de/lemo/jahreschronik/1904/ (Lebendiges virtuelles Museum Online)
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Mykene
Mykene, auch Mykenai, Mykenä, veraltet Mycenä oder dichterisch Myzen ( oder , auch als Plural ; ; ), war in vorklassischer Zeit eine der bedeutendsten Städte Griechenlands, nach ihr wurde die mykenische Kultur benannt. Die Stadt lag nördlich der Ebene von Argos auf einer Anhöhe. Von hier überschaute und kontrollierte man den Landweg zwischen südlicher Peloponnes und dem Isthmus von Korinth, der die peloponnesische Halbinsel mit dem übrigen Festland, zunächst mit Attika und Böotien, verbindet. Seit 1999 gehört Mykene gemeinsam mit Tiryns zum UNESCO-Weltkulturerbe. Geschichte Neolithikum Man fand einzelne jungsteinzeitliche Scherben, die vor 3500 v. Chr. datieren. Der Ort war bereits bewohnt, jedoch wurde die Stratigraphie von späteren Baumaßnahmen zerstört. Frühe Bronzezeit Der Beginn der frühen Bronzezeit, auf dem Boden des späteren Griechenlands auch als Frühhelladikum (FH) bezeichnet, wird heute in das letzte Drittel des 4. Jahrtausends datiert. Es sind Kontakte, vor allem zu den Kykladen und ihrer ebenso reichen wie alten Kultur, nachgewiesen. Angenommen wird in dieser Zeit von einigen Forschern auch die Einwanderung indogermanischer Sprecher oder „Proto-Griechen“. Mittlere Bronzezeit Aus der Zeit von 2100 bis 1700 v. Chr. datieren vereinzelte Scherbenfunde, unter ihnen die für das Mittelhelladikum (MH) charakteristische sogenannte minysche Keramik. Die ersten Bestattungen in Gruben oder Steinkisten­gräbern im Westen der Akropolis, teilweise noch innerhalb der frühesten Befestigungsmauern, stammen aus dem 18. vorchristlichen Jahrhundert. Späte Bronzezeit Da eine genauere Datierung nur bei wenigen Funden möglich ist (darunter ein ägyptisches Skarabäus-Amulett), auch dendrochronologische Untersuchungen noch ausstehen, werden die Ereignisse hier nach dem Grabungsbefund, geordnet nach den konventionellen Unterteilungen des Späthelladikums (SH), aufgelistet. Seine größte Blüte erlebte Mykene im 14. und 13. Jahrhundert v. Chr. Die Stadt blieb bis ins 5. Jahrhundert v. Chr. ununterbrochen bewohnt. Späthelladikum I Außerhalb der Umfassungsmauer fand man im Grabzirkel B zehn Steinkistengräber in noch mittelhelladischem Stil und mehrere tiefere Schachtgräber mit Bestattungen in Steinkisten. Reiche Grabbeigaben weisen auf die hohe Stellung der Toten hin. In den Hügeln über den Gräbern fand man Trinkgefäße und Knochen, die Rückschlüsse auf ein außergewöhnliches Totenmahl bieten. Stelen krönten die Grabhügel. Im Grabzirkel A, der in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts v. Chr. in die Befestigungsmauer der Oberstadt integriert wurde und ursprünglich Teil einer größeren Nekropole war, die ihren Ursprung in mittelhelladischer Zeit hat, fand man sechs große Schachtgräber, die Überreste von neun weiblichen, acht männlichen und zwei jugendlichen Körpern enthielten. Die Grabbeigaben waren noch reicher als im Grabzirkel B. Das Vorhandensein von gravierten und eingelegten Schwertern und Dolchen sowie Speer- und Pfeilspitzen lassen keinen Zweifel darüber aufkommen, dass hier Kriegerfürsten und ihre Familien begraben liegen. Zu den hier gefundenen Kunstgegenständen gehören die Goldmaske des Agamemnon, der sogenannte Nestorbecher von Mykene und Waffen. Zusätzlich befanden sich noch einige kleinere Gräber im Grabzirkel A, von denen die meisten allerdings durch die frühen Ausgrabungen Schliemanns zerstört wurden. Späthelladikum II Ab 1600 v. Chr. ersetzten Tholosgräber die Schachtgräber als Hauptgrabform der Oberschicht. Alan Wace teilte die neun Tholosgräber in Mykene nach ihrer Architektur in drei Gruppen ein. Die ältesten – genannt das Kyklopengrab, das Grab von Epano Phournos, und das Grab des Aigisthos – datierte er ins SH IIA. Die älteren Schachtgräber wurden in dieser Zeit mit einiger Mühe konserviert, was darauf schließen lässt, dass sie mittlerweile als kulturelles Erbe der herrschenden Familien betrachtet wurden. So fanden die modernen Archäologen die Schachtgräber weitgehend unberührt vor – im Gegensatz zu den augenscheinlicheren Tholosgräbern, die alle bereits in der Antike oder in späterer Zeit geplündert wurden. Späthelladikum III Um 1350 v. Chr. wurde die Mauer in zyklopischer Bauweise neu errichtet. Der letzte Palast auf der Akropolis wurde im SH IIIA2 errichtet, wobei Vorgängerbauten vollständig abgetragen oder überbaut wurden. Die Architektur der Paläste zu dieser Zeit war in ganz Südgriechenland ähnlich. Es gab einen Thronraum in Form eines Megaron mit einer zentralen Feuerstelle unter einer Dachöffnung, um die vier Säulen standen, die das Dach trugen. Daneben gab es einen Thron, und die verputzten Wände und Böden waren mit Fresken geschmückt. Dieser Raum wurde stets von einem Innenhof mit Säulenhalle betreten, der Innenhof wiederum wurde von einer Terrasse über eine große Treppe erreicht. 2014 wurde ein etwa 50 kg schweres Steinfragment unterhalb der Oberstadt im Bett des ausgetrockneten Flusses Chavos entdeckt, bei dem es sich wahrscheinlich um einen Teil des königlichen Throns aus der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts handelt. Im Tempel innerhalb der Mauern fand man einen Skarabäus der ägyptischen Königin Teje, die mit Pharao Amenophis III. verheiratet war, zusammen mit einer Statue aus dem SH IIIA2 oder B1. Die Beziehungen von Amenophis III. zum Fürstensitz von Mykene werden durch eine Inschrift im Tempel des Amenophis III. bestätigt. Allerdings wird die Regierungszeit von Amenophis III. spät im SH IIIA1 angesetzt. Es ist also wahrscheinlich, dass Amenophis (oder seine Frau) den Skarabäus einer früheren Generation mykenischer Herrscher übersandte, bevor deren Nachfahren diesen (zwei bis drei Generationen später) im Tempel deponierten. Die zweite Tholos-Gruppe – das Grab von Kato Phournos, den Panagia-Tholos und das Löwengrab – datierte Alan Wace zwischen SH IIA und SH IIIB. Die letzte Gruppe umfasst das Schatzhaus des Atreus, das Grab der Klytaimnestra und das Grab der Genien, sie wurde mittels einer Scherbe, die unter der Türschwelle gefunden wurde, ins SH IIIB datiert. Mitte des SH IIIB, um 1250 v. Chr. wurde die Mauer im Westen erweitert und der Grabzirkel A befand sich jetzt innerhalb der Mauern. Zur gleichen Zeit wurde am Haupteingang das bekannte Löwentor errichtet. Über dem Querbalken wurde das Löwenrelief in Form eines Entlastungsdreiecks aufgesetzt, um die Last des Mauerwerks auf die Seitenwände zu verteilen. Im Norden wurde ein unverziertes Tor gebaut. Einige der wenigen ausgegrabenen Häuser außerhalb der Mauern stammen aus der gleichen Zeit. Es sind das Haus der Schilde, das Haus des Ölhändlers, das Haus der Sphingen und das Westhaus, sie waren wahrscheinlich sowohl Wohnhäuser als auch Werkstätten. Etwas später, gegen Ende des SH IIIB, im späten 13. Jahrhundert, wurde die Zitadelle nochmals erweitert. Im Nordosten wurde die Mauer ausgeweitet und mit einem Ausfalltor versehen. Außerdem wurde innerhalb der Mauern in 15 Metern Tiefe eine unterirdische Zisterne angelegt, die über einen Geheimgang mit 99 Stufen erreicht werden konnte. Gespeist wurde die Zisterne durch eine Quelle oberhalb der Stadt durch einen ebenfalls angelegten Tunnel. Während des SH IIIB hatte Mykene seinen Machtbereich bis Pylos im Westen, Kreta im Süden sowie Athen und Theben im Norden ausgedehnt. Niedergang Ab 1200 v. Chr., am Übergang vom SH IIIB zum SH IIIC, begann der Niedergang von Mykene, das seine Vormachtstellung während des 12. Jahrhunderts v. Chr. einbüßen sollte. Wie alle Paläste in Südgriechenland wurde auch der von Mykene kurz nach 1200 v. Chr. zerstört. Die Keramik und deren Verzierung änderten sich während dieser Phase sehr schnell, und Handwerk und Kunst sanken auf ein niedrigeres Niveau herab. Die Siedlung schrumpfte, die Zitadelle sowie die Unterstadt blieben aber bewohnt. In archaischer Zeit wurde auf dem höchsten Punkt ein Hera-Tempel errichtet. Im Jahr 480 v. Chr. beteiligten sich 80 Mykener an der Schlacht bei den Thermopylen. Ein Jahr später schickte Mykene zusammen mit Tiryns 400 Kämpfer in die Schlacht von Plataiai. 468 v. Chr. eroberten die Argiver Mykene, verschleppten die Einwohner und schleiften die Mauern. Während der hellenistischen Zeit wurde die Stadt wiederbesiedelt und ein Theater errichtet. Danach wurde der Ort nur noch kurzzeitig neu besiedelt. Im 3. Jahrhundert v. Chr. wurde Mykene endgültig verlassen. Doch bereits in römischer Zeit wurden seine nun unbewohnten Gemäuer aufgrund der literarischen Kanonisierung der Ilias in der gesamten römisch-hellenistischen Welt zu einer Touristenattraktion. Sehenswürdigkeiten Erhalten und ausgegraben sind heute u. a. die Ruinen der mykenischen Oberstadt. Erwähnenswert sind die Reste der zyklopischen Ringmauer und das Löwentor. Es wurde benannt nach den zwei Löwen, die auf einem Relief über dem Toreingang dargestellt sind, und bildete den Hauptzugang zur Burg. Vermutlich wurde das Tor um 1250 v. Chr. gebaut. Ein zweites kleineres, aber nicht zur Gänze erhaltenes Tor ohne Schmucksteine befindet sich im nördlichen Bereich der antiken Anlage. Die Mauer weist drei Bauphasen auf: Die erste ist um 1350 v. Chr. zu datieren. Mitte des 13. Jahrhunderts wurden dann die Verteidigungsanlagen nach Süden und Westen verstärkt. Um 1200 v. Chr. erfolgte eine nochmalige Verstärkung und Ausdehnung mit der Anlage von Zisternen und Vorratsräumen. Vom mykenischen Palast auf dem höchsten Punkt der Oberstadt sind nur spärliche Reste vorhanden, da ein Brand große Teile des Palastes zerstört hat; auch wurde er in späterer Zeit intensiv überbaut. Der Thronraum war ein großes Gebäude in Megaron-Form. Zum Palast führte eine steile Rampe empor, die größtenteils erhalten ist und wegen der Steigung von ungefähr 20 Prozent nur zu Fuß begangen werden konnte. Von großer Bedeutung sind zwei große Grabzirkel (A und B), die durch Stelen gekennzeichnet waren. In den Grabzirkeln fanden sich jeweils eine ganze Reihe von Schachtgräbern mit sehr reichen Grabbeigaben wie Terrakotten, Tongefäßen, goldenen Masken, Schmuck aus Goldblech usw. In fünf Schachtgräbern waren 17 Gebeine (überwiegend von Männern) zu finden. Der Grabzirkel A, der bereits von Heinrich Schliemann entdeckt wurde, kam bei späteren Erweiterungen der Burganlage in die Burgmauer. Der Grabzirkel B ist erst Anfang der 1950er Jahre ausgegraben worden. In ihm fanden sich zum Teil noch ältere Gräber als im Grabzirkel A. Sie stammen aus dem späten 17. oder frühen 16. Jahrhundert v. Chr. und stehen somit ganz am Anfang der mykenischen Periode. Die frühesten Gräber des Grabrunds A stammen ungefähr aus der Mitte des 16. Jahrhunderts. Weiterhin wurden bisher neun Kuppelgräber von bienenkorbähnlicher Form entdeckt. Sie werden bis heute in der Forschung auch als „Schatzhäuser“ bezeichnet und willkürlich nach mythologischen Figuren, die gemäß der Ilias in Mykene geherrscht haben sollen, benannt (z. B. „Schatzhaus des Atreus“, „Schatzhaus der Klytaimnestra“). Sie besaßen einen überwölbten engen Zugang (genannt Dromos) und wurden durch das Aufschichten großer, bis zu zwölf Tonnen schwerer, genau behauener Steine gebaut. Überreste Mykenes waren schon seit einer französischen wissenschaftlichen Expedition im Jahr 1822 genauer bekannt. Doch haben erst die seit Heinrich Schliemann durchgeführten Ausgrabungen genauere Kenntnisse über die alte Königsburg und die zu ihr gehörenden Bauanlagen wie die Gräber und die Unterstadt ermöglicht. Verschiedene Funde legen einen starken Einfluss der minoischen Kultur auf die mykenischen Griechen nahe. Aber auch Einflüsse aus Ägypten sind denkbar, vor allem im Bereich der Grabriten; bei einer Bestattung konnte eine versuchte Mumifizierung nachgewiesen werden. Die ausgedehnte Unterstadt ist bisher nur wenig erforscht. Nach dem Niedergang von Mykene im vierten vorchristlichen Jahrhundert blieb nur ein kleines bewohntes Dorf bis zum heutigen Tage am Fuße der alten Anlage bestehen, das zwischenzeitlich auch Charváti genannt wurde. Im Jahr 2007 wurde ein Museum unterhalb der alten Burganlage fertiggestellt, in dem einige der hier gemachten Funde zu sehen sind. Ausgrabungen Im Jahr 1700 befreite ein venezianischer Ingenieur die Mauern Mykenes vom Schutt der Jahrhunderte und legte so das Löwentor wieder frei. Erste Zeichnungen von den Mauern, dem Löwentor und dem Grab des Atreus fertigte der französische Geistliche Michel Fourmont, der im Jahr 1729 Mykene besuchte, an. Um 1780 besichtigte Louis Fauvel die Ruinen und vermaß das Schatzhaus des Atreus. Als einer der ersten stellte der Engländer Lord Elgin 1802 Grabungen in Mykene an. 1868 besuchte der deutsche Archäologe und Troja-Entdecker Heinrich Schliemann die Stätte, begann jedoch erst 1876 mit Grabungen. 1877 führte Panagiotis Stamatakis die Ausgrabungen fort. 1884 und 1885 leitete Schliemann mit Wilhelm Dörpfeld eine erneute Ausgrabung. Griechische Mythologie Einer griechischen Sage zufolge wurde die Stadt nach Mykene, der Tochter des Flussgotts Inachos benannt. Pausanias erwähnte noch einen Mykeneus, Sohn des Sparton und Enkel des Phoroneus, nach dem der Ort so benannt sein soll, hielt diese Variante aber für wenig glaubhaft. Nach einer anderen Überlieferung gründete Perseus die Stadt Mykene. Auf einer Reise erfrischte sich der durstige und müde Held mit Wasser, welches sich im Hut eines Pilzes gesammelt hatte oder von einem Schwamm aufgenommen worden war. An diesem Ort gründete er die Stadt, die den Namen des griechischen Wortes für Pilz () in sich trägt. Eine weitere Variante besagt, dass das Ortband (ebenso ) von Perseus’ Schwertscheide sich löste und zu Boden fiel und er dies als Zeichen interpretierte, hier eine Stadt zu gründen. Der Götterkult der Mykener ist später fester Bestandteil der klassisch-griechischen Mythologie geworden. Mythische Könige von Mykene Perseus, Sohn des Zeus und der Danaë Elektryon, Sohn des Perseus und der Andromeda Amphitryon, Sohn des Alkaios Sthenelos, Sohn des Perseus und der Andromeda Eurystheus, Sohn des Sthenelos und der Nikippe Atreus, Sohn des Pelops und der Hippodameia Thyestes, Sohn des Pelops und der Hippodameia Agamemnon, Sohn des Atreus und der Aërope Aigisthos, Sohn des Thyestes und der Pelopeia Aletes, Sohn des Aigisthos und der Klytaimnestra Orestes, Sohn des Agamemnon und der Klytaimnestra Tisamenos, Sohn des Orestes und der Hermione Siehe auch Mykenische Keramik Literatur Heinrich Schliemann: Mykenae. Bericht über meine Forschungen und Entdeckungen in Mykenae und Tiryns. Mit einer Vorrede von W. E. Gladstone. Brockhaus, Leipzig 1878 (digi.ub.uni-heidelberg.de). Adolf Furtwängler (Hrsg.): Mykenische Thongefässe. Festschrift zur Feier des fünfzigjährigen Bestehens des Deutschen Archäologischen Institutes in Rom. Asher, Berlin 1879. Bernhard Steffen: Karten von Mykenai. Reimer, Berlin 1884. Alan J. B. Wace: Mycenae. An archaeological history and guide. Princeton University Press, Princeton (NJ) 1949. Friedrich Matz: Kreta, Mykene, Troja. Die minoische und die homerische Welt (= Grosse Kulturen der Frühzeit. Sammlung Kilpper). 6. Auflage, Cotta, Stuttgart 1965. George E. Mylonas: Mykene. Ein Führer zu seinen Ruinen und seine Geschichte. Ekdotike Athenon, Athen 1993, ISBN 960-213-213-2. Elizabeth French: Mycenae. Agamemnon’s Capital. The site and its setting. Tempus, Stroud u. a. 2002, ISBN 0-7524-1951-X. Cathy Gere: The Tomb of Agamemnon. Mycenae and the search for a hero (= Wonders of the world). Profile Books, London 2006, ISBN 978-1-86197-617-8 (Gesamtdarstellung mit starkem Akzent auf der Rezeptionsgeschichte). Louise Schofield: The Mycenaeans. British Museum Press, London 2007, ISBN 978-0-7141-2090-4 (Deutsch: Mykene. Geschichte und Mythos. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2009, ISBN 978-3-534-21644-4). Katarina Horst u. a. (Hrsg.): Mykene. Die sagenhafte Welt des Agamemnon, wbg Philipp von Zabern in Wissenschaftliche Buchgesellschaft (WBG), Darmstadt 2018, ISBN 978-3-8053-5179-9. Weblinks Seite zu den Ausgrabungen in Mykene (englisch) Seite zu Mykene inklusive neuerer Forschungsergebnisse Zeichnungen von Michel Fourmont: Karte der Argolis mit Lage von Mykene und dem Schatzhaus des Atreus Karte der Argolis mit Lage von Mykene und dem Schatzhaus des Atreus Zeichnung von Mykene und dem Schatzhaus des Atreus (beschädigt) Einzelnachweise Bestandteil einer Welterbestätte in Europa Bestandteil einer Welterbestätte in Griechenland Archäologischer Fundplatz auf dem Peloponnes Mykenische Siedlung Archäologischer Fundplatz in Europa Geographie (Argos-Mykene)
Q132564
96.69735
251421
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Ningxia
Ningxia oder alternativ Ningsia () ist ein Autonomes Gebiet im Nordwesten der Volksrepublik China. Der vollständige chinesische Name ist Níngxià Huízú Zìzhìqū 宁夏回族自治区, Autonomes Gebiet Ningxia der Hui-Nationalität. Geographie Das Autonome Gebiet der Hui grenzt im Osten an die Provinz Shaanxi, im Norden und Westen an die Innere Mongolei und im Süden an die Provinz Gansu. Siehe auch Autonome Verwaltungseinheiten Chinas. Mit einer Fläche von nur 66.000 km² und einer Bevölkerungszahl von 5,6 Millionen zählt Ningxia zu den kleinsten und bevölkerungsärmsten unter den Provinzen und Regionen Chinas, ist aber immer noch mehr als anderthalbmal so groß wie etwa die Niederlande. Das Gebiet wird durch den Gelben Fluss durchflossen, der westlich in Ningxia einfließt und es in Richtung Norden verlässt. Ein weiterer wichtiger Fluss ist der Qingshui He, der von Süden kommend in Ningxia in den Gelben Fluss, bei dessen großer Nordbiegung, mündet. Ningxia befindet sich an der Nordwestgrenze der großen Lößebene, am Übergang zum mongolischen Steppen- und Wüstenland. 38 % der Fläche bestehen aus Hügelland, 27 % aus Schwemmebenen und Becken, 17 % aus Tafelländern, 16 % aus Gebirgen und 2 % aus Wüsten. Die vom Gelben Fluss durchzogenen Schwemmebenen und Becken bilden die wichtigsten agrarwirtschaftlich genutzten Gebiete, die jedoch durch intensive und falsche Nutzung zunehmend an Fruchtbarkeit verlieren. Im Süden und Südwesten wird Ningxia durch das Liupan-Shan-Gebirge und das Quwu-Shan-Gebirge eingeschlossen. Im Norden, wo auch Reste der Großen Mauer Ningxia von der Inneren Mongolei abgrenzen, liegt der Helan Shan. Die höchste Erhebung Ningxias ist 3556 m. Klima Das Klima Ningxias ist kontinental-gemäßigt bei von Süden nach Norden stark abnehmenden Niederschlägen. Während im Süden noch 670 mm Niederschlag im Jahr fallen, sind es im Norden häufig weit unter 200 mm. Dieser nördliche Teil Ningxias gehört zum zentralasiatischen Steppen- und Wüstenbereich. Die Hauptstadt Yinchuan hat etwa 200 mm Niederschlag jährlich, welcher vor allem im Sommer fällt. Die durchschnittliche Januartemperatur Yinchuans beträgt etwa −9 °C, die durchschnittliche Julitemperatur etwa 26 °C, wobei die maximalen Sommertemperaturen auch 40 °C überschreiten können. Obwohl der Name Ningxia übersetzt etwa ruhiger Sommer bedeutet, ist häufiger starker Wind charakteristisch für das Wetter der Region. Administrative Gliederung Das Autonome Gebiet Ningxia setzt sich aus fünf bezirksfreien Städten zusammen. Es sind dies: Yinchuan (), 9.555 km², 1,38 Mio. Einwohner, Hauptstadt; Shizuishan (), 5.213 km², 730.000 Einwohner; Wuzhong (), 20.395 km², 1,1 Mio. Einwohner; Guyuan (), 14.413 km², 1,51 Mio. Einwohner; Zhongwei (), 16.824 km², 1,02 Mio. Einwohner. Geschichte Die Geschichte von Ningxia wird durch zwei Eigenschaften ihrer geografischen Lage bestimmt: Die Lage in der Nähe zur Seidenstraße Die Lage in der Grenzregion zwischen chinesischer Zivilisation und den von Nomaden geprägten Regionen von Zentralasien Eine bedeutende Rolle spielte die Region ab dem 10. Jahrhundert. Nach dem Zusammenbruch der Tang-Dynastie durch Revolten aus dem Inneren und Attacken an seinen Grenzen war besonders der Nordwesten des Reiches Eindringlingen aus Zentralasien ausgesetzt. Im 10. Jahrhundert gründeten die Tanguten, ein Volk, das den Tibetern nahestand, einen starken Staat auf dem Gebiet des heutigen Ningxia. Im Jahre 1038 gab der Herrscher dieses Staates, Li Yuanhao seinem Reich den Dynastienamen Xia, welche in der heutigen chinesischen Geschichtsschreibung als westliche Xia oder Xixia bekannt sind. Versuche der Xia, den Rest Chinas zu erobern, wurden im Jahr 1044 abgewehrt, trotzdem blieben die westlichen Xia im heutigen Gansu und Shaanxi eine starke Macht, welche sich mit den Song aus dem Süden und den Liao aus dem Nordosten um die Vorherrschaft über China stritten. Die Hauptstadt des damaligen Reiches, dessen Staatsreligion der Buddhismus war, befand sich in der Nähe des heutigen Yinchuan und hieß Xingchuan. Um das Jahr 1215 bekamen die westlichen Xia einen neuen Rivalen im Norden, als sich die Mongolen unter Dschingis Khan vereinigten. Eine kurzlebige Allianz mit den Mongolen erlaubte es, Angriffe gegen die Song und Liao durchzuführen. Um die westlichen Xia zu unterwerfen, unternahm Dschingis Khan sechs Feldzüge, wobei er selbst im Jahre 1227 in der Nähe des heutigen Guyuan durch vergiftete Pfeile der Xia tödlich verwundet wurde. Dschingis Khan ordnete kurz vor seinem Tod noch an, die westliche Xia-Dynastie zu vernichten. Seitdem war die Region des heutigen Ningxia kein Zentrum einer Kaiserdynastie mehr. Nach der Vereinigung Chinas unter den Mongolen kam eine große Zahl von Siedlern aus Zentralasien, die die Präsenz des Islam in der Region verstärkten. Diese Muslime nahmen die dominante Kultur der Han-Chinesen und ihre Sprache an, behielten aber ihre Religion bei. Erst im 19. Jahrhundert, als weite Teile Chinas in Aufruhr gegen die Herrschaft der Qing-Dynastie waren, gab es auch Rebellionen unter den Muslimen. Bei der großen Rebellion zwischen 1862 und 1878 wurden weite Teile von Ningxia, aber auch die Nachbarprovinzen Gansu und Shaanxi verwüstet. Zahlreiche Muslime fanden bei der blutigen Niederschlagung der Rebellion den Tod. Von 1912 bis 1949 herrschten die erst mit den Guominjun, dann mit den Kuomintang verbündeten muslimisch-chinesischen Hui-Warlords der Ma-Clique (Xibei San Ma) von Ningxia aus über Gansu bis Qinghai. Im Jahre 1928 wurde die Provinz Ningxia zum ersten Mal gegründet, damals durch Abspaltung von Gansu, welches seinerseits kurz zuvor aus Shengan hervorgegangen war. Sie umfasste damals nicht nur das Gebiet, welches heute als Ningxia bekannt ist, sondern auch große Gebiete nördlich davon, die heute zur Inneren Mongolei gehören, aber nur aus unbewohnter Wüste bestehen. Nachdem die Kommunisten im Jahre 1948 die Kontrolle über die Region erlangten, wurden Ningxia und seine Nachbarprovinzen bis 1954 unter die Verwaltung der Nordwestadministration gestellt. 1954 wurde Ningxia wieder aufgelöst und in die Provinz Gansu eingegliedert. Aber schon 1958 wurde Ningxia als autonomes Gebiet für die muslimische Hui-Nationalität neu gegründet. Im gleichen Jahr wurde auch die Eisenbahnlinie zwischen Baotou in der Inneren Mongolei und Lanzhou in Gansu fertiggestellt. Bevölkerung Die Bevölkerungszählung aus dem November 2000 ergab eine Bevölkerung von 5,62 Millionen, für Ende 2006 wurden 5,9 Millionen geschätzt. Dies bedeutet eine relativ geringe Bevölkerungsdichte von etwa 85 Personen pro Quadratkilometer. Da es keine Beschränkung des Zuzuges in die Region gibt, ist die Bevölkerung zwischen 1990 und 2000 um etwa ein Fünftel gewachsen. Obwohl die Region für die Hui-Chinesen eingerichtet wurde, besteht die Bevölkerung mehrheitlich aus Han-Chinesen. Der Rest, etwa 35 Prozent, besteht aus chinesischen Muslimen, die von Händlern abstammen, die über die Seidenstraße in die Region gekommen waren oder zum Islam konvertierten Han-Chinesen. Später, im 14. und 15. Jahrhundert, wurde dieser Bevölkerungsteil durch Siedler aus Zentralasien verstärkt. Somit haben sowohl der Islam, aber auch der Daoismus und Buddhismus, eine sehr lange Tradition in dieser Region. Noch bis zum Ende des 19. Jahrhunderts hatten Hui und andere muslimische Völker in der Provinz Gansu (zu welcher das Gebiet Ningxia bis 1958 gehörte) über 90 % der damaligen Bevölkerung (8,35 Mio. von 9,3 Mio. Einwohnern) ausgemacht. Die Bevölkerungszählung 2000 ergab auch, dass etwa 32 Prozent der Bevölkerung in Städten leben. Die wichtigste Stadt ist Yinchuan, die sich im Norden der Region zwischen dem Gelben Fluss und dem Helan-Shan-Gebirge befindet. Sie ist mit 1,38 Millionen die größte Stadt und auch die Hauptstadt der Region. Weitere wichtige Städte im Norden sind Shizuishan (mit der Stadtregierung in Dawuko) und Wuzhong. Im Süden gibt es nur eine größere Stadt, nämlich Guyuan. Wirtschaft Ningxia gehört zu den ärmeren Teilen der Volksrepublik, wobei das BIP im Jahr 2000 4839 RMB betrug. Der südliche Teil gehört zu den ausgeprägtesten Armutsregionen der Volksrepublik China und erhält deshalb besondere Finanzzuweisungen der Zentralregierung. Hierbei handelt es sich um das vor allem von den muslimischen Hui bewohnte Gebiet. Im Jahr 2000 wurden 17 % des BIP im primären Sektor erwirtschaftet (1994: 22 %), wobei dieser Sektor 58 % der Arbeitskräfte beschäftigte. Es werden vor allem Getreide (Mais, Weizen, Reis) und Gemüse (v. a. Hülsenfrüchte) angebaut, wobei jeglicher Feldbau Bewässerung voraussetzt. Ein Drittel des landwirtschaftlichen Ertrages wird mit der Viehhaltung erwirtschaftet, wobei die Haltung von Schafen, Ziegen, Schweinen und Rindern dominiert. Mit 80,8 Stück Vieh pro km² weist Ningxia die höchste Viehdichte aller Provinzen und Autonomen Regionen Chinas auf; die Folgen sind Überweidung und Desertifikation. Besonderheiten der Landwirtschaft stellen die Wolle und die Haut von wilden Argali-Schafen, facai (ein Moos, das als Gemüse gegessen wird), Lakritzwurzeln und Goji-Beeren (Lycium barbarum) dar, wobei der Konsum von Letzteren für das bemerkenswert hohe Alter, das einige der Bewohner von Ningxia erreichen, verantwortlich gemacht wird. Eine zunehmende Rolle spielt der Weinbau. Der sekundäre Sektor erwirtschaftet 45 % (2000, 1994: 42 %) des BIP. Bedeutend ist die Bauindustrie, deren Umsatz allein 10 % des gesamten BIP ausmacht, was eine Folge der hohen Investitionen der Zentralregierung in die Infrastruktur Westchinas darstellt. In Ningxia befinden sich große Kohlevorkommen von guter Qualität, weitere wichtige Bodenschätze sind Erdöl, Gips, Kalk, Eisenerz und Helan-Stein (eine spezielle Tonart). 84 % des Wertes der Industrieproduktion stammt aus der Schwerindustrie. Die Industrie (Metallindustrie, chemische Industrie, Maschinenbau) konzentriert sich fast ausschließlich auf die Standorte Yinchuan und Shizuishan im Norden der Autonomen Region. Etwa 38 % der Wirtschaftsleistung stammen aus dem tertiären Sektor (1994: 36 %), der Großteil aus Handel und Verkehr. Der Tourismus spielt eine sehr untergeordnete Rolle, keine Provinz der Volksrepublik hat niedrigere Einnahmen aus dem Tourismus als Ningxia. Der erste Abschnitt des Solarkraftwerk Tengger Desert wurde als erstes Projekt für erneuerbare Energien in der Tengger-Wüste an das Stromnetz angeschlossen und hat mit der Stromerzeugung begonnen. Dem Betreiber des Solar- und Windparks, China Energy Investment Corp, zufolge soll das Projekt mit einer installierten Leistung von einer Million Kilowatt jährlich 1,8 Milliarden Kilowattstunden Strom erzeugen, was dem Strombedarf von 1,5 Millionen Haushalten entspricht. Infrastruktur Zieht man in Betracht, dass Ningxia in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu den abgelegensten Regionen gehörte, so konstatiert man große Fortschritte im Ausbau der Infrastruktur. Im Jahr 2000 gab es fast 10.000 km Straße, wovon etwa 100 km Autobahn waren. Dazu kommen über 700 km Eisenbahn und 400 km schiffbare Wasserwege. Ningxia behauptet von sich, die einzige Region Nordwestchinas zu sein, in der alle Dörfer an das Elektrizitätsnetz angeschlossen sind. Bildung Die Analphabetenrate im Jahr 2000 wird mit 13,4 % angegeben, was innerhalb Chinas ein relativ hoher Wert ist. Trotz der landwirtschaftlichen Prägung dieser Region ist sie gegenüber 1990 jedoch merklich zurückgegangen. Weblinks Informationsseite (englisch) Einzelnachweise Autonomes Gebiet (China)
Q57448
222.87457
77252
https://de.wikipedia.org/wiki/Komma
Komma
Das Komma (von ; Pl. Kommata oder auch Kommas) wird als Satzzeichen und Trennzeichen verwendet. Als Satzzeichen wird es besonders in Österreich und Südtirol auch Beistrich genannt. Als Trennzeichen wird das Komma in vielen Ländern als Dezimaltrennzeichen bei Zahlen oder beim Separieren von Daten und Werten benutzt. Als Satzzeichen bewirkt das Komma eine schwächere Trennung als das Semikolon und der Punkt. Begriffsgeschichte Komma leitet sich vom Altgriechischen κóμμα (kómma) = Einschnitt, Abschnitt her, daher kommt auch der Plural Kommata. Die heutige Form des Kommas ist auf den Drucker und Typografen Aldus Manutius (gest. 1515) zurückzuführen, der es mit der Einführung weiterer Satzzeichen aus der Virgel entwickelte. Philipp von Zesen (gest. 1689) deutschte den Begriff Komma mit Beistrich ein. Das Wort wurde bzw. wird u. a. von Bertolt Brecht, in älteren Duden-Ausgaben und selbst in neueren Werken verwendet; dennoch wird in Deutschland und in der Schweiz „Beistrich“ eher selten verwendet, während das Wort in Österreich weiterhin gebräuchlich ist. Als Satzzeichen Beim Schreiben dient das Komma zur Strukturierung des Satzes und trennt bestimmte Elemente voneinander: So werden im Deutschen Kommas zwischen Hauptsätzen und Nebensätzen, aber auch zwischen einzelnen Elementen einer Aufzählung gesetzt. Ebenso werden Beisätze (Appositionen) und Nachstellungen durch Kommas vom Rest des Satzes abgetrennt. Das Komma trägt zur Verständlichkeit und besseren Lesbarkeit von Texten bei, da im Gegensatz zur gesprochenen Rede die Sprachmelodie auf dem Papier verloren geht. So ist folgender Satz ohne Kommas beim ersten Lesen verwirrend, weil er einen starken Holzwegeffekt erzeugt: „Manfred las das Buch auf den Knien der Tochter eine Gute-Nacht-Geschichte vor.“ Erst mit der Kommasetzung wird der Satz verständlich bezüglich der Frage, auf wessen Knien das Buch nun liegt: „Manfred las, das Buch auf den Knien, der Tochter eine Gute-Nacht-Geschichte vor.“ Ein eingängigeres Beispiel für die verschiedenen möglichen Bedeutungen, die durch die Kommas gesteuert werden, ist: „Manfred las das Buch auf den Knien zu Ende.“ und „Manfred las, das Buch auf den Knien, zu Ende.“ Im ersten Satz liest Manfred das Buch bis ganz zum Schluss, während er selbst kniet. Im zweiten Satz liest Manfred einen Abschnitt, aber nicht zwingend das ganze Buch, zu Ende, während das Buch dabei auf Manfreds Knien liegt. Ein anderes Beispiel für einen Doppelsinn gibt eine fiktive Kurzgeschichte. Ein Verbrecher soll gehängt werden, doch der König erfährt durch einen Boten in letzter Sekunde, dass der Todgeweihte unschuldig ist. Nun richtet er eine Nachricht an den Scharfrichter, die Nachricht heißt: „Wartet nicht, hängen!“ Der Scharfrichter erhält die Nachricht und hängt den Unschuldigen zur Empörung des Königs. Dieser hatte einen Beistrichfehler gemacht, er wollte eigentlich schreiben: „Wartet, nicht hängen!“ Für die korrekte und standardisierte Verwendung von Kommas gelten Kommaregeln, die in der Grammatik einer Sprache beschrieben werden. Die Kommaregeln für das Deutsche wurden im Zuge der Rechtschreibreform von 1996 mit dem Ziel einer Vereinfachung grundlegend geändert; dabei wurde die Kommasetzung in vielen Fällen freigestellt. Mit der Überarbeitung des Reformregelwerks im Jahr 2006 wurde die Kommasetzung nochmals modifiziert; vor allem viele Freistellungen wurden mit dem Ziel einer besseren Lesbarkeit zurückgenommen. Die Kommasetzung unterliegt bei künstlerischen Werken einer größeren Freiheit: In lyrischen Texten kann die Interpunktion (Zeichensetzung) völlig verschwinden, zur besonderen Betonung oder Gliederung verwendet werden oder aber auch selbst Teil eines Sprachspiels sein. Auch epische Texte weisen oftmals eine sehr eigenwillige Kommasetzung auf – als Beispiel sei auf Kleist verwiesen, der die Kommas nicht nach Regeln, sondern nach seinem Gutdünken setzte. Die Griechen führten bereits in der Rhetorik Begriffe wie Kolon und Komma ein, um allgemein einen Satz bzw. Satzteile zu benennen. Aber es war im 15. Jahrhundert der venezianische Buchdrucker und Verleger Aldus Manutius (der Ältere), der ein Kommazeichen als Satzzeichen in seinen Druckerzeugnissen zu verwenden begann. Für die druckhandwerkliche Gestaltung einer Interpunktion wurden seine Ausgaben der Werke Petrarcas und Bembos unter anderem durch die Formgebung für das Komma zur Markierung von Teilen innerhalb eines Satzes wegweisend. Der Begriff Komma wurde dann zu Beginn der Neuzeit auf das Satzzeichen angewandt, das nun die Sinnabschnitte innerhalb eines Satzes voneinander zu trennen erlaubte. Manutius' Enkel Aldus Manutius der Jüngere legte 1566 zudem ein Satzzeichen-System vor, konsequent angewandt in der Antiqua, dem Schriftsatz für lateinische Texte. Beide hatten ein grundlegendes Verständnis von Satzzeichen als syntaktische Gliederungszeichen und verwendeten auch das Komma erstmals systematisch und einheitlich. Ihre Interpunktion war beispielgebend. Heute hat man im Wesentlichen ihre Vorstellungen übernommen. Martin Luther verwendete bei der Übersetzung der Bibel ins Deutsche in seinen Schriften, wie damals in der Frakturschrift üblich, für allgemeine Trennungen innerhalb von Sätzen statt eines Kommas die Virgel, also einen Schrägstrich, dessen Verwendung aus dem Fraktursatz erst um 1700 endgültig verschwand. Die technische Revolution des Buchdrucks, durch die sich Druckerzeugnisse leicht vervielfältigen ließen, die zunehmende Lesefähigkeit der Bevölkerung und der Trend in der immer komplexeren Gesellschaft, immer mehr schriftlich festzuhalten, führte zu einer Standardisierung und Homogenisierung der Schriftzeichen, was auch zu einer Verfestigung der grafischen Form des Kommas bei der Verwendung in Druckwerken führte. Als Dezimaltrennzeichen In den meisten europäischen Ländern verwendet man das Komma in der Mathematik in einer Dezimalzahl als Dezimaltrennzeichen. Sollte das Komma zusätzlich als Trennsymbol in Aufzählungen von Dezimalzahlen erscheinen, weicht man, um Verwechslungen mit Dezimalzahlen zu vermeiden, entweder auf das Semikolon aus, oder man setzt nach dem Komma einen deutlich sichtbaren Abstand. Im englischsprachigen Raum wird das Komma zur Trennung von Tausenderstellen in Zahlen verwendet; die englischsprachige Verwendung von Punkt und Komma in Zahlen ist also gegenüber Deutschland und Österreich umgekehrt. Nationale Besonderheiten Schweiz In der Schweiz ist die Verwendung von Punkt oder Komma als Dezimaltrennzeichen uneinheitlich; beide werden üblicherweise immer als „Komma“ gelesen. Auch an den Schulen wird eine nicht einheitliche Praxis verfolgt: Die Schulen des Kantons St. Gallen wie auch des Kantons Zürich lehren beispielsweise den Dezimalpunkt. Es kommt vor, dass in der Unterstufe/Primarschule das Komma (wie es gesprochen wird), ab der Mittelstufe der Punkt gelehrt wird. In amtlichen Dokumenten des Bundes wird gemäß den Weisungen der Bundeskanzlei grundsätzlich das Komma verwendet, bei Geldbeträgen wird jedoch zwischen der Währungseinheit und der Untereinheit ein Punkt gesetzt. Den Punkt verwendet zudem das Bundesamt für Landestopographie für die Schweizer Landeskoordinaten. Bei vielen Textverarbeitungsprogrammen ist in der schweizspezifischen Spracheinstellung der Punkt als Dezimaltrennzeichen definiert, auf dem Ziffernblock schweizerischer Tastaturen wird ebenfalls der Punkt verwendet. Als Tausendertrennzeichen werden aber weder Punkt noch Komma benutzt. Sofern als Tausendertrennzeichen nicht ein Leerzeichen gesetzt wird, kommt dafür der (gerade) Apostroph zur Anwendung. Österreich und Südtirol In Österreich und in Südtirol wird die Bezeichnung „Komma“ nur bei Zahlen verwendet, als Bezeichnung für das Satzzeichen hat sich der Begriff „Beistrich“ etabliert. Das Komma im Englischen Im Englischen gelten etwas andere Kommaregeln als im Deutschen. Eine Besonderheit dort ist etwa das serielle Komma, das in Aufzählungen mit drei oder mehr Aufzählungselementen unmittelbar vor die Konjunktion and („und“) gesetzt wird. Siehe auch Kommaregeln im Deutschen Kommaregeln im Spanischen Literatur Burckhard Garbe (Hrsg.): Texte zur Geschichte der deutschen Interpunktion und ihrer Reform 1462–1983. Olms, Hildesheim/Zürich/New York 1984, ISBN 3-487-07475-3 (= Germanistische Linguistik. 4–6/83). Frank Kirchhoff: Von der Virgel zum Komma. Die Entwicklung der Interpunktion im Deutschen. Winter, Heidelberg 2017, ISBN 978-3-8253-6776-3. Rat für deutsche Rechtschreibung: Deutsche Rechtschreibung, Regeln und Wörterverzeichnis. Entsprechend den Empfehlungen des Rats für deutsche Rechtschreibung. Überarbeitete Fassung des amtlichen Regelwerks 2004 (PDF; 740 kB). Weblinks Fußnoten Kommaregeln Satzzeichen
Q161736
183.36408
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https://de.wikipedia.org/wiki/1700
1700
Ereignisse Politik und Weltgeschehen Großer Nordischer Krieg 13. Januar: Schweden, England und Holland schließen einen Allianzvertrag in Haag. 12. Februar: Eine Invasion der sächsischen Armee unter Jacob Heinrich von Flemming in Livland ohne Kriegserklärung und die auf einen fehlgeschlagenen Überraschungsangriff folgende erste Belagerung von Riga ist die erste feindliche Handlung im ausbrechenden Großen Nordischen Krieg. Die Belagerung kann von den Sachsen aber nicht aufrechterhalten werden, denn dem sächsischen Heer fehlt eine wirkungsvolle Artillerie, um die Stadt zu bombardieren, und die Infanterie kann keinen kompletten Belagerungsring um die Stadt ziehen, so dass es 350 livländischen Wagenfahrern gelingt, die Belagerungslinien der sächsischen Infanterie zu durchbrechen und die Festung mit Vorräten zu versorgen. 11. März: Dänemark erklärt Schweden den Krieg und marschiert in das schleswig-holsteinische Teilherzogtum Schleswig-Holstein-Gottorf ein. 13. bis 15. März: Sächsische Einheiten unter Jacob Heinrich von Flemming erobern die Festung Dünamünde, die in Augustusburg umbenannt wird. 22. März: Die Belagerung von Tönning durch den dänischen König Friedrich IV. beginnt. 17. Mai: Schwedische Entsatzeinheiten unter dem Befehl von Georg Johann Maydell landen bei Riga und schlagen die Sachsen im Gefecht bei Jungfernhof. Die sächsischen Truppen brechen die Belagerung Rigas ab, weichen hinter die Dvina aus und warten zunächst Verstärkung ab. 5. Juni: Der polnische König August der Starke, gleichzeitig Kurfürst von Sachsen, beginnt persönlich die zweite Belagerung von Riga. Juli: Als sächsische Verstärkungen im Juni unter Generalfeldmarschall Adam Heinrich von Steinau eintreffen, gehen die polnisch-sächsischen Einheiten wieder zum Angriff über und schlagen ein schwedisches Detachement unter General Otto Ottoson Vellingk in der Nähe von Jungfernhof. 3. Juli: Russland und das Osmanische Reich signieren den Vertrag von Konstantinopel, der den Russisch-Türkischen Krieg von 1686–1700 beendet. Asow und Taganrog fallen an Russland. 4. August: Unter dem Schutz der eigenen Flotte landet der schwedische König Karl XII. auf der dänischen Hauptinsel Seeland, lässt Kopenhagen einschließen und im August mit der Belagerung der dänischen Hauptstadt beginnen. 18. August: Schwedens König Karl XII. erzwingt vom dänischen König Friedrich IV. durch die auf Seeland eingedrungenen und Kopenhagen bedrohenden Streitkräfte den Frieden von Traventhal. Die antischwedische Koalition im Großen Nordischen Krieg verliert damit Dänemark als ihren Partner. Die Belagerung der Festung Tönning durch die Dänen wird abgebrochen. 19. August: Gleich nach der Kriegserklärung Russlands an Schweden rücken das versammelte russische Heer und andere Truppenabteilungen in das schwedische Estland und Ingermanland ein. 28. August: Die Bombardierung von Riga durch die sächsisch-polnische Armee beginnt. Dabei werden auch Handelskontore von englischen und holländischen Kaufleuten zerstört. 1. Oktober: Eine aus 200 Schiffen und mit 8000 Mann besetzte schwedische Flotte geht vom schwedischen Festland aus in Segel, um das belagerte Riga zu entsetzen. August der Starke bricht daraufhin die Belagerung ab, nachdem auch England und die Niederlande formell ihre Handelsinteressen in Riga bekräftigt haben. 4. Oktober: Unter Alexander Artschilowitsch Imeretinski beginnt die Belagerung von Narva durch die russische Armee. 17. Oktober: Die von Sachsen belagerte kleinere schwedische Festung Kokenhausen wird erobert. 4. bis 14. November: Nach zehntägiger Beschießung von Narva geht den russischen Truppen die Munition aus. 17. November: Karl XII. besiegt russische Einheiten im Gefecht am Pühhajoggi-Pass auf dem Weg nach Narva. 30. November: Karl XII. besiegt in der Schlacht bei Narva die russische Armee. In der Annahme, sie jederzeit wieder schlagen zu können, unterlässt er es, sie zu verfolgen, um eine Entscheidung herbeizuführen, und wendet sich stattdessen gegen Polen unter August dem Starken. Spanischer Erbfolgekrieg 25. März: Zwischen den Seemächten (England, Niederlande) und Frankreich kommt es (nach 1698) zum zweiten Erbteilungsvertrag des bald zu erwartenden spanischen Erbes. 1. November: Der spanische König Karl II. stirbt, mit ihm sterben die spanischen Habsburger aus. In seinem Testament hat er am 3. Oktober auf französischen Druck Philipp von Anjou, Enkel Ludwigs XIV. von Frankreich, zum Erben eingesetzt. Dagegen setzt der römisch-deutsche Kaiser Leopold I. Erbansprüche als Gatte der jüngeren Schwester Karls II., der bereits 1673 verstorbenen Margarita Theresa von Spanien. Um die Thronfolge bricht der Spanische Erbfolgekrieg aus. 24. November: Der Bourbone Philipp von Anjou wird als Philipp V. zum König von Spanien proklamiert. Heiliges Römisches Reich 16. November: Kaiser Leopold I. stimmt im so genannten Kontraktat zu, dass sich der brandenburgische Kurfürst Friedrich III. nach Erfüllen bestimmter Bedingungen künftig als König in Preußen bezeichnen darf und damit im Rang steigt. (vgl. Königskrönung Friedrichs III. von Brandenburg) Der Aufstand von Franz II. Rákóczi beginnt, als der ungarische Adelige Franz II. Rákóczi Kontakt zu Ludwig XIV. von Frankreich aufnimmt und um Unterstützung bei einem Aufstand gegen die Habsburger bittet. Aus Frankreich vertriebene Waldenser gründen im Herzogtum Württemberg den Ort Le Bourset, das heutige Neuhengstett. Republik Venedig 17. Juli: Alvise Mocenigo II. wird als Nachfolger des am 7. Juli verstorbenen Silvestro Valier zum Dogen von Venedig gewählt. Er lässt seine Wahl mit tagelangen Festgelagen und Feuerwerken in der Stadt feiern. Wirtschaft 2. Mai: In Ziesar wird der Baubetrieb Hotibag gegründet. 28. Mai: Die kursächsische Glashütte Glücksburg wird gegründet. 15. Juni: Das Hofpostamt in Berlin wird gegründet. In München wird ein Handelsgeschäft gegründet, aus dem sich die Delikatessenhandlung Dallmayr entwickelt. Wissenschaft und Technik 27. Februar: Auf seiner Fahrt entlang der Küste von Neuguinea mit seinem Schiff Roebuck entdeckt der englische Kapitän William Dampier die Insel Neubritannien und die nach ihm benannte Dampierstraße. Der schlechte Zustand seines Schiffes und die an Skorbut leidende Mannschaft zwingen Dampier jedoch, nach Timor zurückzukehren, das er im Mai erreicht. 11. Juli: In Berlin wird die Preußische Akademie der Wissenschaften gegründet, deren erster Präsident Gottfried Wilhelm Leibniz wird. Um 1700 wird Kitt als Dichtstoff entwickelt. um 1700: Isaac Newton schlägt die Newton-Skala als Temperaturskala vor. Dabei definiert er den Nullpunkt bei schmelzendem Schnee und 33 Grad als kochendes Wasser. Kultur 6. Juni: Die Uraufführung der Oper Atys o L'inganno vinto dalla Costanza von Attilio Ariosti findet in der Lietzenburg in Berlin statt. Das Libretto stammt von Ortensio Mauro. Gesellschaft 1. Januar: Zar Peter I. ersetzt die bis dahin in Russland geltende byzantinische Jahreszählung ab Erschaffung der Welt durch den julianischen Kalender mit Jahreszählung ab der Geburt Christi. 1. März: In den protestantischen Teilen des Heiligen Römischen Reiches und in Dänemark wird der Gregorianische Kalender eingeführt. Der vorige Tag war der 18. Februarjul.. In Schweden wird als Übergang zwischen Julianischem und Gregorianischem Kalender der Schwedische Kalender eingeführt. Religion 15. August: Der Patriarch der Maronitischen Kirche in Syrien Gabriel II. al Blouzani gründet den Mönchsorden der Maronitischen Antonianer. Die ersten Ordensmitglieder rekrutieren sich aus dem Libanesischen Maronitischen Orden. 4. September: Die Rumänische griechisch-katholische Kirche schließt eine Union mit der katholischen Kirche. 23. November: Giovanni Francesco Albani, Kardinaldiakon der Kirche Santa Maria in Aquiro, wird als Nachfolger des am 27. September verstorbenen Innozenz XII. vom Konklave zum Papst gewählt. Er nimmt zu Ehren des Tagesheiligen Clemens von Rom den Namen Clemens XI. an. um 1700: Kurfürst Johann Wilhelm von der Pfalz stiftet das Kloster Sankt Maria in Neuburg an der Donau. Das Kloster erhält eine eigene Kirche St. Ursula und ist eine Bildungsanstalt für Mädchen aller Stände. Katastrophen 26. Januar: Das Kaskadien-Erdbeben von 1700 vor der Westküste Nordamerikas löst einen Tsunami aus, der bis nach Japan kommt. Historische Karten und Ansichten Geboren Erstes Halbjahr 14. Januar: Christian Friedrich Henrici, wichtigster Textdichter Johann Sebastian Bachs († 1764) 23. Januar: Johann Christian Joseph, Erbprinz der Kurpfalz († 1733) 2. Februar: Johann Christoph Gottsched, deutscher Schriftsteller, Dramaturg, Sprachforscher und Literaturtheoretiker († 1766) 8. Februar: Daniel Bernoulli, Schweizer Mathematiker und Physiker († 1782) 16. Februar: Pedro Messía de la Cerda, spanischer Offizier, Kolonialverwalter und Vizekönig von Neugranada († 1783) 3. März: Charles-Joseph Natoire, französischer Maler († 1777) 4. März: Louis Auguste de Bourbon, Herzog von Maine und Fürst von Dombes († 1755) 4. März Salomon Kleiner, Architekturzeichner und -stecher aus Augsburg († 1761) 13. März: Michel Blavet, französischer Flötist und Komponist († 1768) 20. März: Benedykt Chmielowski, polnischer Priester und Enzyklopädist († 1763) 21. März: Ernst Joachim Westphal, deutscher Verwaltungsjurist und Politiker († 1759) 25. März: Abraham Kyburz, Schweizer evangelischer Geistlicher († 1765) 1. April: Ulrich von Löwendal, Feldherr und Marschall von Frankreich († 1755) 29. April: Karl Friedrich, Herzog von Schleswig-Holstein-Gottorf († 1739) 2. Mai: Charlotte von Hanau-Lichtenberg, Landgräfin von Hessen-Darmstadt († 1726) 7. Mai: Gerard van Swieten, österreichischer Mediziner niederländischer Herkunft († 1772) 12. Mai: Luigi Vanvitelli, italienischer Architekt († 1773) 14. Mai: Mary Delany, englische Malerin, Gartenkünstlerin und Autorin († 1788) 17. Mai: Conrad Mannlich, deutscher Maler († 1758) 26. Mai: Nikolaus Ludwig von Zinzendorf, deutscher lutherisch-pietistischer Theologe, Gründer und Bischof der Herrnhuter Brüdergemeine und Dichter zahlreicher Kirchenlieder († 1760) 10. Juni: Ewald Georg von Kleist, preußischer Jurist und Naturwissenschaftler († 1748) 16. Juni: Pietro Bracci, italienischer Bildhauer († 1773) 19. Juni: Charles de Bourbon, Graf von Charolais, Libertin († 1760) 20. Juni: Peter Faneuil, amerikanischer Kolonial-Kaufmann († 1743) Zweites Halbjahr 6. Juli: Joseph Gabler, deutscher Orgelbaumeister († 1771) 29. Juli: Peter Joseph Kofler, Bürgermeister von Wien († 1764) 13. August: Heinrich von Brühl, kurfürstlich-sächsischer und königlich-polnischer Premierminister († 1763) 16. August: Clemens August von Bayern, Erzbischof von Köln († 1761) 17. August: Johann Michael Beer von Bleichten, österreichischer Baumeister und Architekt († 1767) 25. August: Johann Friedrich Stoy, deutscher evangelischer Theologe († 1760) 27. August: Joaquín de Montserrat, spanischer Offizier, Kolonialverwalter und Vizekönig von Neuspanien († 1771) 3. September: Friedrich Christian von Fürstenberg, Präsident des geheimen Rates des Fürstbistums Paderborn und kurkölnischer Kabinetts- und Konferenzminister († 1742) 11. September: James Thomson, schottischer Dichter († 1748) 14. September: Johann Michael Franz, deutscher Geograph († 1761) 20. September: Benedict Leonard Calvert, britischer Kolonialgouverneur von Maryland († 1732) 20. September: Viktor II. Friedrich, Fürst von Anhalt-Bernburg († 1765) 29. September: Caroline von Erbach-Fürstenau, Herzogin und Regentin von Sachsen-Hildburghausen († 1758) 2. Oktober: Erasmus Fröhlich, österreichischer Jesuit, Historiker, Bibliothekar und Numismatiker († 1758) 10. Oktober: Lambert-Sigisbert Adam, französischer Bildhauer († 1759) 14. Oktober: Anastassija Trubezkaja, russische Fürstin und Erbprinzessin von Hessen-Homburg († 1755) 22. Oktober: Charlotte Aglaé d’Orléans, französische Adelige und Herzogin von Modena († 1761) 30. Oktober: Christian Ernst Simonetti, deutscher lutherischer Theologe († 1782) 7. November: Erdmuthe Dorothea von Zinzendorf, deutsche Pietistin und Kirchenlieddichterin († 1756) 15. November: Georg Friedrich Schmahl, deutscher Orgelbauer († 1773) 24. November: Johann Bernhard Bach der Jüngere, deutscher Komponist und Organist († 1743) 28. November: Sophie Magdalene von Brandenburg-Kulmbach, Königin von Dänemark († 1770) 8. Dezember: Jeremias Friedrich Reuß, deutscher Theologe († 1777) 10. Dezember: Placidus Amon, österreichischer Benediktiner und Philologe († 1759) 13. Dezember: Giovanni Carestini, gen. Il Cusanino, italienischer Opernsänger und Kastrat, Händelinterpret († 1760) 19. Dezember: Julián Manuel de Arriaga y Rivera, spanischer Adeliger, Offizier und Minister († 1776) 20. Dezember: Charles-Augustin de Ferriol d’Argental, französischer Verwalter und Botschafter († 1788) 25. Dezember: Leopold II. Maximilian, Fürst von Anhalt-Dessau und preußischer General († 1751) 27. Dezember: Johann Dietrich Busch, deutscher Orgelbauer († 1753) Genaues Geburtsdatum unbekannt François Boch, Eisengießer und Unternehmer († 1754) Johann Christoph Glaubitz, schlesischer Baumeister in Litauen († 1767) Anna Clara Manera, Mainzer Bürgerin und Stifterin († 1781) Granny Nanny, als Sklavin nach Jamaika verschleppte Frau aus dem Aschantireich, Nationalheldin Jamaikas († nach 1739) Opoku Ware I., Herrscher des Aschantireichs († 1750) Geboren um 1700 Christian Kretzschmar, deutscher Baumeister († 1768) Muhammad ibn Saud, erster Imam der saudischen Dynastie († 1765) Ebu Sehil Nu’man Efendi, osmanischer Rechtsgelehrter und Chronist († nach 1750) Gestorben Januar bis April 3. Januar: Eva Magdalena von Windhag, erste Priorin des Dominikanerinnenklosters Windhaag und einzige Erbin des Reichsgrafen Joachim Enzmilner (* 1629) 12. Januar: Margareta Bourgeoys, Erzieherin in Neufrankreich und Heilige der römisch-katholischen Kirche (* 1620) 13. Januar: Theodor Timmermann, Apotheker, Bürgermeister von Mannheim und Bürgermeister der Pfälzer Kolonie in Magdeburg (* 1627) 16. Januar: Antonio Draghi, italienischer Komponist, Librettist und Sänger in Wien (* 1634) 17. Januar: Johann Heinrich Florin, deutscher evangelischer Geistlicher und Hochschullehrer (* 1650) 17. Januar: Christoph Rudolf von Stadion, Dompropst und Hofratspräsident im Kurfürstentum Mainz (* 1638) 21. Januar: Henry Somerset, 1. Duke of Beaufort, englischer Adeliger (* 1629) 22. Januar: Hans Mössner, deutscher Kunstschmied (* um 1640) 30. Januar: Clara Elisabeth von Platen, Mätresse des späteren Kurfürsten Ernst August von Braunschweig-Lüneburg und Drahtzieherin in der Königsmarck-Affäre (* 1648) 18. Februar: Bodo von Bodenhausen, kurmainzischer Oberlandgerichtsrat (* 1633) 25. Februar: James Douglas, 2. Marquess of Douglas, schottischer Adeliger (* 1646) 1. März: Caspar Posner, deutscher Physiker und Mediziner (* 1626) 1. März: Takatsukasa Fusasuke, japanischer Adeliger und Regent (* 1637) 4. März: Lorenzo Pasinelli, italienischer Maler (* 1629) 12. März: Kasimir, Graf von Lippe-Brake (* 1627) 14. März: Christoph Haitzmann, österreichischer Maler und angeblicher Teufelsbündler (* 1651/52) 18. März: Cornelis Valckenier, Amsterdamer Regent und Direktor der Sozietät von Suriname (* 1640) 26. März: Heinrich Meibom, deutscher Mediziner (* 1638) 29. März: Karl Kögl, Benediktiner und Abt der Abtei Niederaltaich (* 1653) 29. März: Giovanni Lorenzo Lulier, italienischer Violonist, Cellist, Posaunist und Komponist (* um 1662) 4. April: Heinrich von Mering, Priester und Domherr in Köln (* 1620) 21. April: Caspar Bose, Leipziger Rats- und Handelsherr (* 1645) 25. April: Valentin Veltheim, deutscher Moralphilosoph und lutherischer Theologe (* 1645) 26. April: Johann Wolfgang Frölicher, eidgenössischer Architekt und Bildhauer (* 1652) Mai bis August 5. Mai: Christian Eltester, brandenburgischer Architekt, Ingenieur und Zeichner (* 1671) 12. Mai: John Dryden, englischer Schriftsteller (* 1631) 12. Mai: Johannes Brever, deutscher lutherischer Theologe (* 1616) 16. Mai: Peter Herold, deutscher Orgelbauer 17. Mai: Adam Adamandy Kochański, polnischer Mathematiker (* 1631) 23. Mai: Jens Juel, dänischer Diplomat und Politiker (* 1631) 28. Mai: Jan Six, niederländischer Kunstsammler, Mäzen und Amsterdamer Regent (* 1618) 31. Mai: Agostino Scilla, italienischer Maler des Barock, Paläontologe, Numismatiker und Geologe (* 1629) 1. Juni: Willem ten Rhijne, niederländischer Arzt in Diensten der niederländischen Ostindien-Kompanie und Autor medizinischer Werke (* 1647) 22. Juni: Placidus von Droste, Fürstabt von Fulda (* 1641) 29. Juni: Olof Svebilius, schwedischer lutherischer Theologe und Erzbischof von Uppsala (* 1624) 2. Juli: Lambert Doomer, niederländischer Maler (* 1624) 2. Juli: Johann Trost, deutscher Architekt (* 1639) 6. Juli: Bartholomäus Anhorn, Schweizer Pfarrer und Historiker (* 1616) 7. Juli: Silvestro Valier, Doge von Venedig (* 1630) 19. Juli: Hieronymus Kradenthaller, deutscher Organist und Komponist (* 1637) 22. Juli: Alderano Cibo, italienischer Kardinal (* 1613) 23. Juli: Georg Bose, Leipziger Rats- und Handelsherr (* 1650) 6. August: Johann Beer, österreichischer Schriftsteller und Komponist (* 1655) 9. August: Jean-Baptiste Tuby, französischer Bildhauer italienischer Herkunft (* 1635) 14. August: Martin Friedrich Friese, sächsischer Mediziner (* 1632) 18. August: Johannes Spengler, Bürgermeister von St. Gallen (* 1629) 19. August: Adrian Steger, kursächsischer Jurist und Bürgermeister von Leipzig (* 1623) 31. August: Stephan Kessler, Tiroler Maler (* 1622) September bis Dezember 1. September: Johann Ritter, Bürgermeister der Hansestadt Lübeck (* 1622) 3. September: Johann Jacob Merklein, deutscher Barbierchirurg, Ostindien-Reisender und Reiseschriftsteller (* 1620) 7. September: Joseph Blake, englischer Gouverneur im südlichen Teil der Province of Carolina (* 1663) 15. September: André Le Nôtre, französischer Landschaftsarchitekt (* 1613) 23. September: Nicolaus Adam Strungk, deutscher Komponist (* 1640) 26. September: David Wyss, Schweizer evangelischer Theologe und Hochschullehrer (* 1632) 27. September: Georg Kaspar Kirchmaier, deutscher Universalgelehrter (* 1635) 27. September: Antonio Pignatelli, unter dem Namen Innozenz XII. Papst (* 1615) 1. Oktober: Hans Haubold von Einsiedel, kursächsischer Hofbeamter und Besitzer mehrerer Güter (* 1654) 2. Oktober: Tetsugyū Dōki, Mönch der Ōbaku-shū des japanischen Zen-Buddhismus (* 1628) 27. Oktober: Armand Jean Le Bouthillier de Rancé, Begründer des Trappistenordens (* 1626) Ende Oktober: Hinrich Mahlstede, Bremer Chronist (* um 1620) 1. November: Karl II., König von Spanien, Neapel, Sizilien und Sardinien sowie Herzog von Mailand und Luxemburg (* 1661) 7. November: Pietro Santi Bartoli, italienischer Zeichner, Kupferstecher und Antiquar (* 1635) 19./20. November: André Hubert, französischer Komödiant, Mitglied der Truppe von Molière (* um 1634) 22. November: Artus Quellinus II., flämischer Bildhauer (* 1625) 3. Dezember: Konrad Tiburtius Rango, deutscher Theologe und Naturforscher (* 1639) 26. Dezember: Franz Bernhard Rodde, Lübecker Kaufmann und Ratsherr (* 1644) 29. Dezember: Philipp Matthäus, deutscher Mediziner (* 1621) 31. Dezember: Pietro Sanmartini, italienischer Komponist und Organist (* 1636) Genaues Todesdatum unbekannt Armande Béjart, französische Schauspielerin (* 1642) Johann Melchior Hardmeyer, Schweizer Buchdrucker, Lehrer und Dichter (* 1630) Angelo Italia, sizilianischer Architekt (* 1628) Louis Joliet, französischer Entdecker und Kartograph (* 1645) Johann Jakob Keller, Schweizer Goldschmied und Erzgiesser (* 1635) Kosa Pan, siamesischer Diplomat und Staatsmann (* vor 1650) Pjotr Iwanowitsch Potjomkin, russischer Diplomat, Wojewode und Namestnik von Borowsk (* 1617) Richard Sievers, deutscher Pirat im Indischen Ozean (* um 1660) Hans van Steenwinckel, dänischer Architekt und Bildhauer (* vor 1639) Johannes Thopas, niederländischer Zeichner und Maler (* 1625) Gestorben um 1700 Josef ben Abraham Athias, jüdisch-hebräischer Drucker (* um 1635) Moll Davis, englische Theaterschauspielerin und Mätresse von Karl II. von England (* 1648) Johann Georg Dramburg, deutscher Maler (* um 1640) Weblinks
Q6813
334.509541
6888
https://de.wikipedia.org/wiki/1730er
1730er
Ereignisse 1733 bis 1738: Polnischer Thronfolgekrieg. Wissenschaft 1736: Leonhard Euler formuliert in seiner Mechanica sive motus scientia die Bewegungsgesetze des starren Körpers. Persönlichkeiten Ludwig XV., König von Frankreich Karl VI., Kaiser des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, als Karl III. König von Ungarn und als Karl II. König von Böhmen Philipp V., König von Spanien Friedrich Wilhelm I., König von Preußen Clemens XII., Papst Anna, Zarin von Russland Georg II., König von Großbritannien und Irland Robert Walpole, Premierminister von Großbritannien und Irland Nakamikado, Kaiser von Japan Sakuramachi, Kaiser von Japan Qianlong, Kaiser von China Yongzheng, Kaiser von China Weblinks
Q48121
130.068865
458837
https://de.wikipedia.org/wiki/Whistleblower
Whistleblower
Ein Whistleblower (im deutschen Sprachraum in der Vergangenheit und heute zunehmend auch wieder Informant, Hinweisgeber, Enthüller oder Aufdecker) ist der Anglizismus für eine Person, die für die Öffentlichkeit wichtige Informationen aus einem geheimen oder geschützten Zusammenhang veröffentlicht. Allgemeines Zu den von Whistleblowern offengelegten Missständen beziehungsweise Straftaten gehören typischerweise Korruption, Insiderhandel, Menschenrechtsverletzungen, Datenmissbrauch oder allgemeine Gefahren, von denen der Whistleblower an seinem Arbeitsplatz oder in anderen Zusammenhängen erfahren hat. Im Allgemeinen betrifft dies vor allem Vorgänge in der Politik, in Behörden und in Wirtschaftsunternehmen. Whistleblower genießen in Teilen der Öffentlichkeit ein hohes Ansehen, weil sie für Transparenz sorgen und sich als Informanten selbst in Gefahr begeben, strafbar machen oder anderweitige gravierende Auswirkungen auf ihr Leben und ihre Arbeit riskieren. Häufig werden Whistleblower gemobbt und ihr Arbeitsverhältnis gekündigt. Sie werden auch wegen Geheimnisverrats vor Gericht gebracht (vgl. Vergeltung). Hieran zeigt sich die Ambivalenz im Verhalten von Gesellschaft und Rechtsstaat: Whistleblower erfahren zwar meist die Unterstützung der Bürger und können sich somit auf eine moralische Legitimität stützen, der jedoch oftmals eine Illegalität dieses Handelns gegenübersteht – Rechtfertigung und juristische Folgen fallen also auseinander. Besonders bei hochbrisanten Themen wie Waffenhandel, organisierter Kriminalität oder Korruption auf Regierungsebene gab es Fälle, bei denen Whistleblower Auftragsmorden zum Opfer fielen, auf ungeklärte Weise in relativ jungem Alter plötzlich verstarben oder vermeintlich Suizid begingen. In einigen Ländern genießen Whistleblower daher besonderen gesetzlichen Schutz. Die gelieferten Informationen sind meist sensibler Natur und können zur Rufschädigung von Personen und Institutionen beitragen. Es gab auch Fälle, bei denen Regierungen oder Regierungschefs aufgrund solcher Veröffentlichungen zurücktreten mussten, wie bei der Watergate-Affäre in den USA. Daher versuchen die veröffentlichenden Medien, Organisationen oder Enthüllungsplattformen wie etwa Wikileaks in der Regel, die Glaubwürdigkeit und Echtheit der Informationen vor ihrer Publizierung gründlich zu überprüfen. Damit schützen sie sich auch vor späteren Vorwürfen mangelnder Sorgfalt und Manipulierbarkeit. Whistleblower sind oft die zentrale oder einzige Quelle für investigative Journalisten, die an der Aufdeckung von politischen Affären oder Wirtschaftsskandalen arbeiten. Herkunft des Begriffs Die Herkunft des Begriffs „Whistleblower“ in diesem Zusammenhang ist nicht eindeutig belegt. Es besteht eventuell eine semantische Beziehung zu dem deutschen Begriff „verpfeifen“. Als mögliche Herkunft gelten sowohl englische Polizisten, die mittels einer Trillerpfeife andere Polizisten auf einen Verbrecher aufmerksam machten, als auch Schiedsrichter beim Fußball, die durch Pfeifen das Spiel nach Regelverstößen unterbrechen. Der Anglist Anatol Stefanowitsch vermutet, dass sich das Wort von der englischen Redeweise to blow a whistle ableitet, was laut dem American Heritage dictionary of idioms allgemein das Aufdecken von Fehlverhalten bzw. ursprünglich das Beenden einer Tätigkeit bedeute. Das Substantiv whistle-blower taucht im englischen Sprachgebrauch erstmals in den 1970er Jahren in der heute üblichen Bedeutung auf. Im Deutschen existiert der Begriff etwa seit Mitte der 1980er Jahre und ist seit 1997 belegt. Merkmale und Bedeutung Die Abläufe des Whistleblowings unterscheiden sich stark. Während manche Personen große Berühmtheit erlangen und sich Gerichten stellen müssen, wie Bradley Manning (später Chelsea Manning, Wikileaks), bleiben andere, auch aus Selbstschutz, im Dunkeln und werden von den veröffentlichenden Medien gedeckt. Der Whistleblower in einem der größten Datenschutzskandale der jüngeren US-Geschichte, Edward Snowden, entschied sich, aus der Anonymität herauszutreten und nach Veröffentlichung seiner digital kopierten Geheimdokumente über das PRISM-Überwachungsprogramm selbst seine Identität über die Presse zu offenbaren. Dies tat er nach eigenen Angaben, weil er sich von der Bekanntheit seiner Person größeren Schutz vor eventuellen Strafmaßnahmen der US-Regierung versprach. Ein für das Whistleblowing im Alltag typischer Fall spielte sich zwischen 2011 und 2013 in Großbritannien ab: Im Gesundheitssystem National Health Service (NHS) gab es in einigen Einrichtungen auffallend viele Fälle vernachlässigter oder missbrauchter Patienten sowie eine Häufung von Todesfällen. Die Regierung setzte daraufhin eine Kommission zur Qualitätssicherung (CQC) ein. Weil viele Mitarbeiter der CQC jedoch nicht geschult waren, Pflegeeinrichtungen zu evaluieren, teilten einige diesen Missstand der CQC-Leitung mit, darunter Amanda Pollard. Sie ging erst dann mit ihrem internen Wissen an die Presse (und wurde damit zur Whistleblowerin), als sie merkte, dass ihre Vorgesetzten nicht nur nicht reagierten, sondern ihre Kritik als Belanglosigkeiten und Diffamierungen hinstellten. Damit wurde der Skandal öffentlich, und die CQC-Führung ermunterte Mitarbeiter nun offen, Missstände zu benennen, und richtete dafür eine eigene Telefonnummer für Whistleblower ein. Ein gewisser Schutz des Whistleblowers kann sich ergeben, wenn die Enthüllung große Aufmerksamkeit nach sich zieht und deswegen z. B. das Management, um nicht einen weiteren Imageschaden zu riskieren, nicht gegen den enthüllenden Mitarbeiter offen vorgeht (verdeckte Denunziation ist jedoch auch hier möglich). In vielen Fällen tritt diese Aufmerksamkeit aber nicht ein, wodurch Whistleblower ohne größere Unterstützung der Verfolgung ausgesetzt sind. Befürworter des Whistleblowings sehen zur Eindämmung von Korruption und zur verantwortungsvollen Sicherung des sozialen Friedens Whistleblower-Schutzgesetze deswegen als dringend notwendig an. Die Schutzgesetze, so wird auch eingewendet, sind aber wegen der Möglichkeiten moderner Technik bei mächtigen Organisationen (Unternehmen, Regierungen) oft nicht ausreichend, sodass Whistleblower auf verlässlich funktionierende Anonymität und Datenschutz-Mechanismen angewiesen sind. Ist das veröffentlichte Material von großer Brisanz, etwa wenn es sich auf Fehlverhalten oder Verbrechen auf Regierungsebene bezieht, unternehmen die dadurch entlarvten Personen oder Institutionen teilweise erhebliche Anstrengungen, um weitere Veröffentlichungen zu verhindern. Als die New York Times am 13. Juni 1971 begann, die von Daniel Ellsberg gelieferten geheimen Pentagon-Papiere abzudrucken – die die jahrelange gezielte Täuschung der Öffentlichkeit über wesentliche Aspekte des Vietnamkriegs offenlegten –, versuchte die US-Regierung unter Präsident Richard Nixon mit allen Mitteln, eine weitere Veröffentlichung zu verhindern. Zu seinem Berater Henry Kissinger sagte Nixon unter anderem: Nach drei veröffentlichten Folgen der „Papers“ in der New York Times ließ Nixon weitere Zeitungsberichte verbieten – ein bis dahin einmaliger Fall von Zensur in der US-Geschichte. Ellsberg gab die Dokumente an 18 andere Zeitungen. Auch diesen wurde die Veröffentlichung verboten. Der Streit ging bis vor den Obersten Gerichtshof (Supreme Court), der die Veröffentlichung per Grundsatzurteil am Ende erlaubte. Ellsberg wurde trotzdem als Spion nach dem Espionage Act von 1917 angeklagt. Ihm drohten 115 Jahre Haft. Der Prozess platzte allerdings, als herauskam, dass Nixon Ellsberg hatte ausspähen lassen und einem Einbruch in die Praxis von Ellsbergs Psychiater zugestimmt hatte – man hatte sich erhofft, in Ellsbergs Patientenakte Belastendes über ihn zu finden, das zu seiner Diskreditierung hätte eingesetzt werden können. Mit dieser illegalen Operation war dasselbe Team von ehemaligen und aktiven FBI- und CIA-Agenten betraut worden, das ein Jahr später in den Watergate-Gebäudekomplex einbrach und den gleichnamigen Skandal lostrat, der Nixon 1974 das Amt kostete. Auch diese politische Affäre wurde durch einen Whistleblower an die Öffentlichkeit gebracht, den FBI-Mitarbeiter Mark Felt, dessen Identität die Washington-Post-Reporter Bob Woodward und Carl Bernstein allerdings bis 2005 geheim hielten. In dem betreffenden Grundsatzurteil des obersten Gerichts legten die Richter fest, dass das Geheimhaltungsinteresse des Staates an von Whistleblowern gelieferten geheimen Regierungsdokumenten im Zweifelsfall hinter dem Interesse der Öffentlichkeit und der Pressefreiheit zurückstehen müsse. Einer der Richter schrieb dazu: Missbrauchsgefahr Das Whistleblowing kann auch von interessierter Seite (etwa von Geheimdiensten) benutzt werden, um Falschinformationen zu streuen, und damit zum Beispiel zu ungerechtfertigten Diffamierungen einzelner Personen oder Einrichtungen führen. Whistleblowing-Portale wie Wikileaks sind sich dieser Risiken ausdrücklich bewusst und sind bestrebt, den Wahrheitsgehalt der Informationen vor der Veröffentlichung genau zu überprüfen. Auch Medien, die Informationen von Whistleblowern verbreiten, prüfen diese in der Regel sorgfältig. Eine weitere Gefahr besteht darin, dass belastende, aber unzutreffende Informationen der Presse zugespielt werden. Solche Falschinformationen, die sich den Anschein des Whistleblowings geben, können für Institutionen, Unternehmen und Personen großen Schaden verursachen. Gesetzlich handelt es sich bei solchen Aktionen nicht um Whistleblowing, vielmehr handelt es sich um rufschädigendes Verhalten, das strafrechtlich verfolgt wird (vgl. Tratsch). Rechtslage Europa Überstaatlich Europarat Auf supranationaler Ebene schlägt der Europarat mit seiner Empfehlung CM/Rec(2014)7 von April 2014 seinen Mitgliedsstaaten die gesetzliche nationale Reglung zum Schutz von Whistleblowern vor. Dazu gab das deutsche Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz dem Europäischen Ausschuss für rechtliche Zusammenarbeit ein erläuterndes Memorandum. Europäische Union Das Europäische Parlament hat den Mitgliedstaaten im April 2018 einen Vorschlag für mehr Schutz der Whistleblower vorgelegt. Nach einem internen Beschwerdeverfahren wurde er veröffentlicht. Als die Mitgliedstaaten ihn im Februar 2019 verhandelten, bestanden die Regierungen Deutschlands, Österreichs, Frankreichs, Italiens und der Niederlande darauf, nur diejenigen zu schützen, die ein dreistufiges Meldeverfahren durchlaufen haben, bevor sie sich an die Öffentlichkeit wenden. Dieser Ansatz wurde letztendlich aber nicht in die Richtlinie übernommen. Die Richtlinie (EU) 2019/1937 zum Schutz von Personen, die Verstöße gegen das Unionsrecht melden (siehe Hauptartikel: Hinweisgeberrichtlinie), wurde am 23. Oktober 2019 unterzeichnet und am 26. November 2019 im Amtsblatt der EU verkündet. Die Richtlinie soll gemeinsame Mindeststandards zur Gewährleistung eines wirksamen Hinweisgeberschutzes in der Europäischen Union schaffen. Hinweisgebende Personen sollen stärker geschützt werden, weil sie einen wesentlichen Beitrag zur Rechtsdurchsetzung leisten. Nach einer Übergangsfrist von 2 Jahren, soll die Richtlinie in allen EU-Mitgliedstaaten in nationales Recht umgesetzt werden. Eine aktuelle Übersicht zum Umsetzungsstatus kann unter dem EU Whistleblowing Monitor abgerufen werden. Im Oktober 2021 betonte die EU-Generaldirektion Justiz und Verbraucher, Gleichstellung und Rechtsstaatlichkeit, dass auch explizit Ministerien als juristische Personen des öffentlichen Sektors verpflichtet seien, interne Meldewege für ihre Mitarbeiter einzurichten. Bei Luftfahrtpersonal fördert der EU-Datenschutzbeauftragte anonyme und sanktionsfreie Mitteilungen. Deutschland Als Entsprechung für den angloamerikanischen Rechtsbegriff hat sich in Deutschland der Begriff Hinweisgeber durchgesetzt. Im am 2. Juni 2023 verkündeten Gesetz für einen besseren Schutz hinweisgebender Personen (Hinweisgeberschutzgesetz – HinSchG) ist vor allem von hinweisgebenden Personen die Rede. Am 4. Juni 2008 war ein von drei Bundesministerien vorgelegter Gesetzentwurf zur Einführung eines neuen BGB zum Informantenschutz für Arbeitnehmer Gegenstand einer öffentlichen Anhörung des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz des Deutschen Bundestages. Am 1. April 2009 hat das Beamtenstatusgesetz das bisherige Beamtenrechtsrahmengesetz für den Bereich der Länder und Kommunen abgelöst. In Abs. 2 Nr. 3 durchbricht es die grundsätzliche Pflicht der Beamten zur Verschwiegenheit über dienstliche Angelegenheiten (Abs. 1). So dürfen sie neben den in StGB katalogisierten anzeigepflichtigen Verstößen Korruptionsstraftaten nach §– 337 StGB direkt bei der obersten Dienstbehörde oder der Staatsanwaltschaft anzeigen. Für Bundesbeamte gilt das entsprechend nach Abs. 2 Nr. 3 Bundesbeamtengesetz vom 5. Februar 2009. Das Landeskriminalamt Niedersachsen sowie das Landeskriminalamt Baden-Württemberg haben für anonyme Hinweise auf Korruption ein elektronisches Whistleblowing-System in Betrieb genommen. Das Business Keeper Monitoring System wird mit unterschiedlichen Schwerpunkten auch von speziellen Ermittlungseinheiten in Unternehmen, Behörden und Regierungen angewendet. Am 21. Juli 2011 urteilte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EMGR), dass die Veröffentlichung von Missständen beim Arbeitgeber durch einen Arbeitnehmer von der in der Europäischen Menschenrechtskonvention garantierten Freiheit der Meinungsäußerung gedeckt sein kann. Im entschiedenen Fall urteilte es, das deutsche Landesarbeitsgericht habe nicht ausreichend die Meinungsfreiheit einer Altenpflegerin berücksichtigt, der nach ihrer Strafanzeige gegen ihren Arbeitgeber wegen Mängeln in der Pflege fristlos, laut EMGR aber ungerechtfertigt gekündigt worden war. Die damalige Bundesregierung vertrat dazu die Auffassung, Mitarbeiter, die auf Missstände in ihren Unternehmen hinweisen (Whistleblower), seien durch bestehendes Arbeitsrecht und kündigungsrechtliche Vorschriften geschützt, und verwies auf die laufende Diskussion der G20-Staaten zur Entwicklung von Standards weiteren Schutzes. Das antwortete sie auf eine Kleine Anfrage der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, die ihre Frage mit ihrer Ansicht erklärt hatte, oft bestehe großes öffentliches Interesse an Informationen solcher Hinweisgeber, denen häufig arbeits- und dienstrechtliche Konsequenzen drohten. Ein Antrag der Länder Berlin und Hamburg im Bundesrat, eine Entschließung des Bundesrates zur gesetzlichen Verankerung des Informantenschutzes für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im Bürgerlichen Gesetzbuch zu verabschieden, lehnte dieser in seiner 888. Sitzung am 14. Oktober 2011 ab. Die beantragte Entschließung sollte die Bundesregierung zum Entwurf eines Gesetzes bewegen, das Arbeitnehmer, die durch Hinweise oder Unterstützungshandlungen Dritte auf die betriebliche Verletzung gesetzlicher Pflichten aufmerksam machen, vor unverhältnismäßigen Sanktionen der Arbeitgeber schützen sollte. Nach Auffassung der Antragsteller fehlten klare und eindeutige Regelungen zum Informantenschutz; es bestehe eine Regelungslücke; das und zum Teil divergierende Gerichtsentscheidungen führten zu einer erheblichen Rechtsunsicherheit für Arbeitnehmer. Die SPD-Fraktion im Deutschen Bundestag hat im Februar 2012 einen Entwurf eines Hinweisgeberschutzgesetzes veröffentlicht. Damit wurde erstmals ein eigenes Gesetz zur Whistleblower-Problematik vorgeschlagen. Danach hat die Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen den Entwurf eines Whistleblower-Schutzgesetzes in den Bundestag eingebracht. Der Gesetzentwurf der Grünen vom Mai 2012 sah anders als der am Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG) orientierte SPD-Entwurf kein eigenständiges Hinweisgeberschutzgesetz vor, sondern die Änderung und Ergänzung bestehender Gesetze. Ab 1. Januar 2014 verpflichten strengere aufsichtsrechtliche Regelungen Kreditinstitute in Deutschland zur Einrichtung eines Hinweisgeberprozesses. Die Frist zur Umsetzung der Richtlinie (EU) 2019/1937 endete 17. Dezember 2021. Seit 2020 gab es einen Referentenentwurf für ein Gesetz zum Schutz von Hinweisgebern, der aber umstritten war: Thomas Fischer äußerte Bedenken wegen eines zu weitgehenden Schutzes der Hinweisgeber. Für weiten Schutz der Hinweisgeber nahm der DGB Stellung. Man erörterte Auswirkungen der Entscheidung des EGMR vom 16. Februar 2021 zu Lasten des Hinweisgebers auf die Umsetzung der Richtlinie. Gefragt, warum sich die Umsetzung der EU-Richtlinie verzögere, erklärte die damals zuständige Ministerin Christine Lambrecht der FAZ im Mai 2021, Bundeswirtschaftsminister Altmaier blockiere das mit fachlichen Einwänden gegen den Entwurf. Die sogenannte Whistleblower-Richtlinie wurde also nicht fristgerecht umgesetzt. Das Hinweisgeberschutzgesetz wurde am 2. Juni 2023 im Bundesgesetzblatt veröffentlicht und trat am 2. Juli 2023 in Kraft. Danach sollen Angestellte oder Beamte, die in einem privaten Unternehmen oder im öffentlichen Dienst relevante Gesetzesverstöße aufdecken, vor Kündigung und anderen Nachteilen geschützt werden. Hinweisgeber müssen sich grundsätzlich zunächst an bestimmte innerbetriebliche oder externe staatliche Meldestellen wenden. Nur im Notfall dürfen sie Hinweise direkt an die Öffentlichkeit geben. Der Gesetzentwurf geht über die Umsetzung der EU-Richtlinie zum Schutz von Whistleblowern hinaus, indem nicht nur die Aufdeckung von Verstößen gegen EU-Recht, sondern auch gegen deutsches Recht geschützt sein soll. Österreich Anfang Juli 1985 hatte der österreichische Botschafter in Athen, Herbert Amry, mit Fernschreiben und Telegrammen das österreichische Außenministerium wiederholt über Hinweise auf illegale österreichische Waffenexporte in den Iran informiert. Er hatte bei einer internationalen Waffenmesse in Griechenland Noricum-Manager bei Verhandlungen mit Kunden aus kriegführenden Staaten beobachtet. Am 12. Juli 1985 starb Amry unter ungeklärten Umständen, nachdem er zuvor seinen Presseattaché Ferdinand Hennerbichler gewarnt hatte, dass man sie beide umbringen wolle, weil sie illegale Waffengeschäfte aufgedeckt und an das österreichische Außenministerium gemeldet hatten. Am 30. August 1985 fertigten Reporter der Zeitschrift Basta in einem jugoslawischen Adriahafen Fotografien von einer Ladung Kanonen, die für den Iran bestimmt waren. Ende 1985 veröffentlichte Basta schließlich ihr vorliegende Informationen, und machte damit den Noricum-Skandal einer breiten Öffentlichkeit bekannt. Die Whistleblower-Richtlinie ist bis Oktober 2021 in Österreich in nationales Recht umzusetzen. In Österreich besteht bisher hierzu keinerlei einschlägige Regelung, was die Umsetzung gesetzestechnisch erleichtert. Im Februar 2023 wurde die Richtlinie in nationales Recht, dem HinweisgeberInnenschutzgesetz HSchG, umgesetzt. Alle Unternehmen ab fünfzig Mitarbeitern oder zehn Millionen Euro Umsatz haben ein Whistleblowing-System einzurichten, das die Meldung von Compliance-Verstößen erlaubt. Das gilt auch für Gebietskörperschaften mit zumindest zehntausend Einwohnern und für sämtliche Behörden. Dabei müssen nach Wahl des Hinweisgebers mehrere Informationskanäle ermöglicht werden. Es muss die Möglichkeit anonymer Meldungen eingeräumt werden, weil die Identität des Hinweisgebers vertraulich zu behandeln ist. Das Hinweisgebersystem muss derart ausgestaltet sein, dass es glaubwürdig und verlässlich ist. Mitarbeiter müssen darauf vertrauen können, dass ihre Hinweise von ihren Vorgesetzten sachlich richtig und zeitnah behandelt werden. Dem Hinweisgeber ist eine Eingangsbestätigung zu erteilen. Er ist über den Fortgang der Angelegenheit zu unterrichten. Wird ein derartiges System von dem Unternehmen bzw. der Behörde nicht eingerichtet, erfolgt keine unmittelbare Sanktion gegen das Unternehmen bzw. die Behörde. Der Hinweisgeber ist in diesem Fall allerdings befugt, seine Hinweise unmittelbar in die Öffentlichkeit zu tragen. Hinweisgeber sind nach der Whistleblower-Richtlinie arbeitsrechtlich geschützt und dürfen wegen ihres Hinweises keinerlei Nachteile erleiden. Bei arbeitsrechtlichen Sanktionen muss das Unternehmen bzw. die Behörde im Wege einer Beweislastumkehr deshalb beweisen, dass die Sanktion nicht auf den Hinweis des Hinweisgebers zurückzuführen ist. Die Stadt Wien hat eine Whistleblowing-Plattform mit Hinweismanagement eingerichtet. In Österreich ist auch der Sitz der Vereinigung „Whistleblowing.at“, die sich den Schutz und die Beratung von Whistleblowern zum Ziel gesetzt hat. Nachdem die österreichische Regierung bei der Umsetzung der EU-Richtlinie 2019/1937 zum Schutz von Hinweisgebern (Whistleblowern) säumig war, wurde von der Europäischen Kommission ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Österreich eingeleitet. Österreich hätte die Richtlinie bis spätestens 17. Dezember 2021 umsetzen müssen. Eva Geiblinger, Vorstandsvorsitzende der österreichischen Sektion der Antikorruptionsorganisation Transparency International, kritisiert die österreichisch Regierung scharf. „Knapp zwei Monate nach der Deadline wurde weder ein Entwurf präsentiert noch der Begutachtungsprozess gestartet. Das ist ein Armutszeugnis und ein Paradebeispiel, weshalb Österreich im Corruption Perceptions Index mit immer schlechteren Ergebnissen konfrontiert ist“ (Aussendung vom 10. Februar 2022). Im Februar 2023 wurde die Richtlinie jedoch in nationales Recht, dem HinweisgeberInnenschutzgesetz HSchG, umgesetzt. Am 27. August 2023 meldete der ORF: „Seit dem Wochenende sind im öffentlichen Sektor Meldeplattformen zum Schutz von anonymen Hinweisgeberinnen und -gebern in Betrieb, die in Umsetzung einer EU-Whistleblower-Richtlinie implementiert wurden. Beim Bundesamt zur Korruptionsprävention und Korruptionsbekämpfung (BAK) wurde sowohl eine interne als auch eine externe Meldestelle eingerichtet, die interne Meldestelle des Justizressorts ist über ein webbasiertes Hinweisgebersystem erreichbar. Die justizielle Meldestelle existiert bereits seit 10. Juli und steht Bediensteten der Justiz, die Informationen über Rechtsverletzungen erlangt haben, zur Abgabe von anonymen Hinweisen zur Verfügung.“ Schweiz und Liechtenstein 1984 enthüllte Rudolf Hafner, damals Revisor in der Finanzkontrolle des Kantons Bern, unter anderem die Zweckentfremdung von Lotteriegeldern und die Unterstützung von geheimen Abstimmungskomitees mit öffentlichen Geldern durch den Berner Regierungsrat. Hafner löste dadurch ein politisches Erdbeben aus, das als Berner Finanzaffäre bekannt wurde und bei der folgenden Wahl zu einer Veränderung der politischen Mehrheiten führte. Anfang 2012 erregte ein Mitarbeiter der Basler Bank Sarasin großes Aufsehen, der das Schweizer Bankgeheimnis verletzte. Er teilte dem Nationalrat Christoph Blocher mit, dass im August 2011 vom Konto des Direktoriumspräsidenten der Schweizerischen Nationalbank, Philipp Hildebrand, 504'000 US-Dollar gekauft worden waren. Dies erweckte den Eindruck eines Insiderhandels. Hildebrand trat kurz darauf zurück; der Informant zeigte sich Anfang Januar 2012 selbst bei der Polizei an. Ihm wurde daraufhin fristlos von seiner Bank gekündigt, ein Strafverfahren gegen ihn wurde eingeleitet. Hervé Falciani, ein früherer Informatiker bei der HSBC-Bank in Genf, hat den französischen, britischen und deutschen Steuerbehörden Daten von Tausenden Steuerbetrügern verschafft. Die Schweiz hat ihn 2015 wegen „Wirtschaftsspionage“ zu einer Gefängnisstrafe verurteilt und fordert seine Auslieferung von Spanien. Im April 2018 wurde Falciani in Madrid verhaftet. Der Whistleblower muss befürchten, an die Schweizer Behörden ausgeliefert zu werden. Er wurde nach 24 Stunden unter strengen Auflagen wieder freigelassen. Die eidgenössische Wettbewerbskommission WEKO bezeichnet die Selbstanzeige auch als Whistleblowing und betreibt zur Unterstützung dieser im Internet die Informationsseite Whistleblowing. und publiziert das Meldeformular Merkblatt und Formular zur Bonusregelung (Selbstanzeige). Der Beobachter führt unter sichermelden.ch ebenfalls eine Meldestelle. Einem Arzt aus Liechtenstein war in einem vom EGMR im Jahr 2021 entschiedenen Fall gekündigt worden. Er hatte seinen ihm vorgesetzten Arztkollegen wegen des Verdachts der Tötung auf Verlangen heimlich angezeigt. Dies war arbeitsrechtlich relevant. Der Hinweisgeber hatte seinen Verdacht nicht auf dem internen Weg über die dafür zuständigen Stellen klären lassen, sondern sich unmittelbar an die Staatsanwaltschaft gewandt. Dies entspricht der ständigen Rechtsprechung, wonach in der Regel zunächst versucht werden muss, eine interne Klärung der Dinge herbeizuführen, bevor sich der Hinweisgeber an die Öffentlichkeit wenden darf. Vatikanstaat Der 2003 verstorbene Monsignore Renato Dardozzi hinterließ sein in der Schweiz angelegtes Geheimarchiv aus Akten des vatikanischen Staatssekretariats und Papiere der Vatikanbank Istituto per le Opere di Religione (IOR) dem Journalisten Gianluigi Nuzzi. Die Dokumente begründeten den Verdacht der Geldwäsche im Dienste der Mafia, der Blockade von Korruptionsermittlungen, von Schmiergeldaffären und geheimen Nummernkonten, die etwa das Geld des siebenmaligen Ministerpräsidenten Giulio Andreotti von der damaligen katholischen Volkspartei Democrazia Cristiana enthielten. Nuzzi erregte 2009 mit seinem Buch Vatikan AG – Ein Geheimarchiv enthüllt die Wahrheit über die Finanz- und Politskandale der Kirche über das Finanzgebaren der Vatikanbank großes Aufsehen. Der Bankpräsident, Angelo Caloia, musste nach 20 Jahren an der Spitze der Vatikanbank zurücktreten. 2011 gelangten immer wieder interne Dokumente des Heiligen Stuhls an die Medien. Nuzzi veröffentlichte 2012 das Sua Santita (Seine Heiligkeit: Die geheimen Briefe aus dem Schreibtisch von Papst Benedikt XVI.). Im Mai 2012 wurde Paolo Gabriele, ein Kammerdiener des Papstes, festgenommen, der Papiere an die Medien weitergegeben hatte, in denen es um Vorwürfe der Korruption, des Missmanagements und der Günstlingswirtschaft im Vatikan ging. 2013 befand sich die Vatikanbank IOR in einer schweren Krise wegen Geldwäsche, Blockade von Korruptionsermittlungen, Schmiergeldaffären und geheimen Nummernkonten. Die Zeitung La Repubblica gab bekannt, auch nach Gabrieles Festnahme weitere Geheimpapiere zugespielt bekommen zu haben. Vereinigte Staaten von Amerika Die USA schützen Whistleblower im Whistleblower Protection Act (). Zeigt ein Hinweisgeber Betrug zu Lasten der Regierung an, hat er Anspruch auf einen Anteil am eingebrachten Schadensersatz (False Claims Act, s. qui tam). Sarbanes-Oxley Act (SOX) Außerdem verabschiedete der US-Kongress 2002 im Anschluss an mehrere Finanzskandale den SOX. Nach diesem müssen US-Aktiengesellschaften und ihre Unternehmenseinheiten in der Europäischen Union sowie Nicht-US-Unternehmen, die an einer US-Börse notiert sind, im Rahmen ihres Prüfungsausschusses Verfahren zur Entgegennahme, Speicherung und Bearbeitung von Beschwerden einführen, die der Emittent in Bezug auf die Rechnungslegung, interne Rechnungslegungskontrollen und Wirtschaftsprüfungsfragen erhält; und zur vertraulichen, anonymen Einreichung von Beschwerden durch Angestellte des Emittenten in Bezug auf fragliche Rechnungslegungs- oder Wirtschaftsprüfungsangelegenheiten. Darüber hinaus enthält Abschnitt 806 des SOX Vorschriften zum Schutz von Beschäftigten börsennotierter Unternehmen, die Beweise für Betrug vorlegen, vor solchen Vergeltungsmaßnahmen, die wegen der Nutzung des Meldeverfahrens gegen sie ergriffen werden könnten. Whistleblower während der Regierungszeit von Obama Barack Obama, US-Präsident von 2009 bis 2017, äußerte sich vor seiner ersten Wahl zum Präsidenten bewundernd über Whistleblower als „wertvollste Quelle“ für Informationen über Regierungsfehlverhalten und versprach, sich für die Steigerung der Transparenz von Regierungshandeln einzusetzen. Kritiker haben angemerkt, dass während seiner Präsidentschaft bereits bis zum Jahr 2011 fünf Whistleblower aus dem US-Geheimdienstbereich unter dem Espionage Act angeklagt worden waren, das auch die Todesstrafe vorsieht. Das seien mehr Fälle als unter allen US-Präsidenten vor ihm zusammengenommen. Er habe seine diesbezüglichen Wahlversprechen vollständig gebrochen. Der ehemalige NSA-Mitarbeiter Thomas Drake, der bereits ab 2003 über ungesetzliche Überwachungsmaßnahmen und eine von ihm festgestellte Geldverschwendung des Geheimdiensts an die Öffentlichkeit gegangen war, meinte dazu, dass er Obama selbst gewählt habe und damals große Hoffnungen in ihn gesetzt habe. Diese seien aber sehr enttäuscht worden; Obama habe die Geheimhaltungspraxis des Staates auf ein Niveau gebracht, das selbst George W. Bush „nicht einmal beabsichtigt habe“. Obama sei in dieser Hinsicht „schlimmer als Bush“, die Amerikaner seien von ihm getäuscht worden („hoodwinked“). Drake war wegen seines Whistleblowings unter dem Espionage Act angeklagt worden und ihm drohte eine 35-jährige Haftstrafe; die Anklage fiel 2011 im Prozess allerdings in allen Anklagepunkten in sich zusammen. Drake wurde nur wegen „Zweckentfremdung“ eines NSA-Computers zu einem Jahr auf Bewährung verurteilt, wobei er selbst half, diesen Anklagepunkt zu finden, damit der Staat sein „Gesicht wahren“ konnte. Trotz der Repressionen, die Whistleblower riskieren und einige von ihnen erleiden, würden sich – laut einer US-Studie (Don Soeken) – 84 % der Whistleblower in der gleichen Situation noch einmal genauso oder ähnlich verhalten. 2002 wurden drei Whistleblower vom Time Magazine als Person of the Year ausgezeichnet. 2014 zahlte die US-Börsenaufsichtsbehörde SEC einem Whistleblower 30 Millionen US-Dollar aus. 2016 zahlte sie einem ehemals leitenden Finanzmanager des US-Agrarchemiekonzerns Monsanto für seine Hinweise auf irreguläre Buchhaltung fast 22,5 Millionen Dollar. Whistleblower während der Regierungszeit von Trump In den ersten fünf Monaten der Präsidentschaft von Donald Trump sind Medien, zum Beispiel den Tageszeitungen Washington Post und New York Times, zahlreiche Informationen zugetragen worden. Geleakte Informationen veranlassten Michael T. Flynn am 13. Februar 2017 zum Rücktritt. Trump hat Leaker am 15. Februar 2017 als kriminell bezeichnet. Indien In Indien schützt das Gesetz Whistleblower zunehmend (vgl. Whistleblower Protection Act, ). Panama Im Fall der Panama Papers, der in Panama spielt, ist der Whistleblower bis heute unbekannt. Dieser Skandal hat bis heute weltweite Auswirkungen. Gesellschaftliche Anerkennung Internationaler Whistleblower-Preis Seit 1999 wird in Deutschland alle zwei Jahre ein internationaler Whistleblower-Preis vergeben (siehe Weblinks). Der Preis wurde von der Vereinigung Deutscher Wissenschaftler (VDW) und der Deutschen Sektion der International Association of Lawyers against Nuclear Arms (IALANA) gestiftet. Auch Transparency International beteiligt sich an der Preisvergabe. Der Preis soll die Öffentlichkeit für das Whistleblowing sensibilisieren und die – häufig von Entlassung und Maßregelungen betroffenen oder bedrohten – Preisträger unterstützen. Die bisherigen Preisträger sind: 1999: Alexander Nikitin – ehemaliger sowjetischer Marinekapitän, der auf unsichere Atommülllager und gefährliche Praktiken der russischen Nordflotte aufmerksam machte; 2001: Margrit Herbst – deutsche Tierärztin, die 1994 die Öffentlichkeit über die Vertuschung der ersten BSE-Fälle informierte; 2003: Daniel Ellsberg – hochrangiger Mitarbeiter des US-Verteidigungsministeriums, der 1971 die Pentagon-Papiere an die Presse weitergab; 2005: Theodore A. Postol – Physiker am MIT, der das US-Raketenabwehrprogramm GMD kritisierte und dabei dem Lincoln Laboratory des MIT Wissenschaftsbetrug sowie dem MIT selbst Vertuschung vorwarf; 2005: Árpád Pusztai – Biochemiker am Rowett Institute in Aberdeen, der bei Ratten-Fütterungsversuchen mit Gen-Kartoffeln Schäden am Immunsystem und Wachstumsstörungen von Organen feststellte und dies veröffentlichte; 2007: Liv Bode – deutsche Wissenschaftlerin, die den Verdacht der Kontamination von Plasmaspenden mit infektiösen Bestandteilen mit dem Virus der Bornaschen Krankheit im Bereich der Infektionsforschung am Robert Koch-Institut in Berlin zu klären versuchte; 2007: Brigitte Heinisch – Altenpflegerin in einer Berliner Einrichtung von Vivantes, die die dortige unzureichende Pflege und Betreuung alter und hilfebedürftiger Menschen durch eine Strafanzeige wegen Betrugs öffentlich machte. Sie wurde daraufhin fristlos gekündigt. Die Kündigung wurde von den deutschen Arbeitsgerichten bestätigt. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg sah darin jedoch einen Menschenrechtsverstoß, weil die deutschen Gerichte bei der Bewertung des Whistleblowings nicht in ausreichendem Maße die Meinungsfreiheit der Arbeitnehmerin und das öffentliche Interesse an der Information berücksichtigt hatten. Er sprach der Betroffenen eine Entschädigung für den Arbeitsplatzverlust zu. In der daraufhin erhobenen Restitutionsklage gegen die Arbeitgeberin schlossen die Parteien am 24. Mai 2012 vor dem Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg einen Vergleich, nach dem Heinisch eine Abfindung im hohen fünfstelligen Bereich erhält und das Arbeitsverhältnis nach Ablauf der ordentlichen Kündigungsfrist am 31. März 2005 endete. 2009: Rudolf Schmenger und Frank Wehrheim – für die Aufdeckung von Steuerhinterziehung der Commerzbank und der Deutschen Bank von 500 Mio. Euro und ihren Einsatz für den Erhalt effektiver Arbeitsmethoden bei der Steuerfahndung Frankfurt im Kampf gegen Steuerhinterziehung – auch gegen den Widerstand der Finanzverwaltung. (Siehe Steuerfahnderaffäre.) 2011: Rainer Moormann – Atomwissenschaftler am Forschungszentrum Jülich, der aufdeckte, dass der 1988 stillgelegte Kugelhaufen-Versuchsreaktor AVR in Jülich im Normalbetrieb jahrelang mit gefährlich überhöhten Kerntemperaturen betrieben worden war. 2011: Anonymus – für die Publikation des unter dem Titel Collateral Murder bekanntgewordenen Dokumentations-Videos über einen von US-Soldaten im Irak durchgeführten Luftangriff, den die verleihenden Vereinigungen als schweres Kriegsverbrechen einschätzen. Die Preisübergabe an den Whistleblower sollte erfolgen, sobald dessen Identität feststand. Heute ist bekannt, dass es sich bei dem Whistleblower um den ehemaligen US-Soldaten Bradley Manning, heute Chelsea Manning, handelte. Da sich Manning jedoch in amerikanischer Haft befand, konnte die Preisverleihung nicht auf dem üblichen Weg erfolgen. 2013: Edward Snowden – ehemaliger technischer Mitarbeiter der US-amerikanischen Geheimdienste NSA und CIA, der mit Hilfe Tausender kopierter Dokumente die Existenz von Programmen amerikanischer und britischer Geheimdienste öffentlich machte, die der Totalüberwachung des weltweiten Internetverkehrs dienen, darunter PRISM, Tempora und Boundless Informant. Der Preis wurde ihm in Abwesenheit verliehen. In einer von Jacob Appelbaum überbrachten Botschaft Snowdens dankte dieser „allen, die sich an der Debatte beteiligt haben“ und ergänzte: „Regierungen sind uns Rechenschaft schuldig für ihre Entscheidungen.“ (Siehe auch: Überwachungs- und Spionageaffäre 2013) 2015: Brandon Bryant – für Aussagen über seinen Einsatz als Pilot von Kampfdrohnen der United States Air Force; Gilles-Éric Séralini – für Untersuchungen über Gefahren des Herbizids Roundup (Séralini-Affäre) sowie posthum Léon Gruenbaum (1934–2004) – für das Aufdecken der Rolle des ehemaligen Geschäftsführers am Kernforschungszentrum Karlsruhe Rudolf Greifeld während des Zweiten Weltkrieges als Kriegsverwaltungsrat in Paris. 2017: Martin Porwoll und Marie Klein – kaufmännischer Leiter und pharmazeutisch-technische Assistentin der „Alten Apotheke“ in Bottrop, die den Verdacht enthüllten, dass dort jahrelang illegale Panscherei mit Anti-Krebsmitteln (Zytostatika) praktiziert wurde, wodurch mehrere Tausend schwer- und oft todkranker Krebspatienten geschädigt wurden. Martin Porwoll hatte die Zahlen zwischen den tatsächlich gelieferten und abgerechneten Wirkstoffen verglichen und Anzeige erstattet. Marie Klein hatte einen Infusionsbeutel, der eigentlich hätte vernichtet werden sollen, sichergestellt und den Ermittlern übergeben. 2017: Can Dündar für seine Enthüllungen einer unter Verstoß gegen geltendes Völkerrecht unternommenen Lieferung von Waffen und militärischer Ausrüstung nach Syrien an terroristische Dschihadisten Anfang 2014 durch den Geheimdienst MIT des NATO-Mitgliedsstaates Türkei. Weitere Preise und Auszeichnungen Ein weiterer Whistleblower-Preis ist der seit 2004 jährlich verliehene Ridenhour Truth-Telling Prize. Der Sam Adams Award wird an Mitarbeiter von Nachrichtendiensten verliehen, die Missstände öffentlich gemacht haben. Übersicht bekannter Whistleblower 1782: Johann Melchior Kubli Herausgabe der brisanten Akten an den Journalisten Heinrich Ludwig Lehmann im Hexenprozess um Anna Göldi 1929: Carl von Ossietzky deckte in einem Artikel in der Weltbühne die verbotene Aufrüstung der Reichswehr auf. 1934: Herbert von Bose – Pressechef des konservativen Vizekanzlers in der Frühphase der Regierung Adolf Hitler, Franz von Papen. Von Bose gab heimlich geheime Informationen und Unterlagen über von den Nationalsozialisten verübte Gräueltaten an den britischen Journalisten Claud Cockburn und anderen ausländischen Presseleuten zur Veröffentlichung in ihren Heimatländern weiter; nachdem die Nationalsozialisten darauf aufmerksam wurden, dass die Enthüllungsartikel in der von Cockburn herausgegebenen The Week und in anderen ausländischen Zeitungen sich auf Materialien stützten, die aus der von Bose geleiteten Pressestelle des Vizekanzlers kommen mussten, ordnete Hitler die Einbeziehung dieser Stelle in die politische Säuberungsaktion vom 30. Juni 1934 an. Von Bose wurde bei der Besetzung seiner Dienststelle durch Angehörige der Leibstandarte SS Adolf Hitler hinterrücks erschossen. 1960: William Hamilton Martin und Bernon F. Mitchell 1963: Werner Pätsch, ein Mitarbeiter des Verfassungsschutzes, der die Verletzung von Post- und Fernmeldegeheimnis durch deutsche, amerikanische und britische Geheimdienste sowie die Beschäftigung ehemaliger Nazis aufdeckte 1967: Meier 19, ein Polizist der Stadtpolizei Zürich, der 1967 eine Polizei- und Justizaffäre an die Öffentlichkeit brachte und danach verfolgt wurde; über seinen Fall gibt es ein Buch und einen Film. 1972/1973: William Mark Felt Sr., ehemaliger US-amerikanischer FBI-Agent; am 31. Mai 2005 wurde nach 33 Jahren Geheimhaltung durch die Reporter Bob Woodward und Carl Bernstein der Washington Post bekannt, dass er unter dem Pseudonym Deep Throat wichtigster Informant in der Watergate-Affäre war; die Informationen Felts führten letztendlich zum Rücktritt des US-Präsidenten Richard Nixon. Kathryn Bolkovac, eine US-amerikanische Polizeiermittlerin, die über den privaten Militärdienstleister DynCorp bei der UNO in der IPTF eingesetzt wurde. Sie ermittelte mit Unterstützung von Madeleine Rees im Nachkriegsbosnien gegen Menschenhändler und Zuhälter und stellte fest, dass Angehörige verschiedener UN-Organisationen für die Prostituierten zahlten und an der sexuellen Ausbeutung der Frauen teilnahmen. Nachdem sie das aufdeckte und verschiedene, auch höhere Ränge der UN-Organisationen aufgefordert wurden, ihre Posten zu räumen, wurde sie von DynCorp entlassen. Ihre Geschichte wurde in Whistleblower – In gefährlicher Mission verfilmt. 1985: Herbert Amry, ein österreichischer Diplomat und Nahost-Experte. Er machte 1985 die österreichische Regierung beharrlich auf illegale Waffengeschäfte einer staatseigenen Rüstungsfirma mit dem damals kriegführenden Iran aufmerksam. Kurz darauf starb er plötzlich mit 46 Jahren an Herzversagen. Einige Jahre später lösten seine Enthüllungen eine Staatsaffäre in Österreich aus, den Noricum-Skandal. 1985: Roger Boisjoly, ein US-amerikanischer Raumfahrtingenieur, der seit Juli 1985 vergeblich vor einem fatalen Defekt an Dichtungsringen des Space Shuttle warnte, der schließlich genau wie von ihm vorhergesagt zur Challenger-Katastrophe am 28. Januar 1986 führte. 1986: Mordechai Vanunu, ein israelischer Atomtechniker, der 1986 westlichen Medien verriet, dass Israel die Atombombe besitzt; er wurde vom israelischen Geheimdienst von Italien nach Israel verschleppt und wegen Geheimnisverrates von einem israelischen Gericht zu einer 18-jährigen Haftstrafe verurteilt. 1997: Christoph Meili, ehemaliger Wachmann einer privaten Sicherheitsfirma, die für die schweizerische Großbank UBS tätig war; schmuggelte 1997 vermeintliche Holocaust-Dokumente aus der Bank und rettete sie vor dem Aktenvernichter. 1998: Paul van Buitenen, EU-Kontrollbeamter, der sich 1998 öffentlich gegen die betrügerischen Machenschaften einiger Mitglieder der Europäischen Kommission wandte; als Folge seiner Aktion musste die ganze Kommission zurücktreten; eine weitere Folge war, dass Paul van Buitenen vier Monate lang beurlaubt wurde (mit Halbierung seines Entgelts) und danach an eine „ungefährliche“ Stelle versetzt wurde; von 2004 bis 2009 war er Mitglied des Europaparlaments für die niederländische Kleinpartei Europa Transparant; heute arbeitet er wieder als Beamter der Europäischen Kommission. 2001: Habib Souaïdia, Offizier einer algerischen Antiterroreinheit, warf 2001 der algerischen Regierung Staatsterrorismus vor. Sie habe während des Bürgerkriegs der 1990er Jahre, in dem nach Schätzungen von amnesty international bis zu 200.000 Menschen starben, unter strengster Geheimhaltung einen „schmutzigen Krieg“ gegen die eigene Bevölkerung geführt. Offiziell führte die Regierung Krieg gegen islamistische Terrorgruppen, die Terroranschläge gegen Soldaten und Zivilisten begingen. Laut Souaïdia seien jedoch an zahlreichen Massakern an der Zivilbevölkerung Militärangehörige zumindest beteiligt gewesen, und er sei selbst Zeuge gewesen, wie Geheimagenten des Staates getarnt Terroranschläge gegen Zivilisten verübten, für die dann offiziell und fälschlich die islamistischen Terroristen verantwortlich gemacht worden seien. Laut anderen Whistleblowern aus den Geheimdiensten sei die Führungsspitze der größten Terrorgruppe Groupe Islamique Armé (GIA – übersetzt: „Bewaffnete islamische Gruppe“) von Agenten der algerischen Geheimdienste unterwandert gewesen, und die Geheimdienste hätten selbst neue terroristische Gruppen gebildet, die dann „völlig außer Kontrolle geraten“ seien. Die algerische Regierung ließ Souaidia, der ins Exil nach Frankreich gegangen war, im Jahr 2002 für seine Aussagen in Abwesenheit zu 20 Jahren Gefängnis verurteilen. Seine auch von anderen Zeugen in ähnlicher Form bestätigten Vorwürfe wurden nie offiziell untersucht. Stattdessen wurde dem Volk im Jahr 2005 eine Generalamnestie für die Verbrechen aller Konfliktparteien zur Abstimmung vorgelegt, die jegliche Verantwortung der Staatsorgane für schwere Menschenrechtsverletzungen verneinte und die gerichtliche Aufklärung des gewaltsamen „spurlosen Verschwindens“ tausender Menschen verhindert. Katharine Gun, Übersetzerin beim britischen Geheimdienst GCHQ, gab der Öffentlichkeit preis, dass UN-Behörden und -Delegierte vom britischen Geheimdienst abgehört werden; sie konnte ihre Beteiligung an den Vorbereitungen zum Irak-Krieg nicht mit ihrem Gewissen vereinbaren; vom Gericht wurde sie freigesprochen. Joseph C. Wilson, Ehepartner der gesetzeswidrig enttarnten CIA-Geheimagentin Valerie Plame. Wilson hatte vor dem Irakkrieg öffentlich die von ihm aufgedeckte Tatsache verbreitet, dass Saddam Hussein entgegen den Verlautbarungen der US-Regierung keinen Atomwaffenrohstoff aus dem Niger gekauft hatte. Dies löste als Racheakt die Aufdeckung der Agententätigkeit seiner Ehefrau durch US-Regierungskreise aus. Lewis Libby, ein Berater von Vizepräsident Dick Cheney, wurde für den Verrat später zu einer Haftstrafe verurteilt, aber unmittelbar anschließend von Präsident George W. Bush begnadigt. 2004: Hans-Peter Martin, Mitglied des Europäischen Parlaments, versuchte im Jahre 2004 Tagegeld-Erschleichungen zu beweisen. 2005: Matthew Diaz, ehemaliger Lieutenant Commander und Jurist der United States Navy, schickte dem Center for Constitutional Rights, eine Non-Profit-Organisation, die sich für die Grund- und Menschenrechte und deren Weiterentwicklung einsetzt, die Liste der Guantanamo Bay Gefangenen. 2010: Chelsea Manning, damals Bradley Manning, spielte vermutlich 2010 der Plattform WikiLeaks ein vom US-Militär zurückgehaltenes Video zu den Luftangriffen in Bagdad vom 12. Juli 2007 und zahlreiche weitere Dokumente zu. In dem Video ist zu sehen, wie aus einem US-Kampfhubschrauber Zivilisten erschossen werden, unter ihnen auch Reporter von Reuters, begleitet von zynischen Kommentaren der Hubschrauberbesatzung. Außerdem soll Manning Depeschen US-amerikanischer Botschaften an WikiLeaks weitergeben haben, welche veröffentlicht wurden und weltweit für erhebliches Aufsehen sorgten. Manning stand in den USA vor Gericht, ihr drohte eine lebenslange Haftstrafe wegen Geheimnisverrats und möglicherweise „Zusammenarbeit mit dem Feind“. Am 30. Juli 2013 wurde sie in 19 von 21 Anklagepunkten für schuldig befunden und am 21. August 2013 zu 35 Jahren Haft und einer Geldstrafe von 100.000 US-$ verurteilt. Am 17. Mai 2017 wurde Manning freigelassen. Rudolf Elmer, ehemaliger schweizerischer Bankmitarbeiter, gab Kunden- und Geschäftsdaten von mutmaßlichen Steuerhinterziehern an Steuerbehörden, Medien und an WikiLeaks weiter. Sean Hoare, ein ehemaliger Reporter der eingestellten Boulevardzeitung News of the World, belastete 2010 als erster den damaligen britischen Regierungssprecher Andy Coulson und packte über die illegalen Recherchepraktiken der Zeitung aus. Er starb im Juli 2011. David Kelly, ein britischer Mikrobiologe, Biowaffenexperte und Berater des englischen Verteidigungsministeriums. Er war nach späteren Aussagen der BBC die Hauptquelle für einen BBC-Bericht, in dem der britischen Regierung vorgeworfen wurde, vor dem Irakkrieg Geheimdienst-Berichte über irakische Massenvernichtungswaffen aufgebauscht zu haben. Kelly soll im Jahr 2003 zwei Tage nach einer Vernehmung vor einem Untersuchungsausschuss des britischen Parlaments Selbstmord begangen haben. Miroslaw Strecker, Lastwagenfahrer, der maßgeblich zur Aufdeckung eines Fleischskandals in Deutschland beigetragen hat. Strecker wurde für sein Engagement mehrfach ausgezeichnet. Wilhelm Schlötterer versuchte während seiner Tätigkeit in der bayerischen Finanzverwaltung in den 1970er Jahren gegen Einflussnahmen von Spitzenpolitikern zugunsten wohlhabender Freunde und Prominenter in Steuerangelegenheiten vorzugehen. Er machte die Missstände auch publik, was ihm erhebliche berufliche Nachteile einbrachte. In einem Buch schrieb er 2009 unter anderem, dass Franz Josef Strauß ein Vermögen von 400 Millionen D-Mark hinterlassen habe, was ihm eine Anzeige der Strauß-Familie einbrachte. Im Juni 2012 wurden Zeugenaussagen bekannt, die seine Version zu stützen scheinen. Klaus Förster, der Leiter der Steuerfahndungsstelle in Sankt Augustin, deckte das Geldwäschesystem mit dem Kloster der Steyler Missionare und weitere „Waschanlagen“, getarnt als angeblich gemeinnützige Vereine wie die „Staatsbürgerliche Vereinigungen“, auf. Die Ermittlungen, die er angefangen hatte und selbst nicht zu Ende bringen durfte, mündeten in die bedeutendsten Parteispendenskandale der Bundesrepublik Deutschland, wie den Flick-Parteispendenskandal und den Parteispenden-Prozess gegen den CDU-Bundesschatzmeister Walther Leisler Kiep und seinen Generalbevollmächtigten Uwe Lüthje. Inge Hannemann, seit 2005 beschäftigt im Jobcenter Hamburg-Altona, bringt öffentlich Missstände bei der Vermittlung von Arbeitslosen innerhalb des Systems Hartz IV zur Sprache; im Juni 2013 gab es dazu einen Anhörungstermin vor dem Arbeitsgericht Hamburg. William Binney, der 32 Jahre beim US-Geheimdienst NSA war und dann 2001 zum Whistleblower wurde, als nach 9/11 das Inlandsüberwachungsprogramm Stellar Wind gestartet wurde. Stellar Wind, ursprünglich für die Auslandsspionage entwickelt, wurde für die Überwachung innerhalb der USA verändert. Joseph Darby, ein US-amerikanischer Sergeant der US-Militärpolizei, der 2004 durch Übergabe einer CD mit Fotografien und einer anonymen Kurzbeschreibung an den Special Agent Tyler Pieron vom US Army Criminal Investigation Command dazu beitrug, die Gefangenenmisshandlung in Abu Ghraib ans Licht der Öffentlichkeit zu bringen. Er löste damit eine Lawine von Nachforschungen und Medienberichten über diese gravierende Verletzungen der Genfer Konventionen aus. Anders Kærgaard, ein dänischer Nachrichtendienstoffizier, der 2012 Folterungen an Zivilisten während des Irakkrieges unter Duldung des dänischen Militärs offenlegte. Sibel Edmonds, die Ungereimtheiten bei 9/11-Untersuchungen, die Verstrickung von US-Politikern in Drogenlieferungen und die Korruption im Pentagon aufdeckte. Hans-Helge Jürgens deckte ab 1975 als Angestellter der TU Braunschweig den maroden Zustand des Versuchsendlagers Asse auf. Organisationen und Dienste Whistleblower-Netzwerk e. V. setzt sich seit 2006 für Whistleblowerschutz ein. Seine Arbeitsfelder sind Rechtspolitik, Beratung von Unternehmen, Behörden und Organisationen, Unterstützung von Whistleblowern, Aufklärung der Öffentlichkeit sowie internationale Kooperationen und networking. Der von Hans-Joachim Selenz gegründete CleanState e. V. begreift sich als deutschlandweite Anlaufstelle für Whistleblower. Die Website WikiLeaks bietet Whistleblowern die Möglichkeit, bislang geheim gehaltene Dokumente anonym im World Wide Web zu veröffentlichen. Ende Juli 2012 eröffnete die Wochenzeitung Die Zeit einen „digitalen Briefkasten“, wo Whistleblower Dokumente anonym hochladen können. Die Daten werden nicht unmittelbar veröffentlicht, sondern von Redakteuren weiter ausgewertet. Die Gesellschaft für Freiheitsrechte will vor dem Hintergrund des Hinweisgeberschutzgesetz (HinSchG) Polizistinnen und Polizisten unterstützen, Missstände in den eigenen Reihen zu melden. Sie stellte im Oktober das Infoportal mach-meldung.org mit Informationen über Meldewege, rechtliche Rahmenbedingungen der Hinweisgabe sowie die Besonderheiten im öffentlichen Dienst bereit. Filme und Rundfunkberichte Sebastian Bellwinkel: Whistleblower – Die Einsamkeit der Mutigen. Deutschland, 2016, ARD-Dokumentation, 45 Min. (Fehlender rechtlicher Schutz an drei bekannten Beispielen A. Deltour (Luxemburg-Steuerminderung), M. Herbst (BSE in Deutschland), S. Ennullat (Verfolgung rechtsextremer Straftaten in Sachsen-Anhalt); Inhaltsangabe im tagesspiegel.de vom 20. November 2016) Ich verpfeife meine Firma – Zivilcourage im Beruf, Deutschland, Dokumentation, 1997, 45 Min., Ein Film von V. Thurn, Inhaltsangabe. Der aufrechte Gang und sein Preis. Frankreich, Dokumentation, 2007, 53 Min., Regie: Jean Robert Viallet, Mathieu Verboud, Produktion: arte, Inhaltsangabe von arte fiktionale Darstellung der Risiken, die Whistleblower eingehen: The Insider mit Al Pacino und Russell Crowe am Beispiel von: Jeffrey Wigand. Whistleblower – In gefährlicher Mission, Kanada/Deutschland 2010, 112 Min., Regie: Larysa Kondracki Jeboja, Südkorea, 114 Min., Regie: Lin Soon-rye Stefan Maas und Jens Rosbach: Whistleblower – Enthüller oder Nestbeschmutzer?, Deutschlandfunk – „Hintergrund“ vom 9. Juni 2014 Christine Westerhaus: Whistleblower in der Wissenschaft – Wer wagt, verliert, Deutschlandfunk – „Wissenschaft im Brennpunkt“ vom 4. Februar 2018 Siehe auch Hinweismanagementsystem Leak Quelle (Nachrichtendienst) Informant Critical Incident Reporting Systems (CIRS) – „anonymisiertes Fehler-Meldesysteme“, wird als effektivere Alternative diskutiert Steuersünder-CD Richtlinie zum Schutz von Geschäftsgeheimnissen ((EU) 2016/943) Literatur Tatiana Bazzichelli (Hrsg.): Whistleblowing for Change. Exposing Systems of Power and Injustice. transcript, Bielefeld 2021, ISBN 978-3-8376-5793-7. (PDF; 27 MB) Antje Bultmann (Hrsg.): Auf der Abschußliste – Wie kritische Wissenschaftler mundtot gemacht werden sollen. Knaur-Verlag, München 1997, ISBN 3-426-77265-5. Dieter Deiseroth, Hartmut Graßl (Hrsg.): Whistleblower-Enthüllungen. Berliner Wissenschafts-Verlag, Berlin 2016, ISBN 978-3-8305-3641-3 (Dokumentation zur Verleihung der Whistleblower-Preise 2015) Dieter Deiseroth: Welchen Nutzen bringt das Whistleblowing von Beschäftigten? / Wo liegen gravierende Missstände im stationären Pflegebereich? In: Pro Alter, Heft 3/2006, S. 16–28, . (Das Heft enthält noch weitere Beiträge zum Thema Whistleblowing) Dieter Deiseroth: Whistleblowing in Zeiten von BSE – Der Fall der Tierärztin Dr. Margrit Herbst. Berlin-Verlag, Berlin 2001, ISBN 3-8305-0258-3. Dieter Deiseroth: Berufsethische Verantwortung in der Forschung, Möglichkeiten und Grenzen des Rechts. LIT-Verlag, Münster 1997, ISBN 3-8258-3160-4. Dieter Deiseroth, Annegret Falter: VDW-Materialien. Berlin 2002. (PDF) Dieter Deiseroth, Dietmar Göttling: Der Fall Nikitin. Whistleblower-Preis 1999. MIRZ-Schriftenreihe. G. 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März 2021 Whistleblower-Netzwerk e. V. und Fairness-Stiftung Whistleblowing Austria Whistleblower-Preis – offizielle Seite (Preisträger siehe unter „Whistleblower-Preisträger seit 1999“) Aktueller Begriff: Whistleblower – Hinweisgeber mit Zivilcourage (Ausarbeitung des Wissenschaftlichen Dienstes des deutschen Bundestages vom 21. Januar 2009) (PDF; 72 kB) Positionspapier zur Umsetzung der EU-Richtlinie zum Hinweisgeberschutz. Transparency International Deutschland; abgerufen am 1. März 2021 Artikelsammlung. Legal Tribune Online; abgerufen am 1. März 2021 Melanie Longerich: Kampf um Rehabilitation – Whistleblower in Deutschland. Deutschlandfunk, 12. November 2010; abgerufen am 1. März 2021 Guido Strack: Whistleblowing in Deutschland. (PDF; 95 kB) verfügbar auch auf Englisch (PDF; 93 kB) Moritz Homann, Whistleblower-Richtlinie: Was Unternehmen wissen müssen auf dem Stand vom 16. Februar 2021, abgerufen am 24. Februar 2021 Einzelnachweise Whistleblowing Rechtsstaat Ethische Handlung Personenbezeichnung (Journalismus) Englische Phrase Sozialfigur Wissenschaftspraxis
Q26102
85.153755
4991373
https://de.wikipedia.org/wiki/Asteriden
Asteriden
Die Asteriden sind eine Gruppe von Bedecktsamigen Pflanzen. Sie sind eine der zwei großen Gruppen innerhalb der Eudikotyledonen. Nach der Systematik der Angiosperm Phylogeny Group sind sie eine Klade ohne taxonomischen Rang und entsprechen vom Umfang her ungefähr der früheren Unterklasse Asternähnliche. Merkmale Die Asteriden sind im Wesentlichen durch molekulargenetische Merkmale charakterisiert, es gibt nur wenige gemeinsame morphologische Merkmale. Ihre Blüten sind meist fünfzählig mit einem Kelch und mit verwachsenen Kronblättern. Oft ist nur ein Staubblattkreis vorhanden. Das Gynoeceum ist verwachsen (synkarp), die Anzahl der Fruchtblätter ist in vielen Gruppen verringert. Die Samenanlagen besitzen nur ein Integument und sind tenuinucellat. Die Bildung des Endosperms erfolgt zellulär. Charakteristische sekundäre Inhaltsstoffe sind Iridoide, Indol- und Steroidalkaloide, Polyacetylene und Sesquiterpenlactone. Systematik Die Asteriden sind neben den Rosiden eine der zwei großen Gruppen innerhalb der Eudikotyledonen. Zusammen mit den Berberidopsidales, Santalales und Caryophyllales bilden sie die Superasteriden. Ihre Schwestergruppe sind die Caryophyllales. Die Asteriden bestehen aus zwei Gruppen von Ordnungen und zwei basal stehenden Ordnungen. Ein Kladogramm sieht folgendermaßen aus: Asteriden Hartriegelartige (Cornales) Heidekrautartige (Ericales) Lamiiden Die Lamiiden (auch Euasteriden I) besitzen häufig gegenständige und ganzrandige Blätter. In der Blüte sind Verwachsungen häufig (Sympetalie): die Kronröhre entsteht nach den Kronzipfeln (späte Sympetalie). Der Fruchtknoten ist oft oberständig, die Früchte sind oft Kapseln. Zu den Lamiiden zählen folgende Ordnungen: Icacinales Metteniusales Garryales Enzianartige (Gentianales) Raublattartige (Boraginales) Vahliales Nachtschattenartige (Solanales) Lippenblütlerartige (Lamiales) Das Kladogramm der Euasteriden I (Lamiiden) sieht folgendermaßen aus: Die Ordnungen von Solanales bis Boraginales werden informell auch als "core lamiids" (Kernlamiiden) zusammengefasst. Campanuliden Die Campanuliden (Euasteriden II) haben oft wechselständige Blätter, der Blattrand ist oft gesägt oder gezähnt. Bei ihnen tritt die Sympetalie früh auf, die Kronröhre entsteht hier vor den freien Kronzipfeln (frühe Sympetalie). Ihr Fruchtknoten steht oft unterständig, die Früchte sind oft Schließfrüchte. Zu den Campanuliden zählen folgende Ordnungen: Stechpalmenartige (Aquifoliales) Asternartige (Asterales) Escalloniales Bruniales Paracryphiales Kardenartige (Dipsacales) Doldenblütlerartige (Apiales) Das Kladogramm der Campanuliden sieht folgendermaßen aus: Einzelnachweise Weblinks Bedecktsamer
Q747502
316.961399
256142
https://de.wikipedia.org/wiki/Maseru
Maseru
Maseru ist die Hauptstadt Lesothos und hat etwa 330.760 Einwohner (Stand 2016). Geographie Maseru liegt am Fluss Caledon (Sesotho: Mohokare) im Westen Lesothos und ist die einzige größere Stadt des Landes. Sie liegt etwa 1550 Meter über dem Meeresspiegel und ist Hauptstadt des gleichnamigen Distrikts. Der Caledon ist Grenzfluss zu Südafrika. Geschichte Maseru war eine kleine Handelsstation an einer Furt des Caledon an der Grenze von Basutoland und dem Oranje-Freistaat, als es 1869 unter dem Oberhäuptling der Basotho, Moshoeshoe I., zur Hauptstadt gemacht wurde. Maseru bezeichnet das Sesotho-Wort für eine bestimmte Art des Sandsteins, die bei Maseru vorkommt. Es war von 1869 bis 1871 und von 1884 bis 1966 Hauptstadt des britischen Protektorats, später Kronkolonie, Basutoland und diente lange allein den Kolonialherren als Wohnort. 1904 ließ sich in Maseru die erste Bankfiliale in Basutoland nieder, 1905 erhielt Maseru über die neu errichtete Caledonbrücke einen Bahnanschluss in den Oranje-Freistaat. 1933 erhielten einige Gebiete Maserus Stromversorgung. 1948 lebten dort 600 Europäer und 2000 Basotho. Da es jedoch Einrichtungen wie den Basutoland Club gab, die nur Weißen vorbehalten waren, kam es zu Protestaktionen, vor allem auf Initiative der panafrikanischen Basutoland Congress Party (BCP). 1958 wurde östlich des Zentrums die römisch-katholische Kathedrale Cathedral of our Lady of Victories errichtet (siehe auch: Römisch-katholische Kirche in Lesotho). 1966 wurde Maseru Hauptstadt des unabhängigen Lesotho. Damals lebten 15.000 Einwohner in der Stadt. Seit der Unabhängigkeit 1966 entstanden viele Behörden und diplomatische Vertretungen. Die deutsche Botschaft wurde aber in den 1990er Jahren aus finanziellen Gründen geschlossen. 1980 wurde das Stadtgebiet von 23 km² auf 138 km² erweitert. Am 9. Dezember 1982 überquerten rund 100 Soldaten der South African Defence Force in einer Kommandoaktion mit Hubschraubern die Grenze nach Lesotho und erschossen in Maseru 42 Menschen, darunter 30 Südafrikaner, die dort im Exil gelebt hatten, und zwölf Lesother (siehe Südafrikanischer Überfall auf Lesotho 1982). Im September 1988 besuchte Papst Johannes Paul II. die Stadt. Höhepunkt der Feier war die Seligsprechung von Father Joseph Gérard. Dieser war Missionar und hatte im 19. Jahrhundert großen Anteil an der Christianisierung der Basotho. Statt der erwarteten Million Gläubigen erschienen zur Papstmesse in Maseru nur etwa 10.000 Menschen. Noch heute steht die dafür eigens errichtete Prunktribüne inmitten ärmlicher Siedlungen. Maseru ist seit 1894 römisch-katholischer Bischofssitz, seit 1977 Sitz des Erzbischofs des Erzbistums Maseru. Bei politischen Unruhen im März 1991 wurden zahlreiche Geschäfte zerstört; es gab über 40 Tote. Im September 1998 wurden große Teile des Zentrums von Maseru geplündert und abgebrannt. Dabei wurden vor allem südafrikanische und asiatische Ladenbesitzer geschädigt. Wirtschaft Maseru ist als Hauptstadt auch Wirtschaftszentrum des Landes. Die wichtigsten Fernstraßen Lesothos laufen hier zusammen. In Maseru befinden sich die Zentralen aller in Lesotho operierender Banken, Betriebe des Groß- und Einzelhandels sowie Hotels und Gastronomiebetriebe. Ein beachtliches Unternehmen ist die Maluti Mountain Brewery, die mehrere Sorten Bier in südafrikanischer Lizenz herstellt. Auch die Lesotho Flour Mills, ein großer Mühlenbetrieb, hat einen hohen Umsatz. In der Stadt werden Kerzen und Teppiche hergestellt. Etwa seit dem Jahr 2000 produziert eine Firma unter der Leitung taiwanischer Geschäftsleute Jeans und Jeansstoffe hauptsächlich für den amerikanischen Markt. Die Arbeitsbedingungen sind oft katastrophal. Verkehr Maseru ist das Zentrum des öffentlichen Nahverkehrs des Landes. Hier treffen sich zahlreiche Bus- und Sammeltaxi-Linien. Die wichtigsten innerstädtischen Straßen sind der Kingsway, die Haupteinkaufsstraße, und die Moshoeshoe Road, daneben die vierstreifige Entlastungsstraße Mpilo Mpilo südlich des Kingsway. Im Güterverkehr wird Maseru von Südafrika aus auch mit der Bahn angefahren (siehe Schienenverkehr in Lesotho). Der internationale Flughafen Moshoeshoe I. International Airport liegt etwa 20 Kilometer südlich der Stadt nahe der Main South, der Ausfallstraße Richtung Süden. Ein örtlicher Flughafen wird seit der Eröffnung des Moshoeshoe I. International Airport nur noch für militärische Zwecke und Hilfsflüge genutzt. Infrastruktur Maseru ist eine recht moderne Stadt mit zahlreichen Behörden, gewerblichen Betrieben, Asphaltstraßen, Supermärkten, Schulen, dem Queen Elizabeth II. Hospital, der größten Kirche Lesothos (der Cathedral of our Lady of Victories) und dem modernen Nationalstadion, das in den 1980er Jahren gebaut wurde. An der Moshoeshoe Road haben viele Großbetriebe ihren Sitz. Auch der Palast des Königs Letsie III. sowie das Parlamentsgebäude und die Ministerien befindet sich im Zentrum der Stadt. Einige Bereiche der National University of Lesotho (NUL; Nationaluniversität von Lesotho) befinden sich in Maseru, etwa die Fakultät für Agrarwissenschaften und das Institut für Erwachsenenbildung (IEMS). Das National Teacher Training College (NTTC; Nationales College zur Lehrerausbildung) hat ebenfalls seinen Sitz in Maseru, ebenso zahlreiche Schulen des Primar- und Sekundärbereichs. Sport In der Stadt befindet sich mit dem Setsoto Stadium das 2010–2011 von Grund auf erneuerte Nationalstadion des Landes. Zu den Mannschaften der Lesotho Premier League gehören die in Maseru beheimateten Teams Kick4Life FC, Lesotho Correctional Services FC, Lesotho Defence Force FC, Lesotho Mounted Police Service FC, Likhopo FC und Matlama FC. Klimatabelle Söhne und Töchter der Stadt Thomas Thabane (* 1939), Politiker 'Mamphono Khaketla (* 1960), Mathematikerin und Hochschullehrerin Makhaola Ndebele (* 1971), Schauspieler und Theaterleiter Masempe Theko (* 1987), Schwimmerin Lerato Sechele (* 1994), Dreispringerin Tsepang Sello (* 1997), Leichtathletin Lerotholi David Seeiso (* 2007), Kronprinz von Lesotho Siehe auch Liste der Städte in Lesotho Weblinks Einzelnachweise Hauptstadt in Afrika Ort in Lesotho Ort in Afrika Grenze zwischen Lesotho und Südafrika Hauptstadt eines Distrikts in Lesotho
Q3909
143.102795
16251
https://de.wikipedia.org/wiki/Chronik
Chronik
Eine Chronik (von zu ,Zeit‘, demnach sinngemäß „Zeitbuch“) ist eine geschichtliche Prosadarstellung, in der die Ereignisse in zeitlicher Reihenfolge geordnet dargestellt sind. Chroniken können von knappen, reinen Datenlisten bis hin zu ausführlichen Schilderungen für einzelne Jahresereignisse reichen. Der Verfasser einer Chronik wird als Chronist, die entsprechende literarische Gattung als Chronistik bezeichnet. Überblick Die Chronik als Form der Geschichtsschreibung wurde im Altertum entwickelt. Bereits im alten Orient entstanden kurze chronikalische Werke, wenngleich diese nicht literarisch aufgearbeitet waren und nur über wichtige Ereignisse knapp berichteten. In der griechisch-römischen Antike entstanden ebenfalls Chroniken, die inhaltlich aber weiter gefasst waren. Zu nennen ist z. B. Apollodor von Athen, Kastor von Rhodos und Dexippos (wenngleich dessen Chronik wohl recht stark der „klassischen Geschichtsschreibung“ angenähert war). Christliche antike Autoren orientierten sich an dem Genre der griechischen Chronistik aus hellenistischer Zeit. Bedeutenden Einfluss für spätere christlichen Geschichtsschreiber hatte die Chronik des Sextus Iulius Africanus. Gerade für die Zeit der Spätantike liefern einige Chroniken, obwohl viele nur knappe Darstellungen boten, wichtige Erkenntnisse. Zu nennen sind unter anderem die Chronik des Eusebius von Caesarea, des Hieronymus, des Hydatius von Aquae Flaviae, des Josua Stylites, des Johannes Malalas oder das Chronicon Paschale. Einen Spezialfall stellen die sogenannten Consularia dar, bei denen es sich um Chroniken auf Basis römischer Konsullisten (fasti consulares) handelt, die nur knappe inhaltliche Zusätze boten. Mit dem Ende der Antike lebte die Tradition der Chronik im byzantinischen Reich fort (siehe etwa Georgios Synkellos und Theophanes). Im lateinischen Westen erlebte die Chronik ihre Blütezeit im hohen und späten Mittelalter. Sie stellt sich als Bericht über geschichtliche Vorgänge in zeitlicher Anordnung, jedoch nicht auf der Grundlage der Kalender-Jahre (Annalen), sondern im größeren chronologischen Zusammenhang der Regierungszeiten etwa von Königen und Päpsten dar. Chroniken verfolgen die Absicht, dem Leser einen zeitlich geordneten historischen Überblick zu verschaffen; die von einem explizit christlichen Standpunkt aus verfassten Chroniken versuchen auch, einen Zusammenhang zwischen christlicher Heilsgeschichte und weltlicher Geschichte herzustellen. Nach Inhalt und Reichweite sind Weltchroniken, Kaiser- und Königschroniken, Landeschroniken, Kloster-, Kirchen- und Städtechroniken zu unterscheiden. Die Hauschronik ist eine familiäre, genealogisch ausgerichtete Erinnerungsschrift. Hinzu kamen schließlich die Familienchroniken, die seit der Renaissance in Italien, bald auch in den deutschen Handelsstädten entstehen und ein neues Medium bürgerlichen Selbst- und Traditionsbewusstseins, aber auch eine Vorform der Autobiografie bilden. Mittelalterliche Beispiele von Chroniken sind unter anderem die Chronica maiora des Isidor von Sevilla (6./7. Jahrhundert), die Fredegarchronik (7. Jahrhundert), die Chronik des Thietmar von Merseburg (11. Jahrhundert), die Chronica sive Historia de duabus civitatibus des Otto von Freising (12. Jahrhundert) oder die Weltchronik von Hartmann Schedel (spätes 15. Jahrhundert). Hinzu kommen zahlreiche weitere Werke. Deutschsprachige Chroniken (sieht man vom Annolied ab) kennt man seit dem 12. Jahrhundert. Schulchroniken begannen im 19. Jahrhundert und zeichneten oft das bis dahin gesammelte Wissen der ortsschulgeschichtlichen Entwicklung auf, um dann detailliert über die aktuelle Schulsituation (schul-)jährlich zu berichten. Neben ihrer historischen Gebrauchsform lebt die Chronik heute auch als populäre Gebrauchsform weiter, so zum Beispiel in Dorf- oder Vereinschroniken. Eine weitere Karriere hat sie als literarisches Strukturmodell besonders in der fiktionalen Erzählprosa gemacht. So zum Beispiel in den Buddenbrooks von Thomas Mann. Beispiel afrikanischer Chroniken sind etwa die Kilwachronik (um 1520) oder die Patechronik. Verwandte Formen Durch die rein chronologische Darstellung von Ereignissen unterscheidet sich die Chronik von solchen Geschichtswerken, die das Geschehene unter Herstellung von Bezügen und Zusammenhängen zu verstehen, beschreiben und zu erklären versuchen sowie oft reichere Stilelemente beinhalten (z. B. Reden). Solche Geschichtswerke sind im Mittelalter unter anderem von Gregor von Tours, Ernst von Kirchberg, Fulcher von Chartres, Lambert von Hersfeld, Jean Froissart, Thietmar von Merseburg, Otto von St. Blasien und Matthias von Neuenburg verfasst worden. Bekannte spätmittelalterliche Chronisten aus der Schweiz sind unter anderem Gerold Edlibach, Hans Fründ, Konrad Justinger, Diebold Schilling der Ältere, Diebold Schilling der Jüngere, Werner Schodoler, Christoph Silberysen, Bendicht Tschachtlan und Johann Jakob Wick. Als Publikation ist eine Chronik ein Nachschlagewerk, das nicht nach dem Alphabet, sondern nach der Zeitachse gegliedert ist. Allerdings findet man im Buchhandel unter der Bezeichnung „Chronik“ auch sonstige Darstellungen, die der Chronologie nicht mehr als andere Geschichtswerke folgen. Außereuropäische Formen der Chronik sind z. B. die Kano-Chronik aus Nigeria die Chroniken für zahlreiche südostasiatische Stadtstaaten, siehe Chroniken Südostasiens Literatur Richard W. Burgess, Michael Kulikowski: Mosaics of Time. The Latin Chronicle Traditions from the First Century BC to the Sixth Century AD. Band 1: A Historical Introduction to the Chronicle Genre from its Origins to the High Middle Ages (= Studies in the early Middle Ages. Bd. 33). Brepols, Turnhout 2013, ISBN 978-2-503-53140-3. Stefan Dicker: Landesbewusstsein und Zeitgeschehen: Studien zur bayerischen Chronistik des 15. Jahrhunderts (= Norm und Struktur. Studien zum sozialen Wandel in Mittelalter und früher Neuzeit. Bd. 30). Böhlau, Köln 2009, ISBN 978-3-412-20103-6. Graeme Dunphy (Hrsg.): Encyclopedia of the Medieval Chronicle. 2 Bde. Brill, Leiden 2010 (mit mehreren Werks- und Überblicksartikeln). Stephanie Dzeja: Die Geschichte der eigenen Stadt. Städtische Chronistik in Frankfurt am Main vom 16. bis zum 18. Jahrhundert (= Europäische Hochschulschriften. Bd. 946). Lang, Frankfurt a. M. 2003, ISBN 3-631-50419-5. Constantin Hruschka: Kriegsführung und Geschichtsschreibung im Spätmittelalter. Eine Untersuchung zur Chronistik der Konzilszeit (= Kollektive Einstellungen und sozialer Wandel im Mittelalter. N.F., Bd. 5). Böhlau, Köln 2001, ISBN 3-412-06501-3. Peter Johanek: Weltchronistik und regionale Geschichtsschreibung im Spätmittelalter. In: Hans Patze (Hrsg.): Geschichtsschreibung und Geschichtsbewußtsein im späten Mittelalter (= Vorträge und Forschungen. Bd. 31). Thorbecke, Sigmaringen 1987, ISBN 3-7995-6631-7, S. 287–330 (online) Regula Schmid: Geschichte im Dienst der Stadt. Amtliche Historie und Politik im Spätmittelalter. Chronos, Zürich 2009, ISBN 978-3-0340-0928-7. Gerhard Wolf, Norbert H. Ott (Hrsg.): Handbuch Chroniken des Mittelalters. De Gruyter, Berlin/Boston 2016, ISBN 978-3-11-020627-2. Weblinks Quellenarbeit
Q185363
202.66943
6777
https://de.wikipedia.org/wiki/1784
1784
Ereignisse Politik und Weltgeschehen Amerika 14. Januar: Der amerikanische Kontinentalkongress ratifiziert den mit Großbritannien ausgehandelten Frieden von Paris, welcher den Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg beendet. 23. August: Abgeordnete dreier Counties stimmen über die Sezession von North Carolina ab. Daraus entsteht im folgenden Jahr der State of Franklin. 22. September: In der Three Saints Bay der Kodiak-Insel gründet der Händler und Seefahrer Grigori Iwanowitsch Schelichow die erste russische Siedlung in Alaska. Connecticut und Rhode Island verabschieden Gesetze zur schrittweise erfolgenden Freilassung der Sklaven. Europa Maximilian Franz von Österreich wird als Nachfolger des am 15. April verstorbenen Maximilian Friedrich von Königsegg-Rothenfels Erzbischof und Kurfürst von Köln sowie Fürstbischof von Münster. 30. Mai: Der Friedensschluss in Paris beendet den vierten englisch-niederländischen Seekrieg von 1780 bis 1784. 23. August: Kaiser Joseph II. verfügt in der Zeit des Josephinismus das Schließen aller innerörtlichen Friedhöfe in Österreich aus Hygienegründen. Für Bestattungen soll ferner ein Klappsarg eingesetzt werden, doch die Bevölkerung sträubt sich nach kurzer Gültigkeitszeit erfolgreich dagegen. 31. Oktober: Im zur habsburgischen Monarchie gehörigen Siebenbürgen bricht ein gewaltsamer Aufstand rumänischer leibeigener Bauern aus. Der Augsburger Weberaufstand beginnt. Indien Pitt’s India Act unterstellt die Verwaltung der Britischen Ostindien-Kompanie der Britischen Regierung. Wirtschaft 17. August: Eine Verordnung Kaiser Josephs II. erlaubt jedermann, selbst hergestellte Lebensmittel, Wein und Obstmost zu allen Zeiten zu verkaufen und auszuschenken. Der Heurige erlebt damit in Österreich die offizielle Geburt. Die von Sophie von La Roche herausgegebene Frauenzeitschrift Pomona für Teutschlands Töchter stellt nach rund einem Jahr ihr Erscheinen ein. Wissenschaft und Technik Aviation 28. Januar: Der Gasballon Ad Astra, gebaut von dem Gelehrten Eberhard August Wilhelm von Zimmermann und dem Apotheker Justus Christian Heinrich Heyer steigt unbemannt vor dem Schloss in Braunschweig auf. Das Unternehmen ist vom braunschweigischen Herzog Karl Wilhelm Ferdinand gefördert worden. Ein weiterer Aufstieg erfolgt am 8. Februar. 12. Februar: Urs Jakob Tschan führt den ersten Schweizer unbemannten Heißluftballonflug in Solothurn durch 25. Februar: Die erste Fahrt in einem Heißluftballon außerhalb Frankreichs unternehmen Paolo Andreani, die Brüder Agostino und Carlo Gerli. Sie starten in Moncucco bei Mailand. Die Nachricht über die erfolgreiche Auffahrt der Gebrüder Montgolfier in Frankreich hat sich Wochen zuvor auch in die Lombardei verbreitet. 17. Juli: In Leimersheim startet ein von Johann Andreas von Traitteur aus Papier gebauter Heißluftballon. Die Höhe wird mit 16 Schuh (ca. 4,60 m) und einem Durchmesser von 12 Schuh (ca. 3,50 m) angegeben. Laut dem Bericht von Traitteur fliegt der unbemannte Ballon circa 38 Minuten lang. Chemie Der Chemiker Carl Wilhelm Scheele isoliert erstmals Zitronensäure aus Zitronensaft. Philosophie Immanuel Kants Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? erscheint in der Dezembernummer der Berlinischen Monatsschrift. Immanuel Kant verfasst den Aufsatz Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht. Astronomie Der Astronom Wilhelm Herschel, der sich seit 1782 gezielt mit der Suche nach nebligen Himmelsobjekten beschäftigt, entdeckt in diesem Jahr zahlreiche Galaxien: 22. Februar: Im Sternbild Löwe die Spiralgalaxie NGC 3521 und im Sternbild Jungfrau die Spiralgalaxie NGC 4666. 23. Februar: Im Sternbild Jungfrau die Balkenspiralgalaxie NGC 4412, im Sternbild Löwe NGC 3640. 12. März: Im Sternbild Löwe NGC 3190. 14. März: Im Virgo-Galaxienhaufen im Sternbild Haar der Berenike die Galaxien NGC 4293, NGC 4394 und NGC 4450, im Sternbild Löwe die Galaxien NGC 3607 und NGC 3686. 15. März: Im Sternbild Jungfrau die Galaxien NGC 4429, NGC 4503 und NGC 4762, im Sternbild Löwe die Galaxie NGC 3810. 21. März: Im Sternbild Coma Berenices die Galaxien NGC 4379 und NGC 4710, im Sternbild Löwe NGC 3370. 23. März Im Sternbild Löwe NGC 3041. 8. April: Im Sternbild Haar der Berenike Messier 91 und NGC 4419, im Sternbild Jungfrau NGC 4438 sowie im Sternbild Löwe NGC 3377, NGC 3412 und NGC 3628. 12. April: Im Sternbild Haar der Berenike NGC 4689 sowie im Sternbild Jungfrau NGC 4639, NGC 4654, NGC 4880 und NGC 5230. 15. April: Im Sternbild Jungfrau neben der zum Virgo-Galaxienhaufen gehörenden linsenförmigen Galaxie NGC 4417 die Objekte NGC 3833 und NGC 5506 sowie im Sternbild Bärenhüter die Galaxie NGC 5248. 17. April: Im Sternbild Jungfrau NGC 4216, NGC 4267, NGC 4387, NGC 4388, NGC 4775 und NGC 4981. 24. April: Im Sternbild Jungfrau NGC 4697. 25. April: Im Sternbild Jungfrau NGC 4995. 24. Juni: Im Sternbild Schütze den Kugelsternhaufen NGC 6624. 12. Juli: Im Sternbild Steinbock NGC 6907. 5. September: Im Sternbild Pegasus NGC 7331. 7. September: Im Sternbild Pegasus NGC 7217. 8. September: Im Sternbild Pegasus NGC 16. 10. September: Im Sternbild Pegasus die Balkenspiralgalaxie NGC 23 und im Sternbild Andromeda die Balkenspiralgalaxie NGC 214. 11. September: Im Sternbild Fische die Radiogalaxie NGC 315, im Sternbild Andromeda die Galaxien NGC 68, NGC 108 und NGC 233 und im Sternbild Widder die Galaxie NGC 972. 12. September: Im Sternbild Fische NGC 296, NGC 379, NGC 380, NGC 407, NGC 410, NGC 420, NGC 495 und NGC 507, im Sternbild Andromeda NGC 266, Im Sternbild Pegasus NGC 7457 und im Sternbild Dreieck NGC 777. 13. September: Im Sternbild Dreieck die Galaxie NGC 925. 15. September: Im Sternbild Pegasus NGC 7817. 18. September: Im Sternbild Pegasus NGC 52. 19. September: Im Sternbild Pegasus NGC 7332. 6. Oktober: Im Sternbild Perseus NGC 1003. 8. Oktober: Im Sternbild Pegasus NGC 7814 und im Sternbild Fische NGC 57. 14. Oktober: Im Sternbild Fische NGC 213. 15. Oktober: Im Sternbild Fische NGC 251. 16. Oktober: Im Sternbild Fische NGC 524 und NGC 660 sowie im Sternbild Pegasus NGC 7448. 19. Oktober: Im Sternbild Pegasus NGC 7479. 20. Oktober: Im Sternbild Walfisch die Galaxie NGC 247 sowie im Sternbild Eridanus die Galaxie NGC 1232. 12. November: Im Sternbild Pegasus die Seyfertgalaxie NGC 7469. 16. November: Im Sternbild Löwe NGC 2903. 20. November: Im Sternbild Schiffskompass die Galaxie NGC 2613 und im Sternbild Wasserschlange die Galaxie NGC 2784. 9. Dezember: Im Sternbild Eridanus die Galaxien NGC 1332 und NGC 1187 sowie im Sternbild Walfisch die Galaxie NGC 216. 13. Dezember: Im Sternbild Fische NGC 474, NGC 488 und NGC 520. Kultur Bildende Kunst Jacques-Louis David malt in Öl auf Leinwand das Gemälde Der Schwur der Horatier, eines der ersten Werke des Klassizismus. Literatur Die Erstausgabe der Jobsiade von Carl Arnold Kortum erscheint. Musik und Theater 26. Februar: Im Theater von Schloss Eszterháza in Esterház findet die Uraufführung der Oper Armida von Joseph Haydn statt. Das Libretto wurde vermutlich von Nunziato Porta zusammengestellt. Es basiert auf Torquato Tassos Epos Das befreite Jerusalem. 13. April: Friedrich Schillers Kabale und Liebe – Ein bürgerliches Trauerspiel wird in Frankfurt am Main erstmals aufgeführt, am 15. April folgt eine Aufführung in Mannheim 26. April: Die der französischen Königin Marie Antoinette gewidmete tragédie lyrique Les Danaïdes von Antonio Salieri auf einen Text von François Bailly du Roullet und Louis Théodore Baron de Tschudi, nach einer italienischen Vorlage von Ranieri de’ Calzabigi wird mit großem Erfolg in Paris uraufgeführt. 10. Oktober: Uraufführung des Dramas I due supposti ossia Lo sposo senza moglie von Domenico Cimarosa am Teatro alla Scala di Milano in Mailand 26. Dezember: Uraufführung der Oper L'Idalide von Luigi Cherubini in Florenz Gründung des Musikinstrumenten-Museum Markneukirchen Gesellschaft 16. August: Das Allgemeine Krankenhaus in Wien wird eröffnet. Religion 22. März: In einer von König Rama I. angeführten Prozession wird der Smaragd-Buddha in die Tempelanlage Wat Phra Kaeo nach Bangkok, der neuen Hauptstadt von Siam, gebracht. 26. November: In den Vereinigten Staaten entsteht eine Apostolische Präfektur unter der Leitung des vom Heiligen Stuhl ernannten Jesuiten John Carroll. Katastrophen Ende Februar: Nach dem extremen Winter 1783/84 sucht eines der größten Hochwasser in historischer Zeit Mitteleuropa heim. Zeugnisse über starke Zerstörungen sind unter anderem aus Regensburg, Bamberg, Heidelberg, vor allem aber aus Köln überliefert. Geboren Erstes Quartal 2. Januar: Ernst III., Herzog von Sachsen-Coburg-Saalfeld († 1844) 4. Januar: François Rude, französischer Bildhauer († 1855) 6. Januar: Carl Friedrich Mosch, deutscher Autor († 1859) 17. Januar: Philippe-Antoine d’Ornano, französischer General, Pair und Marschall von Frankreich († 1863) 21. Januar: Georg Moller, deutscher Architekt und Stadtplaner († 1852) 21. Januar: Andrew Stevenson, US-amerikanischer Politiker († 1857) 28. Januar: George Hamilton-Gordon, britischer Staatsmann und Premierminister († 1860) 2. Februar: August Ludwig Gottlob Krehl, deutscher evangelischer Theologe und Hochschullehrer († 1855) 5. Februar: William Taylor Barry, US-amerikanischer Politiker († 1835) 5. Februar: Karl Friedrich Christian Wenck, deutscher Jurist († 1828) 6. Februar: Wilhelm Ferdinand Ermeler, deutscher Industrieller und Geheimer Kommerzienrat († 1866) 10. Februar: Hartwig Peters, deutscher Geistlicher und Publizist († 1848) 15. Februar: Herenäus Haid, deutscher Theologe, Autor und Übersetzer († 1873) 16. Februar: Wilhelm Titel, deutscher Maler und akademischer Zeichenlehrer († 1862) 20. Februar: Mathias Aberle, österreichischer Mediziner († 1847) 29. Februar: Leo von Klenze, deutscher Architekt, Maler und Schriftsteller († 1864) 3. März: Carl Wilhelm Leske, deutscher Verleger und Buchhändler († 1837) 5. März: Johan Gunder Adler, Mitverfasser des norwegischen Grundgesetzes († 1852) 6. März: Anselme Gaëtan Desmarest, französischer Zoologe und Schriftsteller († 1838) 12. März: William Buckland, englischer Geologe und Paläontologe († 1856) 17. März: Egid von Löhr, deutscher Jurist und Hochschullehrer († 1851) 26. März: John W. Taylor, US-amerikanischer Politiker († 1854) 27. März: Sándor Csoma, ungarischer Forschungsreisender, Begründer der Tibetologie († 1842) Zweites Quartal 5. April: Louis Spohr, deutscher Komponist, Dirigent, Geiger († 1859) 8. April: Dionisio Aguado, spanischer Gitarrist und Komponist († 1849) 13. April: Friedrich von Wrangel, preußischer General († 1877) 14. April: Carl Ludwig August Bergius, deutscher Beamter († 1829) 21. April: Karl von Decker, preußischer General und Schriftsteller († 1844) 29. April: Samuel Turell Armstrong, US-amerikanischer Politiker († 1850) 3. Mai: Henry Hubbard, US-amerikanischer Politiker († 1857) 5. Mai: Maria Elisabeth in Bayern, Fürstin von Wagram und Herzogin von Neuchâtel († 1849) 9. Mai: Georg von Oldenburg, Prinz des Herzogtums Oldenburg († 1812) 10. Mai: Carlo Filangieri, italienischer General († 1867) 10. Mai: Heinrich von der Tann, deutscher Offizier und Abgeordneter († 1848) 31. Mai: Josef Sandhaas, deutscher Maler († 1827) 8. Juni: Marie-Antoine Carême, französischer Koch († 1833) 16. Juni: Benedictus Gotthelf Teubner, deutscher Buchhändler, Verlagsgründer († 1856) 21. Juni: George Arthur, Gouverneur von Bombay, Britisch-Honduras, Van-Diemens-Land und Oberkanada († 1854) 21. Juni: Gabriel Lory der Jüngere, Schweizer Landschaftsmaler, Radierer und Aquarellist († 1846) 22. Juni: Louis Marie Baptiste Atthalin, französischer Offizier, Politiker und Maler († 1856) 29. Juni: Alejandro María de Aguado, französischer Bankier († 1842) Drittes Quartal 1. Juli: Joseph Marshall Walker, US-amerikanischer Politiker († 1856) 2. Juli: Teresa Belloc, italienische Opernsängerin († 1855) 2. Juli: Karl Ludwig Grave, deutscher Geistlicher und Pädagoge († 1840) 21. Juli: Charles Baudin, französischer Admiral († 1854) 21. Juli: Jørgen Herman Vogt, norwegischer Jurist und Politiker († 1862) 21. Juli: Ralph James Woodford, Gouverneur der Karibikinsel Trinidad († 1828) 22. Juli: Friedrich Wilhelm Bessel, deutscher Astronom, Mathematiker und Geodät († 1846) 23. Juli: James W. Gazlay, US-amerikanischer Politiker († 1874) 27. Juli: Denis Dawydow, russischer Kriegsschriftsteller und Dichter († 1839) 27. Juli: George Onslow, französischer Komponist († 1853) 30. Juli: Leopold Schefer, deutscher Dichter und Komponist († 1862) 6. August: Heinrich Hössli, Schweizer Schriftsteller und Tuchhändler († 1864) 10. August: Awraam Iwanowitsch Melnikow, russischer Architekt († 1854) 15. August: Pierre-Auguste-Louis Blondeau, französischer Komponist und Musikwissenschaftler († 1865) 26. August: Ludwig Aurbacher, deutscher Schriftsteller († 1847) 11. September: Lodovico Pavoni, Seliger, italienischer Priester und Ordensgründer († 1849) 21. September: Carl Thomas Mozart, österreichischer Beamter und Sohn von Wolfgang Amadeus und Constanze Mozart († 1858) 25. September: Friedrich Friesen, deutscher Pädagoge und Freiheitskämpfer († 1814) 29. September: Karl Friedrich Nebenius, badischer Beamter († 1857) Viertes Quartal 3. Oktober: Johann Karl Ehrenfried Kegel, Kamtschatka-Erforscher († 1863) 12. Oktober: Pietro Anderloni, italienischer Kupferstecher († 1849) 14. Oktober: Karl Baldamus, deutscher Jurist und Dichter († 1852) 14. Oktober: Ferdinand VII., König von Spanien († 1833) 15. Oktober: Thomas-Robert Bugeaud, französischer General und Marschall von Frankreich († 1849) 16. Oktober: Wilhelm Nienstädt, preußischer Prinzenerzieher und Schriftsteller († 1862) 20. Oktober: Henry John Temple, britischer Staatsmann und Premierminister († 1865) 24. Oktober: Marco Berra, italienischer Musikverleger in Prag († 1853) 24. Oktober: Moses Montefiore, britischer Unternehmer und Philanthrop († 1885) 28. Oktober: José Tadeo Monagas, Präsident von Venezuela († 1868) 3. November: Antonín Mánes, tschechischer Maler und Zeichner des Romantismus († 1843) 4. November: Joseph Bové, russisch-italienischer Architekt und Stadtbaumeister († 1834) 4. November: Friedrich Gottlieb Welcker, deutscher klassischer Philologe († 1868) 6. November: Laure-Adelaide Abrantès, französische Hofdame und Schriftstellerin († 1838) 6. November: Antonio Fontana, Schweizer römisch-katholischer Geistlicher und Pädagoge († 1865) 10. November: Franco Andrea Bonelli, italienischer Zoologe, Ornithologe und Sammler († 1830) 14. November: Karl Friedrich Schulz, deutscher evangelischer Kirchenliedkomponist und Musiklehrer († 1850) 15. November: Jérôme Bonaparte, Bruder Napoléon Bonapartes, König von Westfalen († 1860) 20. November: Marianne von Willemer, österreichische Schauspielerin und Freundin von Johann Wolfgang von Goethe († 1860) 24. November: Josiah S. Johnston, US-amerikanischer Politiker († 1833) 24. November: Zachary Taylor, US-amerikanischer Politiker, 12. Präsident der USA († 1850) 25. November: Jean Louis Burckhardt, Schweizer Orientreisender († 1817) 28. November: Ferdinand Ries, deutscher Klavierspieler und Komponist († 1838) 29. November: Christian Lente Freyherr von Adeler, Jurist († 1844) 30. November: Jacobus Cornelis Swijghuijsen Groenewoud, niederländischer reformierter Theologe und Orientalist († 1859) 4. Dezember: Theodor Henrich Rahlenbeck, deutscher Laienprediger und Kämpfer gegen den Alkoholmissbrauch († 1864) 8. Dezember: Heinrich LXI., Graf und Erbprinz Reuß zu Köstritz († 1813) 10. Dezember: Walter Lowrie, US-amerikanischer Politiker († 1868) 12. Dezember: Christian Krafft, deutscher Theologe († 1845) 13. Dezember: Ludwig von Österreich-Toskana, österreichischer Erzherzog († 1864) 14. Dezember: Hortense Haudebourt-Lescot, französische Malerin († 1845) 14. Dezember: Heinrich von der Mark, bayerischer Generalleutnant und Kriegsminister († 1865) 14. Dezember: Maria Antonia von Neapel-Sizilien, Fürstin von Asturien und Infantin von Spanien († 1806) 15. Dezember: Ludwig Devrient, deutscher Schauspieler († 1832) 15. Dezember: Gottlieb Christian Eberhard von Etzel, deutscher Stadtplaner und Oberbaurat († 1840) 17. Dezember: Georg Ludolf Dissen, deutscher Altphilologe († 1837) 20. Dezember: Georg Wilhelm, Fürst zu Schaumburg-Lippe († 1860) 28. Dezember: Ernst Wilhelm Gottlieb Wachsmuth, deutscher Geschichtsforscher († 1866) Genaues Geburtsdatum unbekannt Thomas W. Cobb, US-amerikanischer Politiker († 1830) Alojzy Stolpe, polnischer Pianist, Musikpädagoge und Komponist († 1824) Gestorben Erstes Halbjahr 2. Januar: Caspar Anton von Belderbusch, deutscher Deutschordensritter und Premierminister in Kurköln (* 1722) 7. Januar: Johann Ernst Zeiher, deutscher Mathematiker, Mechaniker, Linguist und Optiker (* 1725) 15. Januar: Jobst Anton von Hinüber, deutscher Jurist, Postmeister und Klosteramtspächter (* 1718) 17. Januar: Yosa Buson, japanischer Dichter und Maler (* 1716) 25. Januar: Johann Kaspar Arletius, deutscher Pädagoge und Universalgelehrter (* 1707) 25. Januar: Carlo Vittorio Amedeo delle Lanze, italienischer Kardinal (* 1712) 3. Februar: Charles Montagu, britischer Gouverneur der Province of South Carolina (* 1741) 4. Februar: Friederike Luise von Ansbach, Prinzessin von Preußen (* 1714) 22. Februar: Sophie Volland, Geliebte des französischen Philosophen Denis Diderot (* 1716) 24. Februar: Anton Laube, böhmischer Komponist und Kirchenmusiker (* 1718) 26. Februar: Friedrich Adam Widder, deutscher Mathematiker (* 1724) 27. Februar: Graf von Saint Germain, deutsch-rumänischer Alchimist und Okkultist (* 1696) 28. Februar: Angelius Johann Daniel Aepinus, deutscher Philosoph und Hochschullehrer (* 1718) 29. Februar: François-Alexandre Aubert de La Chenaye-Desbois, französischer Schriftsteller und Kompilator (* 1699) 3. März: Sawwa Jakowlew, russischer Unternehmer, Großindustrieller und Mäzen (* 1712) 8. März: Johann Adam Ehrlich, deutscher Orgelbauer (* 1703) 26. März: Samuel Engel, Schweizer Bibliothekar, Geograph, Politiker, Philanthrop und Ökonom (* 1702) 30. März: Emmanuel von Croÿ, Reichsfürst und französischer Heerführer (* 1718) 5. April: Johann Dietrich Winckler, deutscher lutherischer Theologe (* 1711) 7. April: Samuel Rhoads, Delegierter von Pennsylvania im Kontinentalkongress (* 1711) 8. April: Johann Heinrich König, deutscher Holzbildhauer (* 1705) 15. April: Maximilian Friedrich von Königsegg-Rothenfels, deutscher Erzbischof des Erzbistums Köln (* 1708) 22. April: Franz Adolf von Anhalt-Bernburg-Schaumburg-Hoym, preußischer General (* 1724) 26. April: Nano Nagle, irische Ordensfrau und Ordensgründerin (* 1718) 29. April: Agustín de Jáuregui, spanischer Offizier, Gouverneur von Chile und Vizekönig von Peru (* 1711) 12. Mai: Abraham Trembley, Schweizer Erzieher und Naturforscher (* 1710) 15. Mai: Arsenije Plamenac, montenegrinisch-orthodoxer Metropolit 20. Mai: Alexander Ross, schottischer Dichter (* 1699) 4. Juni: David Tschanz, Schweizer Pietist (* 1717) 13. Juni: Henry Middleton, Präsident des Kontinentalkongresses (* 1717) 17. Juni: Carl Friedrich Ludwig von Gaudi, preußischer Beamter (* 1734) 21. Juni: Daniel Högger, Bürgermeister der Stadt St. Gallen in der Schweiz (* 1706) 26. Juni: Caesar Rodney, Unterzeichner der Unabhängigkeitserklärung der USA und Gouverneur von Delaware (* 1728) Zweites Halbjahr 1. Juli: Georg Daniel Auberlen, deutscher Schulmeister, Musiker und Komponist (* 1728) 1. Juli: Wilhelm Friedemann Bach, deutscher Komponist (* 1710) 2. Juli: Gottfried Schütze, deutscher Pädagoge, Bibliothekar und evangelischer Theologe (* 1719) 6. Juli: Achatius Ludwig Karl Schmid, deutscher Rechtswissenschaftler und Staatsbeamter von Sachsen-Weimar-Eisenach (* 1725) 7. Juli: Louis Anseaume, französischer Librettist (* 1721) 8. Juli: Torben Olof Bergman, schwedischer Chemiker (* 1735) 8. Juli: Adam Wassiljewitsch Olsufjew, russischer Aufklärer, Politiker, Schriftsteller und Mäzen (* 1721) 13. Juli: Johann Baptist Straub, deutscher Rokokobildhauer (* 1704) 26. Juli: Anton Tischbein, deutscher Maler (* 1720) 31. Juli: Denis Diderot, französischer Schriftsteller und Philosoph (* 1713) 3. August: Giovanni Battista Martini, italienischer Komponist und Musiktheoretiker (* 1706) 10. August: Allan Ramsay, schottischer Porträt- und Hofmaler (* 1713) 12. August: Gottlieb Friedrich Riedel, deutscher Maler und Kupferstecher (* 1724) 13. August: Jean François Clément Morand, französischer Chemiker, Mineraloge und Mediziner (* 1726) 28. August: Junípero Serra, spanischer Franziskaner und Gründer von San Francisco (* 1713) 29. August: Sachar Tschernyschow, russischer Generalfeldmarschall, Kriegsminister und Gouverneur Moskaus (* 1722) 1. September: Johann Christoph Stockhausen, deutscher Pädagoge und lutherischer Theologe (* 1725) 2. September: Robert Eden, 1. Baronet (of Maryland), letzter britischer Kolonialgouverneur von Maryland (* 1741) 4. September: César François Cassini de Thury, französischer Geodät (* 1714) 7. September: Giovanni Antonio Cybei, italienischer Bildhauer (* 1706) 9. September: Johann Friedrich Richter, deutscher Bankier, Handelsherr und Kunst- und Altertumssammler (* 1729) 17. Oktober: Melchior Dittmar von Wittgenstein, Kölner Bürgermeister (* 1720) 27. Oktober: Johann Gottlieb Graun, deutscher Violinist und Komponist (* 1703) Oktober: Pierre Eugène du Simitière, schweizerisch-US-amerikanischer Künstler und Philosoph (* 1737) 3. November: Matías de Gálvez y Gallardo, spanischer Kolonialverwalter und Vizekönig von Neuspanien (* 1717) 3. November: Nicolas Guibal, französischer Maler (* 1725) 15. November: Jan Hataš, tschechischer Komponist (* 1751) 28. November: Antoine Grimaldi, Regent von Monaco (* 1697) 5. Dezember: Phillis Wheatley, senegalesische Schriftstellerin (* 1753) 13. Dezember: Samuel Johnson, englischer Gelehrter, Schriftsteller, Dichter, Kritiker und Lexikograph (* 1709) 15. Dezember: Friedrich Groschuff, deutscher Philologe (* 1701) 31. Dezember: Reinhard Christoph Ungewitter, deutscher reformierter Theologe (* 1715) Weblinks Beschreibung der Hochwasserkatastrophe in Bamberg vom 27. Februar 1784 als Digitalisat der Staatsbibliothek Bamberg
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https://de.wikipedia.org/wiki/Iwano-Frankiwsk
Iwano-Frankiwsk
Iwano-Frankiwsk (; ), bis 1962 russisch Stanislaw, (ukrainisch Станиславів Stanyslawiw, ), ist die Gebietshauptstadt der Oblast Iwano-Frankiwsk in der Westukraine. Die Universitätsstadt liegt im Karpatenvorland, das zur historischen Landschaft Galizien gehört. Historische Namen und aktueller Name 1662–1772: Stanisławów 1772–1919: Stanislau 1919–1921: Stanyslawiw 1921–1939: Stanisławów 1939–1941: Stanislaw 1941–1944: Stanislau 1944–1962: Stanislaw 1962–1991: Iwano-Frankowsk (russisch), Iwano-Frankiwsk (ukrainisch) seit 1992: Iwano-Frankiwsk außerdem: jiddisch Stanislew סטאַניסלעװ ungarisch Sztanyiszló Administrative Einordnung Am 12. Juni 2020 wurde die Stadt zusammen mit 18 umliegenden Dörfern zum Zentrum der neugegründeten Stadtgemeinde Iwano-Frankiwsk (Івано-Франківська міська громада/Iwano-Frankiwska miska hromada) im Rajon Iwano-Frankiwsk, bis dahin bildete sie zusammen mit den Dörfern Chryplyn, Krychiwzi, Mykytynzi, Uhornyky und Wowtschynez () die Stadtratsgemeinde Iwano-Frankiwsk (Івано-Франківська міська рада/Iwano-Frankiwska miska rada) welche direkt der Oblastverwaltung der Oblast Iwano-Frankiwsk unterstellt war. Folgende Orte sind neben dem Hauptort Iwano-Frankiwsk Teil der Gemeinde: Andere heutige Stadtteile waren früher auch eigenständige Orte, Knjahynyn (, polnisch Knihinin) wurde bereits 1925 eingemeindet, Passitschna (, polnisch Pasieczna) und Opryschiwzi (, polnisch Opryszowce) wurden nach dem Zweiten Weltkrieg ein Teil der Stadt. Geschichte Polen-Litauen Während des Aufstands gegen Polen unter Chmelnyzkyj wurde eine Festung in der Nähe des Dorfes Sobolotiv erbaut, um Schutz und Handel zu ermöglichen. 1662 gründete der Gutsbesitzer Andre Potocki die Stadt, die er nach seinem Sohn Stanislau nannte. Sie gehörte zur Woiwodschaft Ruthenien. Die Stadt erhielt das Magdeburger Stadtrecht. Die militärische Befestigung an strategisch günstiger Lage auf einem Plateau am Zusammenfluss der Nadwirnaer und der Solotwyner Bystryza kurz vor der Mündung in den Dnister bot natürlichen Schutz. Die barocke Auferstehungskathedrale (Катедральний Собор Святого Воскресіння) wurde von 1753 bis 1763 als Jesuitenkirche erbaut und ging dann in den Besitz der griechisch-unierten Kirche über. Seit 1885 befand sich hier der Sitz eines Episkopats. Nachdem die Jesuiten vertrieben worden waren, befand sich hier ab 1784 das deutsche Gymnasium. Das zweietagige Jesuitenkollegium beherbergt jetzt den Lehrstuhl für Anatomie des Medizinischen Institutes. Kaiserreich Österreich Nach der Ersten Polnischen Teilung im Jahr 1772 wurde die Stadt österreichisch und erhielt den Namen Stanislau. Es lebten dort Ukrainer (Ruthenen), Juden, Polen, Deutsche und andere Nationalitäten. Ab 1850 war der Ort Sitz der Bezirkshauptmannschaft Stanislau, ab 1867 kam noch ein Bezirksgericht dazu, beide bestanden bis 1918. 1888 gab es folgende Beschreibung: 1896 gründete der deutsche Pfarrer Theodor Zöckler ein Waisenhaus, eine Fabrik und eine Schule als Beginn der Zöcklerschen Anstalten. 20. Jahrhundert bis 1939 1919 war die Stadt kurze Zeit Hauptstadt der Westukrainischen Volksrepublik. Nach dem Polnisch-Ukrainischen Krieg wurde Stanisławów 1921 durch den Frieden von Riga polnisch und Zentrum der gleichnamigen Woiwodschaft Stanisławów. Infolge des Hitler-Stalin-Pakts 1939 wurde das Gebiet ab September 1939 von der Sowjetunion besetzt, und es ließen sich viele Flüchtlinge aus den von Deutschen besetzten Gebieten West- und Zentralpolens dort nieder. Während der sowjetischen Besatzung wurden mehr als 500 Menschen durch den sowjetischen Geheimdienst NKWD erschossen und bei Demjaniw Las verscharrt. Jüdisches Leben Seit dem 19. Jahrhundert war Stanisławów auch ein jüdisches Zentrum. Um 1900 bildeten die Juden knapp die Hälfte der Bevölkerung der Stadt, davon etwa 50 % der Juden damals polnischsprachig war. 1931 lebten 24.823 Juden in der Stadt und bildeten etwa ein Drittel der Bevölkerung. Vertreten waren alle jüdischen Richtungen und Parteien mit ihren Institutionen, von der Agudat Israel, über den Bund bis zu zionistischen Parteien. Die übrige Bevölkerung bestand zu je einem Drittel aus Polen und Ukrainern. Ungarische und deutsche Besetzung Nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion wurde die Stadt am 2. Juli 1941 von den mit den Deutschen verbündeten Ungarn besetzt, die der Sowjetunion am 27. Juni 1941 den Krieg erklärt hatten. Nach dem Einmarsch ungarischer Truppen kam es zu Übergriffen ukrainischer Einwohner auf die Juden. Diese Ausschreitungen wurden von den Ungarn unterbunden, die ihrerseits mehrere tausend Juden aus Transkarpatien auswiesen, diese zwangsweise nach Stanislau transportierten und alle Juden mit einer Armbinde kennzeichnen ließen. Als die Deutschen am 20. Juli 1941 die Kontrolle übernahmen, war der jüdische Bevölkerungsteil auf 40.000 Personen angewachsen. Im August 1941 wurde der Distrikt Galizien dem Generalgouvernement angeschlossen, Stanislau bildete die Hauptstadt einer Kreishauptmannschaft. Die deutsche Sicherheitspolizeistelle Stanislau unter Leitung von Hans Krüger befahl am 6. Oktober 1941 in Nadwirna die Massenerschießung polnischer Juden und eine weitere am 12. Oktober am Stadtrand von Stanisławów. Den ahnungslosen Menschen wurde eine Aussiedlung angekündigt; man führte sie jedoch auf den jüdischen Friedhof, wo bereits Massengräber vorbereitet waren. Etwa 10.000 bis 12.000 Männer, Frauen und Kinder wurden erschossen. Die Mordaktion wurde mit Beginn der Dunkelheit abgebrochen. Der sogenannte Blutsonntag von Stanislau am 12. Oktober 1941 gilt als Beginn der „Endlösung“ im Generalgouvernement. Nach dieser Aktion mussten die überlebenden Juden in einen ärmlichen Stadtteil umziehen, der als Ghetto bewacht wurde. Dort waren bis zu zehn Personen in einem Raum untergebracht. Am 31. März 1942 trieben deutsche und ukrainische Polizisten jüdische Ghettoinsassen gewaltsam zusammen und selektierten rund 5000 von ihnen, die kein Arbeitsdokument vorweisen konnten. Diese wurden ins Vernichtungslager Belzec transportiert und dort ermordet. Bei einer „Vergeltungsaktion“ im Juli 1942 kamen eintausend Juden zu Tode. Nach einer blutigen „Aktion“ am 12. September 1942 wurden weitere 5000 Juden ins Vernichtungslager Belzec geschafft. Zwischen Januar und Ende Februar 1943 wurde das Ghetto aufgelöst und die meisten Juden umgebracht. Kaum mehr als einhundert von ihnen überlebten. Ein Sonderkommando der Aktion 1005 versuchte 1944, die Spuren von Massengräbern zu beseitigen. In Stanislau existierte von 1942 bis 1944 das Kriegsgefangenenlager Stalag 371 mit tausenden Insassen. Ukrainische SSR Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Stadt der Ukrainischen SSR angegliedert und die polnische Bevölkerung von den sowjetischen Behörden im Zuge der Zwangsumsiedlung von Polen aus den ehemaligen polnischen Ostgebieten 1944–1946 vertrieben, sodass in der Stadt heute neben wenigen Russen überwiegend Ukrainer wohnen. Am 9. November 1962 wurde die Stadt im Rahmen der 300-Jahr-Feier zu Ehren des Schriftstellers Iwan Franko in Iwano-Frankiwsk umbenannt. Ukraine Seit dem Zerfall der Sowjetunion 1991 gehört Iwano-Frankiwsk zur unabhängigen Ukraine. Am 24. April 2018 wurde die Stadt mit dem Europapreis für ihre herausragenden Bemühungen um den europäischen Integrationsgedanken ausgezeichnet. Bei der Parlamentswahl 2012 erzielte die rechtsradikale Partei Swoboda in Iwano-Frankiwsk 33,8 Prozent, 2014 8,8 Prozent, 2019 8,4 Prozent; sie stellt den Bürgermeister der Stadt. Während des russischen Überfalls auf die Ukraine wurde am 24. Februar ein Luftschlag auf eine Luftbasis in Iwano-Frankiwsk verübt, und im März erlitt Igor Perelman, der Leiter der jüdischen Gemeinde vor Ort, mehrere Stichverletzungen, als er von einem Mann attackiert wurde, der antisemitische Losungen rief. Sehenswürdigkeiten Iwano-Frankiwsk besitzt eine sehenswerte Altstadt, die in den Jahren nach der Unabhängigkeit der Ukraine nahezu vollständig renoviert wurde. Architektonisch erinnert der Stadtkern von Iwano-Frankiwsk in vielem an das alte Österreich-Ungarn. Dazu kommen einerseits die typischen sowjetischen Verwaltungsgebäude und in den Außenbezirken („Microrajons“) Plattenbauten und andererseits neue, private Wohnhäuser, die keinen einheitlichen Bebauungsplänen unterworfen sind. Aufgrund des wirtschaftlichen Aufschwungs werden im Zentrum der Stadt zunehmend ältere Gebäude abgerissen, um größeren Einkaufspassagen Platz zu machen. Im Stadtzentrum befindet sich ein künstlicher See, der in der Sowjetzeit am Ort eines früheren jüdischen Friedhofs angelegt wurde. In unmittelbarer Nachbarschaft des Sees liegt der jüdische Friedhof, innerhalb dessen Mauern während der deutschen Besatzung im Zweiten Weltkrieg eine große Anzahl von Juden zusammengetrieben und ermordet wurden. Wirtschaft Verkehr Bahnstrecken Iwano-Frankiwsk liegt an der wichtigen Eisenbahnstrecke Lwiw–Tscherniwzi (Czernowitz). Außerdem zweigen Strecken nach Stryj und über die Karpaten (Jablunyza- oder Tatarenpass) nach Transkarpatien ab. Lwiw–Iwano-Frankiwsk–Czernowitz Iwano-Frankiwsk–Nadwirna–Jaremtsche–Worochta–Rachiw (–Sighetu Marmației) Iwano-Frankiwsk–Stryj–Drohobytsch–Sambir (–Przemyśl, Polen) Iwano-Frankiwsk–Tysmenyzja (stillgelegt) Straßenverkehr Die Stadt liegt an den nationalen Fernstraßen N 09, N 10 und N 18. Der Nahverkehr wird mit Bussen, Trolleybussen und Marschrutki abgewickelt. Flughafen Vier Kilometer südwestlich der Stadt liegt der Flughafen Iwano-Frankiwsk. Er wird auch militärisch genutzt. Erdöl und Erdgas In den Vorkarpaten, etwa 80–100 Kilometer westlich der Stadt, werden um Boryslaw seit dem 19. Jahrhundert Erdöl- und Erdgaslagerstätten im industriellen Maßstab genutzt. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde von der Sowjetunion der Bau einer Erdgastrasse (Pipeline) vom Gasfeld Urengoi in Sibirien nach Uschhorod zur Versorgung Westeuropas errichtet und an der Stadt vorbeigeführt. Kultur Kunst- und Literaturszene Es gibt eine lebendige Kunst- und Kulturszene um den Schriftsteller Jurij Andruchowytsch (* 1960), der Iwano-Frankiwsk zum legendären Macondo des Gabriel García Márquez erklärte. Zur Szene gehören auch die Schriftstellerin Halyna Petrossanjak (* 1969) und der Schriftsteller Taras Prochasko. Des Weiteren ist das Kunstmuseum von Prykarpattja ein bedeutsamer Ausstellungsort für regionale Kunst der letzten Jahrhunderte. Universitäten Die Stadt beherbergt neben der nach Wassyl Stefanyk benannten Nationalen Wassyl-Stefanyk-Universität der Vorkarpaten die „Staatliche Technische Hochschule für Erdöl und Erdgas“, die Nationale Medizinische Universität und ein Geistliches Seminar der Griechisch-Katholischen Kirche. Städtepartnerschaften Iwano-Frankiwsk listet 22 Partnerstädte auf: Vereine Bekannt sind der Fußballverein Spartak („Spartakus“, früher Prikarpattja („Vorkarpaten“)) sowie der Schachverein Mistez. Persönlichkeiten Zu den bekannten zeitgenössischen Persönlichkeiten der Stadt gehören u. a. die Schriftstellerin Swetlana Alexandrowna Alexijewitsch (* 1948) und der Schriftsteller Jurij Andruchowytsch (* 1960). Weitere Persönlichkeiten der Stadt unter Literatur Elisabeth Freundlich: Die Ermordung einer Stadt namens Stanislau. NS-Vernichtungspolitik in Polen, 1939–1945 Wien 1986, ISBN 3-215-06077-9. Weblinks Ivano-Frankivsk | All about city (ukr.) Informationen zu Stadt und Region (englisch) Webcam der UkrTelecom Vorkarpaten-Universität „Wassyl Stefanyk“ Staatliche Technische Universität für Erdöl und Erdgas Landkarte, Sowjetunion 1:100.000 (Stand 1990) Homepage mit historischen Karten und Fotos (polnisch) Stanislawow Woiwodschaft Stanislau, polnische Kresy 167 Original-Dokumente über die Judenvernichtung in Stanislau Einzelnachweise Ort in der Oblast Iwano-Frankiwsk Hochschul- oder Universitätsstadt in der Ukraine Iwan Franko Träger des Europapreises Hauptstadt einer Oblast in der Ukraine
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https://de.wikipedia.org/wiki/Stimmlippe
Stimmlippe
Die Stimmlippen (auch: Stimmfalten, ) sind paarige schwingungsfähige Strukturen im Kehlkopf. Sie sind ein wesentlicher Teil des stimmbildenden Apparates (Glottis) des Kehlkopfes, bestehend aus der von Epithel überzogenen Stimmfalte, dem eigentlichen Stimmband (Ligamentum vocale), dem Musculus vocalis und den Aryknorpeln jeweils beider Seiten. Die Stimmlippen werden beidseits bei der Phonation (Stimmgebung) durch Anblasen aus dem Brustkorb in Schwingungen versetzt (Bernoulli-Effekt) und bilden so den Primärschall der Stimme. Aufbau und Funktion Der Spalt zwischen den Stimmlippen wird als Stimmritze (Rima glottidis) bezeichnet. Die hinteren Enden der Stimmlippen sind mit den beiden Stellknorpeln (lat. Cartilago arytaenoidea, Mz. Cartilagines arytaenoideae) verbunden, welche die Stellung der Stimmlippen zueinander regulieren. Beim Atmen sind die Stimmlippen weit geöffnet, wodurch die Stimmritze eine charakteristische dreieckige Form erhält. Die Weite der Stimmritze bzw. der Grad ihrer Konstriktion sind für die Artikulation von Sprachlauten bedeutend. Durch den Musculus vocalis kann eine Änderung der Stimmlippenspannung und der Stimmlippendicke erreicht werden. In Verbindung mit dem Musculus cricothyreoideus, der ebenfalls die Spannung und Länge der Stimmlippen ändert, entsteht ein sensibler Regelkreis, mit dessen Hilfe die Lautstärke und Tonhöhe der menschlichen Stimme geregelt wird. An diesem Regelkreis ist noch eine Reihe weiterer Muskeln in unterschiedlicher Ausprägung beteiligt. Über den Stimmlippen finden sich beidseits die Taschenfalten (Plicae vestibulares), die auch „falsche Stimmbänder“ genannt werden. Unter bestimmten krankhaften Bedingungen werden primär oder ausschließlich die Taschenfalten zur Stimmbildung verwendet, was eine rau und gepresst klingende Stimme zur Folge hat (Taschenfaltenstimme). Wenn eine Opernsängerin einen besonders hohen Ton anstimmt, öffnen und schließen sich die Stimmlippen öfter als 1000 Mal in der Sekunde. Wenn die Stimme durch einen Glottisverschluss (auch kurzfristiger Kehlkopfverschluss) unterbrochen wird, entsteht ein Knacklaut, so zum Beispiel vor „u“ in „beurteilen“ und vor allen Vokalen im Anlaut, wie in „aber“. Die Stimmbänder können mit einem Kehlkopfspiegel oder einem Laryngoskop untersucht werden. Bei der Kehlkopfspiegelung kann durch Verwendung eines Stroboskopes der Schwingungsablauf der Stimmbänder beurteilt werden. Zur funktionellen Untersuchung können mit einem Laryngographen die Stimmbandschwingungen aufgezeichnet werden. Gewebeaufbau Die Stimmlippen haben einen schichtförmigen Aufbau. Die Basis bildet der Stimmmuskel (Musculus vocalis), darüber liegt die an elastischen Fasern reiche Lamina propria. Sie bildet vom Schildknorpel bis zum Aryknorpel eine bandartige, dem Musculus vocalis aufliegende Struktur, das Ligamentum vocale, das eigentliche „Stimmband“. Die Oberfläche der Stimmlippen und die Innenseiten der Aryknorpel sind von einer Schleimhaut (Mucosa) mit einem geschichteten Plattenepithel bedeckt, im Gegensatz zum übrigen Kehlkopf, der von einem Flimmerepithel ausgekleidet ist. An der Stimmlippenoberfläche besteht zwischen Epithel und Bindegewebe ein schmaler Zwischenraum, Reinke-Raum genannt, benannt nach Friedrich Berthold Reinke, der eine Verschiebung des Epithels gegenüber dem Bindegewebe ermöglicht (Randkantenverschiebung). Neuere elektronenmikroskopische Studien haben gezeigt, dass es sich nicht um einen vollständig leeren Raum handelt, sondern auch Kompartimente enthält. Manche Wissenschaftler sind sogar der Ansicht, dass es sich beim Reinke-Raum lediglich um ein Artefakt handele und die Schicht des lockeren Bindegewebes besser als Reinke-Schicht bezeichnet würde. Eine (krankhafte) Ansammlung von gallertiger Flüssigkeit im Reinke-Raum wird als Reinke-Ödem bezeichnet. Hirano, 1981, gruppierte die Schichten der Stimmlippen und entwickelte so das Body-Cover-Modell (Tabelle „Schichtenaufbau“) mit den Funktionseinheiten Cover–Transition–Body. Dieses Drei- bzw. Fünfschichtenmodell und die den unterschiedlichen Schichten zuzuordnenden unterschiedlichen mechanischen Eigenschaften (z. B. Dichte, Elastizität, Konsistenz) sind eine der Grundlagen für das Verständnis der Bewegungsabläufe innerhalb der Stimmlippen. Erkrankungen der Stimmritzen anatomische Veränderungen kongenitale Kehlkopfmembran funktionelle Veränderungen Heiserkeit Aphonie, Stimmlosigkeit Krupp, Lebensbedrohliche Verengung des Kehlkopfes durch Schwellung laryngopharyngeales Ödem: Schwellung von Glottis und Speiseröhreneingang zum Beispiel bei einer Intubation Angioödem der Aryknorpeln: Isolierte Schwellung im hinteren Glottisbereich EILO (exercise-induced laryngeal obstruction): Bei körperlicher Anstrengung entstehende Luftnot durch Schwellung im Stimmritzenbereich Laryngitis hypoglottica = Pseudokrupp: Luftnot durch Schwellung unterhalb der Stimmritzen neurologische Veränderungen Recurrensparese: Lähmung der Stimmritze durch Veränderung des [Nervus recurrens] Entzündungen Laryngitis akute Laryngitis chronische Laryngitis membranöse Laryngitis posteriore Laryngitis durch laryngopharyngen Reflux Laryngitis mit speziellen Erregern: Tuberkulose, Aktinomykose Neubildungen der Stimmritze Sängerknötchen: Wucherung bei extremer Belastung der Stimmritze Stimmbandpolyp: Gutartige Wucherung von polypenartiger Form Stimmbandpapillom: Gutartige Wucherung von zottenartiger Form Stimmbandfibrom: Gutartige Wucherung aus Bindegewebeszellen Stimmbandkarzinom, Glottiskarzinom (siehe Kehlkopfkrebs) Besonderheiten in der Terminologie Umgangssprachlich werden die Stimmlippen auch Stimmbänder genannt, obwohl das eigentliche Stimmband nur durch das Epithel und die oberen Faserschichten gebildet wird. In manchen Disziplinen, wie z. B. der Phonetik, ist der Begriff Glottis mit „Stimmritze“ gleichbedeutend. Stimmlippentransplantation Der Ersatz der Stimmlippen durch Tissue Engineering wird erforscht. Stimmentwicklung im Lauf des Lebens Die Stimme verändert sich im Lauf des Lebens entsprechend von Veränderungen der Stimmlippen. Siehe auch Kehlkopfpfeifen Myoelastisch-aerodynamischer Prozess Literatur Richard Luchsinger, Gottfried E. Arnold: Handbuch der Stimm- und Sprachheilkunde. Band 1: Richard Luchsinger: Die Stimme und ihre Störungen. 3., völlig umgearbeitete und wesentlich erweiterte Auflage. Springer, Wien u. a. 1970, ISBN 3-211-80983-X. Richard Luchsinger, Gottfried E. Arnold: Handbuch der Stimm- und Sprachheilkunde. Band 2: Gottfried E. Arnold: Die Sprache und ihre Störungen. 3., völlig umgearbeitete und wesentlich erweiterte Auflage. Springer, Wien u. a. 1970, ISBN 3-211-80984-8. Minoru Hirano: Clinical examination of voice. Springer, Wien u. a. 1981, ISBN 3-211-81659-3. Weblinks Einzelnachweise Stimmphysiologie Atmungsapparat Kehlkopf
Q215558
125.26407
118187
https://de.wikipedia.org/wiki/Rindfleisch
Rindfleisch
Als Rindfleisch (auch Rindsfleisch bzw. Rinderfleisch) bezeichnet man im deutschsprachigen Raum allgemein das Fleisch verschiedener Hausrindrassen (Bos taurus), das nach der Schlachtung von Tieren aus der Rinderproduktion erzeugt wird. In der Warenkunde wird auch das Fleisch von Wildrindern hinzugezählt, während dies in der Lebensmittelkunde zum Wildfleisch gerechnet wird. Mit Rind kann auch die Gattungsgruppe der Bovini gemeint sein, zu der Büffel und Bisons neben den Eigentlichen Rindern gehören. Rindfleischsorten Folgende Bezeichnungen werden verwendet: Jungrindfleisch, auch Baby beef für das leicht faserige und zarte Fleisch von weiblichen und männlichen, nicht ausgewachsenen Tieren. Jungbullenfleisch für das Fleisch von männlichen nicht kastrierten Tieren, die im Alter von 14 bis 22 Monaten geschlachtet wurden. Das Fleisch älterer Tiere wird als Bullenfleisch bezeichnet. Die Tiere werden auch als Stier, Farren oder Fasel bezeichnet, was dann in der Fleischbezeichnung statt Bulle verwendet wird. Das Fleisch ist relativ fettarm und hat eine mittlere bis kräftige Faserstruktur. Ochsenfleisch für das Fleisch von kastrierten männlichen Rindern. Es hat eine geringe Marktbedeutung, da die Ochsenaufzucht zeit- und futterintensiver ist. Das Fleisch ist feinfaserig, saftig und aromatisch. Färsenfleisch für das Fleisch von weiblichen Rindern, die noch nie gekalbt haben. Das Fleisch ist feinfaserig, zart und saftig. Ochsen und Färsen werden nach 20 bis 30 Monaten Stallmast bzw. nach ein bis zwei Weidemastperioden geschlachtet. Kuhfleisch für das Fleisch von weiblichen Rindern nach dem Kalben. Meist handelt es sich dabei um Milchkühe, deren Milchleistung zu gering ist. In der Warenkunde wird Kalbfleisch als eigene Fleischsorte neben Rindfleisch definiert. Kalbfleisch nennt man das Fleisch von Kälbern und Mastkälbern, die im Alter von 5 bis 6 Monaten und einem Gewicht von ca. 200 kg geschlachtet werden. Das Fleisch ist fettarm und feinfasrig. Das Fleisch ist hellrosa bis hellrot. Bei sehr eisenreichem Futter, wie frischem Grünfutter, wird das Fleisch deutlich dunkler und ist von den anderen Sorten vor allem am geringen Anteil Bindegewebe zu unterscheiden. Die Begriffe Fleischsorte und Fleischart werden synonym für die Teilstücke des Rindfleischs verwendet. In den Leitzsätzen für Fleisch und Fleischerzeugnisse des Deutschen Lebensmittelbuchs wird Rindfleisch entsprechend den Eigenschaften in drei Sorten unterteilt: Sehnen- und fettgewebsarmes Rindfleisch Die Skelettmuskulatur des Rindes, die von Natur aus nur sehr wenig Bindegewebe und Fettgewebe enthält (z. B. Oberschale) oder deren Gehalt an diesen Geweben durch Ausschneiden (Entsehnen) entsprechend verringert worden ist (z. B. entsehntes Bugstück). Grob entsehntes Rindfleisch Rindfleisch mit Bindegewebe- und Fettgewebegehalten, wie sie bei Verarbeitung von nicht übermäßig muskelarmen Rinderhälften ohne Filet, Lende und Oberschale nach Entfernung der groben Sehnen und größeren Fettgewebeansammlungen zu erwarten sind. Fleisch mit höheren Bindegewebe- und Fettgewebegehalten wird entsprechend ausgeschnitten. Sehnenreiches Rindfleisch Rindfleisch mit einem Bindegewebegehalt, der höher ist als bei grob entsehntem Rindfleisch, jedoch niedriger als bei ausschließlicher Verwendung von Beinfleisch, Fleisch, das von grob ausgelösten Knochen abgetrennt wird („Knochenputz“), und Kopffleisch. Rindfleisch der Schnittstelle zwischen Kopf und Hals wird als sehnenreich gewertet und nur für Brüh- und Kochwürste verwendet. Manuell von grob ausgelösten Knochen abgetrenntes Fleisch wird als sehnenreich gewertet. An Kopf- und Röhren- und Wirbelsäulenknochen haftendes Fleisch wird nur manuell abgetrennt. Wirtschaftliche Bedeutung und Konsum Weltweite Produktion 2021 wurden laut der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation FAO weltweit etwa 72,4 Mio. t Rindfleisch produziert. Folgende Tabelle gibt eine Übersicht über die zehn größten Produzenten von Rindfleisch weltweit, die insgesamt 62,5 % der Fleischmenge produzierten. In Deutschland wurden im gleichen Jahr 1.080.420 Tonnen produziert. Handel Weltweit wurde 2020 grenzüberschreitend Rindfleisch im Gesamtwert von rund 8,1 Milliarden US-Dollar gehandelt. Die USA war dabei vor den Niederlanden und Polen das international bedeutendste Exportland dieses Fleischs. Folgende Tabelle gibt eine Übersicht über die zehn größten Exportländer von Rindfleisch (nach Wert in 1000 US$), die insgesamt 71,6 % der Fleischmenge produzierten. Rindfleischverbrauch und -verzehr Der Rindfleischverbrauch lag 2021 in Deutschland bei 13,7 Kilogramm pro Kopf, hierbei sind der menschliche Verzehr, aber auch Futter, industrielle Verwertung und Verluste (einschließlich Knochen) einbezogen. Der Fleischverbrauch insgesamt lag im gleichen Jahr bei 81,7 kg pro Kopf. In Deutschland lag der Verzehr von Rind- und Kalbfleisch 2021 bei 9,4 Kilogramm je Einwohner. Folgende Tabelle gibt eine Übersicht über den weltweiten Verzehr von Rind- und Kalbfleisch (in kg/Kopf/Jahr). Religiöses Rindfleischverbot Hindus sehen Kühe als heilige Tiere und verbieten deshalb in verschiedenem Ausmaß die Schlachtung, Verarbeitung und den Verzehr dieser Tiere. Die abrahamischen Religionen vertreten die Ansicht, dass der Verzehr von Rindfleisch erlaubt sei. Einordnung Die Rindfleischklassifizierung berücksichtigt die Muskelfülle, den Fettanteil und die Kategorie (Kalb, Bulle, Färse), nicht jedoch die Herkunft oder die Rasse. Das Rindfleischetikettierungsgesetz legt ein verbindliches Etikettieren von Rindfleisch und Rindfleischprodukten fest. Auf den Etiketten müssen Angaben zu Geburt, Mast, Schlachtung und Zerlegung des Tieres, von dem das Fleisch stammt, gemacht werden. Umwelt- und Gesundheitswirkung Die Rinderproduktion in der Landwirtschaft verursacht größere Umweltschäden als andere Viehhaltungssysteme. Tiertransporte zwischen den Aufzuchtbetrieben und der Schlachtung unterliegen strengen Regelungen hinsichtlich des Tierschutzes, wirken sich trotzdem direkt auf die Umwelt aus. Außerdem ziehen die Gesundheitsrisiken des Fleischkonsums gesellschaftliche Kosten nach sich. Forscher der Universität Oxford, der TU Berlin und des Potsdamer Instituts für Klimafolgenforschung plädieren daher für eine Fleischsteuer, um den Rindfleischkonsum zu verringern. Laut ihren Berechnungen müsste Rindfleisch zwischen 35 und 56 Prozent teurer werden. Ebenso hat die industrielle Schlachtung und Zerlegung in Schlachtbetrieben direkte Auswirkungen auf die Umwelt. Bei der Gesamtbetrachtung werden diese Aspekte genauso wie der Fleischkonsum in die Bewertung der Umweltwirkung mit einbezogen. Rindfleisch ist die Fleischsorte, die das Klima am stärksten belastet (13,3 Kilo CO2-Äquivalente pro Kilo), da Rindfleisch den höchsten ökologischen Fußabdruck pro Gramm Protein hat. Die Rindfleischproduktion verursacht deutlich höhere Treibhausgasemissionen als andere Fleischproduktionssysteme. Für die Produktion im Rahmen von Intensivtierhaltung (US-Feedlot-System) wurde ein Wert von 14,8 kg CO2-Äquivalent je kg Rindfleisch ermittelt. Schweinefleisch lässt sich hingegen mit 3,8 kg CO2-Äquivalent je kg Fleisch und Geflügelfleisch mit 1,1 kg CO2-Äquivalent je kg Fleisch produzieren. Insbesondere beim Verdauen von Raufutter wird besonders viel Methan gebildet (im Vergleich zu rohfaserarmen Kraftfutter etwa viermal so viel) Hinzu kommt der Ausstoß des hoch wirksamen Treibhausgases Distickstoffmonoxid („Lachgas“) aus den intensiv genutzten Böden für den Futterpflanzenanbau. Der durchschnittliche Wasserverbrauch liegt bei über 16.000 Liter pro Kilo Rindfleisch. Durch den Konsum von durch BSE befallenen Rindfleisches kann beim Menschen eine Variante der Creutzfeldt-Jakob-Krankheit ausgelöst werden. Literatur Gerald Rimbach, Jennifer Möhring, Helmut F. Erbersdobler: Lebensmittel-Warenkunde für Einsteiger. Gabler Wissenschaftsverlage, 2010, ISBN 978-3-642-04485-4, S. 68–69. Weblinks Rindfleisch auf lebensmittellexikon.de Rindfleisch auf was-wir-essen.de Einzelnachweise
Q192628
135.737656
1999108
https://de.wikipedia.org/wiki/Entwaldung
Entwaldung
Entwaldung ist die Umwandlung von Waldflächen hin zu anderen Landnutzungsformen. Das bestehende Wald-Ökosystem wird dabei durch ein anderes, nicht standorttypisches Ökosystem ersetzt (siehe Anthropogenes Biom). Dadurch gehen die meisten Lebensräume (Habitate) der ursprünglich dort lebenden Arten sowie die sozio-ökonomischen Funktionen des Waldes für den Menschen verloren. Lokale Gemeinschaften, die den Wald traditionell nutzen oder gänzlich von ihm abhängig sind, werden destabilisiert. Entwaldung ist zudem gemeinsam mit der Verbrennung fossiler Brennstoffe eine der maßgeblichen Ursachen für die durch den Menschen verursachte globale Erwärmung. Im September 2019 stellte ein Bericht von 25 Umweltorganisationen zum weltweiten Zustand der Wälder fest, dass die globalen Verluste von Wäldern stark zugenommen haben. Im Jahr 2017 verringerte sich die Waldfläche weltweit um 29,4 Millionen Hektar, also 294.000 km². Im Zeitraum 2000 bis 2012 gingen insgesamt 2,3 Millionen km² Wald verloren. Ursachen und Erscheinungsformen Systemcharakter Das Schwinden von Waldflächen weltweit ist nicht monokausal erklärbar. Ein Geflecht unterschiedlicher Ursachen und Wechselwirkungen zwischen dem Menschen beziehungsweise der sich entwickelnden Gesellschaft einerseits, und den von ihm genutzten Lebensgrundlagen wie dem Wald andererseits bedingt einen Systemcharakter der Umwelt. Hierbei können Faktoren verschiedener Qualität identifiziert werden: Entwaldung kann aus Vernunft­erwägungen heraus willentlich herbeigeführt werden. Sie kann jedoch auch eine unbeabsichtigte Folge nicht nachhaltiger Bewirtschaftung von Wald sein, wenn also das Wissen über die Konsequenzen menschlichen Handels fehlt oder die Zerstörung von Wald, bedingt durch Armut oder kurzfristiges Gewinndenken, wissentlich in Kauf genommen wird. Entwaldung kann letzten Endes aber auch auf Fremdeinflüsse wie Schadstoffeinträge zurückzuführen sein. Als Triebkräfte stehen Entwicklungen wie das schnelle Anwachsen der Weltbevölkerung hinter den unmittelbaren Ursachen der Entwaldung. Die Zunahme der Bevölkerung ist allgemein verbunden mit einem Anstieg der Entwaldungsrate, obgleich die Interaktionsmuster komplexer sind. Man rechnet damit, dass mit einem prognostizierten Anstieg der Weltbevölkerung auf neun bis zehn Milliarden Menschen im Jahr 2050, ein Großteil davon in tropischen Ländern, den Entwaldungsdruck weiter erhöhen wird. Des Weiteren spielen politische und soziale Rahmenbedingungen eine Rolle, das Wirtschaftssystem, technologische Entwicklungen, gesellschaftliche Normen und Werte. Gezielte Umwandlung Ist eine Umwandlung bestehender Wälder zu einer anderen Landnutzungsform beabsichtigt, werden die Wälder gerodet, oft durch kontrolliertes Abbrennen (Brandrodung), aber auch durch Kahlhiebe. In Europa erfolgt die Umwandlung von Wald heute in der Regel nur noch für Bauprojekte. In Nordamerika und Nordasien werden Waldflächen für den Bergbau beziehungsweise die Förderung von fossilen Energieträgern wie Erdöl, Erdgas oder Teersand gerodet. In Lateinamerika, Afrika und Südostasien wird auf den gerodeten Flächen meist Landwirtschaft betrieben. Oft handelt es sich bei den angebauten Pflanzen, vor allem in Südamerika, um Soja oder, im Falle Indonesiens, um Palmen, aus denen Palmöl oder Palmherzen hergestellt werden. Wenn die Flächen für Plantagen aus schnellwüchsigen Baumarten genutzt werden, so handelt es sich meistens um Eukalyptus­arten oder um Kiefern, dabei besonders Monterey-Kiefer. Das Holz findet vor allem bei der Papierherstellung Verwendung, die besonders in den letzten Jahren den Umwandlungsdruck auf Primärwälder (beziehungsweise den Nutzungsdruck im Falle borealer Wälder), gemeinsam mit der steigenden Nachfrage nach Biotreibstoffen, sehr erhöht hat. Neben industriellen Großprojekten bewirkt auch kleinmaßstäblicher Wanderfeldbau in Lateinamerika und Madagaskar Entwaldung. Die Umwandlung von Waldflächen geschieht aus ökonomischen Erwägungen heraus. Eine Eigenschaft vieler Güter des Dienstleisters Wald ist, dass sie keine Märkte haben, die den Erhalt von Wäldern rentabel machen. Dies sind insbesondere die CO2-Speicherung und -sequestrierung, Tourismus und genetisches Material. Illegale und unbeabsichtigte Entwaldung Der illegale Holzeinschlag ist eine der Haupttriebkräfte für Entwaldung. Die illegale Abholzung und den Handel mit gestohlenem Nutzholz haben internationale Gremien wie G8, EU, Interpol und das Umweltprogramm der Vereinten Nationen als Umweltkriminalität klassifiziert. Durch falsche Bewirtschaftung werden Wälder überansprucht und degenerieren, beziehungsweise verlieren die Fähigkeit zur Regeneration. Ein degenerierter Wald ist auch anfälliger für die Waldbrandgefahr. Ein im Jahr 2008 von der Heinrich-Böll-Stiftung veröffentlichter Artikel nannte verschiedene Arten von nicht beabsichtigten Waldbränden als Mitursachen der Entwaldung in Amazonien und die Degradierung als einen begünstigenden Faktor: Weitere mögliche Ursachen für unbeabsichtigte Entwaldung sind Schadstoffimmissionen, die zu Waldschäden bis hin zum Waldsterben führen, sowie die schrittweise Degradierung durch Beweidung, intensive Brennholzgewinnung durch die Bevölkerung und andere Formen des Nährstoffentzugs, die eine Entkoppelung der Stoffkreisläufe bewirken. Die effiziente nachhaltige Bewirtschaftung von Wäldern ist nur möglich, wenn die Eigentumsrechte am Wald vollständig geklärt, exklusiv, gesichert und übertragbar sind, da sonst Konflikte um Grenzen, Zutritt und Nutzen entstehen, und die Ressourcenallokation ineffizient gestaltet wird. Natürliche Ursachen Ein Teil der Entwaldung ist auf Naturkatastrophen zurückzuführen. Waldbrände und Stürme sind hier zu nennen, aber auch Kahlfraß durch Insekten. Die Bedeutung von Waldbränden, Dürren und Tropenstürmen als Faktoren der Entwaldung nimmt tendenziell zu, da der Klimawandel solche Ereignisse wahrscheinlicher macht und zugleich bewirkt, dass sie heftiger ausfallen. Einzelne große Vulkanausbrüche waren mit der Vernichtung von Wald verbunden. Beim Ausbruch des Mount St. Helens 1980 wurden etwa 600 Quadratkilometer Wald zerstört. Historische Entwicklung Man schätzt, dass vor dem Übergang des Menschen zur Sesshaftigkeit und somit dem Ackerbau etwa 6,2 Milliarden Hektar der Erdoberfläche mit Wald bedeckt waren. Heute sind 3,5 bis 3,9 Milliarden Hektar als Waldfläche definiert (die Zahlen variieren aufgrund unterschiedlicher Definitionen von Wald). Zu Entwaldungen größeren Ausmaßes kam es überall dort, wo die Zivilisation erste Höhepunkte erreicht hatte, also im Altertum in Südeuropa und Nordafrika, außerdem in Ostasien (China). Entwaldungen setzten in Mitteleuropa während des Mittelalters ein. Außerhalb der genannten Regionen wurden Wälder ab der Mitte der Neuzeit mit der Kolonialisierung durch europäische Nationen umgewandelt. In den USA und in Kanada kam es ab dem 19. Jahrhundert zu Rodungen größeren Ausmaßes, sowie zu erheblichen forstwirtschaftlichen Übernutzungen besonders in Kanada. In den Tropen war die Entwaldung durch die Europäer von Beginn an eher durch gezielte Umwandlung von Waldland zu Plantagen motiviert. Die Bewohner wurden von den Kolonialherren an die Peripherie verdrängt. Viele Erscheinungen der Umweltkrisen heutiger Entwicklungsländer wurzeln in dieser Politik. Deutschland Unter natürlichen Umständen wären Deutschlands Landflächen annähernd vollständig mit Wald bedeckt; heute ist der bewaldete Anteil auf etwa ein Drittel geschrumpft. Dies ist im Wesentlichen auf direkte menschliche Aktivitäten (v. a. Rodungen) zurückzuführen. Der erste Schritt zur Urbarmachung von Land bestand deshalb seit der Landnahmezeit in Mitteleuropa in der Rodung eines Waldgebietes und der Anlage einer Siedlung, in deren Peripherie sich Agrarflächen befanden. Zum Weiden wurden Tiere in den Wald getrieben. Durch das Anwachsen der Bevölkerung wurde immer mehr Land benötigt. Durch die Pestepidemien und durch Kriege wurde die Bevölkerung jedoch vielerorts dezimiert, sodass eine natürliche Wiederbewaldung stattfand. Eine erste Verknappung von Holz zeichnete sich bereits zu Beginn des 17. Jahrhunderts ab; jedoch wuchs der Anteil der bewaldeten Fläche in Deutschland, bedingt durch den Dreißigjährigen Krieg, in den entvölkerten Gegenden wieder an. Andererseits unterblieb deshalb eine Änderung der forstlichen Praxis und die Wälder wurden regional stark übernutzt. Größere Waldflächen blieben in Deutschland bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts nur erhalten, wenn es sich bei dem betroffenen Areal um ein Jagdgebiet handelte, welches zur Erhaltung des Wildbestands unter besonderem Schutz stand. Andere Beispiele sind die Klosterwaldungen z. B. in Bayern. Viele andere Wälder wurden umgewandelt (Weinbau, Siedlungsfläche, Agrarland) oder stark devastiert: Große Mengen Holz wurden als Energieträger in Privathaushalten und der frühen industriellen Produktion benötigt, also in der Glaserei, der Salzsiederei, der Gerberei, zur Herstellung von Ruß oder auch im Bergbau. Im Schwarzwald wurden bis Mitte des 19. Jahrhunderts riesige Mengen Rundholz zu Flößen gebunden und in die Niederlande exportiert, wo das Holz zum Schiffbau und zur Fundamentierung benötigt wurde. Bauern übernutzten Wälder seit Jahrhunderten durch Waldweide und Streunutzung. Zum Ende des 18. Jahrhunderts waren in Deutschland kaum noch Wälder vorhanden. Holz wurde schließlich so knapp, dass zur Winterzeit Zaunpfähle, Treppen und alle möglichen kurzfristig entbehrlichen Gegenstände aus Holz verbrannt wurden. Dabei sollte allerdings bedacht werden, dass in dieser Zeit das Klima in Mitteleuropa deutlich kälter als heute war (kleine Eiszeit, Gletscherhochstand 1850, Jahr ohne Sommer 1816). Aufgrund der Holznot dieser Tage wuchs die Einsicht, dass Holzressourcen nachhaltig bewirtschaftet werden müssen. Es entstanden die Forstwissenschaft und damit verbunden neue, nicht destruktive 'nachhaltige' Formen der Waldnutzung. Entlastet wurden die Wälder vor allem durch die Umstellung der Energieerzeugung auf fossile Brennstoffe und durch das Verbot der Holzentnahme durch Private. Gleichzeitig wurden Kahlflächen aus unterschiedlichen Erwägungen heraus besonders mit Koniferen aufgeforstet, vor allem mit Kiefern und Fichten, die selbst bei Böden mit stark vermindertem Nährstoffangebot (durch Waldweide und Entnahme auch des Schwachholzes) noch ausreichend gut wachsen, aber auch relativ schnell Schlagreife erreichen. Da Holz ein wertvolles Produkt war, wurden im 19. Jahrhundert auch aus ökonomischen Erwägungen heraus Wälder gepflanzt, die man als Kapitalanlage wahrnahm (Bodenreinertragslehre). So wuchs die bewaldete Fläche in Deutschland wieder auf etwa ein Drittel des Landes an. Zeugen einer früheren Entwaldung in Deutschland durch Übernutzung sind bis heute die Heideflächen Norddeutschlands. Mittelmeerraum Im Mittelmeerraum betrieben Menschen seit den ersten Tagen der Zivilisation Entwaldungen (= Rodung und Urbarmachung), vor allem um Flächen für die Landwirtschaft zu gewinnen. Große Mengen Holz wurden für den Schiffbau und zur Herstellung von Holzkohle verwendet. Mit zunehmender Degradation der Böden büßten die ursprünglich beherrschenden Steineichen und Korkeichen ihre Konkurrenzkraft zu Gunsten der begleitenden Sträucher ein. Es entstand die Macchie, ein Buschwald mit immergrünen hartlaubigen Sträuchern, der von Natur aus ursprünglich nur auf nach Süden exponierten flachgründigen Hängen vorkäme. Die Übernutzung wurde fortgesetzt, bis infolge weiterer Bodendegradation selbst kleine, skleromorphe Sträucher keine geeigneten Standortbedingungen mehr vorfanden und einjährige Kräuter und Gräser an deren Stelle traten (siehe auch Tragik der Allmende). Geophyten und Orchideen gesellten sich hinzu. Mediterrane Landschaften zeichnen sich aufgrund jahrhundertelanger Übernutzung durch offene Bodenstellen und Buschland aus. Das Fehlen von Wald ist ein Charakteristikum der Kulturlandschaft, zum Beispiel in Sizilien. Aufforstungen finden in größerem Maße erst wieder seit den 1970er Jahren statt (finanziell gefördert von der Europäischen Union), vor allem in Spanien, Griechenland und Portugal. Dabei wurden oft fremdländische Baumarten gewählt, zum Beispiel Eukalyptus. Vereinigte Staaten Vor der Entdeckung Nordamerikas durch die Europäer war circa die Hälfte der Vereinigten Staaten durch Wald bedeckt. Es wird geschätzt, dass um 1600 noch etwa 4 Millionen Quadratkilometer Wald bestanden. Analog zum Bevölkerungswachstum wurde im Verlauf der folgenden 300 Jahre ein Großteil des Waldes gerodet, um Platz für eine landwirtschaftliche Nutzung zu schaffen. Für jede zusätzliche Person wurden dabei ein bis zwei Hektar neues Land kultiviert. Erst 1920 kam diese Entwicklung zu einem Stillstand, auch wenn die Bevölkerung weiter anwuchs. Von 1952 an stieg der Waldanteil sogar wieder an, da auf nicht mehr genutzten Flächen wieder neuer Wald aufkam. 1963 erreichte diese Entwicklung mit einer Waldfläche von insgesamt 3,080,000 km² ihren Höhepunkt. Seitdem ist ein stetiger Rückgang der Waldfläche zu beobachten. Dabei kommt es nach wie vor zur Abholzung der Reste der ursprünglichen Wälder sowie zu einer immer weiteren Zerschneidung der Wälder. Entwaldung heute Entwaldung ist heute vor allem ein Problem, das Länder außerhalb Europas betrifft, besonders tropische (Regen-)Wälder. Statistiken über Entwaldungsraten in verschiedenen Ländern werden beeinflusst durch nationale Walddefinitionen. Unter Berücksichtigung von Aufforstungen und Wiederaufforstungen sind die größten Nettoverluste an Waldflächen in Lateinamerika zu verzeichnen. Dort beträgt der jährliche Verlust circa 4,3 Millionen Hektar, wobei die Entwaldung sich im Zeitraum von 2000 bis 2005 im Vergleich zu den 1990er Jahren um 500.000 Hektar pro Jahr beschleunigt hat. Brasilien weist nicht nur in der Region Lateinamerika die höchste Entwaldungsrate auf, sondern auch im Vergleich mit allen anderen Ländern der Erde. (wobei jedoch hier zu berücksichtigen ist, dass die natürliche Wiederbewaldung in die Statistik nicht miteinfloss) Ein weiterer Brennpunkt ist Südostasien, insbesondere Indonesien. In Afrika beträgt der Waldflächenverlust jährlich etwa 4 Millionen ha, wobei ein leichter Rückgang von ehemals 4,4 Millionen Hektar erfasst wurde. Hier sind der Sudan, sowie Länder des Kongo-Bassins betroffen. Darüber hinaus sind auch andere Waldökosysteme in wenigen anderen Ländern der Welt betroffen, die Entwaldungsraten dort sind jedoch verhältnismäßig gering. Laut einer Studie der Interpol und des UN-Umweltprogramms von 2012 macht die illegale Waldrodung 50 bis 90 Prozent der Entwaldung in den tropischen Kerngebieten der Holzproduktion und 15 bis 30 Prozent der weltweiten Abholzung aus. Global Forest Watch Auf Initiative des World Resources Institute entstand das weltweite Wald-Monitoring­system Global Forest Watch, das seit 2014 im Internet für Jedermann eine vielseitige und regelmäßig aktualisierte Online-Überwachung der Wälder auf Basis einer interaktiven Weltkarte ermöglicht (Zugang siehe → Weblinks). Dort lässt sich die Entwaldungsrate an jeglichem Ort auf der Erde für verschiedene Zeiträume von 2000 bis zur Gegenwart in höchster Auflösung ermitteln. Der Laie kann allerdings kaum unterscheiden, welche Ursachen dem zugrunde liegen. So sind z. B. die immensen Entwaldungen im Norden der kanadischen Provinz Saskatchewan nicht auf Abholzungen zurückzuführen, sondern auf natürliche Waldbrände, die von Zeit zu Zeit auch in großem Ausmaß für die borealen Wälder normal sind (Eine mögliche Verstärkung durch die Globale Erwärmung wird allerdings diskutiert). Europa Europa ist die einzige Region der Erde, in welcher seit Jahrzehnten eine Zunahme der Waldflächen verzeichnet wird (seit 1990 wird eine Zunahme um insgesamt 13 Millionen Hektar berechnet, Russland nicht miteingeschlossen; dies entspricht etwa der Fläche Griechenlands). Im Durchschnitt sind in Europa (ohne Russland) 31,5 % der Landfläche mit Wald bedeckt, sowie weitere 5 % mit anderen waldähnlichen Ökosystemen (diese Unterscheidung wird in Deutschland nicht angewandt, jedoch in anderen europäischen Ländern). EU-weit wurden in den Jahren 2016 bis 2018 aber im Schnitt 49 Prozent mehr Flächen abgeholzt als im Vergleichszeitraum 2011 bis 2015, die Holzentnahme stieg sogar um 69 Prozent. Bis heute sind einige europäische Länder wenig bewaldet. Die geringsten Bewaldungsprozentsätze haben (beziehungsweise hatten bis vor wenigen Jahrzehnten) meist die ehemals großen Seefahrernationen. Auf Großbritannien (1919: 6 %, 2010: 12 %) und Irland (11 %) sind kaum mehr als 10 % der Landoberfläche mit Wald bedeckt, dasselbe gilt für die Niederlande (11 %) und Dänemark (13 %). In der Ukraine (17 %) gibt es sehr ergiebige Böden, daher herrscht dort die landwirtschaftliche Nutzung vor. Auch in Moldawien und in Ungarn dominieren andere Landnutzungsformen. Innerhalb der EU hat Malta den geringsten Bewaldungsprozentsatz. Russland Die Entwaldungsrate wird in Russland auf sehr unterschiedliche Größen geschätzt, die sich auf Nettoverluste in der Höhe von 2 Millionen Hektar (Schätzung des WWF) bis hin zu Nettozuwächsen in der Höhe von 500.000 Hektar pro Jahr (Analyse der FAO) besonders seit Ende der 1990er Jahre belaufen. Staatlichen Angaben zufolge schrumpfte die Waldfläche Russlands seit 1990 jährlich um insgesamt 160.000 Hektar. Die starke Streuung der Schätzungen beruht zum einen auf Änderungen der Berechnungsgrundlagen, zum anderen auf der stark schwankenden wirtschaftlichen Gesamtlage. Die Größe des Landes bedingt sehr verschiedene lokale Situationen: Während in den unerschlossenen oder schlecht erschlossenen Gebieten große Zuwächse zu verzeichnen sind, kommt es in infrastrukturell günstiger gelegenen Gebieten zu teilweise starken, oft illegalen Übernutzungen. Mögliche dauerhafte Versumpfungen aufgrund der verminderten Transpiration werden durch Großkahlhiebe herbeigeführt (zurzeit beträgt die erlaubte Größe 250 ha, jedoch waren bis vor wenigen Jahren auch Kahlhiebe von bis zu 2000 Hektar möglich). Hier sind in der Regel Primärwälder östlich des Ural betroffen. Punktuell finden sich Entwaldungen aufgrund von Kontaminationen (verursacht beispielsweise durch schwermetallproduzierende Betriebe auf der Kola-Halbinsel; große Mengen Schwefeldioxid werden dabei in angrenzende Wälder emittiert). Afrika Äthiopien Der Organisation „Mongabay“ zufolge sind heute schätzungsweise 12 % der Landfläche Äthiopiens bewaldet. Dies entspricht etwa 13.000.000 Hektar. Der Waldflächenverlust zwischen 1990 und 2005 betrage 2,1 Millionen Hektar beziehungsweise 14 % der damaligen Waldfläche. Die Hauptursache für die Entwaldung in Äthiopien in Ostafrika besteht im Bevölkerungswachstum und der damit verbundenen erhöhten Nachfrage nach landwirtschaftlichen Produkten und Feuerholz. Weitere Gründe schließen ein niedriges Bildungsniveau und ein passives Verhalten der Regierung mit ein, wobei die derzeitige Regierung allerdings Maßnahmen gegen die Entwaldung eingeleitet hat. Madagaskar Massive Entwaldung bewirkt auf Madagaskar der Organisation „Mongabay“ zufolge Desertifikation, Wasserkrisen und Bodendegradation, die auf etwa 94 % der produktiven Flächen des Landes bemerkbar seien. Die Prozesse verschärften sich nach der Unabhängigkeit von Frankreich. Die Versorgung mit Trinkwasser, Nahrungsmittel und Feuerholz kann mit dem Bevölkerungsanstieg nicht Schritt halten. Brasilien Von den Ländern Lateinamerikas ist Brasilien dasjenige, das mit am stärksten dem Bild eines Kolonien-Einwanderungslandes nach dem Beispiel zuerst der USA oder auch Australiens oder Südafrikas entspricht, mit u. a. seinem Staatsmotto („Ordem e Progresso“), seiner modernen Technologie – und dem geringen Bevölkerungsanteil von Nachfahren seiner ursprünglichen Bewohner (0,2 %). Doch nicht nur Land, Gold, Kaffee und Kautschuk waren Motive und Motoren seiner Eroberung und Erschließung – sondern auch Holz. Selbst sein Name geht auf den Pau-brasil, den Brasilholz-Baum (Caesalpinia echinata) zurück, von portugiesisch Brasa – „Glut“ und brasil – „glühend“, „glutartig“, (was die Farbe des geschnittenen Holzes beschreibt, das auch zum Färben von Stoffen benutzt wurde). Diese heute vom Aussterben bedrohte Baumart war zur Zeit der frühen Kolonisation in den – heute größtenteils zerstörten – Regenwäldern der brasilianischen Atlantikküste sehr verbreitet und lieferte ein wichtiges Ausfuhr­produkt. Nicht viel besser erging es der Brasilianischen Araukarie, die von allen Araukarien-Arten die größte wirtschaftliche Bedeutung hat. Sie ist eine Art v. a. der Höhenlagen im Süden der atlantischen Wälder, von denen ebenfalls nur noch Reste in ökologisch intaktem Zustand erhalten sind. Der Bereich der Atlantikküste war der Hauptangriffspunkt der Kolonisation und trägt bis heute den Großteil der Bevölkerung des Landes (90 %), was für die küstennahen Wälder, die u. a. auf Charles Darwin einen starken Eindruck machten, weitestgehende Zerstörung oder zumindest Degradation bedeutet hat, deren Folgen am stärksten im äquatornäheren und dem trockenen Klima Zentralbrasiliens ausgesetzten Nordosten waren. Brasilien hat entscheidenden und zentralen Anteil am Amazonasgebiet, dem süßwasserreichsten Tieflandbecken und größten Fluss-Regenwald-System der Erde, das auch von manchen als größtes (zusammenhängendes) (Land-)Ökosystem des Planeten betrachtet wird. Schon lange hat sich die Suche nach Edelhölzern (Mahagoni, Palisander), die immer noch stark mit Brasilien assoziiert wird, dorthin ausgedehnt. Deren mehr oder weniger unkontrollierte Ausbeutung zerstört den Amazonaswald – wenn nicht flächig, so doch ökologisch. Hauptsächlich ist die Entwaldung auf die legale, oft staatlich subventionierte Umwandlung zur Produktion von Soja oder zur Anlage von Weiden für Viehzucht (besonders Rinder), auf Infrastrukturmaßnahmen in großem Maßstab, z. B. Straßenbau (Transamazônica), Großprojekte (Carajás, Jari-Projekt), Großstaudämme (Tucuruí, Belo Monte), wilden Abbau von Bodenschätzen (garimpeiros) und die Besiedelung und Brandrodung durch landlose Bauern von außerhalb des Waldes zurückzuführen. In Brasilien hat dieses Problem eine solche Tragweite, dass letztere in einer eigenen politischen Bewegung oder Gewerkschaft, der Bewegung der Sem Terra organisiert sind. In den letzten fünf Monaten des Jahres 2007 gingen in Brasilien 323.500 Hektar verloren, alleine im Dezember 2007 sogar 94.800 Hektar. In der Folge beriet im Januar 2008 ein Notfallkabinett der brasilianischen Regierung über Maßnahmen. Nach drei aufeinander folgenden Jahren mit relativem Rückgang hat sich im Zeitraum August 2007 bis Juli 2008 die Abholzung des Regenwaldes im Amazonasgebiet wieder beschleunigt. So gingen in diesem Zeitraum 11.968 km² verloren; dies sind 4 % mehr als im Vorjahreszeitraum. 2005 und 2010 gab es im Amazonasgebiet außergewöhnliche Dürren. Selber eine mögliche Folge der Entwaldung, wird Trockenheit – auch noch wiederholt – jedoch im Regenwald unweigerlich die dortige, an fast tägliche Niederschläge angepasste Vegetation schädigen. Nach vorläufigen Satellitendaten des Brasilianischen Nationalinstituts für Weltraumforschung (Instituto Nacional de Pesquisas Espaciais, INPE) die Entwaldungsrate im Zeitraum von August 2009 bis Juli 2010 mit 2.296 km² im Vergleich zum Zeitraum von August 2008 bis Juli 2009 mit 4.375 km² um 47,5 % gefallen. Nach Angaben des deutschen BMZ soll der Rückgang von 2004 (27.000 km²) bis 2010 (unter 7.000 km²) sogar 75 % betragen haben. Deutschland hat den Waldschutz in Brasilien von 1996 bis 2011 mit über 300 Mio. Euro unterstützt. Dies entspricht der größten Abnahme seit Beginn der Messungen im Jahr 1988. Setzt sich dieser Trend fort, könnte Brasilien seine Zusage, die Entwaldungsrate bis 2020 um 80 % zu reduzieren, etwa ein Jahrzehnt früher als vereinbart erfüllen. Mithin sei Brasilien das einzige tropische Land, das kontinuierlich fallende Entwaldungsraten vorweisen könne. Kritische Stimmen merken allerdings an, dass die von der INPE erhobenen positiven Daten möglicherweise nicht der tatsächlichen Entwaldungsrate entsprechen. So handele es sich bei dem verwendeten sogenannten „Real-time Deforestation Detection System“ um ein System mit niedriger Auflösung, welches nur Rodungsfeuer detektiert, die eine Fläche von mehr als 25 Hektar bedecken. INPE-Spezialisten gaben zu bedenken, dass Farmer, um einer Entdeckung zu entgehen, nun dazu übergegangen sein könnten, kleinflächigere Brandrodungen durchzuführen. Darüber hinaus wurde von einer starken Zunahme der Flächenbrände im August 2010 berichtet. Ferner wird vermutet, dass die aktuelle Weltwirtschaftskrise und die damit verbundene gesunkene Nachfrage nach Rohstoffen wie Sojabohnen und Rindfleisch, ebenfalls zur positiven Entwicklung bei der Entwaldungsrate beigetragen habe. Daher ist es ungewiss, ob Brasilien einem erneuten Anstieg der Entwaldungsrate entgegenwirken kann, wenn die Rohstoffpreise wieder anziehen. Zwischen August 2017 und Juli 2018 hat die Abholzung mit 7.900 km² den höchsten Stand seit 2008 erreicht. Im letzten Jahr sank sie noch um 16 % auf knapp 7.000 km². Im Kalenderjahr 2018 betrug die Abholzung 13.000 km², zwischen August 2020 und Juli 2021 insgesamt 13.235 km². 2012 war mit 4.500 km² das Jahr mit der geringsten Entwaldung. 2004 wurden von der damaligen Regierung Maßnahmen gegen die Abholzung beschlossen. Die Verluste stiegen weiterhin rasant, im Gesamtjahr 2018 betrugen sie bereits 13.000 km². Im Juli 2019 stellten INPE-Beobachtungen die Abholzung von mehr als 1.800 km² innerhalb eines Monats fest. Die der Holzwirtschaft und den Minenbetreibern zugewandte neue Regierung von Jair Bolsonaro bezweifelte daraufhin die Aussagekraft der angewendeten Messmethoden. Umweltminister Ricardo Salles kündigte an, künftig private Dienstleister mit der Überwachung beauftragen zu wollen. Nach Angaben der brasilianischen Weltraumagentur INPE wurden im November 2019 insgesamt 563 Quadratkilometer Wald vernichtet. Die Entwaldung stieg damit um 104 Prozent im Vergleich zum Vorjahreszeitraum. Brasilien hat in den ersten vier Monaten des Jahres 2022 69 % mehr Regenwald im Amazonasgebiet abgeholzt als im Vorjahreszeitraum. Indonesien Jährlich werden in Indonesien Wälder von etwa 1,5 Millionen ha bis 1,8 Millionen ha vernichtet. Der letzte intakte tropische Regenwald Asiens in Westneuguinea ist insbesondere durch illegalen Holzeinschlag gefährdet (Indonesien ist der weltweit größte Erzeuger von Merbau). Die CO2-Emissionen Indonesiens, des viertgrößten Emittenten weltweit, sind zu 80 % auf Entwaldung zurückzuführen. Insbesondere Torfbrände tragen hierzu bei. Prognosen des Umweltprogrammes der Vereinten Nationen zufolge werden bis zum Jahr 2022 98 % der Wälder degradiert oder verschwunden sein. Die Rodung des Regenwalds wird verstärkt durch die Förderung der Verwendung von Palmöl als Mineralölersatz. Folgen CO2-Emissionen Bäume betreiben oxygene Photosynthese und benötigen zum Wachstum das CO2 der Luft. Wälder sind aus diesem Grund die größten CO2-Speicher auf der Landoberfläche der Erde. Aus diesem Grund wirkt Entwaldung als CO2-Quelle (unmittelbare Freisetzung bei Brandrodung oder bei Drainage, verzögerte Freisetzung bei einer vorangehenden stofflichen Nutzung des Holzes). Gleichzeitig können Wälder auch zur CO2-Sequestrierung beitragen. Eine Kompensation der durch die Entwaldung verursachten Emissionen im Rahmen der Landnutzung ist nur durch Aufforstungen möglich, und auch nur unter bestimmten Bedingungen. Entwaldung als CO2-Quelle Zum Umfang der durch die weltweite Entwaldung erzeugten Kohlenstoffdioxidemissionen kursieren unterschiedliche Zahlen, die das Resultat uneinheitlicher Berechnungsmethoden sind. Der vierte Bericht des Weltklimarates aus dem Jahr 2007 beziffert diesen Anteil für das Jahr 2004 auf 17,3 Prozent. Das Max-Planck-Institut für Meteorologie geht davon aus, dass ein Drittel der menschengemachten CO2-Emissionen im Zeitraum 1850–2000 auf Entwaldung zurückzuführen sind. Anderen Quellen zufolge sind 20 bis 25 Prozent aller weltweiten anthropogenen CO2-Emissionen auf Entwaldung zurückzuführen. Dies entspricht mehr als 7 Milliarden Tonnen. In den Jahren 2000–2005 wurde die Menge des in Wäldern gebundenen Kohlenstoffs um jährlich 1,1 Gigatonnen netto reduziert, was CO2-Emissionen von 4 Gigatonnen entspricht. Aufforstungen, die natürliche Ausweitung von Wäldern und Nettozuwächse des Holzvorrates in Wäldern einiger Länder (vornehmlich auf der Nordhalbkugel der Erde) stehen den Kohlenstoffdioxid-Emissionen entgegen. Verursacht werden diese Emissionen im Falle der Brandrodung direkt durch das Abbrennen von Wald, teilweise mitsamt dem im Boden gespeicherten Kohlenstoff. Wird eine Entwaldung dagegen durch Kahlhieb oder Übernutzung herbeigeführt, so wird das Holz des Waldes zunächst stofflich verwertet. In diesem Falle gelangt der darin gespeicherte Kohlenstoff erst wieder in den globalen Kohlenstoffkreislauf, sobald das aus dem Holz erzeugte Gut zum Beispiel als Brennholz (in kurzem zeitlichen Abstand vom Einschlag), als Altholz oder Altpapier verfeuert wird. Aber auch der im Boden gespeicherte Kohlenstoff wird nach Kahlhieben als CO2 freigesetzt: Durch die Entfernung der Waldschicht wird dem Boden mehr Energie in Form von Strahlung zugeführt. Dies regt die Tätigkeit von Mikroorganismen im Boden an, die den organischen Kohlenstoff metabolisch verbrennen (dissimilieren). Dieser Prozess wird gefördert durch die Drainage von Wäldern. Wälder als CO2-Senken Als Kohlenstoffsenken fungieren nur Wälder, in welchen eine Nettoproduktion zu verzeichnen ist. In sehr alten Wäldern findet jedoch kein Nettozuwachs mehr statt. Dort halten sich Zerfallsprozesse (bei denen CO2 freigesetzt wird) und die Fixierung von CO2 aus der Luft die Waage. Die Menge des in einem solchen Wald gespeicherten Kohlenstoffes schwankt dann um einen Mittelwert in annähernder Höhe des Maximalwertes, solange keine Störung im System auftritt (Naturkatastrophen, menschliches Eingreifen). Durch Aufforstungen kann somit CO2 sequestriert werden. Eine stoffliche Nutzung entzieht der Atmosphäre CO2 auf eine relativ lange Zeit. Der Wachstumsdynamik von Wäldern folgend kann – eine stoffliche Nutzung vorausgesetzt – so theoretisch auf einer Fläche derselben Größe durch konstante Nutzung langfristig mehr CO2 gebunden werden, als in einem alten Wald gespeichert ist. Aus diesem Grunde wird seit einiger Zeit die Möglichkeit der Anrechnung von Holzprodukten in der Bilanzierung im Rahmen des Kyoto-Nachfolgeprotokolls gefordert. Der Kohlenstoff ist durchschnittlich zu 68 % in der Biomasse der Vegetation, zu 17 % im Waldboden in der Form von Humus, sowie in Totholz gespeichert. Die Anteile variieren je nach Waldgesellschaft. So weisen boreale Wälder oft mächtige Auflagen organischen Materials über dem Waldboden auf. Auch die Menge von Totholz in einem Wald kann sehr unterschiedlich sein und ist das Ergebnis forstwirtschaftlicher Entscheidungen, beziehungsweise der Nachfrage nach normalerweise minderwertigen Holzsortimenten. Ökologie Die genauen Konsequenzen der Entwaldung sind abhängig von der nachfolgenden Landnutzungsform. Oft wird auf den entwaldeten Flächen intensive Landwirt- oder Forstwirtschaft in Plantagenform betrieben. In Frage kommt jedoch prinzipiell jede Form einer aus einzelbetrieblicher Sicht rentableren Landnutzung. Die Veränderung der Artenvielfalt ist von der neuen Nutzungsform abhängig: So fördern traditionelle Wirtschaftsformen die Biodiversität, während die meisten modernen Formen eine deutliche Verringerung bewirken. Zurückbleiben können neben artenarmen anthropogenen Ökosystemen mittel- bis langfristig auch Kahlflächen, die anfällig für wüstenbildende Prozesse sind. Dies kann durch nicht nachhaltige Bewirtschaftung erfolgen, und auch insbesondere dann, wenn eine nachfolgende Nutzung des Landes nicht geplant ist, also die Entwaldung primär durch die Nutzung des Holzes motiviert war oder, in selteneren Fällen, durch ein natürliches Katastrophenereignis herbeigeführt wurde. Die Wüstenbildung wird auf verbleibenden Kahlflächen durch Erosion eingeleitet. Weitere Folgen der Entwaldung können neben Artenverlust und Wüstenbildung auch Überschwemmungen sein, die dadurch begünstigt werden, dass durch die fehlende Waldvegetation auch keine Interzeption stattfinden kann: In Baumkronen verbleibt ein großer Teil des Regenwassers und verdunstet, ohne je bis auf die Erde zu gelangen. Auch die Transpiration, also der Transport von Wasser aus dem Boden von den Baumwurzeln bis zu den Blättern, ist bei Wäldern höher als bei anderen Landnutzungsformen, weil in Wäldern wesentlich mehr photosynthetisch aktive grüne Biomasse vorzufinden ist. Erdrutsche werden auf entwaldeten Hängen wahrscheinlicher, da Bäume mit ihrem oft tiefgreifenden Wurzelwerk sehr zur Stabilisierung des Bodens beitragen. Darüber hinaus führt Entwaldung meist zu einer Verschlechterung der Trinkwasserversorgung und einer verminderten Reinigung der Atmosphäre. Sozio-ökonomische Folgen Wälder im Allgemeinen, und Primärwälder im Besonderen sind wenig rentabel. Wenn diese Wälder in Plantagen umgewandelt werden, oder andere Landnutzungsformen wie Tagebau ermöglicht werden, ist damit zunächst eine Erhöhung der Wertschöpfung, und somit die Schaffung von Arbeitsplätzen und Volkseinkommen verbunden, ferner die Entwicklung von Infrastruktur und ländlichen Regionen. Die Nachhaltigkeit der Effekte hängt vor allem von den Ressourcen des Bodens beziehungsweise des Gesteins ab, aber auch von der Praxis der Bewirtschaftung. Plantagen müssen, um langfristig produktiv sein zu können, künstlich mit Nährelementen versorgt werden, damit der Entzug von Nährstoffen durch die Ernte der Produkte ausgeglichen werden kann. Mit dem ökonomischen Wandel werden jedoch die bestehenden gesellschaftlichen Strukturen einem Umbruch ausgesetzt. Zudem besitzen Wälder einen hohen kulturellen Wert. Dies betrifft besonders indigene Stammesvölker wie die Fayu auf West-Papua, für die der tropische Regenwald die wichtigste Lebensgrundlage darstellt. Mit den ökologischen Folgen der Entwaldung sind aus umweltökonomischer Sicht mittel- bis langfristig volkswirtschaftliche Einbußen verbunden und der Verlust hoher Werte, die jedoch nicht genau beziffert werden können. Die Verursacher der Entwaldung müssen keinen Ausgleich für die Schäden leisten, die sie der Allgemeinheit aufbürden (Externalisierung der Kosten). Die Zerstörung unberührter Wälder durch Abholzung, Bergbau, Straßenbau durch abgelegene Orte, rasche Verstädterung und Bevölkerungswachstum bringt Menschen in Kontakt mit wilden Tierarten, von denen Krankheitserreger auf menschliche Gemeinschaften überspringen können. Die Gefahr von seuchenartigem Auftreten ist auch bei einigen Zoonosen gegeben. Gegenmaßnahmen Es ist seit den Beschlüssen der Agenda 21, dem Kerndokument der Konferenz für Umwelt und Entwicklung der Vereinten Nationen (UNCED) in Rio de Janeiro (1992), das erklärte Ziel von 179 Staaten, die Entwaldung zu bekämpfen (Agenda 21, Kapitel 11). Grundsätzlich existieren zwei Ansätze, um den negativen Folgen der Entwaldung entgegenzuwirken: Die Verhinderung von Entwaldung, oder Aufforstung. Da beabsichtigte Landnutzungsänderungen regelmäßig ökonomisch motiviert sind, werden von Stakeholdern zunehmend finanzielle Anreize favorisiert. Die Kosten zur Reduzierung der Entwaldung werden von FERN, bezogen auf den Wissenschaftler Stern, auf etwa 5 Milliarden USD taxiert. Diskutiert werden Abgaben auf jedes Barrel gehandelten Erdöls, sowie die konsequente Anwendung und Anpassung des CO2-Handels. Im August 2020 zeigten Forscher, dass ca. 300 Mio. Menschen auf „tropical forest restoration opportunity land“ leben. Entwaldung verhindern Um der ungewollten Entwaldung durch inadäquate Holz- oder Landnutzung entgegenzuwirken, können Maßnahmen gefördert werden, die die Nachhaltigkeit von Forstwirtschaft erhöhen. Dazu zählen technische und informationelle Maßnahmen, Bildung und Fortbildung und die Stärkung administrativer Strukturen. Ein Beispiel für eine technische Maßnahme sind agroforstliche Systeme: Auf alten nährstoffarmen Böden der tropischen Regenwälder wie Latosolen ist es in der Regel unmöglich, eine europäisch geprägte Landwirtschaft über lange Zeit zu praktizieren. Schon nach etwa 5 Jahren sind die Böden so ausgelaugt, dass keine Feldfrüchte mehr wachsen. Die Folge ist Wanderfeldbau, Brandrodung und weitere Entwaldung. Durch die Produktion von Nahrungsmitteln unter der Baumschicht lässt sich der Wald über viele Generationen nutzen, ohne ihn zu zerstören. Zudem muss ein effektiver Gesetzesvollzug gewährleistet werden, um dem Illegalen Holzeinschlag entgegenwirken zu können. Dies umfasst gesetzliche Maßnahmen zur Bekämpfung des internationalen Handels mit illegalem Holz (FLEG-Programme, in Deutschland gab es eine Initiative für ein Urwaldschutzgesetz). Daneben muss die lokale Bevölkerung über Alternativen zur Feuerholznutzung aufgeklärt werden. Die Verbreitung der Kenntnis zur Herstellung von Solarkochern aus örtlich vorhandenen Mitteln ist hier zu nennen. In Frage kommen außerdem finanzielle Anreize, die die Umwandlung von Wald in kurzfristig rentablere Landnutzungsformen unattraktiv machen. Dies können Entschädigungszahlungen in Analogie zum Wasserentnahmeentgelt sein (der für Einkommenseinbußen des Waldbesitzers durch von ihm unterlassene Managementmaßnahmen an diesen bezahlt wird). Hierzu wurde auf der 13. UN-Klimakonferenz, die vom 3. bis zum 15. Dezember 2007 auf Bali stattfand, die Forest-Carbon-Partnership-Facility ins Leben gerufen. Dies ist ein Fonds der Weltbank, in welchen Industrieländer freiwillig einbezahlen. Aus diesem Topf erhalten bestimmte Länder Geld für den Erhalt von Wäldern. Deutschland plante, in diesen Fonds 60 Millionen Dollar, andere Staaten noch einmal mehr als 100 Millionen einzuzahlen. Ein anderer Ansatz ist die Steuerung der Nachfrage nach auf den umgewandelten Flächen produzierten Gütern wie Palmöl durch Marktinstrumente, zu welchen auch die Zertifizierung nachhaltiger Forstwirtschaft sowie Verbraucherinformationen zählen. Die EU arbeitet auch an einem Import-Verbot von Waren, für deren Produktion Wälder zerstört wurden. Chancen bietet auch die nachhaltige, regionale Nutzung von Nicht-Holz-Produkten des Waldes (Pilze, Beeren, Dienstleistungen). Sie bietet der einheimischen Bevölkerung eine Lebensgrundlage und dient somit dem Schutz eines intakten Waldökosystems. Die Umweltorganisation Rettet den Regenwald ruft zu einem umweltbewussteren Konsum von Holzprodukten auf, wie etwa zur Beschränkung des Papierverbrauchs sowie zum Kauf von Recycling-Papier und möglichst haltbaren, hochwertigen Möbeln aus heimischen Hölzern. Ein gibt auch Waldbesetzungen. Große Aufmerksamkeit erhielt die Räumung des Hambacher Forsts 2018. Insgesamt ist aber auch ein ganzheitlicher Ansatz notwendig, um der Entwaldung entgegenzuwirken, da sie außerdem durch Armut, strukturelle Defizite und die Zunahme der Bevölkerungsdichte bedingt ist. Internationale, nationale und subnationale Policies Zu politischen Maßnahmen zum Schutz von Wäldern gehören Informations- und Bildungsprogramme, wirtschaftliche Maßnahmen zur Steigerung der Erträge aus genehmigten Aktivitäten und Maßnahmen zur Erhöhung der Effektivität von "Forsttechnikern und Forstmanagern". Es wurde festgestellt, dass Armut und landwirtschaftliche Pacht wichtige Faktoren der Entwaldung sind. Akteure bzw. Entscheidungsträger im In- und Ausland könnten politische Maßnahmen entwickeln und umsetzen, deren Ergebnisse sicherstellen, dass wirtschaftliche Aktivitäten in kritischen Wäldern mit ihrem wissenschaftlich robust zugeschriebenen Wert–aufgrund ihrer Ökosystemleistungen, der Abschwächung des Klimawandels und anderen Zwecken–vereinbar sind. Solche Policies könnten die Entwicklung ergänzender technischer und wirtschaftlicher Mittel nutzen und organisieren – einschließlich einer geringeren Rindfleischproduktion, eines geringeren Rindfleischverkaufs und eines geringeren Rindfleischkonsums (was auch für die Eindämmung des Klimawandels von großem Nutzen wäre), eines höheren Niveaus bestimmter anderer wirtschaftlicher Aktivitäten in solchen Gebieten (wie Wiederaufforstung, Waldschutz, nachhaltige Landwirtschaft für bestimmte Klassen von Lebensmitteln oder etwa quartäre Arbeit im Allgemeinen), gesetzliche Produktinformationsanforderungen, Praxis- und Produktzertifizierungen und Ökotarife [en], zusammen mit der erforderlichen Überwachung, Verkaufs- oder Importregulierungen und Rückverfolgbarkeit. Durch die Einführung, Durchsetzung und Veranlassung solcher Maßnahmen könnte beispielsweise ein weltweiter Ausstieg aus der Abholzung aufgrund von Rindfleisch erreicht werden. Mit Policy-Sequencing Frameworks können bestehende oder hypothetische Policies in einer sequentiellen Reihenfolge angeordnet werden, was eine komplexe polyzentrische Governance zur Erreichung von Zielen wie einer ausreichenden Abschwächung des Klimawandels, wie sie z. B. mit dem Pariser Abkommen beschlossen wurde, und einer vollständigen Beendigung der Entwaldung bis 2030–wie auf der UN-Klimakonferenz in Glasgow 2021 beschlossen–besser ermöglicht. Aufforstungen und Wiederaufforstungen Das Kyotoprotokoll ermöglicht es Industriestaaten, durch Aufforstungsmaßnahmen in Entwicklungsländern die eigene CO2-Bilanz zu verbessern. In den Tropen ist die Fixierung von bis zu 15 t Kohlenstoff pro Hektar und Jahr möglich. Gegen Aufforstungen sprechen einige Aspekte, darunter die Konkurrenz mit der Landwirtschaft um Wasser und Anbaufläche und somit auch der Nahrungsmittelproduktion. Der ökologische Wert gepflanzter Wälder, besonders im Falle plantagenartiger Bewirtschaftungsformen, ist relativ gering. Die weltweit mit weitem Abstand größten Anstrengungen zur Aufforstung unternahm China mit seinem Projekt der Grünen Mauer. Seit dem Jahr 2000 wurden über 4 Millionen Hektar Wald gepflanzt. In China ist besonders die Erosion seit Jahrhunderten ein bekanntes Problem. An zweiter Stelle folgt Spanien mit knapp 300.000 Hektar. Hintergrund sind hier auch Förderprogramme der EG. Spanien ist stark von Desertifikationsprozessen betroffen: 1991 waren der spanischen Naturschutzbehörde ICONA zufolge 1 Million Hektar bereits verwüstet, und 18,1 % des Landes (9 Millionen Hektar) stark von Erosion betroffen. Aufgeforstete Waldflächen und die entsprechende Anzahl an Bäumen sind im Vergleich zu den jährlich entwaldeten Gebieten eher unwesentlich und das Schützen bestehender Wald-Ökosysteme wird von Wissenschaftlern priorisiert. Siehe auch Entwaldung in römischer Zeit Waldbrände im Amazonas-Regenwald 2019 Waldforum der Vereinten Nationen (United Nations Forum on Forests) Literatur FAO, FILAC (2021): Forest Governance by Indigenous and Tribal People. An Opportunity for Climate Action in Latin America and the Caribbean. (online) FAO (2005): Global Forest Resources Assessment 2005. Progress towards sustainable forest management, FAO Forestry Paper 147, siehe (online) Michael Williams: Deforesting the earth – from prehistory to global crisis. Univ. of Chicago Press, Chicago 2003, ISBN 0-226-89926-8. Weblinks Global Forest Watch Online FAO Forestry EU Forestry United Nations Forum on Forests Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung: Online-Handbuch Demografie: "Abholzung und Klima" deutschlandfunk.de, Forschung aktuell, 24. November 2017, Monika Seynsche: Gestörte und ungestörte Wälder - Wie Abholzung die Artenvielfalt bedroht Einzelnachweise Waldbau Waldökologie Umweltgeschichte
Q169940
308.189111
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https://de.wikipedia.org/wiki/Amoebozoa
Amoebozoa
Die Amoebozoa sind eine von mehreren Gruppen der Eukaryoten. Zu ihnen gehören hauptsächlich einzellige Organismen. Merkmale Alle Angehörigen der Amoebozoa haben einzellige Entwicklungsstadien, die sich im Regelfall durch eine amöboide Gestalt auszeichnen. Die morphologisch variablen Zellen können nackt oder, wie bei den Thecamoeben (Thecamoebida), beschalt sein. Die Cristae der Mitochondrien sind meist Tubuli, die häufig verzweigt sind oder in einigen Gruppen (Taxa) auch reduziert wurden. Die meisten Arten besitzen nur einen Zellkern, andere können aber zwei oder mehrere haben. Außerdem sind Zysten sowie Zelleinschlüsse wie Parasome und Trichocysten nicht selten und werden als Unterscheidungsmerkmal genutzt. Begeißelte Entwicklungsstadien besitzen im Regelfall nur ein Flagellum, ein ursprüngliches Merkmal sind zwei Flagellae. Die Amöben pflanzen sich durch zwei- oder mehrfache Teilung fort. Bei einigen Arten erfolgt auch sexuelle Fortpflanzung. Zahlreiche Gruppen, insbesondere Myxogastria und Dictyostelia mit Dictyostelium discoideum, bilden vielkernige Zellaggregate ohne (Plasmodium) oder mit (Pseudoplasmodien) Membranen zwischen den einzelnen Zellen, die makroskopische Ausmaße erreichen können. Systematik Die Amoebozoa sind neben den Opisthokonta (die unter anderem Tiere und Pilze enthalten) eine der beiden Großgruppen, die zusammen mit einigen kleineren Taxa die Amorphea bilden. Sie wurden früher in die zwei Großgruppen der Lobosa und der Conosa eingeteilt. Nach einer neueren Einteilung von 2012 werden die Amoebozoa in folgende Gruppen gegliedert: Tubulinea Smirnov et al. 2005 Discosea Cavalier-Smith et al. 2004 Archamoebae Cavalier-Smith 1983 Gracilipodida Lahr et al. 2011 Multicilia Cienkowsky 1881 Protosteliida Olive & Stoianovitch 1966, emend. Shadwick & Spiegel in Adl et al. 2012 Cavosteliida Shadwick & Spiegel in Adl et al. 2012 Protosporangiida Shadwick & Spiegel in Adl et al. 2012 Fractovitelliida Lahr et al. 2011 Schizoplasmodiida L. Shadwick & Spiegel in Adl et al. 2012 Myxogastria Macbride 1899 Dictyostelia Lister 1909, emend. Olive 1970 (vgl. Dictyostelium discoideum) sowie incertae sedis: Gibbodiscus Hartmannia Janickia Malamoeba Malpigamoeba Echinosteliopsis oligospora Microglomus paxillus Pseudothecamoeba Stereomyxa Thecochaos Nachweise Weblinks !
Q473809
262.784452
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https://de.wikipedia.org/wiki/Canberra
Canberra
Canberra ist die Hauptstadt, die achtgrößte und die größte im Landesinneren liegende Stadt Australiens. Sie befindet sich im Australian Capital Territory (ACT), 248 km südwestlich von Sydney und 654 km nordöstlich von Melbourne. 1908 wurde die Planhauptstadt Canberra als Kompromisslösung der Rivalität zwischen Melbourne und Sydney bestimmt. Nach einem internationalen Städtebauwettbewerb entschied die australische Bundesregierung sich für den Entwurf der amerikanischen Architekten Walter Burley Griffin und Marion Mahony Griffin. Die Bauarbeiten begannen wenige Wochen vor der offiziellen Stadtgründung am 13. März 1913, den Status als Hauptstadt erhielt Canberra am 9. Mai 1927. Die Struktur des Stadtzentrums beruht auf geometrischen Motiven wie Kreisen, Sechsecken und Dreiecken. Diese Planstadt ist auf Achsen ausgerichtet, welche sich an topographischen Landmarken im ACT orientieren, insbesondere dem Stausee Lake Burley Griffin. Das Design der Stadt ist von den Prinzipien der Gartenstadtbewegung beeinflusst und bezieht bedeutende Bereiche mit natürlicher Vegetation mit ein. Wurde die Entwicklung der Stadt durch den Ersten Weltkrieg und die Weltwirtschaftskrise noch erheblich gebremst, so setzte nach dem Zweiten Weltkrieg ein starkes Bevölkerungswachstum ein, das bis heute anhält. Als Hauptstadt ist Canberra Sitz der Verfassungsorgane des australischen Staatswesens mitsamt deren Ministerien, Verwaltungen und Gerichten. Diese generieren den Hauptteil des Bruttosozialprodukts und sind auch der größte Arbeitgeber. Außerdem haben zahlreiche soziale, wissenschaftliche und kulturelle Institutionen von nationaler Bedeutung ihren Sitz in Canberra. Canberra hat keinen Stadtrat und keine eigene Stadtverwaltung wie andere australische Städte. Die Australian Capital Territory Legislative Assembly nimmt sowohl die Rolle eines Stadtrates für Canberra als auch die einer Territorialregierung für das übrige Hauptstadtterritorium wahr. Die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung des Territoriums wohnt in Canberra selbst, weshalb die Stadt dennoch der Hauptschwerpunkt der territorialen Regierungstätigkeit ist. Die Bundesregierung behält die Autorität über das Territorium und kann lokale Gesetze aufheben. Über die National Capital Authority übt sie weiterhin großen Einfluss auf Planungsentscheidungen in der Stadt aus. Geographie Canberra bedeckt eine Fläche von 814,2 km² und liegt etwas östlich der Brindabella Range, einem Teil der Snowy Mountains, rund 150 km von der australischen Ostküste entfernt. Das Stadtgebiet, das etwa einen Viertel der Fläche des Australian Capital Territory (ACT) entspricht, befindet sich im nordöstlichen Teil des ACT auf einer Höhe von durchschnittlich 580 Metern über Meer. Der höchste Punkt ist der Gipfel des Hügels Mount Majura auf . Weitere bedeutende Hügel sind der Mount Taylor (856 m), der Mount Ainslie (843 m), der Black Mountain (812 m) und der Mount Stromlo (770 m). Der Molonglo River teilt die Stadt in zwei etwa gleich große Hälften. Dieser Fluss wird vom Scrivener-Damm zum Lake Burley Griffin gestaut, einer großen Wasserfläche im Stadtzentrum, die eine Länge von 11 km und eine Breite von bis zu 1,2 km erreicht. Bis zum Aufstauen des Sees verursachte der Molonglo River vereinzelt verheerende Überschwemmungen. Er mündet nordwestlich von Canberra in den Murrumbidgee River, einen Nebenfluss des Murray River. Mehrere kleinere Flüsse im Stadtgebiet oder unweit davon münden in den Molonglo oder den Murrumbidgee. Dazu gehören der Queanbeyan River, der Cotter River, der Jerrabomberra Creek und der Yarralumla Creek. Der Ginninderra Creek und der Tuggeranong Creek werden zum Lake Ginninderra bzw. Lake Tuggeranong gestaut. Das umliegende Buschland ist heute eine Mischung aus Savannen, Strauchgehölzen, Sümpfen und trockenen Wäldern, die zu einem bedeutenden Teil im Canberra-Naturpark zusammengeschlossen sind. Der einst fast vollständig aus Eukalypten bestehende heimische Wald in der Region diente als Brennstoff- und Bauholzressource. Die Forstwirtschaft begann 1915 mit Versuchen an einer Reihe von Arten, darunter Pinus radiata an den Hängen des Mount Stromlo. Anfang der 1960er Jahre hatte die Abholzung den Eukalyptus dezimiert, und die Sorge um die Wasserqualität führte zur Sperrung der Wälder. Seither sind die Plantagen ausgeweitet worden, mit dem Vorteil, dass die Erosion im Einzugsgebiet des Cotter River verringert wurde. Heute sind die Wälder beliebte Naherholungsgebiete. Die Bevölkerung des ACT lebt fast ausschließlich in Canberra. Im ländlichen Teil des ACT gibt es lediglich ein paar Gehöfte und Dörfer mit zusammen etwas mehr als 5000 Einwohnern. Die größten Siedlungen sind Williamsdale, Naas, Uriarra Village, Tharwa und Hall. Zehn Kilometer südöstlich des Stadtzentrums, unmittelbar an der Grenze des ACT, liegt im Bundesstaat New South Wales die Stadt Queanbeyan mit rund 36.000 Einwohnern. Klima Canberra hat ein gemäßigtes ozeanisches Klima (effektive Klimaklassifikation: Cfb). Aufgrund der Höhenlage und der Entfernung zur Küste gibt es vier unterschiedliche Jahreszeiten, das Klima ist aber trockener als in den Städten an der Küste. Ursache dafür ist die Lage der Stadt im Regenschatten der Brindabella Range. Das Klima zeichnet sich durch heiße bis warme, trockene Sommer und (für australische Verhältnisse) kühle bis kalte Winter mit dichtem Nebel und häufig auftretendem Frost aus. Die höchste je gemessene Temperatur war 44,0 °C am 4. Januar 2020. Drei Tage zuvor maß man in Canberra den schlechtesten Luftqualitätsindex aller Großstädte weltweit. Beides waren Folgen der verheerenden Buschbrände in Australien 2019/2020 und der damit verbundenen starken Rauchentwicklung. Die tiefste je gemessene Temperatur betrug −10,0 °C am 11. Juli 1971. Schnee fällt durchschnittlich ein- bis zweimal jährlich, die Menge ist jedoch gering und jeweils nach kurzer Zeit wieder geschmolzen. Zwischen Oktober und März können Gewitter auftreten, der meiste Regen fällt im Frühling und im Sommer. Allgemein bläst der Wind nicht besonders stark. Die nachfolgende Tabelle zeigt die durchschnittlichen Klimawerte der Jahre 1981 bis 2010: Geometrie des Stadtzentrums Canberra ist eine Planstadt, deren Innenstadtbereich ursprünglich vom amerikanischen Architekten Walter Burley Griffin entworfen wurde (assistiert von seiner Ehefrau Marion Mahony Griffin). Im Stadtzentrum beidseits des Lake Burley Griffin folgen die Hauptstraßen eher einem Rad-und-Speichen-Muster als einem Raster. Griffins Stadtentwurf weist eine Fülle geometrischer Formen auf, darunter konzentrische sechseckige und achteckige Straßenmuster, die von mehreren Radien ausstrahlen. Die später entstandenen Außenbezirke der Stadt sind hingegen nicht geometrisch gegliedert. Der Lake Burley Griffin ist bewusst so gestaltet worden, dass sich seine Ausrichtung auf verschiedene topographische Orientierungspunkte in Canberra bezieht. Eine senkrecht zum zentralen Becken (Central Basin) stehende „Landachse“ (land axis) erstreckt sich vom Capital Hill – dem Standort des neuen Parlamentsgebäudes – nordnordostwärts über das Nordufer hinweg und entlang der repräsentativen ANZAC Parade zum Australian War Memorial am Fuße des Mount Ainslie. Am südwestlichen Ende der Landachse erhebt sich der Bimberi Peak, der höchste Berg im Australian Capital Territory, etwa 52 km südwestlich von Canberra in der Brindabella Range. Die Sehne des Kreissegments, welches das zentrale Becken des Lake Burley Griffin bildet, verläuft rechtwinklig zur Landachse und bezeichnet die „Wasserachse“ (water axis). Sie erstreckt sich nach Nordwesten in Richtung Black Mountain. Eine parallel zur Wasserachse verlaufende Linie auf der Nordseite der Stadt bildet die „Stadtachse“ (municipal axis). Sie entspricht dem Verlauf der Constitution Avenue, die den City Hill im Geschäftszentrum Civic Centre mit dem Market Centre und dem Verteidigungsministerium auf dem Russell Hill verbindet. Die Commonwealth Avenue und die Kings Avenue verlaufen vom Capital Hill im Süden zum City Hill bzw. zum Market Centre im Norden und bilden den westlichen sowie den östlichen Rand des zentralen Beckens. Das von den drei Straßen umschlossene Gebiet heißt Parliamentary Triangle; dieses gleichseitige Dreieck bildet das Herzstück von Griffins Stadtentwurf. Das Ehepaar Griffin wies dem Mount Ainslie, dem Black Mountain und dem Red Hill spirituelle Werte zu und plante ursprünglich, jeden dieser Hügel mit Blumen zu bepflanzen. Auf diese Weise sollte jeder Hügel mit einer einzigen, primären Farbe bedeckt werden, die seinen spirituellen Wert darstellt. Dieser Teil ihres Plans konnte nie verwirklicht werden, da der Erste Weltkrieg den Bau der Hauptstadt verlangsamte und Planungsstreitigkeiten zu Griffins Entlassung durch Premierminister Billy Hughes nach Kriegsende führten. Stadtstruktur Die urbanen Gebiete von Canberra sind hierarchisch gegliedert. Es gibt sieben Stadtbezirke, von denen jeder in kleinere Stadtteile unterteilt ist, die unabhängig von ihrer Lage als „Vorort“ (suburb) bezeichnet werden. Praktisch alle dieser Vororte wiederum besitzen ein Stadtteilzentrum als Brennpunkt gewerblicher und sozialer Aktivitäten. Die Stadtbezirke wurden in dieser Reihenfolge besiedelt: Canberra Central (bestehend aus North Canberra und South Canberra), größtenteils in den 1920er und 1930er Jahren, Expansion bis in die 1960er Jahre, 25 Stadtteile Woden Valley, ab 1964, 12 Stadtteile Belconnen, ab 1966, 27 Stadtteile (davon zwei noch nicht entwickelt) Weston Creek, ab 1969, 8 Stadtteile Tuggeranong, ab 1974, 18 Stadtteile Gungahlin, ab 1993, 18 Stadtteile (davon drei noch nicht entwickelt) Molonglo Valley, ab 2010, 13 Stadtteile geplant Canberra Central folgt weitgehend Griffins Plänen. 1967 beschloss die National Capital Development Commission einen neuen Überbauungsplan, den „Y-Plan“. Die weitere Stadtentwicklung basiert seitdem auf einer Reihe von durch Schnellstraßen miteinander verbundenen Einkaufs- und Gewerbezonen, die als town centres (Stadtzentren) bezeichnet werden. Die Anordnung dieser Zentren ähnelt der Form des Buchstabens Y. Tuggeranong bildet das untere Ende, während Belconnen und Gungahlin an den Enden der Arme des Y liegen. Die Stadtentwicklung ist streng reguliert, einerseits durch stadtplanerische Maßnahmen, andererseits durch einschränkende Nutzungsbestimmungen für Parzellen. Die Bundesregierung verpachtete das gesamte Land im Australian Capital Territory für die Dauer von 99 Jahren, wenngleich die Regierung des Territoriums die meisten Pachtverträge mittlerweile selbst verwaltet. Seit Beginn des 21. Jahrhunderts gibt es anhaltende Forderungen für eine Lockerung der Planungsrichtlinien. Die meisten Stadtteile verfügen über kleinere Läden und liegen in der Nähe eines größeren Einkaufszentrums, das mehrere Stadtteile versorgt. Öffentliche Einrichtungen und Schulen befinden sich häufig in der Nähe dieser Läden oder Einkaufszentren. Viele Stadtteile sind nach berühmten Australiern und frühen Siedlern oder nach Aborigines-Bezeichnungen benannt. Die Straßennamen folgen meist einem bestimmten Muster; beispielsweise sind die Straßen in Duffy nach australischen Staudämmen benannt, jene in Page nach Biologen und Naturforschern. In Fyshwick, Mitchell und Hume gibt es jeweils eine Zone für Leichtindustrie. Auslandsvertretungen konzentrieren sich auf die Stadtteile Yarralumla, Deakin und O’Malley. Geschichte Vorgeschichte Vor der europäischen Besiedlung lebten auf dem Gebiet des späteren Australian Capital Territory (ACT) seit Jahrtausenden verschiedene Stämme der Aborigines. Gemäß dem Anthropologen Norman Tindale waren die Ngunnawal die hier vorherrschende Gruppe. Die Ngarigo und die Walgalu lebten unmittelbar südlich davon, die Gandangara im Norden, die Wiradjuri im Nordwesten und die Yuin an der Küste. Mit archäologischen Grabungen am Birrigai-Abri im Tidbinbilla-Naturreservat konnte nachgewiesen werden, dass die Gegend seit mindestens 21.000 Jahren besiedelt ist. Es ist möglich, dass das Gebiet wesentlich länger bewohnt war, da Hinweise für eine Präsenz der Aborigines im Südwesten von New South Wales etwa 40.000 bis 62.000 Jahre zurückreichen. Eine weitere wichtige Fundstelle im Naturreservat ist das Bogong-Felsdach, die älteste bekannte Lagerstätte der Aborigines, die in der Nähe größerer Vorkommen von Bogong-Faltern (Agrotis infusa) liegt. Diese Nachtfalter waren eine wichtige Nahrungsquelle für die Bewohner der südlichen Australischen Alpen. Sie sammelten sie in Höhlen und Felsspalten jeweils zu Tausenden ein, rösteten sie in Sand oder Asche und verspeisten sie. Darüber hinaus gibt es im gesamten ACT weitere Fundstellen wie Unterstände, Felsmalereien, Ansammlungen von Steinwerkzeugen oder entrindete Bäume. Am Mount Tidbinbilla scheinen lange Zeit Initiationsrituale vollzogen worden zu sein. Die Ngunnawal besaßen mindestens zwei Begräbnisstätten, wo die Toten in einigen Fällen auch in sitzender Position beigesetzt wurden. Die Aborigines waren Jäger und Sammler mit einer mündlich überlieferten Geschichte, die ihre Verbundenheit mit dem Land, die kulturelle Bedeutung einzelner Landschaftsformen und ihre eigene Herkunft erklärte. Allerdings sind nur ein Bruchteil dieser Erzählungen dokumentiert. Abgesehen von dem, was aus den archäologischen Fundstellen rekonstruiert werden kann, gibt es kaum Hinweise auf die Geschichte der Urbevölkerung vor Beginn der europäischen Besiedlung. Europäische Erforschung und Besiedlung Das Wachstum der britischen Kolonie New South Wales führte zu einer steigenden Nachfrage nach Ackerland. Gouverneur Lachlan Macquarie unterstützte deshalb Expeditionen südlich von Sydney. Die erste führte 1818 entlang der Küste zur Jervis Bay. Es folgten weitere Forschungsreisen, die im Zusammenhang mit dem geplanten Bau einer Straße von Sydney zur Goulburn-Ebene standen. Charles Throsby, Joseph Wild und James Vaughan entdeckten 1820 den Lake George und den Yass River. Dabei dürften sie auch das Gebiet des ACT durchquert haben. Kurz darauf startete eine zweite Expedition: Charles Throsby Smith (Throsbys Neffe) erforschte zusammen mit Wild und Vaughan den Molonglo River und den Queanbeyan River. 1821 entdeckte er mit einer dritten Expedition auch den Murrumbidgee River. Auf dem Weg dorthin verfasste er die erste detaillierte Beschreibung jener Gegend, in der heute Canberra liegt. Die nächste bedeutende Expedition in die Region fand 1823 statt, als Wild von Major John Ovens und Captain Mark Currie den Auftrag erhielt, sie zum Murrumbidgee River zu führen. Sie reisten dem Fluss entlang nach Süden und gaben dem Gebiet, das heute als Tuggeranong bekannt ist, den Namen Isabella’s Plain – nach der zweijährigen Tochter des damaligen Gouverneurs Thomas Brisbane. 1824 berichtete der Botaniker Allan Cunningham, dass die Gegend für die Weidewirtschaft geeignet sei. Die Besiedlung durch Europäer setzte 1824 ein, als von Joshua John Moore angestellte Viehhüter ein Gehöft in jener Gegend errichteten, die heute die Acton-Halbinsel am Lake Burley Griffin bildet. Moore erwarb 1826 das Grundstück formell, suchte es aber nie persönlich auf. Es war etwa vier Quadratkilometer groß und umfasste einen großen Teil des heutigen North Canberra. Er nannte seinen Besitz Canberry, woraus sich später Canberra entwickelte. Der Name soll vom Wort Kambera in der Sprache der Ngunnawal abgeleitet sein und „Treffpunkt“ bedeuten, wobei es dafür keine eindeutigen Belege gibt. Eine in den 1860er Jahren vom Zeitungsverleger John Gale aus Queanbeyan aufgestellte These besagt, dass der Ortsname von nganbra oder nganbira abstamme. Dies bedeute „Hohlraum zwischen den Brüsten einer Frau“ und beziehe sich auf die Flussebene des Sullivans Creek zwischen dem Mount Ainslie und dem Black Mountain. Weitere Gehöfte entstanden, die zu Beginn nicht von den Besitzern selbst bewohnt wurden, sondern von angestellten Arbeitern. Doch wenig später ließen sich auch Familien nieder. Einzelne Familien erreichten in der Region einen gewissen sozialen Status. Besonders einflussreich waren die aus Schottland stammenden Campbells, deren Oberhaupt Robert Campbell einst der erste Händler in Sydney gewesen war. Zu ihrem umfangreichen Besitz gehörten unter anderem das Duntroon House (die heutige Offiziersmesse des Royal Military College) und der Landsitz Yarralumla (heute das Government House, die Residenz des Generalgouverneurs). Unweit von Duntroon entstanden 1845 die erste Schule und unmittelbar daneben die St John the Baptist Church, die älteste Kirche der späteren Stadt. Administrativ gehörten die verstreuten Siedlungen zum Parish Canberra im Murray County von New South Wales. Sträflingsarbeit war anfangs weit verbreitet und die ersten Bushranger waren entlaufene Sträflinge. Die allgemeine Gesetzlosigkeit führte im November 1837 zur Ernennung des ersten ortsansässigen Magistraten, der die rechtlichen Angelegenheiten überwachte und Lizenzen für den Alkoholausschank erteilte. Der Goldrausch im nahe gelegenen Kiandra Ende der 1850er Jahre führte zu einem bedeutenden Zustrom von Einwohnern und zu einer markanten Zunahme wirtschaftlicher Aktivität. Das Unternehmen Cobb & Co. richtete Postkutschenkurse nach Sydney ein, 1859 wurde das erste Postamt in der Gegend eröffnet. Im Jahr 1860 entstand das Blundells Cottage, das älteste noch erhaltene Wohnhaus der Stadt. Während der ersten zwanzig Jahre der Besiedlung gab es nur begrenzte Kontakte zwischen den Siedlern und den Aborigines. Der Ansturm der Goldsucher durch die Brindabella Range in das Kiandra-Gebiet führte zu Konflikten und zu einer Dezimierung der Urbevölkerung durch Krankheiten wie Pocken und Masern. Die Ngunnawal und andere Ureinwohner hörten in den 1860er Jahren praktisch auf, als zusammenhängende und unabhängige Gemeinschaften zu existieren, die an ihren traditionellen Lebensweisen festhielten. Die wenigen Überlebenden zogen entweder in die Siedlungen oder wurden in weiter entfernte Reservate umgesiedelt. Von den Kindern erwartete man, dass sie sich assimilierten. Das Volk der Ngunnawal wurde in der Folge oft als „ausgestorben“ betrachtet. In einer Situation, die jener der Tasmanier ähnelt, identifizieren sich Menschen mit Ansprüchen auf die Ngunnawal-Abstammung weiterhin als solche. Es herrscht jedoch in der Gemeinschaft selbst Uneinigkeit darüber, wer zu Recht als Angehöriger des Ngunnawal-Volkes angesehen werden kann. Suche nach einem Standort für die Bundeshauptstadt Zu Beginn der 1890er Jahre begannen ernsthafte Debatten über den Zusammenschluss der selbstverwalteten britischen Kolonien auf dem australischen Kontinent. Ein Knackpunkt war vor allem die Frage der zukünftigen Hauptstadt, da sowohl Melbourne als auch Sydney diesen Status für sich beanspruchten. Henry Parkes, ein prominenter Politiker aus New South Wales, befürwortete eine Hauptstadt auf „neutralem Boden“ und schlug als Kompromiss die an der Grenze zu Victoria gelegene Stadt Albury vor. 1898 fanden in vier der Kolonien – New South Wales, Victoria, South Australia und Tasmanien – Volksabstimmungen über den Verfassungsentwurf statt. Zwar stimmte in allen Kolonien eine Mehrheit dafür, doch New South Wales verfehlte die erforderliche Mindestanzahl an Ja-Stimmen knapp. Bei einer anschließenden Konferenz der Premierminister deutete George Reid an, dass die Ansiedlung der Hauptstadt auf dem Gebiet von New South Wales ausreichend sein würde, um die erforderliche Zustimmung bei der zweiten Volksabstimmung sicherzustellen. Daraufhin wurde Artikel 125 der zukünftigen Verfassung so geändert, dass die Hauptstadt nördlich des Murray River in New South Wales liegen müsse, aber mindestens 100 Meilen (160,9 km) von Sydney entfernt. Außerdem sollte Melbourne der vorläufige Regierungssitz sein (jedoch nicht als „Hauptstadt“ bezeichnet werden), bis ein Standort für die neue Hauptstadt festgelegt war. Allerdings blieb damit die Frage offen, wo die Hauptstadt angesiedelt werden sollte. Anfänglich war der Bezirk Bombala ganz im Süden von New South Wales ein aussichtsreicher Kandidat, bald darauf waren auch die Region Monaro (die Bombala mit einschloss), Orange und Yass im Gespräch. Der Premierminister von New South Wales, John See, bot an, die empfohlenen Standorte für ein künftiges Bundesterritorium zur Verfügung zu stellen. Edmund Barton, der erste Premierminister von ganz Australien, fügte dieser Liste vier weitere Standorte hinzu: Albury, Tamworth, Armidale und Tumut. Regierungsmitglieder besichtigten 1902 diese Orte. Da sie sich nicht einig waren, beschlossen sie, das Problem an eine königliche Kommission zu delegieren. Innenminister William Lyne drängte auf Tumut oder Albury, da er einen Ort in seinem Wahlkreis bevorzugte. In der Folge legte die Kommission 1903 dem Parlament ihren Bericht vor, in dem sie die Standorte Albury, Tumut und Orange in dieser Reihenfolge empfahl. Das Repräsentantenhaus sprach sich für Tumut aus, der Senat bevorzugte jedoch Bombala. Infolge dieser Uneinigkeit scheiterte der Gesetzesentwurf, weshalb sich das Parlament nach der Neuwahl erneut damit befassen musste. Das neue Parlament trat 1904 zusammen und erzielte einen Kompromiss, indem es sich für Dalgety entschied, das wie Bombala in der Region Monaro liegt. Mit der Verabschiedung des Seat of the Government Act 1904 schien die Angelegenheit geregelt zu sein. Doch die Regierung von New South Wales protestierte energisch gegen diesen Beschluss und war nicht gewillt, das von der Bundesregierung geforderte Territorium abzutreten. Sie war der Meinung, dass dieses kleine Dorf zu nahe bei Melbourne liege. Schließlich stimmte New South Wales 1906 der Abtretung von Land in der Region um Yass und Canberra zu, die näher bei Sydney liegt. Nach einem Rundgang mehrerer Abgeordneter durch die Region wurde 1908 eine neue Abstimmung im Bundesparlament einberufen, bei der elf Standorte nominiert waren. Zunächst blieb Dalgety in der Spitzenposition, aber im achten Wahlgang trat Yass/Canberra als neuer Spitzenreiter hervor und wurde im neunten Wahlgang bestätigt. Daraufhin verabschiedete das Parlament den neuen Seat of Government Act 1908, der das Gesetz von 1904 ersetzte. Der staatliche Landvermesser Charles Scrivener (der bereits Dalgety vorgeschlagen hatte) begab sich im selben Jahr ins Dreieck Canberra–Yass–Lake George, um eine geeignete Stelle zu kartografieren. Nach ausgiebiger Untersuchung entschied er sich für Canberra. 1909 erließ New South Wales die gesetzlichen Grundlagen für die Schaffung des Bundesterritoriums. Zwei Gesetze übertrugen Gebiete im Murray County und im Cowley County sowie acht Parzellen an der Jervis Bay an den Bund. Alle privaten Grundstücke in dem aufgegebenen Gebiet mussten vom Bund erworben werden, was die Spekulation unterband. Sie werden seither im Erbbaurecht (leasehold) verpachtet. Der Seat of Government (Administration) Act 1910 schuf den rechtlichen Rahmen für das Territorium. Er sah vor, dass die Gesetze im Territorium vom Bund und die Verordnungen vom Generalgouverneur erlassen werden konnten. Mit dem Inkrafttreten des Gesetzes am 1. Januar 1911 entstand offiziell das Federal Capital Territory (seit 1938 als Australian Capital Territory bezeichnet). Das Gesetz bildete die verfassungsmäßige Grundlage für die Rechtsetzung im ACT bis zur Gewährung der Selbstverwaltung im Jahr 1989. Innenminister King O’Malley, der für die Gesetzgebung zur Schaffung des ACT verantwortlich gewesen war, brachte 1910 mit Erfolg einen Gesetzesentwurf durch das Parlament, der das Territorium zu einer alkoholfreien Zone erklärte. Das umstrittene Prohibitionsgesetz blieb bis 1928 in Kraft. Während dieser Zeit reisten viele Einwohner an Samstagen ins benachbarte Queanbeyan, um unmittelbar jenseits der Grenze einzukehren. Planung, Stadtgründung und Baubeginn Am 30. April 1911 schrieb das Innenministerium einen internationalen Wettbewerb für die neue Hauptstadt aus. Das Royal Institute of British Architects, die Institution of Civil Engineers und die ihnen angeschlossenen Einrichtungen im gesamten britischen Empire boykottierten den Wettbewerb, weil O’Malley darauf bestand, dass die endgültige Entscheidung von ihm und nicht von einem Experten für Stadtplanung getroffen werden sollte. Dennoch gingen 137 gültige Beiträge ein. O’Malley ernannte ein dreiköpfiges Beratungsgremium, das aber keine Einstimmigkeit erzielen konnte. Am 24. Mai 1912 folgte er der Mehrheit des Gremiums und erklärte den Entwurf des amerikanischen Architekten Walter Burley Griffin zum Sieger. Der zweite Preis ging an den Finnen Eliel Saarinen, der dritte an den Franzosen Alfred Agache. Zwei Punkte gaben den Ausschlag: Griffin passte die Stadtstruktur wann immer möglich der vorhandenen Topografie an, während alle anderen Stadtplaner versuchten, die natürliche Umgebung so zu verändern, dass sie vordefinierten ästhetischen Wunschvorstellungen genügte. Darüber hinaus malte seine Ehefrau Marion Mahony Griffin zahlreiche künstlerisch hochstehende Aquarelle, welche die künftige Stadt aus verschiedenen Blickwinkeln zeigten. Griffins Entwurf ragte so aus der Masse technischer Zeichnungen heraus. King O’Malley ernannte ein weiteres sechsköpfiges Gremium, das ihn bei der Umsetzung des Siegerentwurfs beraten sollte. Am 25. November 1912 teilte es mit, dass es Griffins Plan nicht vollumfänglich unterstützen könne und schlug einen Alternativplan vor, der die strenge Geometrie ein wenig auflockerte. Er beinhaltete die besten Merkmale der drei platzierten Entwürfe sowie eines vierten Entwurfs einer Architektengemeinschaft aus Sydney. Das Parlament billigte den modifizierten Plan und O’Malley genehmigte ihn am 10. Januar 1913 formell. Am 20. Februar 1913 rammte O’Malley den ersten Vermessungspfosten in den Boden, um den Baubeginn zu markieren. Zahlreiche Stadtnamen waren vorgeschlagen worden, darunter Olympus, Paradise, Captain Cook, Shakespeare, Kangaremu, Eucalypta und Myola. Am 12. März 1913 taufte Gertrude Denman, Baroness Denman, die Ehefrau von Generalgouverneur Thomas Denman, 3. Baron Denman, im Rahmen einer Zeremonie auf dem Kurrajong Hill (heute Capital Hill) die zu bauende Stadt auf den bereits etablierten Namen Canberra. In Gedenken an dieses Ereignis ist heute der zweite Montag im März, der „Canberra Day“, ein lokaler Feiertag. Die erste Bundeseinrichtung im Hauptstadtterritorium war das Royal Military College, das auf dem Gelände des Landsitzes Duntroon eingerichtet wurde. Der modifizierte Plan blieb umstritten und Griffin selbst lehnte die Änderungen ab. Er wurde deshalb nach Canberra eingeladen, damit die Angelegenheit vor Ort besprochen werden konnte. Als er im August 1913 eintraf, ernannte ihn die Regierung zum Direktor für Design und Bau der Bundeshauptstadt, worauf er die Detailplanung der Stadtbezirke North Canberra und South Canberra leitete. Wegen des Ausbruchs des Ersten Weltkriegs standen für die Umsetzung weniger finanzielle Mittel zur Verfügung, ebenso behinderte bürokratisches Gerangel seine Arbeit. Eine königliche Kommission kam 1916 zum Schluss, dass Griffins Autorität von einigen hochrangigen Beamten untergraben worden war: Die Daten, auf die sich seine Detailarbeiten stützten, waren ungenau und teilweise falsch gewesen. Im Dezember 1920 legte Griffin seine Arbeit am Projekt nieder, nachdem er erfahren hatte, dass einige jener Bürokraten, die ihn behindert hatten, in das Federal Capital Advisory Committee (FCAC) berufen worden waren. Premierminister Billy Hughes hatte diese neue Behörde geschaffen, um den weiteren Verlauf der Arbeiten zu überwachen. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte Griffin seinen Plan überarbeitet, die Erdarbeiten an den Hauptstraßen beaufsichtigt und die Glenloch-Korkeichenplantage im heutigen National Arboretum angelegt. Nach Griffins Weggang hatte das FCAC nur begrenzten Erfolg bei der Erreichung seiner Ziele; der Vorsitzende John Sulman war jedoch maßgeblich dafür besorgt, die Grundsätze der Gartenstadtbewegung auf Griffins Plan anzuwenden. Das Komitee wurde 1925 durch die Federal Capital Commission (FCC) ersetzt. Deren Aufgabe bestand darin, die Stadt auf die Verlegung des Bundesparlaments von Melbourne nach Canberra vorzubereiten. Mit der offiziellen Eröffnung des provisorischen Parlamentsgebäudes am 9. Mai 1927 zog die Bundesregierung offiziell von Melbourne in das ACT um. Der öffentliche Dienst blieb zunächst in Melbourne ansässig und die verschiedenen Abteilungen verlegten ihren Sitz erst im Laufe der Jahre schrittweise nach Canberra. Zögerliches Wachstum der neuen Hauptstadt Die Eisenbahnstrecke zwischen Queanbeyan und Canberra wurde am 25. Mai 1914 eröffnet und diente zunächst zehn Jahre lang nur dem Güterverkehr. Von Juni 1921 bis Juli 1922 führte sie über den Molonglo River bis zum heutigen Stadtteil Civic. Nachdem eine Überschwemmung die temporäre Holzbrücke zerstört hatte, gab man diesen Abschnitt jedoch auf; seither endet die Strecke am Bahnhof Canberra im Stadtteil Kingston südlich des Flusses. Von 1923 bis Mai 1927 verband eine kapspurige Güterstraßenbahn die Ziegelhütte in Yarralumla mit der Baustelle des provisorischen Parlamentsgebäudes. Geplant, aber nie gebaut wurden Bahnstrecken nach Yass und zur Jervis Bay. Im Mai 1918 richtete die Regierung am östlichen Stadtrand ein Internierungslager für deutsche Kriegsgefangene ein. Tatsächlich beherbergte das Lager jedoch überwiegend zivile Internierte, die von Einrichtungen an anderen Orten dorthin verlegt worden waren. Ende 1919 entstand daraus eine Arbeitersiedlung und schließlich die Industriezone Fyshwick. Der spätere König Edward VIII. holte am 21. Juni 1920 die offizielle Grundsteinlegung Canberras nach. In den 1920er Jahren entstanden mehrere Regierungsgebäude, darunter The Lodge als Residenz des Premierministers. Die ersten Grundstücke für Wohn- und Geschäftszwecke wurden am 12. Dezember 1924 in einer öffentlichen Auktion versteigert. Zahlreiche soeben neu errichtete Gebäude waren von einer Überschwemmung betroffen, als im Februar 1925 die Dämme des Molonglo River brachen. Ebenfalls 1925 fuhr erstmals ein öffentlicher Bus. Zwei Jahre später erhielt Canberra das erste Kino sowie eine eigene Polizei. Die Weltwirtschaftskrise brachte das Wachstum Canberras zu einem jähen Stillstand. Hunderte Arbeiter des Bautrupps verloren ihre Stelle und das Staatspersonal wurde um ein Siebtel reduziert. Sogar die FCC, welche die bauliche Entwicklung Canberras überwachte, stellte 1930 ihre Tätigkeit ein und nahm sie erst acht Jahre später unter der Bezeichnung National Capital Planning and Development Committee (NCPDC) wieder auf. Großprojekte wie eine anglikanische und eine römisch-katholische Kathedrale konnten nicht verwirklicht werden, weil die dafür vorgesehenen Geldmittel in die Linderung der sozialen Folgen der Krise abflossen. Bis heute hat in Canberra keine bedeutende Glaubensrichtung ein Gotteshaus von nationalem Rang errichtet. Gleichwohl schritt die Entwicklung der Stadt voran, wenn auch eher qualitativ als quantitativ. So nahm beispielsweise 1931 die erste Radiostation ihren Sendebetrieb auf, zunächst von einem Ladenlokal im Stadtteil Kingston aus. Fünf Jahre später begannen die Bauarbeiten am Australian War Memorial, der Gedenkstätte für im Krieg gefallene Australier, die schließlich am 11. November 1941 offiziell eröffnet wurde. 1936 setzte der Zuzug diplomatischer Vertretungen nach Canberra ein. Den Anfang machte der Hochkommissar des Vereinigten Königreichs, gefolgt von einem Vertreter Kanadas 1937 und der Eröffnung einer Vertretung der USA 1940. Die USA waren 1943 das erste Land, die ein eigenes Botschaftsgebäude errichten ließen. 1946 war es auch der Vertreter der USA, der als Erster in den Rang eines Botschafters erhoben wurde; weitere Länder folgten bald darauf. Das bedeutendste Ereignis in Canberra bis zum Zweiten Weltkrieg war das 24. Treffen der wissenschaftlichen Vereinigung ANZAAS im Januar 1939. Die Canberra Times beschrieb es als „ein Ereignis von besonderer Tragweite … in der Geschichte dieser jüngsten Hauptstadt der Welt“. Die Unterkünfte reichten bei weitem nicht aus, um die 1250 Delegierten unterzubringen, und es musste eine Zeltstadt am Ufer des Molonglo River errichtet werden. Einer der prominenten Redner war der Schriftsteller H. G. Wells, der eine Woche lang Gast von Generalgouverneur Lord Gowrie war. Die Veranstaltung fiel mit einer Hitzewelle im Südosten Australiens zusammen, während der die Temperatur in Canberra am 22. Januar 42,5 °Celsius (108,5 °Fahrenheit) erreichte und die das verheerende Black-Friday-Buschfeuer auslöste. Canberra war damals noch immer eine kleinstädtisch geprägte Siedlung mit einer unorganisiert wirkenden Ansammlung von Gebäuden, die allgemein als hässlich empfunden wurde. Nur das Parlamentsgebäude und die Gedenkstätte deuteten darauf hin, dass es sich eigentlich um die Hauptstadt Australiens handelte. Kritiker bezeichneten sie oft spöttisch als „mehrere Vororte auf der Suche nach einer Stadt“. Rasante Entwicklung nach dem Zweiten Weltkrieg Während des Zweiten Weltkriegs und in den ersten Nachkriegsjahren zog das ins Stocken geratene Wachstum spürbar an. Beim Flugzeugabsturz von Canberra am 13. August 1940 kamen zehn Menschen ums Leben, darunter drei Minister der Bundesregierung und der Generalstabschef, als ihr Flugzeug im dichten Nebel auf einen Hügel stürzte. Nach Kriegsende verlegten immer mehr nationale Institutionen ihren Sitz nach Canberra oder wurden dort gegründet (beispielsweise die Australian National University im April 1946), was zunehmend zu einem Mangel an Wohnungen und Büroräumen führte. Ein Senatsausschuss befasste sich 1954 mit dem Problem und empfahl die Schaffung eines Planungsgremiums mit weitreichenden Exekutivbefugnissen. Folglich wurde das als ineffizient empfundene NCPDC im Jahr 1958 durch die National Capital Development Commission (NCDC) ersetzt. Unterstützt durch Premierminister Robert Menzies, beendete die NCDC vier Jahrzehnte der Auseinandersetzungen um Form und Gestaltung des Lake Burley Griffin. Der Bau dieses künstlichen Sees im Stadtzentrum begann 1960 und war nach vier Jahren abgeschlossen. Aufgrund einer lang anhaltenden Trockenperiode dauerte es über ein halbes Jahr, bis der See vollständig gefüllt war. Mit dessen Fertigstellung entfaltete das Parliamentary Triangle endlich jene repräsentative Wirkung, die Walter Burley Griffin ursprünglich vorgesehen hatte. An oder nahe den Ufern des neuen Sees entstanden in der Folge mehrere Gebäude von nationaler Ausstrahlung, darunter die National Library of Australia (1968), der High Court of Australia (1980), die National Gallery of Australia (1982), das National Museum of Australia (2001) und die National Portrait Gallery (2008). Griffins ursprünglicher Bebauungsplan ging nicht über die zentralen Stadtbezirke North Canberra und South Canberra hinaus. Um die rasant ansteigende Bevölkerung aufnehmen zu können, die sich in den 1960er und 1970er Jahren vervierfachte, war der Bau neuer Stadtbezirke erforderlich. Den Anfang machte 1964 Woden Valley; es folgten Belconnen (ab 1967), Weston Creek (ab 1969) und Tuggeranong (ab 1973). Im Rahmen der Zweihundertjahrfeier Australiens im Jahr 1988 konnte nach einer zehnjährigen Planungs- und Bauphase das Parliament House, das neue Parlamentsgebäude, eröffnet werden. Es ersetzte das 61 Jahre alte „provisorische“ Old Parliament House. Seit ihrer Gründung waren die Stadt und das Territorium direkt von den Ministerien verwaltet worden. In einer Volksabstimmung am 25. November 1978 lehnten die Einwohner aber die Selbstverwaltung ab und entschieden sich mit 63,75 % der Stimmen für die Beibehaltung des bisherigen Zustands. NCDC-Direktor John Overall machte dafür mehrere Gründe verantwortlich. Einerseits bestand die Angst vor Steuererhöhungen oder Leistungskürzungen. Andererseits habe die Mehrheit des Gefühl gehabt, durch ihre Vertreter im Bundesparlament bereits ein Mitspracherecht zu besitzen. Zudem hatte Canberra einen hohen Anteil an Beamten, die es gewohnt waren, mit der Bundesregierung zusammenzuarbeiten. Zehn Jahre später beschloss das Kabinett von Premierminister Bob Hawke, die Selbstverwaltung entgegen dem Wunsch der Bevölkerung einzuführen, zumal das Northern Territory mittlerweile gute Erfahrungen damit gemacht hatte. Insbesondere sollte aber der Bund finanziell entlastet werden, da das Territorium in hohem Maße von Subventionen profitierte. Am 6. Dezember 1988 stimmte das Parlament dem Australian Capital Territory (Self-Government) Act 1988 zu und Königin Elisabeth II. unterzeichnete dieses Gesetz am 11. Mai 1989. An diesem Tag konstituierte sich der im März gewählte Legislativrat. Ebenfalls 1989 wurde die National Capital Authority als neue Planungsbehörde eingesetzt. 1993 begann die Entwicklung des neuen Stadtbezirks Gungahlin. Canberra war am 18. und 19. Januar 2003 von Buschfeuern bisher ungekannten Ausmaßes betroffen (siehe Buschfeuer in Canberra 2003). Diese hatten eine Woche zuvor westlich der Stadt begonnen, durchbrachen dann die Eindämmungslinien und umschlossen einige Stadtteile. Vier Personen kamen ums Leben und rund 500 Häuser brannten nieder, bevor nach einem Wetterumschwung das Feuer unter Kontrolle gebracht werden konnte. Auch das traditionsreiche Mount-Stromlo-Observatorium und mehrere Kleinsiedlungen im ländlichen Teil des ACT gingen in den Flammen unter. Ein Teil des abgebrannten Kiefernwaldes westlich des Lake Burley Griffin wurde entsprechend einer im Jahr 2004 erschienenen Planungsstudie nicht wieder aufgeforstet. Stattdessen entsteht dort seit 2010 der neue Stadtbezirk Molonglo Valley, der im Endausbau über 50.000 Einwohner zählen wird. Bevölkerung Im Jahr 2021 zählte Canberra 452.670 Einwohner, was einer Bevölkerungsdichte von 1152 Einwohnern/km² entspricht. Die Volkszählung 2016 ergab, dass 2,0 % der Bevölkerung Aborigines oder Torres-Strait-Insulaner sind und 32,5 % außerhalb Australiens geboren wurden. Die meisten der im Ausland Geborenen stammen aus englischsprachigen Ländern, angeführt von Indien mit 3,8 %, dem Vereinigten Königreich mit 2,9 % und gefolgt von der Volksrepublik China (ohne Sonderverwaltungszonen und Taiwan) mit 2,7 %. In Nepal geboren wurden 1,3 % der Bevölkerung, weitere 1,1 % in Neuseeland. Seit Beginn des 21. Jahrhunderts hat die Zahl der Immigranten aus Ost- und Südasien stark zugenommen. Die meisten Einwohner, nämlich 71,2 %, sprechen zuhause ausschließlich Englisch; die häufigsten Fremdsprachen sind Mandarin (3,2 %), Nepalesisch (1,3 %), Vietnamesisch (1,1 %), Panjabi (1,1 %) und Hindi (1,1 %). Im Vergleich zu anderen australischen Städten ist die Bevölkerung Canberras jünger, mobiler und besser ausgebildet. Das Durchschnittsalter beträgt 35 Jahre, nur 12,7 % sind älter als 65 Jahre. Zwischen 1996 und 2001 zogen 61,9 % der Einwohner entweder hierher oder wieder weg. 2021 hatten 43,0 % der über 15-Jährigen einen Bildungsabschluss, der mindestens einem Bachelor entspricht, was markant höher als der nationale Durchschnitt von 26,3 % ist. 43,5 % der Einwohner Canberras gaben bei der Volkszählung 2021 nicht religiös zu sein. Die am häufigsten vertretenen Konfessionen sind die Römisch-katholische Kirche (19,3 %) und die Anglican Church of Australia (8,2 %). Weit vertreten ist weiterhin der Hinduismus (4,5 %). Das katholische Erzbistum Canberra-Goulburn untersteht direkt dem Heiligen Stuhl, während die anglikanische Diözese Canberra & Goulburn zur Kirchenprovinz New South Wales gehört. Politik und Recht Territorialregierung Es gibt keinen Stadtrat und keine Stadtverwaltung für Canberra selbst. Die Australian Capital Territory Legislative Assembly (Legislativrat des australischen Hauptstadtterritoriums) übernimmt sowohl die Rolle eines Stadtrates für Canberra als auch die der Regierung des übergeordneten Australian Capital Territory (ACT). Jedoch ist die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung des Territoriums in Canberra ansässig, weshalb die Stadt eindeutig den Schwerpunkt der Territorialregierung bildet. Die Legislative besteht aus 25 Mitgliedern, die in fünf Wahlkreisen nach dem Hare-Clark-System bestimmt werden, einer Variante der übertragbaren Einzelstimmgebung. Die Wahlkreise sind Brindabella, Ginninderra, Kurrajong, Murrumbidgee und Yerrabi mit je fünf Sitzen. Die Abgeordneten des Legislativrates wählen aus ihren Reihen den Chief Minister, der weitere Ratsmitglieder zu Ministern der Exekutive ernennt (informell als Kabinett bezeichnet). Amtierender Chief Minister ist seit 2014 Andrew Barr von der Australian Labor Party (ALP). Die letzte Wahl fand am 17. Oktober 2020 statt. Dabei gewannen die ALP zehn und die Australian Greens sechs Sitze, womit diese beiden Parteien eine Koalitionsregierung bilden (diese besteht seit 2008). Einzige Oppositionspartei ist die Liberal Party of Australia mit neun Sitzen. Die australische Bundesregierung verfügt über mittelbaren Einfluss auf die Regierung des ACT. Auf Verwaltungsebene wird dieser am häufigsten durch die National Capital Authority ausgeübt. Sie ist verantwortlich für Planung und Entwicklung jener Stadtteile Canberras, die von nationaler Bedeutung oder ein zentraler Bestandteil von Griffins ursprünglichem Bebauungsplan sind. Dazu zählen das Parliamentary Triangle, bedeutende Straßen, Grundstücke im Besitz des Bundes oder der Canberra-Naturpark. Durch das im Jahr 1988 erlassene Selbstverwaltungsgesetz (Australian Capital Territory (Self-Government) Act 1988) übt die Bundesregierung ebenfalls Kontrolle über die Legislative des Territoriums aus. Das Gesetz ist die Verfassung des ACT und bestimmt die Zuständigkeitsbereiche, über die der Legislativrat selbst entscheiden kann. Justiz und Polizei Im Auftrag der Regierung des ACT übernimmt die Australian Federal Police alle Aufgaben einer bundesstaatlichen Polizeibehörde. Sie führt zu diesem Zweck eine eigene Abteilung namens ACT Policing, um die allgemeine Polizeiarbeit im Territorium von den gesamtstaatlichen Aufgaben zu trennen. Gerichtsfälle werden im Magistratsgerichtshof (Magistrates Court of the Australian Capital Territory) und – bei schwerwiegenderen Fällen – im Obersten Gerichtshof des ACT (Supreme Court of the Australian Capital Territory) behandelt. Daneben gibt es einen Gerichtshof für Zivil-, Verwaltungs- und Arbeitsrecht (ACT Civil and Administrative Tribunal). Bis 2009 gab es im ACT nur ein Untersuchungsgefängnis (das Belconnen Remand Centre), während Haftstrafen in New South Wales verbüßt werden mussten. Seit Ende 2008 besitzt das ACT im Stadtteil Hume über ein eigenes Gefängnis für den Strafvollzug, das Alexander Maconochie Centre; es ist nach dem Kommandanten der Norfolkinsel von 1840 bis 1844 benannt. Partnerstädte Canberra ist mehrere Städtepartnerschaften eingegangen, die enge Beziehungen in den Bereichen Verwaltung, Wirtschaft, Kultur und Gesellschaft umfasst: Peking in der Volksrepublik China, Nara in Japan und Wellington in Neuseeland. Weniger formelle freundschaftliche Beziehungen bestehen mit Dili in Osttimor und Hangzhou in der Volksrepublik China. Mit allen genannten Städten findet ein kultureller Austausch statt. Die bedeutendste Veranstaltung im Zusammenhang mit einer Partnerstadt ist das Canberra-Nara-Kerzenfestival, das seit 2003 jeweils im Oktober stattfindet. Wappen und Flagge Die Stadt Canberra führt die gleichen Hoheitszeichen wie das Australian Capital Territory, da Stadt und Hauptstadtterritorium weitgehend identisch sind. Das Wappen des Australian Capital Territory wurde 1927 entworfen, nachdem das Verteidigungsministerium den Wunsch geäußert hatte, das damals vom Stapel gelaufene Kriegsschiff HMAS Canberra zu schmücken. Die Flagge des Australian Capital Territory besteht seit 1993 und zeigt neben dem Kreuz des Südens das leicht modifizierte Stadtwappen. Kultur und Sehenswürdigkeiten Sehenswürdigkeiten Touristisch interessant sind, neben der Anlage Canberras als Gartenstadt selber, die zahlreichen Sehenswürdigkeiten, die hauptsächlich in den beiden ältesten Stadtbezirken South Canberra und North Canberra sowie am Lake Burley Griffin zu finden sind. Zentraler Punkt in South Canberra ist der von Ringstraßen umgebene Capital Hill, auf den alle Hauptstraßen zulaufen. Auf diesem Hügel befindet sich das Parliament House, das 1988 eröffnete neue Parlamentsgebäude. Beim Bau wurde die Kuppe des Hügels abgetragen und nach Fertigstellung des Rohbaus wieder aufgeschüttet, so dass sie nunmehr das mit Rasen bewachsene Dach des Gebäudes bildet. Darüber erhebt sich ein 81 Meter hoher Flaggenmast mit der australischen Flagge. Nördlich des Capital Hill liegt der repräsentative Stadtteil Parkes mit einigen der wichtigsten Gebäuden der Stadt, allen voran das Old Parliament House. Es diente von 1927 bis 1988 als provisorischer Sitz des australischen Parlaments und beherbergt heute ein Museum über die Geschichte der australischen Demokratie. Auf der Grünfläche vor dem alten Parlament richteten Aktivisten im Jahr 1972 die inoffizielle „Zelt-Botschaft“ der australischen Ureinwohner (Aboriginal Tent Embassy) ein. Unweit des alten Parlaments befinden sich die National Archives of Australia (Nationalarchive) und die National Portrait Gallery. Näher am Südufer des Lake Burley Griffin sind die National Library of Australia (Nationalbibliothek), das Questacon-Museum (Wissenschafts- und Technologiezentrum), das Gebäude des Obersten Gerichtshofes und die National Gallery of Australia (Nationalgalerie) zu finden. Am zentralen Seebecken befindet sich das Captain James Cook Memorial, das in Form einer Wasserfontäne gestaltet ist. Die kleine Insel Queen Elizabeth II Island ist Standort des National Carillon, eines 50 Meter hohen Turmglockenspiels. Mehrere Parkanlagen umgeben den See, darunter der Commonwealth Park und der Kings Park. Westlich des Capital Hill liegt der Stadtteil Yarralumla, Standort der meisten diplomatischen Vertretungen, des Government House (Amtssitz des Generalgouverneurs) und des National Zoo and Aquarium. Im Südwesten des Capital Hill erstreckt sich der Stadtteil Deakin mit weiteren Botschaftsgebäuden, der Royal Australian Mint (Münzprägestätte) und The Lodge, dem Amtssitz des Premierministers. Der Stadtteil City (umgangssprachlich Civic genannt) nördlich des Sees ist das zentrale Einkaufs- und Büroviertel der Stadt. Es ist eines der wenigen Stadtgebiete mit verdichteter Bebauung. Hier befinden sich unter anderem das Messezentrum sowie das Canberra Museum and Gallery, das sich mit Kunst und Geschichte Canberras befasst. Westlich der City liegt das Universitätsviertel Acton. Dort, am Fuße des Black Mountain, befinden sich das National Film and Sound Archive, die Australian National Botanic Gardens (botanische Gärten mit über 5500 einheimischen Pflanzenarten) und das National Arboretum. Die Südspitze der Acton-Halbinsel am See ist Standort des National Museum of Australia (Nationalmuseum), das mit seiner gewagten, futuristisch anmutenden Architektur auffällt. Östlich der City, am Fuße des Mount Ainslie, erstreckt sich der „zeremonielle“ Bereich der Stadt. Die ANZAC Parade ist eine breite, von mehreren Denkmälern gesäumte Prachtstraße. Hier finden jeweils die Paraden zum ANZAC Day, einem der wichtigsten Feiertage Australiens, statt. An dieser Straße stehen die St John the Baptist Church, die älteste Kirche der Stadt, sowie das Australian War Memorial, das nationale Kriegerdenkmal. Rund zwölf Kilometer vom Zentrum entfernt findet man am nördlichen Stadtrand das National Dinosaur Museum (Dinosauriermuseum) mit der größten prähistorischen Sammlung der südlichen Hemisphäre. Einige historische Wohnhäuser aus dem 19. Jahrhundert können besichtigt werden: Die Lanyon- und Tuggeranong-Gehöfte im Tuggeranong-Tal, das Mugga-Mugga-Haus im Stadtteil Symonston und Blundells Cottage in Parkes stellen Gegenstände aus dem Alltag der frühen europäischen Siedler aus. Das Culthorpes’ House auf dem Red Hill ist ein gut erhaltenes Beispiel der Architektur der 1920er Jahre. Das Duntroon House im Stadtteil Campbell war einer der ersten Gehöfte der Region und ist heute die Offiziersmesse des Royal Military College. Kultur und Nachtleben Neben den Museen hat die Stadt eine lebendige Livemusik- und Theaterszene vorzuweisen, die vor allem von den Studenten der Universitäten getragen wird. Die beiden größten Theater sind das Canberra Theatre mit 1244 und das Playhouse mit 618 Sitzplätzen, die auch für Konzerte verwendet werden. Das Street Theatre auf dem Gelände der Australian National University (ANU) ist auf Laienvorführungen spezialisiert. Ebenfalls auf dem Gelände der ANU befindet sich die Musikhochschule mit der Llewellyn Hall (1442 Sitzplätze), die als eine der renommiertesten australischen Konzerthallen für klassische Musik gilt. Zudem besitzen die meisten Gemeinschaftszentren in den Stadtteilen Einrichtungen für Theater- und Kinovorführungen sowie in allen Fällen eine Bibliothek. Canberra ist für zahlreiche mehrtägige Großveranstaltungen bekannt: Das erste des Jahres ist jeweils das Summernats-Automobilfestival im Frühsommer Anfang Januar. Im Februar folgen die Feuerwerksparade Enlighten Canberra und die Landwirtschaftsmesse Royal Canberra Show. Das Volksfest Celebrate Canberra vor dem Canberra Day, dem offiziellen Feiertag der Stadt, dauert zehn Tage. Jeweils in der Osterwoche findet das National Folk Festival statt. Die jedes Jahr von Mitte September bis Mitte Oktober stattfindende Floriade ist mit jeweils über 300.000 Besuchern die größte Gartenausstellung der südlichen Hemisphäre. Das Stonefest Ende Oktober auf dem Gelände der University of Canberra (UC) ist eines der größten Rock-Musikfestivals des Landes. Das Casino Canberra ist das einzige Spielkasino der Stadt. Es wurde 1992 eröffnet und besitzt die alleinige Konzession, Glücksspiele anzubieten. Das Casino gehört Casinos Austria International. Im Casino gibt es jedoch keine Spielautomaten, denn dieses Recht steht wiederum nur den Bars und Clubs zu. Prostitution wurde zwar 1992 entkriminalisiert, ist jedoch von Gesetzes wegen auf die industriell geprägten Stadtteile Fyshwick und Mitchell beschränkt. Die vergleichsweise geringe Bevölkerungszahl hat zur Folge, dass das Nachtleben kaum mit jenem der großen australischen Metropolen mithalten kann. Darüber hinaus ist die Bevölkerungsdichte gering, sodass die verschiedenen Vergnügungseinrichtungen wie Bars, Clubs und Restaurants auf wenige Stadtteile in unmittelbarer Nähe zum Zentrum konzentriert sind. Das Nachtleben in Canberra (bzw. dessen angebliches Nichtvorhandensein) ist oft Gegenstand von Witzen auswärtiger Besucher. Sport Neben zahlreichen lokalen Sportvereinen gibt es in Canberra mehrere Sportmannschaften, die nationalen und internationalen Ligen angehören. Die bekanntesten Teams sind die Canberra Raiders und die Brumbies, die Rugby League bzw. Rugby Union spielen und beide mehrmals Meistertitel gewonnen haben. Beide Teams tragen ihre Spiele im 1977 errichteten Canberra Stadium aus, mit 25.011 Sitzplätzen das größte Stadion der Stadt. Bis 1990 wurden hier auch Leichtathletik-Wettkämpfe ausgetragen. Während des Fußballturniers der Olympischen Sommerspiele 2000 und während der Rugby-Union-Weltmeisterschaft 2003 fanden hier einige Vorrundenspiele statt. Ein weiteres großes Stadion ist das Manuka Oval für 16.000 Zuschauer, in dem Cricket- und Australian-Football-Spiele stattfinden. Eine Besonderheit ist, dass in der Stadt zwar kein Profiteam dieser beiden Sportarten beheimatet ist, zahlreiche auswärtige Teams aus Melbourne oder Sydney hier jedoch regelmäßig Heimspiele austragen. Das Prime Minister's XI ist ein traditionsreiches Cricketspiel, bei dem jedes Jahr eine vom Premierminister persönlich zusammengestellte australische Mannschaft gegen eine Nationalmannschaft aus Übersee antritt. Während des Cricket World Cup 1992 des Cricket World Cup 2015 fanden hier einige Partien statt. Das Frauen-Basketball-Team Canberra Capitals gehört zu den erfolgreichsten Mannschaften Australiens und hat mehrere Male den australischen Meistertitel gewonnen. Weitere Mannschaften, die nationalen Ligen angehören, sind die AIS Canberra Darters (Netball), die Canberra Labor Club Lakers, die Canberra Labor Club Strikers (Herren- und Damen-Hockey), die Canberra Knights (Eishockey) und die Canberra Vikings (Rugby Union). Canberra ist Austragungsort des Barassi International Australian Football Youth Tournament, des bedeutendsten Juniorenturniers im Australian Football. Weitere nennenswerte jährlich stattfindende Sportanlässe sind der Canberra Marathon, der Canberra Ironman Triathlon und die Canberra Rally. Darüber hinaus gibt es eine Pferderennbahn, den Canberra Racecourse. Von 2001 bis 2006 wurde das Tennisturnier Canberra Women’s Tennis Classic ausgetragen, 2009 war der Mount Stromlo am Stadtrand von Canberra der Austragungsort der Mountainbike-WM. Das seit 1981 bestehende Australian Institute of Sport (AIS) im Stadtteil Bruce ist ein spezialisiertes Bildungs- und Trainingsinstitut für Spitzensportler in zahlreichen Sportarten. Den Einwohnern von Canberra stehen zahlreiche Sportanlagen zur Verfügung, darunter Cricket- und Rugbyplätze, Golfplätze, Skateparks, Tennisplätze und Schwimmbäder. Durch die ganze Stadt zieht sich auch ein ausgedehntes Netz von Radwegen. Die hügelige Gegend rund um Canberra ist bei Wanderern, Reitern und Mountainbikern sehr beliebt. Auf den Seen wiederum sind Wassersportarten wie Segeln, Rudern und Wasserski möglich. Wirtschaft und Infrastruktur Wirtschaft Mit Abstand wichtigster Wirtschaftszweig der Stadt sind staatliche Verwaltung und Sicherheit. Zusammen erzeugten sie 27,1 % des Bruttosozialprodukts und beschäftigten sie 32,5 % aller Erwerbstätigen (Stand: 2018/19). Zu den wichtigsten Arbeitgebern im öffentlichen Dienst gehören das Parlament, das Verteidigungsministerium, das Finanzministerium, das Schatzamt, das Außenhandelsministerium und das Außenministerium. Mehrere Einrichtungen der Australian Defence Force befinden sich direkt in der Stadt sowie der näheren Umgebung. Weitere wichtige Wirtschaftszweige gemessen an der Zahl der Beschäftigten sind Gesundheitswesen (10,5 %), Wissenschaft und Technologie (9,8 %), Bildungswesen (9,6 %), Handel (7,3 %), Tourismus (6,4 %) sowie Baugewerbe (5,8 %). Die Industrie in Canberra fokussiert sich auf Bereiche mit hoher Wertschöpfung wie beispielsweise Biotechnologie, Rüstung, Informationstechnologie, Umwelttechnologie und Raumfahrt. Eine wachsende Zahl von Software-Anbietern hat sich in Canberra niedergelassen, um von der Konzentration der staatlichen Kunden zu profitieren. Zudem wird Canberra zu einem Innovationszentrum für Informationssicherheit ausgebaut. Im Februar 2020 betrug die Arbeitslosenquote in Canberra 2,9 %, deutlich unter dem nationalen Durchschnitt von 5,1 %. Als Folge der niedrigen Arbeitslosenquote sowie des hohen Anteils des Dienstleistungssektors und des öffentlichen Dienstes ist das Pro-Kopf-Einkommen höher als in allen anderen Hauptstädten der australischen Bundesstaaten. Das durchschnittliche Wocheneinkommen eines Einwohners von Canberra beträgt 1827 AUD, der landesweite Durchschnitt im Vergleich dazu 1658 AUD (März 2020). Der Mittelwert der Liegenschaftspreise in Canberra betrug 745.000 AUD im Februar 2020, was niedriger als in Sydney ist, aber höher als in allen anderen Hauptstädten. Der Mittelwert der Mietpreise wiederum ist nirgends so hoch wie in Canberra. In einer Rangliste der Städte nach ihrer Lebensqualität belegte Canberra im Jahr 2018 den 30. Platz unter 231 untersuchten Städten weltweit. Verkehr Nahverkehr Das Automobil ist in Canberra das dominierende Verkehrsmittel. Planungsvorschriften führten zu einem weitläufigen Netz gut ausgebauter Straßen und zu einer niedrigen Bevölkerungsdichte, da die Bebauung über ein relativ großes Gebiet verteilt und nur an wenigen Orten konzentriert ist. Im Vergleich zu anderen australischen Städten sind die Fahrtzeiten über weite Distanzen relativ kurz. Staus gibt es nur selten und sie lösen sich während der Hauptverkehrszeit in der Regel nach kurzer Zeit auf. Die Stadtbezirke sind durch Parkways miteinander verbunden, richtungsgetrennte Schnellstraßen mit einer erlaubten Höchstgeschwindigkeit von 100 km/h. Ansonsten gilt ein Tempolimit von 50 km/h. Daneben ist in allen Stadtteilen ein gut ausgebautes Netz von zusammenhängenden Radwegen vorhanden; Canberra bezeichnet sich selbst als „Fahrradhauptstadt Australiens“. Das städtische Busunternehmen Australian Capital Territory Internal Omnibus Network (ACTION) ist für den ÖPNV im gesamten Stadtgebiet zuständig. Das private Busunternehmen Qcity Transit verbindet Canberra mit benachbarten Städten in New South Wales. Obwohl die Pläne von Walter Burley Griffin dies vorsahen, gab es jahrzehntelang keine Straßen- oder Stadtbahn in Canberra. Die erste Etappe der Stadtbahn Canberra wurde am 20. April 2019 eröffnet. Sie ist zwölf km lang und verbindet das Stadtzentrum mit dem nördlichen Stadtteil Gungahlin. Der Auftrag war an ein Konsortium vergeben worden, an dem auch DB International beteiligt war. Eine zweite Phase ist in Planung. Die zwei in Canberra lizenzierten Taxiunternehmen heißen Canberra Elite und Cabexpress. Im Jahr 2016 wurden 7,1 % aller innerstädtischen Reisen mit öffentlichen Verkehrsmitteln unternommen, weitere 4,5 % zu Fuß. Fernverkehr Die Australian Capital Territory Railway – die Eisenbahninfrastruktur gehört dem Australischen Bund, wird aber von der Eisenbahn des Staates New South Wales betrieben – verbindet Canberra mit dem Eisenbahnnetz des Landes. Der Bahnhof Canberra befindet sich im Stadtteil Kingston. Von hier bietet die Eisenbahngesellschaft NSW TrainLink eine Linie nach Sydney an. Eine direkte Verbindung nach Melbourne gibt es nicht, so dass Reisende dorthin in Goulburn umsteigen müssen. Es gab verschiedentlich Pläne, zwischen Sydney, Canberra und Melbourne eine Neubaustrecke für den Hochgeschwindigkeitsverkehr zu bauen, diese erwiesen sich jedoch als wirtschaftlich unsicher. Die letzte Studie zu diesem Thema wurde 2013 veröffentlicht. Per Auto ist Sydney über den Federal Highway und den Hume Highway in drei Stunden erreichbar. Die Fahrt nach Melbourne auf dem Barton Highway, der bei Yass auf den Hume Highway trifft, dauert rund sieben Stunden. In zwei Stunden können auf dem Monaro Highway die Skigebiete in den Snowy Mountains und der Kosciuszko-Nationalpark erreicht werden. Ebenfalls zwei Stunden dauert die Fahrt auf dem Kings Highway nach Batemans Bay, einem beliebten Badeort an der Küste des Pazifiks. Die Unternehmen Greyhound Australia und Murray Coaches bieten mehrmals täglich Fernbusse nach Sydney und Melbourne an. Vom Canberra International Airport aus werden Flüge in die australischen Großstädte und zu einzelnen Regionalflughäfen in New South Wales angeboten. Es gibt keine Linienflüge in das Ausland, sondern nur Charterflüge – vor allem zur Urlaubssaison – mit einigen Überseezielen. Die frühere Royal Australian Air Force Base Fairbairn direkt neben dem Flughafen wurde 2003 aufgegeben. Bis dahin hatten sich zivile und militärische Luftfahrt die Start- und Landebahnen geteilt. Versorgung Die im Besitz der Regierung des ACT befindliche ACTEW Corporation ist für den Unterhalt der Wasserversorgungs- und Abwasserinfrastruktur von Canberra zuständig. ActewAGL, ein Joint-Venture der ACTEW Corporation und der Australian Gas Light Company, ist die Vertriebsgesellschaft für die Versorgung der Stadt mit Wasser, Erdgas und Elektrizität. TransACT, eine Tochtergesellschaft von ActewAGL, bietet auch Telekommunikationsdienstleistungen an. Das Trinkwasser wird in vier Reservoiren gesammelt; bei den Corin-, Bendora- und Cotter-Dämmen am Cotter River sowie beim Googong-Damm am Queanbeyan River. Letzterer liegt zwar in New South Wales, wird aber von der Regierung des ACT betrieben. Die ACTEW Corporation besitzt die zwei Kläranlagen von Canberra, diese befinden sich in Fyshwick und Lower Molonglo am Molonglo River. Die elektrische Energie für Canberra stammt aus dem landesweiten Stromnetz und wird über Umspannwerke in den Stadtteilen Holt und Fyshwick eingespeist. In der Umgebung von Canberra stehen vier Solarparks mit einer installierten Leistung von mehr als 100 Megawatt. Das erste Kraftwerk Canberras, das Kingston Powerhouse, war von 1913 bis 1957 in Betrieb. Wie in anderen Teilen Australiens werden terrestrische und mobile Telekommunikationsdienstleistungen von verschiedenen miteinander konkurrierenden Unternehmen angeboten. Der größte Teil der Infrastruktur ist im Besitz von Telstra, doch auch TransACT verfügt über einen bedeutenden Anteil. Auf dem Black Mountain steht der 195 Meter hohe Fernmeldeturm Black Mountain Tower (ehemals Telstra Tower und davor Telecom Tower). Gesundheitswesen Canberra verfügt über zwei große öffentliche Krankenhäuser, das Canberra Hospital in Garran mit 600 Betten und das Calvary Public Hospital in Bruce mit 174 Betten. Beide sind auch Lehrkrankenhäuser. Das größte private Krankenhaus Canberras ist das Calvary John James Hospital (ehemals John James Memorial Hospital) in Deakin. Weitere bedeutende Gesundheitsdienstleister sind das Calvary Private Hospital in Bruce und das National Capital Private Hospital in Garran. Zusätzlich zur Versorgung des Australian Capital Territory (ACT) übernehmen alle öffentlichen Krankenhäuser Notfälle und Überweisungen aus dem Einzugsgebiet im südlichen New South Wales und in der nördlichen Grenzregion Victorias. Bildung Die beiden wichtigsten Bildungsinstitutionen sind die Australian National University (ANU) und die University of Canberra (UC). Die ANU wurde 1946 gegründet und war zunächst auf die Forschung durch Postgraduierte ausgerichtet. Auch heute liegt der Schwerpunkt vor allem bei der Forschung. Die ANU, die rund 25.000 Studenten zählt, gehört laut den Hochschulrankings von Times Higher Education und der Universität Shanghai zu den besten Universitäten der Welt. Die UC mit ihren rund 16.000 Studenten ist stärker auf praktische Ausbildung ausgerichtet. Die Australian Catholic University und die Charles Sturt University sind mit je einer theologischen Fakultät vertreten, Erstere im Stadtteil Watson, letztere in der Nachbarschaft des neuen Parlamentsgebäudes. Daneben gibt es zwei Militärschulen, die Australian Defence Force Academy und das Royal Military College. Canberra ist der Hauptsitz der Commonwealth Scientific and Industrial Research Organisation (CSIRO), der staatlichen Behörde für wissenschaftliche Forschung. Zu den Errungenschaften der CSIRO gehören unter anderem die Atomspektroskopie und der Kunststoffgeldschein. Südwestlich der Stadt, am Rande des Tidbinbilla-Naturreservats, befindet sich der Canberra Deep Space Communication Complex, eine zum Deep Space Network gehörende Radarantennenstation. Im Jahr 2016 gab es in Canberra 132 Schulen, davon 87 staatliche und 45 private. Das Verhältnis der Schülerzahlen zwischen den staatlichen und privaten Schulen beträgt rund 60 zu 40 Prozent. Bei der Planung neuer Stadtteile achtete man darauf, dass in möglichst geringer Entfernung eine Vorschule und eine Grundschule vorhanden sind. Diese Schulen stehen in der Regel neben einer Grünfläche, um Sport und Spiel zu ermöglichen. Der Besuch der Vorschule ist zwar nicht obligatorisch, doch die meisten Kinder besuchen die von der Regierung finanzierten zwölf Wochenstunden. Die Grundschule umfasst sieben Klassen, den Kindergarten und die Jahre 1 bis 6. In den Schuljahren 7 bis 10 besuchen die Jugendlichen die High School, in den Jahren 11 bis 12 das College. Dies steht im Gegensatz zum Rest des Landes, wo die High School das 7. bis 12. Schuljahr umfasst. Medien Da Canberra als Hauptstadt auch das Zentrum des politischen Geschehens in Australien ist, sind in der Stadt alle wichtigen Medien mit Außenstellen vertreten. Dazu gehören die Australian Broadcasting Corporation, die kommerziellen Fernsehsender und die Zeitungen der übrigen Großstädte. Viele dieser Medien sind in der press gallery vertreten, einer Gruppe von Journalisten, die aus dem Parlament berichten. Der National Press Club of Australia in Barton überträgt häufig sein wöchentliches Mittagessen, bei dem ein prominenter Gast, üblicherweise ein Politiker, eine halbstündige Rede hält, gefolgt von einer Fragerunde. In Canberra erscheint eine Tageszeitung, die seit 1926 bestehende Canberra Times. Darüber hinaus erscheinen Gratiszeitungen für die einzelnen Stadtteile und einige Publikationen für besondere Interessengebiete. In der Stadt können mehrere analoge Fernsehstationen frei empfangen werden. Dazu gehören die Programme der öffentlich-rechtlichen Stationen ABC und SBS sowie die drei privaten Stationen Prime, WIN und Southern Cross. Ebenfalls frei empfangbar sind die digitalen Stationen ABC2 und SBS News. Foxtel bietet über Satellit zahlreiche Pay-TV-Programme an. Von TransACT sind Kabelfernsehen und Breitband-Internet erhältlich. In Canberra sind auch zahlreiche kommerzielle und nichtkommerzielle Radioprogramme empfangbar. Persönlichkeiten Literatur Weblinks Verwaltung des Australian Capital Territory (englisch) National Capital Authority (englisch) Einzelnachweise Hauptstadt in Australien und Ozeanien Planstadt Namensgeber für einen Marskrater Hochschul- oder Universitätsstadt in Australien Hauptort einer Verwaltungseinheit
Q3114
2,085.539489
98
https://de.wikipedia.org/wiki/Astat
Astat
Astat [] (von : „unbeständig, unstet“) ist ein radioaktives chemisches Element mit dem Elementsymbol At und der Ordnungszahl 85. Im Periodensystem steht es in der 7. Hauptgruppe bzw. der 17. IUPAC-Gruppe und zählt damit zu den Halogenen. Astat entsteht beim natürlichen Zerfall von Uran. Astat ist das seltenste natürlich vorkommende Element der Erde und muss bei Bedarf künstlich erzeugt werden. Geschichte Als Dmitri Mendelejew 1869 sein Periodensystem festlegte, sagte er die Existenz einiger zu dieser Zeit noch nicht entdeckter Elemente voraus, darunter eines, das den Platz unter Iod einnehmen würde. In der Folge versuchten einige Wissenschaftler dieses Element, das als „Eka-Iod“ bezeichnet wurde, zu finden. Im Jahre 1931 behauptete Fred Allison, er und seine Mitarbeiter am Alabama Polytechnic Institute (heute Auburn University) hätten das fehlende Element entdeckt, und gaben ihm die Bezeichnung Alabamine (Ab). Ihre Entdeckung konnte jedoch nicht bestätigt werden und wurde später als falsch erkannt. Ebenfalls auf der Suche nach einem Mitglied der Familie des radioaktiven Thoriums fand der Chemiker De Rajendralal Mitra im Jahre 1937 in Dhaka, Bangladesch (damals Britisch-Indien), zwei neue Elemente. Das erste nannte er Dakin (Eka-Iod), wohl nach der englischen Bezeichnung für Dhaka (Dacca), das andere Gourium. Beide Entdeckungen konnten jedoch nicht bestätigt werden. Der Name Helvetium wurde wiederum von dem Schweizer Chemiker Walter Minder vorgeschlagen, als er die Entdeckung des Elements 85 im Jahr 1940 ankündigte. Er änderte im Jahr 1942 jedoch seinen Vorschlag in Anglohelvetium. Bestätigt werden konnte die Entdeckung des Astats (altgriechisch ἀστατέω = „unbeständig sein“, aufgrund des radioaktiven Zerfalls) erstmals im Jahre 1940 durch die Wissenschaftler Dale R. Corson, Kenneth Ross MacKenzie und Emilio Gino Segrè, die es in der University of California künstlich durch Beschuss von Bismut mit Alphateilchen herstellten. Drei Jahre später konnte das kurzlebige Element von Berta Karlik und Traude Bernert auch als Produkt des natürlichen Zerfallsprozesses von Uran gefunden werden. Ihr Namensvorschlag Viennium wurde jedoch nicht bestätigt. Gewinnung und Darstellung Astat wird durch Beschuss von Bismut mit Alphateilchen im Energiebereich von 26 bis 29 MeV hergestellt. Man erhält dabei die relativ langlebigen Isotope 209At bis 211At, die dann im Stickstoffstrom bei 450 bis 600 °C sublimiert und an einer gekühlten Platinscheibe abgetrennt werden. Eigenschaften Bei diesem radioaktiven Element wurde mit Hilfe von Massenspektrometrie nachgewiesen, dass es sich chemisch wie die anderen Halogene, besonders wie Iod verhält (es sammelt sich wie dieses in der Schilddrüse an). Astat ist stärker metallisch als Iod. Forscher am Brookhaven National Laboratory haben Experimente zur Identifikation und Messung von elementaren chemischen Reaktionen durchgeführt, die Astat beinhalten. Mit dem On-Line-Isotopen-Massenseparator (ISOLDE) am CERN wurde 2013 das Ionisationspotenzial von Astat mit 9,31751(8) Elektronenvolt bestimmt. Isotope Astat hat etwa 20 bekannte Isotope, die alle radioaktiv sind; das langlebigste ist 210At mit einer Halbwertszeit von 8,3 Stunden. Verwendung Organische Astatverbindungen dienen in der Nuklearmedizin zur Bestrahlung bösartiger Tumoren. Astat-Isotope eignen sich aufgrund der kurzen Halbwertszeiten innerlich eingenommen als radioaktive Präparate zum Markieren der Schilddrüse. Das Element wird in der Schilddrüse angereichert und in der Leber gespeichert. Verbindungen Die chemischen Eigenschaften von Astat konnten aufgrund der geringen Mengen bisher nur mit Tracerexperimenten festgestellt werden. Sie ähneln stark denjenigen des Iods, wobei es aber ein schwächeres Oxidationsmittel ist. Bisher konnten diverse Astatide, Interhalogenverbindungen und organische Verbindungen nachgewiesen werden. Auch die Anionen der entsprechenden Sauerstoffsäuren sind bekannt. Wegen des im Vergleich zu anderen Halogenen elektropositiveren Charakters wird es von Silber nur unvollständig ausgefällt. Dafür existiert das komplexstabilisierte Kation At(Py)2 (Py=Pyridin), wodurch Astat auch kathodisch abgeschieden werden kann. Nachgewiesen wurde auch das Hydrid, Astatwasserstoff HAt. Sicherheitshinweise Einstufungen nach der CLP-Verordnung liegen nicht vor, weil diese nur die chemische Gefährlichkeit umfassen und eine völlig untergeordnete Rolle gegenüber den auf der Radioaktivität beruhenden Gefahren spielen. Auch Letzteres gilt nur, wenn es sich um eine dafür relevante Stoffmenge handelt. Literatur Eric Scerri: A tale of seven elements. Oxford University Press, Oxford 2013, ISBN 978-0-19-539131-2. Einzelnachweise Weblinks Halbmetall
Q999
284.518568
121235
https://de.wikipedia.org/wiki/Kommerz
Kommerz
Kommerz ist der veraltete Ausdruck für Handel und Verkehr, heute ist der Begriff negativ konnotiert und wird als Geschäftemacherei oder Profitgier verstanden. Etymologie Das Wort stammt ursprünglich aus dem Wort für „Handel“ (, aus , „mit(einander)“ und , „Handelsgut“) und gelangte über als Lehnwort ins Deutsche. Hier blieb es teilweise bis ins beginnende 20. Jahrhundert positiv besetzt. Bereits Meyers Konversations-Lexikon erachtete 1888 den Begriff für veraltet. Davon abgeleitet war im Deutschen Reich bis 1919 der Ehrentitel Kommerzienrat, verliehen nach erheblichen Stiftungen für das Gemeinwohl. In Österreich wird er heute noch als Berufstitel verliehen. Heutige Bedeutung Heute gilt Kommerz als „veraltet für Handel, Verkehr“ und ist ein „auf Gewinn bedachtes wirtschaftliches Interesse“, ebenso das Adjektiv „kommerziell“. Mit dem Kommerz wird eine Gewinnerzielungsabsicht verbunden. Dagegen ist im Englischen „commercial“ positiv belegt und wird als „kaufmännisch, wirtschaftlich“ interpretiert. Die heutige Commerzbank hieß bei ihrer Gründung am 26. Februar 1870 „Commerz- und Disconto-Bank “. Kommerz ist heute teilweise wieder positiv konnotiert etwa beim elektronischen Handel E-commerce. „Nicht-kommerziell“ wird als „ohne Gewinnerzielungsabsicht“ verwendet und steht im Kontext mit ehrenamtlicher, gemeinnütziger oder bloß kostendeckender Tätigkeit. Die Kommerzialisierung betrifft die Ausbreitung marktwirtschaftlicher Prinzipien auf ursprünglich nicht marktwirtschaftliche Bereiche wie Kultur, Kunst oder Sport. Literatur Einzelnachweise Abstraktum
Q26643
142.555566
42450
https://de.wikipedia.org/wiki/Kuopio
Kuopio
Kuopio ist eine Stadt in der finnischen Region Savo. Mit Einwohnern (Stand ) ist sie die neuntgrößte Stadt des Landes und die größte Stadt Ostfinnlands. Kuopio ist Verwaltungssitz der Landschaft Nordsavo, Universitätsstadt, Sitz eines orthodoxen Erzbischofs sowie eines evangelisch-lutherischen Bischofs, Wintersportort und beliebtes Ferienziel. Das Zentrum von Kuopio liegt auf einer Halbinsel am Kallavesi-See, das Stadtgebiet von Kuopio ist insgesamt 3700 Quadratkilometer groß. Geografie Kuopio liegt 390 Kilometer nördlich von Helsinki im Zentrum der ostfinnischen Landschaft Nordsavo. Nachbarstädte und -gemeinden von Kuopio sind Siilinjärvi und Lapinlahti im Norden, Rautavaara im Nordosten, Kaavi und Tuusniemi im Osten, Leppävirta im Süden, Suonenjoki im Südwesten, Tervo im Westen und Maaninka im Nordwesten. Mit den eng verbundenen umliegenden Gemeinden Karttula, Maaninka und Siilinjärvi hat sich Kuopio zur Verwaltungsgemeinschaft Kuopio zusammengeschlossen. Die Kernstadt von Kuopio liegt auf einer Halbinsel im Kallavesi-See im Schatten der 232 Meter hohen Puijo-Anhöhe. Der See liegt 82 Meter über dem Meeresspiegel. Die eigentliche Stadt nimmt aber mit einer Fläche von 45 Quadratkilometer nur einen Bruchteil des administrativen Stadtgebiets von Kuopio ein. Letzteres umfasst nach einer Reihe von Eingemeindungen eine Fläche von 3740 Quadratkilometern. Ein Großteil des Gebiets ist ländlich strukturiert. Mehr als ein Viertel der Fläche besteht aus Binnengewässern. Der mit Abstand größte See ist der Kallavesi, mit 478 Quadratkilometern der zehntgrößte See Finnlands. Ortschaften Außer der Kernstadt gehören zu Kuopio weitere Siedlungszentren (taajama): (Einwohnerzahlen zum 31. Dezember 2011): Kernstadt (82.268 Einwohner) Nilsiä (3.174 Einwohner) Karttula (925 Einwohner) Melalahti (797 Einwohner) Kurkimäki (682 Einwohner) Vehmersalmi (608 Einwohner) Pellesmäki-Vehmasmäki (508 Einwohner) Pihkainmäki (450 Einwohner) Hiltuanlahti (242 Einwohner) Syvänniemi (240 Einwohner) Toivala-Vuorela (146 Einwohner) Mit der Eingemeindung Maaninkas kamen die Dörfer Haatala, Halola, Hamula, Jynkänniemi, Kinnulanlahti, Kurolanlahti, Käärmelahti, Leinolanlahti, Lappetelä, Pohjois-Haatala, Tavinsalmi, Tuovilanlahti, Varpasmaa, Venäjänsaari, Vianta und Väänälä hinzu. Klima Geschichte Kuopio wurde erstmals 1552 urkundlich erwähnt, als auf Betreiben unter anderem von Mikael Agricola auf der Halbinsel Kuopionniemi, heute der Stadtteil Väinölänniemi, eine Kirche gebaut und ein Kirchspiel eingerichtet wurde. Im Jahr 1653 wurde Kuopio von dem schwedischen Statthalter Per Brahe zur Stadt erhoben, doch schon 1681 wurden die Stadtrechte wieder entzogen. Auf Erlass des schwedischen Königs Gustav III. wurde Kuopio am 17. November 1775 neu gegründet und zur Hauptstadt der neugeschaffenen Provinz Savo-Karelien bestimmt. 1809 kam Kuopio mit dem Rest des heutigen Finnlands zu Russland und wurde Teil des neugegründeten Großfürstentums Finnland. Durch die Provinzreform 1831 wurde die Provinz Savo-Karelien durch die Provinz Kuopio ersetzt. Durch den Bau des Taipalekanals 1840, des Konnuskanals 1841 und des Saimaakanals 1856 konnte man nun von Kuopio aus die Ostsee erreichen. Dieser Ausbau des Wasserweges beschleunigte das Wachstum der Stadt in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, so dass Kuopio sich zu einem wichtigen Binnenhafen und Handelszentrum entwickelte. Am 1. Oktober 1889 erreichte die Eisenbahn von Kouvola aus die Stadt. Mit der finnischen Unabhängigkeitserklärung von 1917 wurde auch Kuopio Teil der unabhängigen Republik Finnland. 1939 wurde die Stadt zum Sitz des evangelisch-lutherischen Bistums Kuopio. Im Winterkrieg und im Fortsetzungskrieg erfolgten verschiedene sowjetische Luftangriffe auf die Stadt, die insgesamt 38 Todesopfer unter der Zivilbevölkerung forderten, außerdem wurden 0,5 % der Wohnungen zerstört und 1,1 % schwer beschädigt. Nach dem Zweiten Weltkrieg wuchs die Stadt durch die Ansiedlung von Flüchtlingen aus dem an die Sowjetunion abgetretenen Karelien an. 1972 wurde die Universität Kuopio gegründet, welche 2010 mit der Universität Joensuu zur Universität Ostfinnland fusionierte. Durch die Provinzreform 1997 verlor Kuopio den Status der Provinzhauptstadt: Die einstige Provinz Kuopio wurde nun zu einem Teil der Provinz Ostfinnland mit der Hauptstadt Mikkeli. Ursprünglich umfasste die Stadt Kuopio nur das eigentliche Stadtgebiet und wurde von der Landgemeinde Kuopio umgeben. Mittlerweile hat sich das administrative Stadtgebiet aber durch eine Reihe von Eingemeindungen beträchtlich vergrößert. 1969 wurde die Landgemeinde Kuopio aufgelöst und zum größten Teil der Stadt Kuopio zugeschlagen. 1973 folgte die Eingemeindung von Riistavesi. 2005 wurde Vehmersalmi eingemeindet, 2011 Karttula und 2013 Nilsiä. Die jüngste Eingemeindung erfolgte am 1. Januar 2015 mit Maaninka. Politik Stadtrat Bei den Kommunalwahlen in Finnland 2021|Kommunalwahlen am 13. Juni 2021 lag wie nach den vorigen Wahlen die bäuerlich-liberale Zentrumspartei als stärkste politische Kraft leicht vor der konservativen Nationale Sammlungspartei. Während das Zentrum 14 Sitze im Stadtrat stellt, kommt die Sammlungspartei als zweitstärkste Partei auf 12 Sitze, gefolgt von den Sozialdemokraten mit zehn Abgeordneten. Ebenfalls im Stadtrat vertreten sind der Grüne Bund und die rechtspopulistischen Basisfinnen mit je acht Sitzen, das Linksbündnis mit vier Abgeordneten und die Christdemokraten mit zwei Vertretern. Neu ist die Partei Liike Nyt mit einem Mandat. Dike Wahlbeteiligung lag bei 49,7 %. Partnerstädte Kuopio pflegt mit 14 Städten Städtepartnerschaften: Sehenswürdigkeiten Orthodoxes Kirchenmuseum Im orthodoxen Kirchenmuseum sind Kirchenschätze aus den ehemals finnischen Klöstern Valamo, Konevitsa und Petsamo ausgestellt. Das Museum wurde 1957 gegründet und befindet sich seit 1969 in dem von Dag Englund entworfenen Gebäudekomplex, welcher zugleich Sitz des Verwaltungsrates der Orthodoxen Kirche Finnlands ist. Marktplatz Im Zentrum befindet sich der Marktplatz, der zu den lebhaftesten seiner Art in Finnland gehört. Der Markt wird an dieser Stelle bereits seit 1818 abgehalten. An der Nordseite steht das Stadthaus. Es wurde in den Jahren 1882 bis 1885 im Stil der Neorenaissance errichtet. An der Fassade ist der Baubeginn 1882 bezeichnet. Die Architekten waren F.A. Sjöström und Josef Stenbäck. Die heutige Farbgebung stammt aus dem Jahre 1974. Die Fassade trägt die Inschriften „Oikeus kansaa ohjelevi“ (Das Recht leite das Volk) und „Wapautta laki vartioivi“ (Das Gesetz wache über die Freiheit). Auf dem Markt befindet sich die 1902 im Jugendstil erbaute Markthalle, in welcher etwa 30 Geschäfte überwiegend regionale Produkte anbieten. An der Ostseite der Markthalle steht die bronzene Statue „Veljmies“ (Bruder) von 1959. Die Figur stammt von dem Bildhauer Heikki Konttinen, welcher mit der Statue 1957 einen Wettbewerb der Einzelhändler anlässlich des 175-jährigen Bestehens der Stadt Kuopio gewann. Die Figur wird alljährlich im Rahmen der Feierlichkeiten an Vappu, dem finnischen Maifeiertag, von den Studenten zunächst gewaschen und bekommt dann, begleitet vom Jubel vieler Zuschauer, eine Studentenmütze aufgesetzt. Auf der Westseite der Markthalle steht das Gegenstück zu der Veljmies-Statue, die Siskotyttö-Statue (Schwester) von Taru Mäntynen, welche ebenfalls Gegenstand der studentischen Tradition ist. Dom Der Dom von Kuopio ist seit 1851 Hauptkirche des Bistums Kuopio der Evangelisch-Lutherischen Kirche Finnlands. Er wurde von dem Stockholmer Architekten Pehr Wilhelm Palmroth entworfen. Mit dem Bau der Steinkirche begann man 1806. Wegen Ausbruch des Russisch-Schwedischen Krieges wurde er 1808 unterbrochen. 1812 wurde der Bau fortgesetzt und 1815 vollendet. Der Dom wurde 1816 geweiht. Der Grundriss entspricht dem eines griechischen Kreuzes. Das Altarbild „Jesus am Kreuz“ von 1843 stammt von Berndt Abraham Godenhjelm. Die Orgel wurde 1986 von der dänischen Firma Bruno Christensen & Sønner Orgelbyggeri installiert. Im Turm befinden sich zwei Glocken aus den Jahren 1928 und 1851. Restaurierungen erfolgten 1866, 1877, 1895, 1925 und 1961. Museen Eine der besten Fotografieausstellungen des Landes kann der Besucher im Victor-Barsokewitsch-Fotografiezentrum besuchen. Das Stadtmuseum am Snellman-Park zeigt die Stadtgeschichte sowie Naturausstellungen. In Kuopio befindet sich das Museum der finnischen Schriftstellerin und frühen Frauenrechtlerin Minna Canth. Das Wohnhaus des Philosophen, Journalisten und Staatsmannes Johan Vilhelm Snellman birgt heute das Snellman-Museum. Puijo-Turm Eine der Hauptsehenswürdigkeiten in Kuopio ist der 75 m hohe Puijo-Turm auf der bewaldeten Pujio-Höhe. Der Turm hat zwei Aussichtsplattformen und ein Drehrestaurant, welche einen eindrucksvollen Blick auf die finnische Seenlandschaft bieten. Unterhalb des Turmes befindet sich das Puijo-Sportzentrum mit der Puijo-Schanze. Weitere Sehenswürdigkeiten Naherholungsgebiet und Stadtteil Väinölänniemi mit Badestrand, Sportanlagen und dem ehemaligen Kasino Peräniemi Hafen von Kuopio Museumsviertel Alt Kuopio (Kuopion Korttelimuseo) Stadtbücherei Orthodoxe Kathedrale St. Nikolaus Kultur Das Tanzfestival „Kuopio Tanssii ja Soi“, bei dem sich Tanzfreunde aus aller Welt treffen, findet seit 1970 jedes Jahr im Sommer statt. Auf der Halbinsel Väinölänniemi wird seit 2003 das Rockfestival Kuopio Rockcock abgehalten. Seit 1997 findet am Hafen zudem jährlich ein großes Weinfestival statt. Essen und Trinken Die Spezialität der Region um Kuopio ist der Kalakukko, was wörtlich übersetzt so viel wie Fischhahn bedeutet. Dabei handelt es sich um eine Mischung aus Maränen beziehungsweise Barsch und Speck, die in Brotteig eingebacken ist. Infrastruktur Verkehr Kuopio besitzt einen Passagierhafen für Binnenschiffe. Früher war er bedeutender Handelshafen und bekannt für die Flotte der Binnendampfschiffe. Kuopio ist über den Taipalekanal, das Saimaa-Seensystem und den Saimaakanal mit dem Finnischen Meerbusen verbunden. Im Sommer legen Ausflugsdampfer in die Inselwelt der Umgebung ab und es gibt regelmäßige Schiffsverbindungen mit alten Dampfschiffen nach Heinävesi und Savonlinna. Der Dampfantrieb wurde allerdings durch Dieselmotoren ersetzt. Die VR-Yhtymä bietet vom Bahnhof Kuopio an der Strecke Kouvola–Kontiomäki direkte Bahnverbindungen von und nach Helsinki sowie Kaajani und Oulu. Der Flughafen von Kuopio (Rissala) liegt etwa 17 km nördlich von Kuopio und bietet folgende Verbindungen: Finnair – nach Helsinki (Flughafen Helsinki-Vantaa) – 7–8/Werktag, 4–5/Samstag, 5–6/Sonntag Blue1 (SAS) – nach Helsinki (Helsinki-Vantaa) – 3/Werktag, nicht am Samstag, 1/Sonntag Lehre und Forschung Seit 1972 (Aufnahme des Lehrbetriebs) existiert die 1966 formell gegründete staatliche Universität Kuopio (Kuopion yliopisto) mit derzeit etwa 6200 Studenten, seit 1992 die Fachhochschule Savonia, an deren Standorten in Kuopio 4700 Menschen studieren. Im Umfeld der Universität und des international renommierten Wissenschaftszentrums Kuopion Tiedelaakso sind mehrere Forschungsinstitute und Hochtechnologie-Unternehmen angesiedelt. Kuopio ist Vorreiter in der tierischen Biotechnologie, bei der Arzneimittelenentwicklung und in der Medizin- und Umwelttechnologie. Wirtschaft In Kuopio sind 3.529 Betriebe ansässig, darunter der Siilinjärvi-Karbonatitkomplex. Die Wirtschaft des ostfinnischen Handelszentrums wird von der Lebensmittel- und Metallindustrie sowie der Holzverarbeitung geprägt. Sonstiges Im Jahr 2001 war Kuopio der Austragungsort der Feuerwehrolympiade, die alle vier Jahre vom Weltfeuerwehrverband CTIF in verschiedenen Städten ausgetragen wird. Persönlichkeiten Einzelnachweise Weblinks Website der Stadt Kuopio Hochschul- oder Universitätsstadt Stadt als Namensgeber für einen Asteroiden Ersterwähnung 1552 Stadtrechtsverleihung 1653 Stadtrechtsaberkennung 1681
Q162279
157.15053
113151
https://de.wikipedia.org/wiki/Hochhaus
Hochhaus
Der Bautyp Hochhaus umfasst Bauwerke, die neben der Höhe auch über die Form definiert werden. Es sind vielgeschossige, vertikal orientierte Bauten, die häufig Wohn-, Büro- und Geschäftsfunktionen aufnehmen. Für Bauten ab einer Höhe von etwa 150 Metern wird auch die Bezeichnung Wolkenkratzer verwendet, wobei diese Höhenmarke je nach Zusammenhang und Region abweichen kann. Definition Deutschland In Deutschland definieren die Landesbauordnungen ein Gebäude überwiegend dann als Hochhaus, wenn der Fußboden mindestens eines Aufenthaltsraumes mehr als 22 Meter über der Geländeoberfläche zulässig ist, da Feuerwehrdrehleitern nur eine Nennrettungshöhe von 23 Meter erfüllen können. In Deutschland wird der Begriff Hochhaus in der Musterbauordnung (MBO) und in den meisten Landesbauordnungen in § 2, Absatz 4, Nummer 1 definiert. Für höhere Gebäude – also die Hochhäuser – sind zusätzliche Brandschutzvorkehrungen zu treffen, insbesondere der Bau zweier, abgetrennter Fluchttreppenhäuser. Die Anforderungen ergeben sich aus der Hochhausrichtlinie und werden überwiegend in den Bauordnungen und zusätzlichen Einzelverordnungen umgesetzt; in einzelnen Bundesländern regeln Hochhausverordnungen (HochhVO) die besonderen Ansprüche des Gesetzgebers an den Bau und Betrieb von Hochhäusern. Österreich Die Bauordnung für Wien definiert Hochhäuser als „Gebäude, deren oberster Abschluss einschließlich aller Dachaufbauten […] mehr als 35 m über dem tiefsten Punkt des anschließenden Geländes beziehungsweise der festgesetzten Höhenlage der anschließenden Verkehrsfläche liegt.“ Das Niederösterreichische Raumordnungsgesetz definiert Gebäude der Bauklasse IX mit über 25 m als Hochhaus. Das Bautechnikgesetz des Landes Salzburg definiert Hochhäuser als „Bauten mit einer Höhe von mehr als 25 m bis zum obersten Gesimse oder zur obersten Dachtraufe.“ Schweiz In der Schweiz definiert die Vereinigung der kantonalen Gebäudeversicherungen, die die wesentlichen Brandschutznormen herausgibt, Hochhäuser als Bauten, welche eine Gesamthöhe von mehr als 30 m aufweisen. In den 1920er Jahren entsprach im deutschen Sprachraum der Begriff „Turmhaus“ in etwa dem Ausdruck „Wolkenkratzer“ (englisch skyscraper). Formen Nach der Form wird zwischen Punkthochhäusern mit eher quadratischer und Scheibenhochhäusern (auch: Scheibenhaus) mit längsrechteckiger Grundfläche unterschieden (siehe z. B. Dreischeibenhaus in Düsseldorf). Wenn von einem zentralen Kern mit Treppenhaus und Aufzügen mehr als zwei (zumeist drei) Flügel rundum abgehen, spricht man vom Sternhochhaus. Es gibt auch Hochhäuser mit „T“-förmigem Geschossgrundriss. Das Windmühlenhochhaus kennzeichnet eine Bauart, die in der DDR (z. B. in Rostock) ausgeführt wurde und in neuerer Zeit häufig in China ausgeführt wird. Der Name leitet sich von der Grundrissfigur ab, die in ihrer symmetrischen Form an den Flügelkranz einer Windmühle erinnert. Geschichte Die Technik, Hochhäuser zu bauen, war in Europa schon im Mittelalter vorhanden, wie der Kirchenbau belegt. Die ersten bekannten Hochhäuser in der Art eines Muthauses (Wohnturm) wurden in Deutschland in der Region Südniedersachsen und Ostwestfalen bereits im 14. Jahrhundert erbaut, etwa das über 30 Meter hohe Muthaus in Hardegsen aus dem Jahr 1324. Es ist das älteste weltliche Bauwerk Niedersachsens in dieser Größe und besonders gut erhalten. Weitere bekannte Hochhäuser wurden im 16. Jahrhundert in der jemenitischen Stadt Schibam aus Holz und Lehm gebaut. Sie haben eine Höhe von bis zu 30 Metern bei bis zu neun Stockwerken. Als „erstes Hochhaus Europas“ kann man das 1624 fertiggestellte Augsburger Rathaus betrachten. Bei seiner Fertigstellung galt es als weltweit einziges bestehendes Gebäude mit mehr als sechs Stockwerken und war mit einer Höhe von 57 Metern für über 200 Jahre das höchste nicht sakrale Gebäude der Welt. Der Beginn des modernen Hochhausbaus im 19. Jahrhundert Bauwerke für nicht-religiöse Zwecke blieben in Europa bis Ende des 19. Jahrhunderts in aller Regel auf sechs Stockwerke begrenzt, weil Menschen nicht bereit waren, zu Fuß höhere Treppen zu steigen. Auch die Aufzugtechnik war – etwa im Bergbau – längst ausgereift, doch zögerten die meisten Menschen noch aus Angst vor einem Absturz, einen Fahrstuhl zu betreten. Den Durchbruch brachte die Erfindung der Sicherheitsfangvorrichtung für Fahrstühle durch Elisha Otis, die er 1854 spektakulär mit sich selbst als Versuchsperson vorführte. Eine weitere Voraussetzung für den Hochhausbau war die Skelettbauweise, auch wenn im Einzelfall Ende des 19. Jahrhunderts noch Hochhäuser gebaut wurden, die nur von ihrem Mauerwerk getragen wurden. Auch der Skelettbau war im Holzrahmenbau längst üblich. Im Industriebau wurden Eisenskelette schon Mitte des 19. Jahrhunderts verwendet; ein weiteres Vorbild war die Verwendung von Stahl im Brückenbau. Mit fallenden Stahlpreisen wurde die Stahlskelettbauweise auch für den Hochhausbau konkurrenzfähig. Heutzutage wird in der Regel die Fassade dem Stahlskelett, das auch große Fensterflächen ermöglicht, vorgehängt. Weitere für den Hochhausbau bedeutsame Innovationen waren eine feuerfeste Bauweise, um die sich besonders Peter B. Wight verdient machte. Das 1890 fertiggestellte Auditorium Building in Chicago erhielt erstmals eine Klimaanlage. Die treibende Kraft, immer größere Höhen anzustreben, waren jedoch die explodierenden Grundstückspreise in den Innenstädten. Allerdings musste hier meist im Bestand gebaut werden. Eine Ausnahme war Chicago, dessen Innenstadt im Großen Brand 1871 weitgehend abgebrannt war. Chicago wurde deswegen – neben New York City mit dem Stadtbezirk Manhattan – zu der US-amerikanischen Stadt, die zuerst von Hochhäusern geprägt wurde. Von 1890 bis 1894 entstand hier das Reliance Building, welches als Vorläufer der später den „internationalen Stil“ bestimmenden gläsernen Vorhangwandkonstruktion und als Meisterwerk der Ersten Chicagoer Schule gilt. Manhattan, New York City, als exemplarische Hochhausstadt Otis-Aufzüge ermöglichten es, zehn Stockwerke hoch zu bauen. Das 1890 eröffnete World Building des Zeitungsverlegers Joseph Pulitzer besaß zwar schon ein Stahlskelett, ruhte aber noch zum großen Teil auf seinem Mauerwerk, das an der Basis mehr als zwei Meter dick war. Im Stadtteil Manhattan von New York City steht das Fuller Building (oder Flatiron Building) von 1902 noch heute als Beispiel der frühen Skelettbauweise. Der wichtigste Projektentwickler dieser Zeit war A. E. Lefcourt, der allein mehr als 30 Gebäude baute, die meisten davon Hochhäuser. Die damit zusammenhängende Vernichtung historischer Gebäude führte ab 1913 zu einer Gegenbewegung, um das Aussehen der Fifth Avenue zu retten, die damals noch von den Stadthäusern reicher Bürger gesäumt wurde. Entscheidend wurde dann aber der Bau eines neuen Hauptquartiers für die Equitable Life Assurance Society, das einen großen Schatten warf. Daraufhin erließ die Stadt New York 1916 eine Bauordnung (zoning ordinance), die nur für 25 Prozent der Grundstücksfläche eine unbegrenzte Höhenentwicklung erlaubte, und für den Rest des Bauwerks eine mathematisch bestimmte Abtreppungsvorschrift enthielt. Sie prägte den Typ des New Yorker Art-déco-Hochhauses. Das von Cass Gilbert 1913 entworfene Woolworth Building wirkte hier stilbildend. Zahlreiche Hochhäuser dieses Typs wurden in der Hochkonjunkturphase knapp vor dem großen Börsenkrach vom Oktober 1929 geplant und bis in die ersten Jahre der Weltwirtschaftskrise errichtet, etwa William Van Alens Chrysler Building (1930) oder das lange Jahre als höchstes Gebäude der Welt firmierende Empire State Building. 1929 standen von den damals 377 Hochhäusern der USA mit mehr als 20 Stockwerken 188 in New York City. Der Zeichner Hugh Ferriss verbreitete in seinem 1929 erschienenen Buch The Metropolis of Tomorrow den Mythos dieser Art von „Wolkenkratzerstadt“, auch Metropolis, Fritz Langs Stummfilm von 1927 bezieht sich auf diese urbanistische Vision. New Yorks Bauordnung wurde allein von 1916 bis 1960 mehr als 2500-mal geändert. Das führte – neben der Weltwirtschaftskrise – dazu, dass ab etwa 1933 weniger Hochhäuser gebaut wurden. 1961 wurde ein neues Baurecht eingeführt, das für jeden Bezirk eigene Normen für den Hochhausbau festlegte. Die entscheidende Größe wurde die floor-to-area-ratio, also das Verhältnis der genutzten Innenfläche zur Grundstücksgröße. Der bis dahin für New York typische, abgestufte Baustil wurde durch einen Stil ersetzt, bei dem vor einem quaderförmigen Hochhaus eine Plaza liegt. Ab den 1950er Jahren erzeugten neue Bauprojekte einen immer größeren Widerstand, die ihren Ausdruck in Jane Jacobs’ Streitschrift The Death and Life of Great American Cities von 1961 fand. Sie forderte, dass Städte für Fußgänger zugänglich bleiben müssten und feierte als Ideal die gemischte Nutzung eines Stadtteils. Als Folge der Zerstörung der ursprünglichen Pennsylvania Station gründete der New Yorker Bürgermeister Robert Wagner 1962 die Landmarks Preservation Commission, die in ihrem ersten Jahr 1634 Gebäude unter Denkmalschutz stellte. Im Jahr 2008 war die Zahl der geschützten Gebäude auf über 27.000 gestiegen, ganze Stadtbezirke wurden unter Ensembleschutz gestellt. Jede äußere Veränderung an einem solchermaßen geschützten Gebäude muss von der Landmarks Preservation Commission genehmigt werden. Der Denkmalschutz ist damit zum wichtigsten Faktor geworden, der den Bau neuer Hochhäuser in New York City behindert. Die Skyline einer von Hochhäusern geprägten Stadt und die daraus hervorragenden Gebäude haben auch immer eine symbolische Funktion. So ist es kein Zufall, dass sich die Terroranschläge am 11. September 2001 vor allem gegen die höchsten Gebäude New Yorks, das World Trade Center, richteten. Renaissance des Hochhausbaus in Asien und Arabien Eine große Zahl von Einwohnern ist oft ohne Hochhäuser kaum unterzubringen, weswegen gegenwärtig die meisten Hochhäuser in Asien gebaut werden. Beispiele für asiatische Städte, die von ihrer Hochhaus-Skyline geprägt werden, sind Singapur und Hongkong. Von 1931 (Empire State Building) bis 2004 nahmen die Hochhausgrößen nur vergleichsweise langsam zu. Als Endpunkt dieser Entwicklung kann Taipei 101 in Taiwans Hauptstadt Taipeh gelten, aber auch die meisten anderen extrem hohen Hochhäuser, etwa die Petronas Towers in Kuala Lumpur, entstehen in Asien. Da viele asiatische Länder keine große Stahlindustrie haben, wird hier als Baustoff zunehmend hochfester Beton verwendet. Einen Größensprung stellt mit 828 Metern der Burj Khalifa in Dubai, Vereinigte Arabische Emirate dar. Eines der größten technischen Probleme ist bei dieser Größe die Windlast, weswegen sich solche Gebäude stark nach oben verjüngen. Im Prinzip könnte man noch erheblich höher bauen, nur die Aufzugtechnik stößt hierbei an Grenzen, weil das Gewicht der Aufzugseile kaum noch beherrschbar ist. In noch höheren Gebäuden müsste man auf der Fahrt nach oben also mindestens einmal umsteigen. Die Grenze wird gegenwärtig von der Ökonomie gezogen, da ab etwa einer Höhe von 50 Stockwerken die Gesamtkosten exponentiell zunehmen. Extrem hohe Hochhäuser werden deswegen in der Regel aus Prestige-Gründen gebaut und nicht, weil es sich rechnet. Deutschland Als erstes solitäres Hochhaus Deutschlands gilt meist das 1915 bis 1916 nach Plänen des Architekten Friedrich Pützer errichtete Turmhaus Bau 15 der Carl Zeiss AG in Jena. Es erreichte mit elf Geschossen eine Höhe von 43 Metern. Mit seinen rasterartig angeordneten Fenstern besitzt es eine an US-amerikanischen Vorbildern orientierte Fassade. Die ehemalige Zeiss-Produktionsstätte wird heute, nach umfassender Sanierung, für Büros, Wohnungen und Arztpraxen genutzt. Noch um einige Jahre älter ist das zehngeschossige Fabrik-Hochhaus der Auergesellschaft (später Osram) in Berlin-Friedrichshain aus dem Jahr 1909 – heute „Narva-Turm“ genannt und nach einer Aufstockung im Jahr 2000 nun 63 m hoch. Ob dieses Gebäude Anspruch auf die Bezeichnung als erstes deutsches Hochhaus hat, hängt aber von der Nutzung der (im ursprünglichen Zustand) zurückgestaffelten obersten Geschosse ab (vgl. Abschnitt „Definition“), über die anscheinend bislang nichts bekannt ist. Ein Großteil der frühen deutschen Hochhäuser in den 1920er Jahren entstand im Stil des Expressionismus. Als erstes, wenn auch deutlich niedrigeres, Bürohochhaus entstand das siebengeschossige Industriehaus Düsseldorf am Wehrhahn 1921 bis 1923 nach Plänen des Düsseldorfer Architekturbüros Tietmann & Haake. Ein weiteres frühes Hochhaus ist das Wilhelm-Marx-Haus, 1922 bis 1924 nach Plänen des Architekten Wilhelm Kreis ebenfalls in Düsseldorf errichtet (13 Geschosse, 57 Meter hoch). Das Hansahochhaus von Jacob Koerfer in Köln war ab 1925 mit seiner Höhe von 65 Metern bei 17 Geschossen einige Jahre lang das höchste profane Gebäude Europas. Der 1928 errichtete Tagblatt-Turm in Stuttgart mit seinen 18 Geschossen bei 61 Metern Höhe, ein neu-sachlicher Bau, entworfen von Ernst Otto Oßwald, gilt als das erste in Sichtbeton ausgeführte Hochhaus Deutschlands. Das ebenfalls 1928 fertiggestellte klinkerverkleidete Anzeiger-Hochhaus in Hannover des Architekten Fritz Höger hat eine Höhe von 50 Metern bei zwölf Etagen. In den Jahren 1927 bis 1929 entstand in Breslau mit dem dortigen Postscheckamt nach dem Entwurf des Regierungsbaumeisters und späteren Oberpostbaurats Lothar Neumann das erste Hochhaus in Europa östlich von Berlin. Der Baukörper wurde als Stahlskelettbau mit Ziegelausfachung von der Huta Hoch- und Tiefbau errichtet. Die Gebäudefassade erhielt als Schmuck keramische Reliefs mit bildlichen Darstellungen, die der Bildhauer Felix Kupsch anfertigte. Die Motive stellen Szenen aus das Leben der Stadtbewohner, Arbeiter und Studenten in Breslau dar oder zeigen historische Postillonköpfe. Ein weiteres frühes Hochhaus ist das in Eisenbeton und als Stahl-Skelettbau errichtete Hochhaus am Albertplatz in der Dresdner Äußeren Neustadt, das nach Plänen von Hermann Paulick 1929 erbaut wurde. Das erste Hochhaus Frankens entstand im Sommer 1930 durch Franz Kleinsteuber in Würzburg (Augustinerstraße) kurz vor der Fertigstellung des Karl-Bröger-Hauses von Karl Kröck in Nürnberg im Oktober 1930. Wiederum für die Firma Carl Zeiss entstand in den Jahren 1935 bis 1936 das „Ernst-Abbe-Hochhaus“ in Jena. Heute ist das Gebäude nach umfassender Sanierung Sitz der Jenoptik-Konzernverwaltung. Das Hochhaus mit seinen 16 Etagen und 66 m Höhe errichtete die Bauunternehmung Dyckerhoff & Widmann AG unter der Leitung von Johann Braun nach Plänen der Architekten Hans Hertlein und Georg Steinmetz. Ein Gauhaus Hamburg und eine Elbufergestaltung Hamburg, die Erich zu Putlitz 1937/38 in Form von Hochhäusern konzipiert hatte, kamen nicht zur Ausführung. Österreich Als erstes Hochhaus gilt das 1931/32 von der Baufirma Rella & Neffe AG nach Plänen des Büros Theiss & Jaksch errichtete Hochhaus Herrengasse, ein Wohn- und Geschäftshaus zwischen Herrengasse und Wallnerstraße im 1. Wiener Gemeindebezirk. Der größere Anteil des Komplexes, der nördlich am Loos-Haus am Michaelerplatz anschließt und an dessen Traufhöhe orientiert ist, ist 7 bis 9 Stockwerke hoch und wurde in Ziegel- bzw. Stahlbeton-Skelettbauweise mit Ziegelfüllung errichtet; der Hochhausteil, an der Ecke Herren- und Fahnengasse (unmittelbar an der heutigen U-Bahn-Station Herrengasse der U3), ist 52,5 m hoch (Erdgeschoss plus 15 Stockwerke) und wurde als Stahlskelett erbaut. Die obersten beiden Stockwerke stellen lediglich einen Stahl- und Glasaufbau dar, der ursprünglich als Tanzcafé genutzt wurde. Als erstes Hochhaus nach dem Zweiten Weltkrieg wurde von 1954 bis 1957 das Matzleinsdorfer Hochhaus als Wohnhaus in einer Gemeindebauanlage im 5. Wiener Gemeindebezirk errichtet. Von 1953 bis 1955 wurde am Wiener Schottenring der Ringturm, ein Bürogebäude der Wiener Städtischen Versicherung (heute Vienna Insurance Group), erbaut. Nach ersten Planungen aus 1956, und einer Bauzeit von 1962 bis 1967, wurde in Wels das Maria-Theresia-Hochhaus (78,8 m hoch, 24 Geschosse zum Wohnen, 2 für Geschäfte, 2 Keller) an der gleichnamigen Straße errichtet, für kurze Zeit das höchste in Österreich. Zuvor war das Elisabeth-Hochhaus in der Hugo-Wolf-Gasse in Graz mit 24 Wohnebenen und 75 m Höhe für kurze Zeit das höchste. Holz-Hochhaus Im November 2012 wurde in Dornbirn der 8-stöckige 27 Meter hohe LifeCycle Tower One (LCT ONE) gemäß Passivhausstandard errichtet. Es ist das weltweit erste Holz-Hybrid-Haus in Systembauweise. Der Gebäudekern ist in Stahlbeton errichtet, rundum folgen Glulam-Holzsteher überwiegend in Fassadenelementen und 8 m überspannende Deckenelemente aus Stahlbeton-Holzverbund. Außenwandfelder bestehen aus OSB-Platten, die Fassadenfront selbst zeigt kein Holz. Laut Projektbetreiber eignet sich das modulare Bausystem für Gebäude mit bis zu 30 Stockwerken und 100 Meter Höhe. Das mit 60 Meter höchste Holz-Hochhaus der Schweiz wurde in Rotkreuz erbaut und soll im September 2019 eröffnet werden. Anzahl an Hochhäusern in ausgewählten Städten *Inklusive Türme. *inklusive im Bau befindliche Hochhäuser Kritik Bis zu einer gewissen Höhe können Hochhäuser ökonomisch sein, etwa weil sie viel nutzbaren Raum im Verhältnis zur Grundfläche bieten. Ab einer bestimmten Höhe wird jedoch der Aufwand zur Errichtung der Gebäude unwirtschaftlich, weil die Kosten für Statik, Logistik, Energieversorgung usw. überproportional steigen. Experten wie Gerhard Matzig (der sich u. a. auf Albert Speer beruft) sehen die wirtschaftliche Grenze von Wolkenkratzern bei etwa 300 m. Was darüber hinausgeht, sei gemäß dem heutigen Stand der Technik irrational und diene nur dem Übertrumpfen anderer. Der Vorteil der Gewinnung von zusätzlicher Nutzfläche wird bei Hochhäusern mit einer Reihe von Nachteilen erkauft: Verschattung der Umgebung Durch ihre Höhe werfen Hochhäuser einen größeren Schatten als andere Gebäude auf ihre Umgebung. Dies führt in der Regel zu einer niedrigeren Aufenthaltsqualität in der Umgebung und den verschatteten Gebäuden. Fallwinde und Windhindernis Hochhäuser stellen ein Windhindernis dar. Die dadurch verursachte Abbremsung der Luftbewegung wirkt weit in die Umgebung des Hochhauses; bei zahlreichen und über die Stadt verteilten Hochhäusern führt der geminderte Luftaustausch zu höheren Schadstoffimmissionen. Auch die Aufheizung des versiegelten Stadtgebiets wird dann weniger durch den Luftaustausch mit der Umgebung gemildert. Nachdem die Windgeschwindigkeit grundsätzlich mit Höhe zunimmt, verursacht die Umlenkung des Windes durch die großflächigen Fassaden mitunter Fallwinde in unmittelbarer Nähe eines Hochhauses. Bei besonders hohen Gebäuden können die Fallwinde eine Stärke erreichen, die einen Aufenthalt in der Umgebung nahezu unmöglich macht. Unterbrechung von Sichtachsen Hochhäuser können durch ihre Wirkung gewachsene Sichtachsen historischer Städte und Orte empfindlich stören. Ebenso werden harmonische Linien und Traufhöhen von Straßenzügen unterbrochen. Hochhäuser können optisch ganze Stadtteile voneinander trennen. Energieverbrauch Eine große verglaste Fassade von Hochhäusern erhöht die Wärmeaufnahme im Sommer, besonders wenn das Hochhaus frei steht und damit auch in den Morgen- und Abendstunden viel Sonne „einfängt“. Dies und der mechanische Luftaustausch führen oft zu einem hohen Verbrauch von Energie für Klimaanlagen im Vergleich zu anderen Gebäudetypen. Seit einiger Zeit versuchen Hochhausplaner jedoch, durch bauliche und klimatechnische Maßnahmen die Energiebilanz der Gebäude zu verbessern. Mangelnde Beziehung zum öffentlichen Raum Die Anteilnahme von Bewohnern und Nutzern am Geschehen im öffentlichen Raum vor dem Haus lässt oberhalb der fünften Etage erheblich nach. Zudem werden die Verkehrsflächen durch die Zusammenballung im Nutzer-Rhythmus des Gebäudes stark belastet durch überdimensionale Garagenzufahrten, Anlieferung und temporäre Fußgängerströme. Die erforderlichen Abstandsflächen produzieren halböffentliche Räume. Eingeschränkte Nutzung Das Öffnen von Fenstern ist entweder von vornherein ausgeschlossen oder ab einer gewissen Höhe kritisch. Die Planung von Balkonen und Loggien von Wohnhochhäusern wird in den höheren Lagen problematisch. Mit zunehmender Höhe werden Notfalleinsätze für die Bewohner und Nutzer heikel. Fraglicher Flächengewinn Auch mit begrenzter Bauhöhe knapp unter der Hochhausgrenze lässt sich eine hohe bauliche Dichte erreichen, die dann bei in Europa üblichen Abständen zwischen den Hochhäusern nicht mehr wesentlich größer wird. Dies gilt besonders bei Verzicht auf natürliche Belichtung, wobei viele Arbeitsplätze in Hochhäusern mit großer Gebäudetiefe ebenfalls auf künstliche Belichtung angewiesen sind. Eine hohe bauliche Dichte in einem Hochhausviertel erfordert außerdem den Wegfall einer autogerechten Erschließung und den Verzicht auf sonst geforderte Abstandsflächen zwischen Gebäuden, was bei niedrigeren Gebäuden ebenfalls möglich wäre. Schließlich wird die nutzbare Fläche von Hochhäusern durch Technik-Etagen, Fahrstühle, tragende Pfeiler usw. gemindert. Listen von Hochhäusern Liste der höchsten Gebäude der Welt – die 200 höchsten der Welt Liste der höchsten Bauwerke ihrer Zeit Europa: Liste der höchsten Bauwerke in Europa/Liste der Hochhäuser in Europa, mit einem Abschnitt Index über die Gebäude nach Staat und Stadt Liste der Hochhäuser in Deutschland Liste der Hochhäuser in Österreich Liste der höchsten Bauwerke in der Schweiz Liste der Hochhäuser in Italien Liste der Hochhäuser in Ungarn Afrika: Liste von Hochhäusern in Afrika Amerika: Liste der höchsten Gebäude in Nord- und Zentralamerika, mit einem Abschnitt Index über die Gebäude nach Stadt Liste der höchsten Gebäude in den Vereinigten Staaten Liste der höchsten Gebäude in Südamerika Asien: Liste der höchsten Gebäude in Asien, mit einem Abschnitt Index über die Gebäude nach Region Liste der höchsten Gebäude im Nahen Osten Liste der höchsten Gebäude in der Volksrepublik China Ozeanien: Liste der Hochhäuser in Australien und Ozeanien Literatur Kai Eckart: Den Wolken entgegen. Die höchsten Türme Deutschlands. Herbert-Utz-Verlag, München 1998, ISBN 3-89675-902-7, (Das Buch zum kostenlosen Herunterladen.) Marianne Rodenstein (Hrsg.) Hochhäuser in Deutschland, Zukunft oder Ruin der Städte. Bonn 2000, ISBN 978-3-17-016274-7. Ernst Seidl (Hrsg.): Lexikon der Bautypen. Funktionen und Formen der Architektur. Philipp Reclam jun. Verlag, Stuttgart 2006, ISBN 978-3-15-010572-6. Film Big, Bigger, Biggest. Der Burj Dubai Wolkenkratzer. (OT: Skyscraper.) Dokumentarfilm, USA, 2011, 50 Min., Buch und Regie: Robert Hartel, Produktion: Windfall Films, National Geographic Channel, Reihe: Big, Bigger, Biggest, Erstsendung: 10. April 2008 bei National Geographic Channel – Der Burj Khalifa ist der bisherige Höhepunkt in der Hochhauskonstruktion, deren Entwicklungsschritte in sieben Stufen anhand der entsprechenden Pioniergebäude in Computeranimationen und Dokumentaraufnahmen nachgezeichnet werden. Weblinks Skyscraper Forum (englisch) mit deutschem Unterforum Wolfram Lübbeke: Hochhäuser. In: Historisches Lexikon Bayerns Einzelnachweise Bautypus Hochhaus
Q18142
84.163238
3570651
https://de.wikipedia.org/wiki/Jmol
Jmol
Jmol ist ein Computerprogramm zur räumlichen Darstellung von Molekülen. Es steht unter der GNU Lesser General Public License. Da es in Java programmiert wurde, ist es weitgehend plattformunabhängig. Ein Java-Applet von Jmol findet bei der Darstellung von Molekülen im Webbrowser Verwendung. beispielsweise innerhalb der Protein Data Bank. Es implementiert und erweitert die Standards SMILES und SMARTS. Die Software bietet verschiedene Darstellungsmöglichkeiten, wie Stab-, Kugel-Stab- und Kalottenmodell, Punktwolke und Van-der-Waals-Oberfläche. Auch Kristallstrukturen lassen sich darstellen. Vieles kann in Jmol mit der Maus gesteuert werden, beispielsweise lassen sich die Moleküle um alle Raumachsen drehen und in der Größe verändern. Außerdem kann man Atomabstände und Winkel vermessen. Darüber hinaus verfügt Jmol über eine eigene Scriptsprache, die Syntaxelemente von RasMol und MDL Chime geerbt hat. Weblinks wiki.jmol.org Einzelnachweise Anwendungssoftware Bioinformatik Chemiesoftware Freie Software Java-Programm
Q1689854
147.188861
114087
https://de.wikipedia.org/wiki/Mahabharata
Mahabharata
Das Mahabharata ( [] „die große Geschichte der Bharatas“) ist das bekannteste indische Epos. Man nimmt an, dass es erstmals zwischen 400 v. Chr. und 400 n. Chr. niedergeschrieben wurde, aber auf älteren Traditionen beruht. Es umfasst etwa 100.000 Doppelverse. Bedeutung Große indische Dichter, wie z. B. Kalidasa, haben immer wieder auf das Mahabharata sowie auf das Ramayana, das zweite große Volksepos Indiens, zurückgegriffen. Die Epen bilden zusammen mit den Puranas und anderen Werken als Bestandteile der Smritis den Kern der hinduistischen Überlieferung. Den bedeutendsten philosophischen Text des Mahabharata, die Bhagavadgita, zählt man oft zu den Shrutis, den Offenbarungsschriften. Zusammen mit dem tibetischen Epos des Königs Gesar gehört das Mahabharata zu den umfangreichsten literarischen Werken der Welt. Das Werk ist eines der wichtigsten Dharma-Bücher und darum für Hindus ein wichtiger Leitfaden. Es schneidet alle Aspekte hinduistischer Ethik an, weist einerseits orthodoxe Äußerungen auf, etwa über die Aufgaben der Kasten und Frauenpflichten, dann wiederum erhebt es an vielen Stellen heftigen Protest dagegen. Mit seiner großen Anzahl an Geschichten und Motiven sowie seinen unzähligen religiösen und philosophischen Parabeln wird die Bedeutung des Epos am besten mit dem Satz aus dem ersten Buch zusammengefasst: „Was hier gefunden wird, kann woanders auch gefunden werden. Was hier nicht gefunden werden kann, kann nirgends gefunden werden.“ Entstehung Das Mahabharata ist sowohl Heldenepos als auch ein bedeutendes religiöses und philosophisches Werk, dessen Ursprung möglicherweise in vedischer Zeit liegt. Traditionell wird der mythische Weise Vyasa als Autor angenommen, der in der Geschichte selbst eine Rolle spielt. Der Legende nach soll er es komponiert und dem elefantenköpfigen Gott Ganesha diktiert haben. Im Laufe der Jahrhunderte kam es immer wieder zu Veränderungen und Weiterentwicklungen des Werks, denn vieles wurde lange Zeit nur mündlich überliefert. Es besteht aus vielen Schichten, die sich im Laufe der Zeit anlagerten. Inhalt Das Mahabharata ist in achtzehn Kapitel und einen Appendix unterteilt und enthält neben der Hauptgeschichte hunderte von Nebengeschichten und kleinere Episoden. Grundsätzlich beschäftigt sich das umfangreiche Epos mit allen Themen, die im Hinduismus wichtig sind: mit dem Leben der Geschöpfe, mit Tod und Wiedergeburt, mit Karma und Dharma (Rechtschaffenheit), beschreibt Glück und Leid, die Ergebnisse der guten und der schlechten Taten, das Opfer, sowie die verschiedenen Zeitalter, es beschäftigt sich mit den Göttern und überliefert uralte Hymnen. Die Handlung beschreibt den Kampf der Kauravas mit den Pandavas, zweier verwandter Königsfamilien, auf dem Schlachtfeld in Kurukshetra (nördlich von Delhi). Es ist sehr wahrscheinlich, dass es sich im Kern um ein historisches Geschehen handelt, für viele Inder sind die Begebenheiten Tatsache. Der Kampf wird als schrecklicher Bruderkrieg dargestellt, bei dem viele Menschen starben. Er bildet auch den dramaturgischen Hintergrund der Bhagavad-Gita (Gesang Gottes). Die ältere Generation und die familiären Bindungen Ein Fürst aus dem alt-indischen Herrschergeschlecht der Bharatas hatte drei Söhne: Dhritarashtra, Pandu und Vidura. Der älteste, der blinde Dhritarashtra, konnte wegen seiner Blindheit den Thron nicht besteigen. Trotzdem übertrug der regierende Pandu nach einiger Zeit den Thron seinem blinden Bruder und zog sich mit seinen beiden Frauen Kunti und Madri in die Wälder zurück. Dort wurden ihm, bevor er starb, fünf Söhne geboren, die allesamt von Göttern gezeugten Pandavas (Söhne von Pandu): Yudhishthira, Bhima, Arjuna, sowie die Zwillinge Nakula und Sahadava. Der regierende blinde König Dhritarashtra hatte einhundert Söhne, die Kauravas (benannt nach dem Urahn Kuru) von denen der älteste, Duryodhana, zum Hauptgegenspieler der Pandavas wurde. Der Haupterzählstrang des Mahabharata beschäftigt sich mit dem Konflikt zwischen diesen beiden verwandten Familien und ihren Verbündeten. Die Söhne Pandus und Dhritarashtras werden zusammen am Hofe in Hastinapur erzogen. Ihre Lehrer sind Kripa und Drona. Schon bald zeigt sich, dass die Söhne Pandus ihren Cousins an Kraft, Geschicklichkeit und Geisteshaltung überlegen sind. Die Kauravas unter Führung von Duryodhana versuchen mehrmals ihre Cousins – die Pandava-Brüder – zu schädigen, um ihre eigenen Ansprüche durchzusetzen. Aber die Pandavas können entkommen und streifen einige Jahre zusammen mit ihrer Mutter Kunti als Asketen verkleidet umher. Am Ende dieser Zeit gewinnt Arjuna die Hand der Prinzessin Draupadi auf ihrer Gattenwahl. Doch aufgrund ihres vorbestimmten Schicksals und durch ein Missverständnis von Kunti wird sie zur Ehefrau aller fünf Pandavas. Denn als die fünf Brüder zu ihrer Mutter Kunti nach Hause kommen, meint diese, ohne aufzuschauen und ohne die neue Schwiegertochter bemerkt zu haben, sie sollten untereinander alles teilen, was sie mitgebracht hätten. Da einem Befehl der Mutter nicht widersprochen werden darf, heiratet Draupadi alle fünf Söhne, obwohl dies nicht Sitte ist und trotz der Bedenken des regierenden Königs Dhritarashtra. Das Würfelspiel, Exil und Rückkehr Im weiteren Verlauf der Geschichte besitzen die Pandavas und die Kauravas je ein Königreich, damit der Frieden gesichert werden kann. Aber die Kauravas organisieren ein Würfelspiel, in dem die Pandavas ihr gesamtes Königreich verlieren. Schließlich müssen die Pandavas zwölf Jahre lang im Exil leben und sich dann im dreizehnten Jahr unerkannt in der Gesellschaft aufhalten. Doch selbst nach diesen dreizehn Jahren verweigern die Kauravas unter der Führung von Duryodhana die Rechte der Pandavas, wobei sich auch der regierende blinde König Dhritarashtra mit seinem Beraterstab auf die Seite seiner Söhne stellt. Die Schlacht zu Kurukshetra So kommt es zum großen Krieg, bei dem elf Stämme auf der Seite der Kauravas gegen sieben auf der Seite der Pandavas kämpfen. Auch der mit beiden Familien verwandte König Krishna, von dem es heißt, dass er ein Avatar des Gottes Vishnu sei, beteiligt sich als Wagenlenker des Pandava Arjuna an der Auseinandersetzung. Vor Beginn der großen Schlacht vermittelt Krishna ihm die Lehren der Bhagavad-Gita. Schließlich, nach unsäglichem Leid auf beiden Seiten, gewinnen die Pandavas die Schlacht. Alle Söhne des blinden Königs Dhritarashtra sind tot. Das Ende der Pandavas Nach einigen Jahren gehen die Pandava-Brüder mit ihrer Frau Draupadi auf eine Pilgerreise in den Himalaya. Bis auf Yudhishthira sterben unterwegs nacheinander alle. Ihm schließt sich ein Hund an, der ihm bis zum Himmelstor folgt. Nun wird der Pandava geprüft und er muss seine Lieben unter Qualen in der Hölle finden. Doch als sich herausstellt, dass Yudhishthira eher bei seiner Frau, seinen Brüdern und dem Hund bleiben will, als ohne diese die himmlische Herrlichkeit zu genießen, fällt sein menschlicher Körper endgültig von ihm ab und er erkennt, dass alles ein Trugbild zu seiner Prüfung war. Deutung Wie in allen hinduistischen Epen sind auch im Mahabharata Gut und Böse nicht polarisiert: Die „Bösen“ zeigen immer auch gute, liebenswerte Eigenschaften, wogegen die „Guten“ auch Schwächen haben und notfalls zu List und Lüge greifen: So gilt etwa Yudhishthira, der Älteste der fünf Pandava-Brüder, als Verkörperung von Dharma, der Rechtschaffenheit. Im verzweifelten Kampf in Kurukshetra spricht er trotzdem eine bewusste Lüge, damit der unbesiegbare Drona seine Waffen endlich niederlegt und geschlagen werden kann. Daraufhin senkt sich sein Kampfwagen, welcher bis dahin immer darüber geschwebt ist, auf die Erde hinab. Diese Lüge trägt schließlich auch dazu bei, dass die große Schlacht, weit jenseits jeglicher Kriegerehre, in einem Blutbad endet. Stammbaum der Kurus Legende 1: Vyasa ist der Sohn des Weisen Parashara und der Fischerstochter und späteren Königin Satyavati. Er gilt der Legende nach als Verfasser des Mahabharata. 2: Bhisma ist der Sohn des Königs Shantanu und der „Göttin“ Ganga. Damit sein Vater Shantanu die Fischerstochter Satyavati nach dem „Weggehen“ von Ganga heiraten kann, schwört er, keinen Anspruch auf den Thron zu erheben und kinderlos zu bleiben. 3: Um die Königslinie des Geschlechts der Kuru zu erhalten sind Pandu und Dhritarashtra nach dem Tode des Königs Vichitravirya auf Wunsch der Königinmutter Satyavati von Vyasa gezeugt worden. 4: Die Pandavas sind als Söhne Pandus anerkannt (obwohl sie von verschiedenen Göttern gezeugt wurden). 5: Karna ist von Kunti vor der Heirat mit Pandu geboren worden; er ist ein Halbbruder von Yudhishthira, Bhima und Arjuna. Dies wissen die Drei jedoch nicht. Sie kämpfen gegeneinander. A: Kunti ist die erste Frau des Königs Pandu. Sie ist die Mutter von Yudhishhtira, Bhima, Arjuna und Karna. B: Madri ist die zweite Frau des Königs Pandu. Sie ist die Mutter der Zwillinge Nakula und Sahadeva. Nach dem Tode des Königs Pandu ist sie es, die mit dem Leichnam verbrannt wird (Witwenverbrennung). Struktur Das Mahabharata ist in achtzehn Parvas (Bücher, Kapitel) unterteilt: Adiparva – Einführung, Geburt und frühe Jahre der Prinzen Sabhaparva – Leben im Königshof, das Würfelspiel, und das Exil der Pandavas. Aranyakaparva (auch Vanaparva, Aranyaparva) – Die 12 Jahre im Exil. Virataparva – Das letzte Jahr im Exil Udyogaparva – Vorbereitungen für den Krieg Bhishmaparva – Der erste Teil des großen Kriegs, mit Bhisma als Kommandant der Kauravas. Dronaparva – Der Krieg geht weiter, mit Drona als Kommandant. Karnaparva – Wieder der Krieg, mit Karna als Kommandant. Salyaparva – Der letzte Teil der Schlacht, mit Salya als Kommandant. Sauptikaparva – Ashvattama und die letzten Kauravas töten die Pandava Armee im Schlaf. Striparva – Gandhari und andere Frauen trauern um die Toten. Shantiparva – Die Krönung von Yudhishthira, und seine Instruktionen von Bhishma Anushasanaparva – Die letzten Instruktionen von Bhisma. Ashvamedhikaparva – Die königliche Zeremonie oder Ashvameda, ausgeführt von Yudhisthira. Ashramavasikaparva – Dhritarashtra, Gandhari, Kunti gehen in ein Ashram, und sterben später Mausalaparva – Der Kampf unter den Yadavas. Mahaprasthanikaparva – Der erste Teil des Pfads zum Tod der Pandavas Svargarohanaparva – Die Pandavas erreichen die spirituelle Welt. Einige wichtige Geschichten und Texte, die Teil des Mahabharata sind: Bhagavad Gita – Die Lehren von Krishna an Arjuna, im Bhishmaparva. Nala und Damayanti – eine Liebesgeschichte, im Aranyakaparva. Savitri und Satyavan – eine Geschichte todesmutiger ehelicher Treue, im Aranyakaparva Krishnavatara – die Geschichte von Krishna. Rama – eine Zusammenfassung des Ramayana, im Aranyakaparva. Vishnu sahasranama – berühmte Hymne an Vishnu, im Anushasanaparva. Anugita – ein weiterer Dialog von Krishna mit Arjuna. Geschichte von Matsya, dem Fischavatar Vishnus, der in Gestalt des Fisches lehrt, im Varnaparva. Das Quirlen des Milchozeans – Erscheinen der Göttin Lakshmi aus dem Urmeer und Vishnus Avatar als Schildkröte (Kurma), im Adiparva Geschichtliche Hypothesen Manche früheren Historiker sahen im Kampf zwischen Kauravas und Pandavas die dichterische Verarbeitung des Konflikts zwischen arischen Stämmen, den Aryas, die, wie angenommen wird, ab etwa 1500 v. Chr. in Nordindien einwanderten, und der „Urbevölkerung“ Nordindiens. Dafür spricht die in den restlichen Teil der Erzählung eingefügte Philosophie der Bhagavad Gita, die den Kampf rechtfertigt. Diese Theorie verlor allerdings aufgrund archäologischer Funde und genetischer Untersuchungen die wissenschaftliche Unterstützung. Gegen die Theorie eines Krieges zwischen Ariern und Urbevölkerung spricht außerdem, dass es sich beim beschriebenen Kampf zwischen Pandavas und Kauravas um einen Kampf zwischen Verwandten handelte, was eher dafür spräche, dass er innerhalb der arischen Stämme stattfand. Die Historizität, und erst recht die Datierung des Mahabharata-Kriegs, ist unklar; archäoastronomische Kalkulationen, die ihn verschiedentlich auf 1478 v. Chr., 1924 v. Chr. oder 3137 v. Chr. festlegen, sind weitgehend diskreditiert. Im Jahr 3102 v. Chr. fängt nach hinduistischer Mythologie das Kali-Yuga an, das dunkle Zeitalter; es soll der Zeitpunkt von Krishnas Tod am Ende des Mahabharatas sein. Bearbeitungen Literarische Bearbeitungen Der Dichter Bhasa (vor dem 3. Jahrhundert) schuf eine Reihe dramatischer Bearbeitungen des Stoffes in Sanskrit, darunter: Madhyamavyayogam Dutavakyam Karnabharam Pancaratram Dutaghatolkacam Von Kalidasa (4. oder 5. Jahrhundert) behandeln folgende Werke den Mahabharata-Stoff: Shakuntala Kumarasambhava Frühe Poetiken liegen mit Dhvanyaloka von Anandavardhana (9. Jahrhundert) und Locana von Abhinavagupta (10.–11. Jahrhundert) vor. Verfilmungen Das Epos erfuhr seit der Stummfilmzeit zahlreiche Verfilmungen, überwiegend in den indischen Sprachen. Die wichtigsten davon sind: 1965: Mahabharat (Regie: Babubhai Mistri; u. a. mit Pradeep Kumar und Padmini) 1988–1990: Mahabharat (Regie: B. R. Chopra und Ravi Chopra) – 94-teilige Fernsehserie zu je 45 Minuten. Die Serie wurde über das nationale indische Fernsehen (Doordarshan) ausgestrahlt und war die populärste indische TV-Serie aller Zeiten (Die Serie ist auf 16 DVDs im Handel erhältlich; die 94 Episoden sind in Hindi mit englischen, französischen und spanischen Untertiteln versehen). 1989: Mahabharata (Regie: Peter Brook) 2012: Arjun The Warrior Prince (Digitalanimationsfilm, Regie: Arnab Chaudhuri) Vertonungen 1903: Nal'i Damajanti op. 47, Oper in drei Akten von Anton Arenski, Libretto von Modest Tschaikowski (dem Bruder von Pjotr Iljitsch Tschaikowski), dem Mahabharata in Wassili Schukowskis Übersetzung ins Russische, Uraufführung in Moskau. Weiteres Arjun : Warrior of Mahabharat ist ein von der Firma ServeSilicon Technologies entwickeltes Rollenaction-Spiel (2013). Literatur Kritische Ausgabe des Sanskrit-Textes: Vishnu S. Sukthankar, Shripad Krishna Belvalkar u. a.: The Mahābhārata. 19 Bde. mit 2 Indexbänden. Bhandarkar Oriental Research Inst., Poona 1933–1972. Es gibt keine komplette Übersetzung des Mahabharata aus der Originalsprache ins Deutsche. Als klassische Übersetzung ins Englische gilt: Kisari Mohan Ganguli: The Mahabharata of Krishna-Dwaipayana Vyasa. Indien 1883–1896. Zuletzt als 4-bändige Taschenbuchausgabe: Munshiram Manoharlal, Neu Delhi 2004, ISBN 81-215-0593-3 (Online-Edition) Eine Zusammenfassung des gesamten Epos bietet: Hermann Jakobi: Mahabharata, Inhaltsangabe, Index und Konkordanz der Kalkuttaer und Bombayer Ausgaben. Bonn 1903, Nachdruck: Hildesheim 1980, ISBN 3-487-07015-4. (Digitalisat) Deutsche Teilübersetzungen: Franz Bopp: Nalas und Damajanti. Berlin 1838 (Digitalisat) Franz Bopp: Indralokâgamanam. Ardschunas Reise zu Indras Himmel. Berlin 1824 (Digitalisat) Franz Bopp: Die Sündflut nebst drei andern der wichtigsten Episoden des Mahâ-Bhârata. Berlin 1829 (Digitalisat) Ernst Heinrich Meier: Nal und Damajanti. Stuttgart 1847. Paul Deussen: Vier philosophische Texte des Mahabharatam. Leipzig 1906 (Nachdruck: Bielefeld 1980, ISBN 3-88302-012-5). Georg von Simson (Hrsg.): Mahabharata. Die Große Erzählung von den Bharatas. in Auszügen aus dem Sanskrit übersetzt, zusammengefaßt und kommentiert. Verlag der Weltreligionen, Berlin 2011, ISBN 978-3-458-70031-9. Gitta Haselbacher: Mahabharata. Eine Nacherzählung. Yantra, Bregenz 2006, ISBN 3-901226-39-7 (vereinfachte Kurzfassung für Kinder). Otto Abt: Von Liebe und Macht. Das Mahabharata. Horlemann, Bad Honnef 2001, ISBN 3-89502-124-5. Biren Roy (Hrsg.): Mahabharata. Indiens großes Epos. Diederichs, Köln 1961, 10. Auflage 1995, ISBN 3-424-00576-2 (erstmals 1958 auf Englisch veröffentlicht). Samhita Arni: Das Mahabharata. Von einem Mädchen erzählt und gezeichnet. Nagel und Kimche, Zürich/Wien 1999, ISBN 3-312-00516-7 (indische Nacherzählung von 1996). Krishna Dharma: Mahabharata, Kurzfassung. Bhaktivedanta 2002. Studien: P. Ch. Roy: Mahabharata. Kalkutta 1889. Heino Gehrts: Mahabharata. Das Geschehen und seine Bedeutung. Bouvier, Bonn 1975, ISBN 3-416-01072-8. Anette Mangels: Zur Erzähltechnik im Mahabharata. Dr. Kovac, Hamburg 1994, ISBN 3-86064-123-9. C. A. Vaidya: Mahabharata criticism. A. J. Combridge & co., Bombay 1905. Amrita Narlikar, Aruna Narlikar: Bargaining with a Rising India: Lessons from the Mahabharata. Oxford University Press, Oxford 2014. Wilfried Huchzermeyer: Yogis, Yoginis und Asketen im Mahabharata. Karlsruhe 2008, ISBN 978-3-931172-26-8. Weblinks Text: Mahābhārata online – GRETIL (Göttingen Register of Electronic Texts in Indian Languages) transliterierter Sanskrittext von Hans Ruelius The Mahabharata – Muneo Tokunagas (Universität von Kyoto) Version des Sanskrittexts; erfordert Registrierung Kisari Mohan Ganguli: The Mahabharata of Krishna-Dwaipayana Vyasa – Indien 1896, englische Übersetzung mit Sanskrittext (Devanagari und Transliteration) Übersetzungen: Das Mahabharata des Krishna-Dwaipayana Vyasa – deutsche Komplettübersetzung Romesh C. Dutt: The Mahabharata, Condensed into English Verse – Indien 1899, engl. Übersetzung wichtiger Teile des Epos in Versform HolyBooks.com – Public Domain-Version des Mahabharata in 12 Bänden in englischer Sprache Hare-Krishna-Homepage: Das Mahabharata – 2000, Übersetzung der Hauptgeschichte Sonstiges: Andreas Markt-Huter: Mahabharata: Der große Kampf zweier indischer Königsdynastien – Österreich 2005, Zusammenfassung Duncan Watson: The Mahabharata: A Chapter by Chapter summary (PDF; 128 kB) – USA 1992, Kapitelüberschriften und -zusammenfassungen zu Gangulis Übersetzung Satya Chaitanya, Dr. Pradip Bhattacharya – Indien & USA, englisch, aktuelle Deutungen, Analysen, vergleichende Forschungen Dr. A. Harindranath: Mahabharata Resources Page – Indien, englisch u. a., umfangreiche aktuelle Quellen-Sammlung Anmerkungen Literarisches Werk Epos
Q8276
409.740457
7193
https://de.wikipedia.org/wiki/1300
1300
Ereignisse Politik und Weltgeschehen Heiliges Römisches Reich Oktober: Die Erzbischöfe von Köln, Mainz und Trier sowie der Pfalzgraf bei Rhein verbünden sich im ‚Heimbacher Kurverein‘ (s. Belagerung von Bensheim) gegen König Albrecht I. mit dem Ziel seiner Absetzung. Der böhmische König Wenzel II. wird als Wenzel I. auch König von Polen. England um 1300: Das englische Königreich unter Eduard I. entwickelt sich in noch ausgeprägterer Weise als Frankreich zu einem Ständestaat, in dem neben der monarchischen Spitze die Ständevertretung einen beachtlichen Einfluss auf die Regierungstätigkeit ausübt. Asien Die Osmanen beginnen damit, Kleinasien zu unterwerfen. Stadtrechte, urkundliche Ersterwähnungen, Bevölkerungszahlen Lich, Lichtenau (Baden), Moers und Wittlich bekommen Stadtrechte verliehen. Erste urkundliche Erwähnung von Dittingen, Iznang, Krattigen, Niebelsbach, Tairnbach, Reutigen und Unterheimbach. Venedig zählt etwa 100.000 Einwohner. In Mittel- und Westeuropa (Deutschland, England, Frankreich) steigt die Bevölkerung seit dem Jahr 1000 von etwa 12 Millionen auf jetzt ca. 36 Millionen an. Für ganz Europa wird die Bevölkerung auf 60 bis 70 Millionen geschätzt. Bilbao im heutigen spanischen Teil des Baskenlandes wurde am 15. Juni 1300 gegründet. Wirtschaft In Kuttenberg wird erstmals der Prager Groschen geprägt. um 1300: Die Messen zu Brügge (Stapelplatz für englische Wolle), Antwerpen, Lyon und Genf gewinnen stark an Bedeutung. um 1300: Ypern entwickelt sich in scharfer Konkurrenz mit den anderen Städten Flanderns zu einer der einwohnerreichsten Städte Europas. ab 1300: Mit dem ersten Bau von Hüttenöfen, die eine ferne Ähnlichkeit mit Hochöfen haben, gelingt in Europa die Gusseisenerzeugung. um 1300: In vielen Städten des Mittelalters werden Dirnen zu Zünften zusammengeschlossen. Wissenschaft und Technik bis 1300: Wassergetriebene Gebläse, Trittwebstuhl um 1300: An Höfen und in Städten bildet sich ein Apothekerstand in Deutschland. um 1300: Brillenherstellung in Italien (s. Venedig): Der Dominikaner Giordano da Rivalto erwähnt in diesem Jahr in einer Predigt in Florenz: „Es ist noch nicht zwanzig Jahre her (1280), dass die Kunst der Verfertigung von Brillen, die besseres Sehen vermitteln, eine der nützlichsten Künste der Welt, erfunden wurde. Ich habe selbst denjenigen gesehen, der sie erfunden und zuerst fertigte, und mich mit ihm unterhalten.“ um 1300: Arnaldus de Villanova gewinnt durch Destillation von Wein erstmals weitgehend reines Ethanol. um 1300: Der Wasserturm Luzern, heute ein Teil der Kapellbrücke in Luzern, wird errichtet. um 1300: In Italien entstehen Portolane, genordete Karten, auf denen die entsprechenden Gebiete sowie Häfen, Ankerplätze und zum Teil auch Entfernungen eingetragen sind (nach anderen Quellen zw. 1150 und 1250). um 1300: mappae mundi: Hereford-Karte und Ebstorfer Weltkarte Kultur Die Universität Lleida (s. Lleida) wird zwischen 1297 und 1301 gegründet. Funde von Hunderten von Holzklötzchen auf dem Boden einer Tempelhöhle, die auf dieses Jahr datiert werden, zeigen, dass auch bei den Uiguren bereits mit beweglichen Lettern gedruckt wurde. Giotto führt aufgrund der Jubiläumsfeiern (s. u.) Fresken in der Loggia des Lateranpalastes in Rom aus. Hugo von Trimberg vollendet das größte Lehrgedicht seiner Zeit (mehr als 24.000 Verse), „Der Renner“. Dante ist einer der sechs Priori in Florenz. um 1300: Am Kölner Dom dürfte der Hochchor mit seinem reichen Strebewerk baulich vollendet sein. um 1300: Die Mainauer Naturlehre, ein Versuch, das naturwissenschaftliche Wissen der Zeit in deutscher Prosa zusammenzufassen, entsteht (s. Weblinks). um 1300: Die Manessische Liederhandschrift entsteht. um 1300: Der Codex Vindobonensis 2696 entsteht. um 1300: Das Naglersche Fragment entsteht. Religion 22. Februar: Papst Bonifatius VIII. ruft in Rom von der Loggia des Lateran herab das erste Heilige Jahr aus, das am Weihnachtsfest des Jahres 1300 beginnt. In der päpstlichen Bulle Antiquorum habet wird festgelegt, dass allen Römern, die die Basiliken St. Peter und St. Paul dreißigmal, und allen auswärtigen Pilgern, die diese Stätten fünfzehnmal besuchen, ein vollkommener Ablass gewährt wird. Die fünffache Menge der üblichen Pilger kommt in diesem Jahr nach Rom (insgesamt 200.000 nach Angabe des Chronisten Giovanni Villani), sodass sich der Papst gezwungen sieht, eine Regelung für die Nutzung der Engelsbrücke vorzugeben: die Pilger haben Linksverkehr einzuhalten. Die Stadt leidet durch den großen Ansturm der Pilger an zwei Hungersnöten, eine im späten Frühjahr, eine im Herbst. Pfingsten: Auf dem Generalkapitel der Dominikaner in Marseille wird beschlossen, dass alle Konventsprioren der Provinz Teutonia von ihren Ämtern absolviert werden. Sollte Meister Eckhart nach 1298 noch Prior des Erfurter Konvents geblieben sein, so muss er spätestens jetzt dieses Amt abgeben. 18. Juli: Gerardo Segarelli, der Stifter der kirchenkritischen Apostelbrüder, wird wegen Häresie in Parma auf dem Scheiterhaufen verbrannt. In mehreren Sendschreiben erklärt sich daraufhin Fra Dolcino zum neuen Anführer der Bewegung. Friedrich I. Man von Honstädt wird Bischof von Verden. Johannes von Paris, Mitglied des Dominikanerkonvents St. Jacques in Paris, schreibt Über den Antichrist und (ab 1300) Über die Ankunft Christi. Nikolaus von Lyra tritt etwa 30-jährig in den Orden der Franziskaner ein. Nach der Verbrennung des Begründers der Apostelbrüder, Gerardo Segarelli, übernimmt Fra Dolcino deren Führung. In zwei 1300 und 1303 verfassten Sendschreiben kündigt er eine unmittelbar bevorstehende Vernichtung der verderbten, zur „babylonischen Hure“ gewordenen Kirche an. König Philipp IV. ermöglicht dem Orden der Cölestiner eine neue Heimstatt in Frankreich. um 1300: Johann von Jandun ist das geistige Haupt des lateinischen Averroismus an der Universität Paris, der die arabische Aristotelesinterpretation des Averroes übernimmt. Einer seiner Schüler ist Marsilius von Padua. um 1300: In ganz Europa gibt es etwa 700 Männer- und vielleicht noch mehr Frauenklöster der Zisterzienser. um 1300: Der Dominikanerorden verfügt über ca. 10.000 Brüder in über 550 Konventen. um 1300: Der Franziskanerorden zählt etwa 30.000 Mitglieder. In jeder größeren europäischen Stadt gibt es einen Konvent. nach 1300: Wilhelm von Paris (s. 1299), ebenfalls Mitglied von St. Jacques, verfasst ein katechetisches Handbuch Dialogus de septem sacramentis, das weite Verbreitung findet. Historische Karten und Ansichten Geboren Geburtsdatum gesichert 1. Juni: Thomas of Brotherton, Sohn von Eduard I. von England († 1338) 27. September: Adolf, Graf von der Pfalz († 1327) 29. Oktober: John Grey, englischer Adeliger, Militär und Höfling († 1359) Genaues Geburtsdatum unbekannt Januar oder Februar: Roger de Clifford, englischer Magnat und Rebell († 1322) Arnaud de Cervole, berüchtigter französischer Brigant während des Hundertjährigen Krieges († 1366) Heinrich, Markgraf von Hachberg-Sausenberg († 1318) Jeanne de Belleville, Piratin († 1359) Johann III., Herzog von Brabant und Limburg († 1355) Johannes Gobi, christlicher Autor († 1350) John Mercer, schottischer Händler, Finanzier und Politiker († 1379/1380) Johanna von Pfirt, Herzogin von Österreich († 1351) Qutugku Khan, Kaiser von China († 1329) Robert, Pfalzgraf von Burgund († 1315) Loretta von Sponheim, Gräfin († 1346) Geboren um 1300 Johannes Buridan, französischer Philosoph, Physiker und Logiker († kurz nach 1358) John de Clinton, englischer Adeliger und Politiker († 1335) Matteo Giovannetti, italienischer Maler († nach 1369) Ernst von Pardubitz, tschechischer Geistlicher, Politiker und Erzbischof von Prag († 1364) Heinrich Truchsess von Diessenhofen, Kleriker und Chronist († 1376) Jordan von Quedlinburg, deutscher Augustiner, Schriftsteller und Prediger († 1380) (s. Weblinks) Margaret Wake, englische Adelige († 1349) 1300/1305: Guillaume de Machault, französischer Komponist und Dichter († 1377) Gestorben Erstes Halbjahr 1. Januar: Giacomo Tomassi-Caetani, Kardinal der katholischen Kirche 5. Januar: Wok I. von Krumau, böhmischer Adeliger Februar: Munio von Zamora, spanischer Dominikaner und Bischof von Palencia (* 1237) um den 10. April: John Wake, 1. Baron Wake, englischer Adeliger (* 1268) Zweites Halbjahr 18. Juli: Gerardo Segarelli, italienischer Sektenführer, Gründer der Apostelbrüder, als Häretiker verbrannt (* um 1240) 15. September: Konrad von Braunschweig-Lüneburg, Bischof von Verden vor dem 25. September: Edmund, englischer Magnat (* 1249) 1. November: Ulrich I. von Falkenstein, Adeliger 2. November: Bertho III. von Mackenzell, Fürstabt des Klosters Fulda (* um 1240) November/Dezember: Johann von Montfort-Castres, französischer Adeliger, Graf von Squillace, sowie Herr von Castres, La Ferté-Alais und Bréthencourt um den 4. Dezember: Albrecht III., Markgraf von Brandenburg (* um 1250) vor dem 19. Dezember: Johannes von Schwerin, Erzbischof von Riga Genaues Todesdatum unbekannt Guido Cavalcanti, italienischer Dichter (* um 1255) Gottfried von Cremon, Lübecker Ratsherr Marquard Hildemar, Bürgermeister der Hansestadt Lübeck Johann I., Burggraf von Nürnberg (* um 1279) Petrus, Bischof von Cammin Hinrich Steneke, Bürgermeister der Hansestadt Lübeck Trần Hưng Đạo, vietnamesischer General (* um 1228) Tschaka Nogai, mongolischer Fürst und Zar von Bulgarien Weblinks Meister Eckhart und seine Zeit: Mainauer Naturlehre, Jordan von Quedlinburg
Q5609
134.336466
82675
https://de.wikipedia.org/wiki/Kinki
Kinki
Kinki (jap. , etwa „nahe der Hauptstadt“) ist eine Region in Japan. Eine andere, heute oft austauschbare Bezeichnung ist Kansai (, etwa „westlich der Grenze“). Sie liegt im Westteil Honshūs, der Hauptinsel Japans, und bildet das kulturelle, demographische, wirtschaftliche und politische Zentrum Westjapans, in früheren Epochen zeitweise auch ganz Japans. Der Name Kinki rührt daher, dass bis zur Meiji-Restauration die meisten japanischen Kaiserstädte, zuletzt Kyōto, in dieser Region lagen. Der Name Kansai bezog sich ursprünglich auf die Region westlich einer bestimmten Grenzlinie, die sich über die Zeitalter aber mehrfach verschob, ähnlich wie bei Kantō („östlich der Grenze“). Definitionen Kinki umfasst je nach Auffassung und Gesprächssituation die Metropolregion um die drei Städte Osaka, Kōbe und Kyōto, meistens aber die Gesamtheit der sogenannten Stadtpräfekturen (, -fu) Kyōto und Osaka sowie die Präfekturen (, -ken) Nara, Wakayama, Hyōgo und Shiga, mithin auch einschließlich Mie, Tokushima und Fukui. Die Region Keihan (Kyōto–Osaka) wurde während der Edo-Zeit auch als Kamigata () bezeichnet, was übersetzt in etwa „höherer Ort“ bedeutet und sich auf Kyōtos Funktion als Residenzstadt des Kaisers bezieht. Die genaue Definition variiert. Zu unterscheiden sind: die geographisch/verwaltungstechnisch definierte Region Kinki (, Kinki-chihō), die mehrere Präfekturen als Ganzes umfasst, in einigen verschiedenen Definitionen verschiedene Präfekturen, in traditionellen Regionaleinteilungen aber Osaka, Kyōto, Hyōgo, Nara, Mie, Shiga und Wakayama, wobei Mie in einer Reihe von Kontexten stattdessen zu Tōkai/Chūbu/Zentral-/Ostjapan gerechnet wird, dafür teilweise Fukui, Tokushima und/oder Tottori zu Kinki/Kansai/Westjapan, eine politisch/verwaltungstechnisch definierte Region bildet der Zweckverband Kansai, ein Zusammenschluss mehrerer Präfekturverwaltungen, eine ebenfalls politische, sehr weitgehende Definition findet sich bei der regionalen Gouverneurskonferenz Kinki block chijikai (), der seit 2008 die Gouverneure aller oben genannten Präfekturen angehören, analog und explizit auch bei der „Konferenz der 10 Präfekturparlamentspräsidenten [bzw. buchstäblicher: Präsidenten der Parlamente von zwei -fu und acht -ken] von Kinki“ (, Kinki 2 fu-, 8-kengikai-gichōkai), der Wahlkreis/„Block“ Kinki für Verhältniswahlsitze bei nationalen Unterhauswahlen umfasst Osaka, Kyōto, Hyōgo, Nara, Shiga und Wakayama, deckungsgleich ist auch der Zuständigkeitsbereich mehrerer Außensstellen Kinki/Osaka von Ministerien und Behörden der Nationalregierung, der Gerichtsbezirk des Obergerichts Osaka, das Sendegebiet Kinki des öffentlich-rechtlichen Rundfunksenders NHK, die Region Kinki in Wetterberichten des staatlichen Wetterdienstes und die Polizeiaufsichtsregion Kinki der nationalen Polizeibehörde, die nach Bevölkerungsstatistiken definierte Metropolregion Kinki (, Kinki-daitoshiken), die Gebiete mit hohem Pendleranteil um die zentralen Städte Kyōto, Osaka, Kōbe und seit der Ernennung zur Großstadt auch Sakai umfasst und nach dem sinojapanischen Sammelbegriff für die ursprünglichen drei Großstädte oft auch als Keihanshin () bezeichnet wird (aus , dem ersten Kanji von , , dem zweiten Kanji von , und , dem ersten Kanji von ). Das völlig verstädterte Gebiet um die drei wichtigsten Städte Kyōto, Osaka und Kōbe zählt etwa 24,1 Millionen Einwohner und ist damit nicht nur die zweitgrößte Metropolregion Japans, sondern (laut Fischer-Weltalmanach) auch die dreiundzwanzigstgrößte der Welt. In der Endphase des Zweiten Weltkriegs, als Regionen 1945 in Form von „Regionalgeneralgouvernementen“ () als Verwaltungseinheiten der Reichsregierung genutzt wurden, bestand Kinki aus den sieben Präfekturen Shiga, Kyōto, Osaka, Hyōgo, Nara, Wakayama und Fukui; Sitz des chihō sōkanfu von Kinki war die Stadt Osaka. Regionale Besonderheiten Im Gegensatz zur Kantō-Region ist Kinki polyzentrisch: Kyōto als kultureller Mittelpunkt, Osaka als Handelszentrum und kulinarische Hauptstadt, Kōbe als moderne und internationale Großstadt und viele weitere Städte von historischer Bedeutung wie Nara. Die Region, vor allem Osaka, ist in Japan für ihren Humor bekannt und beliebt. Der lokale, stark ausgeprägte Kansai-Dialekt ist eine landesweit berüchtigte Mundart und sorgt im Norden des Landes für ähnliches Schmunzeln, wie es etwa Bayerisch in Norddeutschland verursachen mag, wenngleich besonders die Osaka-Variante des Kansai-ben eher Züge der Berliner Schnauze aufweist. Das Städtepaar Ōsaka () und Kōbe () wird zusammen als Hanshin () bezeichnet, gebildet aus dem zweiten Schriftzeichen von Ōsaka und dem ersten von Kōbe. Dieser Begriff bezeichnet z. B. die Autobahn zwischen beiden Städten und findet sich u. a. im Namen der entsprechenden Eisenbahngesellschaft und des Baseballteams Hanshin Tigers wieder. Ähnlich bezieht sich Keihan () auf die Städte Kyōto () und Osaka, Hanna () auf Osaka und Nara () und Keihanshin () auf das Trio der größten Städte der Region. Deren Metropolregion umfasst 13.033 km² und 19,3 Mio. Einwohner (2015). Geschichte In der kaiserlichen Ritsuryō-Verwaltung des 7. Jahrhunderts nach chinesischem Vorbild bestand Kinai (, etwa: Hauptstadtinneres) aus fünf Provinzen und war das Zentrum des Gokishichidō-Systems: Provinz Izumi Provinz Settsu Provinz Yamato Provinz Kawachi Provinz Yamashiro Alternativbezeichnungen sind Gokinai (, etwa „Inneres der fünf Hauptstadtgebiete“) oder Goki (, „fünf Hauptstadtgebiete“). Ursprünglich bezeichnete man mit Kantō die östlichen Reichskreise (-dō), an den gleichnamigen Hauptstraßen (-dō) östlich der Grenzstationen zur Provinz Ise (Tōkaidō), zur Provinz Ōmi oder Mino (Tōsandō) und zur Provinz Echizen (Hokurikudō). Im japanischen Mittelalter, als mit Kamakura erstmals ein Regierungssitz in Ostjapan lag, verschob sich die Westgrenze von Kantō nach Osten, außerdem kam Kansai als Gegenbegriff auf. In der frühen Neuzeit/Edo-Zeit diente schließlich die Grenzstation Hakone in der Provinz Sagami (heute Präfektur Kanagawa) als Westgrenze von Kantō; Kansai blieb als Gegenbegriff aber die Region um Kyōto und Osaka. Weblinks Einzelnachweise Ehemalige Verwaltungseinheit (Japan) Region in Asien Region in Japan
Q164256
330.269409
95107
https://de.wikipedia.org/wiki/T%C3%B6pfchenpilze
Töpfchenpilze
Die Töpfchenpilze (Chytridiomycota), oder auch Flagellatenpilze genannt, bilden eine Abteilung meist einzelliger Organismen innerhalb des Reichs der Pilze (Fungi). Der Name leitet sich aus dem Griechischen ab (χυτρίδιον chytrídion = Töpfchen), mit Chytridium wird die morphologische Struktur zur Aufbewahrung der noch nicht freigelassenen Zoosporen bezeichnet. Für eine Weile wurden die Töpfchenpilze wegen des Vorhandenseins begeißelter Stadien im Lebenszyklus nicht als Pilze angesehen, heute gilt ihre enge Verwandtschaft mit den anderen Pilzgruppen aber als sehr wahrscheinlich. Ihre stammesgeschichtliche Schwestergruppe bilden entweder die Jochpilze (Zygomycota) oder alle anderen Pilzgruppen zusammen. Möglicherweise sind die Töpfchenpilze auch paraphyletisch in Bezug auf die Jochpilze, das heißt bestimmte Arten von Töpfchenpilzen sind näher mit bestimmten Jochpilzen verwandt als mit anderen Töpfchenpilzen. Aufbau Die Zellwände der Töpfchenpilze enthalten Chitin, manchmal auch noch Zellulose. Ihr Thallus, der undifferenzierte und bei parasitischen Arten tief im Wirt verankerte Pilzkörper, enthält einen bis viele Zellkerne, die nicht durch Zellwände (Septen) voneinander getrennt im Zellplasma liegen. Eine Ausnahme bilden hier nur die Sporangien genannten sporenbildenden Strukturen, die durch eine spezielle Zellwand vom Rest des Thallus abgekapselt sind. So wird verhindert, dass beim Entleeren der Sporen aus dem Sporangium der Rest des Thallus ausläuft. Daneben existieren gelegentlich so genannte Pseudosepten, die sich von echten Septen in den Details ihrer Struktur unterscheiden und die Zellräume der einzelnen Kerne nur unvollständig voneinander abtrennen. Stoffwechsel Töpfchenpilze leben wie viele Pilze entweder als Parasiten oder Saprobionten, das heißt, sie leben auf oder sogar in einem Wirtsorganismus, von dem sie auf meist für diesen schädigende Weise ihre Nährstoffe gewinnen, oder sie ernähren sich von totem organischem Material ihrer Umgebung. Dazu bilden sie lange Zellfäden, die Hyphen, aus, die in das Opfer beziehungsweise die abgestorbene Materie eindringen, dort starke zersetzende Enzyme freisetzen und die löslichen Nährstoffe über die Zellmembran absorbieren. Verbreitung und Lebensraum Töpfchenpilze sind weltweit in Böden, Flüssen, Tümpeln und Seen verbreitet. Parasitische Arten leben zum Teil während ihres gesamten Lebenszyklus in ihren Wirten. Fortpflanzung Töpfchenpilze können sich sowohl geschlechtlich als auch ungeschlechtlich vermehren. Bei der ungeschlechtlichen Fortpflanzung setzen spezielle Strukturen, die Sporangien, unzählige Sporen frei, die mit einer rückseitigen Geißel umherschwimmen, bei Kontakt mit einem Wirt oder anderen Nahrungsquellen auskeimen und sich zu einem neuen genetisch identischen Individuum entwickeln. Bei der geschlechtlichen Fortpflanzung werden Keimzellen (Gameten) freigesetzt, die je nach Art identisch (Isogameten) oder verschieden (Heterogameten) sein können. Zumindest eine Gametenform ist immer durch eine rückseitige Geißel, ein so genanntes Undulipodium, beweglich und erinnert somit in Gestalt und Funktion an ein tierisches Spermium. Manche Arten erreichen die Befruchtung auch durch direkte Verschmelzung zweier Hyphen (Somatogamie). Nach der Befruchtung entwickelt sich aus der Zygote meist eine widerstandsfähige Spore, die Trockenheit, große Hitze und Kälte überstehen kann. Bei Kontakt mit einem Nahrungsreservoir keimt sie zu einem neuen genetisch von den „Eltern“-Organismen unterschiedenen Pilz aus. Wechselwirkungen mit Pflanzen und Tieren Als Pflanzenschädlinge spielen Töpfchenpilze in der Land- und Forstwirtschaft nur eine untergeordnete Rolle. Olpidium brassicae ist für die Fallkrankheit an Kohlgewächsen und Synchytrium endobioticum für den so genannten Kartoffelkrebs. Bestimmte Zellulose-verdauende Töpfchenpilze leben im Pansen von Wiederkäuern und ermöglichen es diesen, sich von zellulosereicher Nahrung wie zum Beispiel Gras zu ernähren. Der Chytridpilz (Batrachochytrium dendrobatidis) ist dagegen für Massensterben australischer und südamerikanischer Amphibien verantwortlich. Systematik Früher wurden noch die Neocallimastigaceae zu den Töpfchenpilzen gestellt. Vertreter dieser Familie besitzen keine Mitochondrien, sie werden durch sogenannte Hydrogenosomen ersetzt. Weitere früher den Töpfchenpilzen zugerechnete Familien wie die Physodermataceae werden heute in der neuen Ordnung Blastocladiales zusammengefasst. Aktuell unterscheidet man innerhalb der Töpfchenpilze zwei Klassen und vier Ordnungen: Klasse Chytridiomycetes Ordnung Chytridiales sind allesamt einzellig und besitzen kein echtes Hyphengeflecht (Mycel). Sie vermehren sich sexuell durch Isogameten oder Somatogamie. Ordnung Rhizophydiales Ordnung Spizellomycetales Klasse Monoblepharidomycetes Die Ordnung Monoblepharidales zeichnet sich durch spezialisierte „männliche“ und „weibliche“ Keimzellen, die Androgameten und Gynogameten aus, welche in separaten Strukturen, den Antheridien beziehungsweise Oogonien gebildet werden. Die Androgameten sind klein und begeißelt, die Gynogameten verhältnismäßig groß, kugelförmig und unbeweglich. Einzelnachweise Weblinks Chytrid Fungi Online (englisch) Pilze
Q473747
198.919423
272739
https://de.wikipedia.org/wiki/Webverzeichnis
Webverzeichnis
Als Webverzeichnis (auch Webkatalog) bezeichnet man eine Sammlung von Adressen von Webseiten im World Wide Web, die nach bestimmten Themen sortiert sind. Webverzeichnisse werden zumeist im Internet oder in Buchform veröffentlicht. Aufgabe und Funktion Webverzeichnis-Redaktionen leisten für Online-Quellen das, was Bibliotheken für Printmedien übernehmen: Sie sammeln und sichten Informationen, entwickeln Taxonomien und katalogisieren ihre Sammlungen. Zu den gesammelten Quellen zählen dabei nicht nur ganze Websites oder Newsgroups, sondern zusätzlich auch einzelne Dokumente und Datenbankeinträge. Über diese reine Bibliotheks-Funktion hinaus bieten Webverzeichnisse oft auch zusätzliche Informationen wie kurze Beschreibungen der einzelnen Kategorien und ihrer Inhalte, Querverweise zu verwandten Themen, Querverweise zu gleichen Themensammlungen in anderen Sprachen, eine auf bestimmte Themen beschränkbare Suchfunktion. Webverzeichnisse sind nicht so umfangreich wie die automatisch erstellten Verzeichnisse von Suchmaschinen. Durch ihre redaktionelle Kontrolle erreichen Webverzeichnisse jedoch im Durchschnitt eine höhere Qualität. Die Qualität und Aktualität eines Webverzeichnisses hängen immer stark von seiner Redaktion ab. Betreiber kommerzieller Webseiten bemühen sich um Einträge in Webverzeichnisse im Rahmen der sogenannten Suchmaschinen-Optimierung um die Zahl der bei ihnen eingehenden Links zu erhöhen um Besucher zu ihren Angeboten zu führen Kommerzielle Webverzeichnisse bieten häufig eine Eintragung gegen Bezahlung an, die in der Regel jahresweise gebucht wird. Arten von Webkatalogen Die meisten heute bekannten Webkataloge werden manuell gepflegt, das heißt: Alle Einträge werden von Menschen gesichtet, geprüft und katalogisiert. Auf diese Art wird eine Qualität der Sammlung sichergestellt, die mit einem automatisierten Prozess nicht zu erreichen wäre. Problematisch bei dieser Methode ist jedoch der hohe Aufwand und damit der große Bedarf an Mitarbeitern, um ein umfassendes und aktuelles Verzeichnis gewährleisten zu können. Oft beschränken sich manuell erstellte Verzeichnisse deshalb auf kleine, eng abgegrenzte Themengebiete. Bekannte Ausnahmen bildeten der 2014 eingestellte Yahoo-Katalog und das 2017 eingestellte Open Directory Project, das noch als statische Spiegelseite verfügbar ist. Ein anderer Ansatz zur Organisation von Linksammlungen besteht in der Bildung von Ad-hoc-Kategorien aus Suchbegriffen. Diese automatisch generierten Kataloge enthalten wesentlich umfangreichere und aktuellere Inhalte. In ihrer Qualität erreichen sie aber heute noch nicht das Niveau, welches bei der manuellen Sortierung besteht. Ein bekanntes Beispiel für Ad-hoc-Katalogisierung ist der WiseGuide des Suchdienstes WiseNut. Weiterhin kann unterteilt werden in hierarchische und nichthierarchische Webverzeichnisse. In hierarchischen Verzeichnissen werden Kategorien von Einträgen und oft die Einträge der Verzeichnisse selbst in einer eindeutigen Ordnung sortiert. Ein Eintrag befindet sich dabei oft nur in einer bestimmten Kategorie, was ihn schwer auffindbar macht. Ein Beispiel für ein sehr hierarchisches Webverzeichnis ist das Open Directory Project. Nichthierarchische Verzeichnisse bestehen dagegen aus einer Netzwerkartigen Struktur, mit deren Knoten die Einträge (Links) verknüpft werden. Dadurch sind die Einträge und Kategorien leichter zu finden, eine assoziative Suche ist eher möglich. Schließlich lässt sich zwischen kommerziellen und hauptsächlich nichtkommerziellen Webverzeichnissen unterscheiden. Durch das Geschäftsmodell vieler Webverzeichnisbetreiber besteht besonders bei ersteren die Gefahr einer eingeschränkten Objektivität: Die Erhöhung der Ranghöhe in einem Verzeichnis für die eigene Webseite wird zur offiziell angebotenen Dienstleistung (Beispiele siehe unten Liste von Webverzeichnissen). Der Benutzer kann kaum unterscheiden, welche Suchergebnisse (Katalogeinträge) sich einen hohen Rang durch hohe Relevanz „verdient“ haben und bei welchen ein hoher Rang „erkauft“ wurde. Hier verschwimmt die traditionelle Grenze von Publikationen zwischen redaktionellem Teil einerseits und Anzeigenteil andererseits. Probleme und Lösungsansätze Bei großen Datenbeständen besteht für Webverzeichnisse einerseits die Gefahr, dass nicht mehr existierende Webseiten referenziert werden. Andererseits leidet bei großen Datenbeständen die Wiederauffindbarkeit relevanter Webseiten. Um diesen Mängeln vorzubeugen, werden moderne Webverzeichnisse mit verschiedenen manuellen und automatischen Mechanismen ausgestattet, wie beispielsweise manuelle Bewertungssysteme („Voting“) automatische Bewertungssysteme („Ranking“) Robots („Webbots“) zum Überprüfen und ggf. Entfernen toter Links Auswertung des Klickverhaltens der Benutzer Kritik Viele früher kostenlose Webverzeichnisse (zum Beispiel Web.de) sind heute kostenpflichtig mit Kosten von oft mehreren 100 Euro im Jahr, was für Nutzer der Dienste die Frage nach dem Verhältnis von Kosten und Nutzen aufwirft. Für Nutzer, die nach Informationen suchen, sind viele kommerzielle Verzeichnisse inzwischen weniger geeignet, da ihre Datenbestände viel zu klein sind, um eine zielführende Suche zu ermöglichen. Der ursprüngliche Sinn und Zweck, die wissenschaftliche Katalogisierung des Webs, ist bei diesen Webkatalogen aus den Augen verloren worden. Stattdessen ist eine Vielzahl an kleinen Verzeichnissen entstanden, die nur der Suchmaschinenoptimierung bzw. kommerziellen Zwecken dienen. Bekannte Webverzeichnisse DMOZ – Open Directory Project: hierarchisch organisiert durch freiwillige internationale Editoren (umfasst etwa vier Millionen Links, Daten sind open content). Es werden fast alle Sprachen abgedeckt. Yahoo: hierarchisch organisiert, kommerziell. Hohe Platzierungen im Verzeichnis lassen sich kaufen. Der Ausbau des deutschsprachigen Webkatalogs wurde inzwischen eingestellt. Deutsche Webverzeichnisse Sharelook: hierarchisch gegliederter Webkatalog mit internationaler Ausrichtung. Besonderheit sind die Regionalverzeichnisse und spezielle Themenverzeichnisse. Einträge sind teilweise kostenpflichtig. Bellnet: ältester redaktionell bearbeiteter Webkatalog für Deutschland mit etwa 400.000 Einträgen, die in rund 15.000 Kategorien eingeteilt sind. Kommerzielle überregionale Einträge sind mit einmaligen Kosten verbunden. Web.de: wurde 1995 als Webverzeichnis gegründet und zu einem Internetportal umgestaltet. Literatur Mathias Weber (Hrsg.): Das Web-Adressbuch für Deutschland 2011: Die 6.000 wichtigsten deutschen Internet-Adressen. m.w., Frankfurt am Main 2010, ISBN 978-3-934517-12-7. Quellen
Q327349
112.970474
104376
https://de.wikipedia.org/wiki/Erstarren
Erstarren
Erstarren, Gefrieren oder Kristallisieren bezeichnet in der Physik den Phasenübergang eines Stoffes vom flüssigen in den festen Aggregatzustand. In allen Fällen erfolgt dies durch Energieabfuhr an das umgebende System. Der Umkehrprozess des Erstarrens ist das Schmelzen. Die Erstarrung erfolgt im Erstarrungsintervall. Bei Reinstoffen und konstantem Druck erfolgt das Erstarren immer bei einer bestimmten Temperatur, die Gefrierpunkt genannt wird (Erstarrungslinie). Er entspricht bei reinen Stoffen exakt dem Schmelzpunkt. Obwohl der Stoff beim Erstarren Wärme abgibt (Kristallisationsenthalpie), bleibt die Temperatur während des Übergangs von flüssig nach fest konstant (Isotherme Zustandsänderung). Beim Erstarren kommt es bei vielen Stoffen zur Kristallisation, bei der die brownsche Bewegung der Moleküle reduziert wird. Die Moleküle weisen daher im erstarrten Zustand eine geringere Energie auf als im flüssigen, was gleichbedeutend ist mit einer Energieabgabe. Wasser und wässrige Lösungen gefrieren, wenn sie in den festen Aggregatzustand übergehen. Gefrieren wird umgangssprachlich auch die Haltbarmachung von Lebensmitteln durch Tiefkühlen genannt. Bei Legierungen und Glasen beginnt das Erstarren bei der Liquidustemperatur und ist bei der Solidustemperatur abgeschlossen. Allgemeines Flüssigkeiten können sich wegen verschiedener Gründe und auf verschiedene Weisen in Festkörper umwandeln. Besonders häufig kann die Erstarrung bei konstantem Druck durch Abkühlen beobachtet werden. Wenn es sich um einen Reinstoff handelt, dann beginnt die Flüssigkeit beim Erreichen der Erstarrungstemperatur zu erstarren und kühlt erst weiter ab, wenn die Erstarrung abgeschlossen ist. Die Erstarrungstemperatur ist fast immer identisch mit der Schmelztemperatur. Auch eine Änderung des Drucks bei konstanter Temperatur kann zum Erstarren führen. Bei den meisten Stoffen ist dazu eine Druckerhöhung nötig, während bei Wasser und einigen anderen Stoffen eine Druckverminderung auch zum Erstarren führen kann (siehe dazu auch Anomalie des Wassers). Auch das Sieden und Kondensieren können durch Druckänderung verursacht werden, beim Erstarren sind aber deutlich größere Druckänderungen nötig. Den Zusammenhang zwischen Temperatur und Druck kann Phasendiagrammen entnommen werden. Dort ist auch erkennbar, dass die Erstarrungslinie, die im Diagramm den Flüssigkeitsbereich vom Festkörperbereich trennt, steiler verläuft, als die Schmelzlinie zwischen flüssig und gasförmig. Bei vielen Gemischen (und damit auch Legierungen) gibt es einen Temperaturbereich, das Erstarrungsintervall, in dem der Stoff sowohl fest als auch flüssig vorliegt. Die Erstarrung beginnt bei der Liquidustemperatur und endet bei der Solidustemperatur. Beide hängen vom Mischungsverhältnis ab, beziehungsweise vom Anteil der Legierungselemente und können ebenfalls Phasendiagrammen entnommen werden. Auch durch chemische Reaktionen kann es zur Erstarrung kommen. Das ist der Fall, wenn sich beispielsweise bei Raumtemperatur eine Flüssigkeit in einen Stoff umwandelt die mit einer Erstarrungstemperatur die über der Raumtemperatur liegt. Das Phänomen tritt auch in der Metallurgie auf: Flüssige Metalle reagieren dabei mit Sauerstoff und bilden Oxide. Flüssiges Aluminium erstarrt beispielsweise bei 660 °C, während Aluminiumoxid bei über 2000 °C noch fest ist. Beim Erstarren wird Energie frei, die Kristallisationsenthalpie. Die gleiche Energiemenge wird benötigt, um den Stoff wieder zu schmelzen (Schmelzenthalpie). Eigenschaftsänderungen Beim Erstarren ändern sich zahlreiche physikalische Eigenschaften sprunghaft. Nahezu alle physikalischen Eigenschaften verändern sich mit der Temperatur eines Körpers. Solange der Körper seinen Aggregatszustand nicht ändert, ändern sich diese Eigenschaften aber meistens nicht sprunghaft, sondern kontinuierlich und sehr langsam. Besondere Bedeutung haben Veränderungen von Volumen, Dichte und Löslichkeit. Volumen und Dichte Die meisten Stoffe verringern ihr Volumen beim Erstarren und erhöhen wegen der konstanten Masse somit ihre Dichte (Masse pro Volumen). Das Phänomen wird als Erstarrungsschwindung bezeichnet. Wasser dagegen dehnt sich beim Erstarren aus. Deshalb schwimmt Eis auf flüssigem Wasser, während die meisten anderen Stoffe in der Schmelze untergehen. Die Ausdehnung beim Gefrieren von Wasser kann dazu führen, dass mit Wasser gefüllte Glasflaschen platzen. Im Winter sickert Wasser in kleine Risse im Straßenbelag und Gestein, dehnt sich aus und vergrößert somit diese Risse, was als Frostsprengung bezeichnet wird. Die Wärmeausdehnung dagegen hängt mit der Temperatur zusammen und nicht mit dem Aggregatszustand. In der Gießerei kann es durch die Erstarrungsschwindung zur Beschädigung der Gussstücke kommen. Vor allem bei kompliziert geformten Werkstücken, ist die Verkleinerung des Gussstückes durch die Form blockiert, was zu Rissen führen kann. Diese werden als Heißriss bezeichnet und können auch beim Schweißen vorkommen. Um die Schwindung möglichst gering zu halten wird bei Gusslegierungen häufig Silicium zulegiert, da es sich beim Erstarren ausdehnt und somit die Schwindung teilweise ausgleichen kann. Löslichkeit Die Löslichkeit ändert sich auch stark bei der Erstarrung. Allgemein kann ein Stoff beim Abkühlen immer weniger eines anderen Stoffes lösen. Beim Erstarren fällt die Löslichkeit aber stark ab. Falls Verunreinigungen in einem Stoff gelöst sind, können sie mittels Umkristallisation oder dem Elektroschlacke-Umschmelzverfahren entfernt werden, da die Verunreinigungen vor allem im noch nicht erstarrten Bereich verbleiben. In der Gießerei sind in der Schmelze häufig auch Gase gelöst. Wenn die Schmelze schnell abkühlt, haben diese Gase nicht genügend Zeit um aus der Schmelze zu entweichen und verbleiben dann im Gussstück wo sie Blasen und Poren bilden, was die Festigkeit der Gussstücke mindert. Wenn diese Gusstücke anschließend geschweißt werden, dehnen sich die Gase in den Poren stark aus und können so das Werkstück beschädigen. Vorkommen in der Natur und Anwendungen Bekannt ist vor allem das Gefrieren von Wasser zu Eis. In der Natur kommt es im Winter vor, beim Einfrieren von Seen und anderen Gewässern sowie beim Entstehen von Schnee und Hagel. Ansonsten wird im Haushalt gelegentlich Wasser gefroren, so zur Herstellung von Wassereis (beispielsweise aus Fruchtsäften) und Eiswürfeln, sowie beim Haltbarmachen von Lebensmitteln, dem Tiefkühlen. Nach dem Erhitzen können geschmolzene Butter und andere Fette wieder erstarren. Große technische Bedeutung hat das Erstarren beim Schweißen, Löten und Gießen. Der genaue Erstarrungsvorgang hat großen Einfluss auf Härte und Festigkeit der Gussstücke und Schweißverbindungen, weshalb das Erstarren von Metallen besonders gut erforscht ist. Das Erstarren wird auch genutzt um den Reinheitsgrad von chemischen Stoffen zu erhöhen. In der Chemie wird die Umkristallisation genutzt und in der Metallurgie das Elektroschlacke-Umschmelzverfahren. Beide basieren unter anderem darauf, dass beim Erstarren die Verunreinigungen bevorzugt in der Flüssigkeit (Schmelze) bleiben. Beim Erstarren von Beton und Zement wird Wasser in die jeweiligen Baustoffe aufgenommen, wodurch aus dem breiigen Ausgangsstoff ein Festkörper wird. Erstarrungsgestein sind Gesteinsarten die bei der Erstarrung von Lava oder Magma entstehen. Metallurgie Legierungen haben in der Regel nicht eine feste Temperatur, bei der eine Phasenumwandlung von flüssig nach fest geschieht, sondern einen Erstarrungsbereich zwischen Solidus und Liquidus. Siehe auch Zeit-Temperatur-Umwandlungsschaubild – Verdeutlicht Veränderungen bei hohen Abkühlgeschwindigkeiten Keimbildung – Prozess der Bildung einzelner fester Partikel in der Flüssigkeit Heißriss – Fehler beim Erstarren von Schmelze beim Schweißen Electrofreezing Einzelnachweise Thermodynamischer Prozess Baustoffkunde Gießen (Verfahren) Schweißen Wikipedia:Artikel mit Video
Q108000
140.087872
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https://de.wikipedia.org/wiki/Inertialsystem
Inertialsystem
Ein Bezugssystem in der Physik heißt Inertialsystem (von für „Trägheit“), wenn jeder kräftefreie Körper relativ zu diesem Bezugssystem in Ruhe verharrt oder sich gleichförmig (geradlinig und unbeschleunigt) bewegt. Kräftefrei bedeutet, dass der Körper keine Kräfte von anderen Objekten erfährt oder diese sich insgesamt aufheben, sodass die resultierende Kraft Null ist. Falls sich ein Körper, obwohl er in diesem Sinn kräftefrei ist, relativ zu einem bestimmten Bezugssystem beschleunigt oder krummlinig bewegt, so werden die auftretenden Beschleunigungen mit Trägheitskräften erklärt. Diese rühren daher, dass das Bezugssystem gegenüber einem Inertialsystem in Rotation oder anderweitig beschleunigter Bewegung ist. Trägheitskräfte gehen nicht von anderen Körpern aus und werden bei der Beurteilung der Kräftefreiheit nicht mitgezählt. In einem Inertialsystem gibt es keine Trägheitskräfte. Zum Beispiel ist wegen der Erdrotation ein mit der Erdoberfläche verbundenes Bezugssystem kein Inertialsystem. Die durch die Rotation verursachten Trägheitskräfte sind allerdings meist nicht zu bemerken, weshalb ein solches System praktisch in sehr guter Näherung als Inertialsystem zu betrachten ist. In einem wirklichen Inertialsystem würde sich der Fixstern­himmel nicht drehen. Ein dreidimensionaler Raum, für den ein (streng oder angenähert gültiges) Inertialsystem reproduzierbar als Bezugssystem genutzt werden kann, wird in manchen Fachgebieten als Inertialraum bezeichnet. In den modernen Werken zur Theoretischen Mechanik wird das Inertialsystem oft allein mithilfe des Trägheitssatzes definiert, der dem ersten der drei Newtonschen Axiome entspricht. Für eine vollständige Definition sind aber alle drei Newtonschen Axiome erforderlich: Das erste nennt die geradlinig-gleichförmige Bewegung von kräftefreien Körpern als wesentliche Eigenschaft eines Inertialsystems. Das zweite definiert allgemein die Kräfte durch die von ihnen verursachten Beschleunigungen. Das dritte schließlich verlangt, dass es zu jeder Kraft eine Gegenkraft geben muss, sodass hier ausschließlich Kräfte gemeint sind, die auf Wechselwirkungen zwischen Körpern zurückgehen, was auf Trägheitskräfte gerade nicht zutrifft. Der Begriff „Inertialsystem“ wurde erstmals 1885 von Ludwig Lange herausgearbeitet, der (nach Ernst Mach) den dabei benötigten Begriff des kräftefreien Körpers so präzisierte: Der kräftefreie Körper kann als von anderer Materie „unendlich“ weit entfernt gedacht werden. Gleichbedeutend sei (nach James Maxwell), den Trägheitssatz negativ auszudrücken: Immer, wenn ein in einem Inertialsystem beobachteter Körper sich nicht geradlinig-gleichförmig bewegt, ist das von Kräften verursacht, die von anderen Körpern ausgehen.(S. 271) Hintergrund Derselbe physikalische Vorgang wird von verschiedenen Beobachtern im Allgemeinen unterschiedlich beschrieben. Ein Beispiel: Für einen Beobachter auf der Erde dreht sich die Sonne um die Erde und die anderen Planeten bewegen sich auf manchmal schleifenförmigen Bahnen, während ein Beobachter auf der Sonne sieht, dass sich die Erde und alle anderen Planeten um die Sonne bewegen. Die Bewegung lässt sich daher nur relativ zu einem Bezugssystem, also zum Standpunkt eines Beobachters, beschreiben. Wenn die Bewegungen verschieden erscheinen, würden Beobachter, die den Einfluss der Wahl des Bezugssystems nicht berücksichtigen, denselben Vorgang durch verschiedene physikalische Ursachen zu erklären haben. Das trifft insbesondere für Bewegungen von Körpern zu, die nicht geradlinig-gleichförmig ablaufen. Inertialsysteme sind die Bezugssysteme, in denen jede Abweichung von der geradlinig-gleichförmigen Bewegung eines Körpers auf den Einfluss einer Kraft zurückgeführt werden kann, die von einem anderen Körper ausgeht. In ihnen gilt also das Trägheitsprinzip. Verschiedene Inertialsysteme können sich durch eine geradlinig-gleichförmige Translationsbewegung unterscheiden. Jede Rotation oder andere Beschleunigung des Bezugssystems führt dazu, dass kräftefreie Körper sich nicht immer geradlinig-gleichförmig bewegen. Dies wird durch das Einwirken von Trägheitskräften beschrieben, die nicht von anderen Körpern erzeugt werden, sondern für den betreffenden Beobachter nur durch die Beschleunigung seines Bezugssystems. Da in einem Inertialsystem keine Trägheitskraft auftritt, können hier im Prinzip die Bewegungsgleichungen der Mechanik die einfachste Form haben. Dennoch ist es in vielen Bereichen vorteilhaft, die Vorgänge in einem beschleunigten Bezugssystem zu betrachten, wenn dieses aus praktischen Gründen günstiger ist (z. B. in den Geowissenschaften). Eine Unbestimmtheit ergibt sich daraus, dass die Trägheitskraft, die durch eine gleichmäßige Beschleunigung hervorgerufen wird, sich in nichts von einer Gravitationskraft in einem konstanten, homogenen Schwerefeld mit entsprechend gewählter Stärke unterscheidet (Äquivalenzprinzip). Daher kann man auch ein gleichmäßig beschleunigtes Bezugssystem als ein Inertialsystem ansehen, in dem lediglich eine veränderte Gravitation herrscht. Wenn das Gravitationsfeld homogen ist und die Beschleunigung des Bezugssystems gerade dem freien Fall entspricht, ist die Gravitation durch die Trägheitskraft sogar exakt kompensiert. Der Zustand der Schwerelosigkeit in Raumstationen ist hierfür eine lokale Annäherung, insoweit das Gravitationsfeld der Erde als homogen angesehen werden kann. (Ein exakt homogenes Gravitationsfeld gibt es nicht.) In diesem Sinne kann man auch Bezugssysteme, die gegeneinander beschleunigt sind, Inertialsysteme nennen. Noch weitergehend ist der Grundgedanke der Allgemeinen Relativitätstheorie: Nur Bezugssysteme, die sich im freien Fall befinden, sind Inertialsysteme, und das ganze Phänomen der Gravitation erklärt sich durch die Trägheitskraft, die man in einem dagegen beschleunigten Bezugssystem beobachtet. Newtonsche Mechanik Am einfachsten kann man sich ein Inertialsystem als ein Bezugssystem an einem weit entfernten Ort im Weltall in völliger Schwerelosigkeit vorstellen, also fernab von größeren Massen, die durch ihre Gravitation die Bewegung von Körpern stören könnten. Die räumlichen Koordinaten können dann relativ zu einem beliebigen kräftefreien Bezugskörper angegeben werden, der als „ruhend“ betrachtet wird. Welcher dieser Bezugskörper ausgewählt wird, ist dabei vollkommen willkürlich. Das besagt das galileische Relativitätsprinzip. Ein zweiter Körper, der sich in diesem Bezugssystem gleichförmig und geradlinig bewegt, ist ebenfalls kräftefrei. Er könnte also selbst Bezugspunkt für ein zweites Inertialsystem sein. In anderen Worten: Jedes Bezugssystem, das sich relativ zu einem Inertialsystem gleichförmig und geradlinig bewegt, ist ebenfalls ein Inertialsystem. Daher gibt es in der Newtonschen Mechanik unendlich viele Inertialsysteme. Die räumlichen und zeitlichen Koordinaten zweier Inertialsysteme hängen über eine Galilei-Transformation zusammen. Umgekehrt gilt, dass jedes Bezugssystem, das sich relativ zu einem Inertialsystem beschleunigt bewegt, selbst kein Inertialsystem ist. In einem solchen beschleunigten Bezugssystem lässt sich der Trägheitssatz nicht ohne Weiteres anwenden. Um die beschleunigten oder krummlinigen Bewegungen von Körpern in beschleunigten Bezugssystemen korrekt begründen zu können, bedarf es der Annahme von sogenannten Trägheitskräften, für die sich keine reale Ursache finden und keine Reactio angeben lässt. Galilei-Transformationen bilden bzgl. der Hintereinanderausführung eine Gruppe. Zu ihr gehören die einfachen zeitlichen oder räumlichen Verschiebungen. Da ein Inertialsystem bei einer räumlichen oder zeitlichen Verschiebung in ein Inertialsystem übergeht, zeichnen Inertialsysteme keinen Ort und keinen Zeitpunkt aus. Der Raum und die Zeit sind homogen. Zur Galilei-Gruppe gehört auch die endliche Drehung, die die Bezugsrichtungen (vorn, links, oben) des einen Systems auf die zeitlich unveränderlichen Richtungen des anderen Systems abbildet. Da ein Inertialsystem bei einer Drehung in ein Inertialsystem übergeht, zeichnen Inertialsysteme keine Richtung aus. Der Raum ist isotrop. Ein Inertialsystem lässt sich daher definieren als ein Bezugssystem, bezüglich dessen der Raum homogen und isotrop, und die Zeit homogen ist. Zur Galilei-Gruppe gehört schließlich die Transformation durch die ein Koordinatensystem mit gleichbleibender Geschwindigkeit gegen ein anderes bewegt wird. Da die Gesetze der newtonschen Mechanik in allen Inertialsystemen in gleicher Form gelten, gibt es kein bevorzugtes Bezugssystem und keine Möglichkeit, eine Geschwindigkeit absolut zu messen. Dies ist das Relativitätsprinzip der Newtonschen Mechanik. Spezielle Relativitätstheorie Statt der Galilei-Transformation zwischen Inertialsystemen der Newtonschen Physik vermitteln in der relativistischen Physik Lorentz-Transformationen und raum-zeitliche Verschiebungen, wie die Koordinaten zusammenhängen, mit denen gleichförmig bewegte Beobachter bezeichnen, wann und wo Ereignisse stattfinden. Zusammen mit den räumlichen und zeitlichen Verschiebungen bilden Lorentztransformationen die Poincaré-Gruppe. Nach folgendem idealisierten Verfahren ordnet ein gleichförmig bewegter Beobachter wie beim Radar jedem Ereignis seine inertialen Koordinaten zu: Er sendet einen Lichtstrahl zum Ereignis und misst mit seiner Uhr die Startzeit und die Zeit , zu der der beim Ereignis reflektierte Lichtstrahl wieder bei ihm eintrifft. Als Zeit, zu der das Ereignis stattgefunden hat, verwendet er den Mittelwert als Entfernung die Hälfte der Laufzeit des hin und her laufenden Lichtes mal der Lichtgeschwindigkeit : Darüber hinaus bestimmt er Winkel und zwischen Bezugsrichtungen, die er gewählt hat, und dem auslaufenden Lichtstrahl. Damit ordnet er dem Ereignis folgende Koordinaten zu: Der reflektierte Lichtstrahl kommt nur dann für jedes Ereignis aus der Richtung des auslaufenden Lichtstrahls zurück, wenn sich der Beobachter nicht dreht. Auf diese Art kann der Beobachter unterscheiden, ob er sich dreht oder ob er von anderen Objekten umkreist wird. Allgemeine Relativitätstheorie Herrscht in einem Bezugssystem ein homogenes Gravitationsfeld, dann käme dessen Wirkung einer Trägheitskraft gleich und könnte daher durch Transformation in ein konstant beschleunigtes Bezugssystem zum Verschwinden gebracht werden (Äquivalenzprinzip). Die Allgemeine Relativitätstheorie sieht dieses Bezugssystem als das geeignete Inertialsystem an. Beobachter in solchen Bezugssystemen sind „schwerelos“. Allerdings kann es ein ausgedehntes exakt homogenes Gravitationsfeld gar nicht geben, weshalb die Wahl des geeigneten Inertialsystems nur lokal, d. h. in einer engen Umgebung (räumlich und zeitlich) des betrachteten Punktes gültig sein kann. Eng benachbarte Beobachter darin bilden ein lokales Lorentz-System (englisch: local Lorentz frame), in dem Experimente gleichartige Ergebnisse liefern und alle Beobachtungen wie im flachen Minkowskiraum über die Lorentztransformationen der speziellen Relativitätstheorie in Verhältnis stehen. Die Weltlinien frei fallender Teilchen sind analog den „Geraden“ in der euklidischen Geometrie die kürzesten Verbindungen der gekrümmten Raumzeit, sogenannte Geodäte. Gravitation zeigt sich im freien Fall an der „Gezeitenwirkung“, dass benachbarte Geodäten aufeinander zu oder voneinander weg streben und sich wiederholt schneiden können. Mathematisch drückt sich das in der Deviationsgleichung über den Einfluss des Riemannschen Krümmungstensors der Raumzeit aus. Umkreisen beispielsweise zwei Raumstationen in verschieden geneigten Bahnebenen mit gleichem konstantem Erdabstand die Erde, so schneiden sich ihre Bahnen zweimal bei jedem Umlauf. Nach dem Schnittpunkt nimmt ihr Abstand zu, bis sie einen Viertelkreis durchlaufen haben, dann wieder ab, bis sich ihre Bahnen nach einem weiteren Viertelkreis wieder kreuzen. Diese Auswirkung ungleichmäßiger Gravitation (hier wirkt sie an verschiedenen Orten in verschiedenen Richtungen) heißt Gezeitenwirkung. Sie nimmt bei kleinen Abständen mit dem Abstand zu. Kann man die Gezeitenwirkung vernachlässigen, so gilt im freien Fall die spezielle Relativitätstheorie. Siehe auch Literatur Weblinks Robert DiSalle, Space and Time (Inertial Frames), Stanford Encyclopedia of Philosophy Einzelnachweise Theoretische Mechanik Relativitätstheorie
Q192735
131.18017
2776374
https://de.wikipedia.org/wiki/Opisthokonta
Opisthokonta
Die Opisthokonta (griechisch für „Hinterpolige“, wegen der Position der Geißel) sind eine der Gruppen von Eukaryoten, also Lebewesen mit Zellkernen. Zu ihnen gehören vor allem die Vielzelligen Tiere (Metazoa) und die Pilze (Fungi) sowie einige Gruppen einzelliger Organismen. Begriff Erstbeschrieben wurde das Taxon 1987 von Thomas Cavalier-Smith; der Name wurde vorher einige Male von diesem Autor (gemeinsam mit Ema Chao) erwähnt, aber nicht formal beschrieben. Vorher (1956) wurde er schon einmal von Herbert Copeland als Name für die Chytridiomycetes im weiteren Sinne verwendet. Im Jahr 2005 wurde er von einer Arbeitsgruppe (Adl und Kollegen) in ihr Referenzwerk für die Phylogenie der Eukaryoten, das weithin als Standardwerk akzeptiert ist, übernommen. Merkmale Die Opisthokonta sind morphologisch und in ihrer Lebensweise sehr vielfältig und haben kaum gemeinsame Merkmale. Neben den Tieren und Pilzen umfassen sie auch Flagellaten wie die Kragengeißeltierchen und Amöben. Nach einer Kurzbeschreibung von Adl et al. haben die Opisthokonta zumindest in einem Entwicklungsstadium typischerweise Zellen mit einem einzelnen posterior liegenden Cilium ohne Mastigonemata, das allerdings auch sekundär verloren gegangen sein kann. Außerdem besitzen die Zellen ein Paar Kinetosomen oder Zentriolen, die abgewandelt sein können. Die eine namensgebende Geißel am Hinterende ist ein evolutionäres Merkmal, das die Opisthokonta von anderen Lebewesen unterscheidet, bei denen zusätzlich noch eine oder mehrere Geißeln am Vorderende sitzen, die aber in der Stammlinie zu den Opisthokonta verloren gegangen sind. Innerhalb der Opisthokonta wurde diese letzte Geißel dann in mindestens vier Abstammungslinien rückgebildet, nämlich einerseits bei Dikarya und Rotosphaerida (aus der Opisthokonta-Gruppe der Nucletmycea) und andererseits bei Ichthyophonida und Capsaspora (aus den Holozoa). Die Geißel fehlt also bei den meisten Pilzen mit Ausnahme der Flagellatenpilze, zu denen die Töpfchenpilze (Chytridiomycota) und die Blastocladiomycota gehören. Ein ursprüngliches Merkmal ist auch die Bildung von Chitin und damit das Vorhandensein von Chitinkinasen. Systematik Die Schubgeißler (Opisthokonta) gliedern sich in die beiden Gruppen der Nucletmycea und der Holozoa. Erstere bergen in sich die Rotosphaerida und die Pilze (Fungi). Letztere umfassen die Kladen der Teretosporea und der Filozoa. In jenes zweite Monophylum werden neben den Filasterea die Choanozoa gestellt, zu denen Kragengeißeltierchen (Choanoflagellata) und Tiere (Metazoa) gehören. Literatur Thomas Cavalier-Smith, Ema E. Chao, Elizabeth A. Snell, Cédric Berney, Anna Maria Fiore-Donno, Rhodri Lewis: Multigene eukaryote phylogeny reveals the likely protozoan ancestors of opisthokonts (animals, fungi, choanozoans) and Amoebozoa. Molecular Phylogenetics and Evolution 81, 2014; S. 71–85. Emma T. Steenkamp, Jane Wright, Sandra L. Baldauf: The Protistan Origins of Animals and Fungi. Molecular Biology and Evolution 23 (2006), S. 93–106. Guifré Torruella & al.: Phylogenomics Reveals Convergent Evolution of Lifestyles in Close Relatives of Animals and Fungi. Current Biology 25 (2015), S. 2404–2410. Weblinks Baum des Lebens Onezoom:Opisthokonta Nachweise
Q129021
289.812558
5648
https://de.wikipedia.org/wiki/W%C3%A4rmekraftmaschine
Wärmekraftmaschine
Eine Wärmekraftmaschine ist eine Maschine, die Wärme in mechanische Energie (Arbeit) umwandelt. Sie nutzt dabei das Bestreben der Wärme aus, von Gebieten mit höheren zu solchen mit niedrigeren Temperaturen zu fließen. Beispiele sind Dampfmaschine, Dampfturbine und alle Verbrennungsmotoren. Dagegen wird eine Maschine, die unter Einsatz mechanischer Energie Wärmeenergie von einem niedrigeren Temperaturniveau auf ein höheres transportiert, als Kraftwärmemaschine, Wärmepumpe oder Kältemaschine bezeichnet. Wärmekraftmaschinen nutzen „rechtslaufende“ Kreisprozesse, bei denen die geschlossene Kurve etwa im T-s-Diagramm oder P-v-Diagramm im Sinne „oben nach rechts, unten nach links“ durchlaufen wird. Wärmepumpen nutzen „linkslaufende“ Kreisprozesse. Zur Beurteilung der Effizienz von Kreisprozessen dienen die idealen Vergleichsprozesse. Die theoretische Grundlage dieser Prozesse bildet die thermische Zustandsgleichung idealer Gase mit den drei Gaszustandsgrößen Druck, Temperatur, Volumen und der universellen Gaskonstante. Wirkungsgrad Als Wirkungsgrad einer Wärmekraftmaschine wird der Anteil der vom oberen Temperaturniveau abfließenden Wärmeenergie bezeichnet, der in die genutzte mechanische Energie umgewandelt wird. Eine obere Grenze für ihn ist durch den Wirkungsgrad des Carnot-Prozesses gegeben, bei dem Wärmeaufnahme und -Abgabe bei definierten Temperaturniveaus und stattfinden und keine Reibungs-, Wärmeabfluss- und Wärmetransportverluste entstehen. Für ihn gilt: Voraussetzung für die Erreichung des Carnotschen Wirkungsgrades ist, dass alle Teilprozesse des Kreisprozesses reversibel gestaltet sind. Dies ist gleichbedeutend damit, dass eine Größe namens Entropie S des Gesamtsystems aus Wärmekraftmaschine und Umgebung nicht wächst. (Nach dem zweiten Hauptsatz der Thermodynamik kann sie nicht geringer werden, also muss sie konstant bleiben.) (dQ ist die ausgetauschte Wärmemenge eines infinitesimal kleinen Prozessschritts, T die dazugehörige Temperatur): Der Carnotsche Wirkungsgrad wird in der Praxis nie erreicht, da die Wärmeaufnahme auch bei niedrigeren Temperaturen als und die Wärmeabgabe auch bei höheren Temperaturen als stattfindet (z. B. im Stirling-Prozess), trotz Isolation immer Wärmetransport ohne Austausch von Arbeit stattfindet, jede Maschine Reibungsverluste aufweist, die ebenfalls das Verhältnis von Wärme- zu Arbeitsfluss verschlechtern, und schließlich bei schnell ablaufenden Prozessen der Wärmestrom aufgrund des nichtverschwindenden Wärmewiderstands eine Temperaturdifferenz benötigt, die für die Umwandlung in Arbeit verloren geht (siehe Wärmeleitung). Für Wärmepumpen ist die verwendete charakteristische Größe die Leistungszahl. Eine wichtige Größe für den Wirkungsgrad von Kolbenmaschinen bildet der Ausdehnungsgrad, manchmal auch Expansionswirkungsgrad genannt. Das ist der Volumenunterschied des verdichteten Gases zum expandierten Gas am Ende des Arbeitszyklus. Bei den Turbinen ist das Druckverhältnis oder das Temperaturverhältnis des Arbeits- oder Brenngases beim Turbineneintritt zum Turbinenaustritt bestimmend für den Wirkungsgrad. Ebenfalls wichtig ist ein möglichst hoher Isentropenexponent des Arbeitsgases. Das ist eine Verhältniszahl der Wärmekapazität eines Gases bei gleichem Druck zu der bei gleichem Volumen. Freie Wahl des Arbeitsgases besteht nur bei Maschinen mit geschlossenem Kreislauf. Beispiele Verbrennungsmotor Verbrennungsmotoren haben Verbrennungstemperaturen von bis zu 2500 °C (2773 K) und Arbeitsgas-Endtemperaturen von etwa 1000 °C (1273 K). Der theoretisch maximal erreichbare Wirkungsgrad wäre also In der Praxis erreichen unter optimalen Bedingungen Ottomotoren 38 %, Dieselmotoren 45 % und langsam laufende Schiffsdieselmotoren 50 % Wirkungsgrad. In PKWs erreichen unter realen Fahrbedingungen mit einem hohen Anteil von Teillastbetrieb Ottomotoren typischerweise einen zeitlich gemittelten Wirkungsgrad von weniger als 25 % und Dieselmotoren weniger als 30 %. GuD-Kraftwerk Eine Wärmekraftmaschine kann aus verschiedenen Kreisprozessen zusammengesetzt werden (z. B. GuD-Kraftwerk: Kombination des Gasturbinen­prozesses mit einem Dampfkraftwerk): Ausnutzung der Arbeitsfähigkeit eines Prozesses in der Temperaturspanne von 1500 bis 700 °C in der Gasturbine, danach mit den Abgasen aus dem Gasturbinenprozess Ausnutzung der Arbeitsfähigkeit eines Prozesses in der Temperaturspanne von 700 bis 100 °C im Dampfkraftwerk, wodurch theoretisch der Wirkungsgrad eines (Vergleichs-)Kreisprozesses in der Temperaturspanne von 1500 bis 100 °C erreicht werden kann. GuD-Kraftwerke erreichen in der Praxis Wirkungsgrade bis zu 63 %. Kolbendampfmaschine Kolbendampfmaschinen im geschlossenen Prozess arbeiten mit Dampftemperaturen bis 350 °C. Der Vergleichsprozess für diese Kraftmaschinen ist der Gleichdruckprozess. Der Wirkungsgrad übersteigt selten 20 %. Stirlingmotoren können im noch tieferen Temperaturbereich Wärme in Kraft umsetzen (z. B. Abwärme aus dem Dampfprozess). Der Wirkungsgrad erreicht dann gemäß der Carnot-Gleichung kaum mehr als 10 % bis 20 %. Gasturbine Gasturbinen arbeiten mit Turbineneintrittstemperaturen von 1300 °C bis 1400 °C und Abgastemperaturen von 800 °C bis 600 °C. Der Vergleichsprozess ist der Jouleprozess. Turbinen erreichen wegen der tieferen Höchsttemperaturen nicht den Wirkungsgrad von Kolbenmaschinen. Dampfturbine Dampfturbinen arbeiten mit Höchsttemperaturen von 600 °C bis 700 °C und Endtemperaturen von 130 °C. Der Vergleichsprozess ist der Jouleprozess oder der Clausius-Rankine-Prozess. Trotz der geringen Arbeitstemperatur des Dampfes kommt der Prozess wegen der guten Wärmekapazität und der guten Wärmeleitfähigkeit des Wasserdampfes im Erhitzer und im Kondensator auf Wirkungsgrade von über 30 %. Einteilung (Typologie) Da ein Gas als Arbeitsmedium eingesetzt wird, gehören Wärmekraftmaschinen zu den thermischen Fluidenergiemaschinen. Nach Art der Erzeugung der thermischen Energie Verbrennungskraftmaschinen (Thermische Fluidenergiemaschinen mit innerer Verbrennung) In aller Regel wird ein Gemisch aus Luft und Kohlenwasserstoffen nach dem Verdichten zur Zündung gebracht und verbrannt. Beim Kolbenmotor im Zylinderraum und bei der Turbine in der Brennkammer. Die Kohlenwasserstoffe können flüssig oder gasförmig mit der Luft und dem Sauerstoff vermischt werden. Die Effizienz von Maschinen mit innerer Verbrennung ist höher als die Effizienz von Maschinen mit äußerer Verbrennung (trotz besseren Arbeitsgaseigenschaften Wärmekapazität und Isentropenexponent bei äußerer Verbrennung), weil die Wärmeübertragung wegfällt. Verbrennungsmotor, Gasmotor (Benzinmotor λ=1 maximale Verbrennungstemperatur 2500 K, Dieselmotor λ=1,4 maximale Verbrennungstemperatur 2200 K) Gasturbine, Turbofan (Kerosinmotor λ=4-6 maximale Verbrennungstemperatur 1500 K, Turbolader maximale Abgastemperatur 1300 K) Thermische Gasenergiemaschinen mit äußerer Verbrennung In der Regel werden feste und billige Brennstoffe zur Aufheizung des Arbeitsgases verwendet (Kohle, Holz, Müll). Auch minderwertige flüssige und gasförmige Brennstoffe (Rohöl, Schweröl, Industriegas und Biogas) werden oft angewandt. Ein typischer Anwendungsfall sind auch die Brennstäbe von Kernkraftwerken. Als Arbeitsgas liefern Helium und Wasserstoff einen wesentlich besseren Wirkungsgrad als Dampf oder Luft oder Abgas, weil die drei wichtigen Eigenschaften für Arbeitsgase (Wärmekapazität, Isentropenexponent, Wärmeübergangszahl) besser sind. Dampfturbine (maximale Dampftemperatur 800 K bis 1000 K) Dampfmaschine (untere Dampftemperatur 500 K, obere Dampftemperatur 800 K) Stirlingmotor (untere Heliumtemperatur 400 K) Nach Druckaufbau Strömungsmaschinen Turbomaschinen Dampfturbine Gasturbine Staustrahltriebwerk Kolbenmaschinen Verbrennungsmotor (innere Verbrennung) Dampfmaschine (äußere Verbrennung) Stirlingmotor (äußere Verbrennung) Siehe auch Mikro-KWK Kraft-Wärme-Kopplung Schukey-Motor Weblinks Weitere Details bei Physikon Physik-Lexikon (21. November 2020 im Internet Archive). Alfred Kischke: Die Gaskraftmaschinen. Kurzgefaßte Darstellung der wichtigsten Gasmaschinen-Bauarten. De Gruyter, 1909. (Nachdruck: ISBN 978-3-11-101818-8) Gaskraftmaschine. In: Meyers Großes Konversations-Lexikon. Band 7, Leipzig 1907, S. 372–375. (online auf: zeno.org) Dampfschraubenmotor. auf: hessenenergie.de (PDF; 1,8 MB) Einzelnachweise Fluidkraftmaschine Wärmetechnik
Q178185
152.416607
213046
https://de.wikipedia.org/wiki/Durga
Durga
Durga (Sanskrit, f., , , wörtl.: die schwer Zugängliche, die schwer zu Begreifende) ist die wohl populärste Form der Göttin (devi) im Hinduismus, die in unterschiedlichen göttlichen Erscheinungsformen existiert, gütig und strafend: Durga ist eine Göttin der Vollkommenheit, die als Sarasvati, Lakshmi, Ambika und Ishvari sowie in anderen Formen erscheinen kann und unter anderem Kraft, Wissen, Handeln und Weisheit verkörpert. Im Tantrismus ist sie Shakti, die weibliche Urkraft/Energie des Universums. Während sie etwa als Lakshmi zu Vishnu und als Saraswati zu Brahma gehört, ist sie in der Form der Durga keinem männlichen Gott zugeordnet. Darstellung In der klassischen indischen Kunst wird Durga eigentlich immer nur in ihrer Rolle als Töterin des Büffeldämons (mahisasurmardini) dargestellt; erst viel später, im 19./20. Jahrhundert kommt auch der Aspekt ihrer Schönheit stärker zum Ausdruck. Hatte sie ursprünglich meist vier, sechs oder acht Arme, so hat sie in späteren Darstellungen zehn, manchmal sogar achtzehn oder zwanzig Arme, was große Kraft (Shakti) symbolisiert. Auf der Stirn befindet sich das dritte Auge und sie reitet auf einem Löwen oder Tiger. In ihren zornvollen Manifestationen tritt sie als Kali oder Chamunda auf. In ihren (meist acht) Händen trägt sie verschiedene Attribute, die variieren können – typisch sind Waffen (Diskus, Dreizack, Pfeil und Bogen, Schwert, Keule, Schild und Schneckenhorn), aber auch religiöse Gegenstände (Gebetskette, Glocke) kommen vor. Sie gilt als „Große Göttin“ (Mahadevi) und als „Allmutter“ (Ambika). Im Shaktismus stellt Durga die höchste Göttin dar, die alle anderen Götter überragt und eins ist mit dem Absoluten. Kumari, die jungfräuliche Mädchen-Göttin in Nepal, gilt als eine Inkarnation der Durga. Mythos Viele Schriften berichten über Durga. Der bekannteste Mythos ist im Devi Mahatmya überliefert, einem Teil des Markandeya-Purana, sowie im Devi Bhagavata. Es sind für ihre Verehrer die beiden wichtigsten Schriften und sie zählen zu den Puranas. Demnach erschlug Durga im Kampf den „Büffeldämon“ Mahishasura mitsamt seiner Armee, wodurch sie auch Mahishasura Mardini (Büffeldämontöterin) genannt wird. In Erscheinung trat sie auf Wunsch der himmlischen Devas, die von Mahisasur terrorisiert wurden. Durch harte Askese, Meditation und Beten wurde ihm von Brahma der Wunsch gewährt, dass er nur von der Hand einer Frau den Tod finden würde. Da er keiner Frau diese Fähigkeit zutraute, wurde er immer machtgieriger und schwang sich in seiner grenzenlosen Arroganz schließlich zum Herrscher des Himmels auf. Alle sollten ihn anbeten. Shiva und Vishnu wurden zornig, als sie vom Treiben des Dämons hörten, und im Zorn entsprang ihren Gesichtern jeweils ein helles Licht, das sich mit den Lichtern aus den Körpern der anderen Himmlischen zu einem einzigen vereinte und die Gestalt einer wunderschönen Frau annahm. Shiva und Vishnu sowie alle anderen Himmlischen überreichten ihr Waffen: Shiva gab aus seinem Dreizack heraus einen zweiten, Vishnu von seinem Diskus einen zweiten und jeder der himmlischen Devas schenkte eine exakte Kopie von seinem Emblem. Von Surya, der Sonne, erhielt sie die glänzenden Strahlen, die aus allen Poren ihrer Haut leuchten; Kala, die Zeit, schenkte ein Schwert und der Himalaya einen prachtvollen Tiger als Reittier. Das Devi Mahatmya beschreibt sie „überirdisch strahlend, ihr unermesslicher Glanz durchdrang die drei Welten, ihre Füße bogen die Erde und ihre Krone berührte den Himmel. Mit ihren tausend Armen durchdrang sie das Universum“. Schließlich zog die Göttin mit „laut brüllendem Lachen“ in den Kampf, die Berge schwankten, das Universum bebte und die Meere traten über die Ufer. Der Dämon wechselte während des Kampfes ständig seine Formen, war Büffel, Löwe, Elefant – bis sie ihn schließlich in seiner Büffelform besiegte. Fast jedes Hindukind kennt diese sehr populäre Purana-Geschichte der Göttin. Symbolik Die Symbolik des letztlich kosmischen Geschehens ist sehr vielschichtig und kann unterschiedliche Bedeutung haben: Die sich ständig wandelnden Formen des Dämons etwa können als die verschiedenen Erscheinungsformen des Übels angesehen werden. Der Büffel bedeutet außer einem Zeichen für Kraft oft auch Symbol für Verblendung, Egoismus und für geistigen Tod. Durgas Waffen sind Inbegriff aller kosmischen und geistigen Kräfte, die Schriften der Hindus sprechen an vielen Stellen in Bildern von diesen geistigen Waffen, die Bhagavad Gita etwa nennt das „Schwert der Weisheit“ oder erwähnt das „mächtige Schwert der Nichtanhänglichkeit“. Die Gläubigen interpretieren deshalb die Vernichtung des Dämons meist als das Zerschlagen allen Übels, der gesamten niederen menschlichen Natur, wobei für Hindus die klassischen sechs Übel folgende sind: Kama (weltliche Begierden, Lust und Unzufriedenheit), Krodha (Ärger, Zorn), Lobha (Gier), Moha (Verblendung), Mada (Hochmut) sowie Matsarya (Eifersucht und Neid). Durch ihren Sieg über diese inneren Feinde des Menschseins – verkörpert durch den Büffeldämon Mahisasur in seinen verschiedenen Formen – wird die Göttin als Verleiherin göttlicher Weisheit und Erkenntnis erkannt. Fest Das größte Fest zu Ehren der Göttin ist die Durga Puja und wird nach dem hinduistischen Mondkalender Ende September oder im Oktober gefeiert. Im Bundesstaat Westbengalen mit der Hauptstadt Kalkutta ist es sogar das wichtigste Fest des gesamten Jahres. Die Geschichte des Kampfes stellt der Priester rituell im Gottesdienst, der Puja, nach. Hymne Folgende kurze Ausschnitte aus einer sehr bekannten Sanskrit-Hymne (Ya devi sarva bhuteshu) aus dem fünften Kapitel des Devi Mahatmya, das Hindus besonders zur Durga Puja singen und beten oder in dieser für sie heiligen Zeit immer wieder im Radio hören, machen deutlich, dass die Göttin nicht nur als außerhalb existierend gedacht wird: Ehre der Göttin, der Großen Göttin! Ehre der Segensreichen! Ehre Ihr, die alles erschafft und erhält! Ehre sei immer wieder Durga, die uns aus der Bedrängnis führt, die Urgrund ist und Schöpferin von allem! Ehre, immer wieder Ehre der Göttin, die in allen Wesen als Bewusstsein lebt, der Göttin, die in allen Wesen als Weisheit lebt, der Göttin, die in allen Wesen als Frieden lebt, der Göttin, die in allen Wesen als Glaube lebt, der Göttin, die in allen Wesen als Anmut lebt, der Göttin, die in allen Wesen als Geduld lebt, der Göttin, die in allen Wesen als Zufriedenheit lebt, der Göttin, die in allen Wesen als Mutter lebt, der Göttin, die in allen Wesen als Irrtum (oder Fehler) lebt! Literatur Pranab Bandyopadhyay: Mother Goddess Durga. United Writers, Calcutta 1993, ISBN 81-85328-13-7. David Kinsley: Indische Göttinnen. Weibliche Gottheiten im Hinduismus. Insel, Frankfurt/M. 1990, ISBN 3-458-16118-X. Joe Heydecker: Die Schwestern der Venus. Die Frau in den Mythen und Religionen. Nymphenburger, München 1991, ISBN 3-485-00643-2. Weblinks 108 names of Durga Quelle: Durgāsaptaśatī Bernhard Peter: Die vielen Gesichter der Göttin: Parvati – Uma – Durga – Kali. Indische Gottheit Weibliche Gottheit Kriegsgottheit Gottheit des Hinduismus
Q382973
103.106131
13888
https://de.wikipedia.org/wiki/Symptom
Symptom
Symptom bezeichnet in Medizin und Psychologie ein Anzeichen, Zeichen oder (typisches) Merkmal für eine Erkrankung (Krankheitsmerkmal) oder eine Verletzung. Es kann durch einen Untersucher in Form eines Befundes eventuell erfasst oder vom Patienten selbst als Beschwerde berichtet werden. Das Symptom ist die kleinste beschreibbare Untersuchungseinheit in der Medizin. Die Bezeichnung Symptom ist abgeleitet von , symptoma „zufallsbedingter Umstand“ (bestehend aus syn „zusammen“, und piptein „fallen“). Die Gesamtheit der aus einem Krankheitsprozess resultierenden Symptome ergibt die Symptomatik (auch klinisches Bild oder Klinik genannt). Subjektive Symptome stellen Krankheitszeichen dar, die durch den Betroffenen selbst wahrnehmbar sind. Objektive Symptome (oder klinische Zeichen) sind dagegen von außen wahrnehmbare Krankheitsanzeichen. Typische Kombinationen gleichzeitig auftretender Symptome bezeichnet man als Syndrom („Symptomverband“). Deutliche Symptome oder Zeichen werden meist vom Patienten selbst bemerkt und geben ihm Anlass, medizinischen oder psychotherapeutischen Rat zu suchen. Diskrete und verdeckte Symptome hingegen fallen oft erst bei eingehender Befragung im Rahmen der Anamnese oder durch eine körperliche Untersuchung auf. Vielen Erkrankungen geht eine mehr oder weniger ausgedehnte sogenannte präklinische Phase ohne spezifische Symptomatik voraus. Bedeutung Symptome bilden zusammen mit den sonstigen Befunden die Grundlage für die Stellung einer Diagnose. Krankheitskennzeichnend (pathognomonisch) ist ein Symptom dann, wenn es bereits für sich alleine genommen ausreichend für eine sichere Diagnosestellung ist. Oft genügt bereits die Erhebung des Leitsymptoms (bedeutsamstes Zeichen einer Erkrankung oder Verletzung) und einiger weiterer Symptome, um eine Diagnose zu stellen und eine entsprechende Therapie einleiten zu können. In weniger klaren Fällen bedarf es zusätzlicher Untersuchungen (z. B. mittels Labordiagnostik oder bildgebender Verfahren) um ausreichende Befunde zu erhalten. Definition verwandter Begriffe Der Ausdruck „Befund“ wird im alltäglichen Sprachgebrauch häufig synonym zum Ausdruck „Symptom“ verwendet. Die Begriffe unterscheidet jedoch folgendes: Befund enthält den empirischen Charakter (das „Gefunden-werden-können“) erfasster Merkmale. Symptom enthält hingegen den Zeichencharakter eines Merkmals als Hinweis auf eine Erkrankung. Symptomatische Befunde sind Befunde, die für die Diagnose einer bestimmten gut bekannten Erkrankung kennzeichnend (pathognomonisch) sind. Die Bezeichnung „symptomatisch“ verwendet man auch zur Abgrenzung spezifisch somatisch bedingter Erkrankungen (etwa gegenüber psychisch bedingten Störungen). Eine symptomatische Psychose ist in diesem Sinne eine organisch bedingte (also körperlich begründbare) Psychose, z. B. als Folge einer unfallbedingten Hirnverletzung. Auch nosologisch nur schwer klassifizierbare Krankheitsbilder wie die sogenannten funktionellen Syndrome werden durch die Bezeichnung „symptomatisch“ als organischer Natur angesehen. Will man betonen, dass bestimmte funktionelle Syndrome keineswegs organisch bedingt sind, so benennt man sie als „essentielle Funktionsstörungen“. Die Bezeichnung „essentiell“ besagt, dass die ätiologische und pathogenetische Einordnung unklar ist. Symptomatische Therapieverfahren bekämpfen Symptome einer Erkrankung direkt, weil eine ursächliche Behandlung („kausal“) nicht möglich oder nicht nötig ist (zum Beispiel Linderung von hohem Fieber bei Virusinfektionen oder bei palliativen Maßnahmen). Man unterscheidet objektive und subjektive Symptome: Objektive Symptome sind die vom Untersucher festgestellten oder festgehaltenen pathologischen Einzelbefunde oder die von einer dritten Person (z. B. Angehörigen) berichteten Angaben zur Krankheit. In diesem Sinne wird z. B. auch zwischen Eigenanamnese und Fremdanamnese unterschieden. Subjektive Symptome sind die vom Patienten selbst benannten Krankheitszeichen. Die für ein ganz bestimmtes Krankheitsbild charakteristische Symptomengruppe wird als Symptomenkomplex bezeichnet. Allerdings wird "Symptomenkomplex" auch abweichend von dieser Definition verwendet, nämlich gleichbedeutend zu Syndrom (wenn Ursache und Krankheitsentstehung (Ätiologie und Pathogenese) unklar sind). Ein verwandter Begriff ist Symptomentrias (= drei typische Symptome). Gerd Huber hat gleichartige oder ähnliche Symptome, die aufgrund von ätiologisch und pathogenetisch unterschiedlicher Krankheitsauslösung entstehen, als Ausdrucksgemeinschaft von Symptomen bezeichnet. Als Residualsymptom bezeichnet man das Zurückbleiben eines Symptoms nach der Genesung (siehe z. B. psychischer Defekt). Unter Prodromalsymptomen versteht man unspezifische Vorläufersymptome einer Infektionskrankheit (z. B. Gliederschmerzen, Schwäche und Fieber). Siehe auch Idiopathie Index (Semiotik) Initialsymptom Klinische Psychologie kryptogen Sinthom Symptomatische Therapie Weblinks Einzelnachweise
Q169872
163.601875
412
https://de.wikipedia.org/wiki/Asteroid
Asteroid
Als Asteroiden (von ), Kleinplaneten oder Planetoiden werden astronomische Kleinkörper bezeichnet, die sich auf keplerschen Umlaufbahnen um die Sonne bewegen und größer als Meteoroiden (Millimeter bis Meter), aber kleiner als Zwergplaneten (ca. tausend Kilometer) sind. Der Begriff Asteroid wird oft als Synonym von Kleinplanet verwendet, bezieht sich aber hauptsächlich auf Objekte innerhalb der Neptun­bahn und ist kein von der IAU definierter Begriff. Jenseits der Neptunbahn werden solche Körper auch transneptunische Objekte (TNO) genannt. Nach neuerer Definition fasst der Begriff Kleinplanet die „klassischen“ Asteroiden und die TNO zusammen. Bislang sind über 1,316 Millionen Asteroiden im Sonnensystem bekannt (Stand: 13. Oktober 2023), wobei jeden Monat mehrere Tausend neue Entdeckungen hinzukommen und die tatsächliche Anzahl wohl in mehrere Millionen gehen dürfte. Asteroiden haben im Gegensatz zu den Zwergplaneten definitionsgemäß eine zu geringe Masse, um in ein hydrostatisches Gleichgewicht zu kommen und eine annähernd runde Form anzunehmen, und sind daher generell unregelmäßig geformte Körper. Nur die wenigsten haben mehr als einige hundert Kilometer Durchmesser. Große Asteroiden im Asteroidengürtel sind die Objekte (2) Pallas, (3) Juno, (4) Vesta, (5) Astraea, (6) Hebe, (7) Iris, (10) Hygiea und (15) Eunomia. Bezeichnungen Die Bezeichnung Asteroid bezieht sich auf die Größe der Objekte. Asteroid bedeutet wörtlich „sternartig“. Fast alle sind so klein, dass sie im Teleskop wie der Lichtpunkt eines Sterns erscheinen. Die Planeten erscheinen hingegen als kleine Scheibe mit einer gewissen räumlichen Ausdehnung. Die Bezeichnung Kleinplanet oder Planetoid rührt daher, dass sich die Objekte am Firmament wie Planeten relativ zu den Sternen bewegen. Asteroiden sind keine Planeten und gelten auch nicht als Zwergplaneten, denn aufgrund ihrer geringen Größe ist die Gravitation zu schwach, um sie annähernd zu einer Kugel zu formen. Gemeinsam mit Kometen und Meteoroiden gehören Asteroiden zur Klasse der Kleinkörper. Meteoroiden sind kleiner als Asteroiden, aber zwischen ihnen und Asteroiden gibt es weder von der Größe noch von der Zusammensetzung her eine eindeutige Grenze. Zwergplaneten Seit der 26. Generalversammlung der Internationalen Astronomischen Union (IAU) und ihrer Definition vom 24. August 2006 zählen die großen runden Objekte, deren Gestalt sich im hydrostatischen Gleichgewicht befindet, strenggenommen nicht mehr zu den Asteroiden, sondern zu den Zwergplaneten. (1) Ceres (975 km Durchmesser) ist das größte Objekt im Asteroidengürtel und wird als einziges Objekt zu den Zwergplaneten gezählt. (2) Pallas und (4) Vesta sind große Objekte im Asteroidengürtel, beide sind aber nicht rund und somit per Definition keine Zwergplaneten. Im Kuipergürtel gibt es neben dem – früher als Planet und heute als Zwergplanet eingestuften – Pluto (2390 km Durchmesser) weitere Zwergplaneten: (136199) Eris (2326 km), (136472) Makemake (1430 × 1502 km), (136108) Haumea (elliptisch, etwa 1920 × 1540 × 990 km), (50000) Quaoar (1110 km) und (90482) Orcus (917 km). Das Ende 2003 jenseits des Kuipergürtels entdeckte etwa 995 km große Objekt (90377) Sedna dürfte ebenfalls als Zwergplanet einzustufen sein. Die Geschichte der Asteroidenforschung Vermuteter Kleinplanet und die „Himmelspolizey“ Bereits im Jahr 1760 entwickelte der deutsche Gelehrte Johann Daniel Titius eine einfache mathematische Formel (Titius-Bode-Reihe), nach der die Sonnenabstände der Planeten einer einfachen numerischen Folge entsprechen. Nach dieser Folge müsste es allerdings zwischen Mars und Jupiter einen weiteren Planeten im Sonnenabstand von 2,8 AE geben. Auf diesen offenbar noch unentdeckten Planeten setzte gegen Ende des 18. Jahrhunderts eine regelrechte Jagd ein. Für eine koordinierte Suche wurde 1800, als erstes internationales Forschungsvorhaben, die Himmelspolizey gegründet. Organisator war Baron Franz Xaver von Zach, der seinerzeit an der Sternwarte Gotha tätig war. Der Sternhimmel wurde in 24 Sektoren eingeteilt, die von Astronomen in ganz Europa systematisch abgesucht wurden. Für den Planeten hatte man bereits den Namen „Phaeton“ reservieren lassen. Die Suche blieb insofern erfolglos, als der erste Kleinplanet (Ceres) zu Jahresbeginn 1801 durch Zufall entdeckt wurde. Allerdings bewährte sich die Himmelspolizey bald in mehrfacher Hinsicht: mit der Wiederauffindung des aus den Augen verlorenen Kleinplaneten, mit verbesserter Kommunikation über Himmelsentdeckungen und mit der erfolgreichen Suche nach weiteren Kleinplaneten zwischen 1802 und 1807. Die Entdeckung der ersten Kleinplaneten In der Neujahrsnacht des Jahres 1801 entdeckte der Astronom und Theologe Giuseppe Piazzi im Teleskop der Sternwarte von Palermo (Sizilien) bei der Durchmusterung des Sternbildes Stier einen schwach leuchtenden Himmelskörper, der in keiner Sternkarte verzeichnet war. Piazzi hatte von Zachs Forschungsvorhaben gehört und beobachtete das Objekt in den folgenden Nächten, da er vermutete, den gesuchten Planeten gefunden zu haben. Er sandte seine Beobachtungsergebnisse an Zach, wobei er es zunächst als neuen Kometen bezeichnete. Piazzi erkrankte jedoch und konnte seine Beobachtungen nicht fortsetzen. Bis zur Veröffentlichung seiner Beobachtungen verging viel Zeit. Der Himmelskörper war inzwischen weiter in Richtung Sonne gewandert und konnte zunächst nicht wiedergefunden werden. Der Mathematiker Gauß hatte allerdings ein numerisches Verfahren entwickelt, das es erlaubte, unter Anwendung der Methode der kleinsten Quadrate die Bahnen von Planeten oder Kometen anhand nur weniger Positionen zu bestimmen. Nachdem Gauß die Veröffentlichungen Piazzis gelesen hatte, berechnete er die Bahn des Himmelskörpers und sandte das Ergebnis nach Gotha. Heinrich Wilhelm Olbers entdeckte das Objekt daraufhin am 31. Dezember 1801 wieder, das schließlich den Namen Ceres erhielt. Im Jahr 1802 entdeckte Olbers einen weiteren Himmelskörper, den er Pallas nannte. 1803 wurde Juno, 1807 Vesta entdeckt. Bis zur Entdeckung des fünften Asteroiden, Astraea im Jahr 1845, vergingen allerdings 38 Jahre. Die bis dahin entdeckten Asteroiden wurden damals noch nicht als solche bezeichnet – sie galten zu dieser Zeit als vollwertige Planeten. So kam es, dass der Planet Neptun bei seiner Entdeckung im Jahr 1846 nicht als achter, sondern als dreizehnter Planet gezählt wurde. Ab dem Jahr 1847 folgten allerdings so rasch weitere Entdeckungen, dass bald beschlossen wurde, für die zahlreichen, aber allesamt doch recht kleinen Himmelskörper, welche die Sonne zwischen Mars und Jupiter umkreisen, eine neue Objektklasse von Himmelskörpern einzuführen: die Asteroiden, die sogenannten kleinen Planeten. Die Zahl der großen Planeten sank somit auf acht. Bis zum Jahr 1890 wurden insgesamt über 300 Asteroiden entdeckt. Fotografische Suchmethoden, Radarmessungen Nach 1890 brachte die Anwendung der Fotografie in der Astronomie wesentliche Fortschritte. Die Asteroiden, die bis dahin mühsam durch den Vergleich von Teleskopbeobachtungen mit Himmelskarten gefunden wurden, verrieten sich nun durch Lichtspuren auf den fotografischen Platten. Durch die im Vergleich zum menschlichen Auge höhere Lichtempfindlichkeit der fotografischen Emulsionen konnten, in Kombination mit langen Belichtungszeiten bei Nachführung des Teleskops quasi im Zeitraffer, äußerst lichtschwache Objekte nachgewiesen werden. Durch den Einsatz der neuen Technik stieg die Zahl der entdeckten Asteroiden rasch an. Ein Jahrhundert später, um 1990, löste die digitale Fotografie in Gestalt der CCD-Kameratechnik einen weiteren Entwicklungssprung aus, der durch die Möglichkeiten der computerunterstützten Auswertung der elektronischen Aufnahmen noch potenziert wird. Seither hat sich die Zahl jährlich aufgefundener Asteroiden nochmals vervielfacht. Ist die Bahn eines Asteroiden bestimmt worden, kann die Größe des Himmelskörpers aus der Untersuchung seiner Helligkeit und des Rückstrahlvermögens, der Albedo, ermittelt werden. Dazu werden Messungen mit sichtbaren Lichtfrequenzen sowie im Infrarotbereich durchgeführt. Diese Methode ist allerdings mit Unsicherheiten verbunden, da die Oberflächen der Asteroiden chemisch unterschiedlich aufgebaut sind und das Licht unterschiedlich stark reflektieren. Genauere Ergebnisse können mittels Radarbeobachtungen erzielt werden. Dazu können Radioteleskope verwendet werden, die, als Sender umfunktioniert, starke Radiowellen in Richtung der Asteroiden aussenden. Durch die Messung der Laufzeit der von den Asteroiden reflektierten Wellen kann deren exakte Entfernung bestimmt werden. Die weitere Auswertung der Radiowellen liefert Daten zu Form und Größe. Regelrechte „Radarbilder“ lieferte beispielsweise die Beobachtung der Asteroiden (4769) Castalia und (4179) Toutatis. Automatisierte Durchmusterungen Neue und weiterentwickelte Technologien sowie fortgesetzte Leistungssteigerung von Detektoren und elektronischer Datenverarbeitung ermöglichten seit den 1990er Jahren eine Reihe von automatisierten Suchprogrammen mit verschiedenen Zielsetzungen. Diese Durchmusterungen haben einen erheblichen Anteil an der Neuentdeckung von Asteroiden. Eine Reihe von Suchprogrammen konzentriert sich auf erdnahe Asteroiden z. B. LONEOS, LINEAR, NEAT, NeoWise, Spacewatch, Catalina Sky Survey und Pan-STARRS. Sie haben erheblichen Anteil daran, dass quasi täglich neue Asteroiden gefunden werden, deren Anzahl Mitte Juli 2020 über 900.000 erreicht hatte. In naher Zukunft wird sich die Zahl der bekannten Asteroiden nochmals deutlich erhöhen, da für die nächsten Jahre Durchmusterungen mit erhöhter Empfindlichkeit geplant sind, zum Beispiel Gaia und LSST. Allein die Raumsonde Gaia soll nach Modellrechnungen bis zu eine Million bisher unbekannter Asteroiden entdecken. Beobachtungen mit Raumsonden Eine Reihe von Asteroiden konnte mittels Raumsonden näher untersucht werden: Die Raumsonde Galileo flog auf ihrem Weg zum Planeten Jupiter im Jahr 1991 am Asteroiden (951) Gaspra und 1993 an (243) Ida vorbei. Die Sonde NEAR-Shoemaker passierte 1997 den Asteroiden (253) Mathilde und landete 2001 auf (433) Eros. Die Sonde Deep Space 1 näherte sich 1999 dem Asteroiden (9969) Braille bis zu einem Abstand von lediglich 28 km. Die Sonde Stardust zog 2002 in 3.300 km Entfernung am Asteroiden (5535) Annefrank vorbei. Die japanische Sonde Hayabusa erreichte 2005 den Asteroiden (25143) Itokawa und entnahm erstmals Gesteinsproben von einem Asteroiden. Im Juni 2009 warf sie eine Kapsel mit diesen Proben über Australien ab. Im November 2010 bestätigte die JAXA, dass die Proben – etwa 1500 meist sehr kleine Partikel – definitiv von dem Asteroiden stammten. Die europäische Sonde Rosetta passierte 2008 den Asteroiden (2867) Šteins und 2010 den Asteroiden (21) Lutetia. Von Juli 2011 bis September 2012 befand sich die 2007 gestartete Raumsonde Dawn im Orbit um (4) Vesta. Anschließend machte sich die Raumsonde auf den Weg zum Zwergplaneten Ceres, den sie 2015 erreichte. Dez 2012: Vorbeiflug der chinesischen Sonde Chang’e 2 an Asteroid (4179) Toutatis. Weitere Missionen sind geplant, unter anderem: Für das Jahr 2024 plant die japanische Raumfahrtagentur JAXA die Mission Destiny Plus zum Asteroiden (3200) Phaethon. Benennung Die Namen der Asteroiden setzen sich aus einer vorangestellten Nummer und einem Namen zusammen. Die Nummer gab früher die Reihenfolge der Entdeckung des Himmelskörpers an. Heute ist sie eine rein numerische Zählform, da sie erst vergeben wird, wenn die Bahn des Asteroiden gesichert und das Objekt jederzeit wiederauffindbar ist; das kann durchaus erst Jahre nach der Erstbeobachtung erfolgen. Von den bisher bekannten 1.316.623 Asteroiden haben 629.008 eine Nummer (Stand: 13. Oktober 2023). Der Entdecker hat innerhalb von zehn Jahren nach der Nummerierung das Vorschlagsrecht für die Vergabe eines Namens. Dieser muss jedoch durch eine Kommission der IAU bestätigt werden, da es Richtlinien für die Namen astronomischer Objekte gibt. Dementsprechend existieren zahlreiche Asteroiden zwar mit Nummer, aber ohne Namen, vor allem in den oberen Zehntausendern. Neuentdeckungen, für die noch keine Bahn mit ausreichender Genauigkeit berechnet werden konnte, werden mit dem Entdeckungsjahr und einer Buchstabenkombination, beispielsweise 2003 UB313, gekennzeichnet. Die Buchstabenkombination setzt sich aus dem ersten Buchstaben für die Monatshälfte (beginnend mit A und fortlaufend bis Y ohne I) und einem fortlaufenden Buchstaben (A bis Z ohne I) zusammen. Wenn mehr als 25 Kleinplaneten in einer Monatshälfte entdeckt werden – was heute die Regel ist – beginnt die Buchstabenkombination von vorne, gefolgt von jeweils einer je Lauf um eins erhöhten laufenden Nummer. Der erste Asteroid wurde 1801 von Giuseppe Piazzi an der Sternwarte Palermo auf Sizilien entdeckt. Piazzi taufte den Himmelskörper auf den Namen „Ceres Ferdinandea“. Die römische Göttin Ceres ist Schutzpatronin der Insel Sizilien. Mit dem zweiten Namen wollte Piazzi König Ferdinand IV., den Herrscher über Italien und Sizilien ehren. Dies missfiel der internationalen Forschergemeinschaft und der zweite Name wurde fallengelassen. Die offizielle Bezeichnung des Asteroiden lautet demnach (1) Ceres. Bei den weiteren Entdeckungen wurde die Nomenklatur beibehalten und die Asteroiden wurden nach römischen und griechischen Göttinnen benannt; dies waren (2) Pallas, (3) Juno, (4) Vesta, (5) Astraea, (6) Hebe, und so weiter. Als immer mehr Asteroiden entdeckt wurden, gingen den Astronomen die antiken Gottheiten aus. So wurden Asteroiden unter anderem nach den Ehefrauen der Entdecker, zu Ehren historischer Persönlichkeiten oder Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, Städten und Märchenfiguren benannt. Beispiele hierfür sind die Asteroiden (21) Lutetia, (216) Kleopatra, (719) Albert, (1773) Rumpelstilz, (5535) Annefrank, (17744) Jodiefoster. Neben Namen aus der griechisch-römischen Mythologie kommen auch Namen von Gottheiten aus anderen Kulturkreisen zur Anwendung, insbesondere für neu entdeckte, größere Objekte, wie (20000) Varuna, (50000) Quaoar und (90377) Sedna. Monde von Asteroiden erhalten zu ihrem Namen keine permanente Nummer und gelten nicht als Asteroiden oder Kleinkörper, da sie nicht selbstständig die Sonne umlaufen. Entstehung Zunächst gingen die Astronomen davon aus, dass die Asteroiden das Ergebnis einer kosmischen Katastrophe seien, bei der ein Planet zwischen Mars und Jupiter auseinanderbrach und Bruchstücke auf seiner Bahn hinterließ. Es zeigte sich jedoch, dass die Gesamtmasse der im Hauptgürtel vorhandenen Asteroiden sehr viel geringer ist als die des Erdmondes. Schätzungen der Gesamtmasse der Kleinplaneten schwanken zwischen 0,1 und 0,01 Prozent der Erdmasse (Der Mond hat etwa 1,23 Prozent der Erdmasse). Daher wird angenommen, dass die Asteroiden eine Restpopulation von Planetesimalen aus der Entstehungsphase des Sonnensystems darstellen. Die Gravitation von Jupiter, dessen Masse am schnellsten zunahm, verhinderte die Bildung eines größeren Planeten aus dem Asteroidenmaterial. Die Planetesimale wurden auf ihren Bahnen gestört, kollidierten immer wieder heftig miteinander und zerbrachen. Ein Teil wurde auf Bahnen abgelenkt, die sie auf Kollisionskurs mit den Planeten brachten. Hiervon zeugen noch die Einschlagkrater auf den Planetenmonden und den inneren Planeten. Die größten Asteroiden wurden nach ihrer Entstehung stark erwärmt (hauptsächlich durch den radioaktiven Zerfall des Aluminium-Isotops 26Al und möglicherweise auch des Eisenisotops 60Fe) und im Innern aufgeschmolzen. Schwere Elemente, wie Nickel und Eisen, setzten sich infolge der Schwerkraftwirkung im Inneren ab, die leichteren Verbindungen, wie die Silikate, verblieben in den Außenbereichen. Dies führte zur Bildung von differenzierten Körpern mit metallischem Kern und silikatischem Mantel. Ein Teil der differenzierten Asteroiden zerbrach bei weiteren Kollisionen, wobei Bruchstücke, die in den Anziehungsbereich der Erde geraten, als Meteoriten niedergehen. Klassifikationsschemata von Asteroiden Die spektroskopische Untersuchung der Asteroiden zeigte, dass deren Oberflächen chemisch unterschiedlich zusammengesetzt sind. Analog erfolgte eine Einteilung in verschiedene spektrale, beziehungsweise taxonomische Klassen. Klassifikationsschema nach Tholen David J. Tholen veröffentlichte 1984 für die Einordnung von Asteroiden anhand ihrer Spektraleigenschaften ein Klassifikationsschema mit 14 Klassen, die wiederum in 3 Gruppen (C, S und X) zusammengefasst sind: A-Asteroiden: Das Spektrum der A-Asteroiden zeigt deutliche Olivinbanden und weist auf einen völlig differenzierten Mantelbereich hin. A-Asteroiden halten sich im inneren Bereich des Hauptgürtels auf. Beispiele wären (446) Aeternitas, (1951) Lick und (1747) Wright. B-Asteroiden: Ähnlich zusammengesetzt wie die C- und G-Klasse. Abweichungen im UV-Bereich. Beispiele: (62) Erato, (2) Pallas, (3200) Phaethon sind B-Asteroiden. C-Asteroiden: Dies ist mit einem Anteil von 75 Prozent der häufigste Asteroidentyp. C-Asteroiden weisen eine kohlen- oder kohlenstoffartige (das C steht für Kohlenstoff), dunkle Oberfläche mit einer Albedo um 0,05 auf. Es wird vermutet, dass die C-Asteroiden aus dem gleichen Material bestehen wie die kohligen Chondriten, einer Gruppe von Steinmeteoriten. Die C-Asteroiden bewegen sich im äußeren Bereich des Hauptgürtels. (54) Alexandra, (164) Eva und (2598) Merlin sind Vertreter dieses Spektraltyps. D-Asteroiden: Dieser Typ ist ähnlich zusammengesetzt wie die P-Asteroiden, mit einer geringen Albedo und einem rötlichen Spektrum. Beispiele sind (3552) Don Quixote, (435) Ella, (944) Hidalgo. E-Asteroiden: Die Oberflächen dieses seltenen Typs von Asteroiden bestehen aus dem Mineral Enstatit. Chemisch dürften sie den Enstatit-Chondriten, einer Gruppe von Steinmeteoriten, ähneln. E-Asteroiden besitzen eine hohe Albedo von 0,4 und mehr. Beispiele: (29075) 1950 DA, (33342) 1998 WT24, (64) Angelina, (2867) Šteins. F-Asteroiden: Ebenfalls eine Untergruppe der C-Klasse, jedoch mit Unterschieden im UV-Bereich. Außerdem fehlen Absorptionslinien im Wellenlängenbereich des Wassers. Beispiele: (704) Interamnia, (1012) Sarema, (530) Turandot. G-Asteroiden: Sie können als Untergruppe der C-Klasse angesehen werden, da sie ein ähnliches Spektrum aufweisen, jedoch im UV-Bereich unterschiedliche Absorptionslinien aufweisen. Beispiele: (106) Dione, (130) Elektra, (19) Fortuna. M-Asteroiden: Der überwiegende Rest der Asteroiden wird diesem Typ zugerechnet. Bei den M-Meteoriten (das M steht für metallisch) dürfte es sich um die metallreichen Kerne differenzierter Asteroiden handeln, die bei der Kollision mit anderen Himmelskörpern zertrümmert wurden. Sie besitzen eine ähnliche Albedo wie die S-Asteroiden. Ihre Zusammensetzung dürfte der von Nickel-Eisenmeteoriten gleichen. (250) Bettina, (325) Heidelberga, (224) Oceana, (16) Psyche und (498) Tokio sind M-Asteroiden. P-Asteroiden: Asteroiden dieses Typs besitzen eine sehr geringe Albedo und ein Spektrum im rötlichen Bereich. Sie sind wahrscheinlich aus Silikaten mit Kohlenstoffanteilen zusammengesetzt. P-Asteroiden halten sich im äußeren Bereich des Hauptgürtels auf. Beispiele: (65) Cybele, (76) Freia, (1001) Gaussia, (46) Hestia und (643) Scheherezade. R-Asteroiden: Dieser Typ ist ähnlich aufgebaut wie die V-Asteroiden. Das Spektrum weist auf hohe Anteile an Olivinen und Pyroxenen hin. Beispiel: (349) Dembowska. S-Asteroiden: Der mit einem Anteil von 17 Prozent zweithäufigste Typ (das S steht für Silikat) kommt hauptsächlich im inneren Bereich des Hauptgürtels vor. S-Asteroiden besitzen eine hellere Oberfläche mit einer Albedo von 0,15 bis 0,25. Von ihrer Zusammensetzung her ähneln sie den gewöhnlichen Chondriten, einer Gruppe von Steinmeteoriten, die überwiegend aus Silikaten zusammengesetzt sind. Beispiele: (29) Amphitrite, (5) Astraea, (27) Euterpe, (6) Hebe, (7) Iris. T-Asteroiden: T-Asteroiden findet man im mittleren und äußeren Bereich des Hauptgürtels sowie bei den Jupiter-Trojanern. Sie weisen ein dunkles rötliches Spektrum auf, unterscheiden sich jedoch von den P- und R-Asteroiden. Beispiele: (96) Aegle, (3317) Paris, (308) Polyxo, (596) Scheila. V-Asteroiden: Dieser seltene Typ von Asteroiden (das V steht für Vesta) ist ähnlich zusammengesetzt wie die S-Asteroiden. Der einzige Unterschied ist der erhöhte Anteil an Pyroxen-Mineralen. Es wird angenommen, dass alle V-Asteroiden aus dem silikatischen Mantel von Vesta stammen und bei der Kollision mit einem anderen großen Asteroiden abgesprengt wurden. Darauf weist ein gewaltiger Impaktkrater auf Vesta hin. Die auf der Erde gefundenen HED-Achondrite, eine seltene Gruppe von Steinmeteoriten, könnten ebenfalls von Vesta stammen, da sie eine ähnliche chemische Zusammensetzung aufweisen. Beispiele für V-Asteroiden: (4055) Magellan, (3908) Nyx, (3551) Verenia. X-Asteroiden: Asteroiden mit rötlichen Spektren, die nicht genauer in die Klassen E, M oder P eingeordnet werden können, weil die dafür notwendigen Albedo-Bestimmungen nicht vorliegen. Beispiele: (53319) 1999 JM8, (3362) Khufu, (275) Sapientia, (1604) Tombaugh. Das Klassifikationsschema wurde von Tholen 1989 ergänzt: U Zusatz zeigt ein ungewöhnliches Spektrum an; weit vom Zentrum des Cluster entfernt : Zusatz zeigt „noisy“ Daten an :: Zusatz zeigt sehr „noisy“ Daten an --- Zeigt Daten an, die zu „noisy“ sind, als dass eine Klassifikation möglich wäre (im Grunde wären alle Klassen möglich) I Widersprüchliche Daten Nach Tholen können bis zu vier Buchstaben vergeben werden, beispielsweise „SCTU“. Ein Asteroid mit einem derartigen Zusatz ist beispielsweise (2340) Hathor, welcher nach Tholen in die Spektralklasse „CSU“ einsortiert werden würde (nach SMASSII als Sq). Der Buchstabe „I“ ist beispielsweise in der JPL Small-Body Database beim Asteroiden (515) Athalia eingetragen, nach SMASSII wird der Asteroid als „Cb“ eingeordnet. Zusammensetzung In der Vergangenheit gingen Wissenschaftler davon aus, dass die Asteroiden monolithische Felsbrocken, also kompakte Gebilde sind. Die geringen Dichten etlicher Asteroiden sowie das Vorhandensein von riesigen Einschlagkratern deuten jedoch darauf hin, dass viele Asteroiden locker aufgebaut sind und eher als rubble piles anzusehen sind, als lose „Schutthaufen“, die nur durch die Gravitation zusammengehalten werden. Locker aufgebaute Körper können die bei Kollisionen auftretenden Kräfte absorbieren ohne zerstört zu werden. Kompakte Körper werden dagegen bei größeren Einschlagereignissen durch die Stoßwellen auseinandergerissen. Darüber hinaus weisen die großen Asteroiden nur geringe Rotationsgeschwindigkeiten auf. Eine schnelle Rotation um die eigene Achse würde sonst dazu führen, dass die auftretenden Fliehkräfte die Körper auseinanderreißen (siehe auch: YORP-Effekt). Man geht heute davon aus, dass der überwiegende Teil der über 200 Meter großen Asteroiden derartige kosmische Schutthaufen sind. Bahnen Anders als die Planeten besitzen viele Asteroiden keine annähernd kreisrunden Umlaufbahnen. Sie haben, abgesehen von den meisten Hauptgürtelasteroiden und den Cubewanos im Kuipergürtel, meist sehr exzentrische Orbits, deren Ebenen in vielen Fällen stark gegen die Ekliptik geneigt sind. Ihre relativ hohen Exzentrizitäten machen sie zu Bahnkreuzern; das sind Objekte, die während ihres Umlaufs die Bahnen eines oder mehrerer Planeten passieren. Die Schwerkraft des Jupiter sorgt allerdings dafür, dass sich Asteroiden, bis auf wenige Ausnahmen, nur jeweils innerhalb oder außerhalb seiner Umlaufbahn bewegen. Anhand ihrer Bahnen werden Asteroiden auch zu mehreren Asteroidenfamilien zugeordnet, die sich durch ähnliche Werte von großer Halbachse, Exzentrizität sowie Inklination ihrer Bahn auszeichnen. Die Asteroiden einer Familie stammen vermutlich vom gleichen Ursprungskörper ab. Im Jahr 2015 listete David Nesvorný fünf Hauptfamilien auf. Etwa 45 % aller Asteroiden des Hauptgürtels können anhand der gegebenen Kriterien einer solchen Familie zugeordnet werden. Asteroiden innerhalb der Marsbahn Innerhalb der Marsbahn bewegen sich einige unterschiedliche Asteroidengruppen, die alle bis auf wenige Ausnahmen aus Objekten von unter fünf Kilometer Größe (überwiegend jedoch deutlich kleiner) bestehen. Einige dieser Objekte sind Merkur- und Venusbahnkreuzer, von denen sich mehrere nur innerhalb der Erdbahn bewegen, manche können sie auch kreuzen. Wiederum andere bewegen sich hingegen nur außerhalb der Erdbahn. Die Existenz der als Vulkanoiden bezeichneten Gruppe von Asteroiden konnte bislang nicht nachgewiesen werden. Diese Asteroiden sollen sich auf sonnennahen Bahnen innerhalb der von Merkur bewegen. Erdnahe Asteroiden Asteroiden, deren Bahnen dem Orbit der Erde nahekommen, werden als erdnahe Asteroiden, auch NEAs (Near Earth Asteroids) bezeichnet. Üblicherweise wird als Abgrenzungskriterium ein Perihel kleiner als 1,3 AE verwendet. Wegen einer theoretischen Kollisionsgefahr mit der Erde wird seit einigen Jahren systematisch nach ihnen gesucht. Bekannte Suchprogramme sind zum Beispiel Lincoln Near Earth Asteroid Research (LINEAR), der Catalina Sky Survey, Pan-STARRS, NEAT und LONEOS. Amor-Typ: Die Objekte dieses Asteroidentyps kreuzen die Marsbahn in Richtung Erde. Allerdings kreuzen sie nicht die Erdbahn. Ein Vertreter ist der 1898 entdeckte (433) Eros, der sich der Erdbahn bis 0,15 AE nähert. Nahe Vorbeigänge von Eros an der Erde dienten in den Jahren 1900 und 1931 zur genauen Vermessung des Sonnensystems. Der Namensgeber der Gruppe, der 1932 entdeckte (1221) Amor, besitzt eine typische Bahn von 1,08 bis 2,76 AE. Der größte Vertreter dieser Gruppe ist mit 38 Kilometern Durchmesser der Asteroid (1036) Ganymed. Alle Asteroiden des Amor-Typs haben ihr Perihel in relativer Erdnähe, ihr Aphel kann jedoch sowohl innerhalb der Marsbahn als auch weit außerhalb der Jupiterbahn liegen. Apohele-Typ: Diese Objekte gehören zu einer Untergruppe des Aten-Typs, deren Aphel innerhalb der Erdbahn liegt und diese somit nicht kreuzen (Aten-Asteroiden haben ihr Aphel typischerweise außerhalb der Erdbahn). Erdbahnkreuzer: Dies sind Objekte, deren Umlaufbahn die der Erde kreuzt, was die Wahrscheinlichkeit einer Kollision beinhaltet. Apollo-Typ: Asteroiden dieses Typs haben eine Bahnhalbachse mit einer Ausdehnung von mehr als einer AE, wobei einige ihrer Mitglieder sehr exzentrische Umlaufbahnen besitzen, welche die Erdbahn kreuzen können. Einige können im Perihel-Durchgang sogar ins Innere der Venus-Umlaufbahn gelangen. Namensgeber der Gruppe ist der 1932 von K. Reinmuth entdeckte (1862) Apollo mit einer Bahn von 0,65 bis 2,29 AE. Der 1937 entdeckte (69230) Hermes zog in nur 1½-facher Monddistanz an der Erde vorbei und galt danach als verschollen, bis er im Jahr 2003 schließlich wiedergefunden wurde. Der größte Apollo-Asteroid ist (1866) Sisyphus. Aten-Typ: Dies sind erdnahe Asteroiden, deren Bahnhalbachse typischerweise eine Länge von weniger als einer AE besitzt. Jedoch liegt ihr Aphel in allen Fällen außerhalb der Erdbahn. Daher können Aten-Asteroiden mit exzentrischen Bahnen die Erdbahn von innen her kreuzen. Benannt wurde die Gruppe nach dem 1976 entdeckten (2062) Aten. Weitere Vertreter der Gruppe sind (99942) Apophis, (2340) Hathor und (3753) Cruithne. Arjuna-Asteroiden: Objekte dieser Gruppe besitzen eine erdähnliche Umlaufbahn. Dieser Gruppe gehören meist Asteroiden der Apollo-, Amor- oder Aten-Gruppe an. Asteroiden zwischen Mars und Jupiter Etwa 90 Prozent der bekannten Asteroiden bewegen sich zwischen den Umlaufbahnen von Mars und Jupiter. Sie füllen damit die Lücke in der Titius-Bode-Reihe. Die größten Objekte sind hier (1) Ceres, (2) Pallas, (4) Vesta und (10) Hygiea. Asteroiden des Hauptgürtels Die meisten der Objekte, deren Bahnhalbachsen zwischen der Mars- und Jupiterbahn liegen, sind Teil des Asteroiden-Hauptgürtels. Sie weisen eine Bahnneigung unter 20° und Exzentrizitäten unter 0,25 auf. Die meisten sind durch Kollisionen größerer Asteroiden in dieser Zone entstanden und bilden daher Gruppen mit ähnlicher chemischer Zusammensetzung. Ihre Umlaufbahnen werden durch die sogenannten Kirkwoodlücken begrenzt, die durch Bahnresonanzen zu Jupiter entstehen. Dadurch lässt sich der Hauptgürtel in drei Zonen einteilen: Innerer Hauptgürtel: Diese Zone wird durch die 4:1- und 3:1-Resonanz begrenzt, liegt zwischen etwa 2,06 und 2,5 AE und enthält meist silikatreiche Asteroiden der V- und S-Klasse. Mittlerer Hauptgürtel: Objekte in dieser Gruppe besitzen Bahnhalbachsen zwischen 2,5 und 2,8 AE. Dort dominieren Asteroiden des C-Typs. Auch der Zwergplanet Ceres bewegt sich in dieser Zone, die zwischen der 3:1-Resonanz (Hestia-Lücke) und der 5:2-Resonanz liegt. Äußerer Hauptgürtel: Dieses Gebiet wird nach außen hin von der Hecubalücke (2:1-Resonanz) bei etwa 3,3 AE begrenzt. In diesem Bereich treten häufig Objekte der D- und P-Klasse auf. Asteroiden außerhalb des Hauptgürtels Außerhalb des Asteroidengürtels liegen vereinzelt kleinere Asteroidengruppen, deren Umlaufbahnen meist in Resonanz zur Jupiterbahn stehen und dadurch stabilisiert werden. Außerdem existieren weitere Gruppen, die ähnliche Längen der Bahnhalbachsen aufweisen wie die Hauptgürtelasteroiden, jedoch deutlich stärker geneigte Bahnen (teilweise über 25°) oder andere ungewöhnliche Bahnelemente aufweisen: Hungaria-Gruppe: Diese Gruppe besitzt Bahnhalbachsen von 1,7 bis 2 AE und steht in 9:2-Resonanz zu Jupiter. Sie besitzen mit einer mittleren Exzentrizität von 0,08 fast kreisrunde Bahnen, allerdings sind diese sehr stark gegen die Ekliptik geneigt (17° bis 27°). Der Namensgeber für die Hungaria-Gruppe ist der Asteroid (434) Hungaria. Phocaea-Gruppe: Objekte mit einem mittleren Bahnradius zwischen 2,25 und 2,5 AE, Exzentrizitäten von mehr als 0,1 und Inklinationen zwischen 18° und 32°. Alinda-Typ: Diese Gruppe bewegt sich in 3:1-Resonanz zu Jupiter und in 1:4-Resonanz zur Erde mit Bahnhalbachsen um 2,5 AE. Die Bahnen dieser Objekte werden durch die Resonanz zu Jupiter, welche dieses Gebiet von Asteroiden freiräumt (dort befindet sich die Hestia-Lücke), gestört. Hierdurch werden die Exzentrizitäten dieser Objekte beständig erhöht, bis die Resonanz bei einer Annäherung an einen der inneren Planeten aufgelöst wird. Einige Alinda-Asteroiden haben ihr Perihel nahe oder innerhalb der Erdbahn. Ein Vertreter dieser Gruppe ist der Asteroid (4179) Toutatis. Pallas-Familie: Eine Gruppe von Asteroiden der B-Klasse mit Bahnhalbachsen von 2,7 bis 2,8 AE und relativ hohen Bahnneigungen von über 30°. Die Familie besteht aus Fragmenten, die bei Zusammenstößen aus Pallas herausgeschleudert wurden. Cybele-Gruppe: Objekte dieser Gruppe bewegen sich jenseits der Hecuba-Lücke außerhalb des Hauptgürtels bei Entfernungen zwischen 3,27 und 3,7 AE und gruppieren sich um die 7:4-Resonanz zu Jupiter. Sie haben Exzentrizitäten von weniger als 0,3 und Bahnneigungen unter 25°. Hilda-Gruppe (nach (153) Hilda benannt): Die Hildas bewegen sich in einer Bahnresonanz von 3:2 mit dem Planeten Jupiter. Ihnen gemeinsam ist ein mittlerer Sonnenabstand zwischen 3,7 und 4,2 AE, eine Bahnexzentrizität kleiner als 0,3 und eine Inklination kleiner als 20°. Asteroiden außerhalb der Jupiterbahn Zentauren: Zwischen den Planeten Jupiter und Neptun bewegt sich eine als Zentauren bezeichnete Gruppe von Asteroiden auf exzentrischen Bahnen. Der erste entdeckte Vertreter war (2060) Chiron. Die Zentauren stammen vermutlich aus dem Kuipergürtel und sind durch gravitative Störungen auf instabile Bahnen abgelenkt worden. Damocloiden: Eine Gruppe von Objekten, die nach dem Asteroiden (5335) Damocles benannt wurde. Sie haben ihr Aphel meist jenseits der Uranusbahn, aber ein Perihel im inneren Sonnensystem. Ihre kometenähnlichen Bahnen sind sehr exzentrisch und stark gegen die Ekliptik geneigt. Ihr Umlauf ist in manchen Fällen rückläufig. Die bekannten Objekte sind um die acht Kilometer groß und ähneln Kometenkernen, besitzen jedoch weder Halo noch Schweif. Transneptunische Objekte, Kuipergürtel-Objekte Im äußeren Sonnensystem, jenseits der Neptunbahn, bewegen sich die transneptunischen Objekte, von denen die meisten als Teil des Kuipergürtels betrachtet werden (Kuiper belt objects; KBO). Dort wurden die bislang größten Asteroiden oder Planetoiden entdeckt. Die Objekte dieser Zone lassen sich anhand ihrer Bahneigenschaften in drei Gruppen einteilen: Resonante KBOs: Die Bahnen dieser Objekte stehen in Resonanz zu Neptun. Die bekanntesten Vertreter sind die Plutinos, zu denen der größte bekannte Zwergplanet (134340) Pluto und auch (90482) Orcus gehören. Cubewanos: Diese Objekte bewegen sich in nahezu kreisrunden Bahnen mit Neigungen unter 30° in einer Entfernung zwischen 42 und 50 AE um die Sonne. Bekannte Vertreter sind (20000) Varuna und (50000) Quaoar sowie der Namensgeber der Gruppe (15760) QB1. gestreute KBOs: Himmelskörper dieser Gruppe besitzen sehr exzentrische Orbits, deren Aphel in über 25000 AE Entfernung liegen kann, während das Perihel meist bei 35 AE liegt. Teil dieser Gruppe ist der massereichste bekannte Zwergplanet (136199) Eris. Asteroiden, die sich auf Planetenbahnen bewegen Asteroiden, die sich in den Lagrange-Punkten der Planeten befinden, werden „Trojaner“ genannt. Zuerst wurden diese Begleiter bei Jupiter entdeckt. Sie bewegen sich auf der Jupiterbahn vor beziehungsweise hinter dem Planeten. Jupitertrojaner sind beispielsweise (588) Achilles und (1172) Äneas. 1990 wurde der erste Marstrojaner entdeckt und (5261) Eureka genannt. In der Folgezeit wurden weitere Marstrojaner entdeckt. Auch Neptun besitzt Trojaner und 2011 wurde mit 2011 QF99 der erste Uranustrojaner entdeckt. Manche Asteroiden bewegen sich auf einer Hufeisenumlaufbahn auf einer Planetenbahn, wie zum Beispiel der Asteroid 2002 AA29 in der Nähe der Erde. Interstellarer Asteroid Im Oktober 2017 wurde mit 1I/ʻOumuamua der erste interstellar reisende Asteroid entdeckt. Er ist länglich geformt, rund 400 Meter lang und näherte sich etwa im rechten Winkel der Bahnebene der Planeten. Nachdem seine Bahn durch die Gravitation der Sonne um etwa 90° abgelenkt wurde, flog er auf seinem neuen Kurs in Richtung des Sternbildes Pegasus in ca. 24 Millionen Kilometern Entfernung am 14. Oktober 2017 an der Erde vorbei. Einzelobjekte Im Sonnensystem bewegen sich einige Asteroiden, die Charakteristika aufweisen, die sie mit keinem anderen Objekt teilen. Dazu zählen unter anderem (944) Hidalgo, der sich auf einer stark exzentrischen, kometenähnlichen Umlaufbahn zwischen Saturn und dem Hauptgürtel bewegt, und (279) Thule, der sich als einziger Vertreter einer potenziellen Gruppe von Asteroiden in 4:3-Resonanz zu Jupiter bei 4,3 AE um die Sonne bewegt. Ein weiteres Objekt ist (90377) Sedna, ein relativ großer Asteroid, der weit außerhalb des Kuipergürtels eine exzentrische Umlaufbahn besitzt, die ihn bis zu 900 AE von der Sonne entfernt. Inzwischen wurden allerdings mindestens fünf weitere Objekte mit ähnlichen Bahncharakteristika wie Sedna entdeckt; sie bilden die neue Gruppe der Sednoiden. Einige Charakteristika wie ihre Form lassen sich aus ihrer Lichtkurve berechnen. Orientierung der Bahnrotation Planeten, Asteroiden und Kometen kreisen typisch alle in derselben Richtung um die Sonne. 2014 wurde ein erster Asteroid entdeckt, 2015 nummeriert und 2019 benannt, nämlich (514107) Kaʻepaokaʻawela, der in die entgegengesetzte Richtung umläuft; und zwar in der Ko-Orbit-Region des Planeten Jupiter. 2018 wurde analysiert, dass (514107) Kaʻepaokaʻawela schon vor der Bildung der Planeten von außerhalb des Sonnensystems eingefangen worden sein muss. Heute ist bekannt, dass etwa 100 weitere Asteroiden „falsch herum“ um die Sonne laufen. Einschlagwahrscheinlichkeit und -wirkung Asteroiden, die mit wesentlich größeren Himmelskörpern wie Planeten kollidieren, erzeugen Einschlagkrater. Die Größe des Einschlagkraters und die damit verbundene Energiefreisetzung (Explosion) wird maßgeblich durch die Geschwindigkeit, Größe, Masse und Zusammensetzung des Asteroiden bestimmt. Die Flugbahnen der Asteroiden im Sonnensystem sind nicht genau genug bekannt, um auf längere Zeit berechnen zu können, ob und wann genau ein Asteroid auf der Erde (oder auf einem anderen Planeten) einschlagen wird. Durch Annäherung an andere Himmelskörper unterliegen die Bahnen der Asteroiden ständig kleineren Veränderungen. Deswegen wird auf Basis der bekannten Bahndaten und -unsicherheiten lediglich das Risiko von Einschlägen errechnet. Es verändert sich bei neuen, genaueren Beobachtungen fortlaufend. Mit der Turiner Skala und der Palermo-Skala gibt es zwei gebräuchliche Methoden zur Bewertung des Einschlagrisikos von Asteroiden auf der Erde und der damit verbundenen Energiefreisetzung und Zerstörungskraft: Die Turiner Skala ist anschaulich und einfach gehalten. Sie ist in ganzzahlige Stufen von 0 bis 10 eingeteilt, wobei 0 keine Gefahr bedeutet und Stufe 10 einem sicheren Einschlag mit großer globaler Zerstörungswirkung entspricht (→Global Killer). Von dieser Skala wird eher in den Medien Gebrauch gemacht, da sie einfacher zu verstehen ist als die Palermo-Skala. Die Palermo-Skala wiederum findet in der Astronomie häufigere Anwendung, da sie physikalisch aussagekräftiger ist. Sie setzt die Einschlagwahrscheinlichkeit mit dem Hintergrundrisiko durch Objekte vergleichbarer Größe in Verbindung. Die Palermo-Skala ist logarithmisch aufgebaut: Ein Wert von 0 auf der Palermo-Skala entspricht dem einfachen Hintergrundrisiko (1=100), 1 entspricht zehnfachem Risiko (10=101), 2 dem 100-fachen Risiko (100=102) und so weiter. Die Europäische Weltraumorganisation (ESA) publiziert öffentlich eine fortlaufend aktualisierte Risikoliste, in der Asteroiden und deren Wahrscheinlichkeit einer Kollision mit der Erde aufgeführt sind. Nahe Begegnungen mit erdnahen Asteroiden Am 18. März 2004 passierte um 23:08 Uhr MEZ der Asteroid 2004 FH, ein Gesteinsbrocken mit etwa 30 Metern Durchmesser, die Erde über dem südlichen Atlantik in einem Abstand von nur 43.000 Kilometern. Der nur etwa sechs Meter große Asteroid 2004 FU162 näherte sich der Erde am 31. März 2004 auf 6.535 Kilometer. Die zweitgrößte Annäherung erfolgte am 19. Dezember 2004 durch 2004 YD5 (5 m Durchmesser) in einer Entfernung von 35.000 km. Aufgrund der geringen Größe von nur wenigen Metern würde er, ebenso wie 2004 FU162, wahrscheinlich zu den Meteoroiden gezählt werden. Am 29. Januar 2008 passierte um 09:33 Uhr MEZ der Asteroid 2007 TU24 (250 m Durchmesser) im Abstand von 538.000 Kilometern die Erde. Am 9. Oktober 2008 passierte der rund einen Meter große Asteroid 2008 TS26 in nur 6150 Kilometern Entfernung die Erde. Nur ein anderer derzeit bekannter Asteroid ist der Erde näher gekommen. Am 2. März und am 18. März 2009 um 13:17 Uhr MEZ passierten die Asteroiden 2009 DD45 (21–47 m Durchmesser) bzw. 2009 FH (13–29 m) die Erde in einer Entfernung von nur 70.000 bzw. 80.000 km. Die beiden Asteroiden wurden erst einen Tag zuvor entdeckt. Erst 15 Stunden vor seiner dichtesten Annäherung an der Erde entdeckten Astronomen einen sieben Meter großen Asteroiden. Der Gesteinsbrocken streifte am 6. November 2009 in einer Entfernung von 2 Erdradien an der Erde vorbei. Er wurde vom Catalina Sky Survey aufgespürt. Damit erreichte der Asteroid mit der Bezeichnung 2009 VA die drittgrößte Annäherung aller bisher bekannten und katalogisierten Asteroiden, die nicht auf die Erde einschlugen. Am 13. Januar 2010 passierte um 13:46 Uhr MEZ der Asteroid 2010 AL30 (10–15 m Durchmesser) im Abstand von 130.000 Kilometern die Erde. Er wurde am 10. Januar 2010 von Wissenschaftlern des MIT entdeckt. Am 8. September 2010 passierten zwei Asteroiden die Erde: um 11:51 Uhr MEZ der Asteroid 2010 RX30 (10–62 m Durchmesser) im Abstand von 250.000 Kilometern und um 23:12 Uhr MEZ der Asteroid 2010 RF12 (7–16 m Durchmesser) im Abstand von 80.000 Kilometern. Beide wurden am 5. September 2010 entdeckt. Am 9. November 2011 passierte der 400 m große Asteroid (308635) 2005 YU55 in 324.600 km Entfernung – also innerhalb der Mondbahn – die Erde. Am 27. Januar 2012 passierte der 11 m große Asteroid 2012 BX34 in einer Entfernung von weniger als 60.000 km die Erde. Am 15. Februar 2013 passierte der ca. 45 m große Asteroid (367943) Duende in einer Entfernung von knapp 28.000 km die Erde, also noch unterhalb der Umlaufbahn der geostationären Satelliten. Am 29. August 2016 passierte der Asteroid 2016 QA2 mit etwa 34 m Durchmesser die Erde in einer Entfernung von ca. 84.000 km. Der Asteroid wurde erst wenige Stunden vorher entdeckt. Am 26. Juli 2019 passierte der Asteroid 2019 OK mit etwa 100 m Durchmesser die Erde in einer Entfernung von ca. 65.000 km. Der Asteroid wurde erst 12 Stunden vorher vom SONEAR-Observatorium in Brasilien entdeckt. Am 16. August 2020 passierte der Asteroid 2020 QG die Erde über dem Indischen Ozean in nur 3000 km Höhe. Das ist zu diesem Zeitpunkt der allernächste je beobachtete Vorbeiflug. Mit seinen ca. 3–6 m Durchmesser wäre er bei größerer Annäherung wahrscheinlich in der Atmosphäre verglüht. Zukunft Am 13. April 2029 wird der 270 m große Asteroid (99942) Apophis die Erde passieren. Nach bisherigen Berechnungen wird nur etwa der dreifache Erddurchmesser (etwa 30.000 Kilometer) zwischen der Erde und dem Asteroiden liegen. Solch ein Ereignis kommt laut Angaben der Universität von Michigan nur alle 1300 Jahre vor. Die Wahrscheinlichkeit einer Kollision der Erde mit Apophis ist mit 0,023 Prozent aus derzeitiger Sicht (Stand 11. Juli 2019) recht unwahrscheinlich. Der Asteroid (29075) 1950 DA (2 km Durchmesser) wird der Erde am 16. März 2880 sehr nahe kommen, wobei die Möglichkeit einer Kollision besteht. Die Wahrscheinlichkeit dafür liegt bei 0,33 Prozent. Am Valentinstag des Jahres 2046 (14. Februar 2046) soll der Asteroid 2023 DW mit einer Entfernung von 1,8 Millionen Kilometer vorbeikommen. Der Durchmesser beträgt 50 Metern. Die Trefferquote beträgt zwischen 1 zu 560 bis 650 auf der Turiner Skala Die höchste Wahrscheinlichkeit einer Kollision mit der Erde wird derzeit (Stand 17. Juli 2019) dem Asteroiden 2010 RF12 (8 m Durchmesser) zugewiesen. Er wird die Erde am 5. September 2095 mit einer Wahrscheinlichkeit von 6,25 Prozent treffen. Beispiele für Einschläge auf der Erde Eine Auflistung irdischer Krater findet sich in der Liste der Einschlagkrater der Erde sowie als Auswahl unter Große und bekannte Einschlagkrater. Mutmaßliche Kollisionen zwischen Asteroiden Die Wissenschaft benennt mehrere mögliche Kollisionen zwischen Asteroiden untereinander: vor 470 Millionen Jahren (Ekaterina Korochantseva, 2007) vor 5,8 Millionen Jahren (David Nesvorny, 2002) P/2010 A2, 2009 (596) Scheila, 2010 (Dennis Bodewits, 2011) Internationaler Tag der Asteroiden 2001 etablierte das Committee on the Peaceful Uses of Outer Space (COPUOS) der UNO das Action Team on Near-Earth Objects (Action Team 14). Empfohlen wurde 2013 die Errichtung eines international asteroid warning network (IAWN) und einer space mission planning advisory group (SMPAG). Das Action Team 14 hat sein Mandat erfüllt und wurde 2015 aufgelöst. Am 30. Juni 2015 wurde der erste Asteroid Day ausgerufen. Siehe auch Asteroidenabwehr Asteroidenbergbau Hirayama-Familie Liste der Asteroiden Alphabetische Liste der Asteroiden Liste der Monde von Asteroiden Liste der besuchten Körper im Sonnensystem #Hauptgürtel-Asteroiden Literatur Kometen und Asteroiden (= Sterne und Weltraum. Special Nr. 2003/2). Spektrum der Wissenschaft Verlag, Heidelberg 2003, ISBN 3-936278-36-9. William Bottke, Alberto Cellino, Paolo Paolicchi, Richard P. Binzel (Hrsg.): Asteroids III (= Space Science Series). Univ. of Arizona Press, 2002, ISBN 0-8165-2281-2 (englisch). Gottfried Gerstbach: Die Asteroiden – Dramatik und Schutt im Planetensystem. In: Sternenbote. Jahrgang 45/12, Wien 2002, S. 223–234 (PDF). Thorsten Dambeck: Vagabunden im Sonnensystem. In: Bild der Wissenschaft. März 2008, , S. 56–61. John S. Lewis: Mining the sky-untold riches from the asteroids, comets, and planets. Addison-Wesley, Mass. 1997, ISBN 0-201-32819-4. Thomas K. Henning: Astromineralogy. Springer, Berlin 2003, ISBN 3-540-44323-1. Thomas H. Burbine: Asteroids – Astronomical and Geological Bodies. Cambridge University Press, Cambridge 2016, ISBN 978-1-107-09684-4. Weblinks Asteroid Watch auf der Webpräsenz des JPL (englisch) www.kleinplanetenseite.de 200 Jahre Kleinplaneten auf der Webpräsenz des Verein Kuffner-Sternwarte Steinschlag aus dem Universum – Artikel bei www.vossyline.de lexikon.astronomie.info/planetoiden – Linksammlung. Darunter u. a. eine Auflistung täglich sichtbarer Asteroiden Liste aller nummerierten und benannten Asteroiden mitsamt Entdeckungsdaten auf der Webpräsenz des IAU Minor Planet Center Hintergrund-Dossier mit vielen Videos, Karten und Bildern zu Kometen, Asteroiden und Meteoriten auf der Webpräsenz des Bayerischen Rundfunks Einschläge auf dem Mond mit diversen Bildbeispielen – aus SPON Videos Einzelnachweise
Q3863
1,909.038904
17041
https://de.wikipedia.org/wiki/Satan
Satan
Satan (auch Satanas) bezeichnet einen oder mehrere dem Menschen übelwollende Geistwesen, häufig Engel. Der Begriff hat seine Ursprünge im jüdischen Monotheismus und enthält antike persische religiöse Einflüsse, besonders des Zoroastrismus. Der Satan tritt in der Bibel und anderen religiösen Schriften häufig in Menschengestalt auf. Er ist bekannt dafür Menschen vom Pfad abzubringen und sie der Versuchung hinzugeben. Satan ist vor allem der Ankläger im göttlichen Gerichtshof, der die religiöse Integrität von Menschen testet und Sünden anklagt, wie es beispielsweise aus den biblischen Büchern Ijob und Sacharja bekannt ist. In den Leben Adams und Evas und der islamischen Literatur wird der Satan aus dem Himmel verbannt, weil er sich weigert, sich vor dem ersten Menschen zu verneigen. Im Äthiopischen Henochbuch wird eine ganze Heerschar von Satanen als Verführer wie auch als Strafengel erwähnt. Die Vorstellung von einer Vielzahl an Satanen hielt auch Einzug in den Koran. Später wurde Satan mit Bedeutungen wie gegen Gott rebellierende gefallene Engel, der Verkörperung des Bösen, dem Teufel oder Götzen in Verbindung gebracht. Etymologie und Bezeichnung Das hebräische Substantiv wird auch mit „Widersacher“, „Gegner“ übersetzt, die genaue Etymologie ist jedoch umstritten und kann nicht geklärt werden. Volksetymologisch wird das Nomen nach und vom Verb „umherstreifen“ abgeleitet, was jedoch aufgrund des Wechsels von zu unwahrscheinlich erscheint. Folgende Herleitungen von einem Verb kommen in Frage: hebräisch śṭh, akkadisch šâṭu I, syrisch sṭ’, arabisch šṭṭ, äthiopisch šṭy „umherschweifen“ hebräisch, aramäisch und mandäisch swṭ „ungerecht sein“, „aufbegehren“, „revoltieren“ arabisch šṭṭ „ungerecht sein“ syrisch swṭ, arabisch šjṭ „brennen“ hebräisch śṭh, äthiopisch šṭy „verfolgen“ Die bezeichnende Nominalendung für Abstrakta, Adjektive oder Diminutive lautet im Hebräischen -ôn, nicht -ān, sodass hier wohl eine Nominalbindung nach *qātāl vorliegt. Ein beschreibendes Primärnomen mit der Wurzel śjṭ oder śwṭ (*śajṭ / śawṭ + -ān) liegt wohl nicht vor. Meistens wird mit dem Verb bzw. „anfeinden“ in Verbindung gebracht. Diese Wurzel lässt sich jedoch nicht im Akkadischen, sondern nur in den jüngeren südsemitischen Sprachen nachweisen. Manfred Görg unterscheidet das Verb , etymologisch vom Nomen . Er leitet es aus dem Ägyptischen her und sieht in śdnj durch die Lautverschiebung vom ägyptischen d zum hebräischen ṭ einen Kausativ von dnj „jemanden zurückhalten“ oder „in die Schranken weisen“. Während die Septuaginta das Hebräische fast ausschließlich mit und verwandten Formen wiedergibt (Ausnahmen: und ), nutzt das Neue Testament die Bezeichnungen und beinahe gleich häufig. Ein Bedeutungsunterschied lässt sich dabei nicht erkennen. Im Lateinischen lautet die Bezeichnung satan (m., indeklinabel) und satanas (-ae, m.) bzw. Satan und Satanas. Das Aramäische schreibt , und . Satan nach den jüdischen Quellen Der Ausdruck „Satan“ wird in der hebräischen Bibel mit verschiedenen Bedeutungen gebraucht: Ein Ankläger vor dem Richtersitz () Ein Feind in Krieg und Frieden (; und ) Ein Antagonist, der Widerstände in den Weg legt () Im Buch Ijob wird „Ha-Satan“ als Staatsanwalt und Hauptankläger gegen die Menschheit im Himmel an Gottes Gerichtshof beschrieben. Außer Satan werden keine anderen Engel erwähnt, und er bezweifelt als Ankläger die Gottergebenheit und Gottesfürchtigkeit der Menschheit. Er behauptet, dass die Menschen nur gottesfürchtig seien, weil Gott ihnen Wohlstand und Entwicklung schenke. Er wird daraufhin von Gott beauftragt, Ijob mit Plagen zu belegen, um die Glaubensstärke Ijobs in Gottes Wort zu testen. Satan wird so zum Gegner Ijobs. In wird König David von Satan angestachelt, einen Zensus des Volkes Israel zu veranlassen. Diese Bibelstelle führt auf eine ältere Bibelstelle zurück, in der Adonai selber David anstachelt, das Volk Israel zählen zu lassen (). Die jüngere Stelle wurde zur Zeit des Babylonischen Exils von den Hebräern aufgeschrieben, als sie unter dem persischen Einfluss des Zoroastrismus standen, in dem es eine ausgesprochene Polarität zwischen Gut und Böse bzw. Licht und Dunkelheit als ewigem göttlichem Kampf gibt. Frühe rabbinische Kommentare zur Mischna zeigen, dass Satan beinahe keine Rolle im Judentum spielte. Je jünger ein rabbinischer Kommentar datiert wird, desto öfter tritt der Begriff Satan oder dessen Synonyme auf. Seit der Zeit des Babylonischen Exils sind Einflüsse aus dem Zoroastrismus im Babylonischen Talmud festgehalten. Der Palästinische Talmud, fertiggestellt etwa um 400 n. Chr., ist in derselben Gegend wie das Neue Testament verfasst worden und ist bedeutend zurückhaltender im Gebrauch des Begriffs Satan und seiner Synonyme. Allerdings sind große Teile dieses Teils des Talmud nicht im Original erhalten. Als Beispiel kann die Besprechung der Erzählung der Vertreibung Adams und Evas aus dem Garten in Eden in diesen Literaturen gelten. Die klassischen jüdischen Bibelkommentatoren verstehen die Schlange darin wörtlich als Schlange. Sie sind sich jedoch uneinig darin, wofür diese symbolisch in der Erzählung steht: Die Neigung zum Bösen (jetzer ha-rah), Satan oder der Engel des Todes. Andere Bibelkommentatoren haben vermutet, die Schlange sei ein phallisches Symbol. Nach der Mischna sei die Schlange vor ihrer Verfluchung aufrecht gestanden und habe die Fähigkeit besessen, mit Menschen zu kommunizieren. Die normative, rabbinische, klassische, jüdische Lehre, der zufolge Satan kein selbständiges Geistwesen ist, ist bis heute gültig und wichtig im Judentum. Es steht im Einklang mit den jüdischen Lehren, dass es keine Verkörperung des Bösen gibt und dass Gott als Schöpfer dessen bezeichnet wird, was Menschen als Böses beschreiben. Im Babylonischen Talmud beteuert Rabbi Levi: „… alles was Satan tut, geschieht nach dem Willen des Himmels …“ Als ein anderer Rabbi in seiner Stadt etwas Ähnliches lehrte, sei Satan selbst gekommen und habe seine Knie geküsst. Im Midrasch wird Samael, der höchste der Satane, eine bestimmte Ordnung von Engeln, als ein mächtiger Prinz der Engel im Himmel beschrieben. Samael kam durch eine Frau in die Welt und ist daher gezeugt und nicht ewig. Wie alle himmlischen Wesen kann er durch die Luft fliegen und jede Form annehmen, z. B. die eines Vogels, eines Hirsches einer Frau, eines Bettlers oder jungen Mannes und von ihm wird gesagt, er hüpfe bzw. tänzele, in einer Anspielung auf seine Erscheinung als Ziege. Obwohl Satan Macht über alle Werke der Menschen hat, könne er nicht über zwei Menschen unterschiedlicher Nationalität zur gleichen Zeit wirken. Daher habe Samuel, ein anerkannter Astronom, Arzt und Toragelehrter (er starb in Nehardea um 247), immer nur mit einem Fremden zusammen eine Reise angetreten. Satans Wissen bleibt nicht erhalten, weil das Blasen des Schofar, des Horns eines Widders, am Rosch ha-Schana, dem jüdischen Neujahrstag, den Satan total verwirrt und durcheinanderbringt. Der numerische Wert des hebräischen Wortes Satan ergibt 364. Dies wird so interpretiert, dass Satan deshalb an allen Tagen des Sonnenjahres gegen Israel und die Menschen Anklage erheben muss, nur nicht an einem Tag, dem 365ten. Am Jom Kippur, dem hohen jährlichen Versöhnungstag, hat Satan keine juristische Gewalt, da alles Böse an diesem Tage von der Menschheit genommen ist. Ein einziger Rabbi notiert, dass Satan aktiv in die Verführung Evas im Garten Eden eingegriffen habe und der Vater von Kain sei, während er auch hilfreich bei der Opferung Isaaks, in der Freilassung Esaus Tieres, das für seinen Vater bestimmt war, in der Theophanie, der Erscheinung Gottes Gegenwart am Berg Sinai, beim Tode Moses, bei Davids Sünde in Bath-Scheba und beim Tode der Königin Vaschti war. Der Befehl zur Tötung aller jüdischen Untertanen, den Haman erteilte, sei auf ein Pergament geschrieben worden, das Satan brachte. Und als Alexander der Große die jüdischen Weisen wegen ihrer Rebellion tadelte, baten sie um Gnade, da Satan zu mächtig für sie gewesen sei. Nicht alle rabbinischen Kommentatoren stimmten mit den Vorstellungen über die spirituelle Natur des Satan überein. Der berühmte Rabbi Saadia Gaon, ein jüdischer Gelehrter, Torameister und Philosoph des 11. Jahrhunderts, schrieb in seinem Kommentar zum Buch Ijob, dass Satan lediglich ein menschliches Wesen gewesen sei, das die spirituelle Gottergebenheit Ijobs bezweifelte und Gott anrief, Ijob zu testen. Diese Vorstellung des Gaon erwächst aus einer Lesart des hebräischen Wortes שטן oder "Ankläger", wovon Rabbi Saadia meinte, es werde nur gegen die Intentionen der fraglichen Person gerichtet und stehe nicht grundsätzlich als Titel für natürliche oder übernatürliche Wesen zur Verwendung. Satanskonzept der hebräischen Bibel (Tanach/Tora) Im Tanach ist Ha-Satan („der Satan“) ein Name, der verschiedenen Engeln gegeben wird, mit deren Hilfe Gott die religiöse Rechtschaffenheit und Integrität verschiedener Menschen auf die Probe stellt (vergleiche: Advocatus Diaboli). Im normativen Judentum ist Satan der Hauptankläger, Staatsanwalt, Gegner, Feind im Kampf und die spirituelle Kraft, die im Judentum die Neigung zum Bösen (jezer ha-rah) genannt wird. Satan ist dabei jedoch wie alle Engel unter vollkommener Kontrolle und Befehl von Gott, er ist keinesfalls ein Wesen von freiem Willen, das gegen Gott rebellieren könnte oder als "Gegenspieler" und Führer des Bösen auftritt. Freien Willen schreibt das normative Judentum nur den Menschen zu. In diesem Sinne ist „Ha-Satan“ eher ein Titel denn ein Eigenname eines bestimmten Engelwesens. Diese Begriffsbestimmung wird von den christlichen Glaubensrichtungen nicht anerkannt, weil die spätere Kirchengeschichte feststellte, dass Satan gegen Gott rebelliert habe, obwohl diese Rebellion in der heiligen Schrift nicht erwähnt wird. Der Titel Satan wird sowohl für übernatürliche Wesen wie auch für Menschen verwendet. In , ist Satan nicht negativ handelnd, sondern wird von Gott gesandt, um Schlimmeres für Bileam zu verhindern: Im Talmud und einigen Quellen der Kabbala, des mystischen Judentums, werden der Engel Samael oder andere Engel manchmal Satan genannt. In der Angelologie, der Lehre von den Engeln, bezeichnen diese verschiedenen Namen verschiedene Engel. Und es gibt erheblichen Widerstand im Judentum gegen die Vorstellung, dass diese wirklich böse seien, da sie nur auf göttlichen Befehl hin handeln. Das Problem der Theodizee findet im Judentum keine endgültige Antwort. In den Sprüchen der Väter, einem Teil der Mischna und Hauptwerk der jüdischen Ethik, steht: „Rabbi Janai sagt: Es ist uns nicht gegeben zu wissen, warum Frevler in Wohlergehen und Gerechte in Leiden leben.“ Im normativen rabbinischen Judentum sind Engel göttliche Boten oder Helfer bei der Ausführung göttlichen Willens. Bekannt ist der Satan der hebräischen Bibel vor allem aus dem Buch Ijob, in dem Gott Satan als den Hauptankläger des göttlichen Gerichtshofes beauftragt, die religiöse jüdische Rechtschaffenheit des als perfekt gottesgehorsamen und religiös ergebenen Ijob auf die Probe zu stellen, indem Satan Ijob nacheinander seine reichen Güter, Kinder und seine Gesundheit nimmt. Ijob bleibt gottergeben, klagt jedoch Gott an. Das normative Judentum hat kein religiöses Konzept einer unheiligen Dunkelheit in Opposition zu Gott. Es lehrt nicht die Vorstellung einer Verkörperung des Bösen als Gegenspieler bzw. Gegenkraft von Gott. Da HaSchem („Gott“) als Schöpfer von Licht und Dunkelheit verehrt wird, gibt es in jüdischer Tradition und Glauben keinen Ort oder Raum, der nicht von Gott erfüllt bzw. transzendiert ist. Satan in den jüdischen Apokryphen In ist Satan mit Verweis auf als der Vater aller Lügen beschrieben, der den Tod auf die Welt brachte; eine weitere Stelle findet sich in Ekklesiastikus . Allegorisch wurde Satan als Verführer und Nebenliebhaber Evas im Garten Eden beschrieben, der gemeinsam mit anderen Engeln wegen seiner Frevel aus dem Himmel geschleudert wurde. Seit dieser Zeit sei er Satan genannt worden, vorher habe er Satanael geheißen. Die Doktrin des gefallenen Satans und der gefallenen Engel findet sich in überkommenen Schriften aus dem antiken Babylon: Satan regiert über einen Staat von Engeln. Mastema, der Gott veranlasste, Abraham durch die Opferung Isaaks zu testen, ist mit Satan identisch. Asasel aus der Apokalypse Abrahams und Asmodäus aus dem Buch Tobit werden genauso mit Satan identifiziert, besonders hinsichtlich seiner Liederlichkeit. Als Herr der Satane (einer Ordnung von Engeln) wird er auch Samael genannt. Im äthiopischen Henochbuch wird Asasel nicht mit Satan identifiziert, sondern tritt mit einer Heerschar ihm unterstehender Satane als Folterknechte im Dienste Gottes auf. Die Satane erfüllen die Rolle der Strafengel, welche die gefallenen Engel und sündhaften Menschen nach dem endzeitlichen Urteil peinigen. Gleichzeitig wird das Wirken der gefallenen Engel als ein Dienst der Satane beschrieben. Die Satane sind auch Ankläger vor dem göttlichen Gerichtshof. Der Text impliziert, dass sie bereits vor der Sünde der Engel existierten, verrät aber nichts über ihren Ursprung. Es ist schwierig, andere Stellen in den Apokryphen zu zeigen, die Verweise auf Satan liefern. Dies hat einen Grund darin, dass die Originale nicht erhalten sind und die Übersetzungen der erhaltenen Sekundärliteratur der Apokryphen verschiedenste Vergleiche bemühen. Daraus lässt sich aufgrund des Fehlens wichtiger Quellen im Sinne eines argumentum e silentio vermuten, dass ein Konzept des Satan wohl nicht weit verbreitet war. Wahrscheinlicher ist eine enge Bindung von Verweisen auf „üble Geister“ mit dem Satan aus den Apokryphen. Satanskonzept des Christentums Nach dem christlichen Verständnis, der Auslegung und Bibelübersetzungen wird der Satan häufig als Eigenname verwendet und mit dem Teufel identifiziert. Dieser gilt als ein bestimmter Engel, der eigenwillig gegen Gott rebellierte und als gefallener Engel aus dem Himmel verstoßen wurde. Gelegentlich werden Teufel und Satan unterschieden. Der Satan gilt dann als Eigenname des treuesten Vasallen des Teufels. Altes Testament Nach christlichen Vorstellungen ist der Satan des Alten Testaments (AT) der Versucher der Menschen. Die hebräische Bezeichnung „Satan“ (שטן, Sin-Teth-Nun) bedeutet „Widersacher“ oder „Gegner“. Die Bezeichnung „Satan“ wird im AT auch für Menschen verwendet (; ; ; und ; ; als Verben im Sinne von „Anfeindungen“ in ; ; ; und ). Mit Hinblick auf das Neue Testament ( ) wurde Satan mit der Schlange im Garten Eden identifiziert und habe, durch sie gesprochen, Eva zur Sünde verführt. Den Namen Luzifer erhielt Satan, indem das lateinische Wort, eine richtige Übersetzung aus dem Hebräischen, als Eigenname missdeutet wurde. Sie bezieht sich auf . Während die dort erscheinende Allegorie eines untergehenden Morgensterns (Venus) nichts mit einem gefallenen Engel zu tun hat, sondern sich auf den Untergang des babylonischen Reiches und seines Königs Nebukadnezar II. bezieht, der mit dem Morgenstern verglichen wird, der von der Sonne, die Israel darstellt, überstrahlt wird, sahen einige Vertreter der Alten Kirche (darunter Origenes) eine Parallele zu Jesus Aussage in und identifizierten den König und den Morgenstern typologisch mit dem Satan. Neues Testament Satan ist im Neuen Testament ein Eigenname und bezeichnet eine übernatürliche Wesenheit mit dämonischen Kräften. Gemäß dem christlichen Verständnis handelt dieser nach freien Willen, bleibt aber der Macht Gottes stets unterlegen. Satan ist der Versucher in den verschiedenen Evangelien und Verursacher von Krankheit, Besessenheit und Tod. Satan ist im neuen Testament auch als Herrscher dieser Welt , Beelzebub, und Beliar bekannt. Die synoptischen Evangelien berichten von einer Begegnung zwischen Jesus und dem Satan in der Wüste. Der Satan verspricht, wenn Jesus vor ihm niederkniet, die Königreiche dieser Welt und impliziert, dass sie ihm unterstehen. In wird Satan als "Fürst dieser Welt" beschrieben, der beim jüngsten Gericht verstoßen wird. Der Name Beelzebub bedeutet „Herr der Fliegen“ und bezieht sich in der hebräischen Bibel auf einen antiken Gott der Philister. Er erscheint im Neuen Testament als Synonym für Satan, gibt hier aber augenscheinlich den Sprachgebrauch der jüdischen Gegner wieder (; ). In abgewandelter Form findet sich der Gedanke des gefallenen Satans in der Offenbarung wieder, wo von einem Kampf berichtet wird, in dessen Verlauf der Satan vom Himmel geworfen ( vgl. auch ; ) und mit Ketten in den Abgrund gestoßen wird. Der Abgrund (Abaddon) wird als ein Engel personifiziert und als Apollyon auch als Strafengel gedacht, fungiert aber nicht mehr als von Gott gebilligte ausführende Gewalt, sondern als Urheber der Sünde. Nach 1000 Jahren erhebt sich der Satan erneut zum Angriff auf die Gerechten, nur um dann in den See aus Lava gestoßen und am Ende grausam bestraft zu werden . Das Christentum lehrt, dass Satan die Menschen hasst und alles unternimmt, um sie vom rechten Weg abzubringen und von Gott zu trennen. In der Kirchengeschichte wurden wiederholt Menschen nichtchristlichen Glaubens (darunter Häretiker, Apostaten oder Atheisten, Juden und Muslime) als Mächte des Satans oder als Erscheinungsformen des Teufels betrachtet und verfolgt. Processus Sathanae Der „Satansprozess“ handelt von einer Fabel, aus dem 13. bis 14. Jahrhundert, bei der der Satan als Advocatus Diaboli die Menschheit für ihre Sünden anklagt. Eine einheitliche Fassung dieser Fabel gibt es nicht, da sie mehrfach überarbeitet wurde. Satan fordert in den Satansprozessen eine vernichtende Strafe für die Menschen und erhebt eine juristische Klage. Als Verteidiger der Menschen tritt die Jungfrau Maria auf, die letztendlich durch Tränen den Richter Jesus Christus zu Mitleid rührt. Wie der Satan in der Fabel richtig anmerkt, dürfte Maria für den Prozess als Prokurator nicht zugelassen werden, und ein Richter hätte die Menschheit verdammen müssen. Die Fabel erweckt den Schein eines formellen Prozesses, ist aber sowohl der Gestaltung als auch dem Kern nach ein Dogma, wonach durch die Auferstehung Jesu Christi der Mensch aus der Gewalt des Teufels für alle Zeit befreit wurde. In einer späteren Fassung wird nicht der Mensch, sondern stattdessen Jesus angeklagt, da er dem Teufel die Seelen der Menschen entrissen habe. Auch hier verliert der Satan den Prozess. Satan und Satane im Islam Die formale Entsprechung für Satan im Islam ist Schaitān (). Der Begriff stammt wohl aus dem Hebräischen, die arabischen Lexikographen leiten das Wort jedoch von der arabischen Wurzel š-ṭ-n, mit der Deutung „jemanden von seiner ursprünglichen Absicht abbringen“ oder "jemand, der von (dem Weg Gottes) abgeirrt ist", ab. Muslime glauben, dass es nicht nur einen Satan, sondern viele Satane () gebe. Im Islam handelt es sich bei Satanen um eine von drei Klassen von Geistwesen. Die anderen beiden sind die Engel und die Dschinn. Wie auch die Engel berichtet der Koran, im Gegensatz zu den Dschinnen, nichts über die Erschaffung der Satane, doch hält die islamische Tradition wiederholt fest, dass die Satane entweder aus Rauch oder dem Feuer der Hölle (Nar-as-Samum) erschaffen seien. Mit den Satanen ist auch die Figur des Iblis verwandt. Dieser wird in der koranischen Erzählung über Adam im Paradies und dem folgenden Sündenfall mit Satan identifiziert. Koranische Aussagen Mit 88 Erwähnungen sind die Satane bzw. der Satan zusammen mit den Engeln die am häufigsten erwähnten Geistwesen im Koran. In der Geschichte über Adam und Eva verführt der Satan Adam, trotz des von Gott ausgesprochenen Verbots von dem Baum der „Ewigkeit und eines Reiches, das nicht vergeht,“ zu kosten (Sure 20:120) mit dem Argument, dass Gott mit dem Verbot nur verhindern wolle, dass sie zu unsterblichen Wesen würden (Sure 7:20). Die Blütenkolben des höllischen Zaqqūm-Baums gleichen den Köpfen von Satanen (ruʾūs aš-šayāṭīn; Sure 37:62-65). Sure 2 resümiert, dass es der Satan war, der die Menschen zu Fehltritten verleitete, so dass sie das Paradies verloren (Sure 2:36). Sure 26:395 spricht von den Heerscharen des Iblis, Satane, wahrscheinlich als eine Referenz zu weiteren Engeln, die ihm folgten. Die Werkzeuge Satans in dieser Welt sind der Wein, das Losspiel, Opfersteine und Lospfeile. Mit ihnen will er Hass und Feindschaft zwischen den Muslimen aufkommen lassen und sie vom Gottesgedenken und Gebet abhalten (Sure 5:90–91). Wenn einer den Satan zum Gesellen hat, hat er einen schlechten Gesellen (Sure 4:38). Selbst ein Prophet ist nicht davor sicher, dass ihm der Satan eine Offenbarung zuflüstert, „aber Gott tilgt dann jedes mal, was der Satan ihm untergeschoben hat“ (Sure 22:52; siehe Satanische Verse). Auch Mohammed wurde vorgeworfen, dass der Koran die Inspiration eines Satans sei, was aber im Koran (Sure 81:25) zurückgewiesen wird. Wenn der Mensch den Koran rezitiert, soll er Zuflucht in Gott vor dem verstoßenen Satan suchen (Sure 16:98). Gott hat den Himmel durch Türme, gegen rebellische Satane geschützt, die zum Himmel aufsteigen, um dessen Geheimnisse zu stehlen (Sure 15:16–18). Diese werden von den Engeln mit Meteoren beschossen und vertrieben. Als eine besondere Gruppe werden im Koran die Satane Salomos erwähnt: Sie dienten ihm als Baumeister und Taucher (Sure 38:37), unterwiesen die Menschen aber, nach dem Tod ihres Meisters, auch in verbotener Zauberei (Sure 2:102). Sure 6:112 erwähnt Satane der Menschen und der Dschinn. Nach manchen Koranexegeten handelt es sich hierbei womöglich um eine Adjektivierung des Ausdrucks Satan und bezeichnet all jene, die Gott gegenüber anmaßend auftreten statt einer eigenen Gattung von Geistwesen. Andere Autoren halten an der strikten Unterscheidung zwischen Satanen, Menschen und Dschinn fest. Abu Mufti schreibt in seinem Kommentar zu Abū Hanīfas "al-Fiqh al-absat", dass die Dschinn und Menschen Adressaten der Scharia sind und mit Fitra, also weder als Gläubige noch als Ungläubige erschaffen worden, sondern bedürfen der Rechtleitung Allahs, während die Gesinnung der Satane und Engel fixiert sind. Mit Ausnahme des Engelpaares Harut und Marut sind alle Engel gehorsam, aber alle Satane, mit Ausnahme eines Enkels von Iblis, böse. So handle auch der Vers 6:112 nicht von satanischen Menschen und Dschinn, sondern von Satanen, die unter den Menschen und den Dschinn ihr Unwesen treiben und sie zum Unglauben auffordern. Nach Auffassung der meisten Exegeten sei Iblis der Stammvater der Satane. Nur eine Minderheit vertrete die Auffassung, dass Iblis der Stammvater der Satane und der Dschinnen sei. Darunter Al-Hasan al-Basrī und Muqātil ibn Sulaimān. Der eigentliche Stammvater der Dschinn sei aber Al Dschann. Rolle im islamischen Volksglauben Die Satane spielen auch eine große Rolle im islamischen Volksglauben. Die Anthropologin Kjersti Larsen, die sich mit dem Glauben an solche Dämonen auf Sansibar befasst hat, hat festgestellt, dass in der Vorstellung der dortigen Bevölkerung eine ganze Anzahl unterschiedlicher böswilliger Dämonen existiert. Diese Dämonen, die auf Swahili aus dem Arabischen abgeleitet als masheitani (Sing. sheitani) oder mit dem bantusprachigen Swahili-Wort pepo bezeichnet werden, sollen sich in den Körpern von Menschen einnisten können. Damit sie den Menschen nicht schaden, müssen sie in Ritualen beschworen werden. Bei diesen Ritualen treten die Menschen in einen imaginären Dialog mit den Geistern und Dämonen ein und erörtern dabei auch Fragen der Moralität. Dennoch lässt sich die Vielzahl verschiedener im Volksglauben verankerten Elemente nicht einheitlich zusammenfassen. Lediglich einige grundlegenden Charakteristika, wie das Abwehren von Satanen durch den Namen Gottes, zieht sich durch alle Bereiche des islamischen Volksglaubens. Nach Feldforschungen in Syrien aus 2001 und 2002 tauchen die Satane nicht als personifizierte Dämonen auf, sondern als abstrakte Konzepte, die stets versuchen den gläubigen Muslim dazu verleiten verbotene Handlungen auszuführen. Bei javanisischen Muslimen findet sich ebenfalls die Vorstellung, dass die Satane sich nur selten den Menschen zeigen und sie erschrecken, sondern stattdessen die Menschen (und Dschinn) verführen, um sie in die Hölle zu leiten. Heterodoxe Traditionen Osteuropas Viele osteuropäische Schöpfungsmythen weisen einen dualistischen Charakter auf, in denen eine teuflische Gestalt die Rolle eines ursprünglichen Begleiter Gottes einnimmt und wesentlich an der Erschaffung der materiellen Welt beteiligt ist. Dabei taucht der Gegenspieler Gottes in das Meer, um das Material zur Erschaffung der Welt zu besorgen. Letztendlich kommt es zum Bruch mit Gott und jenes Wesen gestaltet seine eigene Welt (oder einen eigenen Anteil in der Welt). Solche Mythen überlebten das Ende des osmanischen Reiches und sind noch heute im Volksglauben im Balkan bekannt. In einem Manuskript der bulgarischen Apokryphe Das Meer von Tiberias, begegnet Gott auf dem Wasser eine Gans, die mit Satanael (Satan) identifiziert wird, und fragt ihn: „Wer bist du?“. Satan antwortet, dass er (ein) Gott sei, erwidert aber auf die Frage nach Gottes Identität, dass dieser der Gott der Götter wäre. Daraufhin fordert Gott den Satan auf, auf den Grund des Meeres zu tauchen, um Erde zu bringen. Satan kommt der Anweisung nach und bringt einen Stein hervor. Aus diesem erschafft Gott die immateriellen feurigen Engel und Satan seine eigenen. Nach Satans Revolte wird dieser von Michael aus dem Himmel, durch die Erde, in den Abgrund gestürzt, plant von dort aus aber erneut gegen Gott. Taucht Satan meistens in apokalyptischer Literatur noch nicht als Gegenspieler Gottes auf, so erscheint Satanael im slawischen Henochbuch als Prinz der rebellischen Engel. Auch hier schwebt Satanael nach seiner Verbannung über dem Abgrund. In ähnlicher Form findet sich der Mythos der tauchenden Gestalt auch in der finno-ugrischer Sprache, identifiziert den sekundären Schöpfer allerdings nicht mit Satan. Dieser mag seinen Ursprung in christlichen häretischen Glaubensvorstellungen wie den Bogomilen haben. Nach dieser hätte Satanael in sechs Tagen die Welt erschaffen, nachdem dieser von seinem Bruder Jesus aus dem Himmel verbannt wurde. Elemente dieser Geschichte finden sich auch in heterodoxen islamischen Schöpfungsgeschichten, besonders den Aleviten. Gott habe demnach die Erzengel losgeschickt, um für 1000 Jahre andere Lebewesen zu suchen. Als diese zurück zu Gott kam, fragte er ihn „Wer bist du und wer bin ich?“. Der Erzengel Gabriel antwortete „Ich bin ich“, woraufhin Gabriel erneut 1000 Jahre fortgeschickt wurde. In einer anderen Version wird der Engel, der diese Antwort gab, verbrannt und durch einen neuen Engel ersetzt. Die Geschichte weist zudem weitere Parallelen zum nicht-islamischen Turkglauben auf. Trotz regional abweichender Versionen, lässt sich festhalten, dass Erlik, der Gott der Unterwelt, als Gans über das unendliche Meer schwamm, bis einer der Schöpfergötter (je nachdem: Ülgen oder Kaira) ihn fragt „wer bist du?“ und Erlik darum gebeten wird, in die Tiefen hinab zu tauchen, um Erde zu beschaffen, woraufhin eine Welt erschaffen wird, und Erlik zum Urheber alles Verwerflichen und in die untersten Welten hinabgestoßen wird. Satanismus Der Satanismus ist von einer positiven Bezugnahme auf Satan bestimmt. Er wird oftmals mit einer Inversion des Christentums gleichgesetzt, die vor allem durch die christlichen Vorstellungen von Teufel und bösen Kräften und der Erbsünde beeinflusst ist. In ihr ist vor allem der göttliche Kampf zwischen Gut und Böse aus der Tradition des Christentums wesentlich. Daneben gibt es zahlreiche weitere Ausprägungen, in denen ein explizit antichristliches Auftreten und das Christentum selbst nicht zwingend eine Rolle spielen. Neben diesem spielen oftmals sumerische und ägyptische mythologische Einflüsse eine Rolle. Der Satanismus kann sich sowohl in einem theistischen als auch in einem atheistischen und rationalistischen Standpunkt äußern, in dem Satan lediglich als Symbol dient, beispielsweise in der Church of Satan. Literatur Harry Harun Behr: Der Satan und der Koran: zur theologischen Konstruktion des Bösen im Islam und dem therapeutischen Ansatz im islamischen Religionsunterricht. In: Klaus Berger (Hrsg.): Das Böse in der Sicht des Islam. Pustet, Regensburg 2009, S. 33–52, ISBN 978-3-7917-2181-1. T. Fahd: Shayṭān. 1. In pre-Islamic Arabia. In: The Encyclopaedia of Islam. New Edition. Band IX. S. 406b–408a. Karl R. H. Frick: Satan und die Satanisten I–III. Satanismus und Freimaurerei – Ihre Geschichte bis zur Gegenwart. Marix, Wiesbaden 2006, ISBN 978-3-86539-069-1. Georg Gustav Roskoff Geschichte des Teufels 1869 digitalisiert: 31. Juli 2006 Stoyanov, Yuri. “Islamic and Christian Heterodox Water Cosmogonies from the Ottoman Period: Parallels and Contrasts.” Bulletin of the School of Oriental and African Studies, University of London, vol. 64, no. 1, 2001, pp. 19–33. JSTOR, www.jstor.org/stable/3657539. Accessed 11 Feb. 2021. Weblinks Einzelnachweise Dämon Mythologisches Wesen Teufel (Christentum) Teufel (Islam) Biblisches Thema Dämon (Judentum)
Q35230
127.362884
780219
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Northumbria
Northumbria (auch Northhumbria, Northumbrien, Norþhymbra Rīce) war eines der angelsächsischen Kleinkönigreiche von England während der Heptarchie. Es entstand 604 durch die Vereinigung von Deira und Bernicia und bestand bis zu seiner Eroberung 867 durch dänische Wikinger. Geschichte Benannt war es nach seiner Lage nördlich des Flusses Humber. Neben Mercia und East Anglia war es die dritte Reichsgründung der Angeln. Der Name Humber leitet sich etymologisch vom lateinischen Substantiv umbra für „Schatten“ bzw. Verb umbro für „beschatten/bedecken“ ab und bezieht sich offensichtlich auf die dunkle bzw. schwarze Farbe des Ästuarwassers. Reichseinigung Die unabhängigen Königreiche Bernicia und Deira wurden erstmals durch Æthelfrith von Bernicia um 604 vereinigt. Er wurde 616 in der Schlacht am Fluss Idle von Rædwald getötet, der Edwin, den Sohn von Ælle von Deira, als Nachfolger einsetzte. Nach Edwins Tod im Jahr 633 wurden Bernicia und Deira kurzzeitig wieder selbständige Reiche. 634, nach nur einem Jahr Unabhängigkeit, vereinte Oswald Northumbria wieder, aber mit seinem Tod im Jahr 642 wurde es erneut geteilt. Oswalds Bruder Oswiu herrschte bis 651 nur in Bernicia, konnte dann aber in Deira abhängige Unterkönige einsetzen. König Ecgfrith (664/670–685) stellte schließlich 679 die endgültige Einheit Northumbrias her. Hegemonie Im 7. Jahrhundert erreichte Northumbria seine größte Ausdehnung. Die britischen Königreiche Elmet (616), Craven (um 675) und Dent (?) wurden Northumbria eingegliedert. Edwins (616–633) Einflusssphäre umfasste die Inseln Isle of Man und Anglesey. Zeitweilig übten Könige wie Oswald (634–642) als Bretwalda eine Oberherrschaft über Picten, Scoten, das Königreich Strathclyde und auch angelsächsische Reiche aus. Northumbrias bedeutendster Widersacher im 7. Jahrhundert war das angelsächsische Mercia. Mit der Schlacht bei Dunnichen Mere im Jahr 685, in der der northumbrische König Ecgfrith fiel, endeten die northumbrische Hegemonie im Norden sowie der Einfluss auf den Süden. Niedergang Das 8. Jahrhundert war geprägt von Thronstreitigkeiten und Fehden rivalisierender Familien. Von den 14 Königen, die zwischen 705 und 806 regierten, wurden vier ermordet, sechs abgesetzt und in ein Kloster oder Exil verbannt, und zwei dankten ab und gingen freiwillig ins Kloster. Einzig König Eadberht (737–758) konnte einige Gebiete im heutigen Ayrshire (Schottland) und von Strathclyde hinzugewinnen. König Eanred (810?–840/841) musste sich 829 Egbert von Wessex unterwerfen und Northumbria wurde tributpflichtig. Im Jahr 793 begann die Wikingerzeit mit einem Überfall auf das Kloster Lindisfarne. Es folgten zahlreiche weitere Plünderungszüge in den Sommern, und ab 850 überwinterten die Wikinger in England. 867 wurde das südliche Teilreich Deira nach der Eroberung Yorks durch das Große Heidnische Heer der dänischen Wikinger und der Gründung des Königreich Jórvík dem Danelag einverleibt. Für das nördliche Teilreich Bernicia setzten die Wikinger den dort einheimischen König Ecgberht I. als Unterkönig ein. Nach seinem Sturz 872 versuchte sein angelsächsischer Nachfolger Ricsige, Northumbria wieder aufzurichten, wurde aber bereits 874/875 wieder nach Bernicia zurückgedrängt. Um 878 eroberten die dänischen Wikinger auch das ehemalige Bernicia, welches damit vollkommen im Königreich Jorvik aufging. Im Norden unterwarf sich Ealdred (913–927) 927 dem englischen König Æthelstan (924–939). Der englische König Eadred (946–955) konnte 954 den letzten dänischen König Erik Blutaxt vertreiben und schloss damit die Rückeroberung Northumbrias ab. Ab diesem Zeitpunkt waren die lokalen Herrscher zunächst Ealdormen und danach Earls. Northumbria blieb ein umstrittenes Territorium, nun zwischen England und Schottland. Erst mit dem Vertrag von York im Jahre 1237 wurde die Zugehörigkeit zu England endgültig geregelt. Northumbria heute Heute bezeichnet Northumbria normalerweise eine etwas kleinere Region, die den Grafschaften Northumberland und County Durham in Nordostengland entspricht. Diese Region, offiziell North East England genannt, enthält den Ballungsraum von Newcastle upon Tyne. Newcastle ist auch größter Standort der Northumbria University (oder auch University of Northumbria at Newcastle), einer der großen jüngeren Universitäten in Nordengland. Northumbria, im modernen Sinne, hat seine eigenen Traditionen, die nirgendwo anders in England zu finden sind, z. B. der Rapper-Sword-Kettenschwerttanz, Klotztänze und eine besondere Art Dudelsack namens Northumbrian Smallpipes. Siehe auch Liste der Könige von Northumbria Earl of Northumbria Quellen Beda Venerabilis: Historia ecclesiastica gentis Anglorum, Online im Medieval Sourcebook (englisch) Literatur Robert Colls (Hrsg.): Northumbria. History and Identity, 547–2000. Phillimore, Chichester 2007, ISBN 978-1-86077-471-3. N. J. Higham: The Kingdom of Northumbria. AD 350–1100. Sutton, Stroud 1993, ISBN 0-86299-730-5. David Rollason: Northumbria. 500–1100. Creation and Destruction of a Kingdom. Cambridge University Press, Cambridge u. a. 2003, ISBN 0-521-81335-2. Michael Lapidge, John Blair, Simon Keynes, Donald Scragg (Hrsg.): The Blackwell Encyclopaedia of Anglo-Saxon England. Wiley-Blackwell, Oxford u. a. 2001, ISBN 978-0-6312-2492-1 Weblinks Grafschaft Northumberland (englisch) Northumbrian Pipers' Society (englisch) Northumbria University (englisch) Anmerkungen Konigreich Northumbria Northumbria Historische Landschaft oder Region in Europa Geographie (England) 604 867
Q107299
95.244538
139366
https://de.wikipedia.org/wiki/Moesia
Moesia
Moesia (, deutsch Mösien bzw. Moesien) war in der Antike eine vorwiegend von Thrakern bewohnte Region auf dem Balkan. Sie erstreckte sich über mehrere hundert Kilometer in west-östlicher Richtung am südlichen Ufer der unteren Donau. Den Namen bekam das Gebiet nach dem dort ansässigen thrakischen Stamm der Moesier (oder auch Myser). Im Jahre 29 v. Chr. wurde Mösien von Marcus Licinius Crassus erobert und später in eine römische Provinz umgewandelt. Im ersten Jahrhundert n. Chr. teilten die Römer das Gebiet in die Provinzen Moesia Superior (Obermösien) und Moesia Inferior (Niedermösien). Letzteres umfasste den nördlichen Teil des heutigen Bulgarien von der Donau bis zum Balkangebirge und die heute rumänische Dobrudscha. Obermösien ist in etwa deckungsgleich mit Serbien südlich der Donau und dem Kosovo. Dazu kommt noch ein schmaler Streifen im Norden der heutigen Republik Nordmazedonien. Mösien war zu Zeiten der Römer eine nahezu ständig gefährdete Grenzprovinz, die mit hohem Aufwand gegen Einfälle barbarischer Völker aus dem Norden verteidigt werden musste. Bis zu fünf Legionen und zahlreiche Hilfstruppeneinheiten waren hier dauerhaft stationiert. Unter Kaiser Trajan (98–117) war das Gebiet Ausgangspunkt für die Eroberung Dakiens. Ab der Mitte des 3. Jahrhunderts bedrängten auch die Goten die Provinzen an der unteren Donau. Nachdem Kaiser Aurelian die – nördlich der Donau gelegene – Provinz Dakien 274 wieder hatte aufgeben müssen, organisierte er die Verteidigung des Reiches an diesem Abschnitt des Limes vollkommen neu. Auf dem Gebiet Mösiens existierten fortan fünf, seit Kaiser Diokletian sechs kleinere Provinzen. Bei der endgültigen Reichsteilung im Jahre 395 fiel Mösien an Ostrom, das die Region noch bis zum Ende der Herrschaft des Kaisers Maurikios († 602) halten konnte. Hernach siedelten sich dort Bulgaren und Slawen an und begründeten das erste Bulgarische Reich. In Bulgarien verwendet man noch heute die Bezeichnung Misija () als Synonym für Nordbulgarien, allerdings ohne das Gebiet der Dobrudscha. Geographie Mösien umfasste einen breiten Streifen Landes am südlichen Ufer der unteren Donau. Es reichte von Singidunum bis zur Mündung des Flusses. Im Norden grenzte das Land an Dakien und Skythien. Westlich lag Illyrien, südwestlich Dardanien und Päonien. Im Süden wurde Mösien durch den Haemus von Thrakien getrennt. Im Osten reichte es, die Scythia Minor einschließend, bis an das Ufer des Schwarzen Meeres. Niedermösien wurde zum größten Teil durch fruchtbare Ebenen eingenommen, Scythia Minor durch ebenfalls flache Steppen. Obermösien war vornehmlich Mittelgebirgsland. Dort befanden sich wichtige Bergwerke. Vor allem wurden hier Eisenerz, Blei und Silber gewonnen. Für die Griechen zählte das Gebiet noch zu Thrakien. Relativ zuverlässige Informationen geben die nur spärlich überlieferten griechischen Quellen über die Region am Unterlauf der Donau und an der Schwarzmeerküste (Niedermösien und Scythia Minor). Über das weiter westlich gelegene Obermösien hatten die Griechen nur vage Vorstellungen. Die Einwohner der Region wurden als Geten bezeichnet, deren Siedlungsgebiet die Griechen zu beiden Seiten der unteren Donau verorteten. Im weiteren Sinn sah man die Geten als Teil des in viele Stämme zerfallenden thrakischen Volkes. Der namengebende Stamm der Mösier oder Myser siedelte in der Gegend des Donaudurchbruchs zu beiden Seiten der heutigen serbisch-bulgarischen Grenze. Die Nordgrenze ihres Landes war klar durch die untere Donau markiert. Wie weit das Gebiet der Myser im Osten und Süden reichte, ist unbekannt und auch archäologisch kaum feststellbar, da es sich bei den Nachbarn um ethnisch und kulturell nahe verwandte thrakisch-getische Völker handelte. Westlich des Flusses Margus schloss sich das Gebiet der illyrischen Autariaten an, die Ende des 4. Jahrhunderts v. Chr. von den keltischen Skordiskern nach Süden abgedrängt wurden. Unter römischer Herrschaft reichte Mösien weit über das Gebiet der Myser hinaus und schloss die Wohnsitze mehrerer anderer Völker mit ein, namentlich die der vorerwähnten Skordisker sowie jene der Triballer, Krobyzen und Dardaner. Die Verwaltung der Region wurde im Laufe der fünf Jahrhunderte andauernden Römerherrschaft mehrfach neu organisiert und das Land in mehrere Provinzen aufgeteilt. Das westlich gelegene Obermösien wurde 29 v. Chr. ins Imperium eingegliedert. Im Westen markierte der Fluss Drinus die Grenze zu Illyrien. Im Süden gehörte Dardanien mit Naissus dazu. Das vormals päonische Scupi (heute Skopje), römisch von 148 v. Chr. an, wurde 6 n. Chr. Obermösien zugeschlagen. Im Osten reichte dieses bis zum Fluss Ciabrus. Östlich davon erstreckte sich Niedermösien in der heute bulgarischen Donauebene. Die südliche Grenze zur Provinz Thrakien bildete die Kette des Haemus. Nordöstlich schloss sich die mit griechischen Kolonialstädten durchsetzte Scythia Minor an. Dieses Gebiet am Schwarzen Meer, das etwa der heutigen Dobrudscha entspricht, wurde im 1. Jahrhundert nach Chr. von den Römern mit Mösien vereinigt. Von Singidunum bis zur Mündung ins Schwarze Meer war die Donau die Nordgrenze Mösiens und gleichzeitig die längste Zeit auch Außengrenze des Reiches. Verkehr Abgesehen von der Donau als dem wichtigsten natürlichen Verkehrsweg in ost-westlicher Richtung, verliefen schon seit prähistorischer Zeit einige bedeutende Handelswege durch Mösien, die den Kontakt mit der griechischen Küste im Süden herstellten. Sie wurden später von den Römern zu festen Straßen ausgebaut. Am wichtigsten war die Route durch das Tal der Morava von Viminatium an der Donau über Naissus, Scupi und Stobi nach Thessalonice. In Naissus zweigte ein Weg ab, der über Serdica ins Innere Thrakiens und weiter bis zu den griechischen Städten an der Propontis führte. Zur Via Militaris ausgebaut wurde diese Straße später zu einer der wichtigsten Verbindungen in den Osten des Römischen Reiches. Mehrere Routen querten von der Donau kommend den Haemus und führten ebenfalls nach Thrakien. Wohl erst ab römischer Zeit von größerer Bedeutung war die Via Pontica. Sie verband die Städte am Ufer des Schwarzen Meeres und war sozusagen die Hauptstraße für die Scythia Minor. In Mösien waren neben der Donau auch die Unterläufe ihrer Zuflüsse Margus, Timacus, Oescus und Iatrus schiffbar. Städte Die vorrömische Bevölkerung Mösiens hatte keine Städte gebaut. Sie siedelte in Dörfern, von denen aber viele wegen der ständigen Kriege und Überfälle in der Region befestigt werden mussten. Unter den größeren befestigten Orten ragten besonders das skordiskische Singidunum an der Donau und das südlich davon gelegene Naissus heraus. Diese beiden Festungen waren ursprünglich im 3. Jahrhundert v. Chr. von eingewanderten Kelten erbaut worden. An der Schwarzmeerküste, der Scythia Minor, haben griechische Kolonisten einige Städte gegründet; die wichtigsten waren Tomis, Histria und Odessos (das heutige Warna). Die ältesten dieser Kolonien entstanden im 7. Jh. v. Chr. Viele von ihnen erreichten ihre höchste Blüte erst während der Römerherrschaft. Die ersten römischen Städte entstanden – wie in anderen Grenzprovinzen des Imperiums auch – im Umfeld der großen Militärlager. Dementsprechend lagen alle diese Städte an strategisch günstigen Stellen am Donauufer. Nicht selten ersetzten sie ältere Siedlungsplätze der Kelten oder Thraker, wenngleich nirgendwo in Mösien lokale Kontinuität gegeben war. So mussten z. B. die unterworfenen Kelten ihre hoch gelegenen Oppida verlassen; ihre nach römischer Art angelegten Nachfolgesiedlungen befanden sich in den besser zu kontrollierenden Tälern. Am Beginn ihrer Entwicklung im ersten Jahrhundert n. Chr. standen regelmäßig Zivilsiedlungen, deren Bewohner vorwiegend vom Handel mit den Legionen lebten. In Obermösien waren dies Singidunum und Viminatium, in Niedermösien Oescus und Novae. Im 2. Jahrhundert kamen dort noch Durostorum, Troesmis und Noviodunum hinzu. Als einzige größere Stadt im Hinterland Obermösiens ging auch Naissus, das bereits 75 v. Chr. römisch geworden war, auf ein Militärlager zurück. Nachdem die Grenze an die Donau vorverlegt worden war, wandelten die Flavier den Standort in eine Veteranenkolonie um. Zwischen diesen Hauptorten gab es noch eine Reihe kleinerer Ansiedlungen in der Nähe von römischen Kastellen, die oft ebenfalls einen stadtähnlichen Charakter aufwiesen, so z. B. Aquae, Timacum Minus und Aureus Mons in Obermösien oder der Flottenstützpunkt Sexaginta Prista in Niedermösien. Durch verschiedene Kaiser, insbesondere Domitian, Trajan und Hadrian, wurden viele schon länger bestehende Orte politisch aufgewertet, indem sie den Status eines Municipiums erhielten oder gar zur Colonia erhoben wurden. Trajan und Hadrian gründeten nach der Eroberung Dakiens auch im mösischen Hinterland Städte, in denen Veteranen der Dakerkriege angesiedelt wurden, so z. B. das dardanische Ulpiana, Nicopolis ad Istrum, Civitas Tropaensium und Marcianopolis. Schließlich gab es in Mösien einige Städte, die ihre Existenz dem Bergbau verdankten, so etwa Muncipium Dardanorum. Geschichte Vorrömische Eisenzeit Mösien wurde in der ersten Hälfte des 1. Jahrtausends v. Chr. von verschiedenen Völkern bewohnt, die kulturell den Thrakern zuzurechnen sind. Ihre Existenz ist ausschließlich durch archäologische Quellen nachgewiesen. Seit dem 7. Jahrhundert entstanden in der Scythia Minor an der Schwarzmeerküste einige griechische Kolonien. Damit geriet auch das Hinterland ins Blickfeld der Griechen. Einige der an der unteren Donau siedelnden Völker sind seitdem in schriftlichen Quellen belegt. Herodot († um 424 v. Chr.) erwähnt Thraker, Geten und die nomadischen Skythen, die aus den pontischen Steppen bis zur Donaumündung vorgedrungen waren. Die Triballer erscheinen zuerst bei Thukydides († 399 v. Chr.). In den Jahren 513/512 v. Chr. überschritt der persische Großkönig Dareios I. den Hellespont durchquerte Thrakien und stieß über die Donau nach Norden vor, um die Skythen an den nördlichen Ufern des Schwarzen Meeres zu bekämpfen. Der Krieg gegen die nur schwer fassbaren Nomaden endete zwar erfolglos, der östliche Balkan wurde dennoch als thrakische Satrapie Teil des Persischen Reiches. Als Kommandanten ließ Dareios seinen General Megabazos zurück, der zumindest alle Küstenstädte unterwerfen konnte. Der persische Machtbereich erstreckte sich bis zur unteren Donau und umfasste damit auch Scythia Minor und den östlichen Teil Mösiens. Infolge des Ionischen Aufstands und der sich anschließenden griechisch-persischen Kriege konnten die Thraker ihre Unabhängigkeit zurückgewinnen. Unmittelbar an der Donau endete die persische Herrschaft wohl schon 498 v. Chr., im übrigen Thrakien knapp 20 Jahre später. Im zweiten Drittel des 5. Jahrhunderts v. Chr. dehnte das thrakische Odrysenreich seine Macht bis an die untere Donau aus. Einige der dort siedelnden Stämme gerieten für einige Zeit in dessen Abhängigkeit. Während die odrysischen Könige Teres I. († um 450) und Sitalkes († 424) Scythia Minor und die unmittelbar westlich angrenzenden Gebiete erobern konnten, wurden sie mehrmals von den Triballern geschlagen, die so ihre Freiheit behaupteten. Mitte des 4. Jahrhunderts zerfiel das Odrysenreich wieder. Ein odrysischer Kleinstaat existierte aber als Vasall der Makedonen und später der Römer noch bis ins 1. Jahrhundert n. Chr. Nachdem Philipp II. von Makedonien Thrakien unterworfen hatte, unternahm er 339 v. Chr. einen erfolgreichen Feldzug bis an die Donau in das Gebiet von Niedermösien. Die Makedonier konnten diese Gebiete jedoch nicht auf Dauer in Abhängigkeit halten, zumal Philipps Sohn Alexander der Große sich nach 335 ganz auf die Eroberung Asiens konzentrierte und den Donauländern weniger Beachtung schenkte. Zopyrion, der von Alexander oder dessen Reichsverweser Antipater als Statthalter von Thrakien eingesetzt worden war, unternahm 331 einen Feldzug zur Unterwerfung der griechischen Kolonie Olbia am Schwarzen Meer. Mit 30.000 Mann überquerte er die Donau und drang an der Küste nach Norden vor. Die Belagerung der Stadt scheiterte jedoch. Auf dem Rückmarsch wurde das makedonische Heer von Angriffen der Skythen und Geten, mit denen sich Olbia verbündet hatte, aufgerieben. Zopyrion wurde dabei getötet und die makedonische Herrschaft nördlich des Haemus brach zusammen. Nach Alexanders Tod (323 v. Chr.) bekam Lysimachos bei der Aufteilung des Alexanderreiches auch die kleine Satrapie Thrakien zugesprochen. Vom Norden her war sie ständig durch Angriffe der Geten und Skythen bedroht. Gegen diese dehnte Lysimachos in mehreren Feldzügen seine Herrschaft bis über die Donau aus. Zunächst unterwarf er 314 v. Chr. die revoltierenden Städte Olbia und Odessos. Im Jahre 312 konnte er auch Kallatis einnehmen. Dann wandte er sich gegen seine Gegner unter den übrigen Diadochen und führte Krieg in Asien. Der Donaugrenze widmete er währenddessen kaum Aufmerksamkeit. Um 295 v. Chr. aber kehrte er dorthin zurück und bekämpfte den getischen König Dromichaetes, der sich ein Reich zu beiden Seiten der unteren Donau aufgebaut hatte. 292 v. Chr. wurde Lysimachos während eines Feldzugs von Dromichaetes gefangen genommen. Dieser behandelte seinen Gefangenen zuvorkommend und beide einigten sich auf einen dauerhaften Frieden. Dromichaetes heiratete eine Tochter des Lysimachos und der wiederum erhielt die thrakischen Länder südlich der Donau zurück. Nach dem Tod des Lysimachos 281 aber ging die hellenistische Herrschaft an der unteren Donau endgültig zu Ende. Als neuer Machtfaktor tauchten zu dieser Zeit die aus Mitteleuropa südwärts wandernden Kelten in Mösien auf. Zuerst wurden die illyrischen Autariaten aus dem nördlichen Obermösien verdrängt. In diesem Gebiet an den Flüssen Savus und Drinus lebten seitdem die keltischen Skordisker, auf die dann im 1. Jahrhundert v. Chr. auch die Römer treffen sollten, als sie bis zur Donau vorstießen. 319 v. Chr. drang der keltische Heerführer Molistomos tief in das später Obermösien genannte illyrisch-thrakische Grenzgebiet ein und unterwarf dabei die Dardaner, Päonier und Triballer. In den nächsten Jahrzehnten durchzogen keltische Scharen immer wieder den Balkan. Teils waren sie auf der Suche nach Beute, teils erkundeten sie die Möglichkeiten für neue Siedlungsgebiete. 280 v. Chr. unternahm ein großes keltisches Heer unter den Führern Brennus, Cerethius, Akichorius und Bolgios einen großangelegten Angriff auf Makedonien und Griechenland. Auf ihrem Weg dorthin kämpften sie wiederum gegen die Völker Obermösiens und verheerten dabei die Länder der Triballer und Dardarner. 279 v. Chr. bei Delphi vernichtend geschlagen, zogen sich die Kelten wieder auf den nördlichen Balkan zurück. Dort blieben sie auch in den folgenden zwei Jahrhunderten weiter ein politischer Machtfaktor. Ihr Siedlungsschwerpunkt lag zwar in Pannonien, aber auch in weiten Teilen Mösiens und in Thrakien konnten viele ihrer Siedlungen archäologisch, manchmal auch sprachwissenschaftlich nachgewiesen werden. So haben zum Beispiel die in römischer Zeit bedeutenden Festungen Durosturum, Noviodunum, Singidunum und Ratiaria keltische Vorgänger. Um 180 v. Chr. erschienen die vermutlich germanischen Bastarnen zum ersten Mal an der unteren Donau. Ein Teil von ihnen hielt sich zumindest für einige Jahre in Niedermösien auf, obwohl ihr Hauptsiedlungsgebiet weiter nördlich lag. Den Römern begegneten sie erstmals als Söldner im Heer des makedonischen Königs Perseus. Die römische Herrschaft bis zur Teilung der Provinz Nach der Eroberung Makedoniens gerieten auch die Gebiete an der unteren Donau in das Blickfeld der Römer. Der Strom wurde im 1. Jahrhundert v. Chr. endgültig zur Grenze der römischen Interessensphäre in Südosteuropa, ähnlich wie es im Westen der Rhein schon vor der Eroberung Galliens gewesen war. So wie Gaius Iulius Caesar die Rheingrenze für das Imperium gewann, hat sein Nachfolger Kaiser Augustus eine Generation später die Donau auf ihrer ganzen Länge zur Nordgrenze des Reiches erklärt. Im letzten Jahrhundert der Republik versuchten die Römer, den Raum östlich von Illyrien und nördlich von Makedonien mittels ihrer Bündnis- und Klientelpolitik zu kontrollieren. Vereinzelte militärische Vorstöße, die in der Regel von den Statthaltern in Makedonien geführt wurden, waren Vergeltungsmaßnahmen für Einfälle thrakischer und getischer Stämme in die Gebiete der römischen Verbündeten oder gar in die Provinz Macedonia selbst. So führte Scribonius Curio, Prokonsul von Makedonien, seit 75 v. Chr. drei Jahre lang erfolgreich Krieg gegen die Dardarner und Mösier. Als erster römischer Feldherr erreichte er dabei mit seinen Truppen die untere Donau. Für die Unterwerfung der Dardarner erhielt Curio einen Triumph zuerkannt, den er 71 v. Chr. feierte. Die direkt am südlichen Donauufer siedelnden Skordisker, Mösier und Triballer blieben zu dieser Zeit aber noch frei von direkter römischer Herrschaft. Marcus Terentius Varro Lucullus, der Scribonius nachfolgende Prokonsul in Makedonien, führte siegreich Krieg gegen die Bessen und einige griechische Städte (Apollonia, Kallatis, Tomis und Olbia) in der Scythia Minor, die mit dem pontischen König Mithridates VI. verbündet waren. Auf diese Weise kam die später zu Niedermösien gerechnete Schwarzmeerküste bereits 72 v. Chr. unter römische Herrschaft. Bis zur Errichtung der Provinz 80 Jahre später unterstanden die Städte der Scythia Minor einem Praefectus orae maritimae. Sie behielten ihre innere Autonomie und wurden wenig später als Verbündete Roms behandelt. Gaius Antonius Hybrida, der 62–60 v. Chr. Prokonsul in Makedonien war, führte mehrere erfolglose Feldzüge in Mösien und wurde bei Histria schwer von den Bastarnen geschlagen, wobei auch einige römische Feldzeichen verloren gingen. Ungefähr zur selben Zeit begann Burebista, der König eines großen, wenn auch kurzlebigen dakisch-getischen Reiches mit Zentrum in Siebenbürgen, seine Macht auf die Gebiete südlich der Donau auszudehnen. 60 oder 59 v. Chr. fiel er in die Territorien der Skordisker und Mösier ein. Und etwa 55 v. Chr. startete er eine Reihe von Feldzügen, die zur Eroberung der Scythia Minor mit allen dort gelegenen Griechenstädten und der rechts der Donau gelegenen Tiefebene (mit Ausnahme des Landes der Triballer) führten. Zwischen 50 und 48 v. Chr. stieß Burebista bis Apollonia Pontica an der thrakischen Schwarzmeerküste vor. Im römischen Bürgerkrieg war der Dakerkönig lose mit Pompeius verbündet, freilich ohne diesen wirksam zu unterstützen. Gleichwohl plante Caesar für das Jahr 44 einen Feldzug gegen Burebista, der wegen der Ermordung des Diktators aber nicht zustande kam und auch bald nicht mehr notwendig war, da der Dakerkönig im selben Jahr ermordet wurde, woraufhin sein Reich rasch zerfiel und die mit Rom verbündeten Städte ihre Freiheit wiedererlangten. Anlass zu einem erneuten römischen Eingreifen in der Region bot in augusteischer Zeit der Verstoß von Bastarnern und Dakern über die Donau. Sie hatten zunächst die Mösier und Triballer besiegt und zogen dann gemeinsam mit diesen über den Haemus ins Innere Thrakiens gegen die Dentheleten, deren König Sitas einen Bündnisvertrag mit Rom hatte. Daraufhin beauftragte Kaiser Augustus 29 v. Chr. den Prokonsul von Makedonien, Marcus Licinius Crassus, gegen die Invasoren vorzugehen. Nachdem Crassus die Gegner zuerst aus Thrakien vertrieben hatte, schlug er sie danach in Mösien noch einmal entscheidend, wobei er Deldo, den König der Bastarnen, eigenhändig tötete, woraufhin diese sich vorläufig zurückzogen. Durch diese Demonstration militärischer Stärke erreichte Crassus, dass auch die Mösier ihn um Frieden baten. Danach zog er sich nach Süden in sein Winterquartier zurück. Für seine Siege bekam Crassus einen Triumph bewilligt. Im folgenden Jahr aber brachen die Kämpfe mit den Bastarnen sowie den Römern feindlich gesinnten thrakischen und getischen Stämmen erneut aus. Crassus Verbündete waren die thrakischen Stammesfürsten Rholes und Sitas sowie das damals schon sehr geschwächte Odrysenreich unter Rhoemetalces I. In Niedermösien besiegte er verschiedene getische Stämme und konnte die römische Macht bis an die Donaumündung ausdehnen. Als Crassus 27 v. Chr. nach Rom ging, um seinen Triumph über die Bastarnen zu feiern, stand Obermösien unter direkter römischer Herrschaft. Die in der Scythia Minor gelegenen Griechenstädte und das Gebiet des Rholes im westlichen Niedermösien behielten als Klientelstaaten noch begrenzt Autonomie. Das östliche Niedermösien wurde Ripa Thraciae (Thrakisches Ufer) genannt und den Klientelkönigen der Odrysen zur Verwaltung und Verteidigung übergeben. Das gesamte neu gewonnene Gebiet unterstellte man zunächst dem prokonsularischen Statthalter von Makedonien, der an der Donau jeweils von einem kaiserlichen Legaten im Rang eines Prätors vertreten wurde. Die administrative Anbindung Mösiens an Makedonien dauerte mit einer kurzen Unterbrechung bis 44 n. Chr. und betraf ebenso die thrakischen Klientelstaaten. Mindestens zwei Legionen, darunter die Legio V Macedonica, und zahlreiche Hilfstruppen wurden zur Sicherung der neuen Grenzen in Mösien stationiert. Dazu kam eine neu aufgestellte Donauflotte (classis moesica). An welchen Orten die einzelnen Einheiten in augusteischer Zeit ihre Lager hatten, ist nicht gesichert. Spätestens im Jahr 6 n. Chr. ließ Augustus Mösien als eigene Provinz organisieren. Für dieses Jahr nämlich nennen die Quellen den ersten namentlich bekannten Statthalter der Provinz: Aulus Caecina Severus. Dieser war an der Niederschlagung des pannonischen Aufstandes beteiligt, musste dann aber nach Mösien zurückkehren, wo er im Jahr 6 einen Einfall der Sarmaten und der Daker zurückschlug. Nach dem Sieg in Mösien kehrte Caecina Anno 7 nach Pannonien zurück, wo die beiden Anführer des pannonischen Aufstandes – der Dalmatier Bato und der Breuker Bato – auf ihn lauerten. Sie überfielen ihn unvermutet in seinem Lager in den Sümpfen, wo sie in die Flucht geschlagen wurden. Unter seinem Kommando von fünf Legionen wurde er in der Schlacht in den Pannonischen Sümpfen beinahe besiegt. Die hohe Zahl der in Mösien konzentrierten Truppen zeigt einerseits, dass die Region durch Barbareneinfälle stark gefährdet war, und andererseits, dass sie ein wichtiger Eckpfeiler in den strategischen Planungen der Römer war. Von hier ließen sich Truppen schnell nach Pannonien im Westen verschieben, ebenso rasch ins unruhige Thrakien und an die Küsten des Schwarzen Meeres, so wurden häufig Vexillationen abgestellt, die verbündete griechische Städte, wie Olbia, und Tyras oder Chersonesos auf der Krim zu schützen hatten. Von Mösien aus konnten europäische Legionen bei Bedarf auch relativ schnell an die parthische Grenze im Osten marschieren. Im Jahr 9 wurde Gaius Poppaeus Sabinus zum prokonsularischen Statthalter ernannt. 15 n. Chr. übertrug ihm Kaiser Tiberius auch die Verantwortung für die Provinzen Achaea und Makedonien, womit das gemeinsame Militärkommando über den östlichen Balkan wiederhergestellt war. Der Grund dafür lag vermutlich in den Unruhen und Aufständen, durch die die thrakischen Klientelstaaten erschüttert wurden, denen man besser begegnen konnte, wenn die angrenzenden Provinzen in einer Hand vereinigt waren. Während der Herrschaft des Kaisers Tiberius wurde in Niedermösien parallel zur Donau eine erste Militärstraße gebaut, die möglicherweise schon von Ratiaria bis Axiopolis führte. Kaiser Claudius trennte im Jahr 44 die Verwaltung Mösiens dauerhaft von der Makedoniens. Gleichzeitig wurde Thrakien als eigene Provinz organisiert, was einen Aufstand der Thraker auslöste, der erst ein Jahr später niedergeschlagen werden konnte. Die Ripa Thraciae wurden zur Provinz Mösien hinzugefügt, die nun von der Savemündung bis zur Küste des Schwarzen Meeres reichte. In der ausgedehnten Grenzregion waren bis dahin drei Legionen und eine unbekannte, aber hohe Zahl an „Auxilia“ (Hilfstruppen) stationiert. Legionslager waren Oescus und Novae in Niedermösien sowie Viminatium in Obermösien. 44 nun wurde wegen des thrakischen Aufstands als vierte Legion die VIII. Augusta nach Mösien verlegt und bezog in Novae Quartier. Wie in anderen neu erworbenen Provinzen auch, nahmen die Römer zur Festigung ihrer Macht große Verschiebungen der alteingesessenen Bevölkerung vor. An den Ufern der Donau wurden die ursprünglichen Einwohner aus einem Streifen Landes vertrieben, das fortan eine devastierte Sicherheitszone zwischen dem Reich und den Barbarenvölkern bildete. Da es in Mösien aber kaum Städte gab, deren Magistraten man die Zivilverwaltung überlassen konnte, ließen die Römer traditionelle Stammesstrukturen fortbestehen. Wo es ihnen angebracht schien, riefen sie auch selbst derartige ländliche Gemeinschaften ins Leben. Zur Kontrolle der einheimischen Stammesführer wurden bisweilen Offiziere als Prokuratoren eingesetzt. So geschah es zum Beispiel bei den Triballern, die als civitas Triballorum unter der römischen Herrschaft noch längere Zeit eine separate Verwaltung hatten. Neben den Territorien der Stämme und der Städte gab es weite Teile des Landes, die als kaiserliche Domänen direkt vom Fiskus verwaltet wurden. Dazu gehörten auch die Bergwerke Dardaniens. Schließlich gab es ausgedehnte Ländereien, die den Legionen zur Selbstversorgung übergeben wurden. Unter Nero war von 61 bis 66 Tiberius Plautius Silvanus Aelianus als legatus Augusti pro praetore Statthalter von Mösien. Er hatte sich während seiner Statthalterschaft fast dauernd mit den unruhig gewordenen Völkern nördlich der Donau auseinanderzusetzen. Mehrfach führte er seine Truppen ans jenseitige Ufer, griff dort in die Kriege zwischen Dakern, Bastarnen und Sarmaten ein und siedelte tausende Menschen aus dem Norden in der Provinz an. Plautius Silvanus soll 64 mit Getreide beladene Schiffe nach Rom geschickt haben, als die Bevölkerung der Hauptstadt wegen des großen Brandes Not litt. Dies wäre ein erster Hinweis, dass das für den Getreideanbau geeignete Mösien eine wenn auch untergeordnete Rolle bei der Versorgung Roms zu spielen begann. Im sogenannten Vierkaiserjahr 69 waren auch die in Mösien stationierten Legionen an den Kämpfen zwischen den Thronprätendenten beteiligt, wodurch der Schutz der Donaugrenze vernachlässigt wurde. Für das Frühjahr dieses Jahres bezeugt Tacitus einen Plünderungszug der sarmatischen Roxolanen in Niedermösien. Daran waren 9000 Kataphrakten beteiligt, derer die geschwächten römischen Truppen unter dem Statthalter Marcus Aponius erst nach einigen Schwierigkeiten Herr wurden. Sie trieben die schwere Reiterei der Roxolanen schließlich in die Sümpfe am Donauufer, wo deren schwere Panzerung ein großer Nachteil war, und konnten sie dort besiegen. Ende 69 ernannte Vespasian den Senator Gaius Fonteius Agrippa zum neuen Statthalter, um weiteren Angriffen der Sarmaten zu begegnen. Fonteius starb im Jahr 70 im Kampf, woraufhin Vespasian Rubrius Gallus zur Bestrafung und Unterwerfung der Sarmaten aussandte. Zur Verstärkung kam im gleichen Jahr die Legio I Italica nach Mösien. Sie bezog ihr Lager in Novae, wo sie ununterbrochen für mehr als 200 Jahre stationiert blieb. Um das Jahr 75 ließ Vespasian in Ratiaria einen neuen Stützpunkt für die Donauflotte anlegen. Die beiden Mösien bis zur Räumung Dakiens Während unter den Kaisern Vespasian und Titus Pannonien an der mittleren Donau im Zentrum der Aufmerksamkeit stand, ergriff Domitian gleich zu Beginn seiner Herrschaft in Mösien die Initiative. In der neu gegründeten Stadt Scupi siedelte er Veteranen verschiedener, in der Provinz stationierter Legionen an. Erst zu dieser Zeit – also rund ein Jahrhundert nach der Eroberung – begann so die intensivere Romanisierung des mösischen Hinterlandes. Mitte 85 drangen starke dakische Kriegerverbände des Stammesfürsten Decebalus in die Provinz Mösien ein und trafen die Römer völlig unvorbereitet. Der Statthalter Gaius Oppius Sabinus fiel während der gescheiterten Abwehrkämpfe, die Daker plünderten und brandschatzten viele Siedlungen und Kastelle. Kaiser Domitian ordnete die Verlegung von Legionen aus allen Teilen des Reiches an und begab sich selbst mit seinen Prätorianern unter dem Befehl von Cornelius Fuscus an die mösische Front. Mit zwei erfolgreichen Expeditionen konnten die Scharen des Decebalus über die Donau zurückgetrieben werden und Domitian kehrte nach Rom zurück, wo er seinen ersten Dakertriumph feierte. Fuscus blieb als Oberbefehlshaber in Mösien, reorganisierte die Provinz und das Heer und bereitete den Rachefeldzug gegen die Daker vor. Mitte 86 überschritt er die Donau. Beim ersten Zusammentreffen mit dem Dakerheer verlor er aber die Schlacht und sein Leben. Fast die gesamte Expeditionsarmee wurde vernichtet. Diese zweite Niederlage innerhalb kurzer Zeit veranlasste Domitian, erneut nach Mösien aufzubrechen und mehrere Legionen an die Donau zu verlegen. Bis Ende 86 schlug Marcus Cornelius Nigrinus als neuer Oberbefehlshaber und Statthalter mindestens zwei erfolgreiche Schlachten gegen die Daker. Im Spätherbst 86 kehrte Domitian nach Rom zurück und verzichtete auf einen Triumph. Und tatsächlich war die dakische Gefahr noch nicht gebannt. Decebalus schloss ein Bündnis mit den mittlerweile in der Walachei sitzenden Roxolanen, die das römische Gebiet an der Donau schon seit augusteischer Zeit bedrohten. Domitian reagierte mit weiteren Truppenverlegungen und Reorganisation der Verwaltung an der unteren Donau. Im Herbst 86 wurde das Gebiet in die zwei Provinzen Moesia Superior (Obermösien) und Moesia Inferior (Niedermösien) geteilt. Die Grenze wurde am Fluss Ciabrus gezogen. Als Residenz für den niedermösischen Statthalter wählte man Marcianopolis. Die Massierung von Truppenverbänden nun unter dem Kommando von zwei Statthaltern sowie der Ausbau der römischen Positionen im bis dahin weniger entwickelten Niedermösien sollten die systematische Befriedung der Daker vorbereiten. Während Marcus Cornelius Nigrinus in Moesia Inferior die Ordnung hielt und die Donaugrenze gegen die Steppenvölker ausbaute, griff Lucius Tettius Julianus im Jahr 88 von Moesia Superior aus Sarmizegetusa, das dakische Machtzentrum in den Westkarpaten, an, ohne dessen Einnahme zu erreichen. Im Sommer 89 startete die zweite Strafexpedition gegen Decebalus und Sarmizegetusa. Der Widerstand war jedoch so groß, dass die Römer sich über die Donau zurückziehen mussten. Als Folge des Angriffs und der römischen Niederlage traten die Quaden und Jazygen in den Krieg ein und bildeten eine bedrohliche pannonische Allianz gegen die Römer. Daraufhin änderte der Kaiser seine Strategie: Er nahm Friedensverhandlungen mit Decebalus auf, der sich Rom unterwarf und als Klientelkönig weiterregieren durfte. Domitian selbst reiste in das dakische Hinterland und demonstrierte so den römischen Machtanspruch auf der anderen Donauseite. In den letzten Regierungsjahren Domitians und unter Kaiser Nerva (96–98) blieb es an der mösisch-dakischen Grenze ruhig. Unter der Hand scheint Decebalus aber wieder aufgerüstet zu haben, so dass Dakien weiter eine Gefahr darstellte. Wie schon Domitian betrachtete auch Kaiser Trajan den Donauraum als die am meisten gefährdete Region des Reiches, und er war entschlossen, die militärische Initiative zu ergreifen. Eine erste Inspektionsreise zu den dortigen Truppen im Winter 98/99 und Befehle die Grenzbefestigungen in Pannonien und Mösien auszubauen, bereiteten den Krieg vor. Um 100 wurde die Militärstraße zwischen den obermösischen Städten Viminatium und Ratiaria direkt am südlichen Ufer der Donau durch Apollodor von Damaskus ausgebaut. Damit konnten die römischen Truppen schnell entlang der gesamten mösisch-dakischen Grenze verschoben werden. Die auch für die Schifffahrt problematische Strecke am Eisernen Tor konnte nun zu Fuß rasch überwunden werden. Offiziell gab das Verhalten des Königs Decebalus den Anlass zum Krieg gegen die Daker. Ihm wurde vorgeworfen, gegen die Bestimmungen des Friedensvertrages von 89 verstoßen zu haben. Im Frühjahr 101 begann Trajan den Feldzug und ließ die römischen Truppen von Niedermösien aus vorstoßen. Bei Tapae auf halben Weg nach Sarmizegetusa kam es zur einzigen größeren Schlacht des ersten Dakerkrieges, aus der Trajan siegreich hervorging. Doch hatte der Dakerkönig keine vernichtende Niederlage hinnehmen müssen und befahl einem bedeutenden Teil seiner Reitertruppen, in Niedermösien einzufallen. Mit diesem Entlastungsangriff hoffte er vielleicht auch, die Unterstützung der dortigen stammesverwandten Bevölkerung für sich zu gewinnen. Dies zwang Trajan und seine Truppen, sich aus Dakien zurückzuziehen und sich nach Niedermösien zu begeben. Nachdem die Daker dort geschlagen waren, griff der Kaiser wieder deren Kernland an, wo er weitere Siege erfocht, die Decebalus veranlassten, um Frieden zu bitten. Unter harten Bedingungen, die vor allem eine weitgehende Demilitarisierung Dakiens beinhalteten, schloss Trajan im Jahr 102 Frieden. Indirekt beherrschten die Römer nun einen großen Teil des Landes jenseits der unteren Donau. Die beiden mösischen Provinzen waren damit weitgehend gesichert. Am dakischen Donauufer ließ der Kaiser Stützpunkte anlegen. Bei der niedermösischen Ortschaft Zanes ließ er 104/5 die erste Brücke über die untere Donau bauen und durch ein Kastell am jenseitigen Ufer sichern. Die neuerliche Meisterleistung des Architekten Apollodor von Damaskus erleichterte den Vormarsch der Römer im folgenden Jahr während des zweiten Dakerkriegs. Bald nach dem Friedensschluss mit den Römern bemühte sich der Dakerkönig Decebalus, sein Land erneut aufzurüsten. Mit geringem Erfolg versuchte er, die Nachbarvölker zu einem Bündnis gegen Rom zu bewegen. Trajan erkannte, dass Decebalus weder durch harte Friedensverträge noch durch militärische Überwachung dazu zu bringen war, sich Rom unterzuordnen. Der Kaiser entschloss sich deshalb, dass Dakerreich zu zerschlagen und sein Gebiet ins Imperium einzugliedern. Ein dakischer Überfall auf die zu diesem Zeitpunkt mit Rom verbündeten Jazygen boten dem Kaiser und Senat den Anlass, wieder in den Krieg zu ziehen. Trajan hatte dafür 14 Legionen in Pannonien und Mösien zusammengezogen. Das war fast die Hälfte der zu dieser Zeit im Römischen Reich aufgestellten Legionen. Noch bevor der Kaiser auf dem Kriegsschauplatz eintraf, musste Decebalus einsehen, dass er den Krieg nicht gewinnen konnte. In seiner verzweifelten Lage schickte er einen Agenten zu Trajan, der sich noch in Mösien aufhielt, um ihn ermorden zu lassen. Doch auch dieses Vorhaben scheiterte. In der ersten Hälfte des Jahres 106 wurde schließlich ganz Dakien von den römischen Truppen besetzt und noch im gleichen Jahr als Provinz organisiert. In Niedermösien nahe dem modernen Ort Adamclisi ließ der Kaiser das Tropaeum Traiani, ein monumentales Siegesdenkmal, errichten. Die Ausdehnung des Reiches nach Norden hatte vielfache Auswirkungen auf die mösischen Provinzen. Vorläufig gehörten sie nicht mehr zu den gefährdeten Grenzregionen. Ein Teil der lange Zeit in den mösischen Lagern stationierten Legionen und Hilfstruppen wurde nach Dakien verlegt. So hatte die IV. Flavia Felix von Singidunum aus an den Dakerkriegen teilgenommen und wurde nach deren Ende in Sarmizegetusa stationiert, von Hadrian aber 119 wieder an ihren alten Standort zurückverlegt. Die Donau blieb die Hauptverteidigungslinie des Reiches in Südosteuropa. Die Legio VII Claudia, die während der Dakerkriege am Bau der Donausstraße mitgewirkt hatte, behielt ihren alten Standort im obermösischen Viminatium. Die I. Italica blieb im niedermösischen Novae stationiert. Spuren ihrer Vexillationen fanden sich bis hinab ins Donaudelta und sogar auf der Krim. Die V. Macedonica hatte ihr Lager bis Anfang des 2. Jahrhunderts in Oescus. Nach den Dakerkriegen wurde sie flussabwärts nach Troesmis verlegt, wo sie bis 161 stationiert war. Die XI. Claudia wurde zur selben Zeit nach Durostorum gewiesen, um gleichfalls die gefährdete Steppengrenze zu sichern. Das Lager Oescus blieb ebenfalls Truppenstandort, wenn auch unklar ist, ob es nach den Dakerkriegen von einer Legion, einzelnen Kohorten oder von Hilfstruppen besetzt war. Die Walachei, wo Daker, Geten und Roxolanan nebeneinander lebten, vereinigte Trajan mit Niedermösien. Zur Sicherung dieses durch die Steppenvölker gefährdeten Gebietes wurde einige Kastelle nördlich der Donau als vorgeschobene Posten der Legionslager Durostorum und Troesmis angelegt. Mit den Roxolanen schloss der Kaiser einen Bündnisvertrag, der auch die Zahlung von Subsidien beinhaltete. Der römische Staat stützte sich bei der Herrschaft über sein riesiges Territorium auf die Städte als unterste Verwaltungseinheiten. Sie waren für die Steuererhebung, die niedere Gerichtsbarkeit und auch die Rekrutierung neuer Soldaten zuständig. In Mösien war diese Form der Herrschaft im 1. Jahrhundert n. Chr. kaum möglich, da das Land, abgesehen von der Schwarzmeerküste, arm an Städten war. Trajan war bemüht, den inneren Ausbau des Reichs durch Stadtgründungen oder die rechtliche Aufwertung bestehender Siedlungen voranzutreiben. Die mösischen Provinzen bildeten dabei einen Schwerpunkt. Neu angelegte Städte im östlichen Niedermösien waren Civitas Tropäum und Nicopolis ad Istrum. Beide wurden in Erinnerung an den Sieg über die Daker gegründet und dienten der Ansiedlung von Veteranen aus diesem Krieg. Sie hatten jeweils ein großes Hinterland, dass ihnen zur Herrschaft untergeordnet wurde. Eine weitere Gründung Trajans war das in der Scythia Minor gelegene Troesmis. Diese Stadt ging auf eine alte getische Festung zurück, an deren Stelle 107 ein Legionslager errichtet wurde. Marcianopolis im nordöstlichen Thrakien war eine Siedlungskolonie ohne militärische Bedeutung. Der im 2. und 3. Jahrhundert florierende Ort wurde bald ein wichtiges regionales Verwaltungszentrum. Die Stadt und ihr Territorium wurden später zu Niedermösien geschlagen und der Sitz des Statthalters dorthin verlegt. Vielleicht schon unter Trajan, möglicherweise auch erst unter seinem Nachfolger Hadrian, wurde der dardarnische Zentralort Ulpiana als Stadt gegründet. Ratiaria bekam nach den Dakerkriegen den Status einer Kolonie. Für seinen Feldzug gegen Parthien zog Trajan 113 viele Truppen aus den Donauprovinzen ab. 117 aber erreichten den Kaiser im Osten Nachrichten von Aufständen in Dakien und in Niedermösien, wo die Roxolanen sich auflehnten. Gleichzeitig hatten sich die ehemals mit Rom verbündeten Jazygen erhoben. Noch vor seinem Tod (August 117) befahl Trajan daher, den Rückmarsch einiger Legionen und Hilfstruppen an die untere Donau. Die Verteidigung der Donauprovinzen war dann eine der ersten Herausforderungen des neuen Kaisers Hadrian, der sich bei seiner Machtübernahme noch in Syrien aufhielt. Dort erfuhr er auch vom Tod des dakischen Statthalters Quadratus Bassus († 118), der das Oberkommando in der gefährdeten Region hatte. Hadrian bekam zwar die Lage in Dakien wieder in den Griff, entschied sich aber, die neuen zu Niedermösien geschlagenen Gebiete nördlich der Donau aufzugeben. Zwischen Sexaginta Prista und Troesmis wurde die Grenze abgesehen von einigen Brückenköpfen an den Fluss zurückverlegt. Der den Römern verbliebene westliche Teil der Walachei (in etwa das heutige Oltenien) wurde von Niedermösien abgetrennt und als eigene Provinz Dacia inferior organisiert. Im Jahre 136 verlegte man die Grenze zwischen Ober- und Niedermösien westwärts an den Fluss Almus. Die Roxolanen schließlich ließen sich von Hadrian zu einem neuen Bündnis bewegen. Hadrians Politik war auf die Sicherung des Friedens und der Reichsgrenzen ausgerichtet. Abgesehen vom Beginn seiner Herrschaft gab es in jener Zeit an der mösischen Donaugrenzen keine weiteren Barbareneinfälle. Der Kaiser ließ die Grenzbefestigungen weiter verstärken und setzte, was die Förderung der Städte angeht, den Kurs seines Vorgängers fort. Viminatium und Singidunum wurden von ihm zu municipia erhoben. Der Frieden hielt an der Donau auch unter Hadrians Nachfolger Antoninus Pius († 161). Infolge dieser Jahrzehnte anhaltenden Ruhephase blieben die in Mösien stationierten Legionen und Hilfstruppen die ganze Zeit an den ihnen zugewiesenen Standorten und die Gewinnung neuer Rekruten erfolgte hauptsächlich unter den Provinzialen der näheren Umgebung. Auf diese Weise intensivierte sich der Kontakt mit der Zivilbevölkerung, was wiederum zu deren Romanisierung beitrug. Zu Zeiten des Kaisers Mark Aurel († 180) waren die mösischen Provinzen von Einfällen der östlich und nördlich der Donau siedelnden Stämme mit den Markomannen an der Spitze betroffen. Die härtesten Kämpfe der Markomannenkriege fanden gleichwohl in Pannonien und Dakien statt. 170 überrannten Germanen und Jazygen Dakien und stießen anschließend bis nach Niedermösien vor. Fast gleichzeitig überschritten die sarmatischen Costoboci die untere Donau. Sie verheerten Niedermösien und Thrakien und kamen auf ihrem Raubzug bis nach Eleusis bei Athen. Der tiefe Einbruch der Barbaren veranlasste den Kaiser dazu, wieder Truppen in Makedonien und Griechenland zu stationieren, denn offensichtlich war die Hauptverteidigungslinie in Mösien nicht stark genug, die Balkanprovinzen zu sichern. Viminatium war im weiteren Verlauf der Markomannenkriege eine der Ausgangsbasen für die römischen Gegenschläge in der pannonischen Ebene. Im ersten Drittel des 3. Jahrhunderts erschienen die Goten als neue Kraft in der Region nördlich des Schwarzen Meeres. In Verbindung mit den Karpen überfielen sie 238 Histria in der Scythia Minor. Nach Plünderung der Stadt und der Erpressung von Jahrgeldern zogen sie wieder ab. Als zehn Jahre später Kaiser Philippus Arabs nach Siegen über die Karpen die Zahlung des jährlichen Tributs einstellte, fielen die Goten 250 mit mehreren Heeresgruppen nach Dakien, Thrakien, Mösien und Illyrien ein. Inzwischen hatten die Donaulegionen einen ihrer Kommandanten, Gaius Mesius Decius, zum Kaiser ausgerufen. Damit begann eine Epoche in der römischen Geschichte, in der die so genannten Illyriciani, aus den Balkanprovinzen stammende Militärführer, die meisten der Kaiser stellten. In dieser Zeit waren die in Südosteuropa stationierten Truppen der wichtigste Faktor im Kampf um die Herrschaft im Reich. Gleichzeitig waren Mösien und Pannonien häufig jene Gebiete, in denen die die militärischen Auseinandersetzungen um den Kaiserthron stattfanden. Decius, der erste der illyrischen Kaiser, erlitt mehrere Niederlagen gegen die Goten und fiel schließlich im Jahr 251 auf mösischem Boden in der Schlacht von Abrittus. Der nächste Kaiser Trebonianus Gallus gestand den Goten wieder Jahrgelder zu, wurde jedoch von Aemilianus gestürzt, der die Zahlung wiederum einstellte. Wieder griffen die Goten Thrakien und Mösien an, wurden diesmal jedoch geschlagen. Nach erneutem Kaiserwechsel drangen sie 254 bis Thessaloniki vor. Mittlerweile waren Mösien und weite Teile des Balkans dauernd Kriegsgebiet und viele Städte dort wurden stark befestigt; das flache Land aber konnte nicht mehr gegen Plünderung und Verwüstung geschützt werden. Die Goten gingen ab 255 dazu über auch von See her anzugreifen. Mit ihrer Flotte operierten sie zunächst im östlichen Teil des Schwarzen Meeres. 257 durchfuhren sie erstmals den Bosporus. 268 zog eine große gotisch-herulische Armada unterstützt von Landstreitkräften erneut gegen Byzanz, durchquerte dann den Hellespont und plünderte auf der Peloponnes. Von dort zogen die Goten nordwärts in Richtung Makedonien und Mösien. Kaiser Claudius II. besiegte die Angreifer in der Schlacht bei Naissus und nahm den Ehrentitel Gothicus an. Als sein Nachfolger Aurelian weitere Siege errungen hatte, stabilisierte sich die Lage an der Donaufront für einige Zeit. Freilich trug dazu auch bei, dass der Kaiser trotz seiner Erfolge die nördlich des Flusses gelegene Provinz Dakien aufgab und den Goten praktisch zur Ansiedlung überließ. Damit lag Obermösien wieder direkt an der Außengrenze des Reiches. Von Aurelian bis Valens Die fortwährenden Abwehrkämpfe, die auf mösischem Boden gegen verschiedene Barbarenvölker ausgetragen werden mussten, führten im 3. Jahrhundert zum Niedergang der ohnehin nicht so stark ausgeprägten städtischen Kultur. Die Bevölkerung der Städte ging zurück, die Siedlungsfläche wurde verkleinert und zum Schutz mit Befestigungen umgeben. Soldaten lebten nun mit ihren Familien in diesen Festungsstädten. Ihre Aufgabe war neben der Verteidigung des Ortes auch die Bestellung des Landes, so dass der zivile und der militärische Sektor immer enger miteinander verschmolzen. Seit dem Ende des 3. Jahrhunderts wurde größeren Gruppen barbarischer Völker gestattet, sich südlich der Donau auf Reichsboden anzusiedeln. Viele dieser Siedler waren Goten oder gehörten anderen germanischen Stämmen an. Bis zur Zeit Konstantins waren die Einwanderer zumeist im Krieg Unterworfene, denen die Römer die Bedingungen für die Ansiedlung diktieren konnten. Als sich in der zweiten Hälfte des 4. Jahrhunderts die militärische Lage für Rom verschlechterte, wurde auch unbesiegten Gruppen gestattet, sich innerhalb der Reichsgrenzen niederzulassen. Mit deren Führern schlossen die römischen Autoritäten Verträge (lateinisch foedus), die die Vergabe von Land an die Einwanderer sowie deren Rechte und Pflichten gegenüber dem Staat regelten. Viele der neu angesiedelten Germanen wurden als Milizionäre im Grenzschutz eingesetzt. Schon Kaiser Licinius hatte auf dem Balkan größere gotische Kontingente in sein Heer aufgenommen. Nachdem Dakien 274 von den Römern geräumt worden war, wurde die militärische und zivile Verwaltung Mösiens von Aurelian reformiert und an die neue Lage angepasst. Gleichzeitig musste die romanisierte Bevölkerung aus den aufgegebenen dakischen Provinzen in Mösien angesiedelt werden. Dadurch wurde in der Region zum letzten Mal das römische Element entscheidend verstärkt, während in den folgenden beiden Jahrhunderten der Zuzug fast ausschließlich aus fremden Einwanderern bestand. Mit den Siedlern aus Dakien kam auch die Legio V Macedonica wieder nach Mösien. Sie wurde in Oescus stationiert. Die Legio XIII Gemina wurde nach Ratiaria verlegt. Zur besseren Kontrolle der Donaugrenze ließen Aurelian und seine unmittelbaren Nachfolger anstelle der beiden alten fünf neue kleinere Provinzen bilden. Im obermösischen Bereich entstanden direkt an der Donau Mosia I (Hauptstadt Viminatium) und östlich davon Dacia Ripensis mit der Hauptstadt Ratiaria. Zu dieser neuen Provinz kam auch der Westen des vormaligen Niedermösien. Im obermösischen Binnenland wurde Dardania als eigene Provinz organisiert. Östlich des Flusses Angrus schloss sich nun Dacia Mediterranea (Hauptstadt Serdica) an. Dieser neuen Provinz wurden neben ober- und niedermösische Gebieten auch Teile Thrakiens zugeschlagen. Der größere östliche Teil Niedermösiens wurde als Moesia II neu organisiert. Unter Kaiser Diokletian wurde davon noch die Scythia Minor mit der Hauptstadt Tomis als eigenständige Provinz abgeteilt. Seit dieser Zeit waren die in Mösien gelegenen Provinzen auch auf zwei verschiedene Diözesen aufgeteilt: Moesia I, Dardanien, Dacia Ripensis und Dacia Mediterranea bildeten zusammen mit der an der Adria gelegenen Praevalitana die Diözese Dakien; Moesia II und Scythia Minor kamen zur Diözese Thrakien. Im Jahr 277 konnte Kaiser Probus die Goten an der unteren Donau schlagen. Aus Münzfunden ist bekannt, dass er den Ehrentitel Gothicus Maximus annahm. Den zusammen mit den Goten eingedrungenen Bastarnen gestattete der Kaiser die Ansiedlung in Thrakien. In den folgenden Jahrzehnten kam es nicht zu größeren Angriffen der Goten, stattdessen waren zu Zeiten des Kaiser Diokletian wieder die Sarmaten die größte Bedrohung für die mösischen Länder. Dort konnte Diokletian auch den Kampf um die Herrschaft im Reich für sich entscheiden, nachdem ihn seine Soldaten bei Nicomedia zum Kaiser ausgerufen hatten. Im Frühjahr 285 traf er in Obermösien auf die von Westen anrückende Armee des Kaisers Carinus. Zwar konnte Carinus mehrere Treffen für sich entscheiden und wurde auch zuletzt in einer Schlacht am Fluss Margus nicht geschlagen, danach aber – vermutlich auf Betreiben Diokletians – von seinen Soldaten ermordet. Im Herbst des gleichen Jahres erschien Diokletian wieder an der Donau, wo er Angriffe der Sarmaten auf Pannonien und Mösien abwehren musste. Er konnte nur Teilerfolge erzielen, so dass die von den Steppenvölkern ausgehende Gefahr für die Donaugrenze nicht gebannt war. Als Diokletian seinen Freund und Kampfgefährten Maximian zum gleichberechtigten Augustus für den Westteil des Reiches erhob, behielt er die mösischen Provinzen unter seiner eigenen Kontrolle, während sein Kollege zumindest zeitweise für das benachbarte Pannonien zuständig gewesen zu sein scheint. Im Jahr 289 kämpfte Diokletian erneut an der Donau und nahm den Siegertitel Sarmaticus Maximus an. Als er 293 das System der Tetrarchie installierte, ernannte er den aus Obermösien stammenden Galerius zu seinem Caesar für den Ostteil des Reiches. In diesem und auch im folgenden Jahr hielt sich Diokletian an der Donau auf und führte wieder Krieg gegen die Sarmaten, die er dieses Mal entscheidend schlagen konnte. 295/296 zog Diokletian gegen die Karpen; danach übertrug er die Führung des Heeres an der Donau seinem Caesar Galerius, der hier bis 302 weitere Siege erringen konnte. Zur dauerhaften Sicherung dieser Erfolge wurde die Grenze stärker befestigt. Dabei stützte sich die neue Ripa Sarmatica genannte Verteidigungslinie von Onagrinum nördlich von Singidunum bis Dierna am Eisernen Tor auf eine Reihe neuer Kastelle jenseits des Flusses. Flussabwärts wurden vorhandene Garnisonen, wie Bononia, Sexaginta Prista oder Dinogetia ausgebaut, Städte befestigt und neue Militärstraßen angelegt. Zur Überwachung der Grenze wurde so viele Truppenverbände wie nie zuvor in den mösischen Provinzen stationiert. Darunter waren etwa ein Dutzend der durch Diokletians Reformen freilich sehr verkleinerten Legionen, dazu berittene Kohorten und Einheiten der Flotte. Mit hohem personellen und finanziellen Aufwand konnte Diokletian so die Sicherheit an der unteren Donau wiederherstellen. Nach der Abdankung Diokletians blieb Galerius als Seniorkaiser bis 308 für die Provinzen an der unteren Donau zuständig. Er residierte meist in Thessaloniki oder Sirmium. Aber auch in seiner obermösischen Heimat aber ließ er sich einen ausgedehnten Palast errichten. Die Romuliana genannte Anlage bildete den wirtschaftlichen Mittelpunkt zur Verwaltung der ausgedehnten kaiserlichen Güter in der Region. Möglicherweise war sie ähnlich wie der Palast Diokletians auch als Altersruhesitz gedacht, wurde aber als solcher nie genutzt, bis Galerius 311 verstarb. Von den Christenverfolgungen unter Diokletian und Galerius war Mösien kaum betroffen, einfach weil an der Wende zum 4. Jahrhundert nur sehr wenige christliche Gemeinden in der Region existierten. Die neue Religion gewann hier erst während der Herrschaft Konstantins und seiner Nachfolger an Boden. 308 wurden die Donauländer Licinius unterstellt, der auf der Kaiserkonferenz von Carnuntum zum Augustus des Westens ernannt worden war. Im folgenden Jahr führte dieser einen siegreichen Feldzug gegen die Sarmaten. Nach dem Tod des Galerius teilte Licinius sich die östliche Reichshälfte mit Maximinus Daia. Dabei behielt er den Balkan und die Donauprovinzen als eigenen Herrschaftsbereich. Durch den Tod des Maximinus Alleinherrscher des Ostens geworden, geriet Licinius 314 in Streit mit Konstantin, der den Westen regierte. Die Kämpfe des folgenden Bürgerkriegs fanden in den Donauländern statt. Licinius wurde zuerst in Pannonien und im Oktober 314 in Thrakien geschlagen. Daraufhin kam ein Friedensvertrag zustande, in dem er die Diözese Dacia mit Obermösien und Dardanien sowie auch die Diözesen Pannonia und Macedonia an Konstantin abtreten musste. Auf dem Balkan blieben ihm nur Thrakien und Niedermösien. Konstantin kontrollierte damit auch den größten Teil der an der Donau stationierten Truppen, die in den innerrömischen Machtkämpfen der vergangenen Jahrzehnte fast immer die entscheidende Rolle gespielt hatten. Nachdem zwischen beiden Kaisern zehn Jahre Frieden geherrscht hatte, griff Konstantin seinen Kontrahenten im Jahr 324 erneut an. Er besiegte Licinius in der Schlacht von Adrianopel und war fortan Alleinherrscher des Reiches. Als Konstantin 330 seine neue Hauptstadt am Bosporus gegründet hatte, bildeten die mösischen Provinzen mit ihren Festungen und den dort stationierten Truppen, die erste Verteidigungslinie für das neue Zentrum des Reiches. Auf die Erfolge Diokletians bei der Grenzsicherung aufbauend, ging Kaiser Konstantin Anfang der 330er Jahre gegen die Goten und Sarmaten in die Offensive. Wie Trajan 200 Jahre zuvor ließ er eine Brücke über die untere Donau schlagen, dieses Mal bei Oescus in Niedermösien. Jenseits des Flusses besetzte er große Teile der heutigen Walachei. Ähnlich dem Sarmatischen Limes in Pannonien wurden dort vorgelagerte Verteidigungssysteme angelegt. 332 wurde ein Vertrag mit den nördlich der Donau ansässigen westgotischen Terwingen geschlossen, durch den sich diese auch zur Waffenhilfe für den Kaiser verpflichteten. Damit konnte der Frieden an den Grenzen Mösiens noch mehr als zwei Jahrzehnte erhalten werden. Nach dem Tod Konstantins des Großen teilten dessen Söhne Konstantin II., Constans und Constantius II. 337 oder 338 in Viminatium die Herrschaft über das Reich unter sich auf und nahmen den Augustustitel an. Die mösischen Länder unterstanden zuerst Constans († 340); nach dessen Tod teilten die verbliebenen Brüder den Balkan untereinander auf. Thrakien und Niedermösien kamen an Constantius II. († 361), den Herrscher des Ostens, der in Konstantinopel residierte. Angeführt von ihrem Missionsbischof Wulfila überquerte 348 eine Schar christlicher Goten auf der Flucht vor der Verfolgung durch ihre heidnischen Stammesgenossen die untere Donau. Die Römer gestatteten ihnen, sich bei Nicopolis in Niedermösien anzusiedeln. Dort wurden die gotischen Krieger auch bei der Verteidigung der Grenze eingesetzt. Diese Gruppe, die so genannten Gothi minores, blieb dauerhaft in Mösien wohnen und beteiligte sich nicht an den späteren Zügen der übrigen Goten auf dem Balkan und nach Westen. Im Jahr 350 musste Constantius die Usurpation des Magnentius im Westen hinnehmen, weil er zu diesem Zeitpunkt an der Ostgrenze gegen die Perser kämpfte. Mit Hilfe des Heermeisters Vetranio konnte er aber Pannonien und Obermösien, wo die kampferprobte Donauarmee stationiert war, unter seine Kontrolle bringen. In den folgenden Bürgerkriegen mit Magnentius (351) und Julian Apostata (361) wurden die Donautruppen arg dezimiert, was in Teilen die Entblößung der von den Barbaren bedrohten Nordgrenze zur Folge hatte. Der während seiner kurzen Alleinherrschaft mit einem Perserfeldzug beschäftigte Julian, tat nichts, um die Situation an der Donau wieder zu stabilisieren. Erst die Brüder Valentinian I. (364–375) und Valens bemühten sich wieder um den Ausbau des Donaulimes. Valens führte außerdem nördlich der Donau Krieg gegen die terwingischen Goten unter Athanarich, weil diese in eine Usurpation gegen ihn verwickelt gewesen waren. Sein Hauptquartier hatte er zu dieser Zeit in Marcianopolis, das damals Hauptstadt von Moesia II war. Im Frühjahr 367 drangen die Römer von Mösien aus nach Dakien vor. 369 bat Athanarich um Frieden, der ihm auch gewährt wurde. Der so erreichte status quo wurde wenige Jahre später in Frage gestellt, als die Hunnen 375 in Dakien einfielen und das Gotenreich zerstörten. Jene terwingischen Goten, die sich den Hunnen nicht unterwerfen wollten, zogen 376 unter Führung von Fritigern über die Donau nach Niedermösien und Thrakien. Noch ihrer formellen Unterwerfung sollten sie von Kaiser Valens Siedlungsgebiete zugewiesen bekommen. Versorgungsschwierigkeiten und Konflikte mit den Kommandanten der römischen Truppen in Niedermösien führten bald zum offenen Krieg. Die Terwingen hatten mittlerweile Zuzug von den Greutungen bekommen. Dieser gotische Teilstamm war aus der pontischen Steppe ebenfalls vor den Hunnen geflohen. Die gotischen Scharen plünderten in Niedermösien und insbesondere in der Gegend von Marcianopolis, ehe sie den Haemus überschritten und sich nach Thrakien wandten. Vor Adrianopel kam der gotische Vormarsch zunächst zum Stehen und sie zogen wieder nach Norden. 377 konnten die Römer die Goten bei Ad Salicas in Niedermösien zur Schlacht stellen. Bei den verlustreichen Kämpfen konnte keine Seite die Oberhand gewinnen. Da es den Römern an Truppen mangelte, konnten sich die Goten und die mit ihnen verbündeten Alanen in den folgenden Monaten unbehelligt in Niedermösien und Thrakien aufhalten. Im Sommer 378 eilte Valens aus dem Osten nach Thrakien und vor Adrianopel kam es am 9. August zur Schlacht, bei der Römer von den Goten geschlagen wurden und der Kaiser selbst getötet wurde. Es dauerte dann fast vier Jahre, ehe der neue Kaiser des Ostens Theodosius I. die Lage in den Griff bekam. 382 konnte er eine vertragliche Einigung mit den Goten erzielen. Sie wurden nun als Föderaten in Thrakien und Niedermösien angesiedelt. Abgesehen davon, dass dieser Vertrag aufgrund der ungewöhnlich günstigen Bedingungen für die Föderaten oft als Epocheneinschnitt für das ganze Römische Reich gesehen wird, ergaben sich daraus schwerwiegende Veränderungen für die mösischen Provinzen. Die Grenzverteidigung an der Donau musste mangels regulärer Truppen an vielen Stellen den gotischen Föderaten überlassen werden. Durch die Zerstörungen des Gotenkriegs war die Wirtschaft der Region schwer beeinträchtigt. Insbesondere die großen Güter der lokalen Oberschicht und die kaiserlichen Domänen, die bis dahin das Rückgrat der mösischen Wirtschaft gebildet hatten, erholten sich nicht mehr von diesem Schlag. Die Einwohnerzahl und die Siedlungsfläche der meisten Städte verringerte sich und es scheint, dass die romanisierte Bevölkerung zur Minderheit in der Region wurde. Dieser Trend setzte sich in den folgenden Jahrzehnten fort, da immer neue Gruppen barbarischer Einwanderer aus dem Norden über die Donau kamen. Die Ausbreitung des Christentums Erste schriftliche Nachrichten und ebenso archäologische Quellen über Christen in Mösien stammen vom Ende des 3. Jahrhunderts. Aus dieser Zeit sind in Singidunum und Viminatium Gräber mit christlichen Symbolen überliefert. In den römischen Märtyrerakten finden sich eine Reihe von Berichten über Christen, die während der Christenverfolgung Diocletians ums Leben kamen, so beispielsweise Nicander, Marcianus und Iulius in Durostorum, Dasius in Axiopolis, Hermylos und Stratonikos sowie Florus und Laurus in Ulpiana. Inwieweit zu dieser Zeit schon größere Gemeinden in der Region existierten, ist unbekannt. Die ersten Bischöfe in mösischen Städten sind erst für die Jahre nach dem Mailänder Toleranzedikt belegt. 325 werden in den Akten zum ersten Konzil von Nizäa Tomis, Markianopolis und Scupi als Bischofssitze erwähnt. Spätestens bis zur Mitte des 4. Jahrhunderts wurden in allen Städten der mösischen Länder christliche Gemeinden gegründet. 343 bei der Synode von Serdica bildeten die mösischen Bischöfe wegen der Nähe zum Tagungsort eine relativ große Gruppe. Die Reste frühchristlicher Kirchen aus der Zeit vor der Hunneninvasion in den 440er Jahren wurden in fast allen Städten an der unteren Donau und an der Schwarzmeerküste entdeckt, ebenso im Binnenland: In Ulpiana, Remesiana, Naissus, Serdica und Markianopolis. In den christologischen Auseinandersetzungen des 4. und 5. Jahrhunderts bekannten sich die meisten Bischöfe der Region zur arianischen Lehre, der auch die Goten unter ihrem Missionsbischof Wulfila anhingen. In dessen Nachfolge stand auch Auxentius von Dorostorum. 343 in Serdica gehörte Bischof Ursacius von Singidunum zu den Führern der arianischen Partei. Auch im 5. Jahrhundert hatte sich die katholische Richtung in Mösien noch nicht durchgesetzt. Dorotheus von Markianopolis war im Jahre 431 auf dem Konzil von Ephesos ein treuer Anhänger des Nestorius und der Antiochenischen Schule. Viele christliche Gemeinden Mösiens gingen durch die Angriffe der Hunnen nach 440 unter. Doch die Zerstörung war nicht allgemein und auch nicht langfristig. Trotz des Zusammenbruchs der Kirchenorganisation und der Flucht der Bischöfe erlosch das Kirchenleben nicht vollständig. In den Synodalakten und Bistumsverzeichnissen des 5. Jahrhunderts werden auch weiterhin nördlich des Haemus gelegene Orte genannt. Im Gefolge der byzantinischen Rückeroberungen setzte im 6. Jahrhundert unter Kaiser Justinian auch der Wiederaufbau kirchlicher Strukturen ein. Zum Zentrum der kirchlichen Verwaltung und Erzbischofssitz für die mösischen Länder bestimmte Justinian die von ihm neu gegründete Stadt Iustiniana Prima. Ende des 6. Jahrhunderts wurden die meisten mösischen Bistümer durch die Angriffe der Awaren und Slawen erneut vernichtet. Die Missionierung der Serben und Bulgaren seit dem 9. Jahrhundert konnte sich daher kaum auf die antike christliche Tradition der Region stützen. Von der Reichsteilung bis zum Ende der römischen Herrschaft Obwohl Theodosius die Goten unter Alarich, der die Truppen der Föderaten anführte, zu Verbündeten gemacht hatte, konnte der Kaiser die Sicherheit der Donauländer nicht wiederherstellen. Die Hunnen griffen 394 in Dakien an und trieben weitere Goten über die Grenze auf römisches Gebiet. Noch im selben Jahr überquerten sie selbst die Donau und plünderten in Mösien. Als Theodosius 395 starb, wurden seine beiden Söhne Kaiser: Honorius im Westen und Arcadius († 408) im Osten. Die Trennlinie zwischen den beiden Reichsteilen wurde dieses Mal so gezogen, dass alle mösischen Provinzen der Osthälfte zufielen. Der Gotenführer Alarich hatte gehofft, nach dem Regierungswechsel ein Kommando nicht nur über die Föderaten, sondern auch über Teile der kaiserlichen Legionen zu erhalten, also zum Heermeister aufzusteigen. Als diese Hoffnung enttäuscht wurde, nutzte Alarich die Unzufriedenheit seiner gotischen Untergebenen und ließ sich von ihnen zum König ausrufen. Von Niedermösien aus zogen die Westgoten dann mehrere Jahre lang plündernd über die gesamte Balkanhalbinsel und kamen bis zur Peloponnes. Nur mit Hilfe des erfahrenen weströmischen Generals Stilicho konnten die Westgoten zum Abzug aus Griechenland bewogen werden, freilich ohne dass ihr Heer entscheidend geschlagen war. Deshalb entschloss sich die oströmische Führung, ihnen Siedlungsland in Illyrien und Obermösien anzubieten und Alarich zum Magister militum per Illyricum zu machen. In den folgenden Jahren hielt sich der größte Teil der Westgoten in Obermösien auf, von wo aus er Kriegszüge nach Italien unternahm. Im Jahr 408 zogen Alarich und die meisten seiner Stammesgenossen endgültig nach Italien weiter. Daraufhin konnte der Prätorianerpräfekt Anthemius die Donaugrenzen östlich von Sirmium wieder unter römische Kontrolle bringen. Nachdem 409 eine hunnische Invasion abgewehrt worden war, legte Anthemius Wert auf die Verstärkung der Donauflotte. Diese hatte sich in den vorherigen Kriegen als das geeignetste Instrument im Kampf gegen die Barbaren erwiesen, deren sehr bewegliche Truppen am besten an militärisch gesicherten Flussläufen aufzuhalten waren. Um 430 stabilisierte sich das einige Jahrzehnte vorher entstandene Reich der Hunnen. Sein Machtzentrum wurde das von Westrom abgetretene Pannonien. Die Hunnen bedrohten nun ständig die oströmischen Grenzen auf dem Balkan. Kaiser Theodosius II. († 450) zahlte jährlich hohe Tribute an die Steppenkrieger, gleichwohl kam es um 434 zu einem kurzen Krieg mit König Ruas. Nach dessen Tod erneuerten seine Nachfolger Bleda und Attila den Vertrag mit dem Kaiser. Die oströmische Gesandtschaft traf auf einem Feld vor den Toren der obermösischen Stadt Margum mit den Gesandten der Hunnen zusammen und bekam von ihnen die Bedingungen diktiert: Herausgabe aller Gefangenen, Handelsfreiheit in den römischen Grenzprovinzen und einen jährlichen Tribut von 700 Pfund Gold. Trotzdem begannen die Hunnen 441 die Städte an der Donau anzugreifen. Sie legten Sirmium, Singidunum, Viminatium, Naissus und viele kleinere Orte in Schutt und Asche. Bei der zweiten Eroberung von Naissus 447 wurden von den Hunnen sogar Belagerungsmaschinen eingesetzt. Der Historiker Priskos, der als Gesandter des Kaisers zu Attila unterwegs war, berichtete, dass die wichtige Stadt nach diesem Angriff völlig verlassen worden war. Attila verlangte, dass die Römer das Gebiet südlich der Donau von Sirmium im Westen bis Novae im Osten auf einer Breite von fünf Tagesreisen räumten. Damit waren große Teile der mösischen Länder für das Reich verloren und Ostrom hatte für etwa ein Jahrhundert keine Kontrolle über die Donau, wenn auch der Anspruch auf diese Gebiete nicht aufgegeben wurde. Die von den Hunnen in den 440er Jahren angerichteten Verwüstungen markierten einen tiefen Einschnitt für die Region. Die städtische Kultur war weitgehend vernichtet, staatliche und kirchliche Verwaltung existierten nicht mehr und der größte Teil der alteingesessenen Bevölkerung war verschwunden – getötet oder vertrieben. Wenn auch die mösischen Länder im 6. Jahrhundert noch einmal unter römischer Herrschaft stehen sollten, so waren doch die alten wirtschaftlichen, politischen und siedlungsgeographischen Strukturen irreversibel verloren. Das hunnische Reich zerfiel kurz nach dem Tod Attilas († 453), die unterworfenen Völker machten sich selbstständig und manche von ihnen siedelten sich mit oder ohne Erlaubnis Ostroms in Mösien an. Dort dominierten zunächst die Ostgoten, neben denen aber auch Gepiden und Heruler ansässig wurden. Unter ihrem König Theoderich, der nominell als Heermeister des oströmischen Kaisers Zenon (474–491) operierte, verheerten die Ostgoten 474–488 den gesamten Balkan und wandten sich dann nach Italien. Das so entstandene Machtvakuum konnten die Gepiden nutzen, die nun Teile Pannoniens und Obermösiens unter ihre Kontrolle brachten. 504 entsandte Theoderich aus Italien Truppen, um Pannonien für die Ostgoten zurückzuerobern. Die Gepiden wurden im Jahr darauf besiegt und nach Dakien abgedrängt. Das Vordringen der Ostgoten wertete Kaiser Anastasius als feindlichen Akt und es kam zum offenen Konflikt. Am Fluss Margus in Obermösien wurden die oströmischen Truppen aber geschlagen. Im Jahre 510 wurde ein Friedensvertrag geschlossen, der festlegte, dass Obermösien und das pannonische Bassiana bei Ostrom blieben, während die pannonischen Länder und Sirmium ostgotisch wurden. 512 wurde einer Gruppe von Herulern gestattet, sich als Föderaten bei Singidunum anzusiedeln. Der mit dem Tod Theoderichs († 526) einsetzende Zerfall des Ostgotenreichs ermöglichte es den Gepiden, erneut ein Reich im pannonischen Raum aufzubauen, dass auch Sirmium und Teile Obermösiens umfasste. Unter der Herrschaft Kaiser Justinians konnten viele Positionen an der mösischen Donaugrenze wiedergewonnen werden. Eine dauerhafte Sicherung gelang allerdings nicht, weil das Gros der oströmischen Truppen an der persischen Grenze und in Italien beim Gotenkrieg (535–553) gebunden war. Ein weiterer Grund war, dass sich die Zusammensetzung der mösischen Bevölkerung in den reichlich 150 Jahren zuvor tiefgreifend verändert hatte. Romanen und Stadtbewohner, die sich dem Reich verbunden fühlten, waren zu einer Minderheit geworden. Das Land war geprägt von germanischen, vor allem gotischen Siedlern. Dazu kamen Gruppen verschiedener Steppenvölker, vor allem Reste der Hunnen. Vor diesem ethnischen Hintergrund erwies es sich als schwierig, die römische Verwaltung in Mösien neu zu begründen. Gleichwohl startete Justinian in den wiedergewonnenen Gebieten ein umfangreiches Bauprogramm. Der Historiker Prokop vermerkte den Wiederaufbau dutzender Städte und Kastelle nicht nur an der Donaugrenze, sondern auch an der Küste des Schwarzen Meeres oder in Dardanien. Einige Kastelle und Städte, darunter Iustiniana Prima waren Neuanlagen ohne Vorgänger. Justinians intensive Bautätigkeit in den mösischen Provinzen dürften weniger von nostalgischen Heimatgefühlen – er stammte selbst aus Obermösien – als von strategischen Überlegungen bestimmt worden sein. Dem Kaiser war zweifellos bewusst, dass die Renovatio imperii im Westen nur gelingen konnte, wenn die Donaugrenze stabilisiert würde. Dies aber gelang schon zu Lebzeiten Justinians nur in Ansätzen. Während Ostrom von der Schwäche der Gepiden, die seit 549 von den Langobarden und später auch von den Awaren bedrängt wurden, profitierte, drangen 548 und 550 zum ersten Mal slawische Stämme über Niedermösien ins Innere der Balkanhalbinsel vor. Erst vor den Toren Konstantinopels konnte 559 Justinians Feldherr Belisar einen Angriff der Awaren stoppen, die die nur schwach besetzte Donaugrenze allzu leicht überwunden hatten. 567 dagegen konnte Kaiser Justin II. nach dem Ende des Gepidenreiches Sirmium zurückgewinnen und am obermösischen Donauufer die Römerherrschaft vorläufig wiederherstellen. Unter ihrem Großkhan Baian gingen die Awaren und die von ihnen abhängigen Slawen um 580 in die Offensive gegen das Byzantinische Reich. 582 konnten sie nach einer langen Belagerung die wichtige Stadt Sirmium einnehmen. Dort richtete Baian seinen Herrschaftssitz ein. Nach diesem Einbruch in die Verteidigungslinie an der Donau sah sich Kaiser Tiberius II. gezwungen Tribut an die Awaren zu entrichten, konnte damit aber keinen dauerhaften Frieden erkaufen. 584 setzten die Awaren den Krieg fort und ihnen fiel das zäh verteidigte Singidunum in die Hände. In diesem bzw. im folgenden Jahr verloren die Römer auch Viminatium, Ratiaria, Bononia und Augustae. Das bedeutete die völlige Auflösung des militärischen Systems in Moesia I und Dacia Ripensis. Auch die kirchliche Organisation dieser Provinzen wurde weitgehend zerstört. Da die Awaren aber keine Besatzungstruppen zurückließen, sondern mit ihrer Heeresmacht ins Innere Thrakiens vorstießen, konnte die römische Bevölkerung am obermösischen Donauufer weiter in ihren Städten leben und deren Verteidigungsanlagen wieder instand setzen. 585 überschritt ein weiteres awarisches Heer bei Durostorum die Donau und stieß durch Niedermösien nach Thrakien vor. Diesem Angriff fiel auch Marcianopolis zum Opfer, das völlig zerstört und danach wohl auch von der Bevölkerung verlassen wurde. Da der 583 auf den Thron gekommene Kaiser Maurikios im Osten durch den Krieg mit den Persern gebunden war, mussten seine Heerführer Komentiolos und Priskos die Balkanprovinzen in seinem Auftrag verteidigen, wofür ihnen aber nur wenige Truppen zur Verfügung standen. Beide erlitten Ende der 580er Niederlagen gegen die Awaren und Slawen. Es gelang ihnen nur einige feste Plätze an der Donau und im Landesinneren zu behaupten. Für die Versorgung der isolierten mösischen Städte und das Heranführen von Verstärkungen war die noch intakte Donauflotte von entscheidender Bedeutung. In Singidunum und anderen Orten wurden deshalb zu dieser Zeit neue befestigte Schiffsländen gebaut. Nachdem Kaiser Maurikios 591 Frieden mit den Persern geschlossen hatte, konnte er seine Militärmacht auf dem Balkan konzentrieren. Er beabsichtigte die Zerschlagung des Awarenreiches und die Rückgewinnung der Donauprovinzen. 592 eroberten seine Truppen das offensichtlich zwischenzeitlich erneut von Awaren besetzte Singidunum zurück. Gleichzeitig verfolgten kleinere Einheiten slawische Plünderer in Mösien und stellten die Hauptverbindungsstraßen zwischen den römischen Städten südlich der Donau wieder her und sicherten sie. Priskos besiegte die Slawen und Awaren 593 mehrfach, bevor er ihnen über die Donau in die heutige Walachei nachsetzte und ihnen dort weitere Niederlagen zufügen konnte. Weil er sich gegen den Befehl des Kaisers nach Odessos ins Winterquartier zurückzog, konnten die Slawen um die Jahreswende 593/594 erneut die Donau überschreiten. Bei ihren Plünderungszügen kamen sie bis ins weit südlich gelegene Scupi. Priskos wurde daraufhin als Oberbefehlshaber von Petros, einem Bruder des Kaisers abgelöst. Gleichwohl waren sowohl Priskos als auch Komentiolos weiterhin als Kommandanten eigener Verbände auf dem Balkan aktiv. Petros konnte 594 durch einen Sieg bei Marcianopolis die Slawen zurückschlagen und sie über die Donau hinaus nach Norden verfolgen. Im Winter 597/598 belagerten die Awaren Tomis, das von Priskos aber gehalten wurde und im Frühjahr schlugen sie Komentiolos beim Kastell Iatrus an der Donau. Im folgenden Jahr wendete sich das Blatt zugunsten der Römer, die unter der Führung des Priskos nach Pannonien vordrangen und den Awaren in deren Kernland eine Niederlage beibrachten. 601 stieß auch Petros nach Pannonien vor und siegte in mehreren Schlachten. Als 602 sein Bruder den Soldaten erneut das Überwintern nördlich der Donau befahl, machte Petros, anders als Priskos neun Jahre vorher, keinerlei Anstalten, diesen Befehl zu missachten. Die Folge war eine Meuterei, die trotz der Beschwichtigungsversuche des Petros in eine Revolte ausartete, die zum Sturz des Maurikios führte. Weil der neue Kaiser Phokas zunächst mit der Sicherung seiner Herrschaft in Konstantinopel befasst war, gingen die mühsam errungenen Erfolge auf dem Balkan bald wieder verloren. Unter Kaiser Heraklios (610–614) wurde Südosteuropa fast ganz von Truppen entblößt, weil diese an der persischen Front benötigt wurden. Das ermunterte Slawen und Awaren ab 612 zu neuerlichen Einfällen. Innerhalb weniger Jahre wurde nun die oströmische Herrschaft in weiten Teilen des Balkans beseitigt. 613 erfolgte die Zerstörung Novaes, 615 wurden Naissus und Serdika erobert und Justiniana Prima abgebrannt. Wenn sich auch einige Städte dank ihrer See- und Flussverbindungen mit Konstantinopel noch lange gegen die Awaren- und Slawenstürme behaupten konnten, so bedeutete doch der Einbruch im zweiten Jahrzehnt des 7. Jahrhunderts das endgültige Ende der römischen Provinzen in den mösischen Ländern. Sie hatten wohl schon seit Mitte des 6. Jahrhunderts nur mehr auf dem Papier und in der Ämterhierarchie des Hofes existiert, als dass sie funktionierende Verwaltungseinheiten waren. Nach 620 begann nun auch die dauerhafte Ansiedlung der Slawen auf dem Balkan. Dennoch bewahrten einige Städte entlang der Donau und ihrer Nebenflüsse in Mösien ihren römischen Charakter teilweise noch bis zum Einfall der Protobulgaren im Jahr 679 und standen bis zu diesem Zeitpunkt noch unter byzantinischer Herrschaft. Siehe auch Liste der Statthalter von Niedermösien Liste der Kastelle am moesischen Limes Literatur Jan Benes: Auxilia Romana in Moesia atque in Dacia. 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Q199499
86.121813
15087
https://de.wikipedia.org/wiki/Sydney
Sydney
Sydney [] ist die Hauptstadt des australischen Bundesstaates New South Wales und mit rund 4,7 Millionen Einwohnern (Stand 2021) die größte Stadt in Australien (Stand 2021). Sydney wurde am 26. Januar 1788 gegründet und ist heute das Industrie-, Handels- und Finanzzentrum Australiens und ein wichtiger Tourismusort. Auch zahlreiche Universitäten, Museen und Galerien befinden sich in der Metropole. Sydney ist Sitz des römisch-katholischen Erzbistums Sydney und der Diözese Sydney der Anglican Church of Australia. Die Stadt gilt als eine der Städte mit der größten Lebensqualität weltweit. In der Städteplatzierung des Beratungsunternehmens Mercer belegte sie im Jahr 2018 unter 231 Großstädten weltweit den elften Platz in dieser Rubrik. Geographie Geographische Lage Die Stadt liegt an der Ostküste Australiens am Pazifischen Ozean durchschnittlich drei Meter über dem Meeresspiegel. Das Stadtgebiet (Urbanized Area) hat eine Fläche von 1664 Quadratkilometern. Der Port Jackson bildet mit einer Fläche von 50 Quadratkilometern und 19 Kilometern Länge den Hauptarm und zugleich den natürlichen Hafen Sydneys. Von ihm zweigen weitere Meeresarme wie der Middle Harbour ab. Die Metropolregion (Sydney Metropolitan Area) umfasst eine Fläche von 12.138 Quadratkilometern. Sie reicht vom Hawkesbury River im Norden bis jenseits der Botany Bay im Süden und von den Blue Mountains im Westen bis zum Pazifischen Ozean im Osten. Sydney erstreckt sich über zwei geographische Regionen. Südlich und westlich des Hafens liegt der flache bis leicht hügelige Cumberland Plain. Nördlich des Hafens befindet sich das Hornsby Plateau, ein bis zu 200 Meter hohes Hügelland, das von bewaldeten Tälern durchzogen ist. Auf dem Stadtgebiet befinden sich verschiedene Nationalparks und über 70 verschiedene Strände, darunter die weltbekannten und besonders bei Surfern beliebten Strände Bondi Beach und Manly Beach. Stadtgliederung Die Metropolregion Sydney gliedert sich in 40 Local Government Areas (LGAs): Ashfield Auburn Bankstown Blacktown Botany Bay Burwood Camden Campbelltown Canada Bay Canterbury Fairfield Hawkesbury Holroyd Hornsby Hunter’s Hill Hurstville Kogarah Ku-ring-gai Lane Cove Leichhardt Liverpool Manly Marrickville Mosman North Sydney Parramatta Penrith Pittwater Randwick Rockdale Ryde Strathfield Sutherland Sydney The Hills Warringah Waverley Willoughby Wollongong Woollahra Das Australian Bureau of Statistics rechnet zur Metropolregion Sydney (Sydney Statistical Division) auch Gebiete der Central Coast und Blue Mountains. Dazu gehören die Local Government Areas Blue Mountains, Gosford, Hawkesbury, Wollondilly und Wyong. Die Einteilung in 44 LGAs dient nur statistischen Zwecken. Das verstädterte Gebiet von Sydney ist flächenmäßig beinahe zweimal so groß wie Berlin. Es besteht aus ungefähr 650 Stadtteilen, die von über 40 lokalen Regierungseinheiten (Local Government Area) verwaltet werden. Im Zentrum der Weltmetropole liegt die LGA City of Sydney, der 32 Stadtteile zugeteilt sind. Zu diesen gehören unter anderem das Central Business District, Darling Harbour, Darlinghurst, Dawes Point, Glebe, Haymarket, Kings Cross, Newton, Paddington und The Rocks. Die City of Sydney umfasst eine Fläche von 25 km² mit knapp 170.000 Einwohnern. In ihr sind die weltweit bekannten Sehenswürdigkeiten Sydney Opera House und Sydney Harbour Bridge sowie historische Bauten, Einkaufszentren, Chinatown, der Paddy’s Market, Gastronomie-, Unterhaltungs- und Kultureinrichtungen zu finden. Der Central Business District, der mit den Buchstaben CBD abgekürzt wird, dehnt sich 1500 m in Ost-West-Richtung und 2500 m in Nord-Süd-Richtung aus. Abgegrenzt wird er im Norden durch den Port Jackson, im Osten durch die Royal Botanic Gardens sowie den Hyde Park, im Süden durch die Goulburn Street und im Westen durch den Darling Harbour sowie die Cockle Bay. Das Gewerbezentrum erstreckt sich entlang der Pitt Street. Über die Harbour Bridge gelangt man vom Zentrum zur North Shore und zu den Northern Beaches. Hier zählen die zahlreichen Strände am Südpazifischen Ozean zwischen Manly und Palm Beach zu den Highlights. Im inneren Osten existieren mehrere Wohnviertel, der wegen seiner Rotlichtszene bekannte Stadtteil Kings Cross und die Oxford Street. Von Bondi Beach im äußeren Osten bis zum südlichen Vorort Cronulla erstrecken sich weitere Strände. Der Sydney Airport wurde im Südosten an der Botany Bay errichtet. Der innere Westen ist der Standort der University of Sydney und wird von einer multikulturellen Studentenszene geprägt. Klima Sydney liegt in der subtropischen Klimazone und hat ein Ostseitenklima, wobei das Klima aufgrund der Nähe zur Küste abgemildert wird. Die durchschnittliche Jahrestemperatur liegt bei 17,5 Grad Celsius. Die wärmsten Monate sind der Januar und Februar mit einer Durchschnittstemperatur von 22,5 und 22,3 Grad Celsius. Der kälteste Monat ist der Juli mit 10,9 Grad Celsius im Mittel. Im Winter fällt die Temperatur selten unter 5 Grad Celsius, die tiefste je gemessene Temperatur war 2,1 Grad Celsius. Die mittlere Jahresniederschlagsmenge beträgt 1.214,9 Millimeter. Der meiste Niederschlag fällt im März mit durchschnittlich 130,9 Millimeter, der wenigste dagegen im September mit nur 68,4 Millimeter im Mittel. Pro Monat gibt es neun bis zwölf Regentage. Schnee gibt es dort nur sehr selten. Der 1. Januar 2006 wurde in Sydney (und Australien) als der heißeste Jahresanfang seit Beginn der Aufzeichnungen im Jahr 1858 festgestellt. In Sydney selbst wurden an der offiziellen Station am Observatory Hill um 16:24 Uhr Höchsttemperaturen von 44,7 Grad Celsius gemessen. Der Januar-Temperaturrekord von 45,3 Grad vom 14. Januar 1939 blieb unangetastet. In den ersten zehn Monaten 2005 lagen die Werte um 1,03 Grad Celsius über dem 30-Jahres-Mittel. Seit 1988 ist ein deutlicher Trend zu höheren Durchschnittstemperaturen in der Region Sydney festzustellen. Die nachfolgende Tabelle zeigt die durchschnittlichen Klimawerte der Jahre 2001 bis 2017: Geschichte Vorgeschichte Aus Funden in den Blue Mountains schließen Archäologen, dass die Gegend des heutigen Stadtgebiets vor ungefähr 20.000 Jahren von Aborigines besiedelt wurde. Zu Beginn der Kolonisation lebten hier etwa 4.000 bis 8.000 Menschen, die vier verschiedenen Stämmen angehörten. Das waren die Eora, die Darug, die Dharawal und die Guringai. Obwohl ihre Siedlungen weitgehend verschwunden sind, sind an einigen Stellen Felszeichnungen wie die Sydney-Felsgravuren erhalten geblieben. 18. Jahrhundert 1770 hatte Captain James Cook südlich des heutigen Stadtzentrums die Botany Bay entdeckt und auch die Einfahrt zum Port Jackson auf seinen Karten verzeichnet. Am 18. Januar 1788 erreichte Captain Arthur Phillip mit der First Fleet die Botany Bay, die als Standort für eine Strafkolonie vorgesehen war. Während einer dreitägigen Erkundungsfahrt durch den Port Jackson (vom 21. bis 23. Januar 1788) entdeckte Phillip zunächst Manly Cove und einen Tag später auf der anderen Seite des Naturhafens eine weitere Bucht, die er nach dem damaligen britischen Innenminister Lord Sydney auf den Namen Sydney Cove taufte. Am 26. Januar 1788 erreichte eine französische Expedition unter Jean-François de La Pérouse ebenfalls die Botany Bay. Die Engländer beschlossen am selben Tag, die Kolonie an den Sydney Cove zu verlegen. Etwa 800 Sträflinge sowie rund 500 Seeleute und Soldaten verließen in der Nähe des heutigen Circular Quay die Schiffe. Der 26. Januar ist seither Australiens Nationalfeiertag. Kurz nach der Ankunft der weißen Siedler brach die Pockenepidemie in Australien 1789 aus, die große Teile der indigenen Bevölkerung auslöschte. Als Vermittler zwischen den Kulturen diente Bennelong, der von den Engländern gefangen genommen worden war und die englische Sprache erlernte. 19. Jahrhundert Während der Rum Rebellion im Jahr 1808 wurde Gouverneur William Bligh, der ehemalige Kapitän der Bounty, entmachtet. Erst Gouverneur Lachlan Macquarie schuf zwischen 1810 und 1821 die Voraussetzungen, dass sich aus der Strafkolonie eine bedeutende Stadt entwickeln konnte. Er ließ Straßen, Brücken, Hafenanlagen und öffentliche Gebäude errichten. Macquarie hat in besonderer Weise die Erkundung des australischen Kontinents vorangetrieben. Nach zahlreichen gescheiterten Versuchen in den ersten 25 Jahren der Kolonie gelang es den von ihm entsandten Entdeckern Gregory Blaxland, William Charles Wentworth und William Lawson im Jahre 1813, einen Weg durch die Blue Mountains zu finden (Blaxland-Expedition). Diese hatten als Teil der Great Dividing Range Sydney bis dahin von den Gebieten im Westen abgeschnitten. In der Folgezeit konnte das Landesinnere besiedelt werden. In den 1830er und 1840er Jahren entstanden die ersten Vororte, als immer mehr Einwanderer aus Großbritannien und Irland in Sydney ankamen. Nach dem ersten Goldrausch im Jahre 1851 wurde Sydney endgültig zum kulturellen, wirtschaftlichen und industriellen Mittelpunkt Australiens. Im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts begann sich die Besiedelung des Umlandes zu verstärken. 20. Jahrhundert Bereits Mitte der 1920er Jahre zählte die Stadt mehr als eine Million Einwohner. 1931 waren wegen der Weltwirtschaftskrise etwa ein Drittel der Erwerbstätigen arbeitslos. Aber schon ein Jahr später stiegen die Preise für Wolle wieder, und die Bauindustrie erlebte einen neuen Aufschwung. 1932 entstand die Sydney Harbour Bridge, zuvor war die Gegend nördlich des Port Jackson nur umständlich erreichbar und deshalb dünn besiedelt gewesen. Im Zweiten Weltkrieg erlitt die Stadt am 31. Mai 1942 nur geringe Schäden durch drei japanische Mini-U-Boote, von denen zwei im Hafen erbeutet wurden. Das dritte konnte entkommen, fand aber nicht zum Mutterschiff zurück. Es wurde im November 2006 17 Kilometer nordöstlich von Sydney am Long Reef Beach entdeckt. Nach Beendigung des Krieges kamen viele Migranten aus Europa nach Sydney; die Stadt wuchs weiter Richtung Wesongten. Ab Mitte des 20. Jahrhunderts begann die verstärkte Einwanderung aus asiatischen Ländern, was der Stadt ihr multikulturelles Flair verlieh. Im Vietnamkrieg war Sydney ein wichtiger Erholungsort für US-amerikanische Soldaten. In den 1970er und 1980er Jahren entstanden, ausgelöst durch den wirtschaftlichen Aufschwung, im Central Business District zwischen den alten viktorianischen Gebäuden zahlreiche Hochhäuser. Im Januar 1994 zerstörten große Buschfeuer 200 Häuser in den Vororten von Sydney. 2000 war Sydney Austragungsort der Olympischen Sommerspiele. 21. Jahrhundert Ab dem 26. Dezember 2001 vernichteten Buschfeuer innerhalb von 23 Tagen weite Gebiete des Royal-Nationalparks und in den Blue Mountains. Rund 170 Häuser und mehr als 650.000 Hektar Wald und Farmland wurden Opfer der Flammen. Etwa 10.000 Feuerwehrleute aus dem ganzen Land waren im Einsatz, doch gelöscht wurden die Feuer erst durch starke Regenfälle mit bis zu 40 Millimeter Niederschlag. Im Dezember 2005 kam es in Cronulla, einem Vorort von Sydney, zu rassistisch motivierten Krawallen zwischen weißen Australiern und libanesischstämmigen Australiern. Bei den Cronulla Riots wurden 30 Menschen verletzt, darunter sechs Polizisten und zwei Sanitäter. Vom 15. bis 20. Juli 2008 fand in Sydney der XXIII. Weltjugendtag statt. Am Abschlussgottesdienst mit Papst Benedikt XVI. nahmen 350.000 Pilger teil. Es war die größte Messe in der Geschichte Australiens. Ende September 2009 wurde Sydney vom stärksten Staubsturm der letzten 70 Jahre heimgesucht. Bevölkerung Herkunft Laut Volkszählung 2021 sind 45,8 % der Einwohner Sydneys außerhalb Australiens geboren. Mehrere Stadtteile und Vororte sind durch die zahlreichen Einwanderer multikulturell geprägt. So leben die italienischen Einwanderer und ihre Nachkommen in Leichhardt, Haberfield und Five Dock, die Griechen in Earlwood und Marrickville, die Libanesen in Lakemba und Bankstown, die Koreaner in Campsie und Strathfield, die Iren und Neuseeländer in Bondi, die Juden in Bondi, Waverley, St Ives und Rose Bay, die Inder in Westmead und Parramatta, die Chinesen in Hurstville, Chatswood und Haymarket (Sydneys Chinatown) und die Vietnamesen in Cabramatta. Die Einwohner Sydneys werden als „Sydneysider“ bezeichnet. Religionen 48,0 Prozent der Einwohner in der Metropolregion Sydney gaben bei der Volkszählung 2021 das Christentum als Glaubensrichtung an; die am häufigsten vertretenen Konfessionen waren die römisch-katholische (23,1 Prozent) und die anglikanische Kirche (8,3 Prozent). Weitere Religionen sind der Islam (6,9 Prozent), der Buddhismus (4,1 Prozent), der Hinduismus (5,3 Prozent) und das Judentum (0,8 Prozent). Keiner Religion gehören 29,4 Prozent der Bevölkerung an. 6,3 Prozent der Einwohner haben sich nicht festgelegt. Die römisch-katholische Kirche der Region ist im Erzbistum Sydney organisiert. Es wurde 1834 als Apostolisches Vikariat von New Holland und Van Diemen's Land begründet und am 22. April 1842 zum Erzbistum erhoben. Es ist einer der typischen Kardinalssitze der katholischen Kirche, dessen Erzbischof zur Erledigung seiner Hirtenpflichten zwei Weihbischöfe zur Verfügung stehen. Die Kirchenprovinz umfasst die Bistümer Armidale, Bathurst, Broken Bay, Lismore, Maitland-Newcastle, Parramatta, Wagga Wagga, Wilcannia-Forbes und Wollongong. Erzbischof von Sydney ist seit 2014 Anthony Fisher. Die Hauptkirche des Bistums ist die Saint Mary’s Cathedral (Sydney). Die Anglican Church of Australia ist ebenfalls mit einem Bischofssitz in Sydney vertreten, dem Sitz der Anglican Diocese of Sydney, deren Bischofskirche die St Andrew's Cathedral ist. In Ingleside bei Mona Vale, circa 28 km nördlich vom Central Business District Sydneys, befindet sich das einzige Haus der Andacht der Bahai Australiens, welches im September 1961 eingeweiht wurde. Mittlerweile leben in Australien circa 5.000 Mandäer. Die Mehrheit von ihnen wohnt in Sydney und besitzt dort auch ein eigenes Mandi (Gotteshaus). Die Hillsong Church der Pfingstbewegung ist die größte Kirche im Raum Sydney. Sie wurde im August 1983 in Hills District gegründet und erbaute im Oktober 2002, in den Baulkham Hills, das Hillsong Convention Centre. Dieses als Kirchengebäude benutzte Stadion fasst 3.500 Personen. Darin finden jeden Sonntag mehrere Gottesdienste statt. Seit dem August 2008 gibt es nahe der Innenstadt von Sydney, in Waterloo, einen zweiten Hillsong-Standort. Nach eigenen Angaben wird die Kirche wöchentlich von mehr als 20.000 Gläubigen besucht. Einwohnerentwicklung Die Stadt erlebte im 19. und 20. Jahrhundert ein rasantes Bevölkerungswachstum. Lebten im Jahr 1800 erst 2.540 Menschen in Sydney, so waren es 1871 schon 135.000. Bis 1933 stieg die Bevölkerung der Stadt auf 1,2 Millionen. Im Jahr 1954 hatte Sydney 1,86 Millionen Einwohner. Bis 2006 verdoppelte sich diese Zahl auf 3,64 Millionen. Die Bevölkerungsdichte im Stadtgebiet (Urban Centre) liegt damit bei 2.188 Einwohnern pro Quadratkilometer. In der gesamten Metropolregion (Greater Sydney) leben rund 5,2 Millionen Menschen (Stand 2021). Das sind etwa zwei Drittel der Bevölkerung von New South Wales. Die Bevölkerungsdichte der Region beträgt 423 Einwohner pro Quadratkilometer. In den ländlichen Regionen der Metropolregion leben etwa 530.000 Menschen. Dort liegt die Bevölkerungsdichte bei lediglich 52 Einwohnern pro Quadratkilometer. Die folgende Übersicht zeigt die Einwohnerzahlen der eigentlichen Stadt ohne Vorortgürtel (Urbanized Area). Bis 1871 handelt es sich um Schätzungen, von 1881 bis 2011 um Volkszählungsergebnisse. Politik Stadtregierung Die Metropolregion Sydneys besitzt keine zentrale Verwaltung. Von 1945 bis 1964 war das Gebiet dem Cumberland County unterstellt, dessen Zuständigkeit sich jedoch auf die Stadtplanung beschränkte. Heute besteht die Metropole aus der City of Sydney und 37 weiteren Local Government Areas (LGA, lokale Verwaltungsgebiete), wobei der Lord Mayor der City of Sydney inoffiziell als Repräsentant der gesamten Region gilt. Alle LGA besitzen gewählte Stadträte. Diese sind für eine Reihe von Aufgaben zuständig, die ihnen von der Regierung des Bundesstaates übertragen wurden. Viele Aufgaben werden jedoch durch den Bundesstaat selbst wahrgenommen. Darunter fallen öffentlicher Verkehr, Hauptstraßen, Verkehrsüberwachung, Polizei, Bildung ab der Grundschulstufe und die Planung großer Infrastrukturprojekte. Städtepartnerschaften Die City of Sydney unterhält mit folgenden Städten Partnerschaften (in Klammern das Jahr der Etablierung): , Vereinigte Staaten (1968) , Japan (1980) , Neuseeland (1982) , Vereinigtes Königreich (1984) , Volksrepublik China (1985) , Italien (1986) Als befreundete Städte nennt Sydney Paris, Frankreich (1998) Athen, Griechenland (2000) Berlin, Deutschland (2000) Dublin, Irland (2002) Wuhan, Volksrepublik China (2015) Kultur und Sehenswürdigkeiten Überblick Als Wahrzeichen Sydneys gelten das von Jørn Utzon erbaute muschel- oder segelförmige Opera House – nach Utzons eigener Saga dem Entfalten einer Orange nachempfunden – sowie die weltberühmte Harbour Bridge. Die Oper ist ein beliebter touristischer Anziehungspunkt und liegt neben den bekannten Royal Botanic Gardens. Sydneys Stadtzoo, der Taronga Zoo, liegt am Port Jackson und beherbergt einheimische Arten wie Dingos und Schnabeltiere ebenso wie Exoten, darunter Elefanten und Giraffen. Das Sea Life Sydney Aquarium, am Darling Harbour gelegen, ist eines der reichsten und schönsten seiner Kategorie. Sydneys Zentrum ist relativ begrenzt. Neben dem Opernhaus und der Hafenbrücke gilt vor allem die Altstadt „The Rocks“ mit den Lagerhäusern an der Bucht Sydney Cove als sehenswert. An den Circular Quay, die Zentralstation für Bus, Bahn und vor allem die Hafenfähren, grenzt der vergleichsweise große Botanische Garten, in dessen Umkreis sich mehrere Museen befinden. Das State Theatre im Stadtzentrum ist Veranstaltungsort des Sydney Film Festivals. Das Kommerzzentrum der Stadt (Central Business District) ist weitgehend modern und von Hochhäusern dominiert. Das höchste Gebäude Sydneys, der 305 Meter hohe Sydney Tower, hat eine Aussichtsplattform und bietet eine Rundumsicht, insbesondere auch über den Hafen. Unter den neueren Hochhäusern ist der Komplex „One Central Park“ in der Nähe der Central Station mit begrünten Fassaden bemerkenswert, erbaut 2014 von Architekten Jean Nouvel. Zentrum der Unterhaltung ist das Gebiet um Darling Harbour. Neben den kulinarischen Verpflegungsstätten direkt am Hafenbecken befinden sich dort ein Sega-World-Park, das LG IMAX Theatre, welches die größte flache Kinoleinwand der Welt besitzt (36 Meter breit, 25 Meter hoch, 900 Quadratmeter Fläche), Veranstaltungsplätze und -gebäude mit wechselnden Programmen, der Chinesische Garten, das Schifffahrtsmuseum sowie das Sea Life Sydney Aquarium. Daran schließt sich im Süden der City Chinatown, das chinesische Viertel, an. Es soll die Nähe der Stadt zum asiatischen Raum symbolisieren. Cabramatta, ein Außenbezirk circa 30 Kilometer westlich der City, ist eine vietnamesische Entsprechung. Im viktorianischen Stil ist der Stadtteil Paddington östlich der City gehalten, der Amüsierdistrikt Kings Cross grenzt an. Der Taronga Zoo, der Sydney Olympic Park und die vielen Strände der Stadt sind weitere Freizeiteinrichtungen. Surfer nutzen vor allem den Bondi Beach und Manly Beach. Theater Im Jahr 1959 begannen die Bauarbeiten am Sydney Opera House. Die Pläne stammen vom dänischen Architekten Jørn Utzon, der „seine“ Oper nie im fertigen Zustand gesehen hat. Nachdem die Geldmittel für die Oper gekürzt werden sollten, überwarf er sich mit den Bauherren. Er verließ Australien 1966 und betrat den Kontinent nie wieder. Die Oper wurde danach mit einer eigenen Lotterie finanziert. Insgesamt hatte der Bau des Sydney Opera House 102 Millionen Dollar gekostet, mehr als das Zehnfache der ursprünglich anvisierten Summe. Am 20. Oktober 1973 eröffnete Königin Elisabeth II. das Opernhaus offiziell. Das Gebäude umfasst eine Konzerthalle, einen Opern- und zwei Theatersäle sowie Restaurants, Bars und ein Kino. Im Rahmen des Sydney Festival finden manchmal kostenlose Konzerte und andere Veranstaltungen statt. 2007 wurde das Opernhaus von der UNESCO zum Weltkulturerbe erklärt. Im Rahmen des zweiten Sound and Light Festivals wurde es drei Wochen lang jeden Abend in anderen Farben angestrahlt. Die Idee hierzu kam vom Künstler Brian Eno. Austragungsort des Sydney Film Festivals, von Musicals und Popkonzerten ist das prunkvoll restaurierte State Theatre an der Market Street gegenüber dem Sydney Tower. Das Wharf Theatre an der Hickson Road ist ein moderner Schauspielkomplex und Heimat der Sydney Theatre Company. Ebenfalls an der Hickson Road steht das Bangarra Dance Theatre, das Zuhause der Aboriginal Dance Company. Musicals und Theateraufführungen gibt es im Capitol Theatre in der Campbell Street und im Theatre Royal in der King Street zu sehen. Das Belvoir St Theatre in der Belvoir Street und das Performance Theatre in der Cleveland Street bieten Avantgarde-Theater und Performances. Die alternative Theaterszene ist lebendig und vielfältig. Komödie und Kabarett erfreuen sich großer Beliebtheit; Veranstaltungsorte sind meist Pubs, Restaurants oder Nachtklubs. Museen In der Innenstadt Die Art Gallery of New South Wales, die staatliche Kunstgalerie, liegt am Westrand des Botanischen Gartens. In verschiedenen Flügeln hängen Kunstwerke von der Gotik bis zur Gegenwart. Dazu gehören unter anderem Sammlungen australischer Kunst aus dem 19. und 20. Jahrhundert sowie die 1994 eröffnete Ausstellung Yiribana. Dieses Wort aus der Sprache der Eora (Aborigines der Sydney-Region) bedeutet „in diese Richtung“. Yiribana wird als die größte permanente Ausstellung von Kunst der Aborigines und Torres-Strait-Insulaner in Australien bezeichnet. Das Australian Museum an der William Street ist Australiens größtes Naturkundemuseum. Es zeigt eine Ausstellung über die Kultur der Aborigines und die Bewohner der pazifischen Inseln. An der Ecke von Bridge Street und Philipp Street informieren Sammlungen und Multimediashows im 1995 eröffneten Museum of Sydney über die Frühgeschichte der Stadt und die Kolonie New South Wales. Am Nordende des gegenüberliegenden Hyde Park befindet sich am Eingang zur Macquarie Street die ehemalige Sträflingsunterkunft Hyde Park Barracks, jetzt ein sozialgeschichtliches Museum, und links die St. James Church – beide das Werk des Sträflingsarchitekten Francis Greenway (1777–1837), der fast alle Gebäude der damaligen Sträflingssiedlung entworfen hat. Die Dauerausstellung im Museum der Hyde Park Barracks mit dem Titel Convicts zeigt auf anschauliche Weise die Lebensumstände der Sträflinge in frühen Siedlungszeiten. Die dazugehörige Greenway Gallery beherbergt wechselnde Ausstellungen. Circular Quay und The Rocks Das renovierte Customs House in der Alfred Street verfügt über mehrere Ausstellungsflächen, unter anderem die Object Galleries. Der City Exhibition Space zeigt die Architektur Sydneys von der Gründung der Stadt bis in die Gegenwart. Die umfangreiche Aborigines Ausstellung in der Djamu Gallery beherbergt auch Objekte aus Ländern des Südpazifik. An der Westseite von Sydney Cove befindet sich in der George Street das Museum of Contemporary Art (MCA). Die Sammlung umfasst internationale Kunst des 20. Jahrhunderts wie auch etliche traditionelle Aborigines-Werke. Auf dem Hügel am Ende der Lower Street, dem Observatory Hill, stehen einige alte, von Sträflingen errichtete Sandsteingebäude. Das Observatory (Sternwarte) auf dem Hügel, 1858 in Betrieb genommen, beherbergt seit 1982 ein Astronomie-Museum. In dem ehemaligen Militärkrankenhaus weiter südlich hat sich ein Buchladen mit der Galerie des National Trust, der das historische Erbe verwaltet, etabliert. Dort erhalten Interessenten bekommt Informationen über historische Gebäude und Siedlungen in New South Wales. Darling Harbour und Darlinghurst An der Harris Street steht das Powerhouse Museum mit Ausstellungen zu verschiedenen Themen wie Technologie, Sozialgeschichte und Kunst. Die Exponate des National Maritime Museum an der Pyrmont Bridge zeigen die Geschichte und Gegenwart der Seefahrernation Australien. Das frühere Jewish War Memorial Maccabean Institute („The Macc“) an der Ecke Darlington Road und Burton Street, ein Treffpunkt jüdischer Veteranen aus dem Ersten Weltkrieg, beherbergt das Sydney Jewish Museum. Es dokumentiert die Geschichte der Juden in Australien und den Holocaust. Außerhalb Australiens ist wenig bekannt, dass Australien nach dem Zweiten Weltkrieg – gemessen an der eigenen Einwohnerzahl – eine der weltweit größten Zahlen an Überlebenden des Holocaust aufnahm. Bauwerke Sydney Harbour Bridge Am 19. März 1932 wurde die Sydney Harbour Bridge eingeweiht. Die wegen ihrer markanten Form mit dem Spitznamen „Kleiderbügel“ (Coat hanger) bedachte Brücke zählt mit einer Spannweite von 503 Metern und einer Höhe von rund 135 Metern zu den weltweit längsten Bogenbrücken. Der Stahlbogen der Brücke (BridgeClimb) und der dem Opera House nächstgelegene Pylon mit Museum und Aussichtsplattform können bestiegen werden. Sydney Tower Der Sydney Tower bietet einen Überblick über die ganze Stadt. Er besitzt eine Besucherplattform und zwei Drehrestaurants. Grundsätzlich ist der Ausblick nur durch Glas möglich. Der Aufstieg ist nur nach ausführlicher Sicherheitskontrolle möglich. Der Turm ist 305 Meter hoch und schwankt maximal einen Meter. Queen Victoria Building Das Queen Victoria Building oder QVB ist ein viktorianisches Gebäude im Zentrum von Sydney. Die kunstvolle Architektur bildet einen Kontrast zu den kühlen modernen Bauten der Umgebung. Das QVB füllt einen ganzen Block zwischen George Street, Market Street, York Street und Druitt Street aus und ist 190 Meter lang und 30 Meter breit. In dem Gebäude sind zahlreiche Geschäfte zu finden; der Modeschöpfer Pierre Cardin bezeichnet das QVB aufgrund seiner Architektur und seiner Funktion als „das schönste Einkaufszentrum der Welt“. Fort Denison Auf einer kleinen Insel in der Hafenbucht liegt Fort Denison. Zunächst diente die Insel der frühen Sträflingskolonie als Gefängnis für Wiederholungstäter. Als während des Krimkrieges (1853–1856) in Australien alte Ängste vor einer russischen Invasion wieder auflebten, wurde auf der Insel ein Fort errichtet, das als Teil ausgedehnter Befestigungsanlagen im Port Jackson unerwünschte Eindringlinge abwehren sollte. Cadman's Cottage Cadman's Cottage in der Georg Street gehört zu den ältesten Gebäuden in Australien. Das Gebäude aus Sandstein wurde 1816 direkt am Wasser erbaut. Im Haus befanden sich früher die Diensträume des Water Police Headquarters (1845–1864) und des Sydney Sailors' Home Trust (1865–1970). Es ist das älteste noch erhaltene Gebäude in Sydney und wurde nach John Cadman (1772–1848) benannt, der dort von 1826 bis 1845 als Hafenmeister lebte. Das Haus steht heute auf Grund von Landgewinnungsmaßnahmen deutlich vom Ufer entfernt und beherbergt den National Park and Wildlife Service. Kirribilli House Das Kirribilli House in Sydneys Stadtteil Kirribilli dient als Wohnhaus der Premierminister Australiens, sofern diese sich anlässlich offizieller Verpflichtungen in Sydney aufhalten. Es wurde im Jahre 1855 von Adolphus Frederic Feez im Stil der Neugotik erbaut. Es liegt direkt am Kirribilli Point, dem äußersten südöstlichen Punkt Kirribillis, direkt neben dem Admiralty House. Von dort sind die Hafenbrücke, das gegenüberliegende Opernhaus sowie das dahinterliegende Stadtzentrum Sydneys zu sehen. Gotteshäuser Die Hillsong Church ist die größte Kirche im Raum Sydney. Sie wurde im August 1983 in Hills District gegründet und erbaute im Oktober 2002, in den Baulkham Hills, das Hillsong Convention Centre. Dieses als Kirchengebäude benutzte Stadion fasst 3.500 Personen. Darin finden jeden Sonntag mehrere Gottesdienste statt. Seit dem August 2008 gibt es nahe der Innenstadt von Sydney, in Waterloo, einen zweiten Hillsong-Standort. Nach eigenen Angaben wird die Kirche wöchentlich von mehr als 20.000 Gläubigen besucht. Zur römisch-katholischen Kirche gehört die Saint Mary’s Cathedral, die deutschsprachige Gemeinde in Sydney ist seit 1972 in der 1885 erbauten St.-Christophorus-Kirche zuhause. Des Weiteren sind die oben genannten Anglikanischen Kirchen St. James Church und St. Andrews zu nennen. Darüber hinaus gibt es die Martin-Luther-Kirche in der Goulburne Street, die Große Synagoge von Sydney und zahlreiche weitere Kirchengebäude. Parks Der 1816 eröffnete Royal Botanic Gardens ist der größte von drei botanischen Gärten der Stadt. Er überblickt die Farm Cove und liegt direkt östlich vom Sydney Opera House und dem Circular Quay. Am Südende ist er durch den Cahill Expressway begrenzt. Seine Fläche beträgt über 30 Hektar. 1862 wurde der erste Zoo von Sydney mitten im botanischen Garten eröffnet. Seit 1959 trägt der Garten den Zusatz 'Royal'. Ab 1965 wurden viele Teile des Gartens neu gestaltet und erweitert, so beispielsweise das tropische Gewächshaus, der Rosengarten, der orientalische Garten, der Farngarten und viele mehr. Südlich von Paddington und Woollahra erstreckt sich das weitläufige Parkgelände von Moore Park und Centennial Park. Der zur 100-Jahr-Feier 1888 den Bürgern von Sydney übergebene Centennial Park ist wie ein englischer Landpark angelegt. Durch Parkanlagen mit Rasen, Rosengarten und Teichen führen Geh- und Radwege, Reit- und Joggingpfade. Entlang der Clovelly Road werden Fahrräder, Rollerblades und Familienkutschen verliehen. Im Sommer zeigt das Moonlight Cinema von November bis Februar Filme unter freiem Himmel. In der Millionenstadt Sydney und deren Umgebung befinden sich zahlreiche kleine und große Nationalparks, die einen Grüngürtel in circa 30 Kilometer Entfernung vom Stadtzentrum bilden. Der an der Hafeneinfahrt liegende Sydney-Harbour-Nationalpark erstreckt sich über beide Ufer und ist im Norden von Manly her und im Süden von Watsons Bay her zugänglich. Manly und Watsons Bay sind mit der Fähre vom Circular Quay erreichbar. Vom Südteil ist ein vor allem bei Sonnenuntergang eindrucksvoller Blick auf die Skyline der Stadt möglich. In ähnlicher Lage befindet sich der Botany-Bay-Nationalpark an der Einfahrt zur Botany Bay, an dessen Südende James Cook als erster Europäer australischen Boden betrat. Eine wilde Steilküste bietet sich hier dem Wanderer dar. Besonders erwähnenswert sind der zweitälteste Park der Welt, der Royal-Nationalpark im Süden und der Ku-ring-gai-Chase-Nationalpark im Norden sowie das Gebiet der Blue Mountains im Westen, die zahlreiche Tagesausflüge in oft unberührte Natur ermöglichen. Die Blue Mountains, circa 50 Kilometer westlich der City, sind mit Bus und Bahn leicht zu erreichen und am ehesten dazu angetan, dem Besucher einen Begriff von der Weite, Größe und oft noch vorhandenen Unberührtheit des australischen Kontinents zu vermitteln. Die Felsformation Three Sisters in Katoomba ist ein beliebter Ausgangspunkt für Ausflüge. Berühmt geworden ist die Wollemie (Wollemia nobilis), eine urtümliche Koniferenart, die nur hier vorkommt und deren Entdeckung im Jahr 1994 als einer der wichtigsten botanischen Funde des 20. Jahrhunderts gilt. Das Greater Blue Mountains Area umfasst sieben Nationalparks. Es wurde im Dezember 2000 von der UNESCO zum Weltnaturerbe erklärt. Sport und Freizeit Erholung Am Ostufer der Lavender Bay befindet sich der 1935 eröffnete Luna Park. Das Freizeitzentrum wird wegen Protesten der Anwohner über den Lärm der Achterbahn nur zu besonderen Anlässen und Festtagen am Wochenende geöffnet. Besonders bei Surfern und Touristen beliebt sind Sydneys zahlreiche Strände, allen voran Bondi Beach. Von dort führt der Bondi-Coogee Beachwalk abwechselnd über steile Klippen und mehrere Strände entlang nach Tamarama Beach, Bronte Beach, Clovelly Beach und schließlich Coogee Beach. Darüber hinaus verfügt Sydney noch über zahlreiche weitere Strände, welche mit Ausnahme von Manly Beach hauptsächlich von Einheimischen genutzt werden. Die Sicherheit wird oft von Rettungssportclubs übernommen, die darüber hinaus auch andere Strandsportaktivitäten wie Nippers und Surf Carnevals organisieren. Erwähnenswert ist die Freiluft-Skulpturenausstellung Sculpture by the Sea (Skulpturen am Meer) an den Stränden von Sydney, die seit 1997 von der Stadt veranstaltet wird. Künstler aus aller Welt zeigen ihre fantasiereichen Werke, von denen es rund 100 zu bestaunen gibt. In Homebush Bay, einem Vorort von Sydney, liegt der 640 Hektar große Sydney Olympic Park. Das Areal mit seinen Sportstätten bildete das geographische Zentrum der Olympischen Sommerspiele 2000 und der darauf folgenden Sommer-Paralympics 2000. Heute dient der Park als Naherholungsgebiet und Veranstaltungsort von größeren sportlichen und kulturellen Ereignissen. Daneben siedelten sich auch Unternehmen mit Bürogebäuden an. Sport Zu den beliebtesten Sportarten in Sydney zählen zwei Varianten des Rugby: Rugby League sowie Rugby Union. Sydney ist Sitz der Australian Rugby League und Heimat von 8 der 16 Mannschaften der National Rugby League (NRL): Sydney Roosters, South Sydney Rabbitohs, Parramatta Eels, Cronulla-Sutherland Sharks, Wests Tigers, Penrith Panthers, Canterbury-Bankstown Bulldogs und Manly-Warringah Sea Eagles. Daneben spielt Australian Football eine bedeutende Rolle. Erfolgreich sind außerdem die Mannschaften im Cricket und Netball, aber auch im Rad- und Schwimmsport werden herausragende Leistungen erbracht. In den letzten Jahren gewinnt auch der Fußball an Begeisterung. Der bekannteste und erfolgreichste Fußballverein der Stadt ist der Sydney FC. Er spielt in der höchsten australischen Fußball-Profiliga, der A-League Men. Im Jahr 2005 gewann die Mannschaft den OFC Champions Cup (vergleichbar mit der UEFA Champions League). 2006 errang dieses Team unter Leitung des Trainers Pierre Littbarski, dem Weltmeister von 1990, die Landesmeisterschaft. Heimspielstätte ist das 2022 eröffnete Allianz Stadium, der Neubau des vorherigen Heimstadions (1988–2018). Das Sydney Football Stadium ist auch Heimstadion der Sydney Roosters (National Rugby League) und der New South Wales Waratahs (Super Rugby, Rugby Union). Weitere bekannte Mannschaften aus der Stadt sind: Sydney Swans (Australian Football League, AFL), Sydney Kings und West Sydney Razorbacks (National Basketball League, NBL), Sydney Uni Flames (Women’s National Basketball League, WNBL), Sydney Blues (Australian Baseball League) und die Sydney Swifts in Australiens Netball Commonwealth Bank Trophy sowie die New South Wales Blues (First-class cricket). Im ANZ Stadium, einem 80.000 Zuschauer fassenden Mehrzweck-Stadion im Sydney Olympic Park, veranstaltet die National Rugby League ihr Finale. Daneben wird das Stadion von den Mannschaften Wests Tigers, Canterbury Bulldogs und South Sydney Rabbitohs als Austragungsort von Heimspielen genutzt. Auch die Spiele der Rugby League State of Origin zwischen den Staaten New South Wales und Queensland werden in diesem Stadion ausgetragen. Außerdem nutzt die Mannschaft Sydney Swans das Stadion als Austragungsort für einige ihrer Heimspiele in der Australian Football League. Der Sydney Motorsport Park ist eine 3,93 Kilometer lange Rennstrecke mit elf Kurven in Eastern Creek. Sie wird vom Australian Racing Drivers Club betrieben. Seit 2005 gastiert der A1 Grand Prix hier. Die Rennserie findet zwischen September und April statt. Sydney war unter anderem einer der Austragungsorte bei der Rugby-Union-Weltmeisterschaft 1987, dem Cricket World Cup 1992, der Rugby-Union-Weltmeisterschaft 2003, dem Cricket World Cup 2015 und dem T20 World Cup 2022. Regelmäßige Veranstaltungen Frühling Veranstaltungen im September sind das Festival of the Winds (Fest der Drachenflieger) in Bondi Beach und das Manly Arts Festival in der Manly Arts Gallery. Im Oktober findet in den Fox Studios der Sleaze Ball (Ball der Schwulen und Lesben) statt. Im November sind zeitgenössische Kunstinstallationen entlang der Küste von Bondi nach Tamarama und Modeschauen bei den Mercedes Australian Fashion Week Autumn/Winter in den Fox Studios zu sehen. Ebenso im November findet in Bondi seit 1996 die Ausstellung Sculpture by the Sea statt. Sie ist die weltgrößte Skulpturenausstellung, so zeigte sie im Jahr 2009 114 Werke internationaler Künstler. Sommer Jährlich am 26. Dezember wird die traditionelle Sydney-Hobart-Regatta ausgetragen. Die Segelregatta führt über 2000 Kilometer vom Hafen in Sydney bis nach Hobart, der Hauptstadt Tasmaniens. Die Silvesterfeier New Years Eve Party mit großem Feuerwerk wird am Hafen veranstaltet. Die Opera House Party, eine Silvesterparty mit Maskenball, Abendessen und Tanz, findet im Sydney Opera House statt. Veranstaltungen im Januar sind das Tanz- und Musikfest Field Day in The Domain, das Flickerfest, ein internationales Kurzfilmfest im Bondi Pavilion, das Sydney Festival mit Open-Air-Konzerten wie Symphony in the Domain, am 3. Samstag im Januar und Jazz in the Domain, am 2. Samstag im Januar und Freilufttheatern an verschiedenen Orten in der Stadt, sowie das Bacardi Latino Festival im Darling Harbour Aquashell. Ebenfalls im Januar findet die Ausstellung „Camille Pissarro“ in der Art Gallery New South Wales statt. Das Tennisturnier Sydney International Tennis Open (ATP Sydney) wird im NSW Tennis Centre ausgetragen. Eine Parade und Drachenbootrennen im Hafen gibt es beim Chinesischen Neujahrsfest zu sehen. Es findet am zweiten Neumond nach der Wintersonnenwende, also zwischen dem 21. Januar und 21. Februar statt. Jährlich am 26. Januar ist Australia Day. Die Feierlichkeiten an der Sydney Harbour Bridge finden anlässlich der Landung von Gouverneur Arthur Phillip (1738–1814) in Sydney Cove 1788 statt. Zu den zahlreichen Veranstaltungen gehören Paraden, Freiluftkonzerte, Oldtimershows, Modeschauen, Pferderennen und Rodeos. Außerdem gibt es eine Segelregatta im Hafen östlich von Clark Island und ein Jazz-Konzert auf dem Wasser in der Johnstons Bay sowie im Pyrmont Point Park. Die Feierlichkeiten enden mit einem großen Feuerwerk in Darling Harbour. Das Sydney Gay and Lesbian Mardi Gras im Februar und März gilt als eines der weltweit größten Feste der Schwulen- und Lesbenszene. Zu den Höhepunkten gehören die Kostümparade durch die Oxford Street und eine nächtliche Party in den Fox Studios im Moore Park. Die Parade findet immer am 1. Samstag im März statt. Jährlich im Februar finden auch das South American Festival im Bondi Pavilion und das Kurzfilmfestival Tropfest in The Domain in den Royal Botanic Gardens statt. Herbst Von Ende März bis Ende April findet am Darling Harbour das Griechische Festival statt. Die Royal Easter Show, eine Landwirtschaftsschau und Messe, findet im April im 'Sydney Showground and Exhibition Complex' im Sydney Olympic Park statt. Im Mai gibt es in den Fox Studios Modeschauen bei den Mercedes Australian Fashion Week Spring/Summer zu sehen. Weitere Veranstaltungen im Mai sind der Sydney Morning Herald Halbmarathon in der Innenstadt und das Sydney Writers Festival, ein Literaturfestival mit Lesungen und Diskussionen an verschiedenen Orten der Stadt. Anfang Juni wird A Taste of Manly, ein kulinarisches Weinfest, in Manly veranstaltet. Das Sydney Film Festival im State Theatre beginnt Anfang Juni und dauert zwei Wochen. Es ist als internationales Filmfestival ohne Wettbewerb beim Filmproduzentenverband FIAPF akkreditiert. Winter Das Australische Internationale Musikfest gibt es Ende Juni/Anfang Juli an verschiedenen Orten der Stadt. Die Internationale Bootsausstellung findet jährlich Ende Juli/Anfang August in Sydney's Darling Harbour and Convention and Exhibition Centre statt. Im August wird der City To Surf ausgetragen. Der 14-Kilometer-Volkslauf führt von der Ecke College Street und Park Street durch die Stadt bis nach Bondi Beach. Gastronomie Traditionell folgt die Küche Sydneys englischen Essgewohnheiten. Mit der zunehmenden Immigration nichtbritischer Bevölkerungsgruppen entwickelte sich aber eine der vielfältigsten Küchen der Welt. Vor allem Gerichte aus dem asiatischen Raum, aber auch der Griechen, Italiener und Libanesen beeinflussten die Bevölkerung. Meeresfrüchte stellen einen wichtigen Teil der Nahrung dar, bei Familienausflügen und -aktivitäten wird oft ein Barbecue veranstaltet. Der Einfluss der australischen Urbevölkerung, der Aborigines, auf die lokale Küche ist dagegen bis heute kaum vorhanden; erst in den letzten Jahren wurden die traditionell genutzten Ressourcen für die regionale Küche wiederentdeckt und fließen als Bush-Tucker in diese ein. Die Küche Sydneys bietet dem Gast eine Reihe an kulinarischen Spezialitäten. Besonders Fisch- und Meeresfrüchte wie Barramundi (Flussfisch), King Prawns (Riesenkrabben), Sydney Rock Oysters (Felsenaustern) und Yabbies (kleine Flusshummer) werden in zahlreichen Restaurants der Hafenstadt angeboten. Spezialitäten sind außerdem Macadamia-Nüsse und Rindfleisch-Gerichte. Ebenfalls auf den Speisekarten stehen Hühnchen, Schweinekoteletts und -rippchen sowie Ente und Wild. Das ganze Jahr über gibt es Obst, darunter Mangos, Papayas und Passionsfrüchte. Handel Die Haupteinkaufszone im Rechteck zwischen Elizabeth, King, George und Park Street umfasst die Fußgängerzone Pitt St Mall und restaurierte Gebäude wie das Kaufhaus Queen Victoria Building. Die ehemalige Markthalle wurde prunkvoll renoviert und 1986 als Einkaufszentrum mit vielen Mode- und Antiquitätengeschäften wiedereröffnet. Myers in der George Street ist ein Warenhaus aus Glas und Edelstahl mit angeschlossenem Einkaufszentrum in Sydneys Stadtmitte. Ebenfalls in der George Street steht die Einkaufspassage The Strand Arcade aus dem 19. Jahrhundert mit vielen Verzierungen und Glas. Das Einkaufszentrum Argyle Stores in der Argyle Street beherbergt zahlreiche kleine Boutiquen in einem Gebäude aus dem 19. Jahrhundert. David Jones in der Elizabeth Street sowie Market Street, Ecke Castlereagh Street, ist Sydneys Traditionswarenhaus. Es besitzt eine große Auswahl an Kleidung mit einem ganzen Stockwerk internationaler und australischer Designermode. Skygarden in der Castlereagh Street bietet auf sechs Stockwerken viele Modeläden. Neue angesagte australische Designer befinden sich im dritten Stock, weiter unten finden sich Cafés und Schmuck- sowie Opalgeschäfte. Ebenfalls in der Castlereagh Street steht das Mark Foy’s Department Store mit einem großen Angebot an Schuhen. Bei Paddy's Markets, in einem Gebäudekomplex in der Hay Street, Ecke Thomas Street, südlich von Chinatown in der Nähe des Entertainment Centre, werden frisches Obst und Gemüse, Pflanzen, Kleidung und Souvenirs verkauft. Über Paddy's Markets liegt Market City mit zahlreichen Souvenir- und Textilgeschäften, Essensständen und Restaurants. Der Sydney Fishmarket in der Bank Street grenzt an den Haymarket und Darling Harbour an. Die Markthalle versorgt Sydney täglich mit frischem Fisch und anderen Meeresfrüchten, die an mehreren Ständen zubereitet oder frisch angeboten werden. Von dort ist ein Ausblick auf die Fischerboote und die Anzac Bridge möglich. Auf dem Paddington Market in der Oxford Street bieten Kunsthandwerker, Hutmacher, junge Designer und Künstler ihre Produkte an. Wirtschaft und Infrastruktur Wirtschaft Sydney ist Industrie-, Handels-, Finanz- und Transportzentrum. Mehr als die Hälfte der größten Konzerne Australiens haben hier ihren Hauptsitz, wie zum Beispiel die News Corporation, die im Besitz des australischen Medienmagnaten Rupert Murdoch ist. Rund 500 Multinationale Unternehmen haben Geschäftsstellen in Sydney eröffnet. Die Metropolregion hat einen Anteil von etwa 25 Prozent am landesweiten Bruttoinlandsprodukt (BIP). Die Stadt ist Sitz der Reserve Bank of Australia, der Westpac Banking Corporation und von 90 weiteren Banken. Die Australian Securities Exchange in Sydney ist die größte Börse in Australien. Sie wurde 1987 durch Zusammenschluss von sechs Börsen gegründet. Die Sydney Futures Exchange ist eine der weltweit größten Börsen für den Handel mit Derivaten. Sie eröffnete 1962 als Wollterminbörse (Sydney Greasy Wool Futures Exchange) und erhielt 1972 ihren derzeitigen Namen. In einer Rangliste der wichtigsten Finanzzentren weltweit belegt Sydney den 9. Platz (Stand: 2018). In Fabriken des Districts werden unter anderem Autos, elektronische Geräte, Maschinen, Metallwaren, Nahrungsmittel, Erdölprodukte und Textilien hergestellt. Der Tourismus spielt eine wichtige Rolle in der Wirtschaft Sydneys. So besuchten die Stadt im Jahre 2007 7,506 Millionen inländische und 2,695 Millionen ausländische Gäste. 2016 stand Sydney mit 3,8 Millionen ausländischen Besuchern auf Platz 35 der meistbesuchten Städte weltweit. Touristen brachten im selben Jahr Einnahmen von 6,4 Milliarden US-Dollar. Die meisten ausländischen Besucher kamen aus den Asien und den USA. Der Hafen Sydneys besitzt moderne Anlagen für Containerschiffe. Der größte Teil des australischen Außenhandels wird über die Stadt abgewickelt. Fleisch, Weizen und Wolle sind die wichtigsten Exportprodukte. Die Wirtschaft wurde in den letzten Jahren zunehmend dereguliert und privatisiert. Nach einem schweren Wirtschaftseinbruch in den Jahren 1982 und 1983 erholte sich Sydneys Wirtschaft rasch und weist seit 1994 mit durchschnittlich mehr als fünf Prozent pro Jahr ein hohes Wirtschaftswachstum auf – das sind ein Prozent über dem australischen Durchschnitt. Die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen stieg, und die Arbeitslosigkeit ging in der Metropolregion von über 10,0 Prozent im Jahre 1983 auf 4,4 Prozent Ende 2007 zurück. Im Juni 2011 lag die Arbeitslosenquote bei 5,0 Prozent (Australien 4,9 Prozent, New South Wales 5,1 Prozent). Die regionale Verteilung war dabei sehr unterschiedlich. So hatte Central Northern Sydney mit 3,2 Prozent die niedrigste Quote, Canterbury-Bankstown mit 7,7 Prozent die höchste. In Inner City betrug die Quote 5,3 Prozent. Verkehr Fernverkehr Der Kingsford Smith International Airport ist der größte Flughafen Australiens und eine Drehscheibe für den internationalen Luftverkehr. Er liegt neun Kilometer südlich des Stadtzentrums. Zur Bewältigung des kontinuierlich steigenden Passagieraufkommens genehmigte die australische Regierung 1991 den Bau einer dritten Startbahn. Der zweite Flughafen Bankstown ist weitgehend dem regionalen und privaten Verkehr vorbehalten. Die heimische Fluggesellschaft Qantas sowie British Airways verbinden Sydney – mit einem Zwischenhalt – mit Europa. Der letzte Direktflug einer europäischen Festland-Fluggesellschaft, von Wien via Kuala Lumpur, wurde von Austrian Airlines im März 2007 aus Kostengründen eingestellt. Die Stadt ist auch im Straßen-, Schienen- und Schiffsverkehr ein überregional bedeutender Verkehrsknotenpunkt. Sydney hat über den Hume Highway Verbindung mit Melbourne und dem Monaro Highway mit den Snowy Mountains, dem höchsten Gebirge Australiens. Sydneys Hauptbahnhof Central Station ist der östliche Endpunkt der Transaustralischen Eisenbahn nach Perth. Verbindungen bestehen auch nach Adelaide (mit dem Indian-Pacific), nach Alice Springs (mit dem Ghan), nach Melbourne (mit dem Melbourne Express) und nach Canberra (CountryLink). In Richtung Newcastle/Brisbane/Gold Coast: von Sydney nach Murwillumbah mit dem Murwillumbah XPT, von Murwillumbah weiter mit Sunstate Charters nach Surfers Paradise/Brisbane oder direkt mit dem Brisbane XPT. Von Sydney gibt es internationale Schiffsverbindungen nach Europa, den USA und Hongkong. Passagierschiffe legen am Darling Harbour Passenger Terminal an, Kreuzfahrtschiffe am Sydney Overseas Passenger Terminal in der Sydney Cove beim Circular Quay. Nahverkehr Für den Regionalverkehr ist die Eisenbahngesellschaft Sydney Trains zuständig. Die Ursprünge von Sydney Trains reichen bis ins Jahr 1855 zurück, als zwischen Sydney und Parramatta die erste Eisenbahnlinie in New South Wales eröffnet wurde. Die Regionallinien führen zu Orten, die bis zu 160 Kilometer vom Stadtzentrum entfernt sind; das Netz reicht bis nach Newcastle im Norden, Lithgow im Westen, Goulburn im Südwesten sowie Wollongong, Kiama und Port Kembla im Süden. Sydney Trains betreibt auch die S-Bahn im Großraum Sydney; die Erschließung der Innenstadt erfolgt durch ein U-Bahn-ähnliches Tunnelsystem. Sämtliche Züge auf dem Vorortnetz von Sydney sind doppelstöckige Triebwagen. Seit 2019 verkehrt außerdem zur Entlastung der Vorortzüge von Sydney Trains eine eigenständige U-Bahn namens Sydney Metro, die den Nord-Westen mit der Innenstadt und Bankstown verbindet. Dabei wurden auch teilweise Vorortbahnstrecken umgerüstet. Diese U-Bahn stellt das erste vollwertige U-Bahn-Netz in Australien dar. Die älteste Straßenbahn Australiens nahm am 23. Dezember 1861 in Sydney ihren Betrieb auf, stellte diesen jedoch nach fast 100 Jahren am 25. Februar 1961 ein. Die Wiedereröffnung erfolgte am 11. August 1997. Die Metro Light Rail verbindet seitdem den Hauptbahnhof mit den inneren Vorstädten im Westen. Zusätzliche Streckenabschnitte wurden im August 2000 und im März 2014 eröffnet. Die gesamte Streckenlänge beträgt derzeit 12,8 km (Stand im Jahr 2010). Ein weiterer Ausbau in Richtung der Eastern Suburbs ist in Planung. Sydney Buses besitzt das Monopol auf Buslinien im Stadtzentrum, während in den äußeren Vororten auch private Busgesellschaften zugelassen sind. Seit 1989 verkehren im Großraum Sydney Nachtbusse. Die im Auftrag von CityRail von privaten Anbietern betriebenen NightRide-Busse verkehren zwischen Mitternacht und fünf Uhr morgens im Stundentakt (an Wochenenden auf einigen Routen sogar halbstündlich). Trolleybusse fuhren zwischen 23. Januar 1934 und 31. August 1959 in der Stadt. Radwege sind nur wenige vorhanden. Fähren sind die schnellste Verbindung zwischen Circular Quay und dem Nordufer. Die wichtigsten Strecken führen von Circular Bay mit der JetCat nach Neutral Bay und North Sydney (High Street in Kirribilli, Kurraba Road und Hayes Street), nach Balmain (Darling Street Jetty) und Darling Harbour; zum Kasino, nach Cremorne und Mosman, zum Taronga Zoo, nach Manly sowie mit der RiverCat den Paramatta River hinauf nach Paramatta im Westen sowie Watson Bay via Double Bay und Rose Bay. 1988 wurde mit der Sydney Monorail eine Einschienenbahn in Betrieb genommen, die sich jedoch nicht bewährte und 2013 eingestellt wurde. Medien Sydneys Medien sind stark monopolisiert. Rupert Murdoch (News Corporation) und James Packer (PBL) teilen sich den Fernsehmarkt, Murdoch und die Fairfax Group die Printmedien (also beides Duopole). Sydney Morning Herald, Daily Telegraph, Sun-Herald und Sunday Telegraph sind die wichtigsten Zeitungen in der Stadt. Der Sydney Morning Herald gilt als eine der Qualitätszeitungen des Landes. Ursprünglich konservativ in seiner Ausrichtung, wandelte er sich besonders in Konkurrenz zum konservativen The Australian der News Corporation von Rupert Murdoch zum links-liberalen Blatt. Die erste Ausgabe erschien am 18. April 1831 in Sydney als Wochenzeitung. Der Herald ist damit die älteste noch existierende Zeitung Australiens. Ihren Hauptsitz in Sydney haben die Australian Consolidate Press (größter Zeitschriftenverlag des Landes), der Australian Press Council (zuständig für die Pressefreiheit) und die beiden nationalen Rundfunkanstalten Australian Broadcasting Corporation (ABC) und der Special Broadcasting Service (SBS). ABC und SBS bieten neben mehreren Radioprogrammen jeweils ein landesweit zu empfangendes Fernsehprogramm. Zusätzlich sind zahlreiche kommerzielle Fernsehsender zu empfangen, davon drei auf nationaler Ebene, Seven Network, Nine Network und Network Ten. Weitere wichtige lokale Stationen sind Channel NSW, Australian Christian Channel, MacquarieBank TV und SportsTAB. Der größte Anbieter von Pay-TV ist Foxtel, ein Joint Venture zwischen Telstra, News Corporation and Consolidated Media Holdings. In der Stadt senden zahlreiche staatliche, private und lokale Radiostationen. Die wichtigsten sind 702 ABC Sydney (früher 2BL), die Talkradios 2GB, 2UE und Vega sowie mehrere Musiksender. Triple M, 2Day FM und Nova 96.9 strahlen überwiegend Popmusik aus, Triple J, 2SER, FM 103.2 und FBi Radio dagegen meist Musik von unabhängigen, lokalen und alternativen Künstlern. Bildung In Sydney wurde 1850 die erste Universität Australiens gegründet: die University of Sydney. Zwischenzeitlich sind in Sydney auch die University of New South Wales, Macquarie University, University of Technology, Sydney, University of Western Sydney und die Australian Catholic University (zwei von fünf Standorten sind in Sydney) eröffnet worden. Die University of Notre Dame Australia und die University of Wollongong haben Zweigstellen in Sydney. Die Universität Sydney gehört, wie auch die University of New South Wales, zur Group of Eight, den acht Universitäten mit dem besten Ruf in Australien. Der Hauptcampus befindet sich in Camperdown, einem Vorort von Sydney. Die Sandsteingebäude im gotischen Stil wurden von Edmund Blacket entworfen und 1862 erstellt. Die schnelle Entwicklung seit Mitte des 20. Jahrhunderts resultierte im Erwerb weiterer Campi und der Übernahme von vorher unabhängigen Schulen. An den staatlichen Universitäten werden die meisten Studienplätze für Inlandsstudenten von der Regierung gefördert. Der Zugang zu diesen Plätzen hängt hauptsächlich von der Qualifikation der Studenten ab. Diese zahlen ihre Studiengebühren nicht im Voraus, über ein staatliches Programm (HECS-HELP) werden Kredite gewährt. Ein Studium an privaten Universitäten ist nur mit Zahlung von Studiengebühren möglich. Auslandsstudenten können das „overseas student program (OSP)“ wahrnehmen, jedoch besteht für Auslandsstudenten („Not Australian citizens or Australian permanent residents“) generell die Verpflichtung zur Zahlung von Studiengebühren. Von staatlicher Seite wurden in Australien im tertiären Bildungsbereich die TAFE (Technical and Further Education)-Institute eingerichtet. Davon sind in Sydney ansässig: Sydney Institute of Technology, North Sydney Institute of TAFE, Western Sydney Institute of TAFE und South Western Sydney Institute of TAFE. In Sydney selbst gibt es über 900 staatliche und private Schulen und Vorschulen. Wichtige Bibliotheken sind die State Library of New South Wales und die Bibliothek der Universität Sydney. Letztere ist mit einer Sammlung von mehr als 5,1 Millionen Bänden die größte Bibliothek der südlichen Hemisphäre. Sie besteht aus 20 Einzelbibliotheken, die auf neun verschiedene Teile des Campus verteilt sind. Das Hauptgebäude, die Fisher Library, ist nach Thomas Fisher, einem früheren Unterstützer, benannt. Söhne und Töchter der Stadt Sydney ist Geburtsort zahlreicher berühmter Persönlichkeiten. Siehe Liste von Söhnen und Töchtern der Stadt Sydney Literatur Architektur & Wohnen Special, Nr. 7, Sydney. Jahreszeitenverlag, Hamburg 1999, ISBN 3-7742-4320-4 John Birmingham: Leviathan: The Unauthorised Biography of Sydney. Random House, New York City 1999, ISBN 0-09-184203-4 Tim Flannery: The Birth of Sydney. Avalon Travel Publishing, Emeryville 2000, ISBN 0-8021-3699-0. Robert Freestone (Hrsg.), Bill Randolph (Hrsg.), Caroline Butler-Bowden (Hrsg.): Talking about Sydney: Population, Community and Culture in Contemporary Sydney. University of New South Wales Press, Sydney 2006, ISBN 0-86840-938-3 Francoise Fromonot, Christopher Thompson: Sydney: The History of a Landscape. Vilo International, Paris 2000, ISBN 2-84576-004-3 Francesca Morrison, Keith Collie: Sydney. Ein Führer zeitgenössischer Architektur. Könemann, Köln 1999, ISBN 3-89508-633-9 Charles Bernard Nordhoff, James Norman Hall, Lina Fankhauser, Alfred Fankhauser: Kolonie Sydney. Scheffler, Frankfurt am Main 1951. Charles Bernard Nordhoff, James Norman Hall, Lina Fankhauser, Alfred Fankhauser: Strafkolonie Sydney. Büchergilde Gutenberg, Frankfurt am Main 1953 Peter Spearritt: Sydney's Century: A History. University of New South Wales Press, Sydney 2000, ISBN 0-86840-513-2 Henrike von Speßhardt: 111 Orte in Sydney, die man gesehen haben muss. Emons Verlag, Köln 2022, ISBN 978-3-7408-1355-0. Peter Turbet: Aborigines of the Sydney District Before 1788. Kangaroo Press, Kenthurst 1990, ISBN 0-86417-222-2 Weblinks Offizielle Website der Stadt Sydney (englisch) Deutsches Generalkonsulat Sydney Goethe-Institut Australien in Melbourne und Sydney Interaktive Panoramen aus Sydney Einzelnachweise Ort in New South Wales Stadtteil von Sydney Hochschul- oder Universitätsstadt in Australien Millionenstadt Ort mit Seehafen Gemeindegründung 1788 Hauptort einer Verwaltungseinheit
Q3130
1,180.317039
4218035
https://de.wikipedia.org/wiki/Tschetschenien
Tschetschenien
Tschetschenien (, Noxçiyn Respublika, kurz: Нохчийчоь/Noxçiyçö, /Tschetschenskaja Respublika, kurz: Чечня/Tschetschnja) ist eine im Nordkaukasus gelegene autonome Republik der Russischen Föderation. Die Region hat etwa 1,5 Millionen Einwohner und ist Heimat der überwiegend muslimischen Tschetschenen. Die aus der Tschetscheno-Inguschischen ASSR hervorgegangene Republik war nach der Auflösung der Sowjetunion Schauplatz von zwei Kriegen zwischen teils islamistischen Separatisten und der russischen Zentralregierung, die zu schweren Zerstörungen führten. Der Konflikt endete mit dem Verbleib Tschetscheniens im russischen Staatsverband. Die tschetschenische Exilregierung ist Mitglied der UNPO. Teile der tschetschenischen Unabhängigkeitsbewegung wechselten 2007 zum Kaukasus-Emirat, das ebenfalls Anspruch auf Tschetschenien erhebt. Seit Ende der Kriege begann eine wirtschaftliche Erholung und der Wiederaufbau der Region. Sie wird seither allerdings zunehmend diktatorisch von Ramsan Kadyrow regiert. Unter ihm kommt es regelmäßig zu schweren Menschenrechtsverletzungen wie außergerichtlichen Tötungen und Folter von seinen Gegnern, was von der russischen Regierung geduldet wird. Lage Tschetschenien, früher im Föderationskreis Südrussland gelegen, wurde durch eine Ausgliederung ab dem 19. Januar 2010 dem neu gebildeten Föderationskreis Nordkaukasus zugeordnet. Es grenzt im Süden an Georgien, im Osten an die autonome Republik Dagestan, im Westen an die autonomen Republiken Inguschetien und Nordossetien-Alanien sowie im Norden an die Region Stawropol. Bevölkerung Tschetschenien hat 1.533.209 Einwohner (Stand 2022). Es sind wegen des jahrelangen Bürgerkriegs fast nur noch Tschetschenen, denn die früher zahlreichen Minderheiten, darunter Russen, Inguschen, Armenier und Ukrainer, haben das Land infolge des Krieges größtenteils verlassen. Als die Tschetschenen nach dem Zweiten Weltkrieg unter Stalin deportiert wurden, war die Region kurzfristig mehrheitlich von Russen bewohnt, nach der Wiederherstellung Tschetscheno-Inguschetiens erlangten die Tschetschenen ihre Bevölkerungsmehrheit aber zurück. Neben der Hauptstadt Grosny war der Norden Tschetscheniens das Zentrum der russischen Minderheit. Nordtschetschenien war teilweise erst Ende der 1950er-Jahre an Tschetschenien angeschlossen worden und bis dahin mehrheitlich von Russen bewohnt. In den Rajons Naurski und Schelkowskoi, die erst 1957 zu Tschetschenien kamen, lag 1939 der russische Bevölkerungsanteil bei 94 % bzw. 86 %, der der Tschetschenen bei 0,1 % bzw. 0,8 %. Seit den 1960er-Jahren nahm der russische Bevölkerungsanteil in Tschetschenien kontinuierlich ab, was zum einen an einer niedrigeren Geburtenrate lag, zum anderen an Abwanderung aus wirtschaftlichen Gründen und wegen zunehmender ethnischer Spannungen zwischen Russen und Tschetschenen. Mit dem Beginn des ersten Tschetschenienkrieges kam es zu einem Kollaps der Wirtschaft und ethnischen Säuberungen gegen Russen, die in einem Exodus dieser Bevölkerungsgruppe gipfelten. 160.000 Einwohner Tschetscheniens seien nach offiziellen Angaben seit 1994 durch den Krieg und seine Folgen ums Leben gekommen, teilte im August 2005 der tschetschenische Staatsratsvorsitzende Taus Dschabrailow mit. Von den Opfern seien etwa 100.000 russischer Abstammung, weitere 30.000 bis 40.000 seien tschetschenische Kämpfer oder Zivilisten gewesen, schätzte er. Die Zahl der zwischen 1991 und 1994 im Laufe der ethnischen Säuberungen aus Tschetschenien vertriebenen Russen wurde vom russischen Innenministerium mit über 20.000 angegeben. Diese Daten werden nicht durch unabhängige Quellen bestätigt. Laut amtlicher Bevölkerungszählung von 2002 beträgt die Anzahl der Tschetschenen in Russland 1.360.253 Personen (1989: 898.999 Personen). Die Sprache der Tschetschenen gehört zu den kaukasischen Sprachen. Die Tschetschenen bekennen sich überwiegend zum Islam. Geschichte Zur früheren Geschichte: siehe Tschetschenen Die russische Einflussnahme in Tschetschenien begann bereits im 16. Jahrhundert, als 1559 die Kosakenfestung Tarki gegründet wurde und 1587 das erste Kosakenheer entstand. Zu dieser Zeit lebten die Tschetschenen allerdings noch im gebirgigen Südteil, die Ebenen im Norden wurden erst im Laufe des 17. und 18. Jahrhunderts allmählich besiedelt. Nachdem sich bis 1801 die orthodoxen Länder Georgien und Ossetien unter den Schutz Russlands vor den Osmanen gestellt hatten, wurde die Georgische Heerstraße gebaut, die nahe an Tschetschenien vorbeiführte. Sie stellte die strategisch wichtigste Verbindung Russlands nach Südkaukasien dar und war eine häufige Zielscheibe für Raubüberfälle der Tschetschenen und Inguschen. Im Gegenzug entsandte Russland immer wieder Strafexpeditionen in das Gebiet der Bergvölker. Auch die Terekkosaken siedelten sich in Tschetschenien an. Die Bergvölker widersetzten sich zäh den Russen. In den so genannten Muridenkriegen von 1828 bis 1859 wurden sie von Imam Schamil, einem Dagestaner, angeführt. Nach seiner Gefangennahme 1859 dauerte es noch bis 1864, bis die russischen Offiziere das Land durch weitere Kriegsmaßnahmen unter ihre Verwaltung gebracht hatten. Allerdings erstreckte sich ihre Macht nur auf die militärischen Stützpunkte entlang der Heerstraßen. Obwohl die russischen Truppen zahlenmäßig und waffentechnisch weit überlegen waren, leistete ein großer Teil der Bergbevölkerung weiteren Widerstand. Während des Russisch-Osmanischen Kriegs (1877–1878) erhoben sich die Kaukasier erneut gegen Russland. Dieser Aufstand wurde niedergeschlagen. Die russische Besatzung löste eine Auswanderungs- und Deportationswelle aus, die bis zum Ende des 19. Jahrhunderts anhielt. Tausende Kaukasier wurden in das Osmanische Reich (das damals außer der heutigen Türkei auch alle Länder des vorderen Orients einschloss) deportiert oder flüchteten dorthin.(→Muhacir) In den eingenommenen Städten und Dörfern wurden unter anderem Kosaken und Armenier angesiedelt. Tschetschenien gehörte während des Bestehens des Russischen Reiches zur Oblast Terek. In Folge des Zerfalls des Russischen Kaiserreiches nach der Februarrevolution und der Oktoberrevolution bildete sich ab 1917 im Nordkaukasus die Bergrepublik, die bis 1918/19 bzw. 1920 bestand und von der weißen Freiwilligenarmee unter General Anton Iwanowitsch Denikin zerschlagen wurde. Schließlich wurde das Gebiet Anfang 1920 von der Roten Armee unter Sergo Ordschonikidse erobert. 1921 wurde Tschetschenien Teil der Sowjetischen Gebirgsrepublik und 1922 Autonomes Gebiet, das seinerseits 1934 mit dem inguschischen Autonomen Gebiet zum Tschetscheno-Inguschischen Autonomen Gebiet vereint wurde und 1936 den Status einer ASSR erhielt. 1939 lebten in Tschetschenien 622.000 Menschen, von denen 58 % Tschetschenen und 34,3 % Russen waren. Nach einer anfänglichen, vergleichsweise liberalen Phase unter Lenin, in der die Sprachen kleinerer Völker, darunter auch das Tschetschenische, zur Schriftsprache ausgebaut und gefördert wurden (Korenisazija), kehrte die Sowjetunion unter Stalin bald zu einer repressiven Kulturpolitik zurück, die speziell in Tschetschenien zu Unzufriedenheit führte. Ab 1939 kam es dort zu ersten Unruhen, bevor 1940/41 ein anti-sowjetischer Aufstand unter Führung von Hassan Israilow begann. Die Rebellion der Tschetschenen und anderer Kaukasusvölker wurde auch von einigen deutschen Saboteuren unterstützt (→Unternehmen Schamil). Tatsächlich unterstützten nur wenige Tschetschenen den Aufstand Israilows, der 1943 über rund 18.000 Unterstützer verfügte. Ob der tschetschenisch-nationalistisch gesinnte Ex-Kommunist Israilow seine Hoffnungen in die Wehrmacht steckte und zur Kollaboration bereit war, wird kontrovers diskutiert. Es gab allerdings nur kurzzeitig wenige Kontakte von Ende August bis Anfang Dezember 1942. Nachdem die deutsche Wehrmacht nicht bis nach Tschetschenien hatte vordringen können, wurde der Aufstand nach anfänglichen Erfolgen schnell niedergeschlagen. Wegen der unter Historikern in ihrem Ausmaß umstrittenen Kollaboration mit den deutschen Besatzern beschloss die sowjetische Führung nach der Rückeroberung der Region die ausnahmslose gewaltsame Deportation aller Tschetschenen und Inguschen nach Zentralasien, speziell nach Kasachstan und Kirgisistan. Zuständig für die Deportation war Lawrentij Berija, Volkskommissar für innere Angelegenheiten (NKWD), die unmittelbare Durchführung der Deportation lag bei Berijas Stellvertreter Iwan Serow. Im Februar 1944 wurden 408.000 Tschetschenen und 92.000 Inguschen vom NKWD in Viehwaggons nach Kasachstan und Mittelasien deportiert. Bei der Deportation starben nach offiziellen Zahlen etwa 13.000 Menschen; wenngleich einige Historiker schätzen, dass bis zu 25 % der Deportierten in den ersten vier Jahren starben. Personen, die Widerstand gegen die Deportation leisteten, wurden meist hingerichtet, zum Teil kam es auch zu wahllosen Tötungen, so etwa im Dorf Chaibach, wo unter der Leitung des Georgiers Michail Gwischiani über 700 Menschen in einer Scheune verbrannt wurden. Die sowjetische Republik Tschetscheno-Inguschetien wurde aufgelöst und kleinere Bereiche den angrenzenden Republiken zugeteilt. Zu einem großen Teil wurde das Gebiet in die neu geschaffene Oblast Grosny integriert. In die verlassenen tschetschenischen Dörfer zogen zum Teil Neuankömmlinge aus dem Westen der Sowjetunion, deren Heimat vom Krieg zerstört worden war; meist waren dies Russen und Ukrainer. In vielen Fällen wurden tschetschenische Kultur- und Baudenkmäler zerstört. Nach Stalins Tod setzte unter Nikita Chruschtschow eine Entspannung ein. Chruschtschow erlaubte den Tschetschenen 1957, in ihre Heimat zurückzukehren und rehabilitierte sie offiziell. Die Tschetscheno-Inguschische ASSR wurde wiederhergestellt, das Tschetschenische als lokale Amtssprache wieder zugelassen. Einige Gebiete, die 1944 an Nordossetien abgetreten worden waren, wurden jedoch nicht an Tschetscheno-Inguschetien zurückgegeben. Es erhielt im Gegenzug dazu Territorium, das vor dem Zweiten Weltkrieg zur Region Stawropol gehört hatte, mehrheitlich von Russen bewohnt war und in dem 1939 keine Tschetschenen gelebt hatten. Dabei handelte es sich um die heute im Norden Tschetscheniens gelegenen Rajons Naurski und Schelkowskoi, die rund ein Drittel der Fläche des heutigen Tschetscheniens ausmachen. Als die Tschetschenen in großen Zahlen wieder zurückkehrten, kam es immer wieder zu Auseinandersetzungen zwischen den heimkehrenden Tschetschenen und den dort lebenden Russen und Ukrainern. Manche von ihnen hatten sich erst ab 1944 in Tschetschenien niedergelassen, inzwischen aber eine Existenz dort aufgebaut und nahmen tschetschenische Besitzansprüche als Bedrohung wahr, während viele alteingesessene Russen die Tschetschenen noch immer als Nazi-Kollaborateure betrachteten. Teilweise schwelten diese Konflikte unter der Oberfläche weiter und kamen erst nach dem Ende der Sowjetunion zum Ausbruch. So war etwa Grosny bis 1991 eine Stadt mit zwei Parallelgesellschaften, von denen eine aus Tschetschenen, die andere aus Russen, Armeniern und Ukrainern bestand. Beim Zensus von 1959 waren in Tschetschenien wieder knapp 40 % der Bevölkerung Tschetschenen und 49,4 % Russen. Aufgrund höherer Geburtenrate und Abwanderung anderer Volksgruppen stieg der Bevölkerungsanteil der Tschetschenen in den nachfolgenden Jahrzehnten, während die Russen zunehmend in die Minderheit gerieten – auch in Naurski und Schelkowskoi, wo sie historisch die Bevölkerungsmehrheit darstellten. In den 1970er-Jahren verloren die Russen ihre Bevölkerungsmehrheit in den beiden letztgenannten Distrikten, nur in der Hauptstadt Grosny bildeten sie noch die Mehrheit. Bis 1989 stieg der Bevölkerungsanteil der Tschetschenen auf 66 %. Als sich der Zerfall der Sowjetunion abzeichnete, kam auch in Tschetschenien eine separatistische Bewegung auf. Boris Jelzin warb 1990 für weitreichendere Autonomierechte für Tschetschenien und hoffte so (erfolglos), dortige Nationalisten zu beschwichtigen. Ausrufung der Tschetschenischen Republik Itschkerien Zur Sowjetzeit hatten verschiedene Regionen einen unterschiedlichen Status erhalten. Regionen, die als Sozialistische Sowjetrepubliken in das System der UdSSR integriert waren, wurden nach 1991 als unabhängige Staaten anerkannt (z. B. Kasachstan oder die Ukraine). Autonome Sowjetrepubliken wiederum waren Teil einer übergeordneten Sowjetrepublik, im Falle Tschetscheniens war dies die Russische Sowjetrepublik. Im September 1991, als die Auflösung der Sowjetunion nur noch eine Formalie war, wurde der bisherige, pro-russische Regierungschef Tschetscheniens, Doku Sawgajew, durch den ehemaligen Luftwaffengeneral und Nationalisten Dschochar Dudajew abgelöst. Dudajew leistete seinen Amtseid auf den Koran und strebte als neuer Regierungschef die Unabhängigkeit an. Kurz darauf trennte sich Inguschetien von Tschetschenien und entschied sich für einen Verbleib bei Russland. Noch im Oktober organisierte Dudajew ein umstrittenes Unabhängigkeitsreferendum. Am 27. Oktober 1991 stimmten bei einer Wahlbeteiligung von 72 % angeblich über 90 % für die Unabhängigkeit. Moskau-freundliche tschetschenische Politiker wie Ruslan Chasbulatow zweifelten das Ergebnis und die Durchführung an und bestritten, dass es eine Mehrheit für die Unabhängigkeit gebe. Der Historiker John B. Dunlop hingegen schätzt, dass zu jenem Zeitpunkt etwa 60 % der Bevölkerung Tschetscheniens eine Unabhängigkeit befürworteten. Weder der sowjetische Präsident Michail Gorbatschow noch sein Nachfolger, der russische Präsident Boris Jelzin, erkannten dies an. Am 1. November 1991 erklärte Dudajew einseitig die Unabhängigkeit Tschetscheniens. Russland akzeptierte die Entscheidung nicht, erklärte Dudajews Regierung für nicht legitim und verhängte den Ausnahmezustand über Tschetschenien. Truppen des russischen Innenministeriums wurden jedoch zurückgeschlagen. Russland versuchte weiterhin, Einfluss auf Tschetschenien zu nehmen und unterstützte dort pro-russische Politiker. De facto war Tschetschenien nun aber unabhängig, wenngleich internationale Anerkennung ausblieb. Die einzigen Ausnahmen waren Georgien in der Regierungszeit von Swiad Gamsachurdia zwischen 1991 und 1992 und das Islamische Emirat Afghanistan. Dudajew verfolgte innenpolitisch eine anti-russische Politik, versuchte die russische Sprache zu verdrängen, schaffte das kyrillische Alphabet ab und belebte das tschetschenische Clansystem neu. Durch Diskriminierung und teils offene Gewalt wurden die meisten nicht-tschetschenischen Bewohner in die Flucht getrieben. Die Wirtschaft der Region kollabierte und die Kriminalität blühte auf. Dudajew war wegen seiner erfolglosen Wirtschaftspolitik auch in Tschetschenien höchst umstritten und immer Kritik aus den eigenen Reihen ausgesetzt. Unterdessen steigerte er seine anti-russische Rhetorik immer weiter und behauptete schließlich sogar, Russland verursache Erdbeben in Armenien und Georgien, um damit Tschetschenien zu schaden. 1993 kam es zu Konflikten zwischen dem Parlament und Dudajew, gegen den sich eine breite Opposition, auch unter Unabhängigkeitsbefürwortern, und kurz darauf eine pro-russische Gegenregierung bildete. Erster Tschetschenienkrieg Im Herbst 1994 unterstützte Russland einen Putsch des pro-russischen Politikers Umar Awturchanow, der jedoch scheiterte. Bei den Versuchen, Awturchanow und dessen Unterstützer aus Grosny zu befreien, wurden bis zu 70 russische Soldaten und pro-russische Milizionäre gefangen genommen und ein Kampfhubschrauber über Grosny abgeschossen. Daraufhin stellte der russische Präsident Jelzin den Tschetschenen ein Ultimatum, das sie jedoch verstreichen ließen. Am 11. Dezember 1994 begann damit der Erste Tschetschenienkrieg, als russische Truppen nach Tschetschenien einrückten. Ursprünglich plante Russland, die Region innerhalb weniger Tage einzunehmen und anschließend wieder einzugliedern, der Feldzug entwickelte sich jedoch zum Desaster. Die russischen Verbände bestanden zu einem großen Teil aus unerfahrenen Wehrdienstleistenden oder waren erst kürzlich neu formiert worden und besaßen wenig inneren Zusammenhalt. Nach anfänglichen Erfolgen gestaltete sich bereits die Einnahme Grosnys als verlustreich und langwierig. Die russische Kampfmoral war von Anfang an gering, die tschetschenischen Kräfte erhielten massive Unterstützung aus dem Ausland, besonders aus der islamischen Welt, und wechselten zur Guerillakriegsführung. Die Kampfhandlungen dehnten sich auf angrenzende Regionen aus, so etwa wie im Falle der Geiselnahme von Budjonnowsk. Die russischen Verluste waren während des ganzen Krieges äußerst hoch und führten zu Widerstand in der russischen Bevölkerung. Im August 1996 gelang es den Tschetschenen, Grosny zurückzuerobern. Die russische Armee verlor dabei mehrere hundert Soldaten und erlitt eine dramatische und demütigende Niederlage. Daraufhin schloss Russland, vertreten durch General Alexander Lebed, einen Friedensvertrag mit Tschetschenien und zog sich zurück. Der Vertrag bestätigte zwar die Eigenstaatlichkeit des Landes nicht, akzeptierte aber de facto die Regierung der Rebellen als Verhandlungspartner und sah weitere Gespräche mit ihnen vor. Der Krieg hatte auch auf tschetschenischer Seite viele Opfer gefordert und die wirtschaftliche Lage war nun noch prekärer als zuvor. Dies führte zur Radikalisierung weiter Teile der tschetschenischen Gesellschaft und Führung. Der saudische Wahhabismus hatte ebenso wie dschihadistische Ideen Einzug gehalten. Zwischen 1996 und 1999 wurde die Scharia in Tschetschenien eingeführt; im Zuge der islamistischen Gewaltherrschaft, die von willkürlichen Übergriffen auf die Zivilbevölkerung gekennzeichnet war, wurden andere Kultureinflüsse verboten und bereits für kleine Delikte die Todesstrafe verhängt. 1997 wurde Aslan Maschadow bei Neuwahlen Präsident. Er behauptete sich jedoch nicht gegen die immer stärker werdenden radikalen Gruppierungen, die von eingeströmten ausländischen, zumeist arabischen Kriegsherren ideologisch inspiriert, finanziert und teilweise angeführt wurden. Mit der Zeit ließ sich Maschadow immer mehr auf eine Kooperation mit ihnen ein. Am 21. Mai 1998 hatte eine wahhabitische Gruppe versucht, das Dagestaner Regierungsgebäude zu stürmen. Ein Terroranschlag in Machatschkala, der Hauptstadt der benachbarten russischen Republik Dagestan, am 4. September, bei dem 17 Personen ums Leben kamen, wurde ebenso den tschetschenischen Terroristen angelastet wie die Tötung des als gemäßigt geltenden Oberhauptes der Muslime Dagestans, Mufti Said Muhammad Abubakarow. Zweiter Tschetschenienkrieg Am 7. August 1999 marschierten wahhabitische Einheiten unter Führung von Schamil Bassajew und Ibn al-Chattab in Dagestan ein, um es einem islamisch-fundamentalistischen Kalifatstaat anzuschließen, der langfristig den ganzen Nordkaukasus umfassen sollte. Es kam zu schweren Gefechten mit der russischen Armee. Bis Ende September 1999 wurden die tschetschenischen Einheiten aus Dagestan vertrieben. Sowohl vor als auch nach dem Einfall in Dagestan hatte es andere Terroranschläge auf russischem Gebiet gegeben, insbesondere in Wolgodonsk und Moskau. Die russische Regierung machte tschetschenische Separatisten für die Taten verantwortlich; die Tschetschenen bestritten das jedoch. Eine 2002 initiierte öffentliche Kommission kam zu dem Schluss, dass nicht tschetschenische Terroristen, sondern der Geheimdienst FSB hinter den Anschlägen stünde. Daraufhin kam es zu mehreren unnatürlichen Todesfällen von führenden Kommissionsmitgliedern, politisch motivierten Verfahren und Verurteilungen, Todesfällen unter ungeklärten Umständen, sowie Körperverletzungen. Zum Vorfall in Rjasan erläuterte der Chef des FSB, die Sprengvorrichtung im Keller des Wohnhauses sei nur eine Attrappe gewesen, sie habe bloß Zucker enthalten. Der FSB habe nur eine „Übung“ durchgeführt. 1999 kündigte Wladimir Putin, damals im Amt des Ministerpräsidenten, eine militärische Lösung des Tschetschenien-Konfliktes an, um es wieder unter die vollständige Kontrolle der russischen Zentralregierung zu stellen. Am 1. Oktober 1999 marschierte die russische Armee in Tschetschenien ein und begann mit einer breit angelegten sogenannten „Antiterror-Operation“ den Zweiten Tschetschenienkrieg. Im Gegensatz zu seinem Vorgänger gelang es Putin, die Kämpfe schnell zu beenden und Tschetschenien vollständig unter russische Kontrolle zu bringen. Die de facto Existenz des unabhängigen Staates wurde damit beendet und die Region erhielt wieder den Status einer autonomen Republik innerhalb Russlands. Die heute noch aktive Rebellenbewegung in Tschetschenien hält allerdings noch an dem Terminus Tschetschenische Republik Itschkerien fest. Offiziell für beendet erklärt wurde der Zweite Tschetschenienkrieg von russischer Seite erst 2009. Nach dem Kriegsgeschehen Vor allem die Hauptstadt Grosny, aber auch andere Städte und einige Dörfer waren weitgehend zerstört; viele Menschen, darunter auch ein großer Teil der sehr gut Ausgebildeten, hatten die Republik verlassen. Es folgte eine von Terroranschlägen, Gewalt und Menschenrechtsverletzungen geprägte Zeit. Am 23. Oktober 2002 nahmen tschetschenische Terroristen unter Führung von Mowsar Barajew bei der Aufführung des Stückes „Nord-Ost“ im Moskauer Dubrowka-Theater etwa 700 Geiseln und forderten von der russischen Regierung den sofortigen Abzug des russischen Militärs aus Tschetschenien. Bei der umstrittenen Befreiungsaktion durch Spezialeinheiten unter Einsatz von Betäubungsgas kamen 41 Terroristen sowie 129 Geiseln ums Leben. Bei den Präsidentschaftswahlen am 5. Oktober 2003 wurde Achmat Kadyrow, der Chef der Verwaltungsbehörde, Präsident. Kadyrow, eine ehemalige Schlüsselfigur der Unabhängigkeitsbewegung, hatte zuvor die Seiten gewechselt. Die Wahl wurde von einigen westlichen Politikern und vom bisherigen von Russland nicht anerkannten Präsidenten Maschadow als Farce bezeichnet. Maschadow tauchte in den Untergrund ab und rief zum weiteren Kampf gegen die neue Regierung und gegen Russland auf. Ein Bombenanschlag auf das tschetschenische Regierungsgebäude in Grosny am 27. Dezember 2002 forderte 72 Todesopfer. 2002 wurden 5695 Menschen in Tschetschenien Opfer von Landminen. Im Februar 2003 erließen die Vereinigten Staaten Sanktionen gegen tschetschenische Terrorgruppen und setzten sie auf ihre Liste terroristischer Organisationen, unter anderem infolge der Bombenattentate in Moskau. Außerdem wurden verdächtige Bankkonten von den Vereinigten Staaten eingefroren. Bei einer Volksbefragung in Tschetschenien am 23. März 2003 stimmten laut offiziellem Ergebnis 95,5 Prozent der Bevölkerung für den Verbleib in der Russischen Föderation. Nach diesem Referendum erhielt die Republik durchgehend ein föderales Budget zur Finanzierung des Wiederaufbaus. Laut „Die Moskau Connection“ standen die Ergebnisse der angeblichen Volksbefragung bereits zuvor fest. Ähnlich sei es bei der Präsidentschaftswahl im Spätsommer 2004 gewesen. Am 9. Mai 2004 wurde Präsident Kadyrow bei einem Bombenanschlag getötet. Gewählter Nachfolger Kadyrows wurde im August 2004 Alu Alchanow. Im Juni 2004 erklärte der im Untergrund lebende Maschadow in einem Radiointerview, die tschetschenischen Rebellen seien dabei, ihre Taktik zu ändern. „Bislang haben wir uns auf Sabotageakte konzentriert, von nun an werden wir Großangriffe starten.“ Am 21. Juni 2004 drangen nach Augenzeugenberichten etwa 100 bis 200 schwer bewaffnete Kämpfer aus Tschetschenien in die Nachbarrepublik Inguschetien ein und umstellten mehrere Polizeistationen und eine Kaserne von Grenzsoldaten. Zahlreiche Polizisten, Soldaten sowie Mitarbeiter der Staatsanwaltschaft und des russischen Inlandsgeheimdienstes FSB wurden erschossen, weiterhin 102 Zivilisten sowie der inguschetische Innenminister Abukar Kostojew. Im August 2004 sprengten zwei vermutlich tschetschenische Selbstmordattentäterinnen zwei russische Tupolew-Passagiermaschinen und töteten etwa 90 Menschen. Am 1. September 2004 stürmten tschetschenische Terroristen eine Schule in Beslan und nahmen mehr als 1100 Geiseln, zum größten Teil Kinder, um die Entlassung von in Inguschetien inhaftierten tschetschenischen Gesinnungsgenossen und den Abzug Russlands aus Tschetschenien zu erwirken. Nach erfolglosen Verhandlungen wurde die Schule unter umstrittenen Umständen von der russischen Armee gestürmt. Dabei kamen mehr als 300 Geiseln ums Leben. Die Verantwortung für beide Terroranschläge übernahm später der Anführer der tschetschenischen Freischärler, Schamil Bassajew (vgl. Geiselnahme von Beslan). Am 8. März 2005 wurde Maschadow bei einer Spezialoperation des FSB in der Ortschaft Tolstoi-Jurt getötet, nachdem er angeblich erst eine Woche zuvor erneut Gesprächsbereitschaft zugesagt hatte. Der nominelle Präsident der Gegenregierung war danach bis zum 17. Juni 2006 Scheich Abdul Halim Sadulajew. Er wurde von russischen Truppen während einer antiterroristischen Operation in seiner Heimatstadt Argun getötet. Als sein Nachfolger galt wiederum der Feldkommandant der Rebellen Doku Umarow, der sich 2007 zum Emir eines neu ausgerufenen „Kaukasus-Emirats“ erklärte. Seit dem 1. März 2007 ist Ramsan Kadyrow, der Sohn des getöteten prorussischen Präsidenten Achmad Kadyrow, Präsident des Landes. Am 5. April 2007 wurde er vereidigt. Anfang 2011 wurde seine Amtszeit um weitere vier Jahre verlängert. Seit Herbst 2010 trägt Kadyrow nicht mehr die Bezeichnung Präsident, sondern „Oberhaupt“ der Republik. Zur Absicherung seiner Machtstellung im Inneren, aber auch als bewaffnete Kräfte in äußeren Konflikten dient die paramilitärische Sicherheitstruppe der Kadyrowzy. In der Tschetschenischen Republik ist es im sozioökonomischen Bereich in den letzten Jahren zu starken Verbesserungen gekommen, auch die Gewalt hat merklich abgenommen. Dennoch besteht im Vergleich zu anderen russischen Regionen nach wie vor Aufholbedarf. Der Wiederaufbau wird von Seiten der tschetschenischen Behörden als noch nicht abgeschlossen angesehen, und auch aus dem föderalen Zentrum wird in den nächsten Jahren noch Geld in diesen weiteren Wiederaufbau fließen. Ramsan Kadyrow regiert Tschetschenien seitdem autokratisch, ihm werden schwere Menschenrechtsverletzungen vorgeworfen. Die Zahl der Vermissten und Ermordeten hat im Jahr 2009 deutlich zugenommen. Kadyrow und in Folge der Bürgermeister von Grosny, Muslim Chutschiejew, haben öffentlich geäußert, dass sie Familien, die Verwandte in den Wäldern – damit sind Rebellen gemeint – haben, bestrafen werden. Abbrennen der Häuser, Folter und Mord sind die Methoden der sogenannten Kadyrowskys, der Kadyrow unterstehenden Milizen. Für den Kreml wird Kadyrow mit seiner absolutistischen Herrschaftsform immer weniger kontrollierbar. Mit aller Härte geht er gegen die islamistischen Extremisten vor und sorgt somit in den Augen der russischen Führung für den „Frieden“. Die Reichweite seiner Machtbefugnisse ist so weit gegangen, dass er selbst die Autorität der direkt Moskau unterstellten Sicherheitsorgane in Tschetschenien nicht mehr anerkennt und seine damit verbundene Unzufriedenheit offen zum Ausdruck bringt. So etwa kritisierte Kadyrow einen Anti-Terror-Einsatz des russischen Innenministeriums, mit dem er die Macht in Tschetschenien nicht teilen will, in Grosny im Jahr 2015. Seiner Unantastbarkeit scheint sich Kadyrow sicher zu sein: „Solange mich Putin unterstützt, kann ich tun, was ich will.“ Im Jahr 2013 ist die Zahl der Menschen aus der Russischen Föderation, die in den 44 Industriestaaten Asyl gesucht haben, auf 39.779 Personen angestiegen, was Platz 2 unter den Herkunftsländern bedeutete. Verantwortlich ist an erster Stelle eine starke Zunahme von Flüchtlingen aus Tschetschenien. Im Jahr 2017 stieg die Anzahl von im Verlauf von Kampfhandlungen Getöteter wieder massiv an, um ganze 74 % gemäß den zugänglichen Daten. Opfer von Kampfhandlungen und Terroranschlägen wurden mindestens 50 Menschen, wovon 34 starben und 16 verletzt wurden. Im Mai 2018 wurde in der tschetschenischen Hauptstadt Grosny eine orthodoxe Kirche angegriffen. Infolge des Angriffs wurden zwei Polizeibeamte und eine weitere Person getötet. Die Terrororganisation „Islamischer Staat“ reklamierte den Anschlag für sich. Der tschetschenische Machthaber Kadyrow hat jedoch diese Information bestritten mit der Begründung, dass es „in Tschetschenien keinen ‚Islamischen Staat‘ gibt“. Im Oktober 2022 erklärte das ukrainische Parlament die „Tschetschenische Republik Itschkerien“ zu einem „vorübergehend von Russland besetzten“ Gebiet. Verwaltungsgliederung und Städte Die Republik Tschetschenien gliedert sich in 17 Rajons und 2 Stadtkreise. Die Stadtkreise werden von der Hauptstadt Grosny, der mit Abstand größten Stadt und einzigen Großstadt der Republik, sowie Argun gebildet. Daneben gibt es vier weitere Städte: Urus-Martan, Schali, Gudermes, Kurtschaloi (Stand 2019) und Atschchoi-Martan (Stand 2023). Die drei früheren Siedlungen städtischen Typs Goragorski (jetzt Goragorsk), Oischara und Tschiri-Jurt wurden 2009 zu ländlichen Siedlungen herabgestuft. Wirtschaft Tschetschenien ist agrarisch geprägt. So sind etwa 70 % der tschetschenischen Bevölkerung in der Landwirtschaft tätig. Die landwirtschaftliche Nutzfläche auf dem Territorium der Republik umfasst 1.200.000 Hektar, zu Zeiten der Sowjetunion wurden 30–40 % der Fläche bearbeitet, heutzutage werden fast 80 % bewirtschaftet. In der Republik werden beispielsweise Getreide, Obst und Gemüse angebaut und Viehzucht betrieben. Infolge des Krieges wurden bis vor kurzem noch fast alle landwirtschaftlichen Erzeugnisse importiert, mittlerweile aber ein großer Teil wieder selbst produziert. Tschetschenien besitzt aber vor allem aufgrund seiner rund 30 Millionen Tonnen Erdölvorräte größere wirtschaftliche Bedeutung. Früher gab es hier die unterirdische Schwermaschinenfabrik „Roter Hammer“, in der unter anderem Panzer gebaut wurden. In den Tschetschenienkriegen seit 1994 wurden alle Betriebe Tschetscheniens zerstört. Verschiedene lebensmittelverarbeitende Industriebetriebe wurden in den letzten Jahren wieder aufgebaut. 2014 war der Staatshaushalt Tschetscheniens zu 82 Prozent aus Russland alimentiert. Gesundheit Die medizinische Grundversorgung ist in Tschetschenien flächendeckend gewährleistet. Spezialisierte Kliniken sind jedoch nur in der Hauptstadt Grosny verfügbar. Kriegsbedingt herrscht noch immer ein Mangel an qualifiziertem medizinischen Personal. Dieser wird mittels Ausbildungsmaßnahmen und durch die Bemühung um fachkräftebezogene Rückkehrer aus anderen Teilen Russlands sowie aus dem Ausland versucht, zu verbessern. Bildung Während der beiden Tschetschenienkriege wurden viele Schulen zerstört. Aufgrund dessen und wegen der unsicheren Sicherheitslage und dem mit der Abwanderung von qualifiziertem Personal einhergehenden Lehrermangel verschlechterte sich das Bildungswesen und das Bildungsniveau in Tschetschenien. Durch die Wiederaufbauprogramme ist die Bildung in Tschetschenien wieder flächendeckend gewährleistet. Derzeit gibt es 215.000 Schüler in Tschetschenien, 454 Schulen sind in vollem Umfang funktionstüchtig. Es gibt 15 Technische Schulen und 3 Hochschulen, an denen insgesamt 60.000 Schüler und Studenten immatrikuliert sind. Religion und Kultur Zwischen dem 8. und 13. Jahrhundert war vermutlich ein Teil der Tschetschenen christianisiert. Ab dem 10. Jahrhundert standen die Tschetschenen unter dem Einfluss der christlichen Georgier, besonders während der Herrschaft der Königin Tamar (reg. 1184–1213). Es gibt heute noch Kirchen und Kreuze in Tschetschenien und Inguschetien. Der Islam erreichte Tschetschenien vermutlich im Mittelalter und vermischte sich mit alten Riten und Glaubensvorstellungen. Die Mehrheit der tschetschenischen Bevölkerung gehört heute der sunnitischen Glaubensrichtung an, wobei hier eine mystische Form des Islam, der Sufismus, vorherrschend ist. Sufi-Bruderschaften, allen voran die Naqschbandīya, die sich in den 1820er Jahren ausbreitete, hatten in der Republik im Verlauf der Geschichte große Bedeutung: Neben den gesellschaftlich tief verwurzelten Clan-Beziehungen hatten die Bruderschaften großen Einfluss auf clanübergreifende Zusammenschlüsse in Konfliktsituationen. Heute leben die Anhänger der Naqschbandīya überwiegend im Osten von Tschetschenien und die Anhänger des Qādirīya-Ordens, der um die Mitte des 19. Jahrhunderts von Kunta Haddschi Kischijew eingeführt wurde, leben mehr im Westen und in Inguschetien. Die sufischen Orden sind strikte Gegner des sich seit den 1990er Jahren ausbreitenden Wahhabismus. Das Gewohnheitsrecht (Adat) des Nordkaukasus ist in Tschetschenien als nochtschalla bekannt. Es beeinflusst in der traditionellen Gesellschaft alle Bereiche des Alltagslebens und war bis ins 20. Jahrhundert die am meisten akzeptierte Grundlage für die Rechtsprechung. Die vorislamischen Bräuche innerhalb des Adat/nochtschalla, die unter dem Begriff lamkerst zusammengefasst wurden und zu denen auch Blutrache gehörte, sind heute praktisch ohne Bedeutung. Die tschetschenische Volksmusik wird in instrumentale Musik zum Zuhören, Begleitmusik für Tänze und sonstige kulturelle Veranstaltungen und in Vokalmusik unterschieden. Die bedeutendste Vokalmusikgattung sind die rezitativ vorgetragenen, historischen Lieder (illi) der Männer, in denen die heldenhafte Vergangenheit des Volkes besungen wird. Als nationales Musikinstrument gilt die dreisaitige, gezupfte Langhalslaute detschig pondur. Für die Liedbegleitung ist auch das Ende des 19. Jahrhunderts eingeführte Akkordeon kechat pondur beliebt. Das Instrumentalensemble mit der Zylindertrommel wota und der Kegeloboe zurna gehört zu einer in Westasien weit verbreiteten Musikgattung für die Unterhaltung von Familienfeiern (in Anatolien heißt das Instrumentenpaar davul – zurna und auf dem Balkan tapan – zurle). Menschenrechte Internationale Beobachter und Mitglieder von Menschenrechtsorganisationen melden seit dem Beginn des Zweiten Tschetschenienkriegs immer wieder schwere Menschenrechtsverletzungen an der tschetschenischen und russischen Zivilbevölkerung sowie an Gefangenen der russischen Truppen in Tschetschenien. Die tschetschenische Regierung billigt offiziell sogenannte Ehrenmorde. Insbesondere Menschenrechtler sind auch nach dem Kriegsende – und vermehrt seit dem Beginn der Präsidentschaft Ramsan Kadyrows – immer wieder Opfer von Anschlägen geworden: Der Leiter des tschetschenischen Hilfswerks „Rettet die nächste Generation“ Murad Muradow und ein Mitarbeiter wurden im April 2005 entführt und ermordet. Dasselbe geschah mit seiner Nachfolgerin Sarema Sadulajewa und ihrem Mann im August 2009. Die Journalistin und Aktivistin für Menschenrechte Anna Politkowskaja wurde am 7. Oktober 2006 in Moskau ermordet. Sie hatte in vielen Veröffentlichungen die Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit der russischen sowie tschetschenischen Führung in Tschetschenien angeprangert. Der Rechtsanwalt Stanislaw Markelow, der sich für Opfer von Menschenrechtsverletzungen in Tschetschenien einsetzte, wurde im Januar 2009 in Moskau erschossen. Die Memorial-Mitarbeiterin Natalja Estemirowa wurde im Juli 2009 in Grosny entführt und ermordet. Danach stellte Memorial seine Arbeit in Tschetschenien (vorübergehend) ein. 2014 ging das Büro des russischen «Komitees gegen Folter» in Flammen auf. Memorial untersuchte weiterhin Menschenrechtsverletzungen, worauf der Leiter der Niederlassung im Januar 2018 auf der Basis untergeschobener Vorwürfe verhaftet wurde: Ihm wurden Drogen derart stümperhaft untergeschoben, dass die Polizei das Deponieren „seiner“ Drogen in dessen Auto wiederholen musste, um überhaupt als gerichtsfähig zu gelten. Die Berichte von Menschenrechtlern waren aus Sicht des Regimes Ursache für Sanktionen durch das Ausland, die Menschenrechtler wurden aus diesem Grund zu Staatsfeinden erklärt. Die Untersuchungsbehörden versuchten im Verlauf des Verfahrens, die Anwälte des Verhafteten zu manipulieren. Entführungen, die bis 2009 gemäß einer Reportage der Nowaja gaseta „üblich“ waren, waren auch noch im Jahr 2019 „nicht ungewöhnlich“. Oft würden die Opfer ihren eigenen Namen rufen in der Hoffnung, dass die Augenzeugen der Entführung nicht schwiegen. Human Rights Watch veröffentlichten 2016 den Bericht Wie ein Spaziergang durch ein Minenfeld. Brutales Vorgehen gegen Kritiker in Russlands Teilrepublik Tschetschenien. In diesem erwähnt Alexander Tscherkassow (Vorstandsmitglied der Menschenrechtsorganisation Memorial in Moskau) mehrere Fälle, in denen Menschen, die sich zuvor über soziale Missstände in Tschetschenien beschwert hatten, dazu gezwungen wurden, sich vor laufender Kamera zu entschuldigen und ihre Liebe zu Ramsan Kadyrow zu bekunden. Die sexuellen Minderheiten Tschetscheniens sind besonderen Gefahren ausgesetzt, insbesondere schwule Männer und Transsexuelle gar akuter Lebensgefahr. Wie Reporterinnen der Nowaja gaseta 2017 recherchierten, kam es Anfang 2017 zur Verschleppung, Folter und außergerichtlichen Hinrichtung von Dutzenden von Menschen aufgrund ihrer vermuteten Homosexualität. Mindestens 27 Menschen wurden hingerichtet, zahlreiche weitere wurden gefoltert und viele werden vermutlich weiterhin in speziellen Geheimgefängnissen festgehalten (mitunter verglichen mit Arbeits- und Konzentrationslagern). Dem ethnischen Russen Maxim Lapunow gelang die Flucht nach zwölf Tagen Folter, worauf er Strafanzeige gegen die Verantwortlichen stellte. Der Sprecher des Republikoberhaupts Ramsan Kadyrow kommentierte nur: „Man kann niemanden verhaften oder unterdrücken, den es in der Republik gar nicht gibt, würden solche Leute in Tschetschenien existieren, müssten die Sicherheitsbehörden sich gar nicht um sie kümmern, da ihre Verwandten sie selbst an einen Ort schicken würden, von dem sie nicht zurückkehren.“ Nachdem sich Russland geweigert hatte, gemäß dem Moskauer Mechanismus der OSZE einen eigenen Experten zur Untersuchung zu bestimmen, wurden die Sachverhalte durch den Völkerrechtsprofessor Wolfgang Benedek bestätigt, darunter illegale Inhaftierung, Folter, Sippenhaft sowie Korruption der Sicherheitskräfte bis hin zu Lösegeldforderungen. Anzeigen in Deutschland wegen Folter von Homosexuellen Eine Berliner Menschenrechtsorganisation hat Mitarbeiter tschetschenischer Sicherheitsbehörden wegen Folter von Homosexuellen angezeigt. Sie erhoffe sich Ermittlungen, die Russland strikt verwehre, melden Süddeutsche Zeitung und WDR im April 2021. Die Attacken seien Teil eines Plans von Machthaber Ramsan Kadyrow zur Verwirklichung einer reinen, heteronormativen tschetschenischen Gesellschaft. Dazu gehöre auch eine angeblich geplante Säuberung, das Verschwinden von homo- und bisexuellen Männern aus der Republik. Juristen vom „European Center for Human and Constitutional Rights“ (ECCHR) sehen in den Verhaftungswellen Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die nicht länger straflos bleiben dürften. Die Berliner Menschenrechtsorganisation hat fünf hochrangige Vertreter des tschetschenischen Sicherheitsapparats beim Generalbundesanwalt in Karlsruhe angezeigt. Sie sollen für den geplanten, systematischen Angriff auf Homosexuelle in Tschetschenien verantwortlich sein, etwa weil sie die Aktionen angeordnet oder selbst an den Folterungen teilgenommen haben. Mit der Strafanzeige wollen die Juristen erreichen, dass internationale Haftbefehle erwirkt werden. Die mutmaßliche tschetschenische Säuberung soll in Deutschland aufgeklärt werden. Mitglieder des Russischen LGBT-Netz schleusten daraufhin LGBT-Personen aus Tschetschenien heraus zunächst in ein Safehouse, die meisten wurden außer Landes gebracht, sofern andere europäische Staaten diese aufnehmen wollten. Die Arbeit des LGBT-Netzes wurde mit der Kamera begleitet und die Doku unter dem Namen „Welcome to Chechnya“ veröffentlicht. Eines der Opfer, Maxim Lapunov, zog sogar gegen Tschetschenien vor Gericht. Literatur Moshe Gammer: The Lone Wolf and the Bear. Three Centuries of Chechen Defiance of Russian Rule. Hurst, London 2006, ISBN 1-85065-748-3. Karl Grobe-Hagel: Tschetschenien – oder: Die Folgen imperialer Politik … und Europa sieht weg. Komitee für Grundrechte und Demokratie, Köln 2005, ISBN 3-88906-112-5. Florian Hassel: Der Krieg im Schatten. Russland und Tschetschenien. 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Anna Politkovskaja: Tschetschenien. Die Wahrheit über den Krieg. DuMont, Köln 2003, ISBN 3-8321-7832-5. Manfred Sapper (Red.): Schwerpunkt Am Abgrund: Nordkaukasus. Berliner Wissenschafts-Verlag, Berlin 2006. Robert Seely: Russo-Chechen Conflict 1800–2000. A deadly Embrace. Routledge, London 2001, ISBN 0-7146-4992-9. Anthony Marra: A Constellation of Vital Phenomena. Hogarth, 2013, ISBN 978-0-7704-3640-7. Die niedrigen Himmel. Übersetzung Stefanie Jacobs. Suhrkamp, 2014, ISBN 978-3-518-42427-8. David Satter: Darkness at Dawn: The Rise of the Russian Criminal State (English), Yale University Press; First Edition (1. Mai 2003), ISBN 978-0-300-09892-1. Weblinks Offizielle Seite der tschetschenischen Regierung Henrik Bischof: Sturm über Tschetschenien. Russlands Krieg im Kaukasus, Kurzfassung (de) Berichte von amnesty international zur Menschenrechtslage in Tschetschenien KavKas-Center, das halboffizielle Medium der tschetschenischen Rebellen ARTE-Doku über den Polizeistaat Tschetschenien, der die foltert und wegsperrt, die sich der neuen Kreml-Ordnung widersetzen. Englischsprachige und russischsprachige Kurznachrichten von Kawkasski Usel aus Tschetschenien Einzelnachweise Föderationssubjekt der Russischen Föderation Nordkaukasus Region im Kaukasus
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541.678502